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German Pages [437] Year 2018
Stefan Karner Krieg | Folgen | Forschung
Kriegsfolgen-Forschung Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Raabs
Herausgegeben von Stefan Karner Band 9 Advisory Board der Wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instiuts für Kriegsfolgen-Forschung: Jörg Baberowski
(Humboldt-Universität Berlin)
Csaba Békés
(Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest)
Günter Bischof
(University of New Orleans)
Stefan Creuzberger (Universität Rostock)
Thomas Wegener Friis (Süddänische Universität)
Marcus Gräser (Universität Linz)
Andreas Hilger
(Universität Hamburg)
Kerstin Jobst
(Universität Wien)
Rainer Karlsch (Berlin)
Mark Kramer
(Harvard University)
Hannes Leidinger (Universität Wien)
Peter Lieb
Ol’ga Pavlenko
(Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, Moskau)
Dieter Pohl
(Universität Klagenfurt)
Pavel Polian
(Albert Ludwigs-Universität Freiburg)
Peter Ruggenthaler
(Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung)
Roman Sandgruber (Universität Linz)
Erwin Schmidl
(Landesverteidigungsakademie, Wien)
Daniel Marc Segesser (Universität Bern)
Barbara Stelzl-Marx
(Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung)
Ottmar Traşca
(Universität Cluj-Napoca)
Stefan Troebst
(Universität Leipzig)
Oldřich Tůma
(Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam)
(Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag)
Ulrich Mählert
(Moskauer Staatliche Universität)
(Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin)
Horst Möller
(Bayr. Akademie der Wissenschaften, München)
Verena Moritz (Universität Wien)
Bogdan Musial
(Kardinal Stefan Wyszyński-Universität Warschau)
Alexander Vatlin Gerhard Wettig Jürgen Zarusky
(Institut für Zeitgeschichte, München – Berlin)
Vladislav Zubok
(London School of Economics)
Stefan Karner
Krieg | Folgen | Forschung Politische, wirtschaftliche und soziale Transformationen im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Barbara Stelzl-Marx, Peter Ruggenthaler, Dieter Bacher, Bernhard Bachinger, Christoph H. Benedikter, Katharina Bergmann-Pfleger, Walter M. Iber, Harald Knoll, Alexandra Kofler, Philipp Lesiak, Sabine Nachbaur, Lukas Schretter, Manfred Wilke
2018 Böhlau Verlag Wien ∙ Köln ∙ Weimar
Erstellt mit freundlicher Unterstützung durch: Historische Landeskommission der Steiermark Kärntner Landesregierung, Abteilung Kultur Land Niederösterreich, Wissenschaft und Forschung Land Steiermark, Wissenschaft und Forschung Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Raabs MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Stadt Graz, Kultur und Wissenschaft Zukunftsfonds der Republik Österreich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Wege durchs Archiv: Stefan Karner in der Sammlung der Personalakten von Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges in sowjetischer Hand, Russisches Staatliches Militärarchiv, Moskau (Foto: Rafaela Pröll) © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Elisabeth Klöckl-Stadler, Graz Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
ISBN 978-3-205-20000-0
Inhalt
Barbara Stelzl-Marx – Peter Ruggenthaler Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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KRIEGSGEFANGENE UND ZIVILVERURTEILTE IN DER SOWJETUNION Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte: ein Zwischenbericht (1994). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zur sowjetischen Umerziehung : die „Antifa“ 1941–1949 und das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ in der Sowjetunion (2015). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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„Ich bekam 10 Jahre Zwangsarbeit.“ Zu den Verschleppungen aus der Steiermark durch sowjetische Organe im Jahr 1945 (1995) . . . . . . . . .
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Margarethe Ottillinger: ein Opfer des „Kalten Krieges“ (2005) . . . . . .
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Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten in der Sowjetunion unter Chruschtschow und in den 1990erJahren: dargestellt am Beispiel von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen (2015). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DIE SOWJETISCHE BESATZUNG ÖSTERREICHS Zu den Anfängen der sowjetischen Besatzung in Österreich 1945/46 (2005). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945 (2010) . . . . . . . . . .
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Zur Auslieferung der Kosaken und Vlasov-Kämpfer an die UdSSR (2010). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
DIE SOWJETUNION IM KALTEN KRIEG Die Tür zu den Spuren Wallenbergs offen halten (2015). . . . . . . . . .
169
Der „französische Spionagering“ in Rostock und die sowjetische Staatssicherheitsakte zu Wilhelm Joachim Gauck (2015). . . . . . . . . .
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Der Wiener Gipfel 1961 : Kennedy – Chruschtschow (2011) . . . . . . . .
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Der „Prager Frühling“: Moskaus Entscheid zur Invasion (2008). . . . . .
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Von der Stagnation zum Verfall: Kennzeichen der sowjetischen Wirtschaft der 1980er-Jahre (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Kreml und die Wende (2015). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VERTREIBUNG UND MINDERHEITEN Die nationale Frage in Kärnten im 20. Jahrhundert (2001) . . . . . . . . .
245
Oberkrain und Untersteiermark 1941–1945: zur NS-Okkupationspolitik in Slowenien (2005). . . . . . . . . . . . . . .
257
AVNOJ-Erlässe und Beneš-Dekrete (2002). . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Die Lösung der Kärntner Ortstafelfrage (2005).. . . . . . . . . . . . . . .
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NATIONALSOZIALISMUS UND WIRTSCHAFTLICHE KRIEGSFOLGEN Vom „Anschluss“ zum Reichspogrom 1938: der Nationalsozialismus an der Macht (2017). . . . . . . . . . . . . . . .
303
Die Grazer Industrie 1938 (1988). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Die Steuerung der V2: zum Anteil der Firma Siemens an der Entwicklung der ersten selbstgesteuerten Großrakete (1979) . . . . . . .
349
Ökonomische Kriegsfolgen : Abrüstung im Betrieb. Die Rüstungskonversion bei Steyr-Daimler-Puch, Werk Graz, 1945 (1994)..
371
Inhalt
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ANHANG Verzeichnis der wissenschaftlichen Schriften von Stefan Karner 1976–2017, bearbeitet von Harald Knoll und Doris Wünschl. . . . . . . .
387
Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Barbara Stelzl-Marx – Peter Ruggenthaler
Einleitung
Das vorliegende Buch ist Stefan Karner zu seinem 65. Geburtstag und zum 25. Jubiläum des von ihm gegründeten Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung (BIK) gewidmet. Insgesamt 23 ausgewählte Aufsätze, die alle aus Karners Feder entstammen, sollen seine reichen Forschungsinteressen in einigen Streiflichtern spiegeln und einen Einblick in sein großes Œuvre geben. Sie zeigen die Bandbreite der Forschungsschwerpunkte, die Karner maßgeblich prägte und vorantrieb: von der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion und sowjetischen Besatzung Österreichs über die nationale Frage in Kärnten und wirtschaftliche Kriegsfolgen bis hin zu Kernthemen des Kalten Krieges. Viele dieser Arbeiten entwickelten sich zu Standardwerken, die breit rezipiert werden. Erstmals liegt nun eine Auswahl der Aufsätze von Stefan Karner zu Kriegsfolgen im 20. Jahrhundert in einem Band vor. Karners Lebenslauf und sein wissenschaftlicher Werdegang reflektieren nicht nur seine vielseitigen Talente, sondern auch seine gewaltige Arbeits energie: Er kam am 18. Dezember 1952 in St. Jakob bei Völkermarkt in Kärnten auf die Welt, maturierte in Klagenfurt und studierte von 1972 bis 1976 Geschichte und Russisch an der Karl-Franzens-Universität Graz. Parallel dazu sammelte er Erfahrungen als Journalist und später als Studienassistent am Institut für Geschichte. Er promovierte 1976 und habilitierte sich 1985 für Neueste Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie für Österreichische Zeitgeschichte, wurde Universitätsdozent und schließlich 1993 a. o. Univ.-Prof. am Grazer Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte unter o. Univ.-Prof. DDr. Gerald Schöpfer. 1990 begann Karner, den bereits 1974 eine abenteuerliche Reise mit seiner späteren Frau Linde im VW-Käfer nach Moskau geführt hatte, mit Arbeiten in sowjetischen Archiven. 1991 gelang ihm als erstem westlichem Historiker der Zugang zu den NKVD-Geheimbeständen zu ausländischen Kriegsgefangenen und Internierten. Er beschloss, den wissenschaftlichen Schatz zu bergen: Daraus resultierte der Aufbau einer rund 200.000 Personen umfassenden Datenbank zu ehemaligen Kriegsgefangenen aus Österreich, Frankreich, Luxemburg, Italien und zu verurteilten Deutschen. Tausende Fälle konnten durch diese vorbildliche humanitäre Pionierarbeit aufgeklärt, Forschungslücken gefüllt und in weiterer Folge vor allem ein internationales Forschungsnetzwerk etabliert werden.
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Barbara Stelzl-Marx – Peter Ruggenthaler
Vor diesem Hintergrund erfolgte 1993 die Gründung des Ludwig Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgen-Forschung in Graz, welches Karner seitdem leitet. Im Zentrum steht die interdisziplinäre Erforschung von Auswirkungen und Folgen von Kriegen und Konflikten des 20. Jahrhunderts. Der Begriff „Kriegsfolgen“ ist dabei sehr breit gefasst, er umfasst sowohl staatliche, gesellschaftliche oder ökonomische als auch soziale, humanitäre und kulturelle Folgen. Neben dem Hauptstandort Graz gehören aktuell Filialen in Wien und Raabs an der Thaya dazu. Das Institut hat sich national wie international einen hervorragenden Namen gemacht und zählt zu den „Flaggschiffen“ der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Karner ist ein Wissenschaftler, der in der internationalen „scientific community“ höchstes Ansehen genießt. Seine Forschungsergebnisse wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und in vielen Ländern Europas, Russlands oder den USA (unter anderem an der Harvard-Universität) publiziert. Er übernahm in seiner langjährigen Laufbahn eine Vielzahl an Funktionen in wissenschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen: So ist er u. a. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission, Beirat des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Beirat des Hannah Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden und Vizepräsident des Österreichischen Schwarzen Kreuzes. Darüber hinaus war er Moderator der Konsensgruppe Kärnten, die sich um Realisierung der Minderheitenschutzbestimmungen bemühte, von 1995 bis 2010 österreichischer Vertreter in der „European Commission against Racism and Intolerance“ des Europarates in Straßburg und von 1995 bis 2010 Vizepräsident der Politischen Akademie der ÖVP. Von 2004 bis 2006 und seit 2012 ist Karner zudem Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte (IWSU) der Universität Graz. Neben seiner überaus reichen Veröffentlichungstätigkeit ist Stefan Karner der Gründungsdirektor des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich, St. Pölten. Darüber hinaus leitete er zahlreiche Großausstellungen, unter anderem 2009 die Niederösterreichische Landesausstellung „Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint“, zuvor 2008 „90 Jahre Republik Österreich 1918/2008“ im Parlament und 2005 die Staatsvertragsausstellung auf der Schallaburg „Österreich ist frei!“, die auf immenses öffentliches Interesse stießen. Dies zeigt auch, dass Stefan Karner immer ein gutes Gespür für Themen hatte, die von allgemeinem Interesse sind, weil sie den Puls der Zeit berühren. Er griff pionierhaft brennende Fragen auf, die mit vielen unmittelbaren Lebensinteressen verbunden sind: politisch bedeutsame Fragen der Restituti-
Einleitung
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on oder Zwangsarbeiterentschädigung zählen hier ebenso dazu wie etwa die Volksgruppen-Frage in Kärnten. Im Auftrag von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel arbeitete Stefan Karner 2005/06 als Mediator im Kärntner Ortstafelstreit. Unter seiner Führung entstand der Vorschlag, der unter dem Namen „Karner-Papier“ bekannt wurde. Sein großes Verständnis für Medienarbeit und sein Talent, historische Zusammenhänge spannend zu vermitteln, trugen maßgeblich zu seiner großen Bekanntheit – auch jenseits der Grenzen von Österreich – bei. Stefan Karner brennt für die wissenschaftliche Arbeit und schafft es, mit seiner Begeisterung andere anzustecken. Als akademischer Lehrer versteht er es, sein profundes Wissen den Studierenden an der Universität, aber auch der breiten Öffentlichkeit näherzubringen. Wenig überraschend ist Karner daher im wahrsten Sinne des Wortes ein ausgezeichneter Wissenschaftler: Er erhielt bereits höchste Auszeichnungen Österreichs und einzelner österreichischer Bundesländer, der Bundesrepublik Deutschland, der Russischen Föderation, des Europäischen Parlamentes und verschiedener Akademien. 2016 verlieh ihm die renommierte Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität die Ehrendoktorwürde. 1995 wurde er „Österreichischer Wissenschafter des Jahres“, 2011 erhielt er das „Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“, 2012 wurde er Bürger der Stadt Graz und erhielt zudem die päpstliche Auszeichnung „Komtur des Ordens vom Heiligen Gregor dem Großen“. Als Träger dieser Auszeichnung genießt er ein besonderes, in der Praxis heute jedoch nicht mehr ausgeübtes Privileg: Er dürfte mit dem Pferd über die Treppen zum Petersdom einreiten. Doch Stefan Karner war nie einer, der auf dem hohen Ross sitzt, sondern immer jemand, der mit beiden Beinen im Leben steht. Unter dem Motto „ad fontes“ forscht er mit großer Leidenschaft und mit der für Wissenschafter essenziellen professionellen Neugier. Vor diesem Hintergrund wählten wir auch das Coverbild für diesen Band, das Stefan Karner am Weg durchs Moskauer Militärarchiv zeigt. Die hier publizierten Beiträge zu internationalen, ökonomischen und sozialen Kriegsfolgen geben einen komprimierten Einblick in das große Œuvre von Stefan Karner, das in den vergangenen 40 Jahren erschienen ist. Ein von Harald Knoll und Doris Wünschl erstelltes Schriftenverzeichnis am Ende dieses Bandes verweist nicht nur auf die ausgesprochene Produktivität des Jubilars, sondern auch auf die bemerkenswerte Bandbreite an Themen: Dazu zählen beinahe 20 Monographien, mehr als 30 herausgegebene Sammelbände und rund 350 wissenschaftliche Aufsätze. Wie die jeweils in Klammer angegebenen Jahreszahlen des Erscheinens verdeutlichen, liegt der Schwerpunkt der ausgewählten Texte auf jenen, die seit 1993 publiziert wurden. Sie spiegeln somit zu-
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Barbara Stelzl-Marx – Peter Ruggenthaler
gleich wesentliche Forschungsschwerpunkte des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung wider, das 2018 sein 25-jähriges Jubiläum feiert. Die abgedruckten Artikel wurden wortgetreu, ohne inhaltliche Eingriffe übernommen. Allerdings wurde in vielen Fällen aus Platzgründen auf den Abdruck von Graphiken und Fotos verzichtet. Um einen einheitlichen Textkorpus zu generieren, wurden die teilweise unterschiedlichen Schreibweisen vor allem russischer Namen gemäß der wissenschaftlichen slawistischen Transliterationsregeln, die Zitierweise und das Erscheinungsbild der einzelnen Beiträge vereinheitlicht. Veraltete Schreibweisen wurden dem heutigen Standard angepasst, etwaige Rechtschreibfehler korrigiert. Verweise auf in Druck befindliche Werke, die zwischenzeitlich erschienen sind, wurden durch ihre vollständigen bibliographischen Angaben aktualisiert. Für das Zustandekommen dieses Buches gilt es, mehrfach Dank zu sagen: Allen unseren Kolleginnen und Kollegen am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung und am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte, die bei der Entstehung und Herausgabe des Bandes mithalfen. Den Sekretärinnen der beiden Institute, die unter der Leitung von Stefan Karner stehen, Frau Sigrid Lazar (BIK) und Frau Doris Wünschl (IWSU). Darüber hinaus Frau Mag. Petra Holzer, Frau Katharina Menhard, Herrn Reinhard Möstl, Frau Viktoria Tatschl und Herrn Clemens Wiesenhofer für ihre Unterstützung beim Scannen sowie beim Nachbearbeiten der einzelnen Beiträge. Frau Mag. Elisabeth Klöckl-Stadler sei für das genaue Korrektorat gedankt. Herzlicher Dank gebührt der Historischen Landeskommission der Steiermark, den Landesregierungen von Kärnten, Niederösterreich und der Steiermark, der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, der Stadt Graz und der Stadt Wien sowie dem Zukunftsfonds der Republik Österreich für die Förderung der Publikations- und Entstehungskosten. Der Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar übernahm den Band in sein Verlagsprogramm und betreute in bewährter Weise Satz und Produktion, wofür wir insbesondere Frau Dr. Ursula Huber und Herrn Michael Rauscher danken. Gedankt sei weiters allen Verlagen und Institutionen, die ihr Einverständnis für den Nachdruck der hier veröffentlichten Beiträge gaben. Das Foto auf dem Cover wurde von Frau Rafaela Pröll aufgenommen, der wir für die Abdruckgenehmigung herzlich danken. Es liefert einen Einblick in das Archiv des heutigen Russischen Staatsarchivs für Militärgeschichte in Moskau, in dem unter anderem rund fünf Millionen Akten ausländischer Soldaten, die sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden, aufbewahrt werden. Jede einzelne Karteikarte fasst
Einleitung
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das Schicksal eines Menschen in dieser Extremsituation zusammen und verweist zugleich indirekt auf die betroffenen Angehörigen. 1990 nahmen die Arbeiten von Stefan Karner in den sowjetischen bzw. später russischen Archiven hier ihren Anfang. Im Namen des Teams des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen- Forschung gratulieren wir Stefan Karner sehr herzlich zu seinem 65. Geburtstag. Wir wünschen weiterhin viel Gesundheit, Freude und Energie – sowohl in der Forschung als auch im privaten, familiären Bereich! Ad multos, ad plurimos annos!
