Körperbilder in den Psalmen: Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten 9783161493614, 9783161578403, 3161493613

Körperbilder sind ein in der Forschung lange Zeit vernachlässigter, jedoch zentraler Bestandteil der Bildsprache der Psa

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1 Zum Thema
2 Zum Stand der Forschung
2.1 Überblick über die Forschung seit Franz Delitzsch
2.1.1 Darstellung
2.1.2 Resümee
2.2 Aspekte der gegenwärtigen Diskussion
2.2.1 „Körper“ oder „Leib“ – mehr als ein Sprachproblem?
2.2.2 Zur historischen Bedingtheit von Körperbildern
2.2.3 Zum Zusammenhang von Körperbild und Sozialstruktur
3 Zur Methode und zum Aufbau der Arbeit
Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22
1 Übersetzung
2 Textkritische und sprachliche Bemerkungen
Exkurs 1: לׇמׇה – „Warum?“ oder „Wozu?“
3 Literarische Analyse
3.1 Komposition und Gliederung
3.2 Literarkritik
3.3 Notizen zur Datierung
3.4 Gattung
Exkurs 2: Zum Subjekt der Klagelieder des Einzelnen
Zweiter Teil: Auslegung von Psalm 22 unter besonderer Berücksichtigung der Körperbilder
1 Vertrauen und Verlassenheit: Der erste Klagegang (V.2–11)
1.1 Die Not der Gottverlassenheit (V.2f)
1.1.1 Mein Gott – warum?
1.1.2 Zur Semantik von עזב q. „verlassen“
1.1.3 Schreien ohne Antwort
1.1.4 Ergebnis
1.2 Das Lob Israels und das Schreien der Väter (V.4–6)
1.2.1 Lobgesang als Gottes Thron (V.4)
1.2.2 Schrei und Rettung der Väter (V.5f)
1.2.3 Ergebnis
1.3 Die Sprachmacht der Feinde (V.7–9)
1.3.1 Das betende Ich als Wurm (V.7a)
1.3.2 Der Spott der Mitmenschen (V.7b–9)
1.3.2.1 Körpersprache: Mimik und Gestik des Spottes
1.3.2.2 Worte des Spottes
1.3.3 Ergebnis
1.4 Bilder des Lebensanfangs: Der umsorgte Körper (V.10–11)
1.4.1 „Du hast mich herausgezogen aus dem Mutterleib“ (V.10a)
1.4.1.1 Alttestamentliche Anatomie I: בֶּטֶן „Bauch“
1.4.1.2 Deutungsansätze für גּחׁׅי מִבֶּטֶן
1.4.1.3 Hebammen im Alten Testament und im Alten Orient
1.4.1.4 Psalm 71,5–9 als Paralleltext
1.4.2 „Du hast mir Vertrauen eingeflößt an den Brüsten meiner Mutter“ (V.10b)
1.4.2.1 Alttestamentliche Anatomie II: שַׁד „Brust“
1.4.2.2 Muttermilch und Gottvertrauen
1.4.3 „Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an“ (V.11a)
1.4.3.1 Alttestamentliche Anatomie III: רֶחֶם „Mutterschoß“
1.4.3.2 Ein alter Rechtsbrauch als Hintergrund?
1.4.3.3 Zur Semantik von שׁלן hif./hof. „werfen“/„geworfen werden“
1.4.4 Ergebnis
1.5 Zusammenfassung
2 Bitten und Bedrängnis: Der zweite Klagegang (V.12–22)
2.1 Die Bitte um Gottes Nähe (V.12)
2.2 Die Überlegenheit der Feinde (V.13–14)
2.3 Bilder des Todes I: Der sich auflösende Körper (V.15)
2.3.1 „Wie Wasser bin ich ausgegossen worden“ (V.15a)
2.3.1.1 Zur Semantik von שׁפן q./nif./hitp
2.3.1.2 Klgl 2,11f als Vergleichstext zu Ps 22,15a
2.3.1.3 Der Vergleich des Menschen mit Wasser
2.3.1.4 Ergebnis
2.3.2 „Getrennt haben sich alle meine Knochen“ (V.15a)
2.3.2.1 Alttestamentliche Anatomie IV: עֶצֶם „Knochen“
2.3.2.2 Zur Semantik von פרד hitp.
2.3.2.3 Ergebnis
Exkurs 3: Hi 10,8–12 als Kontrasttext zu Ps 22,15a
2.3.3 „Geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Innern“ (V.15b)
2.3.3.1 Alttestamentliche Anatomie V: לֵב „Herz“
2.3.3.2 Wachs als Vergleichsspender
2.3.3.3 Die Metapher des „zerfließenden Herzens“
2.3.3.4 Ergebnis
2.4 Bilder des Todes II: Der vertrocknende Körper (V.16)
2.4.1 „Trocken geworden wie eine Scherbe ist meine Kraft“ (V.16a)
2.4.1.1 Zur Bedeutung von כֹּחַ „Kraft“
2.4.1.2 Zur Konnotation von יבשׁ q. „vertrocknen“
2.4.1.3 Eine Tonscherbe als Vergleichsspender
2.4.2 „Meine Zunge ist kleben gemacht an meinem Gaumen“ (V.16a)
2.4.2.1 Alttestamentliche Anatomie VI: לָשׁוֹן „Zunge“ und מַלְקוֹחַיִם „Gaumen“
2.4.2.2 Die am Gaumen klebende Zunge
2.4.2.3 Ergebnis
2.4.3 „In den Staub des Todes setzt du mich“ (V.16b)
Exkurs 4: Zur Interpretation der Körperbilder als Krankheitsbilder
2.5 Bilder der Gewalt: Der verletzte Körper (V.17–19)
2.5.1 „Ja, umgeben haben mich Hunde“ (V.17)
2.5.1.1 Zur Charakterisierung der Feinde als כְּלׇבׅים „Hunde“ und מְרֵעׅים „Übeltäter“ (V.17a)
2.5.1.2 Alttestamentliche Anatomie VII: יׇד „Hand“ und רֶגֶל „Fuß“
2.5.1.3 Der Macht der Feinde ausgeliefert (V.17b)
2.5.2 „Ich kann zählen alle meine Knochen, sie schauen und sehen auf mich herab“ (V.18)
2.5.2.1 Das Zählen der Knochen“ (V.18a)
2.5.2.2 Der Blick der Feinde (V.18b)
2.5.3 „Sie teilen meine Kleider unter sich“ (V.19)
2.5.4 Ergebnis
2.6 Bitten und Erhörung (V.20–22)
2.6.1 Alttestamentliche Anatomie VIII: נֶפֶשׁ „Kehle“, „Leben“
2.6.2 Die Bitten um Rettung
2.6.3 Die Gewißheit der Erhörung
2.7 Zusammenfassung
3 Gemeinschaft und Gotteslob: Das Danklied (V.23–32)
3.1 Das Gotteslob in der Gemeinde (V.23–27)
3.1.1 Gotteslob als Kommunikationsgeschehen
3.1.2 Erhörte Klage als Grund des Lobes (V.25)
3.2 Bilder der Lebensfülle (V.27)
3.2.1 „Essen sollen Elende und satt werden“ (V.27a)
3.2.2 „Leben soll euer Herz für immer“ (V.27b)
3.3 Das Gotteslob in der Welt (V.28–32)
3.4 Zusammenfassung
Schluß
1 Die Körperbilder in Psalm 22 im Horizont der Forschungsdiskussion
2 Der Körper als Ort und Ausdrucksmedium von Beziehungen
2.1 Gottesbeziehung
2.2 Soziale Beziehungen
2.3 Selbstbeziehung
Literaturverzeichnis
Bibelstellenregister
Sachregister
Wortregister
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Körperbilder in den Psalmen: Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten
 9783161493614, 9783161578403, 3161493613

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Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) • Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

24

Dörte Bester

Körperbilder in den Psalmen Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten

Mohr Siebeck

geboren 1972; Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg, Berlin und Tübingen; 2006 Promotion; Pfarrerin z. A. am Pädagogisch-Theologischen Zentrum und am Pfarrseminar der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. D Ö R T E BESTER,

ISBN 978-3-16-149361-4 978-3-16-157840-3 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1611-4914 (Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:!Idnb.d-nb.de abrufbar. ©2007 Mohr Siebeck, Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

In Dankbarkeit und Freude meiner Mutter Anke Bester dem Andenken meines Vaters Christian Bester (1938-1981)

Vorwort Die vorliegenden Studien wurden im Sommersemester 2 0 0 6 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt allen voran Prof. Dr. Bernd Janowski. Er hat die Entstehung meiner Dissertation mit großem Interesse begleitet und durch zahlreiche Gespräche und vielfaltige Anregungen gefördert. Darüber hinaus danke ich ihm sowie Prof. Dr. Mark S. Smith und Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Spieckermann für die Aufnahme der Arbeit in die „Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe". Apl. Prof. Dr. Heinz-Dieter Neef hat das Zweitgutachten erstellt, ihm verdanke ich hilfreiche Hinweise für die Überarbeitung. Dr. Hennig Ziebritzki und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Mohr Siebeck danke ich für die gute verlegerische Betreuung und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für einen Druckkostenzuschuß. Das Doktorand/innen- und Habilitand/innenkolloqium von Prof. Dr. Janowski, in dem ich Teile meiner Arbeit vorstellen konnte, war ein anregendes Diskussionsforum. Der Studienstiftung des deutschen Volkes bin ich für die finanzielle und ideelle Förderung während meines Studiums sowie für die Gewährung eines Promotionsstipendiums dankbar. Ohne die Ermutigung und tatkräftige Hilfe von Freundinnen und Freunden wäre diese Untersuchung so nicht abgeschlossen worden: Prof. Dr. Karin Finsterbusch und Dr. Kathrin Liess haben eine erste Fassung mit interessiertem und kundigem Blick gelesen und wichtige Anregungen gegeben, Dr. Ernst Michael Dörrfuß gab als kundiger und kritischer Leser wertvolle Hinweise für die Drucklegung. Dorit Felsch hat die Arbeit sorgfaltig Korrektur gelesen und mich beim Erstellen der Druckvorlage mit viel Zeit, Umsicht und Humor unterstützt. Hilfe bei der Fertigstellung erhielt ich außerdem von Martin Hermann, Volker Kleppel, Rainer Schmidt und PD Dr. Christiane Tietz. Heidrun Kopp und ihre Familie haben mich in Tübingen stets mit offenen Armen empfangen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank! Über die Genannten hinaus haben mich viele Menschen unterstützt, ermutigt und begleitet. Auch ihnen danke ich von Herzen! Stuttgart, Pfingsten 2007

Dörte Bester

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

xm

Einleitung

l

1 Zum Thema

1

2 Zum Stand der Forschung

5

2.1 Überblick über die Forschung seit Franz Delitzsch 2.1.1

Darstellung

2.1.2

Resümee

2.2 Aspekte der gegenwärtigen Diskussion

6 6 22

23

2.2.1

„Körper" oder „Leib" - mehr als ein Sprachproblem?

24

2.2.2

Zur historischen Bedingtheit von Körperbildern

28

2.2.3

Zum Zusammenhang v o n Körperbild und Sozialstruktur

36

3 Zur Methode und zum Aufbau der Arbeit

41

Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22

45

1 Übersetzung

45

2 Textkritische und sprachliche Bemerkungen

47

Exkurs 1: nn*? - „Warum?" oder „Wozu?"

3 Literarische Analyse 3.1 Komposition und Gliederung

47

76 76

3.2 Literarkritik

84

3.3 Notizen zur Datierung 3.4 Gattung

90 91

Exkurs 2: Zum Subjekt der Klagelieder des Einzelnen

95

X

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil: Auslegung von Psalm 22 unter Berücksichtigung der Körperbilder

besonderer

1 Vertrauen und Verlassenheit: Der erste Klagegang (V.2-11) 1.1 Die Not der Gottverlassenheit (V.2f) 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

Mein Gott - warum? Zur Semantik von 3TD q. „verlassen" Schreien ohne Antwort Ergebnis

1.2 Das Lob Israels und das Schreien der Väter (V.4-6) 1.2.1 Lobgesang als Gottes Thron (V.4) 1.2.2 Schrei und Rettung der Väter (V.5f) 1.2.3 Ergebnis

1.3 Die Sprachmacht der Feinde (V.7-9) 1.3.1 Das betende Ich als Wurm (V.7a) 1.3.2 Der Spott der Mitmenschen (V.7b-9) 1.3.2.1 Körpersprache: Mimik und Gestik des Spottes 1.3.2.2 Worte des Spottes 1.3.3 Ergebnis

1.4 Bilder des Lebensanfangs: Der umsorgte Körper (V.10-11)

2

99 99 99 99 101 105 112

113 113 118 120

120 120 122 122 128 130

131

1.4.1 „Du hast mich herausgezogen aus dem Mutterleib" (V.lOa) 1.4.1.1 Alttestamentliche Anatomie I: ]C?3 „Bauch" 1.4.1.2 Deutungsansätze für |Mp 'm 1.4.1.3 Hebammen im Alten Testament und im Alten Orient 1.4.1.4 Psalm 71,5-9 als Paralleltext

131 131 133 136 141

1.4.2 „Du hast mir Vertrauen eingeflößt an den Brüsten meiner Mutter" (V.lOb) 1.4.2.1 Alttestamentliche Anatomie II: iti „Brust" 1.4.2.2 Muttermilch und Gottvertrauen

144 144 145

1.4.3 „Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an" (V. 11 a) 1.4.3.1 Alttestamentliche Anatomie III: nrn „Mutterschoß" 1.4.3.2 Ein alter Rechtsbrauch als H intergrund? 1.4.3.3 Zur Semantik von -pti hif./hof. „werfen"/„geworfen werden"

150 150 151 155

1.4.4 Ergebnis

158

1.5 Zusammenfassung

159

Bitten und Bedrängnis: Der zweite Klagegang (V. 12-22)

160

2.1 Die Bitte um Gottes Nähe (V.12) 2.2 Die Überlegenheit der Feinde (V.13-14)

160 162

Inhaltsverzeichnis

2.3 Bilder des Todes I: Der sich auflösende Körper (V.15) 2.3.1

XI

165

„Wie Wasser bin ich ausgegossen worden" (V.15a) 2.3.1.1 Zur Semantik von "|S!D q./nif./hitp 2.3.1.2 Klgl 2,1 l f a l s Vergleichstext zu Ps 22,15a 2.3.1.3 Der Vergleich des Menschen mit Wasser 2.3.1.4 Ergebnis

166 166 169 176 178

2.3.2 „Getrennt haben sich alle meine Knochen" (V.15a) 2.3.2.1 Alttestamentliche Anatomie IV: DXB „Knochen" 2.3.2.2 Zur Semantik von n a hitp

179 179 182

2.3.2.3 Ergebnis Exkurs 3: Hi 10,8-12 als Kontrasttext zu Ps 22,15a

185 186

2.3.3 „Geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Innern" 2.3.3.1 2.3.3.2 2.3.3.3 2.3.3.4

(V.15b) Alttestamentliche Anatomie V: h „Herz" Wachs als Vergleichsspender Die Metapher des „zerfließenden Herzens" Ergebnis

2.4 Bilder des Todes II: Der vertrocknende Körper (V.16) 2.4.1

„Trocken geworden wie eine Scherbe ist meine Kraft" (V.16a) 2.4.1.1 Zur Bedeutung von ns „Kraft" 2.4.1.2 Zur Konnotation von en - q. „vertrocknen" 2.4.1.3 Eine Tonscherbe als Vergleichsspender

190 190 194 197 200

201 201 201 203 205

2.4.2 „Meine Zunge ist kleben gemacht an meinem Gaumer," (Y.l6a) 2.4.2.1 Alttestamentliche Anatomie VI: litö1? „Zunge" und d T p ^ T „Gaumen" 2.4.2.2 Die am Gaumen klebende Zunge 2.4.2.3 Ergebnis

206 206 207 211

2.4.3 „In den Staub des Todes setzt du mich" (V.16b)

212

Exkurs 4: Zur Interpretation der Körperbilder als Krankheitsbilder

216

2.5 Bilder der Gewalt: Der verletzte Körper (V. 17-19)

220

2.5.1

„Ja, umgeben haben mich Hunde" (V.17) 2.5.1.1 Zur Charakterisierung der Feinde als D'?"?? „Hunde" und C i n p „Übeltäter" (V.17a) 2.5.1.2 Alttestamentliche Anatomie VII: t „Hand" und „Fuß"

220

2.5.1.3 Der Macht der Feinde ausgeliefert ( V J 7b)

225

220 223

XII

Inhaltsverzeichnis 2.5.2

„Ich kann zählen alle meine Knochen, sie schauen und sehen auf mich herab" (V.18) 2.5.2.1 Das Zählen der Knochen" (V.18a) 2.5.2.2 Der Blick der Feinde (V.lSb)

228 228 230

2.5.3 „Sie teilen meine Kleider unter sich" (V.19)

231

2.5.4 Ergebnis

234

2.6 Bitten und Erhörung (V.20-22) 2.6.1 Alttestamentliche Anatomie VIII: tos? „Kehle", „Leben" 2.6.2 Die Bitten um Rettung 2.6.3 Die Gewißheit der Erhörung

2.7 Zusammenfassung 3 Gemeinschaft und Gotteslob: Das Danklied (V.23-32) 3.1 Das Gotteslob in der Gemeinde (V.23-27) 3.1.1 Gotteslob als Kommunikationsgeschehen 3.1.2 Erhörte Klage als Grund des Lobes (V.25)

3.2 Bilder der Lebensfülle (V.27) 3.2.1 „Essen sollen Elende und satt werden" (V.27a) 3.2.2 „Leben soll euer Herz für immer" (V.27b)

236 236 239 241

244 245 245 245 249

252 252 256

3.3 Das Gotteslob in der Welt (V.28-32)

258

3.4 Zusammenfassung

262

Schluß

263

1 Die Körperbilder in Psalm 22 im Horizont der Forschungsdiskussion

263

2 Der Körper als Ort und Ausdrucksmedium von Beziehungen

264

2.1 Gottesbeziehung 2.2 Soziale Beziehungen 2.3 Selbstbeziehung

265 266 268

Literaturverzeichnis

271

Bibelstellenregister

295

Sachregister

300

Wortregister

303

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen richten sich nach: SCHWERTNER, S., Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 2 1994. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet: DCH

Ges 1 7

Ges

18

GesK

HAL

CLINES, D.J.A., (Ed.), Dictonary of Classical Hebrew, Vol. I, Sheffield 1993; Vol. II, Sheffield 1995; Vol. III, Sheffield 1997; Vol. IV, Sheffield 1998; Vol. V, Sheffield 2001 GESENIUS, W., Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. In Verbindung mit H. ZIMMERN, W. M. MÜLLER und O. WEBER bearb. von F. BUHL, Nachdruck der 17. Aufl. 1915, Berlin u.a. 1962 GESENIUS, W., Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Unter verantwortlicher Mitarbeit von U. RUDERSWÖRDEN bearb. und hg. v. D.R. MEYER und H. DONNER, 18. Aufl., 1. Lieferung K-3, Berlin u.a. 1987; 2. Lieferung Berlin u.a. 1995 GESENIUS, W., Hebräische Grammatik. Völlig umgearbeitet von E. KAUTZSCH, 28. vielfach verb. Aufl., Leipzig 1909, 7. Nachdruckaufl. zusammen mit G. BERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik. I. Teil. Einleitung, Schrift- und Lautlehre, Leipzig 1918, II. Teil. Verbum, Leipzig 1929, Darmstadt 1995 KÖHLER, L./BAUMGARTNER, W „ Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, 3. Aufl., neu bearb. von W. BAUMGARTNER/J.J. STAMM/B. HARTMANN, Bd. I. X-s>, Bd. II. s-n, Leiden/New York/Köln 1995

Einleitung 1 Zum Thema „Mit H e r z e n , M u n d u n d Händen" 1 lehren u n s die P s a l m e n zu beten: „ M e i n H e r z j u b l e über d e i n e R e t t u n g " (Ps 1 3 , 6 ) , „ M e i n M u n d soll v e r k ü n d i g e n d e i n L o b " ( P s 5 1 , 1 7 ) , „Ich strecke m e i n e H ä n d e aus z u dir" ( P s 1 4 3 , 6 ) . D o c h nicht nur mit H e r z e n , M u n d und H ä n d e n b e t e n die P s a l m e n , s o n d e r n H e r z e n , M u n d und H ä n d e , d a z u a u c h K n o c h e n , Z u n g e und Füße, d e n g a n z e n Körper n e h m e n sie ins Gebet. V o r a l l e m K l a g e u n d N o t , aber auch Vertrauen und H o f f n u n g w e r d e n in Körperbildern 2 ausgedrückt. N a c h d e m der Körper in der G e s e l l s c h a f t u n d in v e r s c h i e d e n e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s z i p l i n e n auf v i e l f a l t i g e W e i s e z u m T h e m a g e w o r d e n ist, 3 ist in den letzten Jahren auch in der T h e o l o g i e das Interesse daran g e w a c h sen, das s i c h in z a h l r e i c h e n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n , auch aus d e m B e r e i c h der a l t t e s t a m e n t l i c h e n W i s s e n s c h a f t , n i e d e r g e s c h l a g e n hat. 4 Erste A n s ä t z e gibt

1 Das Zitat stammt aus dem von M. Rinckart 1636 gedichteten Lied „Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen", Evangelisches Gesangbuch Nr. 321. In der ersten Strophe begegnet ein Motiv aus Ps 22,1 Of: Gott wird als der gepriesen, der „uns von Mutterleib und Kindesbeinen an unzählig viel zu gut bis hierher hat getan." 2 Zur Verwendung des Begriffes „Körperbild" siehe unten 3 - 5 . 3 Exemplarisch seien genannt BENTHIEN/WULF, Körperteile; KUHLMANN, Entdeckung; WISCHERMANN/HAAS, Körper; ANGEHRN, Körper; SCHROER, Soziologie. 4 Neben einer ganzen Anzahl von Aufsätzen und Monographien aus den unterschiedlichen theologischen Disziplinen (vgl. AMMICHT-QU1NN, Körper; KESSLER, Bibliodrama; FRIEDRICH, Liturgische Körper, 71-102.151-171.213-262; WEISSENRIEDER, Illness; JANSSEN, Schönheit u.a.) spiegelt sich das gewachsene Interesse der Theologie am Körper in den Themen der theologischen Zeitschriften der letzten Jahre, vgl. rhs 45/2002 („Körperinszenierungen"); Diakonia 33/2002; Concilium 38/2002 („Körper und Religion"); entwurf Heft 1/2004 („Körper"); Wort und Antwort 46/2005 („Körperkultur)"), Psychotherapie und Seelsorge 59/2007 („Körper und Psyche"). Aus dem Bereich der alttestamentlichen Wissenschaft sind u.a. SCHROER/STAUBLL, Körpersymbolik;

JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , u n d d e r S a m m e l b a n d d e s HEDWIG-JAHNOW-FORSCHUNGS-

PROJEKTES (Hg.), Körperkonzepte zu nennen.

2

Einleitung

es inzwischen auch in der Psalmenforschung,5 in der die Körperbilder bisher aus verschiedenen Gründen nur wenig Beachtung gefunden haben: Die Bildsprache der Psalmen galt lange Zeit als Zeichen für „überströmende und vor den stärksten Übertreibungen nicht zurückscheuende, ja diese geradezu aufsuchende Leidenschaftlichkeit"6. Dieses Urteil traf als ein Element der Bildsprache der Psalmen auch die Körperbilder. Sahen die einen in den Körperbildern leidenschaftliche Übertreibungen, so deuteten andere die Körperbilder in den Psalmen allein auf der konkreten Ebene als Schilderungen körperlicher Leiden, als körperliche Krankheitssymptome. Damit gab es eine Interpretation, die für nahezu alle Körperbilder plausibel schien und vor weiteren Fragen bewahrte: Die auch im Blick auf Psalm 22 immer wieder formulierte Annahme, der „Betende ist krank, schwerkrank"7. Des weiteren schien sich eine genauere Untersuchung der Körperbilder über lange Zeit hinweg zu erübrigen, da der Körper als Konstante inmitten alles historisch Wandelbaren galt und so die eigene Körpererfahrung zur Interpretation dieser Bilder ausreichend Anknüpfungspunkte zu bieten schien.8 Auch wenn die Arbeiten zur Bildsprache der Psalmen9 und zum Krankheitsverständnis der Individualpsalmen10 sowie die Aufnahme von Er-

5

Vgl.

MAIER,

Beziehungsweisen

(zu

Ps

139);

JANOWSKI,

Konfliktgespräche;

GILLMAYR-BUCHER, Body Images. 6 GUNKEL/BEGRJCH, Einleitung, 2 (Hervorhebung im Original); vgl. zu entsprechenden Urteilen anderer Exegeten die Hinweise bei BARTH, Errettung, 13f, zum Problem siehe auch RIEDE, Im Netz, 2, und JANOWSKI, De Profundis, 251, mit weiteren Literaturhinweisen. 7 SCHMIDT, Psalmen, 36, zu weiteren Beispielen für die Interpretation der Körperbilder in Ps 22 als Krankheitsbilder, auch aus der neueren Literatur, siehe unten 2 1 6 - 2 2 0 . 8 Siehe dazu unten 30-33. Für den Bereich der Soziologie äußert Schroer eine ähnliche Vermutung. Seiner Ansicht nach hat die „auf die Erklärung des sozialen Wandels konzentrierte Soziologie" den Körper lange Zeit u.a. deswegen vernachlässigt, da er als „unveränderliche Gegebenheit" galt (SCHROER, Einleitung, 15, vgl. 24-26). 9 Zur Todesmetaphorik vgl. BARTH, Errettung; zur Todes- und Lebensmetaphorik JANOWSKI, De profundis; zur Feindmetaphorik RIEDE, Im Netz; zur Bildsprache insgesamt vgl. KEEL, Bildsymbolik; aus der Kommentarliteratur ist besonders der Psalmenkommentar von HOSSFELD/ZENGER zu nennen (HThK.AT, bisher erschienen ist der Kommentar zu den Psalmen 51-100; zu Ps 1 - 1 0 0 vgl. DIES., Psalmen I/II [NEB]), der die Ergebnisse der Einzelstudien in die Auslegung aufnimmt und sie für diese fruchtbar macht; eine „der großen Stärken des Kommentars [...] ist", so Janowski, „die Rehabilitierung der Bildsprache" (JANOWSKI, Spiritualität, 52).

