Kritik der Abenteuer-Ideologie: Teil 2 [Reprint 2021 ed.] 9783112471982, 9783112471975


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German Pages 244 Year 1978

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Kritik der Abenteuer-Ideologie: Teil 2 [Reprint 2021 ed.]
 9783112471982, 9783112471975

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Michael Netlich

Kritik der Abenteuer-Ideologie

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Michael Neriich

Kritik der Abenteuer-Ideologie Beitrag %ur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung uoo-iyjo Teil 2

Akademie-Verlag • Berlin 1977

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/219/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4933 Bestellnummer: 752 998 0 (2150/44/1 u. 2) • LSV 8057 Printed in GDR DDR 18,50 M für Teü I und II

Inhalt

Zweiter Teil Abenteuer in bürgerlicher Ordnung Locke als Theoretiker des Klassenkompromisses Der faule Frieden der „nützlichen Konkurrenz" Der Adventurer im Klubsessel Habakuk redivivus Ein Abenteurer, von Haus aus bescheiden Glücksanspruch, nicht Glücksverheißung Von der Taille aufwärts nackt Der Abenteuerelan der Unterwelt Abenteuer aus krankhafter Wanderlust Der Abenteurer als Angestellter der Yahoos Das Abenteuer in der geistigen Welt Die erste Systematisierung des Abenteurers

.

329 334 339 343 350 353 354 357 359 362 366 369

Die Metamorphosen des Chevalier Zur ursprünglichen Akkumulation in Frankreich Der Amtsadel als revolutionäres Element Le Roi absolu à la quête de l'aventure Vom Chevalier zum mythischen Heros Die Konzentration am Hof Epos ohne Aventure Der Chevalier im Salon Die Aventure und die Regeln der Tragödie Der Honnête Homme oder die Herausbildung bürgerlich-aristokratischen Anti-Abenteuer-Denkens

374 376 379 382 387 391 394 397 400

Zu den Grundlagen der modernen Abenteuer-Ideologie in Frankreich La cour, la ville et le monde infini Die unaufhebbare Bewegung V

403 405

Erster Auseinanderfall der Allianz, von Königtum und „revolutionären Elementen" der Bourgeoisie 407 Colberts Plädoyer für die Teilnahme der absoluten Monarchie an der ursprünglichen Akkumulation 410 Die Erneuerung der Allianz 412 Der aktive Honnête Homme 414 Agnès oder die Botschaft von einer besseren Welt . . . . 417 Porträt eines „revolutionären Elements" 422 Wucher hemmt auch in Frankreich den Unternehmergeist. 427 Zum Problem des „Volkes" in Molières Werken 431 Alceste oder der Optimismus 433 Der janusköpfige Colbert 436 Der Honnête Homme als Kaperer 439 Der Aventurier im Dienst der absoluten Monarchie . . . 444

Der Verfall der Allianz und Auszug des Adels Die mißglückte Integration der ursprünglichen Akkumulation Jacques de Caillière und die Noblesse commerçante . . . Glücksritter, Gauner, Scharlatane Der Courtisan ist kein Honnête Homme Das Wagnis zum Tod oder der sinnlose Widerstand . . .

447 451 455 458 464

Der Verfall der Allianz und Herausbildung der antiabsolutistiscben Opposition Zur bürgerlichen Opposition am Ende des 17. Jahrhunderts Zu den Schwierigkeiten beim Denken, Sagen und Schreiben der Wahrheit in der absoluten Monarchie in Frankreich Zur Allianz von feudal-aristokratischer und bürgerlicher Opposition Die imaginäre Reise in die reale Welt

468 471 475 478

Der Verfall der Allianz und Aufstieg des Commerçant Reale Bewegung und Aventure Der revolutionäre Drahtseilakt der Bourgeoisie Die Honnêteté als Waffe oder die Säkularisierung der Rittertugenden Klippen, Stürme und Piraten: zur „Noblesse commerçante" des Abbé Coyer Apologie der Konkurrenz VI

485 488 496 502 505

Zum Doppelspiel der Bourgeoisie Der Räuber als Freiheitsheld Der honnête philosophe als Propagandist der Piraterei Die Apotheose des Aventurier Vor einer neuen Menschheitsepoche

. .