Graz, im Dezember 2017
Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte: Ein Zwischenbericht (1994)
Die Existenz staatlicher Lagernetze, von Arbeitsbataillonen, von Besserungs arbeitslagern und -kolonien und von Straflagern zur planmäßigen Verfolgung von Sowjetbürgern und Ausländern war in der Sowjetunion bis in die fünfziger Jahre totgeschwiegen worden. Offiziell existierten die „Archipele“ der Lager (in der sowjetischen Terminologie auch als „Konzentrationslager“ bezeichnet) bis zur Abrechnung Chruschtschows mit Stalin nicht ; über die Lager für Ausländer und Kriegsgefangene wurde noch bis in die jüngste Zeit Stillschweigen bewahrt : „Aufbewahren auf ewig“ („chranit’ večno“) und „Streng geheim“ signalisieren auf den Kartons der Akten der ehemaligen Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Zivilinternierte, dass deren zumeist penibel geführter Inhalt niemals ans Licht der Öffentlichkeit hätte gelangen sollen. Mit der zögernden Öffnung der ehemaligen sowjetischen Archive am Ende der Glasnost und dem Zerfall des Imperiums wurde langsam auch das Ausmaß des Lager-Archipels für Kriegsgefangene und Internierte erahnbar.1 Generell verfügten das sowjetische Innenministerium bzw. der Staatssicherheitsdienst neben dem – GULAG (Hauptverwaltung der Lager, im Wesentlichen zur Repression gegenüber der sowjetischen Bevölkerung sowie den ausländischen Zivil internierten und verurteilten Kriegsgefangenen, zwischen 1919 und der jüngsten Zeit) noch über ein zweites Hauptlagersystem :
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Zur Öffnung der sowjetischen/russischen Archive vgl. u. a.: Rudolf G. Pichoja, Sovremennoe sostojanie archivov Rossii, in : Novaja i novejšaja istorija 1993, H. 2, S. 3–10 ; Bernhard H. Bayerlein – Alexander Vatlin, Zur aktuellen Situation der ehemaligen Parteiarchive in Russland, in : Osteuropa 11/1992, S. 966–977 ; Jürgen Zarusky, Bemerkungen zur russischen Archivsituation, in : VfZ Nr. 41/1993, S. 139–147 ; Dietrich Geyer (Hg.), Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991 ; Stefan Karner, Erfahrungen mit betrieblichem Aktenmaterial in sowjetischen und jugoslawischen Archiven, in : Archiv und Wirtschaft 4/1991, S. 151ff. Das Großprojekt zur Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion wird mit wesentlicher Unterstützung der österreichischen Landeshauptmänner, des Wissenschaftsministeriums, der Stadt Graz und anderer, teils privater Organisationen am L. Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien, durchgeführt, Nikita V. Petrov, Moskau, und Mag. Ernst Trümmer, Graz, danke ich für ihre Mithilfe bei der Klärung von Einzelfragen.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
– Die GUPVI (Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten, im Wesentlichen für ausländische Kriegsgefangene, nach 1949 auch für verurteilte Kriegsgefangene, zwischen 1939 und 1953).2 Im Verantwortungsbereich der GUPVI des NKVD wurden Millionen von Menschen – zum größten Teil unter eklatanten Menschenrechtsverletzungen – festgehalten und zu Tode gehungert ; zahllose erfroren oder wurden bereits auf dem Marsch und dem Transport in die Lager erschossen.3 Während jedoch der GULAG – vor allem durch die zahlreichen Publikationen – allgemein bekannt ist, blieb die Kenntnis der Existenz der GUPVI-Lagerverwaltung weitgehend im Dunklen. Ungefähre Angaben über einzelne Lager, den Alltag darin oder deren Struktur stammten lediglich aus Berichten von heimgekehrten Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Doch selbst die grundlegenden Publikationen der „Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte“ unter Erich Maschke kennen den Terminus „GUPVI“ nicht. Die weitgehende Unkenntnis gilt sowohl für den Umfang als auch die innere Struktur dieser Lager und Anstalten, die – ähnlich 2 3
GULAG (Glavnoe upravlenie lagerej), GUPVI (Glavnoe upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych). Zur Anzahl der im GULAG festgehaltenen Menschen gibt es noch keine endgültigen Forschungsergebnisse. Dugin und Zemskov geben aufgrund einer offensichtlich manipulierten Quellenbasis die Zahl der aus politischen Gründen unter Stalin Verhafteten mit 3,6 bis 3,7 Millionen an. Schatunowskaja führt die Zahl der Stalin’schen Repressionsopfer allein zwischen dem 1. Januar 1935 und dem Juli 1940 anhand von anderen KGB–Unterlagen mit 19,8 Millionen an, von denen sieben Millionen erschossen worden seien. Chruščev gab in seinen Memoiren an, dass allein 1953 in den Lagern zehn Millionen Häftlinge gewesen seien. Vgl. dazu ausführlicher u. a.: Rene Ahlberg, Stalinistische Vergangenheitsbewältigung, Auseinandersetzung über die Zahl der GULAG-Opfer, in : Osteuropa-Archiv 42/11/1992, S. 921–917 ; Alexander N. Dugin, Neizvestnye dokumenty o repressijach 30–50 godov (po fondam CGAOR), in : RGGU (Hg.), Administrativno-komandnaja sistema upravlenija. Problemy i fakty. Moskau 1992, S. 69–87. Vgl. dazu insbesondere Alexander Solzhenicyn, Der Archipel GULAG, Bd. I. Bern 1974 ; Znak Rossi, Spravočnik po GULAGu, 2 Bde. Moskau 1991. Zur Gewalt während der Herrschaft Stalins vgl. u. a.: Hermann Weber, Stalinismus. Zum Problem der Gewalt in der Stalin-Ära, in : Reinhard Grusius – Manfred Wilke (Hg.), Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen. Frankfurt am Main I977, S. 263–284 ; Anne Herbst-Oltmanns, Entstalinisierung. Der Einzelne zählt wieder in der Sowjetunion, in : Reinhard Grusius – Manfred Wilke (Hg.), Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen. Frankfurt am Main 1977, S. 50–64 ; Isaac Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie. Reinbek 1992, bes. S. 454f.; Aleksandr Orlow, Tajnaja istorija stalinskich prestuplenij. Kniga komissara NKVD, v 1938 g. vmeste s sem’ej tajno ostavšegosja v SŠA. Moskau 1991 ; Karl-Heinz Ruffmann, Sowjetrußland 1917–1977. München 1981, bes. S. 56f.; Jewgenija Albaz, Geheimimperium KGB. Totengräber der Sowjetunion. München 1992.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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dem GULAG – wie ein Netz über das ganze Land ausgebreitet wurden und die Zahl von über 5000 Lagerverwaltungen, Lagerpunkten, Sonderspitälern oder Arbeitsbataillonen erreichten. Der vorliegende Aufsatz versucht daher, in knapper Form die grundlegende Struktur und Entwicklung der GUPVI darzustellen. Nicht behandelt werden im Rahmen dieser Arbeit Fragen wie Lagertypen, Lagerordnungen, Sterbe- und Krankheitsraten, Lageralltag, Arbeitsleistungen der Gefangenen, Grablagen oder Verurteilungen. Zur laufenden Diskussion um die „vermisste Million“, also das Geschick jener Million deutscher Soldaten, deren Schicksal noch immer weitgehend ungeklärt ist und von denen James Bacque behauptete, sie waren nicht im Osten, sondern in amerikanischem und französischem Gewahrsam umgekommen, kann der vorliegende Aufsatz nur partiell Stellung beziehen. Wie Anhang 2 ausweist, wurden laut NKVD-GUPVI-Statistik 2.388.443 Deutsche als Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion registriert. Erfahrungsgemäß konnten bei Weitem nicht alle Kriegsgefangenen von den sowjetischen Behörden registriert werden. Die Zahl der vor der Registrierung, d. h. noch am Kampfplatz, auf dem Weg zu den einzelnen Frontlager-Punkten bzw. zum stationären Kriegsgefangenenlager oder noch im Lager selbst verstorbenen deutschen Kriegsgefangenen kann nur geschätzt werden. Sie dürfte mindestens 800.000 betragen haben. Zusammen mit den in den Lagern laut NKVD-GUPVI-Statistik aktenmäßig erfassbaren 356.687 verstorbenen Kriegsgefangenen wären demnach im Bereich der Sowjetunion mindestens 1.156.000 deutsche Kriegsgefangene verstorben. Die hohe Dunkelziffer der nicht mehr von den Sowjets registrierten Kriegsgefangenen – besonders in den letzten Monaten des Krieges – dürfte demnach in erster Linie das Schicksal der „vermissten Million“ erklären.4 4
Zur laufenden Diskussion vgl. u. a.: Arthur L. Smith, Die „vermißte Million“. Zum Schicksal deutscher Kriegsgefangener nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1992 ; Arthur L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen. Stuttgart 1985 ; James Bacque, Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945–1946. Frankfurt am Main – Berlin 1991 ; Rüdiger Overmans, German Historiography. The War Losses and Prisoners of War, in : Günter Bischof – Stephen E. Ambrose (Hg.), Eisenhower and the German POWs. Facts Against Falsehood. Louisiana State Univ. Press 1992, S. 127–169 ; Günter Bischof, Bacque and Historical Evidence, in : Ebd., S. 199–234. Nimmt man die vom NKVD geführte Kriegsgefangenen-Statistik als Grundlage, so korrespondiert die Zahl von über 3,4 Millionen registrierten Kriegsgefangenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auch in etwa mit der von der Sowjetunion 1945 jubelnd bekannt gegebenen Zahl von über drei Millionen gefangen genommenen „deutschen Soldaten“. Die Schätzung von mindestens 800.000 vor der Registrierung verstorbener deutscher Kriegsgefangener basiert auf Erfahrungen mit der von mir
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Die GUPVI wurde bis 1953/55 zum „Gulag der Kriegsgefangenen und Internierten“ von über vier Millionen registrierten ehemaligen Soldaten und Zivilisten, die vor allem die Rote Armee, aber auch andere sowjetische Organe auf dem westlichen und fernöstlichen Kriegsschauplatz zwischen 1939 und etwa 1949/50 gefangen genommen hatten. Die Errichtung der GUPVI als die Zentrale für alle Kriegsgefangenen- und Internierungslager-Verwaltungen geht auf die Zeit unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ostpolen zurück. Im September 1939 hatte Lavrentij Berija, als Volkskommissar des Inneren, mit Befehl 0308 die „Organisation von Kriegsgefangenenlagern“ angeordnet5 und die generellen Richtlinien für eine Verwaltung
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durchgeführten Erhebung österreichischer, luxemburgischer, Südtiroler und französischer Kriegsgefangener. Noch immer grundlegend die Sowjetunion-Bände der von Erich Maschke herausgegebenen Reihe „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges“. Allerdings fußt die Darstellung praktisch ausschließlich auf „deutschen“ Quellen, weil zu diesem Zeitpunkt die sowjetischen Archive noch nicht zugänglich waren. Unter den von Maschke herausgegebenen Bänden vgl. für diesen Aufsatz vor allem : Kurt W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Eine Bilanz, in : Ebd., Bd. VII. München 1966 ; Kurt Bährens, Deutsche in Straflagern und Gefängnissen der Sowjetunion, in : Ebd., Bde. VI und VIII. München 1965. Neuerdings u. a.: Wolfgang Benz, Einleitung, in : Wolfgang Benz – Angelika Schardt (Hg.), Kriegsgefangenschaft. Biographische Quellen zur deutschen Geschichte nach 1945, Bd. 10. München 1991, S. 7–15 ; Arthur L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen. Aus dem Amerikanischen übertragen von Rainer Michael Gottlob, in : VfZ 51/1985, bes. S. 151–169 ; statistisch zwischen den Gewahrsamsmächten vergleichend : Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Ein geschichtlicher Abriss in Fakten, in : Verband der Heimkehrer (Hg.), Kriegsgefangenen- und Vermißtenangehörigen. Bonn 1989 ; forschungskonzeptiv richtungweisend : Peter Steinbach, Zur Sozialgeschichte der deutschen Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und in der Frühgeschichte der BRD. Ein Beitrag zum Problem historischer Kontinuität, in : Zeitgeschichte 16/1989, S. 1–18. Die „Antifa“ in den sowjetischen Lagern wurde teilweise problematisch auch im Rahmen der Widerstandsforschung thematisiert, dazu : Bodo Scheurig, Freies Deutschland. München 1960 ; oder hinterfragend : Alexander Fischer, Die Bewegung „Freies Deutschland“ in der Sowjetunion : Widerstand hinter Stacheldraht ?, in : Jürgen Schmädeke – Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. München 1985. Auf weitere Literaturangaben zur Geschichte der Kriegsgefangenschaft in der ehemaligen Sowjetunion (vor allem die Arbeiten von Bohn, Cartellieri, Fleischhacker, Ratza und Robei) wird hier verzichtet. Jüngst nähert sich zaghaft auch die sowjetische Historiographie diesem bislang weitgehend tabuisierten Problemkreis. Vgl. etwa : Leonid E. Rešin, Sojuz nemeckich oficerov, in : Istočnik. Dokumenty russkoj istorii 0/1993, S. 86–106 ; Vladimir Motrevič, Kladbišča voennoplennych : Čto dal’še ?, in : Meždunarodnoe obščestvo prav čeloveka, Ural’skaja gruppa. Swerdlowsk 1992, S. 9f.; Alexander Mil’čakov – Alexander Matrosov, Bez vesti propavšie, in : Večernjaja Moskva vom 3.10.1991 ; A Mil’čakov, „Gulag“ na Moskve-reke, in : ebd. vom 28.11.1991 ; M. Egorov,
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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für Kriegsgefangene und Internierte (UPVI) festgelegt : Unterstellung unter das sowjetische Innenministerium (NKVD), Betrauung einer eigenen Sonderabteilung im NKVD und ihren örtlichen Organen mit der operativ-geheimpolizeilichen Bearbeitung der UPVI-Lager, Übernahme der Finanzierung der UPVI durch die zentrale Planungsabteilung des NKVD, der Versorgung (Nahrung, Sanitäres etc.) und Überwachung durch Berijas Stellvertreter Černyšev und Maslennikov. Den Leitern der NKVD-Gebietsverwaltungen, in denen sich die ersten acht UPVI-Lager befanden, wurde befohlen, im Rahmen des Mobilisierungsplans der Abteilung der „Besserungsarbeits-Kolonien“ (ITK, für Sowjetbürger) den Aufbau der UPVI-Lager zu sichern, die personelle Ausstattung der Lager zu garantieren und zur Hilfeleistung beim Aufbau der Lager in einzelne Gebiete „erfahrene“ GULAG-Mitarbeiter abzukommandieren. Offensichtlich stand Berija dabei unter größtem Zeitdruck : Binnen zwei Tagen musste ihm sein Stellvertreter, NKVD-Kommissar Kruglov, den Personal-Apparat der UPVI-Hauptverwaltung zusammenstellen. Erster UPVI-Chef wurde von 1939 bis 1943 Petr K. Soprunenko. Die Gehälter der Lagerleiter und Mitarbeiter der UPVI wurden im Wesentlichen denen des GULAG-Apparates gleichgestellt.6 Gleichzeitig hatte Berija die Umfunktionierung ehemaliger oder bestehender Lager bzw. Kolonien und Klöster zu den ersten acht Kriegsgefangenenlagern für 44.000 bis 70.000 Insassen, anfänglich vor allem Polen und Finnen,
6
Bunt generalov, in : Ural’skij rabočij vom 7.4.1992 ; oder Nikita V. Petrov, Nemeckie generaly pered sudom Stalina, Referat. Bonn 1993. Hingegen gibt Vladimir P. Galickij in seinen Abhandlungen über deutsche und japanische Kriegsgefangene traditionelle sowjetische Auffassungen wieder, wie in : Vladimir P. Galickij, Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz, in : Moskau News, Nr. 1993, S. 15 ; oder Vladimir P. Galickij, Deutsche Gefangene, die Geschichten erzählen, in : ebd., o. S.; K. W. Böhme, Kriegsgefangene in sowjetischer Hand. Eine Bilanz. Bielefeld 1966, S. 96, gibt die Zahl von insgesamt 2.995 Lagerverwaltungen, Einzellagern, Arbeitsbataillonen und Spitälern an. Die folgenden Angaben dieser Arbeit basieren vor allem auf den Quellen des Russischen Staatlichen Militärarchivs, RGVA, (früher Zentrum für die Aufbewahrung historischer Dokumentationen (= CChIDK, ehemals Sonderarchiv des Ministerrates der UdSSR), Moskau (Osobyj Aarchiv). Hier : F. 1/p, op. 37a, d. 1, Befehl Nr. 0308. Frau Nataša Nikolaeva, Ekaterinburg, danke ich für Literaturhinweise. Dem CChlDK, insbesondere Herrn Dir. Viktor N. Bondarev, bin ich für die Möglichkeit der Archivbenützung zu besonderem Dank verpflichtet. Gleichfalls danke ich dem Rosarchiv, Prof. Dr. Rudolf G. Pichoja und Vladimir Tarasov, für die im Rahmen ihrer Möglichkeiten tatkräftige Unterstützung meiner Archivarbeiten. Lagerleiter und -kommissare erhielten demnach, je nach Größe des Lagers, zwischen 2.000 und 2.400 Rubel pro Monat, UPVI-Leiter bzw. UPVI-Kommissare 2.800 bis 3.000 Rubel pro Monat. Vgl. RGVA, ebd., Beilagen zu Befehl 0317 vom 27.9.1939, gez. von Kruglov.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
verfügt und somit 1939 den Grundstock eines Lagersystems gelegt, das innerhalb der nächsten Jahre das ganze Land, vom Fernen Osten bis Karelien, überziehen sollte.7 Die folgende Auflistung der ersten UPVI-Lager soll auch exemplarisch für die Bedingungen der Errichtung der folgenden tausend GUPVI-Lager gelten. Freilich wurden, wie noch zu zeigen sein wird, besonders 1944/45 zahlreiche Lager bzw. lagerähnliche Einrichtungen noch unter viel schwierigeren Bedingungen – mitten in der Halbwüste, in Dauerfrostböden, in Sumpfgebieten und ohne vorhandene Basis-Infrastruktur – von den Kriegsgefangenen selbst erbaut. Die ersten acht UPVI-Lager wurden meist auf dem Areal aufgelassener Klöster oder Heime errichtet : – „Ostaškov“ auf dem Gelände einer ehemaligen Kinderkolonie des NKVD am Seliger-See, 360 km nw. von Moskau, für 10.000 Insassen. In diesem Lager wurden 1940 6.311 Polen, vor allem Offiziere, erschossen. – „Juchnov“ auf dem Gelände eines Sanatoriums beim Bahnhof Babynino, sö. von Moskau bei Kaluga, für 5.000–10.000 Insassen, – „Kozel’sk“ auf dem Gelände eines Gorki-Erholungsheimes beim Bahnhof Kozel’sk an der Dzeržinskij-Eisenbahn, 220 km sw. von Moskau, für 7.000–10.000 Insassen, „Putivl’“ auf dem Gelände eines früheren Klosters und Torf-Betriebes beim Bahnhof Tetkino, rund 340 km nö. von Kiew, an der Eisenbahn Moskau–Kiew für 7.000–10.000 Insassen, – „Kozel’ščino“ ebenfalls auf dem Gelände eines aufgelassenen Klosters nahe dem Bahnhof Kozel’ščino, 220 km sw. von Char’kov, an der Südbahn für 5.000–10.000 Insassen. Hier wurden 1940 3.820 Polen erschossen. – „Starobel’sk“ ebenfalls auf dem Gelände eines früheren Klosters beim Bahnhof Starobel’sk, n. von Vorošilovgrad, an der Bahn Moskau–Donbas für 5.000–8.000 Insassen, „Juzha“ auf dem Gelände einer ehemaligen Kinder-Arbeitskolonie des NKVD beim Bahnhof Vjazniki der Nordbahn, 250 km ö. von Moskau, für 3.000–6.000 Insassen und schließlich – „Oransk“ auf dem Gelände des früheren Oransker Klosters beim Bahnhof Zimenkij an der Bahn Moskau–Kazan’ für 2.000–4.000 Insassen. Ziel und Aufgabe der UPVI sollte es im Wesentlichen sein, die Kriegsgefangenen und Internierten, die in vorgeschobenen, meist Front-Sammelstellen erfasst wurden, den stationären Lagern zuzuführen, diese nach dem Eintreffen in den Lagern zu übernehmen und zu registrieren, ihre Mindestversor-
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RGVA, F. l/p, op. 37a, d. 1. Den Lagern wurden im Befehl 0308 noch keine Nummern zugewiesen. Zu den Angaben der erschossenen Polen in den Lagern vgl. neuerdings auch : Katynskoe delo. Možno li postavit’ točku ?, in : Voennye archivy Rossii 1/1993, S. 127 (aus der Sondermappe Chruščevs).