1 Zum Thema

3

kenntnissen der historischen Anthropologie" dazu beigetragen haben, die Körperbilder in den Psalmen differenzierter wahrzunehmen, fehlt bis heute, abgesehen von einzelnen Aufsätzen,12 eine Arbeit, die den Körperbildern der Individualpsalmen in ihrer eigenen Bedeutung nachgeht, sie in ihrem historischen und literarischen Kontext interpretiert und ihre Funktion im Blick auf den Gebetsprozeß der Psalmen beschreibt. Dies soll im folgenden am Beispiel von Psalm 22" geschehen, der Fokus liegt dabei auf den Körperbildern in den Ich-Aussagen, das heißt den Körperbildern, die sich auf das betende Ich beziehen.14 Unter dem Begriff ,Körperbilder' werden in dieser Untersuchung alle Aussagen zu einzelnen Körperteilen und Organen subsumiert. Mit dem Begriff der Körperbilder, durch den die Aussagen über den Körper als ein Element in die Bildsprache der Psalmen eingeordnet werden, ist der Hinweis verbunden, daß der Körper in den Texten nicht ,an sich' greifbar, sondern in Form sprachlicher Bilder präsent ist.15 Die einzelnen Körperbilder sind ihrerseits einzuordnen in ein bestimmes Körperbild. Dieses meint ein auf den ganzen Körper bezogenes „Körperkonzept" 16 oder „Körperschema"17. Im Unterschied zum Körperbild bezieht sich der hier verwendete Begriff

10

V g l . SEYBOLD, G e b e t ; SEYBOLD/MÜLLER, K r a n k h e i t ; JANOWSKI,

Konfliktgesprä-

che, 174-203, siehe dazu unten 216-220. 11 Vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 2 - 6 ; DERS., Mensch, 144-152; MAIER, Beziehungsweisen, 173f. 12 Vgl. v.a. MAIER, Beziehungsweisen; GILLMAYR-BUCHER, Body Images, und DIES., Körpermetaphern. 13 Zur Begründung des exemplarischen Vorgehens wie zur Auswahl des Textes siehe unten 4 1 - 4 3 . 14 Andere mögliche Schwerpunkte wären die Untersuchung der auf Gott oder auf die Feinde bezogenen Körperbilder; der Körper der Feinde kommt in Ps 22 besonders in V.8 in den Blick, siehe dazu unten 122-127; zum Körper der Feinde vgl. ferner GILLMAYRBuCHER, Body Images, 308-310; zum Körper Gottes vgl. KLINGBEIL, Yahweh, 29f; SCHART, Gestalt; BROWN, Psalms, 169-182; BAUMANN, Geschlecht; zur Bedeutung metaphorischer Rede von Gott vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Gottesbilder; SCHROER/ STAUBLI, Körper. 15 Vgl. GEIGER/SCHAFER-BOSSERT, Körperkonzepte, 23. 16 Unter dem Begriff „Körperkonzepte" fassen die Autorinnen des Hedwig-JahnowProjektes ihre Studien, zu ihrer Definition des Begriffes vgl. GEIGER/SCHAFER-BOSSERT, Körperkonzepte, 21f; siehe dazu unten 20 Anm. 128. 17 Der Begriff des „Körperschemas" stammt ursprünglich aus der Neurologie, vgl. JoRASCHKY, Körperschema, 17-22.

4

Einleitung

der Körperbilder auf solche Aussagen, die einzelne Körperteile und Organe betreffen. Der Begriff der Körperft/Mer dient also als Sammelbegriff für die unterschiedlichen sprachlichen Formen, in denen Aussagen über den Körper in den Psalmen begegnen:18 Dies sind metaphorische Aussagen über den Körper („mein Herz [...] zerflossen in meinem Innern") zu denen als eine spezielle Form metaphorischer Aussagen auch explizite Vergleiche gehören („mein Herz ist wie Wachs").19 Ist beim Vergleich der Bezug zum Konkreten, zum Körper, schon durch die sprachliche Form gewahrt - der Vergleichsempfänger („mein Herz") bildet das Subjekt - so ist auch für Metaphern allgemein festzuhalten, daß diese nie den Bezug zum Konkreten, das heißt im Falle der Körpermetaphorik: zum Körper verlieren.20

18

Hinsichtlich der Definition des Begriffes ,Bild' gibt es im sprachwissenschaftlichen Diskurs keinen Konsens (vgl. ZIMMERMANN, Einführung, 16f). Im Blick auf die Bestimmung der Körperbilder ist m.E. die „funktional-relationale Beschreibung der Bildlichkeit", wie sie Zimmermann als „Minimalkonsens" vorschlägt, weiterführend: Im Anschluß an den von Aristoteles für die Bestimmung von .Metaphern' vorausgesetzten „Übertragungsvorgang" spricht Zimmermann von einer „Beziehung", einer „Interaktion zweier Bereiche", von denen einer „mit konkreten sinnlichen Erfahrungen verknüpft" ist. „Bildersprache" wird von Zimmermann gefaßt als ein „relationales Geschehen auf der Basis sinnlicher Erfahrungen". (ZIMMERMANN, Einführung, 20). Diese Basis sinnlicher Erfahrung, d.h. die Ebene der konkreten Körperlichkeit, ist bei der Interpretation der Körperbilder auf beiden Seiten des relationalen Geschehens zu berücksichtigen und kann kaum überschätzt werden. Auf die prägenden Kraft des Körpers für die metaphorische Sprache überhaupt weisen u.a. Arbeiten aus der Semiotik hin, siehe dazu oben 37 Anm. 212. Daß die Präposition 'je"? ursprünglich eine körperbezogene Metapher ist, mag beispielhaft verdeutlichen, wie die prägende Kraft des Körpers ihren Niederschlag im biblischen Hebräisch findet. 19 Zur Ableitung des Verlgeiches aus der Metapher vgl. ZIMMERMANN, Metapherntheorie, 117. Anders z.B. SEYBOLD, Poetik, 201, der sich auf die auf Quintilian zurückgehende Definition der Metapher als eines verkürzten Vergleiches bezieht. Einen Überblick über die Diskussion zur Bildsprache und zum Metaphernbegriff vermitteln die einschlägigen Lexikonartikel; vgl. GÖRG, Art. Bildsprache; WEHRLE, Art. Metapher, SCHWEIZER, Art. Metaphorik. Ausführlich aufgenommen worden ist die Diskussion von Metapherntheorien in der alttestamentlichen Forschung u.a. von KRIEG, Todesbilder; SEIFERT, Metaphorisches Reden, EIDEVALL, Grapes; VAN HECKE (Hg.), Metaphor. Zur Bildsprache in den Psalmen vgl. KEEL, Bildsymbolik, 7 - 1 1 ; RIEDE, Im Netz, 1 - 1 8 ; JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 2 1 - 3 5 ; SEYBOLD, P o e t i k , 1 9 3 - 2 1 2 . 20

V g l . HOSSFELD, M e t a p h o r i s i e r u n g , 2 2 f ; LIESS, W e g ,

1 6 1 - 1 6 3 ; JANOWSKI,

Kon-

fliktgespräche, 33-35. Gillmayr-Bucher weist darauf hin, daß gerade bei Körperbildern der wörtlicher und bildlicher Gebrauch oft nah beieinander liegen bzw. ineinander übergehen, vgl. GILLMAYR-BUCHER, Body Images, 305.

2 Zum Stand der

5

Forschung

Unter ,Körperbildern' werden neben Metaphern und Vergeichen schließlich auch konkrete Aussagen („meine Zunge ist kleben gemacht an meinem Gaumen") subsumiert. Diese konkreten Aussagen sind nicht in einem neutralen Sinn als Beschreibungen' des Körpers zu verstehen, da zum einen „Körperteile im biblischen Hebräisch nie unter dem Aspekt der Form, sondern unter dem ihrer Funktion und Dynamis" 21 wahrgenommen werden. Zum anderen sind auch die konkreten Aussagen im Kontext der Bildsprache der Psalmen auf ihren bildlich-metaphorischen Gehalt hin zu befragen. 22

2 Zum Stand der Forschung Die Frage nach den Körperbildern in den Psalmen steht im Horizont der Diskussion um den Körper im Alten Testament. Zur Einführung in die damit verbundenen Fragestellungen wird der Untersuchung von Psalm 22 ein Forschungsüberblick zum Thema vorangestellt. Er konzentriert sich auf die Frage nach dem Körper des Menschen als einem Aspekt der alttestamentlichen Anthropologie. 23 Um die Entwicklung der Diskussion nachzeichnen zu können, ist dieser Gang durch die Forschungsgeschichte chronologisch angelegt. 24

21

KEEL, Blicke, 27, siehe dazu oben 13.15. Nach Zimmermann ist der erste Schritt in der Bildexegese, die Frage nach „Metaphernsignalen und Indikatoren". Dazu gehören „Spannungsmomente, die über einen literarischen Text hinausweisen", „Brüche oder kontradiktorische Übergänge" sowie „im Umfeld weitere Metaphern oder Elemente aus bekannten Bildtraditionen, die eine figurative Redeweise nahelegen" (ZIMMERMANN, Metapherntheorie, 130). 23 Aufgrund dieses thematischen Schwerpunktes wird im folgenden auf Arbeiten zur Anthropologie des Alten Testaments, in denen der Körper des Menschen keinen eigenen Schwerpunkt in der Darstellung bildet, nicht eingegangen. Unberücksichtigt bleiben muß an dieser Stelle auch die Fülle von Lexikonartikeln und Studien zu einzelnen Körperteilen. Hinweise darauf sind, soweit sie die Körperteile in Ps 22 betreffen, in den Kapiteln zur alttestamentlichen Anatomie aufgenommen. Zur Forschungsgeschichte vgl. WOLFF, 22

Anthropologie,

14-18;

SCHROER/STAUBLI,

Körpersymbolik,

12-16;

JANOWSKI,

Kon-

f l i k t g e s p r ä c h e , 7 - 1 3 ; DERS., M e n s c h , 1 4 4 - 1 5 2 ; K I E S O W , S u c h e . 24 Anders z.B. A. Kiesow, die ihren Forschungsüberblick systematisch gliedert, indem sie an Dogmatik, Bibelkunde oder Philologie orientierte Ansätze unterscheidet. Eine Unterscheidung, die m.E. insofern problematisch ist, da z.B. das Kapitel zum Körper in Wolffs Anthropologie, die Kiesow zu den bibelkundlichen Arbeiten rechnet, genauso an den verschiedenen Körperbegriffen orientiert ist, wie die „Körpersymbolik der Bibel" von Schroer/Staubli, die sie unter die Überschrift „Philologie" stellt. Darüberhinaus sind

6

Einleitung

2.1 Überblick über die Forschung seit Franz Delitzsch 2.1.1

Darstellung

Leitendes Interesse der alttestamentlichen Forschung ist über lange Zeit das Bestreben, das Bedeutungsspektrum der einzelnen Lexeme, mit denen die Körperteile und Organe bezeichnet werden, zu erfassen. Als einer der ersten widmet Franz Delitzsch in seinem 1855 veröffentlichten „System der biblischen Psychologie" dem „Leib"25 des Menschen einige Kapitel. Nach einem einleitenden Kapitel, in dem er das Verhältnis von Leib und Seele bestimmt,26 folgen drei Kapitel zu einzelnen Körperteilen beziehungsweise Körperflüssigkeiten: „Seele und Blut", „Herz und Haupt" sowie ,,[d]as Leibesinnere, die Eingeweide und die Nieren"27. In diesen Kapiteln nennt er jeweils eine Fülle von Belegstellen zu den einzelnen Körperteilen, die er systematisch zu gliedern sucht und mit Aussagen der Antike ins Gespräch bringt. Dem biblischen Befund stellt er in einem zweiten Schritt die Erkenntnisse der Wissenschaft seiner Zeit gegenüber und versucht in einem dritten Schritt, die Differenzen zwischen beiden zu erklären.28 Sein Vorgehen sei am Beispiel des Kapitels zu „Herz und Haupt" verdeutlicht: Delitzsch gliedert zunächst die biblischen Belege zum „Herzen" unter den Überschriften: I. das Herz als „Centrum des leiblichen Lebens", II. als „Centrum des geistig-seelischen Lebens" und III. als „Centrum des sittlichen Lebens" 29 . Sodann fragt er nach dem Zusammenhang zwischen den Funktionen des Herzens im „niederen leiblich-vitalen" und im „höheren geistig-seelischen Sinne" 30 und zieht Aussagen aus der Antike heran, in denen dem Herzen ebenfalls „geistig-seelische" Funktionen zugeschrieben werden. 31 Auffallig sei, so Delitzsch, daß diese Funktionen vor allem im Herzen und nicht im Haupt verortet

die von ihr als „bibelkundlich" oder „philologisch" eingestuften Arbeiten keineswegs frei von dogmatischen und systematischen Implikationen, wie sie selbst kritisch bemerkt (vgl. aaO 33). 25 Zur Differenzierung der Begriffe Körper und Leib siehe unten 24-28. 26 Vgl. DELITZSCH, Psychologie, 181-195 („Der Leib als siebenfältiges Selbstdarstellungsmittel der Seele"); nach Delitzsch stellt sich die Seele im Leib in sieben Lebensgestalten dar, zu denen er u.a. die Gestalt des Embryo (n'ja). die Gestalt der Atmung (nooO, des Blutes (m,) und des Herzens (nb) zählt, diese „von Finsterniss zu Licht ausdringende leibliche Selbstdarstellung der Seele" vollendet sich in der siebten Lebensgestalt: NT?N (DELITZSCH, Psychologie, 194). 27 Vgl. DELITZSCH, Psychologie, 2 2 0 - 2 3 0 . 28 Vgl. zum Vorgehen von Delitzsch auch die Rezeption bei KOEBERLE, Natur, 9 - 1 1 . 29 DELITZSCH, Psychologie, 203-207. 30 DELITZSCH, Psychologie, 207. 31 DELITZSCH, Psychologie, 208-210.

2 Zum Stand der

7

Forschung

würden. 3 2 Dies widerspreche den wissenschaftlichen Erkenntnissen und „der natürlichen Selbstbeobachtung" 3 3 : „Dass das Gehirn das Organ aller bewussten Lebensthätigkeit und also das eigentliche Seelenorgan ist, sagt nicht allein die Wissenschaft, sondern j e d e s K o p f w e h infolge angestrengten Denkens". 3 4 Einen Ausgleich der Widersprüche sucht Delitzsch dadurch zu erlangen, daß er einerseits die Bedeutung des Herzens f ü r das vegetative N e r v e n s y s t e m thematisiert, die zu seiner Zeit Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion war, 3 5 und andererseits auf Aussagen von Schlafwandlern verweist, in denen das H e r z als Ort der Erkenntnis und Einsicht genannt wird. 3 6 Es seien, so faßt Delitzsch z u s a m m e n , „das Haupt als Höhepunkt des cerebrospinalen und das Herz als Mittelpunkt des sogenannten Nervensystems

zwei

correspondierende

Pole

leiblicher

Vermittlung

vegetativen

des

seelisch-

geistigen Lebens" 3 7 . Habe die Gegenwart das Altertum durch ihren intellektuellen Fortschritt zwar überflügelt, so sei sie doch, indem sie die Bedeutung des Herzens vernachlässige, hinter das Wissen des Altertums zurückgefallen. 3 8

Obwohl zeitbedingte Wertungen und Systematisierungen bereits die Einordnung der Bibeltexte prägen, indem Delitzsch zum Beispiel vom „Herz im niederen leiblich-vitalen" und vom „Herz im höheren geistig-seelischen Sinne"39 spricht, ist es bemerkenswert, wie er sich bemüht, die historische Differenz wahr- und ernst zu nehmen,40 auch wenn er diese im Fortgang seiner Untersuchung wieder einebnet, indem er die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit mit den biblischen Texten in Einklang zu bringen sucht. Auf die anthropologischen Begriffe geht auch Henry Wheeler Robinson in seinem 1911 erstmals erschienenen Buch „The Christian Doctrine of Man" ein. Er beginnt sein Kapitel „The Evolution of Psychological Terms"41 mit einer Analyse der körperbezogenen Termini und begründet sein Vorgehen damit, daß im hebräischen Denken der Körper im Vordergrund stehe: „The 32

DELITZSCH, P s y c h o l o g i e , 2 1 2 .

33

Ebd.

34

DELITZSCH, P s y c h o l o g i e , 2 1 3 .

35

Vgl. DELITZSCH, Psychologie, 2 1 2 - 2 1 4 .

36

DELITZSCH, Psychologie, 2 1 6 - 2 1 8 ; vgl. dazu schon die kritische B e m e r k u n g bei

Koeberle: „Nicht selten dringen fremdartige Elemente in die U n t e r s u c h u n g ein, vgl. z.B. die Erörterungen über S o m n a m b u l i s m u s " (KOEBERLE, Natur, 10). 37

DELITZSCH, P s y c h o l o g i e , 2 1 8 .

38

V g l . DELITZSCH, P s y c h o l o g i e , 2 2 0 .

39

DELITZSCH, Psychologie, 207 (Hervorhebungen von mir).

40

Vgl. seine B e m e r k u n g aaO 212: „Wir haben den Sachverhalt ganz u n b e f a n g e n her-

vorgestellt, die Schrift in ihrem eignen Lichte und nicht in dem der neuern Physiologie und Psychologie betrachtend." 41

V g l . ROBINSON, D o c t r i n e ,

11-27.

8

Einleitung

body, not the soul, is the characteristic element of Hebrew personality; and Hebrew thought [...] has developed from the functions of the physical organs a somewhat complex psychical use."42 Zentral sind für ihn vier Begriffe 2*7, öS?, nil und TiQ, die jedoch nicht eine Aufteilung des Menschen in verschiedene Bereiche rechtfertigen, sondern „simply present different aspects of the unity of personality" 43 . 1921-23 erscheint in der Revue Biblique eine Studie von Edouard Dhorme, „L'emploi métaphorique des nomes de parties du corps en hébreu et en akkadien". Der erste Teil (1921) widmet sich dem Gesicht, der zweite Teil (1922) den inneren Organen, der dritte Teil (1923) den Gliedern. Die inneren Organe sind, so Dhorme, für eine semitische Psychologie von besonderem Interesse, da dort die Gefühle und Empfindungen verortet werden,44 die sich im Gesicht spiegeln und die Bewegung und Haltung der Glieder leiten und führen. 45 Ebenfalls in den 1920er Jahren erscheint Johannes Pedersens umfangreiches Werk „Israel. Its Life and Culture", in dessen erstem Teil er sich mit der Bedeutung der Seele befaßt. 46 Ausgangspunkt ist seine auf Gen 2 gründende These, daß nach alttestamentlichem Verständnis der Mensch nicht eine Seele (ttis;) hat, sondern eine Seele ist: „Such as he is, man, in his total essence, is a soul."47 Damit aber seien Seele und Körper keineswegs gleichgesetzt, vielmehr sei der Körper eine Manifestation der Seele.48 Von jedem einzelnen Körperteil kann nach Pedersen gesagt werden, es „sei" die Seele: „He [sc. the Israelite] c o n c l u d e s not from the m o v e m e n t s o f the b o d y to an underlying soul, w h i c h uses and m o v e s the body, but in the activity o f the soul he sees the soul itself. When, e.g., a man looks at something, then the e y e at that m o m e n t is the particularly active part o f the soul, but this activity includes the w h o l e o f the soul, just as it reacts

42

ROBINSON, Doctrine, 12, vgl. 27: „The Hebrew idea o f personality is that o f an

animated body, not (like the Greek) that o f an incarnated soul." 43

ROBINSON, Doctrine, 2 7 .

44

V g l . DHORME, L ' e m p l o i métaphorique ( 1 9 2 2 ) , 4 8 9 : [L]es passions et les émotions

qui bouleversent l'être intérieur, ainsi que les imaginations, les idées et les souvenirs, qui ont leur principe au dedans de l'individu, se rapporteront naturellement à ces organes cachés dont on ressentait les impressions au c h o c des p h é n o m è n e s de la v i e sensible, intellectuelle ou morale." 45

V g l . DHORME, L'emploi métaphorique ( 1 9 2 3 ) , 2 0 9 .

46

V g l . PEDERSEN, Israel, 9 9 - 2 5 9 („The Soul, its P o w e r s and Capacity").

47

PEDERSEN, Israel, 9 9 .

48

V g l . PEDERSEN, Israel, 171.

2 Zum Stand der Forschung

9

u p o n the w h o l e o f the Contents o f the soul. T h e r e f o r e the s o u l is at that m o m e n t the "49 eye.

Trotz des häufigen Vorkommens des Terminus 055 hat dieser, wie Klaus Koch kritisch festhält, „zu keiner Zeit jene alles beherrschende Stellung, die Pedersen behauptet" 50 zumal dann nicht, so ist hinzuzufügen, wenn tösj ausschließlich mit „Seele" übersetzt wird.51 Ungeachtet der problematischen Gewichtung und Deutung des Seelenbegriffes gingen jedoch von Pedersens Werk wichtige Impulse für die alttestamentliche Forschung aus. Christof Barth rekurriert in seiner Arbeit zum Todesverständnis der Individualpsalmen auf Pedersens Arbeit,52 und auch die für die Forschung zu den alttestamentlichen Körperbegriffen wichtige Arbeit Aubrey R. Johnsons, „The Vitality of the Individual in the Thought of Ancient Israel", ist geprägt von Pedersens Entwurf. 53 Diese Studie Johnsons ist in einer ganzen Reihe von Arbeiten zum Menschenbild des Alten Testaments, die in den 1940er Jahren erscheinen, die einzige, die sich explizit und intensiv mit dem Körper des Menschen beschäftigt. 54 Johnson beschreibt darin nach zwei Kapiteln über 09; und nri 55 im dritten Kapitel die Bedeutung und Verwendung der verschiedenen Körperteile anhand zahlreicher biblischer Belege.56 Dabei haben vor allem zwei Einsichten Johnsons die weitere Forschung geprägt. Er erklärt den auffälligen Befund, daß einzelne Körperteile immer wieder im Parallelismus mit Personalpronomina begegnen und so für den ganzen Menschen stehen können, durch die Stilfigur der Synekdoche: ,,[I]n certain circumstances an impor49

PEDERSEN, Israel, 176; v g l . 1 7 0 - 1 7 8 . D i e S e e l e ist für Pedersen j e d o c h k e i n e s w e g s

auf den Körper beschränkt, v i e l m e h r hat z.B. auch e i n e Familie e i n e S e e l e ( v g l . aaO 179), und die S e e l e ist g e g e n w ä r t i g in W o r t e n und Taten, aber auch im g e s a m t e n B e s i t z e i n e s M a n n e s ( v g l . aaO 1 6 5 . 1 7 0 ) . 50

KOCH, D e n k e n , 9 . Zur A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit P e d e r s e n s Werk v g l . aaO 6 - 9 .

51

Zur B e d e u t u n g d e s B e g r i f f e s 025 s i e h e unten 2 3 6 - 2 3 9 .

52

V g l . BARTH, Errettung, 15 s o w i e auch den H i n w e i s bei KOCH, D e n k e n , 9.

53

V g l . JOHNSON, Vitality, 8f.

54

D i e anderen Studien z u m M e n s c h e n b i l d im A l t e n T e s t a m e n t aus dieser Zeit v o n

Eichrodt, G a l l i n g und Z i m m e r l i ( v g l . EICHRODT, M e n s c h e n v e r s t ä n d n i s ; GALLING, Bild; ZLMMERLI, M e n s c h e n b i l d ) fragen eher nach d e m L e b e n s r h y t h m u s und den s o z i a l e n G e g e b e n h e i t e n d e s M e n s c h s e i n s . A n g e s t o ß e n w a r e n d i e s e Studien durch die, w i e G a l l i n g schreibt, „ d e u t s c h e Katastrophe", die A n l a ß gab, über den M e n s c h e n erneut n a c h z u d e n ken (GALLING, Bild, 5). 55

V g l . JOHNSON, Vitality, 7 - 2 6 . 2 6 - 3 9 .

56

V g l . JOHNSON, Vitality, 3 9 - 8 8 . Im vierten Teil seiner Arbeit (aaO 8 8 - 1 0 7 ) geht er

a u f das Verständnis v o n Leben und T o d ein.

10

Einleitung

tant part of one's tos: or person acquires a heightened significance, and so may be used picturesquely and graphically with reference to the individual as a whole"57. Neben der Stilfigur der Synekdoche spielt auch seine Rede vom Menschen als einem ,psychophysischen Organismus' bis heute in der Diskussion um den Körper des Menschen im Alten Testament eine wichtige Rolle: Im Alten Testament werde, so Johnson, vom Menschen gesprochen „as a unit of vital power or (in current terminology) a psychophysical organism"5S. Daneben trug Johnsons Arbeit wohl mit dazu bei, daß bei der Rede über den Menschen im Alten Testament der Körper verstärkt mit in den Blick kam. So widmet Georges Pidoux in seiner Monographie „L'homme dans l'Ancien Testament" dem Körper ein eigenes Kapitel. Pidoux betont im Anschluß an Johnson, daß der Mensch im Alten Testament als ein „organisme psychophysique"59 gesehen werde. In seiner Untersuchung der einzelnen Körperteile und Organe skizziert er das Bedeutungsspektrum der einzelnen Begriffe unter Verwendung zahlreicher biblischer Beispiele.60 Besonderes Gewicht erhält in seinen Ausführungen die Beobachtung, daß einzelne Körperteile und Organe jeweils für den ganzen Menschen stehen können,61 der als „unité indissoluble"62 betrachtet werde. Diese Besonderheit der alttestamentlichen Rede vom Menschen werde, so Pidoux, abgeschwächt, wenn die Verwendung einzelner Körperteile für den ganzen Menschen mit Hilfe der Stilfigur der Metapher oder der Synekdoche erklärt werde.63 Joachim Oelsner untersucht in seiner 1960 eingereichten Dissertation rund 200 körperbezogene hebräische Termini auf der Grundlage von mehr

57

JOHNSON, Vitality, 52, als Beispiel nennt er u.a. Spr 15,31.

58

JOHNSON, Vitality, 88 (Hervorhebung von mir), vgl. aaO 52f; zur Aufnahme John-

sons in der Forschung vgl. z.B. DI VlTO, Anthropology, 2 2 6 - 2 2 8 ,

bes. A n m

44;

ALBERTZ, Art. Mensch, 4 6 5 ; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 9, und MAIER, Beziehungsweisen, 182. 59 60

PIDOUX, L'homme, 23. Pidoux behandelt in seinem Kapitel zum Körper ausfuhrlich das Herz, dessen

Funktion als Sitz des Denkens er im Unterschied zum modernen Verständnis des Herzens primär als Ort der Emotionen besonders hervorhebt, sowie die inneren Organe und die Knochen. Im zweiten Teil widmet er sich den äußeren Teilen des Körpers, dem Kopf und insbesondere dem Gesicht mit Augen und Ohren sowie den Extremitäten, vgl. PIDOUX, L'homme, 2 3 - 3 5 . 61

Vgl. PIDOUX, L'homme, 2 3 . 3 0 . 3 1 . 3 2 . 3 3 u.ö.

62

PIDOUX, L'homme, 23.

63

Vgl. PIDOUX, L'homme, 23.