508 512 515 518 522

Anmerkungen

527

Personenregister

557

VII

Abenteuer in bürgerlicher Ordnung

Locht als Theoretiker des Klassenkompromisses Wir können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht auf die Entwicklung der ökonomischen Theorie im 17. Jahrhundert eingehen. Daher sei hier auf Jürgen Kuczynskis jüngste Untersuchung Wie eine Wissenschaft entsteht — dargestellt am Beispiel der Politischen Ökonomie verwiesen. 1 Kuczynskis Feststellung, in England herrsche, „insbesondere nach der Revolution von 1640, eine der Entwicklung wissenschaftlichen Denkens in der politischen Ökonomie ungewöhnlich förderliche Atmosphäre infolge der harmonischen Beziehungen zwischen Methodologie und Weltanschauung sowie durch die häufige Vertretung von Denker und Profitjäger in einer Person"2, ist voll zuzustimmen, umso mehr, als diese „Profitjäger" Repräsentanten der revolutionären Avantgarde und der fortschrittlichsten Wissenschaft sind. In der Phase ihrer revolutionären Auseinandersetzung mit der absolutistischen Reaktion bemüht sich die Bourgeoisie um eine möglichst grundsätzliche und radikale Erklärung der ökonomischen und politischen Bewegungsgesetze der Gesellschaft, wobei sie ihre eignen Interessen, die die Richtung ihrer Theoriebildung bestimmen, für die Interessen der gesamten Menschheit hält oder doch ausgibt, wie Marx in der Deutschen Ideologie dargelegt hat. Was Bacon und Hobbes als allgemeine Naturgesetze begründen, bestätigen Theoretiker wie Mun, Child, Davenant und vor allem dann William Petty3 aus der Beobachtung der Gesetze der Ökonomie:'1 sie systematisieren mit politökonomischen Kategorien den Herrschaftsanspruch der Bourgeoisie in der Maske des M e n s c h e n schlechthin. Als mit der G l o r i o u s R e v o l u t i o n 1688 bzw. der Bill of Rights von 1689 die prinzipielle Kontrolle des Königs durch das Parlament und damit auf Grund der Interessenallianz zwischen adligen Grundbesitzern und kapitalistischem Bürgertum 5 die Kontrolle durch die Repräsentanten des „Blocks zwischen Neuadel 329

und städtischer Bourgeoisie" (Kuczynski) gewährleistet war, trat die englische Bourgeoisie grundsätzlich aus der Phase des revolutionären Aufstiegs, der revolutionären Zerstörung bestehender absolutistischer Herrschaftsverhältnisse in die der praktischen und theoretischen Sicherung, Stabilisierung und Rechtfertigung der neuen, von ihr getragenen Herrschaftsverhältnisse.6 Locke, auf dessen Funktion Kuczynski leider nicht eingeht, wenn er zeigt, Wie — nach der Entstehung der Politischen Ökonomie — eine Wissenschaft verkommt — dargestellt am Beispiel der bürgerlichen Politischen Ökonomie, dürfte dabei eine entscheidende Bedeutung als Ideologe der Bourgeoisie im Übergang von revolutionärer zu herrschender Klasse zukommen: „Locke," so schreibt Engels 1890 mit vollem Recht an Conrad Schmidt, „war in Religion wie Politik der Sohn des Klassenkompromisses von 1688."7 Den zwiespältigen Stellenwert Lockes für die Entwicklung des „subjektiven Idealismus" der Berkeley und Hume einerseits, des revolutionären Materialismus der französischen Aufklärung andrerseits, haben Marx in Die Heilige Familie und Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus nachgewiesen: 8 auf diesen (für die Erkenntnistheorie, die Entwicklung des Materialismus und des wissenschaftlichen Sozialismus) grundlegenden Aspekt gehen auch jüngere Untersuchungen des 18. Jahrhunderts verschiedentlich ein. 9 Auf die Ambivalenz des Gesamtwerkes von Locke sowohl in seinen ökonomischen als auch in seinen politischen Aspekten, die Marx und Engels dazu veranlassen, bei allem Abscheu vor diesem „ganz speziellen Patron des Durchpeitschens der Vagabunden und Paupers"10, Locke mit Respekt gegenüberzutreten, ist die Forschung, wie mir scheint, weniger eingegangen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß der (unfreiwillige) Begründer des französischen revolutionären Materialismus, der „direkt in den S o z i a l i s m u s " mündet (Marx 1845) 1 gleichzeitig in England die siegreiche „neue Bourgeoisie in allen Formen vertrat" (Marx 1859): „die Industriellen gegen die Arbeiterklasse und die Paupers, die Kommerziellen gegen die altmodischen Wucherer, die Finanzaristokratie gegen die Staatsschuldner, und in einem eigenen Werk sogar den bürgerlichen Verstand als menschlichen Normalverstand nachwies . . ," 12 Diese Feststellungen spiegeln nicht nur eine Entwicklung des Urteils bei Marx, 13 * sie erfassen auch genau die Ambivalenz der Schriften Lockes, die aus der Widersprüchlichkeit der Entstehungszeit und deren Widerspiegelung im Werk Lockes selbst resultiert. 330