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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gung zu gewährleisten und die Kriegsgefangenen und Internierten möglichst bald in einen Arbeitsprozess einzugliedern. Die Lager Starobel’sk, Kozel’sk und Ostaškov dienten vor allem der Aussortierung von Offizieren, Polizisten, Feldgendarmen, Militärrichtern und Geheimdienstleuten. Zur besseren Filtration und nachfolgenden „Betreuung“ der Kriegsgefangenen wurden innerhalb der UPVI neben einer politischen und der Personal-Abteilung noch vier weitere Abteilungen (1 : Lagerregime und Bewachung, 2 : Standesführung, 3 : Versorgung, 4 : Sanität) gebildet.8 Diese Struktur diente zunächst der Erfassung der polnischen, später der finnischen Kriegsgefangenen und blieb im Wesentlichen bis zum Juni 1941 bestehen, wenngleich vier Kriegsgefangenen-Lager zwischenzeitlich ausgetauscht worden waren.9 Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden – gemäß dem Mob-Plan des GULAG – sofort 30 Aufnahme-Lager im Gebiet zwischen Zentralrussland und der Westfront, vor allem in der Ukraine und in Karelien, errichtet, die allerdings sehr rasch von der deutschen Wehrmacht überrannt wurden. Bereits einen Monat nach Kriegsbeginn existierten nur noch 19 von ihnen. Ähnlich war es mit den stationären Kriegsgefangenen-Lagern : im August 1941 existierten von acht lediglich noch drei mit einer angegebenen Aufnahmekapazität von 8.000–9.000 Kriegsgefangenen.10 In dieser Phase des raschen Vormarsches der deutschen Truppen gegen Moskau, Leningrad und den Donbas führte die UPVI ein Schattendasein : Die geheimdienstliche und geheimpolizeiliche Arbeit unter den Kriegsgefangenen oblag der 2. Verwaltung des NKVD (Gegenspionage), ein Politapparat zur politischen Arbeit in den Lagern fehlte vollständig, die Versorgung der Lager hatte auf allen Linien der GULAG übernommen. Der gesamte Stab der
8 Vgl. ebd., op. 23 a, d. 1, Histor. Abhandlung. Streng geheim. Die politische Abteilung wurde allerdings bereits 1940 wieder aufgelassen, sodass es etwa zu Kriegsbeginn 1941 in der UPVI keinen Politapparat für eine politische Arbeit unter den Kriegsgefangenen und Internierten gab. 9 Zu Kriegsbeginn 1941 gab es folgende acht Kriegsgefangenen-Lager der UPVI-Verwaltung : „Grjazovec“ im Gebiet Wologda, „Suzdal“, „Juchnov“ und „Kozel’sk“ im Smolensker Gebiet, „L’vov“ in Lemberg, „Starobel’sk“ im Gebiet von Vorošilovgrad, „Kozel’ščino“ im Raume von Poltava und „Putivl’“ im Sumsker Gebiet mit einem Fassungsvermögen von zusammen 40.000 bis 45.000 Kriegsgefangenen. Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd. Es handelte sich dabei um die Lager in Grjazovec, Suzdal’ und Starobel’sk. Zum Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion vgl. auch die Literatur, die vom Plan eines vorbereiteten Präventivschlages durch Stalin spricht. Dazu jüngst von sowjetischer Seite : Jurij A. Gor’kov, Gotovil li Stalin upreždajuščij udar protiv Gitlera v 1941 g., in : Novaja i novejšaja istorija 1993, H. 3, S. 29–45, der einen geplanten Präventivschlag Stalins gegen das Deutsche Reich ausschließt.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
UPVI zählte kaum 39 Mitarbeiter.11 Ein neuerlicher Versuch, das Lagernetz der UPVI zu erweitern, schlug noch vor dem Winter 1941 aufgrund des Vormarsches der deutschen Wehrmacht fehl. Eine entscheidende Wende erfuhr die Organisation der UPVI erst mit dem 1069. Beschluss des staatlichen Verteidigungskomitees (GOKO) vom 27. Dezember 1941,12 der die Integration von 26 Lagern von „besonderer Bedeutung“ (Speziallager) im System der UPVI vorsah. Da der deutsche Vormarsch vor Moskau ins Stocken geraten war, gelang es im Spätherbst der Roten Armee, Tausende ehemalige Rotarmisten, die von der deutschen Wehrmacht gefangen gehalten wurden oder zu ihr übergelaufen waren, zu fassen. Die geheimdienstliche Überprüfung, Filtration und spätere Verurteilung der meist als Deserteure, Spione und Vaterlandsverräter bezeichneten Sowjetbürger (meist zu zehn Jahren und fünf Jahren Schweigezeit) nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR (Artikel 58/1 b) geschah bis zum Juli 1944 in den Spezial-Lagern der UPVI.13 Wegen Kompetenzproblemen und Unzulänglichkeiten bei der Erfassung der Kriegsgefangenen in den Aufnahmepunkten im Hinterland der Front wurden im Juni 194214 zusätzlich Durchgangs- und Verteilungslager (lagerja raspredeliteli) eingerichtet (siehe im Detail weiter unten). Die Erfolge der sowjetischen Armeen an der Voronež, der Südwest- und der Don-Front im Herbst 1942 führten zu einem ersten großen Zufluss von Kriegsgefangenen der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten (etwa 30 Nationalitäten) in die nun sehr rasch überbelegten UPVI-Lager. Die Neuerrichtungen konnten mit dem Bedarf nicht Schritt halten. Hatte es zu Jahresbeginn 1942 nur sechs Kriegsgefangenenlager gegeben, so stieg ihre Zahl binnen eines Jahres auf 30,15 die Zahl der Aufnahmelager an der Front auf 44 an.16 Noch im Laufe des Jahres 1942 hatte man – entsprechend dem steigenden Angebot an Kriegsgefangenen-Arbeitskräften – der UPVI eine Produktionsabteilung gegeben. Sie sollte die Arbeitsleistung der Kriegsgefangenen für die Sowjetunion regeln und überwachen. Fast gleichzeitig inszenierte man unter den Kriegsgefangenen eine stärkere geheimdienstliche Tätigkeit. Die dazu 11 Vgl. RGVA, F. 1/p, op. 23 a, d. 1, Histor. Abhandlung. Streng geheim. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. auch Solzhenicyn, GULAG I, S. 230f. und den Lager-Bestand des RGVA, F. 1/p. Mit NKVD-Befehl vom 19.7.1944 wurden diese Spezial-Lager in das System des GULAG überstellt. 14 Vgl. Befehl Nr. 001156 vom 5.6.1942 des NKVD der UdSSR, in : RGVA, F. 1/p, op. 23a, d. 1. 15 Ebd. Von den 24 neu eingerichteten Lagern waren neun Durchgangs- und 15 stationäre Lager für „gewöhnliche“ Kriegsgefangene. 16 Stand vom 1.1.1943 ; vgl. ebd.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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noch vor Jahresende 1942 gegründete „Operative“ Abteilung der UPVI (später „operativ-tschekistische“ Abteilung) hatte für die einzelnen gefangenen Nationalitäten eigene Unterabteilungen :17 Die erste für die „Deutschen“ (inklusive der Österreicher, Südtiroler und „Volksdeutschen“), die zweite für die Rumänen, die dritte für die Italiener, die vierte für die Ungarn, die fünfte für die Finnen und anderen Nationalitäten. Mit der Wende des Krieges in Stalingrad und dem sukzessiven Rückzug der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten 1943 nahm die Zahl der aktenmäßig feststellbaren Kriegsgefangenen rapide zu, obwohl knapp die Hälfte der Kriegsgefangenen in den stationären Lagern gar nicht mehr registriert werden konnte :18 Sie waren zwischen ihrer Gefangennahme und der Registrierung im stationären Lager ums Leben gekommen, verhungert, erfroren, total erschöpft (allein zwischen 3. Februar und 10. Juni 1943 waren im Lager Beketovka bei Stalingrad 27.078 Kriegsgefangene – die Hälfte der Lagerinsassen – verstorben), schwerst verwundet oder weil die entsprechende kämpfende Einheit der Roten Armee keine Gefangenen machte, kurzerhand erschossen worden. Im Lazarett 283 bei Dubovka im Raume Stalingrad starben noch im Juni 1943 täglich 18 Kriegsgefangene, 1,3 Prozent der Lagerinsassen. „Das unzulängliche Netz an Kriegsgefangenenlagern, die ungenügenden Bedingungen ihrer Gefangenschaft, das geschwächte und bis zum äußersten erschöpfte Kontingent an Kriegsgefangenen, die aus den umliegenden Einheiten der feindlichen Armeen bei Voronež und Stalingrad in die Lager kamen“,19 wurde intern als Begründung für eine Neustrukturierung der UPVI angeführt. Das weiterführende Ziel, in kurzer Zeit einsatzfähige Arbeiter in beinahe jeder gewünschten Zahl zu erhalten und diese für den Wiederaufbau im Lande einzusetzen, wurde hier zwar nicht explizit genannt, lässt sich aber aus den ergriffenen Maßnahmen leicht ableiten.
17 Vgl. ebd. und Erlässe in : RGVA, F. 1 /p, op. 37 a, d. 1. 18 Die erschreckenden Zahlen für Stalingrad etwa gibt Vladimir P. Galickij, Tarn, v Bekeeovke, pod Stalingradom, in : Voennoistoričeskij žurnal 1993, H. 2, S. 18–22, hier S. 20, an. Auch von den durch die Rote Armee gefangen genommenen, geschätzten 200.000–250.000 österreichischen Kriegsgefangenen waren nur rund 126.000 in den Lagern registriert worden. Vgl. meine EDV-Erhebung der österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in der ehemaligen Sowjetunion nach 1941, Anm. 1. Zu den Stalingrader Lagern vgl. jüngst auch : Alexander E. Epifanov, Sščet za Stalingrad, Wolgograd 1993 ; und Stefan Karner, Die Lagergruppe Stalingrad. Referat am Folgetreffen der Intern. Working Group on POWs. Innsbruck 1993. 19 RGVA, R1/p, op. 23a, d. 1.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Vordergründig ging es bei der Neustrukturierung der Hauptlagerverwaltung um eine bessere Koordinierung zwischen UPVI, dem NKVD und den Stäben der Roten Armee zur effizienteren Rekrutierung der Gefangenen aus dem Bereich der unmittelbaren Frontzone in die Aufnahmelager des NKVD, um eine deutliche Erweiterung des Lagernetzes und des Personalstandes der UPVI-Hauptverwaltung, um die Einrichtung entsprechender Spitäler und Lazarette und eine straffere Kontrolle der Lager und Lagerleiter durch das NKVD. Dazu wurde im Einzelnen festgelegt :20 – Die Organisierung des Frontnetzes an Lagern und Punkten in Aufnahmeund Sammelpunkten sowie Front-, Aufnahme- und Durchgangslagern (PPV, SPV und FPPL) durch das NKVD. – Eine ständige Verbindung zwischen UPVI und den Armeestäben. – Die Hilfe der Roten Armee beim Transport der Kriegsgefangenen vom Frontnetz bis zu den stationären Lagern der UPVI und Spezialspitälern des NKO. – Die Anweisung an die Kommandierenden der Fronten, eine rasche Weiterleitung der Kriegsgefangenen zu gewährleisten.21 Damit sollte die UPVI des NKVD direkt hinter den Fronten tätig werden, die ungefähre Anzahl der erwarteten Gefangenen feststellen, den Einsatz von Sanitätern fordern und die Transporte mitorganisieren (sowohl Fußmärsche als auch Eisenbahn-Transporte), Gleichzeitig wurde ein Netz von Sonderspitälern („Spezgospitali“) zur Behandlung verwundeter und kranker Kriegsgefangener eingerichtet22 und mit den entsprechenden Instruktionen versehen, zumal die Sonderspitäler des NKO auch an Instruktionen des Gesundheitsund Innenressorts gebunden waren, was laufende Kompetenzprobleme geradezu herausforderte. Innerhalb der eigentlichen UPVI-Hauptverwaltung wurde eine weitere Abteilung für „materiell-technische Ausrüstung“23 installiert, wurden die Verwaltungen und einzelnen Lager mit einheitlichen Formularen und Stempeln ausgerüstet, wurde eine Abgleichung der Schnell-Berichte der Lager an die Zentrale vorgenommen, die Ordnung für die kriegsgefangenen Generäle und Offiziere ausgearbeitet und hinter jeder Front zumindest ein Aufnahme- und Durchgangslager sowie ein Sammelpunkt eingerichtet.24 Neben der 20 Vgl. vor allem die Befehle des NKVD Nr. 00345 vom 18.2., Nr. 0049 vom 12.1. und Nr. 00367 vom 24.2.1943, in : ebd. 21 Befehl des NKO 001-1943, in : ebd. 22 Befehl Nr. 00438 des NKVD der UdSSR vom 6.3.1943, in : ebd. 23 Befehl Nr. 00616 des NKVD der UdSSR vom 30.3.1943, in : ebd. 24 Befehl Nr. 001575 des NKVD der UdSSR vom 26.9.1943, in : ebd.
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Neuerrichtung von Lagereinheiten kam durch die laufenden Frontverschiebungen nach Westen der örtlichen Verlagerung von bestehenden Lagern und Lagerverwaltungen große Bedeutung zu. Grundsätzlich waren die einzelnen Lager der UPVI in Lagerverwaltungen organisiert worden. Große Lagerverwaltungen, wie Kiew, hatten zeitweise bis zu 40 Lager, diese wiederum zahlreiche Filialen. Das spätere Hotel „Peking“ am Moskauer Gartenring war etwa eine Filiale des Krasnogorsker Lagers 27, ebenso das Moskauer Stadion Dynamo am Leningrader Prospekt. Einzellager sowie Filialen konnten bisweilen Hunderte Kilometer voneinander entfernt sein. Allein im Jahr 1943 wurden acht bestehende stationäre Lagerverwaltungen für Kriegsgefangene verlagert und 540 Übersiedlungen von Aufnahmelagern durchgeführt. Zahlreiche ehemalige Kriegsgefangene berichten in diesem Zusammenhang, dass vielfach die Lager von den Kriegsgefangenen selbst angelegt werden mussten. Oft hausten die Kriegsgefangenen bis zur Errichtung der ersten Baracken in selbst gegrabenen Erdlöchern. Teilweise bestätigen die internen UPVI-Berichte diese Angaben. Wie die Tabelle 1 ausweist, verfügte die UPVI zu Jahresende 1943 insgesamt bereits über mehr als 40 Lagerverwaltungen, wozu noch das Frontlagernetz und Speziallager kamen.
Tabelle 1 : Das Netz der UPVI-Lager und Verwaltungen zu Jahresende 1943. Art der Lager
Anzahl
Zuwachs 1943 18
Stationäre Lagerverwaltungen
40
Darunter für : Offiziere
6
2
Mannschaften
34
16
Frontnetz Darunter : FPPL
12
3
Aufnahmepunkte f. Kgf. (PPV)
66
22
Sammelpunkte f. Kgf. (SPV)
20
20
(spät. antifaschistische Schulen)
4
4
Spezial-Lager
14
5
„Operative Objekte“
Quelle : Nach RGVA, F. 1/p, op. 23 a, d. I.
Noch während des Jahres 1943 hatte man teilweise damit begonnen, die Kriegsgefangenen getrennt nach Offizieren, Generalen und Mannschaften bzw. Unteroffizieren, teilweise sogar nach Nationalitäten, unterzubringen (siehe dazu Tabelle 1 und 2). So kamen etwa Italiener bevorzugt aus den kal-
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
ten, nördlicheren Regionen nach Süd-Kasachstan (Lager Pachta-Aral’skij), nach Usbekistan (Lager Andižan) oder nach Mordowien (Lager Pot’ma), Franzosen nach Tambov. Offiziere der deutschen Wehrmacht kamen vornehmlich nach Elabuga in Tatarstan, rumänische Offiziere nach Oransk im Gebiet von Gorkij und italienische Offiziere nach Suzdal’, östlich von Moskau.25 Selbstverständlich hatte man sich von dieser Zusammenfassung einzelner Gruppen auch eine Erleichterung der politischen und geheimdienstlichen Arbeit unter den Kriegsgefangenen erwartet. Auch muss betont werden, dass sich die Sowjetunion in Fragen der Behandlung der Kriegsgefangenen nur in Ausnahmefällen an die entsprechenden Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 hielt, obwohl im streng vertraulichen Bericht über die Tätigkeit der UPVI für die Jahre 1941 bis 1944 ausdrücklich festgehalten wurde, dass die Kriegsgefangenen – obwohl die Sowjetunion die Genfer Konvention nicht ratifiziert hatte – auf dem in Genf vereinbarten minimalen Standard gehalten würden.26 In diesem Zusammenhang muss allerdings nachdrücklich auf das mindestens ebenso schwere Schicksal der sowjetischen GULAG-Häftlinge, Gefängnis insassen und Repressierten sowie ausländischen verurteilten Zivilisten hingewiesen werden. Ihnen wurden zumeist – wie auch Kriegsgefangene immer wieder berichten – selbst die Minimalrationen und die Minimalbehandlung der Kriegsgefangenen vorenthalten. Ähnliches galt in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren auch für größere Teile der Zivilbevölkerung. Durch die teilweise versuchte gruppenweise und nationale Zusammenlegung der Kriegsgefangenen in den Lagern tat man sich mit der Disziplin schwerer. Allein im Jahre 1943 hatten in den Lagern, gemäß den Angaben der UPVI, 3,5 Prozent der Kriegsgefangenen Vergehen gegen die Lagerordnungen begangen, die großteils hart bestraft wurden. Die Mehrzahl der Vergehen waren aus sowjetischer Sicht : Stehlen, Vergehen gegen die innere Ordnung, Arbeitsverweigerungen und Simulierungen. Daneben gab es zahlreiche Vergehen wegen „faschistischer Agitation“, „provokativer Gerüchte“, Aufbewahrung verbotener Gegenstände wie von Messern, Gabeln, Rasierklingen oder Waffenteilen.27 Die UPVI reagierte mit einer entsprechenden
25 Ebd. 26 Vgl. ebd. d. 2. Zu den Kriegsverbrechen der Roten Armee an Soldaten der deutschen Wehrmacht vgl. neuerdings : Anatolij Jakuševskij, Rasstrel v klevernom pole, in : Novoe vremja 25/1993, S. 40f. 27 Vgl. RGVA, F. 1/p, op. 23a, d. 2 und op. 34a, d. 1. Insgesamt gab es in den UPVI-Lagern im Jahr 1943 3.732 Einzelvergehen gegen die Lagerordnungen. Unter Zugrundelegung dieser Angaben sowie der Größenangabe von 3,5 Prozent darf für 1943 von rund 100.000 im sowjetischen Gewahrsam befindlichen, registrierten Kriegsgefangenen ausgegangen werden.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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Verstärkung der Bewachungsmannschaften, sodass zu Jahresende 1943 auf zehn Kriegsgefangene bereits im Schnitt ein Wachsoldat (Innere Streitkräfte des NKVD) gekommen war, was das Budget der Lager weiter schwer belastet hatte ; nahezu alle Lagerhaushalte mussten defizitär bilanzieren. Zusätzlich hatte man in einem Umkreis von 100 km vom Lager Spezialeinheiten postiert, bis 1. März 1944 waren es immerhin bereits 11.126 Mann, die Flüchtende einfangen und zurückführen sollten. Oft verhalfen jedoch eher die unwirtlichen Wetterbedingungen den Wachmannschaften zu Erfolgen. So war etwa in der Lagerverwaltung 362 (Stalingrad) im Winter die Fluchtrate gleich null.28 Der Erfolg der organisatorischen Maßnahmen selbst ließ jedenfalls zu wünschen übrig : So konnten – nach Angaben der Hauptverwaltung unter dem neuen UPVI- Chef Ivan A. Petrov, einem früheren Frontoffizier – im 1. Vierteljahr 1944 in allen Lagern bloß 26 flüchtende Kriegsgefangene gestellt werden.29 Zusätzlich zu einer aufgefächerten Verwaltungsstruktur wollte das NKVD auch durch eine stärkere persönliche Verantwortlichkeit die Lager besser kontrollieren. Im Juni 1943 unterstellte daher der stellvertretende NKVD-Chef der UdSSR, Kruglov, dem Leiter der UPVI-Hauptverwaltung, Petrov, persönlich haftende Stellvertreter mit den im Anhang 1 ausgewiesenen Lagerverwaltungsbereichen.30 Sie hatten regelmäßig über ihre Bereiche und Lager Bericht zu erstatten, wie auch nunmehr regelmäßig Offiziere der UPVI-Zentrale Kontrollen in den Lagern und Lagerverwaltungen durchführten.31 Das Zurückdrängen der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten aus dem Gebiet der Sowjetunion im Laufe des Jahres 1944 bedeutete für Hunderttausende ihrer Soldaten den Weg in die sowjetische Kriegsgefangenschaft : Um siebenmal mehr als in den Jahren 1942 und 1943 zusammen, will man den sowjetischen Angaben Glauben schenken.32 Die UPVI, eben erst neu organisiert, war auf einen derart gewaltigen Ansturm keineswegs vorbereitet. Es mangelte nahezu an allem : an Unterbringungsmöglichkeiten, Lebensmitteln, 28 Vgl. ebd. op. 34 a, d. 1. Zur Bedeckung der Wachmannschaften in den Lagern wurde beim Lager 27 in Krasnogorsk ein eigenes Bataillon zur Schulung von 500 Wachsoldaten, die man aus ehemaligen Angehörigen der Roten Armee rekrutiert hatte, aufgestellt. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd. op. 23 a, d. 2. Kruglov war 1943 Kommissar 2. Ranges der sowjetischen Staatssicherheit. 31 Vgl. ebd. d. 1. Der zusammenfassende UPVI-Bericht für 1943 spricht in diesem Zusammenhang davon, dass diese Maßnahmen in den Lagern „zu Ordnung führten und sich Regime und Bewachung ständig festigen“. 32 Vgl. ebd.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Medikamenten, Transportmitteln und Bekleidung.33 Dabei bedurften rund ein Drittel der gefangen genommenen Soldaten ärztlicher Behandlung. Vier Fünftel der Toten der kalten Monate Januar und Februar 1944 starben in den Sonderspitälern an Dystrophie (Auszehrung, Hunger) und TBC. Es folgten Herzbeschwerden und Flecktyphus als weitere häufigste Todesursachen.34 Als Sofortmaßnahme wurde die Anzahl der Lagerverwaltungen und Lager, zumindest auf dem Papier, deutlich erhöht : Von 52 Lagerverwaltungen zu Jahresende 1943 auf 156 zu Jahresende 1944 ; dazu auch die Zahl der Frontlager und Aufnahmepunkte,35 was eine Gesamtkapazität der UPVI-Lager zu Jahresende 1944 von rund 905.000 Personen ergeben sollte. Dabei hatte die UPVI erstmals bereits Lager außerhalb des Territoriums der Sowjetunion, vor allem in Polen, im Baltikum und in Rumänien errichtet. Gleichzeitig sollte ein Befehl des Volkskommissars für Verteidigung36 verhindern, dass den gefangenen Soldaten weiterhin willkürlich notwendigste Utensilien wie Kleidung und Schuhwerk, aber auch Wertgegenstände weggenommen wurden. Weitere Erlässe des NKVD suchten die Vorräte an Bedarfsgegenständen für die Kriegsgefangenen zu verdoppeln, die Transportbedingungen zwischen den Lagern zu verbessern, den Bestand an Medikamenten und Lebensmitteln zu erhöhen, den Wirtschaftsapparat der UPVI nach militärischen Richtlinien zu organisieren sowie eine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Sonderspitäler zu erreichen. Dies alles wohl auch in der Absicht, bald möglichst viele Kriegsgefangene als Arbeiter bei diversen Projekten einsetzen zu können. Hatte man doch schon im Februar 1944 innerhalb der UPVI eine neue und für die weitere Verwendung der Gefangenen richtungweisende Abteilung für „Bau- und Arbeitseinsatz“ begründet.37 Die meisten der auf dem Papier nachweisbaren Bemühungen dürften sich allerdings kaum auf der Ebene der Einzellager ausgewirkt haben. Zu eklatant erscheint die Diskrepanz zwischen Anordnung und Umsetzung. In das Jahr 1944 fiel auch die endgültige Neu- und Umbenennung der durch das NKVD errichteten Lagerpunkte und Lagerteile in Lager („Lagerabteilungen“) und damit ihre Unterstellung unter stationäre Lagerverwaltungen. Die UPVI gliederte nun alle stationären Lager hierarchisch in Lager-Verwaltungen (lagupravlenija) und Lager-Abteilungen (lagotdelenija). Für die Kriegsgefangenen hatte diese seit 1942/43 de facto existente strukturelle Glie-
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Dies geht aus nahezu allen Berichten der Einzellager hervor. Vgl. RGVA, F. 1/p, op. 23a, d. 2. Vgl. ebd., d. l. Vgl. den Befehl Nr. 098 vom 23.4.1944, in : ebd. Vgl. den Befehl des NKVD Nr. 00143 vom 12.2.1944, in : ebd.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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derung praktisch keine Bedeutung, sie wurde zumeist von ihnen nicht einmal wahrgenommen.38 Zu Jahresbeginn 194539 schließlich wurden mit der Umbenennung der UPVI in die GUPVI auch die Struktur der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte des NKVD der UdSSR erweitert und in allen Republiken und Gebieten „Filialen“ (OPWI) eingerichtet sowie die Zentrale – neben den zwei Hauptverwaltungen – kurzzeitig in bis zu zehn Abteilungen geteilt : Allgemeines, Regime und Bewachung, Arbeitseinsatz, Sanität, Unterkunftswesen, materiell-technische Ausrüstung, Front, Internierten-Angelegenheiten, operativ-geheimdienstliche Belange (zur Herausfilterung als Kriegsverbrecher eingestufter Kriegsgefangener) sowie Standesführung. Mit dem gleichen Befehl wurden die Sonderspitäler des Volkskommissariats für Verteidigung sowie die Internierten-Bataillone den NKVDs der Republiken und den Leitern der NKVD-Verwaltungen in den Gebieten territorial unterstellt. Nur einen Monat später, im Februar 1945, wurde die GUPVI wiederum umstrukturiert. Sie bestand nunmehr aus drei Verwaltungen und sechs selbstständigen Abteilungen und beschäftigte in der Moskauer Zentrale unter ihrem nunmehr dritten Chef Michail S. Krivenko knapp 300 Mitarbeiter :40 1. Verwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen 2. Verwaltung für Angelegenheiten der internierten und mobilisierten Deutschen 3. Operativ-geheimdienstliche Verwaltung (früher : Abteilung) Sechs selbstständige Abteilungen für : – Bewachung und Regime – Sanität – Versorgung – Unterkunftswesen – Kader – Politische Fragen Veterinärdienst In den letzten Monaten des Krieges machte die Rote Armee die höchste Anzahl an Kriegsgefangenen. Allein nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht sollten die sowjetischen Frontlager 1,3 Millionen Kriegsgefangene unterbrin38 Vgl. ebd. Zahlreiche Gespräche mit ehemaligen Kriegsgefangenen. 39 Vgl. ebd. 40 Dazu und zum Folgenden : Befehl des NKVD Nr. 00100 vom 20.2.1945, in : ebd. Krivenko war bis zum 8.3.1947 GUPVI-Chef.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
gen. Kurzfristig befanden sich in den Frontlagern insgesamt bis zu 1,5 Millionen Kriegsgefangene. Zur Aufnahme dieser Kriegsgefangenen gab es im vorgeschobenen Frontsystem 172 Lagerpunkte und -Verwaltungen, unter denen 34 FPPL, 56 SPV und 72 PPV sowie Abteilungen für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen beim Kommando der Hinterland-„Fronten“ waren.41 Die Verfrachtung einer derart großen Zahl von Kriegsgefangenen in die stationären Lager der GUPVI-Verwaltung dauerte einige Monate und war nach sowjetischen Angaben erst am 1. November 1945 abgeschlossen. Während dieser Zeit starben Tausende an Erschöpfung, Hunger und den verschiedensten Krankheiten. Zusätzlich zur Ausweitung des Frontlagernetzes in der Nord-, Zentral- und Südgruppe der Fronten wurden per Erlass des Verteidigungs- und Innenministeriums vom 4. Juni 1945 die ersten Kriegsgefangenen über die Sammelpunkte Frankfurt a. d. Oder, Fürstenwalde, Nordt, Pirna in Deutschland sowie Sopron und Szeged in Ungarn repatriiert. Es waren dies einfache Soldaten und Unteroffiziere verschiedener Nationalitäten, mit Ausnahme deutscher Kriegsgefangener der Arbeitstauglichkeitsgruppen 1 und 2 (voll arbeitsfähig). Für weitere Repatriierungen wurden im Bereich der früheren sowjetischen Fronten, und zwar im Bereich der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland sowie im Bereich der Südgruppe der sowjetischen Armeen in Rumänien, zwei NKVD-Abteilungen für Kriegsgefangenenfragen eingerichtet. Außerdem drei Lager : in Frankfurt/Oder (Lg. Nr. 69), in Focşani (Lg. Nr. 176) und in Sighetu Marmuţiei/Máramarossziget (Lg. Nr. 36). Mit 8. August 1945 hatte die Sowjetunion, entsprechend der Beschlüsse der Jalta-Konferenz, auch Japan den Krieg erklärt, hier waren bei einem positiven Ausgang in einem Geheimabkommen Südsachalin, die Kurilen sowie der Status quo in der Äußeren Mongolei, Anrechte in der Inneren Mongolei sowie an pazifischen Häfen zugesichert worden. Im Zuge des Einmarsches der Sowjettruppen in der Mandschurei gelang den Sowjets die Gefangennahme Hunderttausender Japaner. Rund 520.000 von ihnen wurden nach der Kapitulation Japans Ende August 1945 in die GUPVI-Lager im Fernen Osten, nach Sibirien und Mittelasien (Gebiete Primorje, Chabarovsk, Krasnojarsk, Altai, Tschita, Irkutsk, Ost-Kasachstan, Süd-Kasachstan, Džambul, Burjat Mongolei, Usbekistan und an der BAM) sowie teilweise in europäische Regionen der UdSSR gebracht. Die Japaner erhielten in der Regel eigene Lager zugewiesen und kamen mit den Kriegsgefangenen der anderen Staaten kaum in Berührung. Eine Ausnahme bildeten lediglich wenige Lager in Kasachstan und Krasnogorsk, wo bis zu 3.000 Japaner untergebracht worden waren.42 41 Vgl. ebd. und Berichte von heimgekehrten Kriegsgefangenen. 42 GOKO-Anweisung Nr.989ss vom 23.8.1945, in : ebd. Zum militärischen Umfeld des
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Trotz der ersten Repatriierungswelle ab Mai 1945 waren aus dem System der Frontlager rund 1.023.000 Kriegsgefangene in das Innere der Sowjetunion verfrachtet worden. Sie sollten – gemäß einem internen Schlüssel – auf die einzelnen Republiken und Gebiete aufgeteilt werden. Dazu wurden bis Jahresende 1945 weitere 222 stationäre GUPVI-Lagerverwaltungen mit 2.713 Lagern neu gegründet und aus den verschiedensten Gründen 99 Lagerverwaltungen mit 1.080 Lagern aufgelöst.