2 Zum Stand

der

Forschung

11

als 11000 Belegstellen auf ihre Verwendung und Bedeutung hin. Nach einem ersten Kapitel, in dem er Begriffen wie D?; und n n als „umfassenden Bezeichnungen für das menschliche Wesen"64 sowie den „Benennungen des Körpers und seiner allgemeinen Bestandteile"65 nachgeht, wendet er sich den Körperbezeichnungen aus dem Bereich des Kopfes, des Rumpfes und die Bezeichnungen der Extremitäten zu.66 Er versteht seine Dissertation als eine Vorarbeit, die Untersuchungen zur Bedeutung des Körpers ermöglichen sollte.67 Seine Arbeit ist jedoch kaum rezipiert worden,68 auch wenn in ihr manche Einsicht, die sich in den folgenden Jahren in der alttestamentlichen Forschung durchsetzte, wie zum Beispiel die Zurückweisung des dichotomischen oder trichotomischen Menschbildes, bereits formuliert ist.69 Dichotomische und trichotomische Erklärungen des Menschenbildes weist auch Werner H. Schmidt in seinem 1964 erschienenen Aufsatz „Anthropologische Begriffe im Alten Testament" als für das Alte Testament unzutreffend zurück.70 Ein Ergebnis seiner Untersuchung der Lexeme os:, nn, "ito und n1? ist, daß „der Sache nach in allen drei Begriffen [sc. Seele, Geist, Leib] nicht jeweils ein Teil des Menschen neben anderen, sondern der Mensch als ganzer und als Einheit gemeint"71 ist. Den Grund für diese ,ganzheitliche' Sicht des Menschen sieht Schmidt in dem engen Zusammenhang, der zwischen einem Körperteil und dessen Funktion besteht: Es wird „zwischen dem Organ und seiner Funktion oder dem Körperteil, den der Mensch hat, und der Seins- oder Verhaltensweise, in der der Mensch lebt, nicht scharf unterschieden [...]. Vielmehr wird gerade mit dem Organ der Aspekt bestimmt, unter dem der Mensch jeweils erscheint."72

64

OELSNER, Körperteile, 10, v g l . aaO 1 0 - 4 4 .

65

OELSNER, Körperteile, 4 5 , v g l . aaO 4 5 - 9 2 ; z u den in d i e s e m Kapitel untersuchten

B e g r i f f e n zählen u.a. "im, DSB, Tis und DT 66

Es f o l g t n o c h ein A n h a n g über Körperteile v o n Tieren.

67

V g l . OELSNER, Körperteile, 1 . 3 3 8 .

68

D i e s mag, n e b e n d e m in w e i t e n T e i l e n eher b i b e l k u n d l i c h e n Charakter der Arbeit

mit daran liegen, daß d i e s e Arbeit nur als m a s c h i n e n s c h r i f t l i c h e Dissertation vorliegt. 69

V g l . OELSNER, Körperteile, 5 f .

70

V g l . SCHMIDT, A n t h r o p o l o g i s c h e B e g r i f f e , 3 8 7 .

71

SCHMIDT, A n t h r o p o l o g i s c h e B e g r i f f e , 3 7 6 .

72

SCHMIDT, A n t h r o p o l o g i s c h e B e g r i f f e , 3 8 7 . Zur EIS: z.B. schreibt er: „ D i e Unter-

s c h e i d u n g v o n , K e h l e , H a l s ' einerseits und , A t e m , atmen' andererseits stellt d o c h w o h l e i n e nachträgliche A n a l y s e e i n e s einheitlich g e d a c h t e n P h ä n o m e n s dar. D a s Organ und seine Funktion g e h ö r e n z u s a m m e n : D i e K e h l e atmet. [ . . . ] Scharf ausgedrückt: Der Körperteil und w a s er v o l l b r i n g t sind eins" (SCHMIDT, aaO 3 7 8 ) .

12

Einleitung

Die Ganzheit des alttestamentlichen Menschenbildes hebt auch Hugo Goeke in seiner 1971 erschienenen Dissertation „Das Menschenbild der individuellen Klagelieder" hervor. 73 Mit den einzelnen Körpertermini werde diese Ganzheit „unter verschiedenen Aspekten" 74 aufgegriffen: „Wenn in gleichem Atemzug von ,Seele', ,Herz' und ,Leib' die Rede ist (Ps 84,3) oder von ,Seele' und ,Leib' (Ps 63,7), so ist nicht von Teilen im numerischen Sinn die Rede, aus denen sich der Mensch zusammensetzt, sondern von Aspekten, unter denen der eine, ganzheitliche Mensch betrachtet wird" 75 : „In allen individuellen Klageliedern stellt sich der Mensch als ein leibhaftiges ganzheitliches Wesen dar, das sich nicht nach verschiedenen Komponenten oder Prinzipien aufteilen läßt. [...] Der Mensch ist so sehr eine unteilbare Ganzheit, daß jedes Leid, das ihn trifft, alle Dimensionen seines Daseins durchdringt, und zwar die leibhaft-vitale in körperlicher Gebrochenheit, die sensitive in Unruhe, Schmerz und Trauer, die voluntative in Mutlosigkeit und Verzagtheit." 7 6

Endgültig durchgesetzt hat sich die Absage an die dichotomische beziehungsweise trichotomische Sicht des Menschen als eine dem Alten Testament unsachgemäße Sichtweise durch die 1973 erschienene „Anthropologie des Alten Testaments" von Hans Walter Wolff.11 Sie stellt den ersten 73 Die Dissertation gliedert sich in zwei Hauptteile. In einem ersten, von Goeke als „analytisch" bezeichneten Teil geht er den Grundelementen der Klagelieder nach („Klage", „Vertrauen und Zuversicht", „Bitte und Wünsche"; „Gewißheit und Lob"; vgl. GOEKE, Menschenbild, 5 - 9 6 . 9 7 - 1 6 0 . 1 6 1 - 1 9 3 . 1 9 4 - 2 0 2 ) und entfaltet sie auf dem Hintergrund zahlreicher Psalmzitate. Die Körperbilder der Psalmen werden vor allem im Klagekapitel unter den Überschriften „Hilflosigkeit" (aaO 12-24) und „Schmerz" (aaO 2 7 - 3 5 ) aufgenommen. Die im analytischen Teil gewonnenen Erkenntnisse zum Menschenbild präsentiert er in einem zweiten, „systematischen" Teil unter den Überschriften „Der Mensch in seiner Befindlichkeit", „Der Mensch in Umwelt und Geschichte", „Der Mensch unter dem Anspruch Gottes" und „Der Mensch in der Entscheidung" (vgl. GOEKE, aaO 2 0 4 - 2 3 1 . 2 3 2 - 2 4 0 . 2 4 1 - 2 4 4 . 2 4 5 - 2 5 2 ; dieser zweite Teil seiner Dissertation ist unter der Überschrift „Anthropologie der individuellen Klagelieder" in BiLe 14, 1973, 1 3 - 2 9 . 1 1 2 - 1 3 7 erneut abgedruckt worden). Im folgenden beziehe ich mich auf den zweiten Teil seiner Arbeit, und zwar auf die Kapitel 1.1 „Leibhaftige Ganzheit" (aaO 2 0 4 - 2 0 6 ) und 1.2 „Ganzheit unter verschiedenen Aspekten" (aaO 206-223). 74

GOEKE, M e n s c h e n b i l d , 2 0 6 .

75

GOEKE, M e n s c h e n b i l d , 2 1 2 .

76

GOEKE, Menschenbild, 204 (Hervorhebung von mir). 77 Die Anthropologie von Wolff ist bis heute ein Standardwerk, sie erschien 2002 in der siebten Auflage. Zur A u f n a h m e der Anthropologie von Wolff in der Forschung vgl. die Rezensionen von Zenger (ZENGER, Anthropologie) und Müller (MÜLLER, Anthropologie) sowie SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 12f, und JANOWSKI, Konfliktgespräche, 7 - 1 3 .

2 Zum Stand der

Forschung

13

umfassenden deutschsprachigen Entwurf einer Anthropologie des Alten Testamentes dar, die in drei Teilen entfaltet wird: „Des Menschen Sein" als „Anthropologische Sprachlehre", 78 „Des Menschen Zeit" im Rahmen einer „Biographische[n] Anthropologie" 79 und im letzten Teil in einer „Soziologischen Anthropologie" „Des Menschen Welt". 80 Im ersten Teil seiner Monographie, der ,,Anthropologische[n] Sprachlehre"81, geht Wolff auf die verschiedenen Körpertermini ein und entfaltet anhand zahlreicher biblischer Belegstellen ihr Bedeutungsspektrum. Sein Ziel ist die „Erschließung der semantischen Weiträumigkeit der anthropologischen Hauptbegriffe" 82 . Dies gelingt ihm, indem er zum einen die „Zusammenschau der Glieder und Organe des menschlichen Leibes mit ihren Fähigkeiten und Tätigkeiten" 83 , das heißt den Zusammenhang zwischen einem Körperteil und dessen Funktion, berücksichtigt, zum anderen, indem er die von Benno Landsberger als „Stereometrie des Gedankenausdrucks" 84 bezeichnete Eigenart der semitischen Sprachen für die körperbezogenen Aussagen des Alten Testaments fruchtbar macht. Die „Stereometrie des Gedankenausdrucks" bezeichnet die Tatsache, daß in der hebräischen Poesie oft sinnverwandte Wörter im Parallelismus nebeneinander stehen, um die gemeinte Sache möglichst genau zu erfassen, „verschiedene Aspekte des einen Subjekts" 85 zu beleuchten. 86 Das „stereometrische Denken steckt", so Wolff, „den Lebensraum des alttestamentlichen Menschen durch Nennung charakteristischer Organe ab und umschreibt so den Menschen als ganzen [...]. Verschiedene Körperteile umstellen mit ihrer wesentlichen Funktion den Menschen, der gemeint ist",87 und können deshalb immer wieder auch durch Personalpronomina abgelöst werden. Die , Ganzheit' des Menschen wird, wie bereits in den vergangenen Beispielen deutlich wurde, in der Forschung zur alttestamentlichen Anthro-

78 79 80 81 82 83

Vgl. WOLFF, Anthropologie, 19-123. Vgl. WOLFF, Anthropologie, 125-130. Vgl. WOLFF, Anthropologie, 231-330. Vgl. WOLFF, Anthropologie, 19-123. WOLFF, Anthropologie, 23f. WOLFF, Anthropologie, 23; vgl. SCHMIDT, Anthropologische Hauptbegriffe, 387.

84

LANDSBERGER, E i g e n b e g r i f f l i c h k e i t , 1 7 .

85

WOLFF, Anthropologie, 22. Vgl. z.B. Ps 6,3f; 16,8f; 84,3. WOLFF, Anthropologie, 22.

86 87

14

Einleitung

pologie immer wieder betont.88 Eine neue Dimension für diese Rede von der ,Ganzheitlichkeit' des alttestamentlichen Menschenbildes eröffnet 1983 Matthias Krieg in seiner Studie zur „Leiblichkeit im Alten Testament". Krieg definiert zunächst die Begriffe „Ganzheitlichkeit" und „Leiblichkeit" und setzt beide in ein Verhältnis zueinander: „Ganzheitlichkeit heißt, daß der Mensch im AT ein durchaus relationales Wesen ist; immer ist er bezogen. Leiblichkeit heißt, daß er als ganzer Mensch Ausdrucksrahmen der Ganzheitlichkeit ist; kein Bezogensein geht an der Leiblichkeit vorbei." 89 Krieg analysiert die Begriffe "ita, und tis?90 und differenziert ausgehend von dieser Begriffsanalyse vier Ebenen, die der Begriff der Ganzheit des Menschen im Alten Testament seiner Ansicht nach umschließt: die vitale, personale, soziale und transzendentale Ebene. 91 Ganzheit auf der vitalen Ebene ist bezogen auf seine „Leiblichkeit als leibseel-geistige Einheit" 92 . Mit Ganzheit auf der personalen Ebene spricht Krieg die Einheit von Handlung und Ergebnis, von Tun und Ergehen an. 93 Ganzheit auf der sozialen Ebene betrachtet den Menschen in seinen sozialen Bezügen, als Mitglied einer Gruppe. 94 Ganzheit auf der transzendentalen Ebene schließlich bezieht Krieg auf das bildliche Denken des Menschen, das die Wirklichkeit nicht in abstrakten Begriffen, sondern in Geschichten und Bildern faßt. 95

88

So. z.B. auch in dem im selben Jahr wie Wolffs Anthropologie erschienenen Artikel von Jacob, in dem es heißt: „Die israelitische Anthropologie ist monistisch. Der Mensch wird immer in seiner Ganzheit gesehen, die von einem einheitlichen Leben belebt wird" (JACOB, Art. \|/uxii, 629). Jacob geht in seinem Artikel zur alttestamentlichen Anthropologie an den anthropologischen Begriffen entlang, ES; als Begriff für „die gesamte menschliche Natur" (JACOB, aaO 616) und 31? als „Lebenszentrum und Inbegriff der Person" (aaO 623) bezeichnen nach Jacob „zwei Tendenzen innerhalb desselben Menschenbildes: Die erste sieht den Menschen unter dem Blickwinkel seines vegetativen Lebens und seines Äußeren, die zweite unter dem seines inneren Wertes" (aaO 625). "ita „Fleisch" könne auch den „ganzen Menschen" (aaO 619) bezeichnen, D'osé stelle „das feste Element dar, das wie ein Gerüst alle Teile des Gebäudes stützt" (aaO 620), der Geist verleihe dem Menschen Lebendigkeit: „Das Leben der Organe und ihrer entsprechenden psychologischen Funktionen wird durch den Geist n n bewirkt" (aaO 625). 89

KRIEG, L e i b l i c h k e i t , 9 .

90

Vgl. KRIEG, Leiblichkeit, 10-15. Die einzelnen Termini vermögen nach Krieg sowohl konkrete Körperteile wie auch das gesamte Sein eines Menschen auszudrücken und können sogar kollektiv auf eine Gruppe von Menschen bezogen werden. 91 Vgl. KRIEG, Leiblichkeit, 15-20. 92

KRIEG, L e i b l i c h k e i t , 16.

93

Vgl. KRIEG, Leiblichkeit, 16-18. Vgl. KRIEG, Leiblichkeit, 18-20. Vgl. KRIEG, Leiblichkeit, 20-22.

94 95

2 Zum Stand der

Forschung

15

Bei Krieg erhält über den Begriff der Ganzheit Leiblichkeit eine soziale Dimension; leibliche Ganzheit wird als relationale Ganzheit verstanden und reicht damit über die Grenzen des einzelnen Körpers hinaus.96 Dies ist ein Aspekt, der in der neueren Psalmenforschung besondere Beachtung findet.97 Im Blick auf die Interpretation der Körperbilder weiterführend ist die Arbeit von Othmar Keel „Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes", in der er unter anderem einige der körperbezogenen Metaphern und Vergleiche des Hohen Liedes untersucht. Seiner Ansicht nach wird bei der Interpretation dieser Bilder oft der enge Zusammenhang zwischen einem Körperteil und seiner Funktion vernachlässigt,98 wodurch es immer wieder zu Fehlinterpretationen der körperbezogenen Metaphern und Vergleiche kommt: „Die meisten Kommentatoren operieren da viel zu unreflektiert mit unseren Konnotationen und richten so ihr Augenmerk schon beim Bedeutungsempfanger, bevor sie noch zum Vergleich oder zur Metapher als Bedeutungsspender gekommen sind, auf den falschen Punkt." 99

Keel versucht deshalb zunächst die Konnotationen des betreffenden Körperteils zu erfassen100 und in einem zweiten Schritt dann die Bedeutung der Metapher oder des Vergleichs zu erklären, wobei der Bezugsrahmen der

96

In gewisser Hinsicht hat auch Johnson dies schon gesehen, wenn er schreibt, „a man's individuality does not stop short at his bodily exterior" (JOHNSON, Vitality, 9). Allerdings steht im Hintergrund dieser Aussage die problematische Seelentheorie Pedersens (siehe dazu oben 8f). 97

98

V g l . JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 4 4 .

Körperteile werden „im biblischen Hebräisch nie unter dem Aspekt der Form wahrgenommen, sondern unter dem ihrer Funktion und Dynamis", (KEEL, Blicke, 27); vgl. SCHMIDT, Anthropologische Begriffe, 387 und WOLFF, Anthropologie, 23. Wolff berücksichtigt in seinem Kapitel zur Schönheit jedoch den andernorts auch von ihm herausgestellten engen Zusammenhang von Körperteil und Funktion kaum, sondern hebt vielmehr auf die äußere Gestalt des Leibes ab: „Schönheit ist dabei zunächst eine Frage des Aussehens (mar'äh [sc. Gen] 1211 2416) und der Gestalt (tö'ar 396), d.h. der Farben und der Linien des Körpers" (WOLFF, Anthropologie, 111; vgl. WOLFF, aaO 111-115). Zum Verständnis von Schönheit im Alten Testament vgl. auch WESTERMANN, Das Schöne; zur Schönheit des Menschen bes. aaO 123f.l27—129; BRENNER, Knowledge, 43-51; SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 21-23, sowie den knappen Forschungsüberblick bei GRUND, Schönheit, 101-106; siehe außerdem KLESOW, Menschen, die sich mit der Frage der Schönheit im Alten Testament im Blick auf die Wahrnehmung der Hautfarbe befaßt. 99 KEEL, Blicke, 27. 100 Vgl. KEEL, Blicke, 31; vgl. 2 7 - 2 0 .

16

Einleitung

Deutung dabei neben dem Alten Testament vor allem der palästinische Entstehungskontext der Texte ist.101 In den 1980er und 1990er Jahren erscheinen neben der Arbeit Keels drei Arbeiten, von Risto Lauha, Jürgen Kegler und Mark S. Smith, die sich der Verbindung von Körperteilen und Emotionen widmen.102 Risto Lauha befaßt sich in seiner Monographie „Psychophysischer Sprachgebrauch im Alten Testament" (1983) mit den Lexemen 2b, 33j und nn, insofern sie in emotionalen Bedeutungsfeldern Verwendung finden.'03 Lauha untersucht die Bedeutungsfelder Freude, Trauer und Schmerz, Mut und Furcht, Stolz und Demut und Liebe und Hass. 104 Als Ergebnis seiner Studie hält er fest, daß die von ihm untersuchten „psychophysischen Lexeme" in den genannten Bedeutungsfeldern nur eine geringe Rolle spielen, und wenn, dann vor allem in der Poesie begegnen. 105 Seiner Ansicht nach macht es kaum einen Unterschied, ob ein Gefühl mithilfe eines psychophysischen Lexems ausgedrückt wird oder nicht, diese seien „wie Pronomina semantisch leere Hinweisworte, die für irgendeine im Text erwähnte Konstituente substituiert werden"106. Es handle sich, wie das gehäufte Vorkommen in der Poesie und prophetischen Literatur zeige, um die „Verwendung verschiedener rhetorischer Figuren" 107 , weswegen es nicht angemessen sei, daraus Rückschlüsse auf das hebräische Denken zu ziehen oder gar eine Anthropologie oder Psychologie des Alten Testaments auf diesen Lexemen aufzubauen. 108

101

Vgl. KEEL, Blicke, 16f.24f. Zu nennen sind aus dieser Zeit außerdem noch der Artikel „Mensch" von R. Albertz sowie die Theologie des Alten Testaments von H.D. Preuß; beide gehen auf verschiedene Körpertermini ein (vgl. PREUSS, Theologie, § 11.2 „Der Israelit und seine Gottesbeziehung. 2. Anthropologische Begriffe", aaO 116-121, sowie ALBERTZ, Art. Mensch, 464-467). 103 Er nennt diese Lexeme „psychophysische Lexeme", „da sie sowohl psychische als auch physische Aspekte und Eigenschaften des Menschen bezeichnen sollen" (LAUHA, Sprachgebrauch, 41). 104 Am Beginn der einzelnen Kapitel steht jeweils eine Zusammenstellung der für das Wortfeld charakteristischen Verbalwurzeln, es folgt eine Untersuchung der Textstellen, in denen diese Wurzeln mit einem der genannten drei Lexeme in Verbindung gebracht werden. 102

105

LAUHA, Sprachgebrauch, 2 3 3 .

106

LAUHA, Sprachgebrauch, 235 (Hervorhebung im Original).

107

LAUHA, S p r a c h g e b r a u c h , 2 4 0 .

108 Vgl. LAUHA, Sprachgebrauch, 240f. Dieses Fazit Lauhas deckt sich mit seiner in der Einleitung formulierten Position, wonach er im Anschluß an James Barr davon ausgeht, daß aus der Struktur der Sprache keine Rückschlüsse auf das Denken gezogen werden können (vgl. LAUHA, Sprachgebrauch, 10, sowie BARR, Semantics, 21-26.41-45). Im Rahmen anthropologischer Fragestellungen findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit Barr bei SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 14-16.

2 Zum Stand der

Forschung

17

Anders als Lauha setzt Jürgen Kegler in seinem Aufsatz „Beobachtungen zur Körpererfahrung in der hebräischen Bibel" (1992) gerade nicht bei den Emotionen, sondern bei den „körperbezogenen Vorgängen" 109 an. Für seine exemplarische Untersuchung wählt er die Begriffe crn und nr1?? sowie das Verb J>T q. aus und erschließt die mit den Organen verbundenen Emotionen beziehungsweise die Verwendung des Verbs für kognitive Vorgänge von der körperlichen Dimension der Lexeme her. Dieses Denken „von den körperbezogenen Vorgängen her"110 ist für ihn der Ansatzpunkt, um den zu Anfang seiner Untersuchung gestellten Fragen auf die Spur zu kommen, die seiner Ansicht nach gleichzeitig die Grenzen von Wolfis Anthropologie aufzeigen: Wie „verändert sich die B e d e u t u n g eines anthropologischen B e g r i f f s im L a u f e der Jahrhunderte? [...] wie k o m m t es zu einer V e r b i n d u n g zwischen K ö r p e r o r g a n e n und seelischen Funktionen? Welches sind die inneren N o t w e n d i g k e i t e n ? [...] welche K ö r p e r w a h r n e h m u n g läßt sich erkennen, welche E r f a h r u n g spiegelt sich in der V e r o r t u n g v o n seelischen Prozessen in K ö r p e r o r g a n e n wider?" 1 1 1

Die Frage, warum Körperorgane mit Emotionen verbunden werden, ist auch für Mark S. Smith in seinem Aufsatz „Heart and Innards in Israelite Emotional Expressions" (1998) leitend." 2 Er geht davon aus, daß bestimmte Gefühle mit Herz und Nieren verbunden werden, weil sie dort körperlich erfahrbar sind, und sucht diese These zu untermauern, indem er den biblischen Befund mit den Ergebnissen einer interkulturellen Studie aus den 1990er Jahren ins Gespräch bringt." 3 Am Ende seines Aufsatzes geht er unter Rückgriff auf die Ergebnisse der gegenwärtigen Psychologie noch auf die Bedeutung von Emotionen in Kommunikationsprozessen ein.114 Auch Robert di Vito bringt in seinem Aufsatz „Old Testament Anthropology and the Construction of Personal Identity" (1999) das alttestamentliche Menschenbild mit dem der Gegenwart ins Gespräch. Er stellt darin

109

KEGLER, Beobachtungen, 41, vgl. 26.

110

KEGLER, Beobachtungen, 4 1 .

111

KEGLER, B e o b a c h t u n g e n , 29.

112

Vgl. SMITH, Heart, 4 3 0 .

113

Smith bezieht sich auf eine v o n R.B. H u p k a u.a. 1996 veröffentlichte Studie „ A n -

ger, Envy, Fear, and Jealousy as Felt in the B o d y : A Five-Nation Study", vgl. SMITH, Heart, 4 3 1 ; siehe dazu unten 3 I f . 114

Vgl. SMITH, Heart, 4 3 4 - 4 3 6 , sowie die Rezeption Smiths bei JANOWSKI, K o n -

fliktgespräche, 10.

18

Einleitung

grundsätzliche Überlegungen zu den Unterschieden zwischen der alttestamentlichen und der gegenwärtigen Konstruktion des Selbst an.115 Im Horizont von Medizin und Anatomie beschäftigt sich Robert North in mehreren Aufsätzen mit dem Körper, wie er im Alten Testament gesehen wird. Dabei ist für ihn besonders die Frage nach dem alttestamentlichen Wissen um Gehirn und Nerven von Bedeutung. Seine These ist, daß 2b ein Sammelbegriff für „internal organs of Cognition and control"116 ist, denen die Funktionen zugeschrieben werden, die heute mit Gehirn und Nerven verbunden werden." 7 Einen neuen Gesamtentwurf legen Silvia Schroer und Thomas Staubli 1998 (22005) mit ihrer Monographie „Die Körpersymbolik der Bibel" vor. Nach einer ausführlichen Einleitung, in der sie ihnen wesentliche Gesichtspunkte einer „leibbezogenen biblischen Anthropologie"" 8 thematisieren und dabei sowohl befreiungstheologische als auch auch feministische Fragestellungen aufgreifen,119 gehen sie in zehn Kapiteln der Bedeutung einzelner Körperteile und Organe nach und stellen dabei den biblischen Texten umfangreiches altorientalisches Bild- und Textmaterial zur Seite.'20 Neue Akzente in der alttestamentlichen Anthropologie und speziell für die Frage nach dem Körperverständnis im Alten Testament setzen auch die 2003 ( 2 2007) erschienene „Anthropologie der Psalmen" von Bernd Janowski sowie der ebenfalls aus dem Jahr 2003 stammende Sammelband des Hedwig-Jahnow-Forschungsprojektes „Körperkonzepte im ersten Testament". Bernd Janowski nimmt die Erkenntnisse der Historischen Anthropologie auf und grenzt infolgedessen die Textgrundlage auf die Klage- und Dank115

Siehe dazu unten 3 9 f . l 5 8 f .

116

NORTH, D i s c o v e r i e s , 3 1 8 .

117

V g l . NORTH, D i s c o v e r i e s , 3 1 2 - 3 1 8 ; DERS., Brain, 5 9 2 - 5 9 7 ; DERS., Israelites, 3 3 .

V e r s c h i e d e n e Körperteile und die mit ihnen verbundenen Krankheiten und

Heilungs-

m ö g l i c h k e i t e n behandelt er in s e i n e m A u f s a t z „ M e d i c i n e and Healing in the Old Testament

Background";

319-325;

zu

den

zu im

den Alten

Möglichkeiten Testament

der

Chirurgie

überlieferten

vgl.

DERS.,

Discoveries,

Behandlungsmöglichkeiten

von

Krankheiten vgl. AVALOS, M e d i c i n e s o w i e die Literaturhinweise bei NORTH, M e d i c i n e , 9; für M e s o p o t a m i e n vgl. STOL, S u f f e r i n g . 118

SCHROER/STAUBLI, K ö r p e r s y m b o l i k , 12.

119

V g l . SCHROER/STAUBLI, K ö r p e r s y m b o l i k , 1 - 3 2 .