Um einen Satz von Marx zu variieren: nicht nur dem revolutionären Bürgertum jenseits des Kanals, also in Frankreich, kam „ L o c k e s Schrift über den 'Ursprung des menschlichen Verstandes'", sowie seine zusammen mit dem Essay concerning Human Understanding 1690 veröffentlichten Ttvo Treatises of Government {Zwei Abhandlungen über das Regieren) „wie gerufen", sondern auch ganz unwiderlegbar der nach-revolutionären bzw. nicht mehr revolutionären englischen Bourgeoisie der Industriellen, der Kommerziellen, der Finanzaristokratie. Was zunächst paradox anmuten mag, findet bei Betrachtung der unterschiedlichen Klassenkampfsituation in England und Frankreich rasch seine Erklärung. Bringt man es auf eine kurze Formel, so kann man mit Bezug auf Lockes Treatises feststellen, daß in ihnen der Versuch unternommen ist, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Resultat des menschlichen Verstandes zu erklären (bzw. mit Marx: „den bürgerlichen Verstand als menschlichen Normalverstand" nachzuweisen). Dem revolutionären Bürgertum in Frankreich kam dieser breit angelegte Versuch einer auf Vernunft begründeten bürgerlichen Gesellschaft natürlich ebenso gerufen wie die demystifizierende Wirkung des Lockeschen materialistischen Sensualismus aus dem Essay concerning Human Understanding. Wozu er mit seinen Schriften die ideologische Handreichung bot, faßt Albert Soboul für die Gesamtentwicklung der Epoche zusammen: „Gegen die traditionelle Gesellschaftsordnung war das Naturrecht eine wirksame Waffe. Es ging darum, die althergebrachte Ordnung durch eine auf Vernunft gegründete zu ersetzen."1'» Genau das leistete Locke, wobei er vor allem das Skandalon beseitigte, für das Hobbes mit seiner unverhüllten Verherrlichung des Despotismus zur Bändigung des bellum omnium contra omnes gesorgt hatte. Denn mit seinen Treatises versucht Locke, diesem anarchischen Prinzip, dem der kapitalistischen Produktionsweise immanenten Gesetz der freien Konkurrenz statt der verabscheuten despotischen Bändigung durch den absoluten Monarchen, ohne die Hobbes nicht auskam,15 eine rationale, eine friedlich scheinende Fassung zu geben. Die englische Bourgeoisie aber bedurfte als (mit-)herrschende Klasse dringend einer derartigen, in Richtung Vernunft und Harmonie angelegten Rechtfertigung ihrer Herrschaft: auch ihr kamen die Treatises wie gerufen, und Berkeley und Hume paßten auch Lockes Erkenntnistheorie diesem Bedürfnis an. Uns soll gerade dieser Aspekt der politischen Brauchbarkeit 331

der ökonomischen Theorie Lockes für die herrschende, nachrevolutionäre Bourgeoisie interessieren: sowohl für Hobbes als auch für Locke gründen alle Beziehungen, die die Menschen untereinander eingehen (wenn auch bei Hobbes und Locke mit je umgekehrten Vorzeichen) auf dem Prinzip der Nützlichkeit im Kampf um die Selbsterhaltung des Individuums. 16 Der Selbsterhaltungstrieb ist sowohl bei Hobbes als auch bei Locke der eigentliche Ursprung aller menschlichen Aktivität. Während aber bei Hobbes die Furcht den Menschen veranlaßt, in ein Verhältnis des wechselseitigen Nutzens und damit aus dem Zustand des Krieges aller gegen alle herauszutreten, ist es bei Locke die Vernunft, die ihn von allem Anfang an, noch bevor es zu einem Zustand des bellum omnium contra omnes kommen kann, zu einem solchen Verhältnis gesellschaftlichen wechselseitigen Nutzens veranlaßt. „Im Naturzustand," schreibt Locke, „herrscht ein natürliches Gesetz, das für alle verbindlich ist. Die Vernunft aber, welcher dieses Gesetz entspringt, lehrt alle Menschen, wenn sie sie nur um Rat fragen wollen, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Besitz Schaden zufügen soll." 17 Dieses ist der vom Gesetz der Vernunft durchwaltete Zustand, auf dessen Basis denn auch der Gesellschaftsvertrag geschlossen wird: „Die Staatswerdung," resümiert Cornelius Meyer-Tasch, „vollzieht sich im freien Zusammenschluß der Individuen. Im c o n s e n s u s gewinnt die Entscheidung für Frieden und Wohlfahrt soziale Gestalt." 18 Angesichts dieses so verstandenen Naturzustandes muß daher der Krieg, der Hobbes der ursprüngliche Zustand zu sein schien, zum unnatürlichen werden: „Der Kriegszustand ist ein Zustand der Feindschaft und Vernichtung.", schreibt Locke: „Wer daher durch Wort oder Tat einen nicht aus Erregung oder Übereilung veranlaßten, sondern geplanten Anschlag auf eines anderen Leben kundgibt, versetzt sich dem gegenüber, gegen den er eine solche Absicht erklärt hat, in den Kriegszustand. Er setzt sein Leben der Gewalt des anderen aus, so daß es ihm dieser oder irgend jemand sonst, der sich zu seiner Verteidigung mit ihm zusammentut und für ihn Partei ergreift, nehmen kann: ist es doch nur vernünftig und gerecht, daß ich ein Recht habe zu vernichten, was mir mit Vernichtung droht. Denn das Grundgesetz der Natur, das die Erhaltung der Menschheit fordert, verlangt, wenn nicht alle erhalten bleiben können, daß die Sicherheit der Unschuldigen den Vorrang haben soll. 332