Tabelle 2 : Bestand an GUPVI-Lagerverwaltungen 1945 in der UdSSR. Bestand 1.1.1945
Bestand 1.1.1946
Zuwachs 1945
1. Kriegsgefangenenlagerverwaltungen
156
267
111
dav.: für Offiziere
6
11
5
Bezeichnung
für deutsche Kgf.
138
199
61
für japanische Kgf.
0
49
49
gemischte 2. „Operative Objekte“ (späterAnti faschistische Schulen)
0
8
8
4
6
2
Quelle : RGVA, E 1/p, op.23 a, d. 1.
Das Front-Lagernetz, die Aufnahmepunkte, die Sammelpunkte und die Frontaufnahme-Durchgangslager (FPPL), wurde bis Jahresende 1945 im Wesentlichen aufgelöst und die Mannschaften in die UdSSR, großteils in den Osten der Union, überstellt. Damit umfasste zu Jahresende 1945 das gesamte Lagersystem der GUPVI insgesamt 267 Lagerverwaltungen mit rund 3.200 angeschlossenen, stationären Lagern.43 Die GUPVI-Lager wurden generell so angelegt, dass man die Kriegsgefangenen „optimal“ und ohne Transportverluste in der Industrie, an den verschiedensten Baustellen, beim Torfstechen, im Wald, im Bergbau, als Holzarbeiter, beim Wiederaufbau von während des Krieges zerstörten Städten und
kurzen Krieges der Sowjetunion gegen Japan vgl. neben der umfangreichen militärgeschichtlichen Literatur zum Zweiten Weltkrieg bzw. zum „Großen Vaterländischen Krieg“ u. a.: SSSR i Japonija. Moskau 1987. 43 Vgl. RGVA, F. t/p, op. 23 a, d. 1. Pro Lagerverwaltung kann ein Netz von durchschnittlich zwölf Lagern angenommen werden. Dieser Durchschnittswert geht aus den Beständen der Lager-Beschreibungen im RGVA hervor.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
in anderen Zweigen der sowjetischen Wirtschaft einsetzen konnte.44 Nahezu jedes Lager verfügte daher über einen Bahnanschluss. War ein Bauvorhaben beendet oder waren die Aufträge und Verträge, die von der Lagerverwaltung mit Unternehmen abgeschlossen worden waren, erfüllt, kam es nicht selten vor, dass ein Lager kurzfristig verlegt, mit anderen zusammengelegt oder geschlossen wurde. Dieser Umstand erschwert auch eine exakte Angabe des Bestandes an Lagern zu einem bestimmten Zeitpunkt. Außer in stationären Lagern der Lagerverwaltungen wurden Kriegsgefangene und Internierte noch in anderen Lagern bzw. lagerähnlichen Einrichtungen der GUPVI interniert. Neben den in erster Linie für sowjetische Bürger vorgesehenen und schon erwähnten Speziallagern waren dies insgesamt – 235 Arbeitsbataillone für Internierte (RB) und – 258 Spezial-Spitäler. Nicht mehr zum System der GUPVI, sondern zu anderen Institutionen des stalinistischen Terrorapparates zählten organisatorisch die 245 Arbeitssonderbataillone (ORB), die sich im System des Ministeriums der Streitkräfte befanden, sowie die 25 Evako-Spitäler, die Besserungsarbeitslager (ITL, die vielfach in der deutschsprachigen Literatur als Strafarbeitslager bezeichnet werden), die Besserungsarbeitskolonien (ITK), die Politisolatoren und Gefängnisse, die dem GULAG des NKVD, dem Justizministerium und dem KGB unterstanden. Kriegsgefangene wurden in diese Einrichtungen nur nach Verurteilungen oder zur U-Haft eingewiesen. Zivilgefangene und Zivilinternierte wurden praktisch ausschließlich innerhalb dieses Systems festgehalten. Die GUPVI hatte in diesen Lagern allenfalls Teil-Kompetenzen erhalten. Standorte wie Workuta, Kolyma, Karaganda, Pot’ma, Wladimir oder die Lubjanka (das „Innere Gefängnis“ des KGB in Moskau) gelten bis heute als Synonyme für Außenstellen des KGB und des GULAG.45
44 Die arbeits- und auftragsbedingte Anlage der Kriegsgefangenenlager erfolgte auf Basis der Anweisungen 1.084–268 des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 14.5.1945, 7.712, 7.958 und 8.921 des GOKO aus dem Frühjahr 1945 sowie der Befehle des NKVD der UdSSR ; vgl. ebd. sowie zur Arbeitsleistung der Kriegsgefangenen für die Wirtschaft der UdSSR Stefan Karner, Prisoners of War in the Economy of the Former Soviet Union : 1941–1945, in : University of Economics (Hg.), The System of Centrally Planned Economies in Central-Eastern and South-Eastern Europe after World War II and the Causes of its Decay. Eleventh International Economic History Congress. Prague 1994, S. 175–199. 45 Eigenerhebung im Bereich der Lagerverwaltungen, in : RGVA, F. 1/p, op. 23a, d, 1 ; vgl. Bährens, Deutsche in Straflagern, VI, S. 61f., der in diesem Zusammenhang auch von „Straflagern“ spricht.
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Kriegsgefangene ohne Verurteilung wurden an sich von diesen Lagern lediglich seit 1945 in den Arbeitssonderbataillonen (ORB) im Bereich des Volkskommissariats/Ministeriums für Streitkräfte/Verteidigung (NKO) festgehalten. Neben rund 70.000 Japanern waren dies knapp 160.000 Kriegsgefangene46 westlicher Nationalitäten. Sie wurden dort sowie in einzelnen sowjetischen Truppenkörpern zu Arbeiten am Bau und an anderen Projekten eingesetzt. Dazu waren sie in Arbeitssonderbataillonen (ORB) zusammengefasst, von denen sich 32 in der Ukraine (mit 32.204 Kriegsgefangenen), 15 in Litauen (mit 11.477 Kriegsgefangenen), 14 im Gebiet von Moskau (mit 11.052 Kriegsgefangenen) und 11 in Weißrussland (mit 9.030 Kriegsgefangenen) befanden. Dazu kamen noch 18 weitere ORB in anderen Gebieten, sodass Mitte November 1945 insgesamt 92.314 Kriegsgefangene westlicher Nationalitäten direkt im Verteidigungsbereich der UdSSR arbeiteten. Der Rest von 66.868 Kriegsgefangenen arbeitete im Bereich der Verwaltungen der 3. Weißrussischen Front (13.903), der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und in Berlin (5.200), der Nordgruppe der Streitkräfte (39.836) sowie der Südgruppe der Streitkräfte (7.929).47 Jedes Arbeitssonderbataillon hatte eine Stärke von 500 bis 1.000 Mann, drei Kompanien, jede Kompanie drei Züge, jeder Zug vier Abteilungen. Der Mitarbeiterstab sollte, nach einer von Marschall Vasil’evskij unterschriebenen Weisung, 59 Personen umfassen, unter ihnen 15 Offiziere ; ein Lazarett für zehn Betten sollte ebenfalls angeschlossen werden. Lediglich der operative Bevollmächtigte („Oper“) und der operative Dolmetsch der ORB unterstanden ausschließlich dem NKVD, wie überhaupt das NKVD über seine GUPVI und deren periphere Organe die politisch-geheimdienstliche „Arbeit“ in den Arbeitssonderbataillonen durchführte. Bei einer ersten Überprüfung der Arbeitssonderbataillone durch das NKVD im Oktober 1945 wurden schwerste organisatorische Mängel festgestellt. Der Kriegsgefangenenstand war – offensichtlich aufgrund von zahlreichen Todesfällen – innerhalb von wenigen Monaten um rund 18.000 zurückgegangen. Eine scharfe Verwarnung der GUPVI nützte wenig : Befehle und Direktiven wurden nicht eingehalten, der Arbeitstag dauerte 10–14 Stunden, dies bei Mindestrationen, die noch dazu oft in Abständen von bis zu zwölf Stunden ausgegeben wurden. Die Wegstrecken zur Arbeit waren bis zu 17 Kilometer lang und mussten zu Fuß zurückgelegt werden. Die Bewachung
46 Nach der Zählung des NKVD, Direktive vom 17.11.1945, waren es 159.182 Kriegsgefangene. Eine Zählung der Roten Armee zum 1.10.1945 hatte noch 182.000 Kriegsgefangene im Bereich des NKO ergeben. Vgl. ebd. 47 Ebd.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
der Kriegsgefangenen auf den Baustellen war meist völlig unzureichend, die Arbeitsleistung unter diesen Bedingungen katastrophal. Das NKVD schilderte weiter : „Als Resultat einer derartigen Situation war der Zustand der Kriegsgefangenen in den ORB um vieles schlechter als jener der Kriegsgefangenen, die sich in den Lagern des Innenministeriums befanden. In vielen ORB konnten zu Beginn des Januar 1946 nicht mehr als 23–32 Prozent der Insassen zur Arbeit herangezogen werden. Die Todesraten unter den Kriegsgefangenen in den ORB waren fünfmal, die Zahl der Flüchtlinge siebenmal höher als in den Lagern des Innenministeriums.“48 Als sich auch nach wiederholtem Einschreiten am Zustand in den Arbeitssonderbataillonen nichts änderte, wurden die kranken Kriegsgefangenen, soweit sie noch transportfähig waren, in Spezialkrankenhäuser, andere in stationäre Lager überstellt, sodass sich in den folgenden Jahren die Arbeitssonderbataillone stark reduzierten. Unter diesen, auch von der zuständigen sowjetischen Verwaltung beschriebenen fürchterlichen Umständen wirkt der kürzlich erschienene Essay des russischen Militärhistorikers Galickij befremdend. Er hatte Bilder der antifaschistischen Propagandaabteilung als „objektiven“ Beleg für den Alltag und die Lage der Kriegsgefangenen in den Lagern verwendet.49 Zusätzlich zu den Kriegsgefangenen rekrutierten die Rote Armee, die SMERSCH50 und das NKVD seit 1945 auf ihrem Vormarsch nach Mittel48 Weisung Nr. 41/604, in : ebd. 49 Die Zahl an Kriegsgefangenen westlicher Länder in den ORB betrug jeweils zum 1.1.: 1946 : 142.571, 1947 : 73.538, 1948 : 14.509. Dazu kamen noch zwischen 67.809 und 47.275 Japaner. Zu den realitätsfernen Aussagen des russischen Militärhistorikers Galickij vgl. seine Artikel in Moskau News, Nr. 1, 1993 [deutsche Ausgabe] über „Deutsche Gefangene“ und „Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz“. 50 „SMERŠ“ (eigentl. Hauptverwaltung der Gegenspionage des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR) war die sowjetische Sonder-Abwehrbehörde vom 14.4.1943 bis zur formellen Auflösung bzw. Überführung in Sonderabteilungen des MGB im Mai 1946. Das Akronym bedeutet : „Tod den Spionen“. SMERŠ wurde mit seinen Sonderabteilungen vom NKVD abgetrennt und direkt Stalin unterstellt. Unmittelbarer Leiter der SMERŠ war Viktor S. Abakumov, der von 1946 bis 1952 Minister für Staatssicherheit war und unter Chruschtschow verurteilt und erschossen wurde. Die Aufgabe von SMERŠ bestand zwar nominell in der Entlarvung ausländischer Spione, in Wirklichkeit jedoch – besonders nach Kriegsende – in der „Beobachtung“ der sowjetischen Kriegsgefangenen, die man aus den besetzten oder anderen Gebieten in die Sowjetunion, großteils zwangsweise, wieder rückgeführt hatte. Die meisten von ihnen kamen – als vermeintliche Deserteure – nicht zu ihren Familien zurück, sondern in Speziallager, wo sie längere Haftstrafen abzubüßen hatten. 1946 übernahm vor allem die 3. Verwaltung des MGB die Tätigkeitsbereiche der SMERŠ. Vgl. auch Solzhenicyn, GULAG I ,S. 88f. und 584 ; sowie : Christopher Andrew – Oleg Gordiewskij, KGB. Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow. München 1990, S. 438f.; Rossi, Spra-
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europa besonders am Balkan, in Oberschlesien, in Ostpreußen, in Ungarn, Deutschland und Österreich eine große Anzahl von („Volks“-)Deutschen, von denen sie 208.239 in die UdSSR deportierten, wo sie als „internierte und mobilisierte Deutsche“ in Arbeitsbataillonen zu härtester Arbeit, besonders in Bergwerken, gezwungen wurden. Rund ein Viertel, 51.138, waren Frauen. Dazu kamen Tausende aus den besetzten Gebieten von der Roten Armee Verschleppte, die phasenweise ebenfalls in Arbeitsbataillonen eingesetzt wurden.51 Die „internierten und mobilisierten (‚Volks‘-)Deutschen“ galten als eigene Gruppe : Sie wurden meist im Bereich des Kohlebergbaus in den westlichen Gebieten der UdSSR, besonders im Donbas, eingesetzt. Weitere Großeinsatzbereiche waren die Metallurgie, die Brennstoff- und Erdölindustrie. Die deutschen Gefangenen52 wurden in 221 Arbeitsbataillonen (AB) der GUPVI mit einer jeweiligen Stärke von 750, 1.000, 1.250 und 1.500 Personen zusammengefasst, wobei jedes Bataillon als Verwaltungseinheit jenes Volkskommissariats gesehen wurde, dem die „Arbeitskraft des Bataillons“ zustand. Für Fragen der Bewachung, der Bataillonsordnungen, der Festhaltung der Internierten, deren Standesführung und für die politische Arbeit unter ihnen war allerdings das Innenministerium in Moskau zuständig.53 Wie ein zusammenfassender sowjetischer GUPVI-Bericht vermerkt,54 wurde in den meisten Arbeitsbataillonen die geforderte Arbeitsleistung nicht erreicht, weil es unter den „internierten und mobilisierten (‚Volks‘-)Deutschen“ eine große Zahl an Kranken und total Entkräfteten gab. In vielen Bataillonen deckten die Bataillonseinnahmen aus den Arbeitsleistungen der Gefangenen nicht einmal die Kosten der notwendigsten Aufwendungen, wie Essensrationen, Kleidung,
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52
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vočnik po GULAGu, S. 364. Zur konkreten Tätigkeit der Gegenspionage, der Entführung einer österreichischen Spitzenbeamtin, vgl. Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottilinger“. Graz – Wien 1992, bes. S. 34f. Vgl. RGVA, F. 1/p, op. 23 a, d. 1. Die Rekrutierungen und Verschleppungen erfolgten nach den Weisungen und Erlässen von GOKO (Staatl. Verteidigungskomitee), Nr. 7161 ss vom 16.12.1944, Nr. 7476 ss vom 3.2.1945 und des NKVD der UdSSR Nr. 00315-1945. Hier sogenannte „Volksdeutsche“, also Deutsche aus Polen, dem Baltikum, Rumänien, Ungarn, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Folgende Anzahl an Kriegsgefangenen wurde in den diversen Volkskommissariaten (= Ministerien) eingesetzt : Kohlenindustrie in westl. Rayons : 103.708, Eisenhüttenwesen : 42.735, Buntmetallurgie : 10.969, Bauunternehmen für Brennstoffindustrie : 6.698, Erdölindustrie : 7.359, Verkehrswege : 4.947, E-Werke : 2.505, ziviler Wohnbau : 3.434, Städtische Brennstoffindustrie : 5.709, Mittlerer Maschinenbau : 2.015, Wirtschaftsorgane weiterer 13 Ministerien : 18.180. Vgl. ebd. Ein Arbeitsbataillon wurde in Kompanien zu je 250 Mann geteilt, diese wiederum in Züge zu 50 Mann. Jeder Zug bestand aus vier Abteilungen. Vgl. RGVA, F. 1/p, op. 23a, d. 1.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Schuhwerk, Wäsche und die Versorgung des Organisationsapparates. Es kam oft vor, dass die Internierten im Laufe von 5 bis 15 Tagen pro Monat keine Möglichkeit bekamen, das für sie bestimmte Essen zu kaufen und sich bei den Wirtschaftsorganen verschuldeten.55 In der Hälfte der Bataillone hatten die Internierten keine Kleidung und kein Schuhwerk und 70 Prozent keine Leibwäsche.56 Naturgemäß stiegen unter diesen Umständen die Krankenstände und sank die Arbeitsproduktivität, sodass die GUPVI 1946 bereits an die Abgabe der Kranken an die Spezial-Spitäler und die Repatriierung der arbeitsunfähigen Internierten dachte. Zum Jahreswechsel 1946/47 waren von den insgesamt 98.211 in den Arbeitsbataillonen registrierten Internierten rund 30.000 krank oder derart geschwächt, dass sie arbeitsunfähig waren.57 In den Jahren 1945 und 1946 wurden daher von den „internierten und mobilisierten (,Volks‘-)Deutschen“ insgesamt 40.070 repatriiert : Im Juni 1945 7.781 aus Polen stammende, die zuvor im Deutschen Reich gewohnt hatten,58 im August 1945 36.125 Alte, Kranke und Arbeitsunfähige59 und im Jahre 1946 noch 2.790 internierte „Deutsche“ sowie 21.793 Invalide, Kranke und Arbeitsunfähige. Außerdem entflohen oder verstarben in den Arbeitsbataillonen während der beiden Jahre 1945 und 1946 insgesamt 41.539 ( !) „internierte und mobilisierte (‚Volks‘-)Deutsche“.60 Der Abgang so großer Mengen an Arbeitskräften musste ausgeglichen werden. Daher verblieben in der Praxis ab 1949 auch die nach dem sowjetischen Strafgesetz (Strafgesetzbuch der RSFSR) verurteilten Kriegsgefangenen im Bereich der GUPVI, obwohl sie zur Haftverbüßung (in der Regel 25 Jahre) in ITL-Lager bzw. Gefängnisse einzuweisen gewesen wären. Ihre Verurteilungen waren Ende 1949 zum größten Teil ohne entsprechende Beweisführung ihrer persönlichen Schuld, meist aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu von den Sowjets als verbrecherisch eingestuften Organisationen, erfolgt. Dazu zählten neben Dutzenden Divisionen und Regimentern vor allem die SS, Waffen-SS, Feldgendarmerie, Straf- und Abwehreinheiten. Diese Massenverurteilungen lösten die Einzelprozesse ab, wie sie bis dahin gegen Kriegsgefangene, Verschleppte und Internierte geführt worden waren. Nach 1943, 55 So verschuldeten sich im Jahre 1946 etwa 14.475 Internierte bei den Betrieben von zwölf Ministerien mit zusammen 5.625.000 Rubel. Vgl. ebd. 56 Vgl. ebd. 57 Stand 1.1.1947 ; vgl. ebd. 58 Vgl. die Direktive des NKVD Nr. 1925 vom 26.6.1945, in : ebd. 59 Vgl. den Beschluss des GOKO Nr. 9959 vom 30.8.1945, in : ebd. 60 Von den insgesamt 41.539 Entflohenen und Verstorbenen wurden 34.473 für das Jahr 1945 und 7.066 für das Jahr 1946 verzeichnet. Vgl. ebd.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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dem Jahr der ersten Musterprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in Mariupol’ und Charkow, waren in den folgenden vier Jahren bis 1947 in zwölf bekannt gewordenen Prozessen von insgesamt 126 Angeklagten (davon elf Sowjetbürger) 45 zu langen Freiheitsstrafen, 81 zum Tode verurteilt worden. Die meisten von ihnen wurden öffentlich gehenkt ; in Charkow beispielsweise vor 50.000 Zuschauern. Die Prozesse sollten – soweit sie öffentlich waren und es von ihnen noch Aufzeichnungen gibt – in jedem Fall die Schuld der Angeklagten, Kriegsverbrechen begangen zu haben, beweisen. Dies war nur in wenigen Fällen ohne Zweifel möglich, in anderen Fällen – etwa im Katyn-Prozess – wurden Geständnisse brutal erpresst.61 Die laufenden Repatriierungen führten ab 1946 auch zu einer stetigen Verkleinerung des gesamten Apparates der GUPVI : Zunächst wurde die 2. Verwaltung der GUPVI (im Wesentlichen für Internierte) aufgelöst und ihre Agenden in die 1. Verwaltung überführt. Damit verfügte die GUPVI ab 30. Januar 1946 nur noch über zwei Verwaltungen : – Die erste (für Fragen der Kriegsgefangenen und Internierten) und – die zweite (für Fragen der politischen Arbeit und Spionage), – dazu als selbstständige Abteilungen vor allem noch die Inspektion beim Chef der GUPVI, die allgemeine Abteilung, eine Abteilung für Kader, für Bewachung und Regime, eine für Unterbringung sowie die politische Ab-