120

D a b e i werden neben altorientalischen Bildern auch bildliche Darstellungen aus

v e r s c h i e d e n e n Jahrhunderten bis hin zur Kunst der Gegenwart v e r g l e i c h e n d h e r a n g e z o gen. G r u n d l a g e d e s B u c h e s waren, w i e im V o r w o r t erläutert wird ( v g l . aaO XIII), Radiosendungen; den damit v e r b u n d e n e n w e i t g e h e n d bewahrt.

allgemeinverständlichen

Charakter hat das

Buch

2 Zum Stand der

Forschung

19

lieder des Einzelnen ein, um „der Gefahr einer ahistorischen Auffassung vom Menschen des alten Israel zu entgehen und dennoch die Frage nach seinem ,Wesen' wachzuhalten"121. Unter der Überschrift „Was ist der Mensch?" führt Janowski in die historische wie in die theologische Anthropologie ein, thematisiert mit Stereometrie und Metaphorik zentrale Elemente der Psalmensprache und beleuchtet die Struktur und Anthropologie der Klageund Danklieder, die er als „anthropologische Grundtexte" 122 bezeichnet. Die Bewegung der Klage- und Danklieder „Vom Leben zum Tod" und „Vom Tod zum Leben" zeichnet er in je vier Kapiteln nach, denen jeweils ein Beispielpsalm zugrundeliegt, von dem ausgehend die „anthropologischen Grundthemen" bearbeitet werden. 123 Ein „Anthropologisches Stichwort" am Ende eines jeden Kapitels greift jeweils einen zentralen Aspekt der behandelten Problematik auf und stellt ihn in den weiteren Kontext der alttestamentlichen Anthropologie. Zehn Exkurse zu übergreifenden Themen helfen, die anthropologischen Fragen im Gesamthorizont des biblischen Welt- und Menschenbildes zu verorten.

Der Körper des Menschen ist, abgesehen von den „Anthropologischen Stichworten" zu einzelnen Körperteilen124 auch in den Psalmenauslegungen immer wieder im Blick, da Janowski bereits in der Einleitung unter Aufnahme der Studie von Matthias Krieg sowie der Arbeiten Jan Assmans auf den „Zusammenhang von Leib- und Sozialsphäre"125 beziehungsweise von „Körperbild und Sozialstruktur"126 hinweist und diesen für die Einzelauslegungen fruchtbar macht.127 Ebenfalls 2003 erscheint der Sammelband des Hedwig-JahnowForschungsprojektes „Körperkonzepte im ersten Testament. Aspekte einer

121 JANOWSKI, Konfliktgespräche, 2. „Es geht also nicht einfach um allgemeine Züge der menschlichen Natur, gleichsam um .anthropologische Grundkonstanten', sondern um die Besonderheit von Erfahrungen und Verhaltensweisen, die den Beter der Psalmen in elementaren Lebenskonflikten zeigen, die er klagend und bittend zu bestehen sucht" (ebd.). 122 JANOWSKI, Konfliktgespräche, 36. 123 Als Beispieltexte untersucht er Ps 7; 13; 16; 22; 30; 41; 59 und 88. 124 Vgl. „Anthropologisches Stichwort 1: Sehen und Hören" (aaO 85-97); „Anthropologisches Stichwort 3: Herz und Nieren" (aaO 166-173); „Anthropologisches Stichwort 4: Vitalität" (aaO 204-214). 125 JANOWSKI, Konfliktgespräche, 51. 126 JANOWSKI, Konfliktgespräche, 52. 127 So z.B. im Kapitel zu Krankheit und sozialer Mißachtung mit Ps 41 als Beispieltext, vgl. JANOWSKI, aaO 174-203, siehe außerdem den Exkurs „Der ,ganze Mensch'" (aaO 4 4 ) .

20

Einleitung

feministischen Anthropologie", der den Körperkonzepten128 in einzelnen alttestamentlichen Texten nachgeht. Uta Schmidt fragt in ihrem Aufsatz „Als das Leben anfing..." nach den Körperkonzepten in Gen 3, die sich, so ihre These, im Laufe der Erzählung durch das Essen der Frucht verändern und in geschlechtsspezifisch unterschiedene Körperkonzepte differenzieren. Beate Schmidtgen betrachtet unter dem Titel „Stadtfrau Zion und Erzmutter Sarah" die korrespondierenden Körperkonzepte der Frau Zion und der Erzmutter Sarah bei Deuteround Tritojesaja. 129 Ulrike Bail befaßt sich in ihrem Aufsatz „Der Fall Isebel(s) oder: Ein Fenstersturz, eine abwesende Leiche und ein Zitat" mit dem Körper Isebels. Nach einer Darstellung der Wirkungsgeschichte des in 2 Kön 9,30-37 erzählten Todes Isebels geht sie der Erzählstrategie des Textes nach, die mit der Präsentation des erotisch konnotierten Körpers Isebels im Fenster beginnt und mit der Vernichtung ihres Körpers, die durch den Textkörper erinnert wird, endet. In der Erinnerung bleibt auch Jephtas Tochter lebendig; mit den Körperkonzepten dieser Erzählung befaßt sich Christiane Karrer-Grube in ihrem Aufsatz „Grenzüberschreitung". Sie zeigt auf, daß die Ambivalenzen des Textes in der Bewertung des Gelübdes Jephtas und der daraus resultierenden Opferung seiner Tochter die Spannungen zwischen der Wahrnehmung des Körpers von Jephtas Tochter als Teil des Kollektives einerseits und als ihres individuellen Körpers andererseits widerspiegeln. Michaela Geiger betrachtet unter dem Titel „Kains Zeichen Gottes" nach einem kurzen Überblick über die Deutung des Kainszeichens in der jüdischen und christlichen Exegese zunächst die Beziehungen von Kain und Abel und Gott in Gen 4 wie sie in den unterschiedlichen Körperkonzepten ihren Ausdruck finden und geht dann unter Bezug auf die Semiotik der Bedeutung von Kains Zeichen nach. Die Wahrnehmung schwarzer Haut in alttestamentlichen Texten untersucht Anna Kiesow in ihrem Beitrag „Schwarz, stark, schön". Texte, in denen von der Stimme Gottes am Sinai/Horeb die Rede ist, nimmt Isa Breitmaier zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung unter dem Titel „Gottes Vielstimmigkeit", in der sie der Bedeutung und Funktion der Stimme Gottes und ihrer Weitertradierung durch menschliche Stimmen, Stimmen von Männern und Frauen nachgeht. Christi Maier zeichnet in ihrem Beitrag „Beziehungsweisen" das Körperkonzept in Ps 139 nach, wobei sie von den im Text genannten, auf den Körper der Beterin wie auf den Körper Gottes bezogenen Begriffen ausgeht und die „Beziehung konstituierende Funktion des Körpers" 130 an diesem Psalm exemplarisch aufzeigt. Mit Mischwesen aller Art beschäftigt sich Stefanie Schäfer-Bossert in ihrem Aufsatz „Cyborgs im Ersten Testament?". Auf dem Hintergrund von Donna Haraways Konzept von Cyborgs - „Cyberneti-

128

Der Begriff „Körperkonzepte" schließt für die Autorinnen „Körperbilder, Vorstellungen und Phantasien über Körper, Konstruktionen und Entwürfe von Körpern wie auch Blicke auf Körper und beschriebene Körpererfahrung ein" (GEIGER/BOSSERT, Körperkonzepte, 22). Im Sinne von „Entwurf' betone er außerdem den „unvollständigen und offenen Charakter aller Körperbilder" (GEIGER/BOSSERT, Körperkonzepte, 11), die als „sprachliche Darstellungen von Körpern", als „literarische Konstruktion" (ebd.) immer nur bestimmte Aspekte eines Körpers in den Blick nehmen. 129 Siehe dazu auch unten 40f. 130

MAIER, B e z i e h u n g s w e i s e n , 1 7 4 .

2 Zum Stand der

Forschung

21

sehen Organismen" 131 - untersucht sie verschiedene Vorstellungen von Mischwesen in alttestamentlichen Texten und fragt nach den Körpergrenzen, die sich, zum Beispiel durch das Tragen von Kleidung, Werkzeugen oder Waffen nach außen verschieben. Abgeschlossen wird der Sammelband durch Gerlinde Baumanns Beitrag „Das göttliche Geschlecht". Sie stellt systematisch die im Alten Testament auf Gott bezogenen Körperteile und ihre Verwendungskontexte zusammen und fragt nach den sozialen Rollen, die mit diesen Körperteilen in Verbindung gebracht werden. 1 3 2

Die Autorinnen stellen die alttestamentlichen Texte in den Horizont aktueller Diskussionen, mit dem Ziel, „feministische Körpertheorien, die ein differenziertes Bild biblischer Körperkonzepte erst ermöglichen, für die Diskussion um eine feministische Anthropologie des Ersten Testamentes fruchtbar zu machen."133 Nicht um eine differenzierte Darstellung verschiedener Körperkonzepte, sondern um eine Synthese geht es Christian Frevel im ersten Teil des mit Oda Wischmeyer herausgegebenen Bandes „Menschsein". Er knüpft mit seiner zusammenfassenden Darstellung von Grundlinien der alttestamentlichen Anthropologie ausdrücklich an die Anthropologie Wolfis an134 und zeichnet, ausgehend von den Schöpfungserzählungen und unter Einbeziehung der Psalmen und Weisheitsliteratur (insbesondere des Buches Hiob), lebensgeschichtlich-thematisch gegliedert den Weg des Menschen nach.135 Im Blick auf den Körper des Menschen ist besonders das dritte Kapitel, „Mensch-Sein im Alten Testament" von Interesse, in dem er zunächst, ausgehend von den Hauptbegriffen Kehle, Geist und Herz und unter Einbeziehung weiterer Körperteile und Organe, das Verständnis und die Wahrnehmung des Körpers im Alten Testament im Gesamten darzustellen sucht, und sich in zwei weiteren Abschnitten speziell den Sinneswahrnehmungen sowie der Sexualität des Menschen widmet. Einen Überblick über die Wahrnehmung und Funktion des Körpers nicht im gesamten Alten Testament, sondern in den Psalmen gibt Susanne Gillmayr-Bucher in ihrem Aufsatz „Body Images in the Psalms" (2004).

131

SCHÄFER-BOSSERT, C y b o r g s , 1 9 2 .

132

Zu einer Übersicht über den Inhalt des Sammelbandes vgl. auch GEIGER/BOSSERT,

Körperkonzepte, 2 4 - 2 6 . 133

GEIGER/BOSSERT, K ö r p e r k o n z e p t e , 2 1 .

134

Vgl. FREVEL, Altes Testament, 10.

135

Seine Darstellung gliedert sich in fünf Kapitel: A. Mensch-Werdung im Alten Te-

stament (FREVEL, Altes Testament, 1 2 - 1 9 ) ; B. Mitten im Leben vom Tod umfangen. Der vergängliche Mensch (aaO 2 0 - 2 5 ) ; C. Mensch-Sein im Alten Testament (aaO 2 6 ^ 1 ) ; D. Arbeit und Ruhe: Die Bestimmung des Menschen (aaO 4 9 - 5 6 ) ; E. Die Hoffnung des Menschen im Land der Lebenden (aaO 5 7 - 6 0 ) .

22

Einleitung

Nach einführenden Beobachtungen und Überlegungen zum Vorkommen von Körpertermini in den Psalmen, zur Beschreibung des Körpers und der Körpersprache skizziert sie anhand verschiedener Beispiele aus dem Psalter wie Körperbeschreibungen und Körperbilder zum Ausdruck der Erfahrung von Feindschaft und Bedrohung dienen und die Selbstwahrnehmung oder die Charakterisierung anderer widerspiegeln. In einem letzten Abschnitt erörtert sie das Verhältnis der einzelnen Körperteile zum Ganzen des Körpers beziehungsweise zur Person. Unter der Frage der Einheit der Person kommt der Körper in dem Aufsatz „Der Mensch im Alten Israel" von Bernd Janowski in den Blick. Janowski betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der ¡tfsj, die „durch das Beziehungsgeflecht zwischen vegetativen, emotionalen, kognitiven und voluntativen Aspekten konstituiert wird"136, sowie, im Anschluß an Wolff, die „Korrelation von Körperorganen und Lebensfunktion"137, die den Körper als ein „Kompositum seiner Glieder und Organe und deren spezifischen Lebensfunktionen"138 erscheinen läßt. Neben der Einheit der Person werden von Janowski noch die Einbettung des Menschen in die Sphäre des Sozialen sowie Besonderheiten in der Wahrnehmung der Welt thematisiert. 2.1.2 Resümee Bis in die 1990er Jahre hinein steht in der Forschung das Interesse im Vordergrund, das Bedeutungsspektrum der einzelnen Körpertermini zu erfassen. Dabei ist neben der anatomischen Bestimmung die Frage vorherrschend, welche Funktionen und Emotionen mit dem jeweiligen Körperteil in Verbindung gebracht werden. Der methodische Weg führt in den meisten dieser Studien über eine - je nach Anlage - mehr oder weniger umfangreiche Zusammenstellung der Textbelege, die unter unterschiedlichen Gesichtspunkten systematisiert werden. Wichtig für das Verständnis der Körpertermini sind die Einsichten in die Besonderheiten des alttestamentlichen Hebräisch, wie die Verwendung der Synekdoche sowie das stereometrische Denken. Um die Konnotation der hebräischen Körpertermini richtig zu erfassen, ist der enge Zusammenhang von Körperorgan und Funktion zu berücksichtigen. Auf diesen weist Keel im Rahmen seiner Arbeit zur Metaphorik des Hohen Liedes beson-

136

JANOWSKI,

137

JANOWSKI,

138

JANOWSKI,

Mensch, 157. Mensch, 1 5 7 (im Original kursiv), vgl. 1 4 8 . Mensch, 158 (im Original kursiv), siehe dazu unten 37f.

2 Zum Stand der

Forschung

23

ders hin, in der neben anderen Bildern und Vergleichen auch die Körpermetaphorik Gegenstand der Untersuchung ist. Zentral ist die Einsicht, daß das Menschenbild beziehungsweise zutreffender die Menschenbilder des Alten Testaments keine Dichotomie oder Trichotomie kennen. Auffallend ist jedoch, daß sehr viele Untersuchungen sich dennoch an den für die dichotomische oder trichotomische Sichtweise bestimmenden Begriffen wie 095, loa und n n orientieren139 und damit implizit diese Schemata doch wieder an die alttestamentlichen Texte herantragen.140 Gegenüber der dichotomisehen oder trichotomischen Sicht einerseits und der Trennung von Physischem und Psychischem andererseits wird in der Forschung immer wieder die „Ganzheit" des alttestamentlichen Menschenbildes betont. Jedoch bleibt dieser Begriff der „Ganzheit" oft unscharf und wird inhaltlich nicht gefüllt. „What goes unadressed [...]", wendet di Vito zu Recht ein, „is the nature of the unity involved."141 Ausnahmen bilden die oben erwähnte Studie zur Leiblichkeit von Krieg sowie der Exkurs „Der ,ganze Mensch'" in der Anthropologie der Psalmen von Janowski. Beide versuchen den Begriff der Ganzheit als ein Ineinander von Sozialsphäre und Leibsphäre zu fassen.142 Aufbauend auf diesen Arbeiten der älteren Forschung, allen voran der Anthropologie des Alten Testaments von Wolff, wird in der neueren Forschung neben Gesamtdarstellungen erstmals den Körperbildern und Körperkonzepten in einzelnen Texten beziehungsweise einzelnen biblischen Büchern nachgegangen. Sowohl von der Anlage des Buches wie auch von den Themen her machen die Anthropologie der Psalmen von Janowski sowie der Sammelband des Hedwig-Jahnow-Projektes diesen methodischen Neuansatz deutlich. 2.2 Aspekte der gegenwärtigen

Diskussion

Drei Aspekte der gegenwärtigen Diskussion werden im folgenden aufgegriffen: 1. Die Frage nach der Differenzierung der Begriffe „Körper" und „Leib". 2. Die Frage nach der historischen Bedingtheit von Körperbildern und 3. das Verhältnis von Körperbild- und Sozialstruktur. Die beiden letzten Fragen stammen aus einer schon länger währenden Diskussion in den 139

Vgl. z.B. WOLFF, Anthropologie; JACOB, Art. H^rn; L a u h a , Sprachgebrauch; KRIEG, Leiblichkeit. 140 141 142

Vgl. KlESOW, Suche, 34. DI Vito, Anthropology, 228. Vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 44.

24

Einleitung

Kultur- und Sozialwissenschaften und kommen, wie im Rahmen des Forschungsüberblickes angedeutet, in den letzten Jahren auch in der alttestamentlichen Wissenschaft mehr und mehr in den Blick. 2.2.1 „Körper" oder „Leib " — mehr als ein

Sprachproblem?

Angesichts der Tatsache, daß das alttestamentliche Hebräisch keinen zusammenfassenden Begriff für den Körper kennt,143 mag die Diskussion um die im Deutschen mögliche Unterscheidung von „Leib" und „Körper" für die alttestamentliche Wissenschaft irrelevant erscheinen. Jedoch hängen an der sprachlichen Unterscheidung inhaltliche Differenzierungen, so daß es notwendig ist, zu fragen, ob diese Differenzierungen dem Alten Testament angemessen sind oder nicht.144 Etymologisch kommt das Wort „Leib" vom alt- und mittelhochdeutschen „lip", das „Leib" und „Leben" bedeutet.145 Indem sich das Substantiv „Leben" als ein eigenes durchsetzte, verlor „Leib" mehr und mehr diese Bedeutung und wurde dann vor allem für die „äuszere hülle eines menschen"146 verwendet. 143

Eine Ausnahme bildet das nur selten und erst spät belegt Wort nnj, das in Gen 47,18; Ez 1,11.23; Dan 10,6 und Neh 9,37 mit „Leib" bzw. „Körper" zu übersetzen ist (vgl. HAL 176 s.v. RN?; BRANDENBURGER, Art. Leib, 607). Daneben wird NIRA immer wieder die Bedeutung „Körper", „Leib" zugeschrieben (vgl. BRANDENBURGER, Art. Leib, 6 0 7 ; H A L 1 5 7 s . v . NTA; GERLEMANN, A r t . - t a , 3 7 7 ; BRATSIOTIS, A r t . "LIRA). N a c h GERLE-

MANN sind ca. 50 der ca. 270 Belege von HRA mit „Leib" zu übersetzen. Zu diesen mit „Leib" zu übersetzenden Stellen zählt er auch Texte, in denen im Parallelismus mit anderen Körpertermini wie z.B. Knochen oder Haut begegnet (vgl. Spr 5,11; 14,30; Hi 7,5; Ps 38,4; 63,2 sowie auch Hi 6,12). In diesen Texten wird die Gesamtheit des Körpers jedoch weniger durch das Lexem 103 als vielmehr durch das Nebeneinander der verschiedenen Körpertermini umschrieben. In vielen anderen Texten ist die Bedeutung „Leib" zwar denkbar, aber keineswegs zwingend und läßt sich wie bei anderen Körpertermini auch als synekdochischer Gebrauch erklären (vgl. z.B. Ex 30,32; Lev 16,4; Koh 2,3). Zu der in den Kommentaren zu Klgl 4,7 vorgeschlagenen Übersetzung von mssJ mit „Leib" siehe unten 228f mit Anm 674. 144 Darüberhinaus ist es angesichts der Diskussion, die um diese Unterscheidung geführt wird, auch in der exegetischen Wissenschaft kaum mehr möglich, die beiden Begriffe unbedarft zu gebrauchen. In der neutestamentlichen Exegese ist diese Frage im Blick auf die Übersetzung des Begriffes acona mit „Körper" oder „Leib" aufgegriffen worden von C. Janssen, vgl. JANSSEN, Schönheit, 2 6 - 2 8 , sie bezieht sich dabei, wie auch ich im folgenden, auf AMMICHT-QUINN, Körper, 2 7 - 3 7 ; zur Differenzierung und Diskussion um die beiden Begriffe vgl. außerdem MARCEL, Begegnung, 16-19; LORENZ, Vergangenheit, 32-35, und WAGENER, Begegnung, 196-198. 145 146

Vgl. GRIMM, Wörterbuch VI, 580. GRIMM, Wörterbuch VI, 583; vgl. 581-583; vgl. KLUGE, Wörterbuch, 435.

2 Zum Stand der

Forschung

25

„Körper" ist ins Deutsche übernommen vom lat. „corpus", das zunächst vorwiegend den Leichnam bezeichnete, schon um 1300 aber bedeutungsgleich mit „Leib" auch für den lebendigen Körper verwendet wurde.147 Im Gegenüber zu der umgangssprachlichen Gleichsetzung beider Begriffe gibt es in der Philosophie und besonders in der Phänomenologie verschiedene Ansätze, Leib und Körper zu unterscheiden.148 In der Theologie ist die philosophische Diskussion um diese Begriffe besonders von Regina Ammicht-Quinn aufgenommen worden. Sie bezieht sich unter anderem auf Gabriel Marcel,149 der zwischen Leib und Körper zunächst anhand des Unterschiedes von Sein und Haben differenziert: „Der Körper kann [...] in beliebiger Weise objektiv betrachtet, klinisch untersucht und chirurgisch amputiert werden. Diesen Körper habe ich; ich bin aber mein Leib." 150

In dem posthum veröffentlichten Text „Leibliche Begegnung" problematisiert Marcel jedoch die so getroffene Unterscheidung: Es „verbindet uns der Leib allem, was wir zur Hand nehmen, anrühren, halten und haben können; im Leibe ist das Haben, das unsere phänomenologischen Analysen so rigoros vom Sein unterschieden haben, verankert." 151

Die im Deutschen mögliche Differenzierung der Begriffe Körper und Leib birgt nach Marcel „die Gefahr, deren innere Verschränkung außer acht zu lassen. Das Zugleich von Leibsein und Einen-Körper-Haben bleibt unter Umständen undeutlich. Dieses Zugleich steht aber in Frage. Es läßt sich in der deutschen verbalen Unterscheidung nur etwas mühsam formulieren: indem ich Leib bin, habe ich einen Körper - aber zugleich verfüge ich nur scheinbar über diesen Körper, eben weil ich Leib bin." 152

Was in der Sprache unterschieden werden kann, „die Trennung von ,Leib' und ,Körper'", so kommentiert Ammicht-Quinn die Aussagen Marcels, 147

Vgl. GRIMM, Wörterbuch V, 1833f. Möglicherweise ist das althochdeutsche „ h r e f „Leib", „Mutterleib" mit „corpus" verwandt, so daß „Leib" und „Körper" an ihrer sprachlichen Wurzel einander wieder nahekommen; vgl. GRIMM, Wörterbuch V, 1834; AMMICHT-QUINN, Körper, 27; KLUGE, Wörterbuch, 405. 148 Einen Überblick über die Unterscheidung beider Begriffe in der Philosophie bietet der Artikel von BORSCHE/KAULBACH, Art. Leib. Zur Diskussion des Leibbegriffes in der Phänomenologie vgl. ARLT, Anthropologie, 207-212, und BRÖCKLING, Leib, 175-180. 149 Vgl. AMMICHT-QUINN, Körper, 29f. 150 MARCEL, Begegnung, 17. Diesen „objektivierten" Körper bezeichnet Marcel als „Mißverständnis des Leibes": „Wird dieser Leib, als der ich inkarniert lebe, objektiviert, so erscheint mein Körper, das Mißverständnis des Leibes" (ebd.). 151 MARCEL, Begegnung, 17f. 152 MARCEL, Begegnung, 18.

26

Einleitung

„fließt in einer Beschreibung des Menschseins zusammen, in der ,Sein' und ,Verfugen' voneinander abhängige und ineinander übergehende Daseinsweisen sind"153 und stellt so die sprachlich mögliche Unterscheidung in ihrer Eindeutigkeit in Frage. Darüberhinaus übt Ammicht-Quinn in ihrem Buch „Körper - Religion Sexualität" sachliche Kritik an der Unterscheidung von Leib und Körper. Für sie impliziert diese Unterscheidung eine Abwertung des Körperlichen gegenüber dem Leiblichen: D i e U n t e r s c h e i d u n g wird z u m „Teil d e s V e r s u c h e s [ . . . ] , die g r o ß e n Kränkungen der M e n s c h h e i t zu k o m p e n s i e r e n - allen voran die Kränkung d e s populären D a r w i n i s m u s mit seiner Frage, w a s uns, den M e n s c h e n , die Menschheit, denn n o c h v o n der übrigen Natur unterscheidet. Leiblichkeit wird hier zur B e g r i f f s i n s e l , auf die der gekränkte M e n s c h sich rettet, indem er seine Körperlichkeit - als Zugeständnis, vielleicht auch als Preis für die Rettung - der kränkenden Natur und den kränkenden objektivierenden

Wissenschaften

überläßt." 1 5 4

Ein weiterer Kritikpunkt Ammicht-Quinns verbindet sich mit Beobachtungen zum Leib-Seele-Dualismus im Verhältnis zur Unterscheidung von Körper und Leib. Der Leib-Seele-Dualismus155 gilt der biblischen Rede vom Körper nicht mehr als angemessen, wird aber, so ihre Beobachtung, durch einen „neuen, subtilen Dualismus von ,Körper' und ,Leib"" 56 ersetzt. Dieser „KörperLeib-Dualismus, unscharfes Abbild eines Leib-Seele-Dualismus, entzweit den Menschen in sich selbst."157 „Die Hochschätzung des Leibes wird durch den Dualismus der Körper-Leib-Debatte gestützt und erkauft, sei es, indem der ,Leib' explizit vom ,Körper' abgesetzt wird, sei es, daß niedere - körperlich-materielle - von höheren - geistig-personalen - Seinsbereichen unterschieden werden."158 A m Beispiel v o n Hildrun Keßlers Buch „Bibliodrama und Leiblichkeit", in d e m Keßler explizit auf die E x e g e s e B e z u g nimmt, sei verdeutlicht, w i e eine s o l c h e problematische U n t e r s c h e i d u n g v o n Körper und Leib a u s s e h e n kann. Keßler w i d m e t der D i f f e r e n z i e r u n g

153

AMMICHT-QUINN, Körper, 3 0 .

154

AMMICHT-QUINN, Körper, 3 1 ; vgl. DIES., D a s Innere, 6 6 f .

155

AMMICHT-QUINN macht anhand mehrerer B e i s p i e l e deutlich, daß, w e n n Leib und

Seele unterschieden w e r d e n , in der R e g e l Körper und S e e l e g e m e i n t sind - und zwar der Körper als der materielle, objektivierbare Teil der m e n s c h l i c h e n MICHT-QuiNN, Körper, 3 1 - 3 4 . 156

AMMICHT-QUINN, Körper, 3 6 .

157

Ebd.

158

AMMICHT-QUINN, Körper, 3 4 f .

Existenz; vgl.