Man darf einen Menschen, der einem den Krieg erklärt oder sich als ein Feind der eigenen Existenz herausstellt, töten, aus demselben Grund, aus dem man einen Wolf oder einen Löwen tötet. Ein solcher Mensch nämlich ist nicht gebunden durch das gemeine Gesetz der Vernunft und kennt keine anderen Regeln als die der bloßen Stärke und Gewalt. Man mag ihn deshalb behandeln wie Raubtiere — jene gefahrvollen und schädlichen Geschöpfe, von denen man sicher vernichtet wird, sobald man in ihre Gewalt gerät."« Natürlich liegt es nahe, nach den Kriterien zu fragen, nach denen zu entscheiden ist, wann die Existenz bedroht, wann also das Recht zum Präventivkrieg bzw. -mord wirksam wird. Nach Locke ist dieses Recht aus jedem Angriff auf die Existenz des Individuums abzuleiten, und da das Individuum zum Überleben bzw. zur Selbsterhaltung Eigentum braucht, gilt auch jeder Angriff auf das Eigentum als Bedrohung der Existenz mit allen davon für den Bedrohten ableitbaren Konsequenzen: „Dies gibt dem Menschen auch das Recht, einen Dieb zu töten, der ihm weder das geringste zuleide getan noch irgendeine Absicht gegen sein Leben bekundet hat, sondern ihn nur unter Androhung von Gewalt in seine Macht zu bekommen suchte, um ihm sein Geld, oder was immer ihm sonst gefällt, zu nehmen. Wenn er ohne jegliches Recht Gewalt anwendet, um mich in seine Macht zu bekommen, so mag seine Absicht sein, wie sie will, ich habe allen Grund anzunehmen, daß er mir, wenn er mir meine Freiheit nähme, auch alles übrige nehmen würde, so er mich nur in seine Gewalt bekäme. Ich kann ihn deshalb mit Recht behandeln wie jemanden, der sich mir gegenüber in den Kriegszustand versetzt hat, d. h., ich kann ihn töten, wenn ich es vermag — eben dieser Gefahr nämlich setzt sich zu Recht aus, wer immer den Kriegszustand herbeiführt und als Angreifer dabei auftritt."»» Ohne so weit zu gehen wie einige Zeitgenossen Lockes, hinter der Maske des liberalen Repräsentanten der bürgerlichen Vernunft „die nackten Züge eines entschiedenen Hobbisten, dem die Normen des Urgesetzes nichts als 'der Erhaltung . . . förderliche Theoreme' sind", 21 zu erblicken, läßt sich doch feststellen, daß der interpretatorische Spielraum, den Locke einräumt, außerordentlich groß ist und der Bourgeoisie jede Repräsentanz ihrer Interessen zuschanzt. Ist nicht der Konkurrent, vor allem natürlich der ausländische, als Angreifer auf das Eigentum zu betrachten? Herrscht 333