61 Bengt von zur Mühlen, Berlin, danke ich auch hier für wichtige Hinweise und Film ausschnitte der erwähnten Prozesse. Vgl. auch den Personalakt von Generalmajor Helmut Becker im RGVA sowie seinen Prozessakt im Archiv des ehemaligen KGB. Zu den verurteilten Kriegsgefangenen und zur Verurteilungspraxis vgl. vor allem : Martin Lang, Stalins Strafjustiz gegen deutsche Soldaten. Die Massenprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in den Jahren 1949 und 1950 in historischer Sicht. Herford 1981 ; Günther Wagenlehner, Stalins Willkürjustiz gegen die deutschen Kriegsgefangenen. Bonn 1993 ; Kurt Bährens, Deutsche in Straflagern und Gefängnissen der Sowjetunion. Bielefeld 1965 ; sowie Reinhart Maurach, Die Kriegsgefangenenprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Hamburg 1950 ; R. A. Brockhaus, Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Opfer einer politischen Strafjustiz, in : DRK-Suchdienst München, 1. Folge. Essayhaft u. a.: Reinhard Olt, Willkürliche Beschuldigungen. Die Gerichtsverfahren eine Farce und das Strafmaß die Norm, in : FAZ vom 22.8.1992 ; Alles erfunden, in : Der Spiegel Nr. 45/1992, S. 226–233. Aus den Prozessen und Urteilen, wie sie während der Stalinzeit gegen Kriegsgefangene in der Sowjetunion ausgesprochen wurden, resultieren derzeit zahlreiche Rehabilitierungsanträge und eingeleitete Verfahren. Zu den gesetzlichen Grundlagen Russlands dazu vgl.: Sbornik zakonodatel’nych aktov o reabilitacii, prinjatych v gosudarstvach – byvšich sojuznych respublikach SSSR. Moskau 1992 ; sowie die „Gemeinsame Erklärung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und Präsident Boris N. Jelzin über die Rehabilitierung unschuldig Verfolgter“, in : Wagenlehner, Willkürjustiz, S. 176f.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
teilung, zu der nunmehr auch die Abteilung für antifaschistische Arbeit unter den Kriegsgefangenen geschlagen wurde.62 Zum Tätigkeitsfeld der großen Polit- und Antifa-Abteilung gehörten u. a.: – Die Aufsicht über die politische Arbeit unter den Kriegsgefangenen in den Lagern des Innenministeriums ; – Die Aufsicht der „Lern- und erzieherischen Arbeit“ in den Antifa-Schulen und -Kursen ; – Die Herausgabe von Zeitungen und Bulletins für deutsche, ungarische und österreichische Kriegsgefangene. Im Zuge der Umorganisation der GUPVI wurden im Laufe des Jahres 1946 weitere 523 Kriegsgefangenenlager („Abteilungen“) teils aus Gründen der völlig unzulänglichen Ausrüstung für den Winterbetrieb, teils aus Gründen ihrer völligen Unrentabilität geschlossen. Zusammen mit anderen Maßnahmen zur strafferen Führung der GUPVI erbrachte dies eine Reduktion der Verwaltungsstellen auf 11.000 Posten. Das Archiv der GUPVI, das bis dahin in der Lagerverwaltung 160, in Suzdal’, untergebracht war, wurde aufgrund der ebenfalls vorgenommenen Auflösung dieses Lagers nach Moskau überführt und innerhalb der allgemeinen Abteilung der GUPVI eingerichtet. Später übersiedelte das Archiv an das Moskwa-Ufer im Nordwesten der Stadt, 1984 teilweise in das neuerbaute Militärarchiv-Gebäude nahe der Leningrader Chaussee, teilweise (Direktion) in ein nahegelegenes, von Kriegsgefangenen erbautes Gebäude.63 In den folgenden Jahren bis 1950 veränderte sich – trotz der Repatriierung der meisten Kriegsgefangenen – die Struktur der GUPVI nur unwesentlich. Durch die Auflösung einiger Abteilungen verringerte sich der Mitarbeiter-
62 Befehl des NKVD Nr. 0085 vom 30.1.1946, in : RGVA, F. 1/p, op. 23a, d. 1. 63 Vgl. ebd. Das Archiv der GUPVI war vor seiner teilweisen Öffnung für westliche und russische Wissenschaftler im „Zentralen Staatlichen Sonderarchiv“ (= RGVA) untergebracht, das zuletzt dem Ministerrat der UdSSR unterstanden war. 1992 wurde das Staatsarchiv in „Zentrum für die Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Kollektionen“ umbenannt und dem „Rosarchiv“ unterstellt. Der Autor hatte 1991 als erster westlicher Historiker die Möglichkeit der umfangreichen Akteneinsicht und Auswertung von über 120.000 Personalakten der GUPVI für Österreicher, später für Südtiroler, Franzosen und Luxemburger. Derzeit berät der Autor die Erhebung der verurteilten deutschen Kriegsgefangenen. Das vom Verf. geleitete L. Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung befasst sich seit Jahresmitte 1993 intensiv auch mit der Kriegsgefangenenproblematik und wird dabei wesentlich von den österreichischen Landeshauptmännern, dem Wissenschaftsministerium, der Stadt Graz und anderen, teils privaten Organisationen unterstützt.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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stand der GUPVI-Zentrale von 296 zur Jahresmitte 1947 auf 68 Ende Mai 1950. Zu Chefs der GUPVI wurden von 1947 bis 1949 Generalleutnant Taras F. Fillipov und von 1949 bis 1950 abermals Generalleutnant Ivan A. Petrov ernannt.64 1951 wurde die GUPVI wieder in UPVI des MVD der UdSSR rückbenannt65 und der 1. stellvertretende Chef des GULAG, Generalleutnant Kobulov,66 zum neuen Leiter der UPVI bestellt, was auch wieder die faktische Unterstellung der Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte unter den GULAG bedeutete. Dies hatte seinen Grund auch darin, dass nach der Repatriierung der Kriegsgefangenen, zur Jahreswende 1949/50, in den GUPVI-Lagern bzw. den mit MVD-Befehl vom 21. Juni 1949 neuformierten Straflagern (im Ural, in der Ukraine, in Weißrussland sowie in den Gebieten Kemerovo und Novgorod) praktisch nur noch verurteilte Kriegsgefangene, selten zivile verurteilte Internierte, verblieben waren. Verurteilte Kriegsgefangene wurden auch in GULAG-Lager überstellt, wogegen verurteilte ausländische Zivilisten fast ausschließlich im GULAG bzw. seinen entsprechenden Sonderlagern waren. Derart verkleinert und mit einem Stand von nur noch 39 Mitarbeitern in der Zentrale (mit vier Abteilungen : Sekretariat, 1. Abt. für Organisation und Wirtschaft, 2. Abt. für politische und geheimdienstliche Tätigkeit sowie 3. Abt. für Standesführung) existierte die UPVI bis zum Tod Stalins. Sofort mit der Zusammenlegung von MVD und MGB zu einem Ministerium (MVD) wurde in der neuen Ministeriumsstruktur keine eigene Abteilung für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten mehr geschaffen. Der GULAG selbst wurde auf Beschluss des Ministerrates der UdSSR67 in das Justizministerium der UdSSR integriert. Lediglich die Führung der Straflager, in denen die verurteilten Kriegsgefangenen festgehalten wurden, wurde weiter dem MVD, Gefängnisverwaltung, unterstellt, wozu man dort eine kleine Abteilung für Kriegsgefangene und Internierte eingerichtet hatte. Nach der Umorganisation der Gefängnisverwaltung des MVD der
64 Vgl. ebd. 65 Befehl des MVD Nr. 00375 vom 20.6.1951, in : ebd. 66 Amjak Sacharovič Kobulov war vor 1941 NKVD-Resident in Berlin gewesen. Er war von 1951 bis 1953 Chef der UPVI. Vgl. auch Andrew Gordiewskij, KGB, S. 324. Zur Neuformierung der Straflager 56, 110, 476, 464 und 270 vgl. Staatsarchiv der Russischen Föderation (= GARF), F. 9401, op. la, d. 301, MVD-Befehl 00604. Der Direktion des GARF, vor allem Herrn Dir. Dr. Sergej V. Mironenko und seinen Mitarbeitern, danke ich für die vielfältige Unterstützung bei der Aktenbenützung. 67 Vgl. den Beschluss des Ministerrates Nr. 934/400ss vom 28.3.1953, in : RGVA, F. I /p, op. 23 a, d. 1.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
UdSSR im Jahr 1954 wurde daraus die 2. (für ehemalige Kriegsgefangene und Internierte), später die 3. Abteilung.68 Nach der Freilassung und Amnestierung der aus verschiedenen Gründen, teils ohne den Nachweis persönlicher Schuld, verurteilten Kriegsgefangenen und zivilen Internierten 1955/56 wurden im Laufe des Jahres 1956 auch die letzten Lager der ehemaligen GUPVI (Nr. 48 in der Nähe von Iwanowo, östlich von Moskau, und Nr. 476 in Asbest, östlich des Ural) und das Spezialspital 1893 in Chor bei Chabarowsk, die nunmehr der Gefängnisabteilung des MVD unterstanden, aufgelöst. Lediglich das Lager 16 im Gebiet Chabarowsk und die Lagerabteilung in Pot’ma (Mordowien)69 wurden in die Besserungs-Arbeitskolonien des MVD der UdSSR (ITK) integriert. 1960 wurde schließlich das Sonderobjekt 14, welches für die temporäre Unterbringung der aus den Gefängnissen und gefängnisähnlichen Einrichtungen befreiten und repatriierungsfähigen Ausländer und Staatenlosen vorgesehen war, in die Hauptverwaltung der Haftverbüßungsorte (GUMZ) des MVD der UdSSR integriert.70 Zusammenfassend lässt sich daher zur Entwicklung und Struktur der GUPVI Folgendes festhalten : – Die (Haupt-)Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte war neben dem GULAG das zweite große Lagersystem der UdSSR und unterstand, ebenso wie der GULAG, dem sowjetischen Innenministerium. – 1939 zum Zwecke der Unterbringung und Ausnutzung der Arbeitskraft ausländischer Kriegsgefangener und später auch ausländischer Internierter aus dem GULAG heraus gegründet, existierte die GUPVI bis knapp nach Stalins Tod 1953. – Das GUPVI-Lagersystem umfasste neben den verschiedensten Formen von bis zu 3.200 stationären und 200 Frontlagern noch Arbeitsbataillone, Spezial- und Evako-Spitäler. Vielen dieser Spitäler und stationären Lager waren Friedhöfe angeschlossen, auf denen die Toten bestattet wurden. Von vielen seinerzeit registrierten Kriegsgefangenen und Internierten haben sich in den Archiven der Lager noch die Grablagen erhalten, – In den Lagern der GUPVI gab es rund 3,5 Millionen westliche Kriegsgefangene und Internierte aus über 30 Nationen, darunter neben Deutschen, Ungarn und Österreichern auch Holländer, Franzosen, Amerikaner oder Luxemburger (siehe Anhang 2).
68 Entsprechende Anweisungen des MVD der UdSSR aus den Jahren 1954 und 1955, in : ebd. 69 Vgl. Karner, Geheime Akten des KGB, bes. S. 84f. und 228f. 70 Vgl. den Befehl Nr. 050 des MVD vom 8.3.1960, in : RGVA F. 1/p, op. 23 a, d. 1.
Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte
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– Verurteilte Zivilinternierte kamen mit der GUPVI praktisch nie in Kontakt. Erschienen in : Stefan Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte. Ein Zwischenbericht, in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/1994, S. 447–471.
Zur sowjetischen Umerziehung : die „Antifa“ 1941– 1949 und das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ in der Sowjetunion (2015)
Von den vier bis sechs Millionen in sowjetischen Lagern der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (GUPVI) des NKVD registrierten Kriegsgefangenen waren zwischen 1941 und 1956 rund 135.00 Österreicher festgehalten worden. Von ihnen waren die meisten mit der „Antifaschistischen Bewegung“ („Antifa“) des NKVD in Berührung gekommen. Die ideologische Umschulung stieß jedoch bei den meisten, angesichts der Realitäten des sowjetischen Alltags, der Erziehung, der bisherigen politischen Prägungen und der Bedingungen in den Lagern, auf wenig Resonanz. Die Wiedererrichtung eines demokratischen Österreich war für die meisten nur ohne sowjetischen oder kommunistischen Einfluss vorstellbar. Im Gegenteil : Der Antikommunismus dürfte nach den Erfahrungen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft stärker ausgeprägt gewesen sein als vorher. Nur etwa 1.200 von ihnen absolvierten die sowjetischen „Antifa“-Schulen, ein deutlich geringerer Anteil als etwa bei den deutschen Kriegsgefangenen. Tausende Spitzel und „Agenten“ wurden vom NKVD in die Lager geschleust, um die Kriegsgefangenen zu kontrollieren und antisowjetische Aktionen, Streiks, Flucht oder Sabotage zu unterbinden. Auch das 1944 gegründete österreichische Antifa-Büro konnte an dieser Grundtendenz nichts mehr ändern. Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatte – trotz aller Warnungen seiner Geheimdienste – Stalin und die Spitze der sowjetischen Führung überrascht. Auf breiter Front überschritten insgesamt rund drei Millionen Mann die Grenzen des Sowjetstaates und besetzten binnen weniger Wochen große Teile der Ukraine, Weißrusslands und des Baltikums. In dieser Phase nahmen die vorrückenden Verbände Hunderttausende Rotarmisten gefangen, während umgekehrt die Verluste an Gefangenen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten sehr gering waren. Die Situation änderte sich, als der Winter 1941 hereinbrach und der deutsche Vormarsch vor Moskau und St. Petersburg/Leningrad stecken blieb : Die ersten Zehntausend Deutschen, Österreicher, Rumänen und Ungarn, Italiener (Südtiroler) und Franzosen aus dem Elsass wurden gefangen genommen und kamen in sowjetische Lager der GUPVI des NKVD der UdSSR. Hier waren bereits Polen (soweit sie nicht in Katyn vom NKVD ermordet wurden)
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und Finnen untergebracht. Sie wurden nach den Richtlinien der sowjetischen Lagerverwaltung, die sich an den GULAG anlehnten, behandelt, ihre Verpflegung und Unterbringung in den Lagern war notdürftig, das zu leistende Arbeitspensum hoch. Die Sterblichkeitsraten in den GUPVI-Lagern 1940/41 waren sehr hoch. Von den Gefangenen der Jahre 1941 und 1942 überlebte nur etwa jeder Zweite die sowjetischen Lager. An eine politische Schulung oder politische Umerziehung der gefangen genommenen Polen und Finnen wurde vom NKVD noch nicht gedacht. Mit den ersten größeren Kontingenten an kriegsgefangenen Deutschen und Österreichern im Winter 1941 begann auch in den Kriegsgefangenenlagern der Sowjetunion eine politische und ideologische „Re-Education“. Ihr Ziel : die Umerziehung der ehemaligen Soldaten der Deutschen Wehrmacht, insbesondere jener, die Mitglieder oder Anwärter der NSDAP gewesen waren. Die Umerziehung lief über Organe des NKVD und wurde in der „Antifa“ unter Heranziehung ausgesuchter deutscher und österreichischer Kriegsgefangener, sozialdemokratischer und kommunistischer Emigranten aus den 1930er-Jahren sowie sowjetischer Politabteilungen und ab 1943 durch das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und den „Bund deutscher Offiziere“ durchgeführt. Die politische Leitungszentrale der „Antifa“ war das „Institut 99“. Dieses war nach Auflösung der Komintern im Juli 1943 gegründet worden. Die Teilnahme an den Re-Ideologisierungsprogrammen der „Antifa“ war in der Sowjetunion nicht verpflichtend. Das Ziel war vorgegeben : Die entlassenen Kriegsgefangenen sollten später in ihren Heimatländern „Herolde“ der kommunistischen Bewegung und des Antifaschismus sein. Im Spätherbst 1941 wurden in den einzelnen Lagern die ersten Gruppen für eine antifaschistische Erziehung gebildet und deutsche und österreichische Kriegsgefangene in Lagerkursen ideologisch geschult. Sie sollten, so der Plan, später die Masse der übrigen Kriegsgefangenen politisch umerziehen, sie zu „Freunden der Sowjetunion“ machen, die „Befreiung“ der „Heimat“ bestmöglich unterstützen, mithelfen, die „Hitler-Clique“ zu stürzen, sowie weitere Kriegsgefangene heranziehen, die bereit wären, nach ihrer Repatriierung den Faschismus zu bekämpfen und im Sinne der Sowjetunion tätig zusein.1 Damit war die antifaschistische Bewegung unter den Kriegsgefangenen aufgestellt. 1
Vgl. zum gesamten Beitrag grundlegend : Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 1. Wien – München 1995, zu den Mortalitätsraten bes. S. 90. Herrn Mag. Harald Knoll, BIK, danke ich für vielfältige Hilfe bei den statistischen Berechnungen. Die Quellenangaben in den Anmerkungen beschränken sich lediglich auf jene, die nicht in der angeführten Literatur bereits zitiert wurden.