AM-

2 Zum Stand der Forschung

27

v o n Leib und Körper ein e i g e n e s Kapitel, 159 in dem sie das Verhältnis w i e folgt bestimmt: „Körperliches und Leibliches konstituieren gemeinsam menschliche

Existenz.

Die biologisch-anatomische Seite und die sozial-kulturelle Konstruktion, der offensichtliche Körper und der verborgene Leib, fragmentarisch-fremde und sich

mitteilende

Aspekte k o m m e n voneinander getrennt und miteinander verbunden vor."' 6 0 Im Blick auf die „Leiblichkeit im Bibliodrama" folgert sie dann: „Wird man leiblich, legt man die Begrenztheit des Körpers ab und wandert aus dem hierarchischen Gebäude der E x e g e s e aus. Der Zuwachs an Leiblichkeit äußert sich in der R e s p e k t l o s i g k e i t ' gegenüber biblischen Texten, in ihrer eigenständigen A n e i g n u n g und der dabei erlebten intensiven Gemeinschaft." 1 6 1

Der Körper als begrenzter Körper wird dem Leib entgegengestellt, der den Menschen in der Gemeinschaft verankert. Die Abwertung des Körpers verbindet sich mit einer Abwertung der Exegese. Das Beispiel bestätigt die These von Ammicht-Quinn, daß mit der Unterscheidung von Leib und Körper auch in der theologischen Literatur Auf- und Abwertungen einhergehen. In der alttestamentlichen Exegese wird eine Differenzierung der deutschen Begriffe von Christi Maier in ihrem Aufsatz zu Ps 139 vorgeschlagen. Sie bezeichnet „die Beziehungsfahigkeit und -bedürftigkeit des Körpers" mit dem Begriff „Leibhaftigkeit"162: „Ein Leib ist ein menschlicher Körper, der nicht an und für sich betrachtet wird, sondern in seinen Beziehungen zur Umwelt und zu anderen Lebewesen."163 Im folgenden verwendet Maier dann fast ausschließlich den Begriff des Körpers und hält als These zum Menschenbild in Ps 139 zutreffend fest, daß „menschliches Leben körperlich ist und dieser Körperlichkeit bedarf, um Leben in Beziehung zu sein"164. Genausowenig wie das Alte Testament einen Dualismus von Leib und Körper kennt, kennt es die Unterscheidung eines objektivierbaren, materiellen Körpers von einem umfassenderen „Leib". Der menschliche Körper wird im Alten Testament nicht isoliert betrachtet, sondern immer schon mit und in seinen Beziehungen zu Gott und zur geschöpflichen Welt. Deswegen ist eine Differenzierung der Begriffe im Blick auf das Alte Testament meines Erachtens nicht angemessen.

159

Vgl. KESSLER, Bibliodrama, 1 4 5 - 1 4 8 .

160

KESSLER, Bibliodrama,

147.

161

KESSLER, Bibliodrama,

148.

162

MAIER, Beziehungsweisen, 174.

163

Ebd.

164

MAIER, B e z i e h u n g s w e i s e n ,

185.

28

Einleitung

Gegenüber der mit der Differenzierung der Begriffe oft verbundenen Abwertung des Körpers sehe ich den Körper - mit Regina Ammicht-Quinn - als „Ort und Zeichen der personalen Mitte des Menschen"165 und im „Begriff des Körpers dessen personale und transzendente Kompetenz mitgesagt"166. In diesem Sinne wird im folgenden vom Körper und von den Körperb\\ätvn in den Psalmen gesprochen. 2.2.2 Zur historischen Bedingtheit von Körperbildern Die Psalmen eröffnen mit ihrer Bildsprache einen Raum, in dem sich bis heute Menschen mit ihren Erfahrungen mit sich selbst, mit Gott und mit ihren Mitmenschen wiederfinden.167 Die Psalmen sind ein „Versuch, Namen zu finden für elementare Gotteserfahrungen"168, und sprechen Menschen auf der emotionalen Ebene an,169 obwohl die Lebenswelt und die Erfahrungen, die sich in ihren Bildern spiegeln, die der Menschen im Alten Israel sind und nicht unsere heutigen. Während bei den Feindbildern der Klagelieder des Einzelnen, die die Bedrohung als Bedrohung durch wilde Tiere und Kriegs- und Jagderfahrungen thematisieren, der von unserem Kontext räumlich und zeitlich deutlich unterschiedene Entstehungsort der Bilder kaum zu übersehen ist,170 scheinen die Körperbilder leichter zugänglich zu sein, hat doch jeder, der, jede, die sie liest, einen Körper, in dem sie sich verorten lassen.171 Und in manchen umgangssprachlich gebrauchten Redewendungen klingen Psalmbilder an: Einem „sitzt der

165

AMMICHT-QUINN, Körper, 3 6 .

166

AMMICHT-QUINN, Körper, 3 7 . V o n den K o n n o t a t i o n e n im D e u t s c h e n s p i e g e l t dar-

überhinaus m . E . der konkretere B e g r i f f d e s K ö r p e r s d i e auf konkrete Körperteile b e z o g e n e A u s d r u c k s w e i s e d e s A l t e n T e s t a m e n t s t r e f f e n d e r w i d e r als der B e g r i f f d e s L e i b e s d i e s vermag. 167

D i e s s p i e g e l t sich auch in ihrer v i e l f a l t i g e n V e r w e n d u n g in der S e e l s o r g e und in

der R e l i g i o n s p ä d a g o g i k ,

v g l . z . B . BALDERMANN, W e i n e n ; er b e z e i c h n e t die

Psalmen

deshalb als „ G e b r a u c h s t e x t e " (BALDERMANN, W e i n e n , 2 6 ) . 168

BALDERMANN, Ich w e r d e nicht sterben, 2 1 ; v g l . RIEDE, Im N e t z , 13.

169

V g l . RIEDE, Im N e t z , 13.

170

Z u den Feindbildern v g l . b e s o n d e r s KEEL, Feinde; JANOWSKI, L ö w e n , und RIEDE,

Im N e t z . 171

V g l . dazu GILLMAYR-BUCHER, B o d y I m a g e s , 3 2 5 : „With this kind o f despriction

[sc. b o d y l a n g u a g e and b o d y i m a g e s ] the readers can hardly maintain a distanced point o f v i e w ; rather they are f o r c e d to add their o w n b o d y e x p e r i e n c e s w h i l e they hear and read the text. In this w a y the readers are e n a b l e d t o o v e r c o m e the distance and to re-enact the text."

2 Zum Stand der

Forschung

29

Schreck in den Knochen"172 oder jemand hat ein „gebrochenes Herz"173, „festen Boden unter den Füßen"174 oder gar „Blut an den Händen"175. Sind diese Ausdrücke aus den Psalmen in die Umgangssprache eingegangen, oder gibt es nicht nur, wie Baldermann schreibt, „so etwas [...] wie eine elementare Bilderschrift der Angst, die wir in unseren Träumen ebenso finden wie in den Psalmen"176, sondern auch Körperbilder, die die Zeiten verbinden? So ordnet Barbara Duden im Anschluß an Marie-Christine Pouchelle die Leiblichkeit zunächst der longue durée zu,177 „einer", wie Fernand Braudel es beschreibt, „Geschichte mit einem [...] über Jahrhunderte hinwegreichenden Atem: [...] der Geschichte der langen, der sehr langen Dauer"178: „Es scheint als ob sich die Motive und Imaginationen des Leibes in zwei Arten von Zeit entfalten, einer historischen und einer transhistorischen, und als ob der Leib, ganz besonders bei der Arbeit - beim Schaffen und beim Leiden - eine Brücke zwischen beiden Zeiten wäre." 179

Auf den ersten Blick verbindet so der Körper die Gegenwart mit der Vergangenheit. Und tatsächlich galt der Körper lange Zeit als Teil der Natur,

172

Vgl. Ps 6,3: „Sei mir gnädig JHWH, denn welk bin ich, heile mich, JHWH, denn entsetzt sind meine Knochen." 173 Vgl. Ps 34,19: „Nahe ist JHWH denen, die zerbrochenen Herzens sind, und denen, die zerschlagenen Geistes sind, wird er helfen", sowie Ps 69,21: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen, [ist] heillos [...]". 174 Vgl. Ps 17,5: „Ich habe gehalten meine Schritte in deinen Spuren - nicht sind ins Wanken gebracht worden meine Tritte."; Ps 18,37: „Du schaffst Raum meinen Schritten unter mir, so daß nicht gewankt haben meine Knöchel."; Ps 26,12: „Mein Fuß steht auf ebenem Boden"; Ps 40,3: „Er hat mich heraufgeholt aus der Grube des Verderbens, aus Schlick und Schlamm, und er hat auf einen Felsen meine Füße gestellt, und fest gemacht meine Schritte." 175 Vgl. Ps 26,9f: „Raffe nicht weg mit den Sündern meine ncepces, mit den Blutmenschen mein Leben: an ihren Händen: Schandtat und ihre Rechte ist voll von Bestechung." In ähnlicher Weise konstatiert Kruger erstaunliche Übereinstimmungen zwischen gegenwärtigen und alttestamentlichen Ausdrucksweisen für das Gefühl des Ärgers, vgl. KRUGER, Emotions, 2 2 6 - 2 2 8 . 176 BALDERMANN, Weinen, 15. Auch Janowski weist in seiner Anthropologie auf die erstaunlichen Übereinstimmungen zwischen einem Psalmbild, das den drohenden Tod als das Versinken in einer Zisterne schildert (vgl. Ps 69,15f), und dem Bild einer depressiv erkrankten Frau hin, die sich am Boden einer tiefen Grube sitzend zeichnet (vgl. JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 3 2 ) . 177

Vgl. DUDEN, Geschichte, 50-53; siehe dazu unten 33f; vgl. POUCHELLE, corps, 10.

178

BRAUDEL, G e s c h i c h t e , 5 2 .

179

DUDEN, G e s c h i c h t e , 53.

30

Einleitung

„beschreibbar in den ahistorischen Kategorien der Biologie beziehungsweise der Physiologie".180 Auch in der Geschichtswissenschaft wurde erst allmählich die Hypothese aufgegeben, „es gebe ,den' menschlichen Körper"181, und gewagt, „den Körper grundsätzlich als historische und soziale Tatsache zu begreifen."182 Ebenso wurde in der alttestamentlichen Forschung der Körper immer wieder als Brücke betrachtet, mit der man den historischen Graben zu überwinden trachtete. Zwei Beispiele aus der neuen Forschung sollen dies verdeutlichen: Jürgen Kegler untersucht in seinem Aufsatz „Beobachtungen zur Körpererfahrung in der hebräischen Bibel" die Begriffe nrn und ni^D sowie das Verb VT q.183 Im Bezug auf die Bedeutungsbreite des mit dem Mutterschoß (nrn) verbundenen Gefühls c a n i führt Kegler aus: „Wir m ü s s e n d e m n a c h , w e n n wir die B e d e u t u n g s b r e i t e d i e s e s Wortes, das wir als Barmherzigkeit k e n n e n , im H e b r ä i s c h e n e r f a s s e n w o l l e n , fragen: W e l c h e G e f ü h l e v e r b i n d e n sich ftir e i n e Frau mit d e m M u t t e r s c h o ß ? D a s kann ich als M a n n gar nicht b e a n t w o r t e n . D a s k ö n n e n e i g e n t l i c h nur Frauen. Hier ö f f n e t sich ein n o c h unbearbeitetes Feld für die F r a u e n f o r s c h u n g . D a r u m k a n n das, w a s ich a u f z ä h l e , nur ein vorläufiger, tastender H i n w e i s sein, der e r g ä n z u n g s b e d ü r f t i g ist - durch d i e Erfahrung v o n Frauen." 1 8 4

Die Erfahrungen von Frauen in Westeuropa heute, die Gefühle, die sie mit ihrem ein verbinden, sind jedoch, entgegen der Hinweise Keglers, wenig aussagekräftig im Blick auf das Verständnis alttestamentlicher Körperkonzepte. Gerade am Beispiel des weiblichen Unterleibes wird vielmehr besonders deutlich, wie sehr sich kulturelle Werte und Normen in den Körper einschreiben und seine Wahrnehmung bestimmen und wie stark die Wahrnehmung von Körpervorgängen abhängig ist vom jeweiligen Wissensstand. S o hat sich z u m B e i s p i e l die W a h r n e h m u n g v o n S c h w a n g e r s c h a f t durch Ultraschallunters u c h u n g e n , die das w e r d e n d e Kind s c h o n n a c h w e n i g e n W o c h e n für das m e n s c h l i c h e A u g e sichtbar m a c h e n , stark verändert, unter anderem ist dadurch die B e d e u t u n g

der

ersten, für die Mutter spürbaren K i n d s b e w e g u n g e n relativiert w o r d e n . 1 8 5 U n d w ä h r e n d das A l t e T e s t a m e n t nur e i n e n u m f a s s e n d e n B e g r i f f für d e n Unterleib der Frau kennt, nämlich nrn, ist die Sicht d e s w e i b l i c h e n U n t e r l e i b s heute geprägt v o m

anatomischen

W i s s e n , wird differenziert in Gebärmutter, Eierstöcke, etc.

180 181

SARASIN, M a s c h i n e n , 13. Ebd.

182

Ebd.

183

S i e h e o b e n 17.

184

KEGLER, B e o b a c h t u n g e n , 31 ( H e r v o r h e b u n g im Original).

185

V g l . HAMPE, Geburt, 3 4 2 ; MAURER, A n t h r o p o l o g i e , 3 4 7 - 3 5 4 , s o w i e zur v e r ä n -

derten W a h r n e h m u n g der Geburt DUDEN, D i e U n g e b o r e n e n .

2 Zum Stand der Forschung

31

Neben Kegler bringt auch Mark S. Smith in seinem Aufsatz „Heart and Innards in Israelite Emotional Expressions" gegenwärtige Erfahrung und biblische Texte ins Gespräch. „Why does Israelite prayer mention [...] internal body parts in communicating emotions?"186, lautet seine Ausgangsfrage. Zu ihrer Klärung zieht er die Ergebnisse einer 1996 veröffentlichten interkulturellen Studie, „Anger, Envy, Fear, and Jeaulousy as Felt in the Body: A Five-Nation Studie"187 heran, in der untersucht wird, wo im Körper die genannten Gefühle in unterschiedlichen Kulturen verortet werden. Die Studie könne nach Smith „[d]espite the expected variation, [...] help to provide a model for understanding Israelite perceptions of physiological responses to emotions: the location of emotional responses in various parts of the body in the Psalter was perhaps related to Israelite perceptions of physiological responses to emotions." 188

Am Beispiel des Herzens sei sein Vorgehen verdeutlicht, Smith schreibt: „It is evident from both the Psalms and other biblical books that the heart is the locus of many emotional states. The heart is the organ expressing strong emotions of joy (Pss 4:8; 13:6; 16:9; cf. 9:2) and grief (13:3). Hupka and his company's study suites this view of the heart. In reference to anger, envy, fear, and jealousy, they note, that ,the heart is reported to be involved in all four emotions whereas the other sites are more selectively attributed to the emotions.' Physiologically, the heart shows marked change with a number of different emotions. This point is especially relevant for biblical prayer, since the heart seems to be the physical location where multiple emotions register physically. Consequently, it is hardly surprising that the heart is the physical organ to which emotion in general is attributed by Israelites and other peoples of the ancient Middle East." 189

Die Übereinstimmungen zwischen alttestamentlichen Aussagen und den Ergebnissen einer interkulturellen Studie von 1996 können bei einem im Alten Testament so breit belegten und mit einem so breiten Bedeutungsspektrum verbundenen Organ wie dem Herzen kaum verwundern.190 Mit

186

SMITH, H e a r t , 4 3 0 .

187

V g l . SMITH, H e a r t , 4 3 1 .

188

SMITH, H e a r t , 4 3 1 .

189

SMITH, H e a r t , 4 3 2 .

190

Etwas deutlicher ist daher sein einleitendes Beispiel von Ärger und Zorn, die biblisch im Bereich von Nase und Mund verortet werden (Smith nennt als Beispiel Ps 18,9). Allerdings ist auch hier die Übereinstimmung zwischen alttestamentlichem Befund und der Studie nur bedingt aussagekräftig, da nach den Ergebnissen der interkulturellen Studie das Gefühl „Ärger" im gesamten Kopfbereich verortet wird: „According to the survey, ,anger was felt in the face, head, heart, and the throat in all nations'. The biblical idioms mention the nose, mouth, and breath, all parts of the body that highly correlate to

32

Einleitung

den Gefühlen berücksichtigt Smith jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum der Funktionen, die im Alten Testament dem Herzen zugeschrieben werden. Spätestens bei der Frage nach dem Herz als Sitz des Verstandes werden Unterschiede zwischen biblischer und gegenwärtiger Körperwahrnehmung unübersehbar. Gegenstand von Smiths Untersuchung sind zwar die Gefühle, doch wird damit schon durch die Fragestellung ein Schema an die biblischen Körpervorstellungen gelegt, das diesen nicht oder nur bedingt entspricht.191 Gerade das Beispiel des Herzens macht deutlich, daß Denken und Fühlen im Alten Testament nicht als getrennte Bereiche betrachtet, sondern vielmehr ein und demselben Ort im Körper zugeschrieben wurden. Solche Differenzen in der Wahrnehmung klingen bei Smith nur leise an,192 ohne daß sich daraus Konsequenzen für sein methodisches Vorgehen ergäben. Auch wenn manche der Körperaussagen des Alten Testaments und besonders die Körperbilder der Psalmen uns vertraut erscheinen, ist es methodisch schwierig, heutige Körpererfahrung als Schlüssel zur Interpretation der alttestamentlichen Texte heranzuziehen, denn trotz einer teilweise wahrgenommenen Nähe liegt eine große Distanz zwischen heutiger und vergangener Körperwahrnehmung.193 Diese Distanz spiegelt sich schon in

Hupka and his colleagues' findings about the body parts where this emotion is felt" (SMITH, Heart, 432). 191 Darüberhinaus wird im Kontext der historischen Anthropologie darauf hingewiesen, daß historische Differenzen gerade auch im Bereich der Gefühle zu beachten sind. So verdeutlicht H. Böhme am Beispiel der Scham die Schwierigkeit, überhaupt zu einer „Erkenntnis der Gefühle" (ebd.) zu gelangen, denn, so Böhme, ,,[j]eder Satz, der über Gefühle gesagt wird, ist von Traditionen getragen, aber auch belastet, und in jedem Fall strittig" (ebd.). Im Blick auf die Frage der unterschiedlichen Wahrnehmung von Gefühlen weist er darauf hin, daß sich Laufe der Geschichte allmählich die Vorstellung von der „Machbarkeit" von Gefühlen z.B. durch das Schaffen einer bestimmten Atmosphäre, entwickelt hat. „Diese Machbarkeit von Gefühlen stellt auch", so Böhme, „den kulturellen Hintergrund dafür dar, daß Gefühle, welche in der Antike durchweg als ergreifende Mächte erlebt und gedeutet, zunehmend intentionalistisch uminterpretiert wurden" (aaO 543). 192

Vgl. SMITH, Heart, 431 („Despite the expected variations [...]")• Vgl. Dl VlTO, Anthropology, 220: „Only by explicitly articulating what is involved in the construction of personal identity, with its commitment to a language of the self, can scholars place the O T ' s construction in a proper historical perspective and see clearly the distance that separates the two". Von Gemünden weist d a r a u f h i n , daß das Gefühl der Nähe auch durch die „kreative Ergänzung des von uns Gelesenen oder Gehörten [...], wie sie in rezeptionsästhetischen Ansätzen nachgewiesen wurde", bedingt sein kann (VON GEMÜNDEN, Überlegungen, 89). 193

2 Zum Stand der

Forschung

33

der Schwierigkeit, manche der körperbezogenen hebräischen Termini wie zum Beispiel 3*? oder sa; ins Deutsche zu übersetzen.194 Und die Erkenntnis, daß im Hebräischen mit der Nennung eines Körperteiles immer auch seine Funktion im Blick ist,195 impliziert, daß der Körper im Alten Testament, anders als zum Beispiel in der modernen Medizin, nicht ,an sich' betrachtet werden kann, sondern vor allem in seinen Bezügen zur Welt, in seiner Kommunikations- und Handlungsfähigkeit im Blick ist.196 Allein die unterschiedliche Terminologie für den Körper und seine Teile sowie die mit diesen Körpertermini verbundenen Konnotationen zeigen, daß, auch wenn die „physische Materialität"197 des Körpers die verschiedenen Körper über alle Zeiten und Räume hinweg verbindet, „es nie möglich sein wird, allgemein und dauerhaft gültige Definitionen über die Physis abzugeben, die über Gemeinsamkeiten wie die Notwendigkeit von Atemluft, Wasser und eine Form von Nahrung zum Erhalt der ,leiblichen Hülle' hinausgehen."198 Vielmehr ist auch der Körper eingebunden in Geschichte, sind Bild und Wahrnehmung des Körpers und damit auch der Körper selbst geschichtlichem Wandel unterworfen. Eine der ersten, die die Frage nach der Geschichtlichkeit des Körpers im deutschsprachigen Raum thematisierte, ist Barbara Duden. Sie untersucht in ihrem Buch „Geschichte unter der Haut" die Krankengeschichten, die der Eisenacher Arzt Johann Storch um 1730 zur Unterweisung seiner jüngeren Kollegen aufgezeichnet hat: „Selbstverständliche körperliche Wahrnehmung steht neben mir gänzlich Unwahrscheinlichem, und beides wird

194

Siehe dazu unten 1 9 0 - 1 9 4 . 2 3 6 - 2 3 9 . Andererseits fehlen hebräische Bezeichnun-

gen für Körperteile, die für unser Bild des Körpers zentral sind, w i e z.B. für die Lunge; vgl. OELSNER, Körperteile, 342. A u f die schon durch die Übersetzung der hebräischen Termini ins Griechische bedingten Unterschiede zwischen den anthropologischen Vorstellungen der hebräischen Bibel und der Septuaginta weist M. Rösel hin, vgl. RÖSEL, Mensch, 2 3 8 - 2 4 0 , er verdeutlicht die Unterschiede an einigen der zentralen Körperbegriffe, vgl. RÖSEL, aaO 2 4 5 - 2 4 9 . 195 1%

Siehe dazu oben 13.15.22. Vgl. MAIER, Beziehungsweisen, 174, die von der „Beziehung konstituierende[n]

Funktion" des Körpers spricht. 197

LORENZ, Vergangenheit, 11.

198

Ebd. Das Geborenwerden von einer Frau und die Sterblichkeit des Menschen gehö-

ren wohl auch noch zu diesen Gemeinsamkeiten - zumindest solange es der Reproduktionsmedizin noch nicht gelingt, die Entwicklung eines Menschen völlig außerhalb des Mutterleibes ablaufen zu lassen.

34

Einleitung

offenbar vom Arzt für vernünftig gehalten."199 Die Auseinandersetzung mit diesen Texten führte sie dazu, sich „als Historikerin über eine Grenze zu wagen, jene Grenze nämlich, die den Körper und insbesondere das Körperinnere hinter der Haut von der umgebenden Umwelt scheidet und sie epistemologisch, wissenschaftsgeschichtlich, mentalitätsgeschichtlich in gegensätzliche Domänen verwiesen hat: hier der Körper, die ,Natur', die ,Biologie', dort die soziale Umwelt, die Geschichte. Hier jene letztlich unveränderbar vorgestellte Leiblichkeit ,des Menschen', dort das weite Feld des Geschichtlichen in seiner grundsätzlichen Wandelbarkeit." 200

Die Erkenntnis der historischen Bedingtheit des Körperverständnisses und der Körperwahrnehmung, die inzwischen eine viel diskutierte und weithin anerkannte Tatsache ist,201 muß nach Duden dazu fuhren, sich „die eigenen Selbstverständlichkeiten über ,den Körper' als kulturelles Vorurteil bewußt[zu]machen [...]: Über meinen Körper kann ich nicht in die Vergangenheit klettern."202 Im Blick auf die Beschäftigung mit den alttestamentlichen Körperbildern gilt es, dies im Bewußtsein zu halten. Zwar eröffnen die Körperbilder der Psalmen einen Raum, in dem sich gegenwärtige Erfahrungen verorten lassen, vermitteln die Körperbilder über den eigenen Körper, mit dem jeder und jede sie verbinden kann, eine Vertrautheit mit den Texten, die den historischen Graben zu überspringen scheint und die Nachsprechbarkeit der Psalmen im praktischen Gebrauch in Seelsorge, Gottesdienst und Unter199

DUDEN, Geschichte, 7. DUDEN, Geschichte, 8; vgl. auch TANNER, Anthropologie, 118-120. 201 Die Debatte bewegt sich zwischen zwei Polen, die M. Lorenz, typisierend und vereinfachend, unter „Essentialismus" und „sozialen Konstruktivismus" faßt (LORENZ, Vergangenheit, 22). Die einen „postulieren den menschlichen Körper (des ,homo sapiens') und damit de facto auch die Zweigeschlechtlichkeit als historische und das heißt anthropologische und damit kulturübergreifende Konstante" (aaO 23), die anderen sehen den Körper als Ergebnis kultureller Einschreibungen, ein soziales Konstrukt, das auch scheinbar biologische Fakten, wie z.B. die Zweigeschlechtlichkeit einschließt. Diese Extrempositionen, wenn auch so kaum vertreten, helfen, den Rahmen abzustecken, indem sich Körpergeschichte bewegt. Diese betrachtet d?n Körper als „weder auf ein rein funktionales biologisches System reduziert, noch auf eine bloße Projektionsfläche kultureller Normen" (aaO 25 im Anschluß an D.G. Lahoff und M. Johnson). Zur historischen Anthropologie vgl. WULFF (Hg.), Vom Menschen; DERS. (Hg.), Logik; DERS., Anthropologie, 105-135 („Historische Anthropologie).137-259 („Themenfelder Historischer Anthropologie"), sowie MAURER, Anthropologie, und TANNER, Anthropologie, bes. 123-131. 202 DUDEN, Geschichte, 10. 200

2 Zum Stand der

35

Forschung

rieht erleichtert. Um aber den Körperbildern der Psalmen in ihrem historischen Kontext auf die Spur zu kommen, kann heutige Körpererfahrung keine Brücke sein, denn der menschliche Körper ist Teil der Geschichte. Auch für die Körperbilder der Psalmen gilt die von Duden prägnant formulierte Erkenntnis: „Über meinen Körper kann ich nicht in die Vergangenheit klettern."203 Als einer der ersten greift Janowski in der alttestamentlichen Wissenschaft explizit die Fragestellungen und Themen der historischen Anthropologie auf204 und betont im Blick auf das biblische Menschenbild, daß „auch hier [...] die Unterschiede zu beachten [sind], die zu unserer Art zu denken, zu fühlen und zu handeln bestehen" 205 . Diese Unterschiede im Menschenbild betreffen auch und gerade den Körper: als Ort und Medium des Denkens, Handelns und Fühlens einerseits und als ,Gegenstand' der Wahrnehmung andererseits. Auch der Körper wird gedacht und gefühlt, und wie er gedacht und gefühlt wird, in welchen Bildern über ihn gesprochen wird, ist abhängig von der jeweiligen Zeit und Kultur.206 Unter dieser Voraussetzung, daß „menschliche Natur selbst geschichtlich ist"207, lassen sich die Körperbilder der Psalmen in ihrem historischen Kontext nur mit Hilfe der Aussagen erschließen, die die Texte selbst über den Aufbau des Körpers und die Bedeutung und Funktion seiner Teile machen. Diese Körperaussagen sind dabei in ihrer Fremdheit und Andersartigkeit wahrzunehmen und nicht vorschnell mit gegenwärtiger Körpererfahrung zu identifizieren. 203

DUDEN, Geschichte,

204

V g l . JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 2 - 6 ; DERS., M e n s c h ,

205

10. 144-146.