hier nicht Krieg, und muß daher nicht der (englische) Kaufmann zur Präventivmaßnahme greifen? Nach welchen Kriterien crmißt sich, ob ein Angriff auf fremdes Eigentum stattfindet? Und wie werden die Grenzen (naturgesetzmäßigen) Eigentums festgelegt, über die nicht hinausgegriffen werden darf? Es ist kein Zufall, daß Locke in seinen Gedanken über Erziehung (1693) die entschiedensten Vertreter der Selbsterhaltungs-These nachdrücklich zum Studium empfiehlt: Samuel Pufendorf mit seinen De Officio Hominis et Civis und De Jure Naturalis et Gentium sowie Hugo Grotius De Jure Belli et Pacis. Die Apologie des natürlich-rationalen Friedenszustandes der Gesellschaft verschleiert, daß es sich um die bürgerliche Klassenherrschaft handelt, die hier verherrlicht wird. Zwar nennt Locke als Kriterium für Rechtsansprüche auf Eigentum (im Gegensatz zum Raub, der für Hobbes den Besitzanspruch legitimiert) die A r b e i t , mit der ein Individuum sich den für seine Subsistenz und die seiner Familie notwendigen Anteil der prinzipiell allen Menschen gehörenden Natur aneignet, aber — wie Marx im Vergleich mit Zinsauffassungen Lockes feststellte22 — Lockes These von der individuellen Aneignung nach „dem Maß der persönlichen Arbeit" 23 dient vor allem dazu, die bürgerlichen Besitzverhältnisse, die „Ungleichheit des individuellen Eigentums" 24 und d. h. die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu rechtfertigen (worauf hier nicht im einzelnen eingegangen sein soll, zumal Marx dies brillant dargelegt hat): „Lockes Auffassung," konstatiert Marx, ist „um so wichtiger, da sie der klassische Ausdruck der Rechtsvorstcllungen der bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zur feudalen und seine Philosophie überdies der ganzen spätren englischen Ökonomie zur Grundlage aller ihrer Vorstellungen diente." 25

Der faule Frieden der „nützlichen

Konkurrent

Das Kriterium für die Rechtfertigung von Besitz, dessen Erwerb vom Selbsterhaltungstrieb gefordert wird, liegt bei Locke genaugenommen in seiner Vorstellung von gesellschaftlicher Nützlichkeit, zumal ziemlich unbestimmt bleibt, was unter Arbeit denn nun eigentlich verstanden werden muß, schließt dieser Begriff bei Locke doch gerade auch die Tätigkeit mit ein, die vom Tier betrieben 334

wird: das Pflücken und Sammeln von wildwachsenden Früchten zum Zweck der Ernährung; 2 6 das einfache Nehmen und Besetzen ist bei einer derartigen Arbeitsauffassung zunächst sowenig rechtswidrig für Locke wie es der g r o ß e Besitz ist, vorausgesetzt, daß dadurch niemand anders in seinem Recht auf Selbsterhaltung beeinträchtigt wird. 27 Mit eben diesem Argument, das sich sehr leicht mit der Unterstellung kombinieren ließ, man fühle sich von den „Wilden", den Eingeborenen der okkupierten Länder und Kontinente bedroht, wurde (sieht man von der christlichen Rechtfertigung aus dem Missionierungszwang ab) vorzugsweise die Eroberung von Kolonien und die Ausrottung bzw. Unterjochung ihrer Bewohner gerechtfertigt. Die Größe des Besitzes aber ist für Lockes Vorstellung von der gesellschaftlichen Nützlichkeit von Eigentum sekundär, da sie nicht identisch ist mit der Größe des gesellschaftlichen Nutzens: „In der Tat nämlich ist es die Arbeit, die den unterschiedlichen Wert aller Dinge ausmacht. Man betrachte nur den Unterschied zwischen einem mit Tabak oder Zucker bepflanzten oder aber mit Weizen oder Gerste besäten Morgen Landes und einem Morgen desselben Landes, das Gemeingut und überhaupt nicht bewirtschaftet ist, und man wird sehen, daß die Verbesserung durch die Arbeit den weitaus größten Teil des Wertes ausmacht. Meiner Meinung nach ist es sehr bescheiden veranschlagt zu sagen, die für das menschliche Leben nützlichen Erzeugnisse der Erde seien zu neun Zehntel das Ergebnis der Arbeit. Ja, wenn wir die Dinge richtig einschätzen wollen, so wie sie in unseren Gebrauch gelangen, und die einzelnen Kosten berechnen, die man für sie aufbringen muß, wenn wir fragen, was sie im Eigentlichen der Natur verdanken und was der Arbeit, so werden wir sogar sehen, daß man in den meisten Fällen neunundneunzig Hundertstel ganz auf das Konto der Arbeit schreiben muß.'