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Anfang November 1941 unterzeichneten 158 deutsche Soldaten einen „Appell an das deutsche Volk“, der als Broschüre mit dem Faksimile der Unterschriften aus dem Lager 58 („Temnikovskij“) herausgegeben und am 15. November 1941 in der „Pravda“ veröffentlicht wurde. Es war dies die erste „Antifa“-Propagandaaktion deutscher Kriegsgefangener. Damit wurde entsprechend der offiziellen sowjetischen Linie auf die Kriegsziele Hitler-Deutschlands hingewiesen. Gleichzeitig wurde aber deutlich dokumentiert, dass die UdSSR doch Kriegsgefangene machte, was in der NS-Propaganda und unter den Wehrmachtssoldaten anfangs in Abrede gestellt worden war.
Die Anfänge der „Antifa“ Im Frühjahr 1942, etwa parallel zu den deutschen militärischen Offensiven, ging das NKVD schließlich systematisch daran, aus den kriegsgefangenen Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren der deutschen Wehrmacht in den Lagern „antifaschistische Kader“ zu bilden. Eine erste Selektion der Gefangenen erfolgte bei den Verhören nach der Gefangennahme, bei denen jeder Einzelne nach folgenden Kriterien bewertet wurde : – antifaschistische Gesinnung (anfänglich fielen unter diese Gruppe nur KP-Überläufer), – dem Antifaschismus gegenüber offen (v. a. NS-Gegner), – nationalsozialistisch indoktriniert (die größte Gruppe der Kriegsgefangenen. Längere Umschulungszeit vorgesehen), – konsequente Gegner des Kommunismus und der Sowjetunion (v. a. NSDAP-Mitglieder, aber auch Konservative, Liberale, Sozialdemokraten, Katholiken, Priester). Derart kategorisierte Kriegsgefangene wurden für die antifaschistischen Kurse vorgesehen. Im späten Frühjahr 1942 glaubte die NKVD-Führung, bereits genügend deutsche und österreichische „Antifa“-Aktivisten angeworben und aufgestellt zu haben, um sie in einer eigens dazu eingerichteten Schule in Oranki, nahe Nižnij Novgorod, zu schulen. Zu den ersten österreichischen Teilnehmern an den Kursen zählten KPÖ-Mitglieder, politische Emigranten der 1930er-Jahre, vor allem ehemalige „Schutzbündler“, erste Deserteure aus der Wehrmacht, die es geschafft hatten, sich bis zur Roten Armee durchzuschlagen, sowie erklärte NS-Gegner verschiedener Richtungen. Aus propagandistischen Gründen warb man jedoch besonders NS-Sympathisanten, NSDAP-Mitglieder oder Parteianwärter an. Gerade von ihnen ver-
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sprach man sich, dass sie ihre ideologische Umpolung gegenüber den anderen Kriegsgefangenen im Lager später besonders glaubhaft würden vertreten können. Am 21. Mai 1942 formulierte der deutsche Hauptmann Ernst Hadermann vor 1.900 Kriegsgefangenen des Lagers 95 in Elabuga die Ziele der antifaschistischen Bewegung : Sturz Hitlers, Befreiung Deutschlands vom Faschismus und rechtzeitiger Abschluss eines Friedensvertrages mit für Deutschland akzeptablen Bedingungen. Seine Rede erschien als Broschüre in einer Auflage von 500.000 Exemplaren und wurde in den Lagern verteilt und im Frontbereich tausendfach abgeworfen. Im Wesentlichen waren die von ihm formulierten Ziele eine Vorwegnahme der Zielsetzungen des ein Jahr später gegründeten „Nationalkomitees Freies Deutschland“ (NKFD). Allerdings erlitt die „Antifa“-Abteilung des NKVD mit den hochgesteckten Zielen zunächst Schiffbruch. Die überwiegende Masse der Kriegsgefangenen war nicht bereit, den ideologischen Parolen zu folgen. Zu stark wirkten bei den meisten die antikommunistischen Prägungen ihres Elternhauses, der deutschen und österreichischen Gesellschaften, der NS-Propaganda, die Erfahrungen des Krieges oder auch die Kameradschaft innerhalb der Wehrmacht, deren Hierarchien vielfach auch in den Lagern noch beibehalten wurden.
Das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und der „Bund deutscher Offiziere“ Die Wende in der sowjetischen „Antifa“ trat erst 1943 ein und kam vor allem durch die deutschen Niederlagen in Stalingrad, Kursk und im Mittelabschnitt zustande. Einerseits wurden 1943 Hunderttausende Soldaten der Wehrmacht gefangen genommen und das GUPVI-Lagersystem enorm erweitert, andererseits sahen immer mehr Soldaten und Offiziere, dass der Krieg verloren gehen würde. In dieser Situation änderte die Sowjetunion ihre „Antifa“-Taktik. Mit der Gründung des NKFD entstand am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau das offizielle Sprachrohr deutscher und österreichischer antifaschistischer Kriegsgefangener. Hier, im Offizierslager Nr. 27 der GUPVI, wurde auch die höhere „Antifa“-Schule eingerichtet. Eine gewichtige Rolle spielte im Lager und in der „Antifa“-Schule der österreichische Emigrant Dr. Ing. Erwin Knausmüller.2 2
Erwin Knausmüller war ursprünglich Sozialdemokrat, ehe er bald den Weg zur KPÖ
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Er war hier von 1943 bis 1947 Ober-Polit-Instruktor und ab 1947 Chefredakteur der „Antifa“-Zeitschrift „Mitteilungen“ für die österreichischen, später auch für die hier ausgebildeten deutschen Kriegsgefangenen. Die Spitzenfunktion des NKFD besetzte man aus taktischen und propagandistischen Gründen mit Heinrich Graf von Einsiedel, einem hochdekorierten Jagdflieger des Udet-Jagdgeschwaders 3 und Urenkel Bismarcks, und mit dem KPD-Satiriker Wilhelm Weinert. Im Hintergrund wirkten allerdings bereits die Kommunisten Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Aus dem Kreis der Offiziere des NKFD gründeten die Sowjets zwei Monate später im GUPVI-Lager Lunjovo bei Moskau den „Bund deutscher Offiziere“ (BdO) unter dem General Walther von Seydlitz-Kurzbach, der in Stalingrad am vehementesten den Ausbruch aus dem Kessel gefordert hatte und nun ein deutsches Korps aufseiten der Roten Armee aufstellen wollte. Im NKFD bildeten die Offiziere einen gewissen Gegensatz zum Flügel der KPD-Emigranten. Ebenfalls 1943 wurde das bereits erwähnte „Institut 99“3 als politische Leitungszentrale der gesamten „Antifa“, vorgeschaltet dem NKFD und dem BdO, begründet. Denn kein Kriegsgefangener, so die Intention der „Antifa“, sollte die Sowjetunion „ohne Indoktrination im Kollektiv“ verlassen. Eine Forderung, die letztlich nur zum allergeringsten Teil erfüllt werden konnte. Zu weit lagen Anspruch und Wirklichkeit, lagen Ideologie und Realsozialismus auseinander, wie dies gerade die Soldaten auf Schritt und Tritt täglich erfahren hatten.4
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fand. Er war bis 1934 bei Kastner & Öhler in Graz beschäftigt und wurde 1934/35 schon als illegaler KP-Jungfunktionär im Polizeigefängnis Paulustor inhaftiert. Durch Vorgabe eines notwendigen chirurgischen Eingriffs gelang ihm 1935 die Flucht aus dem Gefängnis und er emigrierte nach Prag. Von dort gelangte er nach Moskau. Er wohnte eine Zeit lang im „Hotel Lux“, wurde u. a. mit Ernst Fischer, Johann Koplenig und Friedl Fürnberg bekannt und arbeitete in der internationalen kommunistischen Gewerkschaftsbewegung im zentralen Warenhaus („ZUM“). 1941 rückte er freiwillig zur Roten Armee ein. Vor seiner Zeit in Krasnogorsk war Knausmüller bereits Politkommissar in Udmurtien (Lager 75 in Rjabovo) sowie Politkommissar für alle GUPVl- Lager des Gebietes Sverdlovsk/Ekaterinburg im mittleren Ural. Gespräch mit Dr. Ing. Erwin Knausmüller. Moskau, 28.4.1993. Zum Institut 99 vgl. vor allem : Jörg Morré, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–1946. München 2001. Gert Robei, Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Antifa. Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, Bd. VIII. München 1974, S. 190 ; Karl-Heinz Frieser, Krieg hinter Stacheldraht. Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und das Nationalkomitee „Freies Deutschland“. Mainz 1981, S. 240f. und 273.
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So stieg, nach sowjetischen Angaben, der Anteil an „Antifaschisten“ in den Lagern der GUPVI ab Herbst 1943 stark an. Die von den NKVD-Statistiken ausgewiesenen Mitgliedszahlen von über 96 Prozent sind freilich weit überzogen. Für den beachtenswerten Zulauf waren vor allem die gestiegenen Gefangenenzahlen verantwortlich, aber auch die Erwartung der Kriegsgefangenen, etwa über organisierte Musik- oder Theatergruppen der „Antifa“ Freistellungen von der täglichen Arbeit und eine bessere Behandlung zu erhalten. So meldete sich der NSDAP-Parteianwärter Konrad Lorenz, später Nobelpreisträger, im Lager Jerewan zur „Antifa“ und hielt Vorträge. Zum Ausgleich erhielt er eine Schreibmaschine und wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeiten. Lorenz nützte sie und verfasste im Lager seine erste große Schrift zur Verhaltensforschung.5 Um die „Antifa“-Arbeit gezielter nach Nationalitäten durchführen zu können, wurden nach dem Muster des NKFD „antifaschistische Komitees“ für Ungarn, Rumänen und – nach der Moskauer Deklaration, die die Wiedererrichtung Österreichs als Kriegsziel der Alliierten vorsah und Österreich als „erstes Opfer Hitler’scher Aggressionspolitik“ bezeichnete – auch für Österreicher gegründet. Hier wollte man sowohl auf die speziellen Fragen, Gewohnheiten und Bedürfnisse der Österreicher eingehen, als auch jene Kader herausfiltern, die nach der „Befreiung“ des Landes und ihrer Rückkehr in die Heimat die Basis der Kommunistischen Partei Österreichs bilden sollten. Am 27. November 1945 wurden das NKFD und der BdO aufgelöst. Ihre Agenden gingen auf die Politabteilung der GUPVI des Innenministeriums der UdSSR über. Dies betraf die gesamte „Antifa“-Arbeit – von den Lagern über die Schulen, sämtliche Veranstaltungen, das Lehrpersonal bis zur He rausgabe von Zeitungen und Schriften. Damit wurde die „Antifa“-Arbeit noch stärker der kommunistischen Parteiarbeit unterstellt.6
Die österreichische „Antifa“ Das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ (ABÖK) wurde erst sehr spät, am 26. November 1944, in Moskau unter Betreuung und ideologischer Leitung der KPÖ-Emigranten Ernst Fischer und Ruth von May5
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Erstmals wies ich darauf hin in : Karner, Im Archipel GUPVI, S. 129f. Dazu auch die NKVD-Akte Lorenz und die Kopie des wiss. Beitrages zur Verhaltensforschung im AdBIK in Graz. GARF, F. 9401, op. la, Befehl Nr. 0218, v. 27.11.1945, gez. Stv. Innenminister Gen.-Obst. Kruglov ; F. 9401, op. 1, de. 20515, S. 456 (Befehl Innenminister Gen.-Obst. Kruglov, v. 9.12.1946).
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enburg gegründet.7 Als Adresse wurde lediglich das Postfach 2383 in Moskau angegeben. Das Tätigkeitsfeld des ABÖK umfasste vor allem die bereits in sowjetischer Hand befindlichen gefangenen Österreicher sowie – in geringerem Maße – die propagandistische Arbeit an den Frontabschnitten, besonders in der Anwerbung zur Desertion aus der Wehrmacht. Daher waren die Aufgaben des ABÖK primär, – die österreichischen Kriegsgefangenen in den Lagern (und propagandistisch auch noch in der Wehrmacht) als „Österreicher“ anzusprechen, um ihnen damit eine österreichische Identität zurückzugeben, – die Soldaten und Kriegsgefangenen aus Österreich mit dem Inhalt der „Moskauer Deklaration“ bekannt zu machen – vor allem mit dem alliierten Ziel einer Wiedererrichtung des Staates nach dem Krieg – und schließlich – die österreichischen Kriegsgefangenen in den „Antifa“-Schulen getrennt von den deutschen Kriegsgefangenen zu unterrichten. Sofort nach der Gründung des österreichischen Büros gingen aus vielen Kriegsgefangenenlagern Grußadressen und Huldigungen von Hunderten österreichischen Antifaschisten ein. Einzelne Schreiben richteten sich auch an Stalin und waren grafisch besonders aufwendig gestaltet. Angesprochen wurden darin schablonenhaft die negativen Folgen des „Anschlusses“, der Verlust der österreichischen Unabhängigkeit, das Leid des Krieges, die Mitschuld jedes einzelnen Wehrmachtssoldaten am Krieg und an den Kriegsfolgen sowie das Versprechen, aktiv für ein „freies, unabhängiges und demokratisches Österreich“ einzutreten.8 Das Aktiv des Lagers 188 in Rada bei Tambov huldigte zu Jahresbeginn 1945 dem „Antifa“-Büro : Von unserer Versammlung am 31.12.1944 senden wir die besten antifaschistischen Kampfgrüße. Wir begrüßen die Gründung des Antifaschistischen Büros österr. Kriegsgefangener aus ganzem Herzen, zeigt sie uns doch, dass unsere Bestrebungen im Kampfe für ein freies, unabhängiges und demokratisches Österreich auch von der Sowjetregierung gebilligt werden. Diese Begründung ist uns ein neuerlicher Beweis für die Ehrlichkeit und Geradlinigkeit der Politik der Sowjetunion, denn dadurch werden die Richtlinien der Moskauer Deklaration über Österreich neuerlich unterstrichen.
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RGVA, F. 4, op. 5, d. 20 und Michael Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla. Unter besonderer Berücksichtigung seiner SU-Kriegsgefangenschaft. Seminararbeit, Graz 1995, S. 17–21. Die Grußadressen finden sich im Bestand RGVA, F. 4, op. 5, d. 20.
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Wir versprechen unserem antifaschistischen Büro, dass wir weiterhin bemüht sein werden, wirkliche Antifaschisten und Demokraten zu werden, und dafür auch mit unserem Leben eintreten werden. Im Namen der österreichischen Kriegsgefangenen des Lagers 188 Johann Sauerwein, Johann Hunger, Hermann Jaus, Fritz Menglini, Stadler Albert.9
Das österreichische „Antifa“-Büro selbst huldigte Stalin Mitte April 1945, nach der Einnahme Wiens durch die Rote Armee :10 Um die Schuld wieder gut zu machen, die wir durch die Teilnahme an diesem Krieg auf Seiten Hitlerdeutschlands auf uns geladen haben, bitten wir, in welcher Form immer, uns die Möglichkeit zu geben, an der restlosen Vernichtung des deutschen Faschismus teilzunehmen. Wir verpflichten uns, dabei den gleichen Opfermut zu zeigen, den jeder einzelne Rotarmist tausendfach in den zahllosen Schlachten zur Befreiung der Menschheit von den deutschen Landräubern bewiesen hat. Es lebe das freie, unabhängige und demokratische Österreich ! Es lebe die ruhmreiche Rote Armee und ihr genialer Führer Marschall Stalin ! Unterschriften : Andreas Kirschhofer, Hans Unterberger, Karl Frick, Erich Jiras, Gottfried Popelka, Georg Gutschy, Josef Jachs, Rudolf Kührer und Dr. Hugo Sedlak.
Die österreichischen „Antifa“-Aktivisten eines Kriegsgefangenen-Teillagers bildeten jeweils eine Österreichzelle mit einem politischen Leiter, einem Organisationsleiter, einem Agitpropleiter (Agitation und Propaganda) sowie einem Pressemann. Der politische Zellenleiter hielt Kontakt zum „Antifa-Präsidenten“ (in der Regel einem Deutschen) sowie zum ältesten österreichischen Aktivisten im Hauptlager. Damit waren sowohl eine Einbindung in die gesamte „Antifa“-Arbeit des NKVD und des Instituts 99 als auch eine Sonderstellung für die Österreicher gewährleistet. So waren etwa im GUPVI-Lager 445 in Kaliningrad/Königsberg im ersten Halbjahr 1947 insgesamt 1.230 österreichische Kriegsgefangene in sieben Teillagern und im Hauptlager, der Verwaltung, untergebracht.11 Allerdings gab es im gesamten Lager nur 49 österreichische Aktivisten. Von August 1946 bis
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Die Unterzeichner gaben als Heimatadressen an : Sauerwein – Pöttsching, Burgenland, Hunger – Wien 3, Jaus – Siezenheim, Salzburg, Menglini – Tauchen, Burgenland, Stadler – Ursprung, Oberösterreich. 10 GARF, F. 9401, op. 1, d. 2225. Schreiben des ABÖK an Stalin. 11 Dazu und zum Folgenden : RGVA, F. 4p, op. 24a, d. 26.
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Ende April 1947, so wurde vom „Ältesten der Österreicherzeller“ des Lagers, Strohmeier, rapportiert, wurden insgesamt über 300 „Antifa“-Veranstaltungen in den einzelnen Teillagern durchgeführt. Darunter waren in der politischen Arbeit Vorträge zur Bodenreform, zur Entwicklung in Österreich zum Jahr 1934, zur Entnazifizierung, zu den alliierten Nachkriegskonferenzen und der Behandlung der Österreichfrage oder zur Roten Armee in Österreich. Im Bereich der Schulungen waren es Vorträge zu den Gewerkschaften, zum Austro-Marxismus oder zu den Fehlern der österreichischen Sozialdemokratie. Dazu kamen zahlreiche Theatervorstellungen, Gesangsdarbietungen, kleinere Konzerte, Wettkämpfe oder Fußballspiele. Den Grund für die geringe Beteiligung der Österreicher in diesem Lager sah Strohmeier im Mangel an Unterrichtsmaterial, einer zu laschen Mentalität der Kriegsgefangenen, dem Fehlen von österreichischen Zeitungen oder von Sendungen des Senders „Radio Wien“ der Ravag. Vielfach habe er auch keinerlei persönliche Kontakte in die einzelnen Teillager. Einzelne Erfolge konnte die österreichische „Antifa“ besonders in der „Kulturarbeit“ erzielen. Sie war in den Kriegsgefangenenlagern und „Antifa“-Schulen in der Beliebtheitsskala daher immer obenauf. Für die Anschaffung von Instrumenten oder Bühnendekorationen stand ein eigener Fonds zur Verfügung. Reichte das Geld nicht, mussten die notwendigen Dinge eben „organisiert“ werden. Bedenkt man, welcher Mangel in der Sowjetunion etwa an Papier herrschte, so wird klar, dass oft nur mit viel Fantasie das Nötige beschafft werden konnte. Der politisch-ideologische Aspekt der „Kulturarbeit“ wurde nie aus den Augen verloren. In den Lagern, ja auch bei einzelnen „Kursanten“ der Schule, versuchte man daher, anfänglich nicht „zu politisch“ zu werden, da dies eine Abwehrhaltung und einen Widerstand von Kriegsgefangenen hervorgerufen hätte. So kam es zu einer Art Selbstbeschränkung in der Politisierung der „Kulturarbeit“ vonseiten der „Antifa“. Umgekehrt gab es anscheinend auch seitens der Kriegsgefangenen eine Art Selbstbeschränkung, denn die „Antifa“ verbot nur selten kulturelle Aufführungen. Ein besonderes Problem bildeten die über 120 Befehle, Direktiven und Zirkulare des Innenministeriums zur Regelung der geheimdienstlich-operativen Arbeit unter den Kriegsgefangenen. Gerade das damit zusammenhängende Spitzelwesen blieb nicht lange verborgen. Die meisten Kriegsgefangenen wollten mit der Bespitzelung von Kameraden und der politischen Arbeit nichts zu tun haben und zeigten keinerlei Engagement. Sehr häufig kamen Sabotage, Arbeitsverweigerung, Fluchtversuche und Defätismus vor. Hier versuchte das KP-Regime über die geheimdienstlichen Organisationen in den Lagern selbst entgegenzuwirken.