JANOWSKI, Konfliktgespräche, 4; vgl. Dl VLTO, Anthropology, passim und BER-

GER, Psychologie, 19: ,,[V]iel zu schnell" werde nach Berger „mit einer konstanten Beschaffenheit und Erlebniswelt, also einer für alle Zeiten mehr oder weniger gleichartigen Anthropologie (und entsprechend: P s y c h o l o g i e ) gerechnet". V o n Gemünden zeigt am Beispiel des Phänomens der Trauer verschiedene methodische Ansatzpunkte für eine historische P s y c h o l o g i e auf und plädiert hermeneutisch für eine „strikte Trennung zwischen E x e g e s e und Applikation" (VON GEMÜNDEN, Überlegungen, 102). 206

Der Sammelband des Hedwig-Jahnow-Projektes trägt diesem W i s s e n um die kultu-

relle und geschichtliche Bedingtheit des Körpers schon in der Anlage des Buches Rechnung, vgl. GEIGER/SCHÄFER-BOSSERT, Körperkonzepte, 2 3 . 2 6 . Aufzuspüren sind nach Ansicht der Autorinnen Körperkonzepte in verschiedenen

Zeiten und

verschiedenen

Texten, vgl. MAIER, Beziehungsweisen, 173: „Der Begriff des Körperkonzeptes erscheint in diesem Rahmen geeignet, die historisch ganz unterschiedlichen Konstruktionen des Körpers zu beschreiben und mit der j e w e i l s herrschenden soziokulturellen Ordnung in Beziehung zu setzen." 207

JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 4 .

36

Einleitung

2.2.3 Zum Zusammenhang

von Körperbild und Sozial struktur

Körperbilder und Körperkonzepte sind kulturell bedingt, sie entstehen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und spiegeln sich in ihnen wider. Wie eng Körperbild und Sozialstruktur aufeinander bezogen sind, hat schon Mary Douglas in ihren Studien zu „Ritual, Tabu und Körpersymbolik" ausgeführt: „Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest. Zwischen dem sozialen und dem physischen Körpererlebnis findet ein ständiger Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien beider wechselseitig stärken. Infolge dieser beständigen Interaktion ist der Körper ein hochgradig restringiertes Ausdrucksmedium." 2 0 8

Es kann, so Douglas, „keine ,natürliche', von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers geben", „der menschliche Körper [wird] immer und in jedem Fall als Abbild der Gesellschaft aufgefaßt" 209 . Sie verdeutlicht dies anhand einiger Beispiele. So ist das „Interesse an den Körperöffnungen [...] eng mit dem Interesse an sozialen Ein- und Austrittsvorkehrungen, Fluchtund Zugangswegen gekoppelt." Und die soziale Hierarchie spiegelt sich oft in der Hierarchie der verschiedenen Körperteile: „Das Verhältnis zwischen Kopf und Füßen, zwischen Gehirn und Sexualorganen, zwischen Mund und After wird meist so behandelt,

208

DOUGLAS, Ritual, 99; vgl. auch DIES., Reinheit, 169: „Jede Kultur ist eine Gesamtheit miteinander verbundener Strukturen, die soziale Formen, Werte, die Kosmologie und das gesamte Wissen umfassen und durch die alle Erfahrung vermittelt wird. Bestimmte kulturelle Themen finden in Riten Ausdruck, in denen der Körper einer bestimmten Behandlung unterzogen wird. [...] Die Rituale sind Darstellungen sozialer Beziehungen, und indem sie diesen Beziehungen einen sichtbaren Ausdruck verleihen, ermöglichen sie es den Menschen, ihre eigene Gesellschaft zu erkennen. Die Rituale wirken durch das symbolische Medium des physischen Körpers auf den politischen Körper" (vgl. aaO 161.164). 209

210

DOUGLAS, R i t u a l , 1 0 6 .

DOUGLAS, Ritual, 106; vgl. DIES., Reinheit, 151-169, und bes. 164, wo sie auf die Reinheitsvorschriften des Alten Testaments Bezug nimmt: „Die Israeliten waren ihre ganze Geschichte hindurch eine hart bedrängte Minorität. Ihre Glaubensanschauungen besagen, daß alle körperlichen Ausscheidungen - Blut, Eiter, Exkremente, Samen usw. verunreinigend sind. Ihre Sorge um die Integrität, um die Einheit und Reinheit des physischen Körpers wäre ein angemessener Ausdruck für die bedrohten Grenzen ihres politischen Gemeinwesens" (ebd.).

2 Zum Stand der

Forschung

37

daß in ihm die relevanten Abstufungen der sozialen Hierarchie zum Ausdruck kommen." 211

Die wechselseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von Körperbild und Sozialstruktur reicht, wie Barbara Duden anhand von Beispielen aus der Medizingeschichte deutlich macht, bis in die Begrifflichkeiten hinein.212 So gilt William Harvey inzwischen nicht mehr allein als Entdecker des Blutkreislaufes, sondern als „Mitschöpfer des Kreislauf-Begriffes, der sich um 1750 in der Ökonomie, den Naturwissenschaften und der Publizistik ebenso durchsetzte wie in der Physiologie." 213 Und die heute geläufige Bezeichnung der Fortpflanzung als Reproduktion („Reproduktionsmedizin") entsteht, wie Duden zeigt, erst im Kontext der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Ökonomie an Bedeutung gewinnenden „Produktion". 2 1 4

Inwiefern Körperbild und Sozialstruktur in Ägypten zusammenhängen, hat Jan Assmann im Anschluß an die Erkenntnisse Emma Brunner-Trauts untersucht. Für die Wahrnehmung der Gesellschaft wie für die Wahrnehmung des Körpers prägend ist das „Prinzip der Aspektive, das eine Einheit nicht als solche wahrnimmt, sondern zerlegt in ihre Komponenten" 215 . Der Körper wird entsprechend als „aus einer Anzahl von Teilstücken zusammengesetzt, ,verknotet, zusammengeknüpft'" 216 gesehen. Brunner-Traut hat für dieses Bild des Körpers den Begriff der „Gliederpuppe" 2 ' 7 geprägt. Aspektiv werde auch die Gesellschaft wahrgenommen, Brunner-Traut beschreibt sie als eine „aggregierte Gesellschaft" 218 , die „durch Aneinanderreihung von Einzelnen ohne einheitliche Verbundenheit zustande kommt." 219 Nach Assmann kommt jedoch zu diesem Prinzip der Aspektive das Prinzip der

211

DOUGLAS, Ritual, 106.

212

Vgl. DUDEN, Geschichte, 4 1 - 4 6 , siehe dazu auch TANNER, Anthropologie, 127f. Auch in der Semiotik wird auf die prägende Kraft der Körpererfahrung für die Wahrnehmung der Gesellschaft verwiesen. Im Anschluß an die Arbeiten von Lakoff und Johnson, die zeigen, daß „eine große Klasse von Metaphern [...] die sprachliche und konzeptuelle Struktur der menschlichen Körperorientierung auf unterschiedliche abstrakte gesellschaftliche und kognitive Bereiche projizieren" (SWEETSER, Metaphern, 264) zeigt Sweetser, daß die „Übereinstimmung zwischen den metaphorischen Projektionen von oben und unten und innen und außen" unter anderem durch „menschliche Körpererfahrung motiviert ist" ( aaO 265, Hervohebung im Original). 213

DUDEN, G e s c h i c h t e , 4 1 .

214

Vgl. DUDEN, Geschichte, 4 2 - 4 4 mit Anm. 105.

215

ASSMANN, T o d , 36.

216

BRUNNER-TRAUT, F r ü h f o r m e n , 72.

217

Ebd.

218

BRUNNER-TRAUT, F r ü h f o r m e n , 82f.

219

BRUNNER-TRAUT, F r ü h f o r m e n 82; vgl. ASSMANN, T o d , 36.

38

Einleitung

Konnektivität hinzu.220 Es handelt sich dabei um die „Vorstellung eines Mediums, das die unverbunden gedachten Elemente zu einer übergreifenden Einheit verbindet." 221 Im Blick auf die Einbindung des Einzelnen in den Staat habe die Ethik diese konnektive Funktion.222 Im Blick auf den Körper habe das Blut, das vom Herzen durch den Körper gepumpt wird, die Funktion dieses konnektiven Mediums, das die einzelnen Körperteile miteinander zu einem lebendigen Ganzen verbinde. „Inbegriff und Garant oder Generator von Konnektivität in der körperlichen Sphäre ist also das Herz."223 War die Einheit des Körpers und die soziale Eingebundenheit des Individuums durch den Tod zerstört, so galt es, diese Einheit auf der körperlichen wie auf der sozialen Ebene durch die entsprechenden Einbalsamierungs- und Begräbnisriten wieder herzustellen. 224 Für die Psalmenforschung sind diese Erkenntnisse aus der Ägyptologie in verschiedener Hinsicht fruchtbar gemacht worden: Das Wissen um das Prinzip der Aspektive half, das Nebeneinander verschiedener Körperteile in den Klagen und Bitten der Individualpsalmen zu verstehen,225 wobei die Frage nach dem „Generator von Konnektivität" 226 in den Körperkonzepten des Alten Testaments meines Erachtens nach wie vor offen ist - möglicherweise hat die BE33 diese verbindende Funktion. 227 Im Blick auf die damit verbundene Frage nach der ,Einheit' und ,Ganzheit' des Menschen weist Di Vito darauf hin, daß es sich um eine "complex and differentiated unity"228 handelt, bei der die „relatively decentered and ,dividual', or divisible, quality of personal existence in Hebrew representation of psychic life"229 nicht aus dem Blick zu verlieren sei.230 220

ASSMANN, T o d , 3 5 ; n e b e n d e m o r g a n i s c h e n und d e m k o l l e k t i v e n Prinzip sei das

k o n n e k t i v e Prinzip eine dritte M ö g l i c h k e i t , „Einheit und V i e l h e i t zu d e n k e n " ( e b d . ) . 221

ASSMANN, T o d , 3 5 f .

222

V g l . ASSMANN, T o d , 36.

223

ASSMANN, Tod, 36.

224

V g l . dazu die v o n A s s m a n n b e s c h r i e b e n e n „Todesbilder", der „Tod als Z e r i s s e n -

heit" (ASSMANN, T o d , 2 9 - 5 3 ) s o w i e der „ T o d als s o z i a l e Isolation" (aaO 5 4 - 8 2 ) . 225

V g l . SCHROER/STAUBLI, K ö r p e r s y m b o l i k ,

1 9 - 2 1 ; JANOWSKI,

Konfliktgespräche,

1 6 - 1 9 mit A n m . 7 7 ; DERS., M e n s c h , 1 5 8 f . 226

ASSMANN, Tod, 3 6 .

227

Zum B e g r i f f e s ] ] s i e h e unten 2 3 6 - 2 3 9 .

228

Dl VlTO, A n t h r o p o l o g y , 2 2 8 .

229

Dl VITO, A n t h r o p o l o g y , 2 2 6 .

230

D a ß e i n e Einheit d e s K ö r p e r s k e i n e s w e g s selbstverständlich v o r a u s g e s e t z t w e r d e n

kann, betont auch der S o z i o l o g e A . Hahn: „ D i e Idee e i n e s einheitlich f u n k t i o n i e r e n d e n S y s t e m s v o n Körperlichkeit w i d e r s p r i c h t z u n ä c h s t durchaus ,naiver' oder

alltäglicher

A n s c h a u u n g . D i e s e r präsentiert sich der Körper gerade erst einmal als D i f f e r e n z v o n

2 Zum Stand der Forschung

39

Im Blick auf die Sozialsphäre schärfte die Diskussion um das Prinzip der Konnektivität den Blick für die Eingebundenheit des Menschen in ein Netz von Beziehungen zu Gott und den Mitmenschen, das im Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen zum Ausdruck kommt.231 Diese reden vom Tod nicht in erster Linie als der physischen Grenze des Lebens, sondern vom Tod als dem „Verlust der Lebensgemeinschaft" 232 mit Gott und den Menschen. Der Verlust der Gemeinschaft mit Gott droht, wo der Mensch Gott nicht mehr loben kann: „Für den ganzen Menschen ergab sich die alttestamentliche Antwort, daß Leben genau da in den Tod geht, wo das Lob Gottes verstummt." 233 Den Verlust der menschlichen Gemeinschaft als ,sozialen Tod' führen die Feindklagen der Klagelieder des Einzelnen eindringlich vor Augen.234 Darüberhinaus zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen Körperbild und Sozialsphäre in den Psalmen im Nebeneinander von Feindklagen, die die soziale Isolation des betenden Ichs widerspiegeln, und Ichklagen, die der Not in Körperbildern Ausdruck verleihen. Besonders ins Auge fallt dieses Nebeneinander von Körperbild(ern) und Sozialsphäre bei Psalmen, die von einer Krankheit des betenden Ichs reden, wie z.B. Ps 38 oder 41: „Die Krankheit besteht danach nicht nur in körperlichem, sondern auch in sozialem Leiden: in Mißachtung, Desintegration und Einsamkeit, kurz in der Zerstörung der Lebenswelt des Beters."235 Auf einen Grund für diese enge Verbindung von körperlicher und sozialer Integrität weist Di Vito hin: Während in der Konstruktion des modernen Selbst vorausgesetzt ist, „that every body has ,inner depths', which mark that the person is rechts und links, o b e n und unten, vorn und hinten, v o n v e r s c h i e d e n e n s i n n l i c h e n V e r m ö g e n und vitalen F u n k t i o n e n und Zuständen. Gerade die D i f f e r e n z der leiblichen V e r m ö g e n und E m p f i n d u n g e n läßt die Idee eines s y s t e m a t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g s

zwischen

ihnen zu einer Abstraktionsleistung w e r d e n , die sich nicht v o n s e l b s t versteht, sondern v o r a u s s e t z u n g s v o l l und g a n z u n w a h r s c h e i n l i c h ist" (HAHN/JACOB, Körper, 1 5 0 ) . 231

V g l . JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 5 l f . l 8 8 ; DERS., M e n s c h , 1 6 3 - 1 6 6 .

232

BARTH, Errettung, 4 5 ; v g l . auch D i Vito, der betont, daß im G e g e n s a t z zur E i g e n -

ständigkeit des m o d e r n e n

M e n s c h e n , für den „relative a t o m i s m , s e l f - s u f f i c i e n c y and

d i s e n g a g e m e n t " (Dl VITO, A n t h r o p o l o g y , 2 2 1 ) k e n n z e i c h n e n d sind, der M e n s c h im Alten Israel „ [ p e r s o n a l l y , s o c i a l l y , e c o n o m i c a l l y , and legally [ . . . ] w a s e m b e d d e d in the f a m i l y and e n m e s h e d in o b l i g a t i o n s o f k i n s h i p e x t e n d e d e v e n b e y o n d father's h o u s e h o l d " (aaO 2 2 4 ; v g l . 2 2 1 - 2 2 5 : „On the e m b e d d i n g o f the Individual"). 233

WOLFF, A n t h r o p o l o g i e , 1 6 6 f , v g l . aaO 161; LIESS, Art. L e b e n , 135; DIES., W e g ,

324f. 234

V g l . dazu BARTH, Errettung, 4 4 - 5 3 ; JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 4 7 f (mit A n m .

200).190. 235

JANOWSKI, K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 1 8 0 ; v g l . CRÜSEMANN, N e t z , 144.

40

Einleitung

unique" 236 , fehlen diese verborgenen inneren Tiefen im biblischen Menschenbild. Hier gilt vielmehr: „the real ,self' is the public ,self'; and one is one's social role and one's status." 237 Das Fehlen eines verborgenen inneren „Ichs" hat Konsequenzen für die Wahrnehmung des Körpers, denn dadurch kann, wer oder was jemand ist, nicht unter Absehung von der körperlichen Integrität eines Menschen gesagt werden; „one cannot easily dissociate who one is from one's bodily integrity, because there is no ,center' within a self and apart from the body to be set over against the body as a ,real' self in contrast to the one that is apparent." 238 Dieses Ineinander von sozialer und körperlicher Integrität führt zu einem weiteren Aspekt des Zusammenhangs von Körperbild und Sozialstruktur, zur Korrespondenz der Wahrnehmung des Körpers und der Wahrnehmung der Gesellschaft, mittels der der Körper zum „Abbild der Gesellschaft" 239 wird. Auf diese Abbildfunktion des Körpers wird in der exegetischen Diskussion alttestamentlicher Texte bisher nur vereinzelt hingewiesen. Ulrike Bail kommt im Rahmen einer Untersuchung von 2 Kön 9,30-37, in der sie der Frage nachgeht, wie sich die Präsenz des Körpers Isebels auf der Ebene der Erzählung zur literarischen Präsenz des Körpers und seiner Vergegenwärtigung in Bildern verhält, auch auf die sozialen Verhältnisse zu sprechen, die sich in der Erzählung im Umgang mit dem Körper Isebels spiegeln: „Herrschaft und Macht werden über den Körper präsentiert, Veränderungen von Herrschaftsverhältnissen werden über die Verfügung oder Zerstörung des Körpers ausgeübt." 240 Außerdem spielt die Korrespondenz der Wahrnehmung von Körper und Gesellschaft eine zentrale Rolle in der vielfach begegnenden Personifikation der Stadt als Frau. So wird zum Beispiel in Ez 16 die Stadtgeschichte Jerusalems als Lebens- und Körpergeschichte einer Frau erzählt 241 und auch Zion ist in den Texten Deutero- und Tritojesajas als Frau körperlich 236

Dl VITO, Anthropology, 231, vgl. 231-234: „On Inner Depths". Dl VITO, Anthropology, 232; vgl. Jes 14,9-11 und Ez 32,27. Nach Jes 14,9-11 sind die Könige mit ihren Thronen in der Scheol; nach Ez 32,27 die Krieger mit ihren Waffen, d.h. das Statussymbol ist so eng mit der Person verbunden, daß es quasi als Teil der Person und ihres Körpers betrachtet wird und dementsprechend mit in die Scheol kommt; Schäfer-Bossert spricht in diesem Zusammenhang von „Köpererweiterungen" (SCHÄFER-BOSSERT, Cyborgs, 211). 238 Dl VITO, Anthropology, 233. 239 DOUGLAS, Ritual, 106, siehe dazu oben 36f. 240 BAIL, Fall, 89. 241 So z.B. in der Darstellung Jerusalems als Frau in Ez 16, vgl. dazu MAIER, Jerusalem, passim, mit weiterer Literatur, zu Ez 16,4-6 siehe unten 137-140. 237

3 Zur Methode und zum Aufbau der Arbeit

41

präsent.242 Die Bedeutung dieser Personifikation der Stadt als Frau für die Psalmen hat Ulrike Bail am Beispiel von Ps 55 aufgezeigt. Sie weist nach, daß in Ps 55 die Aussagen über die Stadt als Aussagen auf den Körper einer Frau hin gelesen werden können.243 Die Untersuchung zur Bedeutung des Körpers der Isebel sowie die Wahrnehmung der körperlichen Dimensionen in der Personifikation der Stadt als Frau sind Hinweise darauf, daß die Repräsentationsfunktion des Körpers für soziale Verhältnisse und Hierarchien auch in alttestamentlichen Texten begegnet. Gerade die Körperbilder in den Ichklagen der Psalmen sind in ihrem Nebeneinander zu Feind- und Gottklagen im Blick auf diese mögliche Abbildfunktion des Körpers hin zu befragen.

3 Zur Methode und zum Aufbau der Arbeit Die Körperbilder in den Psalmen werden in dieser Arbeit exemplarisch an einem Text, Psalm 22, untersucht. Diesem Psalm werden im Laufe der Auslegung weitere alttestamentliche Texte, vorwiegend aus dem Psalter und dem Hiobbuch, vergleichend zur Seite gestellt. Die Entscheidung, einen Psalm zum Ausgangspunkt zu nehmen, trägt der im Rahmen der Forschungsdiskussion gewonnenen Einsicht Rechnung, daß sich in alttestamentlichen Texten eine Vielfalt von Körperkonzepten spiegelt und von daher die Untersuchung einzelner Texte an Bedeutung gewinnt. Indem der Körper im Spiegel eines Textes wahrgenommen wird, folgt die Betrachtung, was die Auswahl und die Reihenfolge der Bilder angeht, dem Duktus des Textes und trägt nicht eine an der dichotomischen oder trichotomischen Sicht des Menschen orientierte Systematik in die Wahrnehmung des Textes und seiner Körperbilder ein. Darüber hinaus ermöglicht es die Untersuchung der Körperbilder im Kontext einer Auslegung des gesamten Psalms, die Korrelation der Körperbilder mit anderen Bildbereichen, wie zum Beispiel den Feindbildern, und damit auch die Korrelation von Körper- und Sozialsphäre wahrzunehmen.

242 Das Körperkonzept der Frau Zion bei Deutero- und Tritojesaja untersucht B. Schmidtgen in ihrem Aufsatz „Stadtfrau Zion und Erzmutter Sarah" ausgehend von den in den Texten genannten Körperteilen, den Eigenschaften, die dem Körper zugeschrieben werden, den (körperlichen) Handlungen der Frau Zion und den Beziehungen, in die Frau Zion über ihren Körper eingebunden ist, vgl. SCHMIDTGEN, Stadtfrau, 64-68. 243 Vgl. BAIL, Gegen das Schweigen, 176-201.

42

Einleitung

Psalm 22 ist für eine exemplarische Untersuchung der Körperbilder in den Individualpsalmen aus verschiedenen Gründen besonders geeignet: Der Psalm zeichnet sich durch eine Fülle von Körperbildern aus und bietet so für eine thematisch orientierte Untersuchung reiches Material. Das Nebeneinander von Klage- und Danklied in Psalm 22 ermöglicht es, exemplarisch in einem Text Besonderheiten des Gebrauches von Körperbildern im Kontext der Klage einerseits und im Kontext von Lob und Dank andererseits aufzuzeigen. Der überraschende Wechsel von der Klage zum Lob hat den 22. Psalm auch zu einem der Beispieltexte für das Phänomen des sogenannten „Stimmungsumschwungs" werden lassen; unter diesem Gesichtspunkt ist der Gebetsprozeß, der sich in diesem Psalm spiegelt, in neuerer Zeit in den Blick genommen worden.244 Dabei fand jedoch die Frage nach der Funktion der Körperbilder im Gebetsprozess bisher kaum Beachtung. Nicht zuletzt ist Psalm 22 einer der wohl am meisten untersuchten Psalmen des Psalters; daß auch bei einem so viel diskutierten Psalm wie Psalm 22 die Frage nach den Körperbildern neue Perspektiven zu vermitteln vermag, weist auf die Relevanz des Themas hin. Darüber hinaus gibt es kaum neuere Monographien zu Psalm 22,245 die vorliegende Arbeit hofft auch in dieser Hinsicht einen Beitrag zur Psalmenforschung zu leisten. Der erste Teil widmet sich dem Text und der Gestalt von Psalm 22. Entscheidungen in Übersetzungsfragen, die, wie die Übersetzung von no"? in V.2, das Verständnis von Psalm 22 prägen, sowie die Klärung textkritischer Probleme, vor allem des vieldiskutierten Verses 17b, bilden neben der literarischen Analyse, in der ein Schwerpunkt in der Verhältnisbestimmung von Klage- und Danklied liegt, die Grundlage für die Auslegung von Psalm 22. Die Auslegung des Psalms im zweiten Teil der Arbeit folgt seinem Aufbau. Den Schwerpunkt der Auslegung bilden dabei die Kapitel zu den Körperbildern in den Ich-Aussagen des Psalms, dies sind die Bilder des Lebensanfangs in den Vertrauensaussagen der Verse lOf, die Bilder des Todes in V.15 und 16 sowie die Bilder der Gewalt in V. 17-19. Kurze Abschnitte zur „alttestamentlichen Anatomie" geben zu den in den betreffenden Bildern genannten Körperteilen jeweils einen Überblick über die Be-

244

V g l . u.a. FUCHS, K l a g e ; M Ü L L E R , S t i m m u n g s u m s c h w u n g ; JANOWSKI,

Konfliktge-

spräche, 7 5 - 8 4 ; siehe dazu unten 2 4 1 - 2 4 4 . 245

Zu nennen sind hier j e d o c h insbesondere FUCHS, Klage; BECKER-EBEL, Psalm 22

und SEO, Psalm 22. Einen Schwerpunkt der Untersuchung bildet Psalm 2 2 auch bei BAUKS, Feinde.

3 Zur Methode und zum Aufliau der Arbeit

43

deutung und Funktion dieses Körperteils oder Organs.246 Das Verständnis der Bilder wird sodann durch die semantische Untersuchung der in diesen Bildern begegnenden Verben, die Klärung der Konnotationen, die die Vergleichsspender tragen, sowie durch herangezogene Paralleltexte erschlossen. Über die genannten Kapitel zu den Körperbildern hinaus liegt auch in der Auslegung der übrigen Verse das Augenmerk auf der körperlichen Dimension der Aussagen, da, so eine der Thesen dieser Arbeit, das betende Ich im Psalm durchgängig körperlich präsent ist und die Wahrnehmung dieser körperlichen Perspektive das Verständnis des Psalms zu vertiefen vermag. Im Schlußteil werden die Ergebnisse der Arbeit im Horizont der Forschungsgeschichte noch einmal reflektiert und im Blick auf die Bedeutung und Funktion der Körperbilder ausgehend von den in der Auslegung von Psalm 22 gewonnenen Einsichten systematisierend gebündelt.

246

V g l . zu d i e s e m V o r g e h e n den H i n w e i s v o n SCHROER, A n t h r o p o l o g i e , 3: „Bei aller

B e t o n u n g der A k z e n t e und s p e z i f i s c h e n B e d e u t u n g s n o t e n e i n e s W o r t e s in e i n e m g a n z b e s t i m m t e n T e x t ist die E r s c h l i e ß u n g v o n G r u n d b e d e u t u n g e n m ö g l i c h und richtig." D i e s e e r m ö g l i c h e n e i n e n Z u g a n g z u m M e n s c h e n b i l d der T e x t e , die e i n e m Kulturkreis entstammen, der „ n a c h w e i s l i c h sehr g r o ß e Konstanten über lange Zeiträume h i n w e g aufweist".