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Präzise berichtete das Innenministerium über die geheimdienstliche Arbeit unter den Kriegsgefangenen und Internierten :12 Sie wurde systematisch organisiert und hatte ihre spezifischen Aufgaben : Verhinderung von Fluchten, Verhinderung antisowjetischer Aktionen von Seite profaschistischer Elemente, Vorbeugen von Sabotageakten in Betrieben, Aufdeckung von Geheimdienstmitarbeitern des Gegners und Aushebung ihrer Agenturen, Aufdeckung von Beteiligten an Verbrechen ebenso wie die Namhaftmachung von Kriegsgefangenen und Internierten, die durch ihre Kenntnisse auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet der UdSSR nützlich sein können.
Dazu wurden insgesamt unter den Kriegsgefangenen und Internierten 60.273 „Agenten“ angeworben, darunter 52.383 Deutsche und Österreicher, 2.122 Japaner, 2.408 Rumänen, 3.176 Ungarn, 524 Italiener und 1.782 Angehörige anderer Nationalitäten. Von den 60.273 „Agenten“ wurden 893 für den Auslandseinsatz der militärischen Spionage (GRU) des Generalstabs der Streitkräfte sowie des MGB bereitgestellt. Das konkrete Maß der Bespitzelung durch MGB-Organe und informelle Mitarbeiter („Agenten“), das Maß des politischen Einflusses der „Antifa“ bzw. der politischen Abteilung der GUPVI auf die politische Arbeit in den Lagern, vor allem auch auf die „Kulturgruppe“, die ja ein sehr weites Feld abzudecken hatte, war von Lager zu Lager sehr verschieden. Zumindest der Leiter der Kulturgruppe musste der „Antifa“ angehören, die anderen Mitglieder nicht unbedingt. Manche Kriegsgefangenen in den Lagern lehnten „Kulturarbeit“ aufgrund der Vernetzung mit der „Antifa“ und wegen der Bespitzelungen kategorisch ab. Sie sahen darin ausschließlich kommunistische Agitation und einen Missbrauch der Kultur als Lockmittel, um Kriegsgefangene zur „Antifa“ zu bringen. In vielen Lagern, so auch in Talicy, war jedoch besonders die „Kulturarbeit“ zentraler Bestandteil der politischen Arbeit und des Kursprogramms. Natürlich hingen die Existenz und die Qualität der Kulturgruppen vom Engagement und dem Können einzelner Kriegsgefangener ab.
Die „Antifa“-Schule in Talicy In den „Antifa“-Schulen wurden von 1944 bis 1948 in meist dreimonatigen Kursen 1.208 Österreicher unterrichtet. Eine der großen „Antifa“-Schulen be12 RGVA, F. 1p, op. 1, d. 1, Bericht von Oberst Motorov, 31.12.1949.
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fand sich im GUPVI-Kriegsgefangenenlager Nr. 165 („Južskij“) im Gebiet Ivanovo, etwa 150 Kilometer nordöstlich von Moskau, mit bis zu 17.500 Kriegsgefangenen, vor allem Deutschen, Ungarn, Österreichern und Rumänen, von denen über zehn Prozent Offiziere waren.13 Die Schule selbst war in der Ortschaft Talicy eingerichtet worden und hatte „Kursanten“ aus fünf Ländern : Deutschland, Österreich, Rumänien, Ungarn und Italien, die jeweils eigene Sektoren bildeten. Vorgesehen waren etwa 700 Schulungsplätze – zu wenige, um den Andrang für die Lehrgänge speziell 1945/46 zu befriedigen, sodass Auslese verfahren durchgeführt wurden. Im Schnitt kam auf 20 Kriegsgefangene des Lagers ein „Kursant“. Neben Talicy gab es weitere, viel kleinere „Antifa“-Schulen wie jene in Rjazan’, wo auch nur wenige „Kursanten“ aus Österreich unterrichtet wurden. Martin Grünberg, Österreichischer Schutzbund-Emigrant aus Wien und Lehrer sowie Schulungsleiter des Österreichsektors, zählte die Vorteile der österreichischen „Kursanten“ auf :14 Das Wichtigste war die Offiziersverpflegung, das Zweitwichtigste war, dass man, solange man auf dem Lehrgang war, es war warm, man kaum zu arbeiten hatte […] man bessere Kleidung bekam, das österreichische Abzeichen trug, irgendwelche Beuteuniformen der ,Organisation Todt‘ erhielt […] und die Hoffnung hatte, früher nach Hause zu kommen.
Besonders die Hoffnung auf eine frühe Repatriierung wirkte anfänglich stark für die Rekrutierung in die „Antifa“-Schule. Dies änderte sich ab Anfang 1947 jedoch schlagartig, bis hin zur „Schulverweigerung“, weil ab dem Sommer 1947 klar war, dass die Masse der Österreicher zur Repatriierung anstand, nachdem man zuvor die Ungarn, Rumänen und Italiener entlassen hatte.15 Zur Auswahl der „Kursanten“ meinte Martin Grünberg : In der Hauptsache wurden die Leute, die uns geschickt wurden, von den Polit-Instruktoren [der Lager] ausgewählt […]. Aber wir haben keine Illusionen gehabt, dass manche sich gesagt haben : also bevor er im Winter irgendwo
13 RGVA, F. 1p, op. 15a, d. 148. Lager 165. 14 Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 31f., Gespräch Stefan Karner mit Martin Grünberg 2008 in Wien. 15 Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 30 und Karner, Im Archipel GUPVI, S. 100– 104.
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hackelt, gehe er lieber auf eine Schule, wo’s warm ist und wo er ein besseres Essen kriegt, usw.16
In den beiden wichtigsten „Antifa“-Schulen für Österreicher, in Talicy und in der „Höheren Schule“ in Krasnogorsk, wurde die „Antifa-Arbeit“ vor allem über die vielen Aspekte der „Kulturarbeit“ durchgeführt, unterstützt vom Aufbau einer Bibliothek, von eigens hergestellten Wandzeitungen („Österreich ruft !“), von Selbstberichten inklusive politischer Selbstkritik und Gruppenkritik sowie Sport.17 Talicy war für die Ausbildung der Propagandisten und Aktivältesten, die dann die Lager-Aktivs zu leiten hatten, zuständig. Wer die Schule in Talicy erfolgreich absolviert habe, so hieß es, werde neu eingekleidet und per Flugzeug nach Hause befördert. Letzteres, bald nach Hause zu kommen, noch dazu per Flugzeug, dieses Endziel hatte sicherlich jeder Kursteilnehmer ständig vor Augen. Das bedeutete aber auch, dass man unbedingt versuchen musste, dieses Ziel auch zu erreichen. Dies war aber insofern schwierig, als selbst „Kursanten“ durch ihre Erfahrungen, Beobachtungen und eigenen Erlebnisse zu inneren Gegnern des Sowjetsystems wurden. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis war augenscheinlich : Diese Widersprüche musste man innerlich verarbeiten, und keiner konnte es sich leisten, seine wahren Gedankengänge und Gefühle der Umwelt, den anderen Mitgenossen mitzuteilen. […] So herrschte auf der Schule, gleich zu Beginn, ein ungutes Verhältnis zwischen den Lehrern und Schülern. Aber auch unter den Kursanten war ständiges Bespitzeln und Aushorchen an der Tagesordnung, genährt durch die Empfehlung des Lehrkörpers, ja eine revolutionäre Wachsamkeit zu üben, damit allenfalls verkappte Faschisten aufgedeckt und abgeschoben werden können. Manch einer glaubte, nicht alle selbstverständlich, sich diesbezüglich besonders engagieren zu müssen, um sich dadurch einen Fahrschein in die Heimat zu sichern.18
Knapp die Hälfte der österreichischen „Antifa“-Schüler wurde in die Sowjetzone repatriiert, knapp ein Drittel kam in die britische Zone zurück, der Rest in die französische und amerikanische.19
16 17 18 19
Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 29. Ebd., S. 57–80. Ebd., S. 30. DÖW, Akt 7956/9.
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So berichtete Generalleutnant A. Kobulov am 5. Juli 1946 stolz an Innenminister S. N. Kruglov :20 In Erfüllung ihres Auftrages gemäß der Anweisung des ZK der KPdSU vom 1. Juni d. J. wurden 94 österreichische Kriegsgefangene, die die Antifa-Schule und Kurse abgeschlossen haben, nach Österreich repatriiert. 85 Kriegsgefangene wurden mit drei Flugzeugen nach Wien geflogen und der KPÖ übergeben. […] Über Ersuchen des Instituts 99 wurden 6 Personen auf dem Sonderobjekt 40 [Talicy] belassen, um sie als Assistenten des österreichischen Sektors der Antifa-Schule einzusetzen, drei weitere Kriegsgefangene befinden sich noch im Spital. […] Alle Repatrianten wurden in neue Beute-Kleidung gewandet, sie erhielten Wäsche und Schuhwerk sowie die notwendige Reiseverpflegung.
Der Lehrkörper der Schule in Talicy, die noch zwei Jahre länger als das Lager selbst, nämlich bis 1948, existierte, umfasste neben dem Schulleiter (zuerst einem russischen, später einem armenischen Oberst), seinem Stellvertreter (einem hervorragend deutsch sprechenden russischen Major) und den fünf Schulungsleitern noch die einzelnen Lehrer für die Fachbereiche. Grünberg : Es gab vier österreichische Lehrer. […] Den ersten Kurs leitete Franz Honner, später österreichischer Innenminister. Und als ich kam, hieß der Sektorleiter Leopold Stern, dort hieß er Schneider, der später in die DDR als Historiker ging […]. Der zweite Lehrer war Hütter, ein ehemaliger Betriebsrat aus Niklasdorf, der dritte war ich. Und dann kamen noch drei dazu : Anton Schlögl, ehemaliges Schutzbundkind, später hat er bei Voith gearbeitet und ging nach dem Staatsvertrag wieder zurück nach Russland, Hans Eichinger, später KPÖ-Funktionär, sowie Lajos Falasi, ein Wiener, der aus dem Spanischen Bürgerkrieg kam, über KZ-Lager in Frankreich nach Nordafrika ging, von den Briten befreit wurde und schließlich über Zentralasien und Persien nach Russland kam. Dazu kamen Assistenten und Hilfsassistenten.21
Insgesamt fanden in Talicy für die Österreicher zwischen 1944 und 1947/48 neun Kurse mit 700 bis 800 „Kursanten“ statt. Dazu kamen rund 400 österreichische „Kursanten“, die in Krasnogorsk instruiert wurden.
20 GARF, F. 9401, op. 1, d. 2435. 21 Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 34f.
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Oberst Rasdorskij fasste schließlich am 29. Dezember 1949 in einem Schlussbericht an den Chef der GUPVI, Gen. Lt. Petrov, die Arbeit der „Antifa“ in den Kriegsgefangenenlagern zusammen :22 Die Gesamtzahl der Absolventen von „Antifa“-Kursen und „Antifa“-Schulen betrug 78.756 Personen, davon waren 48.090 Deutsche, 21.137 Japaner, 1.208 Österreicher, 1.185 Rumänen, 1.050 Ungarn, 834 Italiener und 252 Angehörige anderer Nationalitäten wie Tschechen, Polen und Franzosen. Während der Anteil der „Kursanten“ bei den Deutschen rund zwei Prozent betrug, lag er bei den Österreichern mit 0,8 Prozent deutlich darunter. Noch viel geringer waren die Anteile bei den Rumänen und Ungarn.23 In allen GUPVI-Lagern gab es Hunderttausende Meetings, Vorstellungen und Schulungen. Von der „Antifa“-Propagandaleitung wurden insgesamt 3.445 vorgefertigte Formulare an Huldigungsschreiben und geschönte Briefe an die Angehörigen zu Hause verteilt, die von insgesamt 389.100 Kriegsgefangenen auch unterschrieben wurden – was, so der Bericht, die antikommunistische Propaganda in den Heimatländern, besonders in Deutschland, Österreich, Rumänien und Ungarn, erschwert hätte. Allein zwischen 1947 und 1949 wurden im Rahmen der „Antifa“ über 300 Bücher über das Leben in der UdSSR herausgebracht. Auf dieser Basis wurde in Deutschland und Österreich das Buch „Kriegsgefangene in der UdSSR“ verfasst, das „eine große Rolle in der Entlarvung der verleumderischen Erfindungen über die Sowjetunion spielte“. Besonders zufrieden zeigte sich Oberst Rasdorskij auch mit der antifaschistischen Arbeit der heimgekehrten Kriegsgefangenen, namentlich in der SBZ/DDR, in Japan und anderen Staaten. Über die Arbeit der Österreicher schweigt er sich aus. Erschienen in : Stefan Karner, Zur sowjetischen Umerziehung : Die „Antifa“ 1941–1949 und das „anti faschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ in der Sowjetunion, in : Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Unter Mitarbeit von Dieter Bacher und Peter Ruggenthaler. Wien – Köln – Weimar 2015, S. 177–195.
22 RGVA, F. 1p, op. 1, d. 1, Schlussbericht Obst. Rasdorskij, 29.12.1949 an GnLt. Petrov, GUPVI, streng geheim, Exemplar 4, S. 148–157. 23 Vgl. Karner, Im Archipel GUPVI, S. 79. Das NKVD registrierte in den GUPVI-Lagern rund 513.000 Ungarn und 187.000 Rumänen.
„Ich bekam 10 Jahre Zwangsarbeit.“ Zu den Verschleppungen aus der Steiermark durch sowjetische Organe im Jahr 1945 (1995)
Vergewaltigungen und Verschleppungen blieben neben der sprichwörtlichen Kinderliebe der sowjetischen Soldaten am nachhaltigsten in der Erinnerung der Menschen an die sowjetische Besatzung in Ostösterreich.1 Zwischen Anfang April und dem 24. Juli 1945 war auch ein Großteil der Steiermark sowjetisch besetzt : Die gesamte Ost- und Teile der Weststeiermark, das Mürztal sowie Teile des Enns- und Murtales. In diesen Monaten hatten daher auch große Teile der steirischen Bevölkerung die sowjetische Besatzungspolitik kennengelernt. Diese war u. a. geprägt von Verhaftungen, von Demontagen wichtiger Betriebe (Stahlwerk St. Marein, E-Werk St. Dionysen, Steyr-Daimler-Puch, Elin Weiz), von Vergewaltigungen (an die 10.000 vergewaltigte Frauen wurden allein in der Oststeiermark amtlich festgestellt, die tatsächliche Zahl ist viel höher), von laufenden Übergriffen sowjetischer Soldaten sowie von geheimdienstlichen Unternehmungen des NKVD und der Smerš.2 1
2
Der vorliegende Aufsatz ist ein Teilergebnis des wissenschaftlichen Großprojektes „Österreichische Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion 1941–1956“, das unter der Leitung des Autors am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien, bearbeitet wird. Den österreichischen Landeshauptmännern, dem Land Steiermark, der Stadt Graz, dem Österr. Schwarzen Kreuz, den Innen-, Justiz- und Wissenschaftsministerien sei für die Unterstützung des Projektes und des Instituts herzlich gedankt. Zur gesamten Thematik vgl. auch : Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsfolgen-Forschung. Wiss. Veröff. d. Ludwig Boltzmann-Inst. f. Kriegsfolgen-Forschung. Wien – München 1995. Smerš (eigentlich Hauptverwaltung der Gegenspionage des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR) war die sowjetische Sonder-Abwehrbehörde und existierte vom 14. April 1943 bis zu ihrer formellen Auflösung bzw. Überführung in Sonderabteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) im Mai 1946. Das Akronym bedeutet : „Tod den Spionen“. Smerš wurde mit seinen Sonderabteilungen vom NKVD abgetrennt und direkt Stalin unterstellt. Unmittelbarer Leiter der Smerš war Viktor S. Abakumov, der von 1946 bis 1952 Minister für Staatssicherheit wurde. Im Zuge der Entstalinisierungsbemühungen Chruschtschows wurde Abakumov zum Tod verurteilt und erschossen. Die Aufgabe von Smerš bestand zwar nominell in der Entlarvung ausländischer Spione, in Wirklichkeit jedoch – besonders nach Kriegsende – in der „Beobachtung“ der sowjetischen Kriegsgefangenen, die man aus den besetzten oder anderen Ländern, vor allem Westeuropas, aber auch Skandinaviens, großteils zwangsweise, wieder rückgeführt hatte. Viele von ihnen kamen – als vermeintliche Deserteure
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Die tägliche Unsicherheit, die tägliche Angst vor etwas Unvorhersehbarem, Lebensbedrohlichem, blieb und nahm in den ersten Wochen der sowjetischen Besetzung weiter zu. 1945 bedeutete daher für die Mehrheit der Menschen des von der Roten Armee besetzten Gebietes nicht ein Gefühl von „Befreiung“, sondern von Besetzung. Mehr noch : Das Auftreten der Sowjets wurde zu oft als Bestätigung des Zerrbildes, das die NS-Propaganda gezeichnet hatte, empfunden : „Primitiv, unkultiviert“. Der vergewaltigende und plündernde Russe wurde, wie Bandhauer und Hornung angeben, ein gängiger Erzähltopos.3 Auch sowjetische Arbeitskräfte, die von den NS-Stellen meist zwangsweise zur Arbeitsleistung in das „Dritte Reich“ verbracht worden waren, dürften für kurze Zeit das allgemeine Bild der „russischen Soldateska“ ergänzt haben, wie etwa aus Gnas berichtet wurde : Aus den zurückziehenden Ostarbeitern bildeten sich Banden, die raubten und plünderten und die Bevölkerung mit Waffen bedrohten […]4
Hinter der Hauptkampflinie des sowjetischen Vormarsches in Österreich und in der Steiermark hatten sowjetische Sondereinheiten und Geheimdienste5
3
4 5
und Spione – nicht zu ihren Familien zurück, sondern in sogenannte „Spezial“-Lager, wo sie längere Haftstrafen abzubüßen hatten, die vermutlich die meisten nicht überleben konnten. Vgl. u. a.: Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag. Bd. l. Bern 1974, S. 88f. und 584 ; sowie : Christopher Andrew – Oleg Gordievsky, KGB. Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow. München 1990, S. 438f.; Jacques Rossi, Spravočnik po Gulagu. Bd. 2. Moskau 1991, S. 364. Vgl. dazu u. a. die Aussagen in Hunderten, aufgezeichneten Interviews im Oral History Archiv des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Univ. Graz, und des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien. Jüngst wurden Aussagen von Steirern, die sie dem ORF gegenüber gemacht hatten, veröffentlicht in : Dieter Dorner (Hg.), 50 Jahre danach, 50 Schicksale. Kriegsende in der Steiermark. Graz – Wien – Köln 1995. Zum „Russenbild“ der NS-Propaganda vgl. jüngst : Irene Bandhauer-Schöffmann – Ela Hornung, Der Topos des sowjetischen Soldaten in lebensgeschichtlichen Interviews mit Frauen, in : Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes 1995, S. 28–44 ; sowie : Ela Hornung, „Trümmerfrauen“ und Wohlfahrtsstaat – Wirtschaft und Soziales, in : Gerhard Jagschitz – Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945–1955. Beitragsband zur Ausstellung des Landes Niederösterreich auf der Schallaburg. Wien 1995, S. 55–57. Nach Helmut Pulko, So war es 1945, in : 1945 : Kriegsende in der Südoststeiermark. Feldbacher Beiträge zur Heimatkunde der Südoststeiermark 4/1989, S. 24. Vgl. dazu auch : Siegfried Beer, Die Geheimdienste im besetzten Österreich, in : Gerhard Jagschitz – Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945–1955. Beitragsband zur Ausstellung des Landes Niederösterreich auf der Schallaburg. Wien 1995, S. 43f.