Erster Teil

Text und Gestalt von Ps 22 1 Übersetzung 1

Dem Musikmeister, nach: Hindin der Morgenröte. Ein Psalm Davids.

2a

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

2b 3a 3b

Fern von meiner Hilfe sind die Worte meines Schreiens. Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du antwortest nicht, bei Nacht, aber es gibt keine Ruhe für mich.

4a 4b

Du aber bist heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels.

5a

Auf dich vertrauten unsere Väter,

5b 6a 6b

sie vertrauten und du hast sie gerettet, zu dir schrieen sie und wurden gerettet, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

7a 7b 8a

Ich aber - ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Menschen und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, spotten über mich,

8b 9a 9b

spalten die Lippe, schütteln den Kopf: „Wälze auf J H W H ! " „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm."

10a 10b 1 la 1 lb

Ja, du zogst mich heraus aus dem Mutterleib, flößtest mir Vertrauen ein an den Brüsten meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an, vom Leib meiner Mutter an: mein Gott - du!

12a 12b

Sei nicht fern von mir, denn Not ist nahe und es gibt keinen Helfer.

13a 13b

Umgeben haben mich viele Stiere, die Starken Baschans umringen mich.

14a

Sie haben aufgerissen gegen mich ihr Maul,

14b

ein Löwe, reißend und brüllend.

15a

Wie Wasser bin ich ausgegossen worden, und getrennt haben sich alle meine Knochen. Geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Innern.

15b

46 16a 16b 17a

Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22 Trocken geworden wie eine Scherbe ist meine Kraft, und meine Zunge ist kleben gemacht an meinem Gaumen, und in den Staub des Todes setzt du mich.

17b 18a

Ja, umgeben haben mich Hunde, eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist wie der Löwe - meine Hände und Füße. Ich kann zählen alle meine Knochen,

18b 19a 19b

sie schauen und sehen auf mich herab. Sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.

20a 20b

Aber du, JHWH, sei nicht fern, meine Stärke, zu Hilfe eile mir!

21 a 21b

Entreiße vor dem Schwert mein Leben (BBJ), aus der Pranke des Hundes meine Einzige!

22a 22b

Rette mich vor dem Rachen des Löwen, und vor den Hörnern der Wildstiere - du hast mir geantwortet.

23a

Ich will erzählen deinen Namen meinen Brüdern,

23b

inmitten der Gemeinde will ich dich loben.

24a

Die ihr J H W H fürchtet, lobt ihn, aller Same Jakobs, ehrt ihn, fürchtet euch vor ihm aller Same Israels. Denn er hat nicht verachtet und nicht verabscheut das Elend des Elenden und nicht verborgen sein Gesicht vor ihm, und sein Schreien zu ihm hat er gehört.

24b 25a 25b 26a 26b 27a 27b

Von dir kommt mein Lobgesang in der großen Gemeinde, mein Gelübde erfülle ich vor denen, die ihn furchten. Essen sollen Elende und satt werden, loben sollen JHWH die ihn suchen, leben soll euer Herz für immer!

28a

Es sollen gedenken und umkehren zu J H W H alle Enden der Erde

28b 29a 29b 30a 30b

und niederfallen vor deinem Angesicht alle Geschlechter der Völker, denn J H W H gehört das Königtum, und er ist Herrscher über die Völker. Es aßen und fielen nieder alle Fetten der Erde. Vor seinem Angesicht sollen sich beugen alle, die in den Staub hinabsteigen, und wer sein Leben (DE:) nicht am Leben erhalten hat.

31a 31b

Nachkommenschaft soll ihm dienen, es soll erzählt werden von Adonaj dem Geschlecht,

32a 32b

sie sollen kommen und erzählen von seiner Gerechtigkeit dem Volk, das noch geboren wird, denn: Er hat getan!

2 Textkritische

und sprachliche

47

Bemerkungen

2 Textkritische und sprachliche Bemerkungen V. 1 r'r-s Die Septuaginta, Symmachus und Targum lesen statt „Hindin" rh'X „Hilfe". Dies läßt sich als Angleichung an die Gottesbezeichnung 'ra'TK in V.20 erklären, MT ist deshalb als lectio difficilior beizubehalten.' V. 2 n 0*7 Die Übersetzung von na1? ist umstritten: Ist es kausal mit „warum?" wiederzugeben oder, in Abgrenzung von JJTia, final mit „wozu" zu übersetzen? Da die beiden Übersetzungsmöglichkeiten theologische Konsequenzen für das Verständnis von Psalm 22 insgesamt haben, insofern die einleitende "cb-Frage in V.2 die Leseperspektive des Psalms bestimmt, werden sie im folgenden ausführlicher diskutiert. 2 Exkurs 1: na1? - „ Warum? " oder „ Wozu? " Nach Diethelm Michel sind na1? und unn-Fragen folgendermaßen zu unterscheiden: „ m a d d u f r a g t nach einer vorfindlichen, objektiven Begründung für ein Geschehen, lama fragt nach dem bei einem Geschehen intendierten oder immanenten Sinn, maddu" fragt in die Vergangenheit, lama fragt in die Zukunft." 3 na1? sei deshalb nicht mit „warum", sondern mit „wozu" zu übersetzen. 4 Dies entspreche der Etymologie des Wortes, die den Aus-

' Zum Motiv der Hirschkuh vgl. SCHAPER, Hirsch, 6 5 - 8 0 . Schaper geht davon aus, daß das auf Siegeln

häufig belegte Motiv der Hirschkuh aufgrund des

Konsonan-

tengleichklangs mit n i V s „Hilfe" auch die Konnotation der erhofften Hilfe und Stärke Gottes trägt und Ps 2 2 , 1 . 2 0 mit diesem Gleichklang spielt; vgl. aaO 7 6 - 7 8 ; anders Heller, der n1?'« auf eine Mondgottheit bezieht (vgl. HELLER, Hindin, 126). 2

Auch im Blick auf die Rezeption von Ps 2 2 , 2 in Mk 15,34 ist die Frage der Überset-

zung von NA1? von Bedeutung, vgl. dazu NAKARI, LMH, 50; JANOWSKI, Verstehst du, 3 6 5 - 3 7 3 ; DERS., K o n f l i k t g e s p r ä c h e , 3 6 0 - 3 6 5 ; E B N E R , K l a g e , 3

75-81.

MICHEL, Warum, 21; vgl. auch NAKARI, LMH, 4 5 ^ 1 7 . 5 0 , der n a S F r a g e n ebenfalls

als Fragen nach dem Ziel und Zweck einer Handlung versteht, jedoch eine Reihe von Ausnahmen festhält (vgl. NAKARI, aaO 4 7 f ) . 4

V g l . M I C H E L , W a r u m , 2 2 . D i e s e m V o r s c h l a g f o l g e n u . a . D O H M E N , WOZU,

119-121

und JANOWSKI, Konfliktgespräche, 3 5 0 . 3 6 0 Anm. 56. Hossfeld und Zenger lassen bei ihrer Übersetzung von Ps 74; 80; 88 beide Möglichkeiten nebeneinander stehen (vgl. HOSSFELD/ZENGER, P s a l m e n

51-100,

356.453.564).

M i t „ w a r u m " ü b e r s e t z e n s i e na 1 ? in

48

Erster Teil: Text und Gestalt

von Psalm

22

gangspunkt für Michels Überlegungen bildet: na1? sei aus b + „zu was?" entstanden, dies lege „schon die Vermutung nahe" 5 , daß na1? „nach einer intendierten Absicht, die als Grund für etwas angesehen wird" 6 , frage. Diese etymologische Ableitung ist nach Ernst Jenni unzutreffend, da b ursprünglich nicht „eine direktionale oder finale Ziel-Präposition ,zu / für' [...], sondern ein allgemeinerer Relationalis ,in bezug auf / hinsichtlich'" 7 sei. Außerdem ergebe „sich die Bedeutung eines präpositionalen Ausdrucks nicht aus der Addition einer fixen Bedeutung der Präposition und ihrer Dependenz, sondern aus dem Zusammenspiel der beiden durch b in Verbindung gesetzten Relata (hier der beiden Sätze: dem Satzäquivalent no und dem darauf folgenden Satz)." 8 Dieser Bezug ist nach Jenni, „wie auch sonst bei b zu beobachten, nicht rein objektiv gegeben, sondern beruht letztlich auf einem subjektiven Urteil, daß die reale Getrenntheit zweier Sachverhalte mental überbrückt." 9 Der Unterschied zwischen na1?- und yno-Fragen bestehe darin, daß „na'p und seine expressivere Variante n-rna1? ,warum denn' [...] nicht für Informationsfragen und Fragen aus Verwunderung oder Anteilnahme, sondern vor allem für vorwurfsvolle, klagende, eventuell auch Verachtung ausdrückende (rhetorische) Fragen verwendet'" 0 werde. Aus diesen Gründen sei die Annahme eines ursprünglich finalen Sinns von ns^ abzulehnen." Wichtiger noch als die Etymologie ist in der Begründung Michels für die Unterscheidung von no1? „wozu" und a n o „warum" die „Analyse des Sprachgebrauchs" 12 . In einem ersten Schritt untersucht er Texte aus der erzählenden Literatur und widmet sich in einem zweiten Schritt den an Gott gerichteten na'p-Fragen der Psalmen. Die Texte belegen für ihn, daß Ps 68,17 (Frage an die Berge; vgl. aaO 2 4 3 ) und in Ps 79,10 (Frage an Gott, vgl. aaO 444). 5

MICHEL, W a r u m , 14.

"Ebd. 7

JENNI, Lamed, 2 8 7 .

8

Ebd.

"Ebd. 10

JENNI, Lamed, 2 8 6 ( H e r v o r h e b u n g von mir); vgl. JEPSEN, W a r u m , 1 0 6 - 1 1 3 , bes.

108. " Vgl. JENNI, Lamed, 2 8 6 . Im Deutschen w ü r d e n zwar, so Jenni, „ w a r u m und wozu sehr o f t s y n o n y m gebraucht. Das heißt aber nicht, daß beim Übersetzen von nn'p immer beide Möglichkeiten o f f e n sind" (JENNI, Lamed, 287). Finalen Sinn h a b e NA1? nur dann, „wenn mit no nicht ein g e g e n ü b e r dem Hauptsatz vorzeitiger oder gleichzeitiger Sachverhalt visiert ist, sondern eine z u k ü n f t i g e Möglichkeit im V o r d e r g r u n d steht" (JENNI, Lamed, 287, vgl. die Bsp. aaO 288, Rubrik 954). 12

MICHEL, W a r u m , 14.

2 Textkritische

und sprachliche

Bemerkungen

49

HD1?-Fragen sich eher in die Zukunft richten und nach dem Zweck einer Handlung fragen, mit r n o dagegen werde nach einem Grund und damit eher in die Vergangenheit gefragt. Die Argumentation Michels beruht dabei vor allem auf einer Interpretation der jeweiligen Fragen, weniger auf der Analyse der Zeitstruktur der Fragen oder des Kontextes. 13 Dem Gang der Argumentation Michels folgend werden zunächst einige seiner Beispiele aus der erzählenden Literatur aufgegriffen und in einem zweiten Schritt eines seiner Beispiele aus den Psalmen erörtert. Die Textbeispiele Michels aus der erzählenden Literatur stammen aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation. In Ex 2,18 fragt Reguel seine Töchter, die vom Wasser-Holen zurückkommen: „BTTO seid ihr heute so schnell gekommen?". Als er erfährt, daß ein Mann ihnen beim Schöpfen geholfen hat, fragt er sie: „na1? habt ihr den Mann denn zurückgelassen? Ladet ihn doch ein, damit er Nahrung zu essen bekommt." (Ex 2,20). Michel erklärt den Unterschied der Fragepronomina damit, daß es in Ex 2,18 um die Frage nach einem „aufweisbaren G r u n d " ' 4 ginge und in Ex 2,20 um das „bei der Handlung intendierte Ziel seiner Töchter" 1 5 und paraphrasiert diese Frage mit „,Was habt ihr euch dabei gedacht [...]?"' 1 6 . Gegen die Interpretation Michels, daß in Ex 2,20 nach dem Ziel einer Handlung und nicht nach dem Grund derselben gefragt werde, ist mit Jenni jedoch einzuwenden, daß man „bei Unterlassungen nicht Zielvorgaben, sondern Begründungen" 1 7 erwartet: Warum haben die Töchter es unterlassen, den Mann am Brunnen einzuladen und ihn stattdessen dort gelassen? 1 8

13

Aus diesem Grunde bewegt sich auch die folgende Auseinandersetzung mit Michels Deutung auf einer solch interpretatorischen Ebene, wobei allerdings, stärker als bei Michel, auch die Zeitstruktur der Texte berücksichtigt werden soll. 14 MICHEL, Warum, 15. 15

MICHEL, W a r u m , 16.

16

MICHEL, W a r u m , 16.

17

JENNI, Lamed, 287, vgl. die Beispiele aaO 288, Rubrik 952. Auch Nakari sieht, obwohl er lama-Fragen in den meisten Fällen als Fragen nach der Intention versteht, in Ex 2,20 eine Frage nach dem Grund, vgl. NAKARI, LMH, 47. 18 Michels Paraphrase der n o S F r a g e mit „Was habt ich euch dabei gedacht?" (MlCHEL, Warum, 16) verrät möglicherweise bereits die Schwierigkeiten mit dem finalen bzw. rein zukünftigen Sinn der Frage an dieser Stelle, da in dieser Formulierung nicht explizit nach dem intendierten Ziel der Handlung gefragt wird, sondern die Frage auch für eine kausale Begründung offen ist. Übersetzt man dagegen mit „wozu", wie Michel es eigentlich fordert, wird deutlich, daß der finale Sinn nicht richtig paßt: „ W o z u habt ihr den Mann dort gelassen?" Die Antwort müßte dann lauten: „Damit er dort noch anderen Wasser holen hilft" oder „damit wir das Abendessen nicht mit ihm teilen müssen". Zu erwarten dagegen ist, daß der Vater nach dem Grund fragt: „Warum habt ihr den Mann dort gelassen?" Die mögliche Antwort der Töchter könnte dann sein: „Weil wir nicht daran gedacht haben, ihn einzuladen", „weil wir uns nicht trauten, ihn einzuladen", oder „weil wir ihn nicht mochten".

50

Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22

In Ex 2,13 wendet Mose sich an zwei sich schlagender Männer: „na1? schlägst du deinen Nächsten?" Nach Michel fragt Mose hier „nach einem in der Handlung liegenden Sinn, der vorhanden ist, auch wenn die Streitenden ihn im Augenblick vergessen haben." 1 9 Werden aber zwei, die sich streiten, tatsächlich im Blick auf die Z u k u n f t gefragt, wozu sie sich streiten? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß sie, mit einem Blick in die Vergangenheit, gefragt werden, warum sie sich streiten? Die na'p-Frage wäre dann auch hier kausal zu verstehen und trüge im Unterschied zu einer rein informativen J?nn-Frage durch das na1? einen vorwurfsvollen Ton. In Gen 12,18f wird Abraham gefragt, „na1? hast du mir nicht mitgeteilt, daß sie deine Frau ist? na1? hast du gesagt, ,sie ist meine Schwester', so daß ich sie mir zur Frau nahm?" Gegenstand der ersten Frage ist wiederum eine Unterlassung, bei der nach Jenni die Frage nach einem Grund für die Unterlassung zu erwarten ist. 20 Michel dagegen nimmt an, es ginge bei der Frage des Pharaos um das Ziel von Abrahams Handlung und begründet dies damit, daß Abraham auf die Frage mit Schweigen antwortet. Auf die Frage nach dem Grund dafür, seine Frau als seine Schwester auszugeben, aber hätte er, so Michel, antworten können, er habe Angst gehabt. 2 1 Gegen diese Interpretation ist einzuwenden, daß der Text nicht sagt, daß Abraham schweigt, sondern vielmehr überhaupt nicht auf die Reaktion Abrahams auf die Fragen des Pharaos eingeht. Diese ,Leerstelle' des Textes läßt sich verschieden interpretieren. Es könnte sein, daß der Text die Antwort nicht festhält, weil der Leser, die Leserin sie bereits kennt (V.l 1 - 1 3 ) oder aber, daß der Pharao seine Fragen als rhetorische Fragen stellt und Abraham gar keine Möglichkeit zur Antwort läßt. Eine andere Möglichkeit ist, mit Michel anzunehmen, daß Abraham schweigt. Auch dieses Schweigen muß jedoch nicht heißen, daß Abraham keine Antwort auf die Frage wußte und deshalb nicht nach dem Grund seines Handelns gefragt sein kann. Abraham könnte vielmehr auch schweigen, weil er mit seiner Antwort zugeben müßte, daß er dem Pharao Böses unterstellt hat. Auch in Gen 12,18f vermag daher meines Erachtens die Interpretation Michels der nab-Frage als auf die Zukunft gerichtete Frage nach dem Sinn und Ziel einer Handlung nicht zu überzeugen. Der These Jennis, daß es sich bei den na'p-Fragen um vorwurfsvolle Fragen handle, widersprechen nach Ansicht Michels die Fragen in 1 Sam 1,8 und 2 Sam 15,19. Beide Fragen seien nicht vorwurfsvolle, sondern vielmehr fürsorgliche Fragen. In 1 Sam 1,8 läßt sich die Frage jedoch durchaus auch vorwurfsvoll interpretieren („bin ich nicht besser für dich als zehn Söhne?") und in 2 Sam 15,19 wird das Verhalten zumindest als nicht richtig beziehungsweise sinnlos erachtet - nach Jepsen ist dies ebenfalls eine Konnotation, die rta'p-Fragen eigen ist. 22

Der Befund der erzählenden Literatur ist, wie die Beispiele zeigen, keineswegs so eindeutig, wie Michel ihn darstellt. An vielen Stellen scheint vielmehr die kausale Bedeutung von na'p naheliegender als die von ihm vorgeschlagene finale.

19

MICHEL, W a r u m , 18.

20

Vgl. JENNI, Lamed, 287.

21

V g l . MICHEL, W a r u m , 1 8 .

22

V g l . JEPSEN, W a r u m , 1 0 8 .

2 Textkritische

und sprachliche

Bemerkungen

51

Als eigene Gruppe untersucht Michel die an Gott gerichteten na1?Fragen.23 Dabei geht er auch auf verschiedene Psalmbelege ein, und zwar auf Ps 22,2; Ps 49,624; 74,1; 79,10 und 80,13.25 Ausgehend von seiner These, daß na'p-Fragen in die Zukunft gerichtete Fragen sind, hält er bei den an Gott gerichteten nab-Fragen der Psalmen die „Orientierung an einem Sinn göttlichen Handelns, dieses Fragen nach dem Ziel göttlichen Handelns"26 für charakteristisch. Am Beispiel von Psalm 74 sei seine These exemplarisch untersucht. Der erste Abschnitt von Ps 74 wird durch na1?-Fragen gerahmt (V.l und 11) wobei Michel bezeichnenderweise nur auf die eine der beiden na1?Fragen (Ps 74,1) eingeht. 1

[...] Warum (na1?), Gott, hast du verstoßen f ü r immer, raucht dein Zorn gegen das Kleinvieh deiner Weide?

2

Gedenke deiner Gemeinde, die du ureinst erworben hast, die du ausgelöst hast als Stamm deines Erblands, des Berges Zion, auf dem du Wohnung genommen hast.

10

Bis wann, Gott, wird höhnen der Widersacher, wird schmähen der Feind deinen Namen für immer? Warum (rtE1?) ziehst du deine Hand zurück, ja, deine Rechte? Aus deinem Gewandbausch heraus: Vernichte! (Ps 74,1.2.1 Of)

11

23

Vgl. M I C H E L , Warum, 2 1 - 2 8 . Auffallend ist Michel zufolge die Tatsache, daß die an Gott gerichteten Fragen bis auf wenige Ausnahmen alle mit na1? formuliert sind, vgl. aaO 21. 24 Die Frage in Ps 49,6, „Warum (na1?) sollte ich mich furchten in bösen Tagen, wenn der Frevel meiner Fersen mich umgibt" ist vermutlich keine an Gott gestellte Frage, sondern eher ein als Frage formuliertes Selbstgespräch oder eine Frage an die Umstehenden (vgl. Ps 49,2). Als Sprecher kommt entweder das betende Ich in Betracht, wenn 3p« „Fersen", „Fußpur" mit B. Weber im Sinne von „Nachsteller" zu verstehen ist (vgl. WEBER, Werkbuch I, 223). Wird von der konkreten Bedeutung „Ferse", „Fußspur" ausgegangen, handelt es sich um ein Feindzitat (so H O S S F E L D , in: H O S S F E L D / Z E N G E R , Psalmen I, 302). Doch selbst wenn die Frage mit Michel als Frage des betenden Ichs an Gott verstanden wird, erübrigt sich eine Frage nach dem Grund gerade nicht durch die Nennung der bösen Tage („Wieder ist klar, daß hier nicht im Sinne der maddu"-Vra%e nach einem Grund f ü r die Furcht gefragt wird - der wäre j a durchaus in den bösen Tagen und den tückischen Feinden gegeben", M I C H E L , Warum, 24). Vielmehr impliziert diese (rhetorische) Frage j a gerade, daß der Sprecher auch in bösen Tagen keinen Grund sieht, sich zu furchten; vgl. N A K A R I , L M H , 48. 25 Weitere na'j-Fragen an Gott stehen in Ps 2,1; 10,1; 42,10; 43,2; 44,24f; 88,15; 115,2; Hi 7,20; 13,24 u.ö. 26

MICHEL,

Warum,

23.

52

Erster

Teil: Text und Gestalt

von Psalm

22

Nach Michel macht der Imperativ in V.2 „denk doch" deutlich, „daß hier nicht nach einem vergangenen Grund des Verstoßens Gottes gefragt wird, sondern danach, wie sich dieses Verstoßen mit der göttlichen Erwählung zusammenbringen läßt"27. Wie in den anderen na^-Fragen an Gott in den Psalmen werde in Ps 74,1 also nach dem „Ziel göttlichen Handelns"28 gefragt. Die Psalmen halten, so Michel, „unbeirrt an der Voraussetzung fest, Jahwe müsse bei seinem Tun einen Sinn haben, auch wenn sie ihn nicht verstehen."29 Auf diesem Hintergrund aber ist der Inhalt der V.10-11 erstaunlich. Deren Fragen bilden zusammen mit V.l eine Inklusio und rahmen diesen ersten Abschnitt des Psalms.30 Die Frage (V.10) blickt in die Zukunft. Sie fragt jedoch nicht nach dem Sinn des Handelns Gottes, dem „wozu" des Zornes Gottes, mit dem er „das Kleinvieh seiner Weide" trifft, sondern erhofft das Ende des Treibens der Feinde. Diesen Wunsch nach der Vernichtung der Feinde nimmt auch die na'p-Frage in V . l l auf.31 Wäre die "ö'p-Frage in die Zukunft und auf den Sinn des göttlichen Handelns gerichtet, müßte die erhoffte ,Lösung' eine Antwort über Sinn und Ziel des Leidens sein, nicht aber das Ende dieses durch die Feinde (V.lOf) und die Abwendung Gottes (V.l) hervorgerufenen Leidens. Bei der Wiedergabe von na*? mit „wozu" steht das Handeln Gottes an sich - im Falle von Ps 22,2 also das Verlassen-Worden-Sein von Gott nicht mehr in Frage, es geht nur noch um den Sinn und Zweck des Handelns Gottes.32 Gerade das Handeln Gottes aber ist für das betende Ich der Klagepsalmenfragwürdig und ein Grund zur Klage und Anklage. Die von den Psalmen „beklagte Situation ist ein Widerspruch in Gott selbst"33, den 27

Ebd.

28

Ebd.

29

Ebd.

30

V g l . ZENGER, in: HOSSFELD/ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 ,

31

Vgl. in diesem Sinn auch Zenger: „ D i e Erinnerung an diesen Ur-Anfang [sc. in V . 2 ]

358.

soll ihm [sc. Gott] den Gegensatz, ja den Widerspruch bewußt machen, der zwischen diesem Einst und dem Jetzt besteht [ . . . ] ; zugleich soll die Erinnerung Gott dazu b e w e gen, dem Widerspruch

durch ein dem , Ur-Anfang' entsprechendes

Handeln

ein Ende zu

setzen" (ZENGER, in: HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 5 1 - 1 0 0 , 3 5 9 , Hervorhebung v o n mir; vgl. 3 6 6 . A l s Parallele verweist Zenger auf Ps 8 0 , 9 - 1 4 [aaO 3 5 9 ] , den Michel ebenfalls anführt). 32

„Der Beter setzt voraus, daß Jahwe bei seinem Handeln, auch wenn der Mensch es

als ein Verlassen empfindet und keinen Sinn erkennen kann, doch einen Sinn hat, ein Ziel, auf das hin er handelt und das man erfragen kann", (MICHEL, Warum, 22, zu Ps 22,2; vgl. auch LAPIDE, Zerreißprobe, 2 4 2 ; JANOWSKI, Konfliktgespräche, 3 6 0 Anm. 56); kritisch dazu HIRTH, Psalm 22, 17. 33

ZENGER, in: HOSSFELD/ZENGER, P s a l m e n 5 1 - 1 0 0 , 3 6 6 ( z u P s a l m 7 4 ) .

2 Textkritische

und sprachliche

Bemerkungen

53

sie Gott vorhalten, indem sie ihn an seine Verantwortung für sein Geschöpf und seine Befreiungstaten für sein Volk erinnern. Die erhoffte L ö sung' des Konfliktes, der in den Psalmen mit Gott ausgetragen wird, ist keine intellektuelle' Lösung. Die Fragenden erwarten weder eine Erklärung über den Sinn ihres Leidens34 noch eine informierende Antwort auf eine rein sachliche „warum"-Frage.35 Gerade die Bitten und Imperative im Umfeld der na'p-Fragen zeigen vielmehr, daß sich die Hoffnung auf ein Ende der Not und in diesem Sinne auf eine Verhaltensänderung Gottes richtet. Die naSFragen sind deshalb meines Erachtens etwa von Westermann zu Recht als „Anklage Gottes"36 interpretiert worden, als vorwurfsvolle, Gott klagende und anklagende Fragen, deren „anklagende[r] Ton nicht apologetisch-teleologisch abzuschwächen [ist]"37 indem nob mit „wozu" übersetzt wird. Die Feststellung Michels, daß die "ab-Frage „nicht den Boden des Glaubens [verläßt]"38, wenn sie im Sinne von „wozu" verstanden und übersetzt wird, gilt auch und gerade dann, wenn sie als eine vorwurfsvolle Frage an Gott aufgefasst wird, die als ,warum'-Frage sein Handeln in Frage stellt.39 Schon indem diese Frage an Gott gerichtet ist, steht sie auf dem Boden einer vertrauenden Gottesbeziehung. Weder im Bereich der Erzähltexte noch im Bereich der an Gott gerichteten nnVFragen der Psalmen vermag Michels Interpretation der Texte den finalen Sinn von na"? meines Erachtens ausreichend zu begründen, wohingegen sich die These Jennis, daß na*? wie a n a kausal zu verstehen sei, wobei „na*? und seine expressivere Variante "•rns'p ,warum denn' [...] nicht 34

35

V g l . FUCHS, K l a g e ,

199.

Daß es sich nicht um eine informative Frage nach den Kausalitäten handelt, hebt

schon Herkenne hervor: .„Warum?' fragt nicht nach dem Grunde dieser Verlassenheit, sondern hebt ihre Unbegreiflichkeit hervor" (HERKENNE, Psalmen, 105). 36

WESTERMANN, Lob, 134. Michel dagegen ist der Ansicht, daß diese Charakterisie-

rung der na'p-Fragen als Anklagen Gottes eben auf der Fehlinterpretation des rra1? beruht, v g l . MICHEL, W a r u m , 2 4 . 37

JENNI, Lamed, 2 8 7 .

38

MICHEL, W a r u m , 2 2 .

39

Anders Michel, dessen Aussage impliziert, daß die na^-Frage nur dann den Boden

des Glaubens nicht verläßt, wenn dabei im Sinne einer „wozu"-Frage vom Beter vorausgesetzt wird, „daß Jahwe bei seinem Handeln, auch wenn der Mensch es als ein Verlassen empfindet und keinen Sinn erkennen kann, doch einen Sinn hat, ein Ziel, auf das hin er handelt und das man erfragen kann" (MICHEL, Warum, 22). Als „vertrauensvolle Frage" im Blick auf das mit der Handlung „intendierte Ziel bzw. den großen Plan Gottes" hin interpretiert Ps 22,2 im Anschluß an die Argumentation Michels auch SEO, Psalm 22,

21.

54

Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22

für Informationsfragen und Fragen aus Verwunderung oder Anteilnahme, sondern vor allem für vorwurfsvolle, klagende, eventuell auch Verachtung ausdrückende (rhetorische) Fragen verwendet" 40 werde, auch durch die von Michel herangezogenen Beispieltexte stützen läßt. Darüberhinaus überzeugen die Einwände Jennis gegen die etymologische Ableitung Michels. Im Anschluß an Jenni übersetze ich daher na1? in Ps 22,2 mit „war-

Die Septuaginta ergänzt nach der zweimaligen Anrufung Gottes in V.2a np6o%Eq |ioi.42 Die Ergänzung ist grammatikalisch und inhaltlich nicht notwendig. Darüberhinaus belegen Ps 10,1 und 74,1, daß eine ne'p-Frage mit einem Vokativ verbunden sein kann. 'nyitzra Viele Ausleger ändern um der Parallelität zu 'natj© '"PI willen 'nznErn in 'naiBQ „von meinem Schreien" und beziehen dann meist das |D aus V.2ba auf V.2bß.43 Die Konjektur ist jedoch weder semantisch noch inhaltlich notwendig.44 Im masoretischen Text liegt ein Nominalsatz vor, dessen Prädikat das Adverb pinn bildet,45 Subjekt sind T0S3 nn~. 46 'na«® Die abweichende Lesart von Septuaginta und Peschitta läßt sich durch eine Konsonantenvertauschung erklären. Statt TIJKO von JKSS q. „brüllen", 40

JENNI, Lamed, 286 (Hervorhebung von mir); vgl. JEPSEN, Warum, 106-113, bes.

108. 41

Unter Verweis auf Jenni übersetzt auch WEBER, Werkbuch I, 122, mit „warum". Unter Verweis auf das Metrum übernimmt Duhm die Ergänzung der Septuaginta, vgl. DUHM, Psalmen, 91. 43 Vgl. HITZIG, Psalmen, 130; WELLHAUSEN, Psalms, 79; GUNKEL, Psalmen, 95; 42

GESE, P s a l m 2 2 , 1 8 2 ; STOLZ, P s a l m 2 2 , 1 2 9 ; K.SELMAN, P s a l m 2 2 , 1 7 5 ; KRAUS, P s a l m e n

1-59, 322; WESTERMANN, Psalmen, 64 u.a. 44

V g l . HOSSFELD, in: HOSSFELD/ZENGER, P s a l m e n I, 1 4 8 ; PRINSLOO, H o p e , 8 0 A n m .

2; siehe dazu unten 106. 45 Vgl. auch Ps 119,115, das Adjektiv wird dabei als Adverb gebraucht, vgl. JOÜON/MURAOKA, Grammar, §102c. 46 So auch DELITZSCH, Psalmen, 210; BRIGGS, C.A./BRIGGS, E.G., Psalms, 192; WEBER, Werkbuch I, 120 u.a. Anders konstruiert die Peschitta den Satz, indem sie f i r n in das Verb der 2.Sg. ändert (prnn) und damit Gott zum Subjekt macht. Gunkel schließt sich dieser Änderung in seiner Übersetzung an, vgl. GUNKEL, Psalmen, 88.95, siehe auch DUHM, Psalmen, 91.

2 Textkritische

und sprachliche

Bemerkungen

55

„schreien" lesen sie vermutlich 'ntuttf von aatö q./ twtti q. „fehl gehen", „sich vergehen".47 Da 3SZ? q. vor allem für das Brüllen des Löwen gebraucht wird, ist die zum Beispiel von Kraus gewählte Übersetzung, „ferne [...] den Worten meines Flehens"4*, meines Erachtens zu schwach. V. 3 Diese dritte Invokation wird oft gestrichen, da sie „keine Steigerung"49 mehr und „metrisch störend"50 sei. Da die Bezeugung jedoch einwandfrei ist, besteht für eine Emendation kein Anlaß.51 V.4 ¡tiiij?

Vielfach wird der Atnah von oiifj auf das folgende verschoben und öiip als Apposition zu nnsi gelesen: „Du aber thronst als Heiliger".52 Die Septuaginta gliedert ebenfalls anders, übersetzt tiitj? mit ev ä y i o i q beziehungsweise ev äylcp und versteht dies als Lokativ zu növ (ev ä y i c o K a x o i K e i q „du wohnst im Heiligen" oder ev ayioiq K a x o i K e l q „du wohnst inmitten der Heiligen).53 Als weitere Konsequenz aus der Änderung der Verseinteilung lesen Septuaginta, Peschitta, wenige Handschriften sowie zahlreiche Ausleger 47 48 49 50

Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 96. KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 , 321 ( H e r v o r h e b u n g v o n mir). GESE, Psalm 22, 182. GESE, Psalm 22, 182; vgl. auch HERKENNE, Psalmen, 105; BERTHOLET, Psalmen,

144; KITTEL, Psalmen, 81; WEISER; Psalmen, 146; GUNKEL, Psalmen, 95; KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 , 3 2 2 f u.a. 51

Zur Kritik an Emendationen metri causa vgl. T o v , Text, 304f.

52

Vgl. GUNKEL, Psalmen, 95; DE BOER, Syntaxe, 2 0 0 . 2 0 2 ; GESE, Psalm 22, 182 und

KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 , 323. Die Übersetzung „Du thronst als Heiliger" w ä r e unter Beibehaltung der V e r s t r e n n u n g auch möglich, w e n n v o n einem E n j a m b e m e n t a u s g e g a n g e n würde, zu Beispielen aus der hebräischen Poesie vgl. BEGRICH, Satzstil, 141 f. 53

Vgl. zu den Übersetzungsmöglichkeiten der L X X BAUKS, Feinde, 158 mit A n m .

685. Der pluralischen Lesart der L X X schließt sich K s e l m a n an, der 3ov ebenfalls noch zum ersten Halbvers zieht und übersetzt: „But y o u a m o n g the holy ones sit enthroned, amit the praises of Israel" (KSELMAN, Psalm 22, 176). An die Lesart ev dyitp schließt sich u.a. Jacquet an, vgl. JACQUET, Psaumes I, 524. Im A n s c h l u ß an die Septuaginta übersetzt auch D u h m , der in V . 4 b unter A n n a h m e einer H a p l o g r a p h i e und mit V e r w e i s auf Ps 71,6 noch ^ 3 ergänzt: „du w o h n s t im Heiligtum, Israel r ü h m t sich d e i n e r " (DUHM, Psalmen, 92).

56

Erster Teil: Text und Gestalt

von Psalm

22

(unter Verweis auf Jes 57,15) statt des Plurals rrfonn den Singular und verstehen das Nomen als Gottesanrufung „Lobpreis Israels"54. Der masoretische Text ist demgegenüber jedoch sowohl in seinem Wortbestand als auch in seiner Verseinteilung als lectio difficilior beizubehalten.55 Daß der Ort des Thronens auch ohne eine lokale Präposition stehen kann, zeigt der Ausdruck D'qrpn 3tti\56 ^too' ni'pnn Für den Plural rrft>nn gibt es neben Ps 22,4 nur noch vier weitere Belege, Ex 15,11; Ps 78,4; Jes 60,6 und 63,7. In Ex 15,11; Ps 78,4; Jes 63,7 steht Hierin dabei, wie der Kontext jeweils deutlich macht, nicht für die Lobpreisungen Gottes (Genitivus objectivus), sondern für seine Ruhmestaten (Genitivus subjectivus). In Jes 60,6 ist das Nomen offen für beide Bedeutungen, allerdings sind vermutlich auch hier eher die „Ruhmestaten" gemeint, die bekannt gemacht werden sollen ("lön pi.).57 Als Bezeichnung für die Psalmen insgesamt wird nicht der feminine, sondern der maskuline Plural D'^nin verwendet. Damit ist Ps 22,4 der einzige Text, in dem ni'pnn mit „Lobgesänge" wiederzugeben wäre. Die andere Möglichkeit ist, nf?nn in Übereinstimmung mit dem sonstigen Gebrauch des femininen Plurals auch in Ps 22,4 mit „Ruhmestaten" zu übersetzen. In der Constructusverbindung ^toto' ni'pnn wäre dann allerdings - ebenfalls singulär, aber grammatisch möglich58 - VKito1: als Genitivus objectivus zu verstehen: Ruhmestaten an Israel. V.5f würde diese Ruhmestaten dann als wiederholte Rettung der Väter explizieren. Übersetzt man nf?np mit „Lobgesänge", so begründen V.5f dieses Lob. Für diese Übersetzung von n^nr spricht die Aufnahme des Singulars 'n^nn im Sinne von „Lobgesang" in V.26: „Von dir (kommt) mein Lobgesang in der großen Gemeinde". Nach Michel macht der in V.4 verwendete feminine Plural rri^nn deutlich, daß das Gewicht auf den einzelnen Lobgesängen liegt, während mit cr'pnn die Gruppe der Psalmen als

54

Vgl. GESE, Psalm 22, 182; WESTERMANN, Psalmen, 64, und KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 ,

322 (unter Verweis auf Dtn 10,21; Ps 71,6; 109,1; Jer 17,14). Stolz liest zwar im Hebräischen den Plural, deutet ihn aber als Abstraktplural (JHWH sei „Gegenstand und Ziel des Lobens", STOLZ, Psalm 22, 129) und übersetzt ebenfalls singularisch. 55

Vgl. BRIGGS, C.A./BRIGGS, E.G., Psalms I, 193; HOSSFELD, in: HOSSFELD/ZENGER,

Psalmen

I,

148;

WEBER,

Werkbuch

I,

120;

JANOWSKI,

Konfliktgespräche,

MARTTILA, Reinterpretation, 89f u.a.; zur Deutung siehe unten 1 1 4 - 1 1 8 . 56

Vgl. Ps 80,2; 99,1; 1 Sam 4,4; 2 Sam 6,2; 2 Kön 19,15 und Jes 37,16.

57

Vgl. WESTERMANN, Art. "RTN, 498f.

58

Vgl. GesK § 128h.

350;

2 Textkritische

und sprachliche

57

Bemerkungen

ganze im Blick ist.59 Auf diesem Hintergrund kann in Ps 22,4 die in der Literatur gängige und sich gut in den Kontext des Psalms einfügende Übersetzung des feminien Plurals mit „Lobgesänge" beibehalten werden. V. 9

Septuaginta und Peschitta vokalisieren den Konsonantentext als Perfekt 3. Singular maskulin. Diese Textänderung wird unter Hinweis auf Mt 27,4s60 von vielen Auslegern übernommen.61 Der Wechsel von der zweiten (V.9a)62 zur dritten Person (V.9b) im masoretischen Text wird durch diese Änderung vermieden. MT ist deshalb als lectio difflcilior beizubehalten.63 Es handelt sich um ein Feindzitat, der Wechsel von der 2. zur 3. Person läßt sich durch einen Wechsel der zitierten Sprecher64 beziehungsweise der Sprechrichtung erklären.65 In den Übersetzungen wird fast durchgängig ein implizites Objekt ergänzt „wälze es auf den Herrn".66 Dagegen vermutet Peter Riede, daß „das Verb hier bewußt ohne Objekt eingeführt wird" und so „doppelten Sinn entfalten [kann]"67, indem es zum einen reflexiv auf das Bild des Wurmes bezogen ist, der sich nur kriechend fortbewegen kann, und zum anderen die weisheitlichen Aussagen vom Wälzen des Weges oder Werkes auf JHWH (Ps 37,5; Spr 16,3) beziehungsweise vom Werfen der Last auf JHWH (Ps 55,23) evoziert.68 Dieser Deutung schließe ich mich an. 59

Vgl. MICHEL, Grundlegung, 42; SEO, Psalm 22, 38. „Er vertraut auf Gott, er rette ihn jetzt, wenn er Gefallen an ihm hat, denn er hat gesagt: ,Ich bin Gottes Sohn'" (Mt 27,43). 60

61

Vgl.

DUHM,

Psalmen,

9 2 ; GUNKEL,

Psalmen,

9 5 ; GESE, P s a l m 2 2 ,

182;

STOLZ,

Psalm 22, 129; DEISSLER, Mein Gott, 104; KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 , 323; SEYBOLD, Psalmen, 9 6 u.a. 62 kann Imp. 2. Sg. sein oder Inf. abs. qal. 63

122; BAETHGEN,

Psal-

m e n , 6 3 ; SCHMIDT, P s a l m e n , 3 6 ; DAVIS, L i m i t s , 9 7 A n m . 3; PRINSLOO, H o p e , 8 0

S o a u c h DELITZSCH, P s a l m e n , 2 1 1 ; OLSHAUSEN, P s a l m e n ,

Anm.

3 ; R I E D E , Im N e t z , 3 0 7 f A n m . 2 4 6 , W E B E R , W e r k b u c h I, 1 2 0 ; J A N O W S K I ,

Konfliktge-

spräche, 350. Der Vorzug des MT gilt auch gegenüber dem Vorschlag von Kselman, der erwägt, statt ^ ^A zu lesen (vgl. KSELMAN, Psalm 22, 176 und BECKER-EBEL, Psalm 22, 49.54-56). 64

S o SCHMIDT, P s a l m e n , 3 6 f ; RIEDE, Im N e t z , 3 0 8 A n m . 2 4 6 ; 3 1 2 .

65

Beide Möglichkeiten erwägt schon HERKENNE, Psalmen, 106. Baethgen geht sogar davon aus, daß nach Ps 37,5 zu ergänzen sei, vgl.

66

BAETHGEN, Psalmen, 6 3 . 67

RIEDE, Im N e t z , 3 1 2 .

68

Vgl. RIEDE, Im Netz, 312.

58

Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22

V.10 'm

'nä ist hapax legomenon. Es gibt zahlreiche Ableitungs- und Konjekturvorschläge: Duhm ändert unter Verweis auf Ps 71,6 in ni:, 6 9 das vermutlich von ~n q. „abschneiden" abzuleiten ist,70 wogegen Baethgen zu Recht einwendet, daß eine Entscheidung kaum möglich ist, da beide Formen nur einmal belegt sind.71 Gunkel ändert in Anlehnung an die Septuaginta in Ps 71,6 in 'rij> „mein Schutz".72 Leveen emendiert in 'm / 'iro „my rest and security"73. Becker-Ebel leitet 'ri: von m q. ab und übersetzt: „Du warst es, der mich herausquellen ließ aus dem Schöße"74. Am plausibelsten ist meines Erachtens, Tia in Übereinstimmung mit der Septuaginta (6 eKGTiäaa? HE EK yampö^) als Partizip eines Verbs nm q. „herausziehen" aufzufassen.75 TTB^D

Gunkel ändert im Anschluß an Septuaginta (r) eXrciq jiou), Peschitta, Targum, wenige Handschriften und Hieronymus das Partizip in das Substantiv ntpn76 und im folgenden dann die örtliche ("Tirta) in eine zeitliche Bestimmung: 'ISO „von den Brüsten meiner Mutter an". Da r m hif. mehrfach belegt ist77 und die partizipiale Formulierung der partizipialen Konstruktion in V.lOaa entspricht, besteht kein Grund, MT zu ändern. Behält man MT bei, so sind die Übersetzungsvorschläge jedoch immer noch vielfältig:

69 70

Vgl. DUHM, Psalmen, 93. Vgl. HAL 178 s.v. n»; zu Ps 71,6 siehe unten 141-144.

71

V g l . BAETHGEN, P s a l m e n , 6 4 .

72

V g l . GUNKEL, P s a l m e n , 8 9 . 9 5 .

73

LEVEEN, Problems, 53. BECKER-EBEL, Psalm 22, 65. Allerdings bezieht sich n'3 q. nur an der schwer deutbaren Stelle Mi 4,10 auf den Kontext von Schwangerschaft, es ist dort entweder auf das Hervorbrechen eines Geräusches des Stöhnens oder Brüllens bezogen (vgl. Ges 18 213 s.v. m qal; HAL 181 s.v. m q.) oder auf das hervorstürzende Fruchtwasser (vgl. DCH II, 344 s.v. m ) , da es an den meisten anderen Stellen das Hervorbrechen von Wasser beschreibt (vgl. Hi 38,8; 40,23; Ez 32,2. Eine Ausnahme bildet lediglich Ri 20,33, wo es auf das Hervorbrechen einer Schar aus dem Hinterhalt bezogen ist). 75 Vgl. HAL 180 s.v. nm q.; Ges 18 137 s.v. nm q.; DCH II 342 s.v. nm q. sowie KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 , 321; SEYBOLD, Psalmen, 94. Zur Interpretation der Partizipien in V.10 siehe unten 146. 74

76 77

Vgl. GUNKEL, Psalmen, 96, vgl. auch BAETHGEN, Psalmen, 64. Vgl. 2 Kön 18,30; Jes 36,15; Jer 28,15; 29,31.

2 Textkritische

und sprachliche

Bemerkungen

59

Viele Ausleger übersetzen rrn hif. in Ps 22,10 als Ausdruck der Geborgenheit, so zum Beispiel Gese „du hast [...] mich geborgen an der Brust meiner Mutter"78 oder Seybold: „der mich den Brüsten der Mutter anvertraut"79. DCH geht von einer Wurzel nen II mit der Bedeutung „fall down, lie down"80 aus. Diese Annahme geht wohl zurück auf Josua Blau, der diese Übersetzung für Jer 12,5 vorschlägt. Sie stützt sich jedoch nur auf eine arabische Parallele und hat sich in der Forschungsdiskussion an keiner der im DCH unter nCD3 II genannten Stellen (Jer 12,5; Hi 40,23; Spr 14,16 und Ps 22,10) durchgesetzt. 81 Ludwig Köhler geht davon aus, daß rran „vertrauen", „sich sicher fühlen" und nrncEQ^ „Wassermelonen" in Num 11,5 auf eine gemeinsame Wurzel nca zurückzuführen sind, für die er unter Verweis auf die arabische Bezeichnung für eine trächtige Stute, bäteh, die Grundbedeutung „prall sein" annimmt.82 Von „prall sein" führe der Weg über „fest sein" zu „vertrauen", „sich sicher fühlen". 83 Alfred Jepsen nimmt den Vorschlag Köhlers auf, er geht allerdings von einer homonymen Wurzel zu non „vertrauen" mit der Grundbedeutung „prall sein" aus und übersetzt: „der mich rund werden ließ an meiner Mutter Brust"84. Abgesehen von der Frage, ob ein Säugling angemessen als ,prall' beschrieben werden kann, ist, wie Jepsen selbst urteilt, „das Fundament dieser Auslegung schwach"85, so daß meines Erachtens an der Übersetzung von r m q. mit „vertrauen" festzuhalten ist. Mit der Bedeutung „vertrauen" begegnet rraa q. sowohl in Ps 22,5 als auch im gesamten Psalter. In Ps 22,10 steht es wie an einigen anderen Stellen im Hifil.86 Das Hifil bildet das Kausativ zum Qal und so läßt es sich an den genannten Stellen wie auch in Ps 22 zunächst wörtlich übersetzen

78 79 80 81

GESE, Psalm 22, 181. SEYBOLD, Psalmen, 95, vgl. auch DUHM, Psalmen, 93. DCH 141 s.v. non II. V g l . z.B. d i e Ü b e r s e t z u n g e n bei WANKE, Jeremia, 1 2 4 ; STRAUSS, H i o b , 3 3 5 ; MEIN-

HOLD, S p r ü c h e 1 - 1 5 , 2 3 6 . 82 Der Ableitung Köhlers folgt u.a. Deissler, der auf „unsere Benennung der menschlichen Schwangerschaft als ,in Hoffnung sein'" verweist, und folgert: „bätah evoziert damit die Vorstellung: mit dem Verheißungswort Jahwes schwanger gehen" (DEISSLER, Mein Gott, 112 Anm. 18). 83 Vgl. KÖHLER, Vokabeln, 172f. 84 JEPSEN, Art. troa, 609, vgl. auch Ges 18 138f s.v. nen 2. Fuchs bezieht sich zwar auf Jepsen, schreibt diesem aber fälschlich die Position Köhlers zu, der er sich anschließt, vgl. FUCHS, Klage, 211. 85

JEPSEN, A r t . n o a , 6 0 9 .

86

Vgl. 2 Kön 18,30; Jes 36,15; Jer 28,15 und 29,31.

60

Erster Teil: Text und Gestalt von Psalm 22

mit „vertrauen machen"87 oder, der partizipialen Form entsprechend, „mein Vertrauensbildner". Angesichts dessen, daß die Brüste hier, bei einem Neugeborenen, in ihrer Funktion als nährende, stillende Brüste angesprochen sind (vgl. z.B. Hi 3,12; Klgl 4,3), ist die Übersetzung „Vertrauen einflößen", die einige der Wörterbücher für r m hif. in Ps 22,10 vorschlagen, treffend, da sie das körperliche Bild aufnimmt.88 Mit wird in Ps 22,10 nicht, wie sonst bei r m + bo üblich, das Objekt, auf welches sich das Vertrauen richtet, bezeichnet,89 sondern der Ort, an welchem das betende Ich dieses Vertrauen gewinnt: '"icr^i! „an den Brüsten der Mutter. Dies entspricht der lokalen Grundbedeutung von ba.90 V.ll •HD I

Aufgrund der Parallelität der Aussage von V . l l a und V . l l b ist jo sowohl in V.IIa als auch in V . l l b als Zeitangabe zu verstehen, und zwar als eine Zeitangabe, bei der „der Ausgangspunkt [...] eingeschlossen [ist]"91. Deutlich wird diese Verwendung des ]p auch in den Ps 22,11 inhaltlich nahestehenden Aussagen Jesajas, in denen es heißt, Gott habe Israel |?3Q „von Mutterleib an" gebildet (Jes 44,2.24; 49,5; vgl. 49,1), denn dieses „Bilden", „Schöpfen", „Schaffen" Gottes q./nöa q.) hat seinen Anfang bereits im Mutterleib und schließt so die mit jo umfaßte Zeit mit ein. V.12 -ItiJJ Während -3 in V.12a in der Regel kausativ übersetzt wird, wird es in V.12b von einigen als emphatisches '3 aufgefaßt.92 Der Parallelismus in V.12a und V.12b spricht jedoch dafür, es auch in V.12b kausativ zu verstehen,93

87 88

Vgl. DHC II, s.v. non, 141: „cause to trust, inspire confidence". Vgl. HAL 116 s.v. nen hif.; Ges 17 92 s.v. non hif.

89 So z.B. Ps 31,15; 37,5; Prov 28,25: Vertrauen auf Gott; Ps 49,7: Vertrauen auf Reichtum; Hab 2,18: Vertrauen auf ein Götzenbild. 90

Vgl. GesK § 119aa.cc. HAL 565 s.v. 10. Anders Schroer/Staubli, die iq in V . l l a räumlich verstehen: „Auf dich ward ich geworfen aus Mutterschoß" (SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 60; Hervorhebung von mir). 91

92

V g l . z . B . CRAIGIE, P s a l m s 1 - 5 0 , 196; GESE, Psalm 2 2 , 181; JANOWSKI, K o n f l i k t g e -

spräche, 349. 93 Kausativ übersetzen es u.a. GUNKEL, Psalmen, 89; KRAUS, Psalmen 1 - 5 9 , 321; SEYBOLD, P s a l m e n ,

Feinde, 14.

9 4 ; AUFFRET, Y a h v e ,

676.681;

WEBER,

Werkbuch

I,

120;

BAUKS,

2 Textkritische und sprachliche

61

Bemerkungen

zumal nach Muraoka 'S nicht generell eine emphatische Funktion zugeschrieben werden kann.94 Im Deutschen ist die Wiederholung der kausalen Konjunktion nicht nötig, kann mit „denn ... und" übersetzt wer95 den. V.l 4 nn«

Eine Handschrift, Septuaginta und Vulgata lesen das Substantiv mit Vergleichspartikel (n'iN?).96 Ein Substantiv kann jedoch auch ohne Vergleichspartikel zur Beschreibung eines Zustands oder der Art einer Handlung dienen.97 Einige Ausleger beziehen das Verb lüS auf den Löwen und ändern, um eine Übereinstimmung mit der Pluralform des Verbs zu erlangen, den Singular rr~)K in einen Plural.98 MT kann beibehalten werden, wenn als Subjekt von IÜE nicht der Löwe, sondern allgemein die Feinde betrachtet werden, die dann in V.l4b mit einem Löwen verglichen werden.99 Der Numeruswechsel ist hier, wie zum Beispiel auch in Ps 7,2, „absichtsvoll eingesetztes Stilmittel"100, er „zeigt an, daß keine bestimmte Person, dieser oder jener Feind, sondern die Feind-Macht, das ,Feindliche' im Vordergrund steht."101 V.l 6 TO

Die Mehrzahl der Kommentare ändert 'nä „meine Kraft" unter Annahme eine Metathese von n und D in ,3n „mein Gaumen".102 Diese Änderung wird 94

V g l . MURAOKA, Emphatic W o r d s , 1 5 8 - 1 6 4 .

95

V g l . H A L 4 4 8 s.v.

96

V g l . L X X :