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zudem mit Verhaftungen und Verschleppungen in die UdSSR begonnen. Frühere Polizei-, Abwehr- und SD-Mitarbeiter in der besetzten Sowjetunion, Kriegsverbrecher, ehemalige NS-Funktionäre, vermeintliche Angehörige von „Werwolf“-Einheiten, vermeintliche Gegner der sowjetischen Besatzer, ehemalige sowjetische Emigranten, Vlasov- und Kosaken-Einheiten6 standen meist auf den teilweise exakt vorbereiteten Listen der Spezialeinheiten des NKVD, der Abwehrorganisation Smerš, der Roten Armee und anderer Einrichtungen. Dazu kamen Verschleppungen von Zivilisten, oft aufgrund von Denun zierungen von Nachbarn, („Volks“-)Deutschen, die beginnende Zusam menbringung und Rückführung von sowjetischen Kriegsgefangenen und „Ostarbeitern“, die ebenfalls von den sowjetischen Sicherheitsorganen mitbetreut wurden. Außerdem suchte man gezielt nach Wissenschaftlern und Technikern, von denen man annahm, sie beim Wiederaufbau und in der Rüstung der Sowjetunion einsetzen zu können. So hatten bereits in den ersten Tagen nach Kriegsende sowjetische Einheiten den Direktor der Steweag, Karl Augustin, verhaftet und in die Sowjetunion verschleppt.7 Ein Bericht der Sicherheitsdirektion Steiermark an das Innenministerium in Wien spricht von 130 Verschleppungsopfern aus der Steiermark. Ein amerikanischer Geheimdienstbericht vermutet im August 1945, dass die Sowjets rund 500 Personen aus der Steiermark verschleppt hätten.8 Beide Zahlenangaben dürften das gesamte Ausmaß der Verschleppungen nur unzureichend wiedergeben. Denn erstmals können aus einem ehemals sowjetischen Militär archiv9 Verhaftungsmeldungen einer in der Steiermark operierenden kleineren NKVD-Einheit, dem 91. Belgoroder Grenzregiment des NKVD, vorgelegt werden. Insgesamt dürften in der Steiermark, besonders in Graz, Dutzende derartiger Spezialeinheiten operiert haben.10 6 Etwa 50.000 von ihnen wurden schließlich zu Pfingsten 1945 in Judenburg von Briten gegen ihren Willen an die Sowjets übergeben. Vgl. dazu jüngst : Stefan Karner, Zur Auslieferung der Kosaken an die Sowjets 1945 in Judenburg, in : Johann Andritsch (Hg.), Judenburg 1945 in Augenzeugenberichten. Judenburg 1994, S. 243–259. 7 Das Schicksal von Karl Augustin bleibt, trotz einiger Hinweise, bis heute ungeklärt. 8 Archiv des Österr. Innenministeriums, Wien, Bestände Abt. 4/4. Herrn Sektionschef Dr. Wolf Szymanski und Frau Min. Rat Mag. Helga Wagner danke ich für die Möglichkeit der Akteneinsicht auch an dieser Stelle herzlich. 9 Staatliches Zentralarchiv der sowjetischen Armee (CGASA), Moskau, F.32903, op. 1, d. 25. Frau Dr. Olga Veličko, Moskau, danke ich für die Überlassung ihrer Abschrift und Auswertung des Faszikels. 10 Die Annahme ergibt sich aus der Bearbeitung der Personaldaten verschleppter Österreicher und Steirer am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz
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Allein das 91. Belgoroder Grenzregiment des NKVD, das zu Kriegsende nach der kämpfenden Truppe in der Obersteiermark einmarschierte, nahm zwischen 11. Mai und 13. Juli 1945 vierzig Personen, vornehmlich im Bereich des Mur- und Mürztales, fest, verhörte sie und gab 18 von ihnen, offensichtlich wegen Vorliegens von Verdachtsmomenten, an andere Sondereinheiten bzw. an die örtliche Exekutive weiter. Bei 22 Personen lagen keine Verdachtsmomente vor, sie wurden meist nach einigen Tagen freigelassen. Von den 18 nicht freigelassenen Personen wurden einige aus verschiedensten Gründen nach sowjetischem Recht verurteilt, in die Sowjetunion gebracht und in Lagern des GULAG-Systems interniert. Dort wurden sie zu schwerer körperlicher Arbeit für die Sowjetunion gezwungen. Die Überlebenden kehrten erst in den fünfziger Jahren wieder nach Hause zurück. Von einigen blieb ihr weiteres Schicksal bis heute ungeklärt. Die Festnahmen erfolgten teilweise aufgrund vorbereiteter Listen, teilweise aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung und teilweise aufgrund eigener Recherchen der Spezialeinheit, die diese vor Ort angestellt hatte. Mit den meisten der angeführten Personen kann heute, 50 Jahre später, nicht mehr gesprochen werden. Teils, weil sie inzwischen verstorben sind, teils, weil sich ihre Spur verlaufen hat. Viele von ihnen waren Flüchtlinge, ehemalige Soldaten der Wehrmacht oder DPs, die zu Kriegsende eher zufällig in der Obersteiermark waren. Von ihnen haben sich in den Chroniken der Gendarmerieposten und Pfarreien und in den Meldeämtern der Gemeinden keine Eintragungen mehr erhalten.11 Die Repatriierung und (Zwangs-)Deportation von Menschen durch sowjetische Organe (auch begünstigt durch die Auslieferung der Westalliierten) nach 1945 ist wissenschaftlich noch nicht erforscht. Sie hat mehrere Ebenen und betrifft einerseits sowohl ehemalige sowjetische Staatsbürger (alte sowjetische Emigranten der beginnenden zwanziger Jahre, sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und im Verband der Wehrmacht kämpfende Truppen unter Vlasov oder Pannwitz), als auch Österreicher, („Volks“-)Deutsche sowie Flüchtlinge, die sich gerade hinter den sowjetischen Demarkationslinien aufgehalten haben. Insgesamt waren von den Repatriierungen und Deportationen durch die Sowjets in Österreich an die Hunderttausend Menschen betroffen. Lediglich die Übergabe der Kosaken- und Vlasov-Einheiten in Ju-
– Wien. Eine Aufstellung von in Österreich operierenden Spezialeinheiten sowjetischer Organe steht noch aus. 11 Erhebungen im Rahmen des Seminars „Kriegsgefangene Österreicher in der Sowjetunion 1941–1956“, das unter meiner Leitung im SS 1995 an der Universität Graz abgehalten wurde.
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denburg durch die Briten an die Sowjets ist bereits mehrfach dargestellt worden.12 Was die Verhaftungen und Deportationen von Österreichern durch sowjetische Organe zwischen 1945 und 1955, vor allem aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland, angeht, beschränkt sich die Literatur lediglich auf kursorische Angaben. Einzelne spektakuläre Fälle, wie Margarethe Ottillinger oder Anton Marek, wurden einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und im Alliierten Rat erörtert.13 Ein wissenschaftliches Projekt zu den Deportationen von Niederösterreichern soll erstmals konkrete Angaben zu Umfang, Motiven und Durchführung der Deportationen geben.14 Von den 34 vom 91. Belgoroder Grenzregiment Festgenommenen, deren Geburtsjahr bekannt ist, waren 12 jünger als 20 Jahre und acht älter als 50 Jahre. Der älteste Inhaftierte, Josef Böhmer aus Kapfenberg, war 61 Jahre, der jüngste, Stefan Wallner aus St. Stefan bei Leoben, 15 Jahre alt. 29 Verhaftete gaben eine österreichische Staatszugehörigkeit, zwei eine deutsche an. Von neun Personen war die Staatsbürgerschaft nicht bekannt. Die Sowjets führten 12 Vgl. dazu vor allem die gut recherchierte Darstellung von Nikolai Tolstoy, Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte. München 1978 ; zur Geschichte der Kosaken, auch der den kämpfenden Kosaken-Einheiten zuletzt übergeordneten Vlasov-Armee vgl. u. a.: Heinrich Detleff v. Kalben – Constantin Wagner, Die Geschichte des XV. Kosaken-Kavallerie-Korps. Faßberg 1990 ; Joachim Hoffmann, Die Geschichte der Wlassow–Armee. Freiburg 1986 ; Sergej Fröhlich, General Wlassow. Deutsche und Russen zwischen Hitler und Stalin. Köln 1987. Über einzelne Etappen der Geschichte, besonders seit dem Zweiten Weltkrieg und zu Einzelschicksalen informieren auch die „Nachrichten der Kameradschaft des XV. Kosaken-Kavallerie-Korps“, 1–75 (Herrn em. Univ. Prof. Dr. Pobesch, Wien, danke ich für den Hinweis auf dieses Nachrichtenblatt). Josef Mackiewicz, Die Tragödie an der Drau. Die verratene Freiheit. München 1988, sowie zur Debatte zwischen Leo Tolstoy und Ford Aldington, Denis Dragunsky, Government plan to revive Cossacks, in : Moscow News, Nr. 27, v. 8.–14.7.1994 ; und Grigori Melamedov, Die Wiedergeburt des Kosakentums, in : „Nachrichten der Kameradschaft des XV. Kosaken-Kavallerie- Korps“, Nr. 72/1993, S. 16f.; Stefan Karner, Kosaken, S. 243–259, und die darin angegebene Literatur, vor allem : Siegfried Beer, Judenburg 1945. Im Spiegel britischer Besatzungsakten. Judenburger Museumsschriften, Bd. 10. Judenburg 1990 ; und Vjaceslav Naumenko, Velikoe predatel’stvo : Vydača kazakov v Lience i drugich mestach 1945–1947. New York 1962. 13 Vgl. dazu etwa auch : Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955. Graz – Wien – Köln 1979, S. 240 ; und den edierten NKGB/ KGB-Personalakt von M. Ottillinger : Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottillinger“. Graz – Wien 1992. 14 Das Projekt wurde beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung beantragt und soll am L. Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien, bearbeitet werden. Am gleichen Institut arbeitet Univ. Prof. Dr. Herbert Killian an seiner eigenen Biographie, die von Verhaftung, Deportation und Zwangsarbeit in Sibirien zwischen 1947 und 1953 gekennzeichnet war.
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bei 15 Verhafteten eine NSDAP-Mitglied- oder Anwartschaft an, zwei sollen Mitglieder der SA gewesen sein. Die restlichen wurden als parteilos bzw. ohne Angabe geführt. Als Gründe für die Verhaftungen werden – vor allem bei den Jüngeren – „Diversant, Terrorist“ angeführt, eine der typischen Sammelbezeichnungen für Regimegegner in der UdSSR, die je nach Bedarf angewendet werden konnte. Bemerkenswert scheint, dass Festnahmen aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung vor allem in den ersten Wochen nach dem Krieg erfolgten, während die späteren Festnahmen offensichtlich aufgrund von Vorort-Recherchen der NKVD-Einheit bzw. anhand einer Fahndungsliste erfolgten. Dabei dürften zwei Momente zusammengespielt haben : Einerseits erfolgten offensichtliche Anzeigen bei der Besatzungsmacht bei der erstbesten Gelegenheit, also in den ersten Tagen der sowjetischen Besatzung, andererseits brauchten gezielte Fahndungen einfach etwas Zeit, sodass diese erst nach einigen Wochen zu Verhaftungen führen konnten. Unter den Verhafteten war auch Hans Schweizer aus der Unternehmerfamilie der Papierfabrik Carl Schweizer in Frohnleiten.15 Ihm wurde eine N SDAP-Mitgliedschaft seit 1933 vorgeworfen. Mangels anderer Vorwürfe wurde Schweizer allerdings wieder freigelassen. Anders erging es dem 24-jährigen, verheirateten Schlosser Leo Kriebernik aus Kindberg. Wenige Tage vor Kriegsende konnte er aus der Wehrmacht desertieren und ab 9. Mai 1945 wieder in seinem Betrieb arbeiten. Als ehemaliges NSDAP-Mitglied hatte er 1945 allerdings eine weiße Armbinde zu tragen. Unter Beihilfe eines ihm aus früheren NS-Parteisitzungen gut bekannten Ortsgendarmen wurde Kriebernik am 29. Juni 1945 – nach einem Hinweis aus der Bevölkerung – verhaftet. Er wurde von den Sowjets nicht freigelassen, sondern bis nach Sibirien verbracht. Sein Weg durch die sowjetischen Lager steht für viele andere auf der NKVD-Liste. Mithilfe der Angaben aus der NKVD-Personalkartothek und eines umfassenden biographischen Interviews, das Robert Brugger mit ihm führte, kann sein Schicksal in sowjetischer Gefangenschaft nun nachgezeichnet werden.16 15 Hans Schweizer war ein Sohn des Firmengründers Carl Schweizer. Nach dem Tod Carl Schweizers im Jahre 1923 führte die Firma allerdings sein ältester Sohn Albert. Vgl. dazu : Othmar Pickl, 75 Jahre Papierfabrik Carl Schweizer in Frohnleiten mit einem Überblick über die Papiererzeugung in der Steiermark. Frohnleiten 1963, S. 142 ; und Othmar Pickl, Geschichte der Papierfabrik Frohnleiten Carl Schweizer AG, in : Die Schweizerpost. Schlußnummer 1974, S. 20, 94f. 16 Robert Brugger, Leo Kriebernik. Ein verschleppter Österreicher. Seminararbeit im Rahmen des Seminars „Kriegsgefangene Österreicher in der Sowjetunion 1941–1956“, das unter der Leitung und mit den Materialien des Autors im SS 1995 an der Universität Graz abgehalten wurde. Herrn Leo Kriebernik, Kindberg, sei auch an dieser Stelle herz-
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Ich wurde also nach Graz gebracht in die Nähe des Hilmteiches. Für ein paar Tage wurde ich in den Keller einer Villa eingesperrt. Dort ließ man mich dunsten, bevor ich zum ersten Verhör geführt wurde. Bei der ersten Vernehmung waren ein sowjetischer Oberleutnant und ein Dolmetscher in Zivil anwesend. Ich glaube der Übersetzer war Österreicher. Ich wurde also gefragt, ob ich wüsste, warum ich da sei. „Nein, weiß ich nicht“, war meine Antwort. Ich solle nachdenken. „Ja, vielleicht weil ich HJ-Führer war.“ Nein. „Weil ich Parteimitglied war.“ Nein. Ob ich beim Militär war, wurde ich gefragt. Ich bejahte und musste meine einzelnen Stationen aufzählen. Sie wussten natürlich bereits Bescheid, sie fragten nur so proforma. Ich musste über unsere Ausbildung in Admont nähere Auskunft geben. Wahrscheinlich könnte ein Geheimdienst unsere Ausbildung so deuten, daß wir für den Partisanenkrieg vorbereitet wurden. Vor allem weil wir auch auf Feindwaffen ausgebildet wurden. Für uns war das doch nur eine logische Ausbildung für den Einsatz. Doch gerade das war im Endeffekt das Ausschlaggebende. Dann kam auch unser Heimkehrdatum zur Sprache. Da unsere Einheit aus Grazern, Kindbergern, Fohnsdorfern etc., also uneinheitlich zusammengestellt, bestand, glaubten die Russen, dies wäre Absicht gewesen. Dass wir nämlich zum Kampf hinter der Front bestimmt seien. Ich verneinte dies natürlich, weil es ja nicht den Tatsachen entsprach. Dass wir am 5. Mai aus freien Stücken die Einheit verließen, glaubten die Sowjets auch nicht.
Schließlich brachte Kriebernik in Erfahrung, dass einer der fünf Deserteure aus der Wehrmacht, ein in Donawitz wohnhafter Kommunist, sowjetischer Kommissar geworden war und dem NKVD die Namen der Mitgeflohenen gegeben hatte. Ohne Gerichtsverfahren wurde Kriebernik zusammen mit anderen Häftlingen in den letzten Tagen der sowjetischen Besatzung der Steiermark zu Fuß über ungarisches Gebiet nach Großpetersdorf im Burgenland getrieben. In unserer Kolonne marschierten auch viele gefangene Russen. Jene, die bei uns in Kriegsgefangenschaft waren. Aber auch Angehörige der Vlasov-Armee. Die waren arm dran. Wir wurden zwar bei den Verhören immer wieder bedroht, doch nie misshandelt, die gefangenen Russen jedoch kamen von den Befragungen oft mit gebrochenen Nasen oder ohne Zähne zurück. In Großpetersdorf wurden wir in einem Bauerngehöft untergebracht. Wir mussten am nackten Boden schlafen. In der Tenne wurde das Tribunal eingerichtet. Der lich für seine Mithilfe bei den Recherchen und seine Gesprächsbereitschaft zu diesem schwierigen Lebensabschnitt gedankt.
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Vorsitzende dieses Tribunals war der gleiche Major der uns schon in Graz verhört hatte. Der war ein ganz brutaler Mensch. Er schlug oft mit der Pistole seinen gefangenen Landsleuten ins Gesicht, sodass sie blutüberströmt zusammenbrachen. Die Russen stellten ein paar Tische auf, Tücher darüber, rote Fahnen, an jeder Ecke ein Soldat mit MP, eine lange Bank auf der die Angeklagten Platz nehmen mussten. Die Anklage gegen mich lautete auf Sabotage, Spionage, Agitation. Alles, was für Hochverrat eben notwendig war. Wir wurden nach den Artikeln 58/10, 6, 12 verurteilt. Außerdem, so glaube ich, nach § 19, das war der Milderungsparagraph. […] Ich bekam 10 Jahre Zwangsarbeit.
Noch bevor sich der Zug mit den Verurteilten in Richtung Osten in Bewegung setzte, gelang Leo Kriebernik auf dem Bahnhof in Großpetersdorf die Flucht aus dem Waggon, aus dem Ort, über die britisch-sowjetische Zonengrenze, über die Fischbacher Alpen und nach Kindberg, wo er am 1. September 1945 ankam. Doch die Wiedersehensfreude mit seiner Frau und den Angehörigen währte nicht lange. Wenige Wochen später, gegen elf Uhr nachts, hörte ich Stimmen vor der Türe. Ich machte Licht und in diesem Moment klopfte es an der Türe. Als ich öffnete, standen die Russen vor mir. Mich traf fast der Schlag. Der Major vom Tribunal, der Dolmetscher und zwei Soldaten mit der Maschinenpistole. „Na Kriebernik, dawaj“, sagte der Major. Ich solle mich warm anziehen, es werde kalt werden. Der Major ging ins Schlafzimmer und ich befürchtete, dass meiner Frau Gewalt angetan werden würde. Sie schrie vor Angst, doch der Russe schaute nur nach, ob nicht irgendwo eine Waffe versteckt sei. Mit einem Hosenriemen wurde ich gefesselt und in das Auto, das gleich um die Ecke stand, gestoßen. Der Dolmetscher fuhr den Wagen, ich saß am Rücksitz in der Mitte, links und rechts je ein Soldat, die mir die Schulter hielten ; und am Beifahrersitz der Major, der sich nach hinten drehte und mir die ganze Zeit die Pistole an die Stirn hielt. Beim Hotel Gruber, wenige hundert Meter entfernt, war die englische Kommandantur. Mir war klar, ein Schrei und ich bin tot.
Damit gelang den Sowjets ein offensichtlich mithilfe Einheimischer geplantes Kidnapping mitten in der britischen Zone. In der nächsten Kommandantur wurde ich verhört. Ob ich wisse, wo ich sei. Und vor allem wie mir die Flucht gelungen sei. Das Tribunal ist in der Zwischenzeit von Großpetersdorf nach Oberwart übersiedelt. Dort wurde ich ins Gefängnis geworfen. In diesem Keller saß aber auch einer jener Russen, die
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unseren Transport bewachten und nun aufgrund meiner gelungenen Flucht eingesperrt war. […] Im Garten wurden Latrinen ausgehoben und Holzbalken darüber gespannt. Ich versuchte immer, wenn wir in den Garten geführt wurden, in der Mitte der Gruppe zu gehen. Ich hatte ja doch Angst, dass sich irgendjemand an mir rächen würde. Es gab einen Unteroffizier, der holte mich aus der Reihe heraus und ließ mich als Letzten gehen. Beim Rausgehen stieß er mir immer die Pistole in den Rücken, und so versuchte ich beim Hineingehen möglichst weit vorne zu sein. Aber er erwartete mich bereits an der Kellerstiege. Er wartete bis alle unten waren und gab mir einen Tritt, sodass ich über die Stufen flog. Bis Anfang Oktober war ich hier eingesperrt. Eines Nachts wurde ich in eine andere Zelle verlegt. Dort war nur ein russischer Offizier. Ich glaube, den haben sie mir als Spitzel dazugegeben. Jedenfalls wollte er mich stets zum Flüchten animieren. Doch das wäre viel zu gefährlich gewesen. Irgendwann ging in einer Nacht die Türe auf, mein mich schikanierender Unteroffizier befahl mir herauszukommen und erklärte mir, dass meine Frau gekommen sei. Ich dachte, jetzt haben sie auch noch meine Frau entführt. Man brachte mich in die Kommandantur, der Dolmetscher war wieder hier, ein Leutnant und der Major. Der Major fragte mich, ob ich noch einmal flüchten will. Nein, war meine Antwort ; es habe ja keinen Sinn, ich werde meine zehn Jahre abarbeiten. Er fragte mich noch einmal, und bevor der Dolmetscher übersetzte, schlug er mich zu Boden. Mit der bloßen Faust auf die Schläfen. Zwei Soldaten halfen mir auf, und der Major stellt wieder die gleiche Frage. Ich sagte wieder nein. Und es krachte schon wieder. So ging das drei oder vier Mal weiter. Einmal links, einmal rechts. Ich war dann schon so benommen, dass ich mir dachte, es ist besser, liegen zu bleiben. Doch das war ein Fehler. Er trat mir mit voller Wucht ins Kreuz, und als ich mich umdrehte, sprang er mir auf den Bauch. Ich wurde bewusstlos. Sie schütteten eiskaltes Wasser über mich und ich kam wieder zu Bewusstsein. Man sperrte mich wieder in die Gefängniszelle und der Unteroffizier gab mir einen Tritt, dass ich gleich gegen die Pritsche flog. Er kam dann ganz nahe zu mir und fragte : „Na Kriebernik, Frau gut ? Frau gut ?“
Von Oberwart kam Kriebernik schließlich in einem Gefangenentransport auf der Bahn über Steinamanger/Szombathely nach Lemberg/L’viv, wo alle zivilverurteilten Österreicher in Richtung Sowjetunion durchgeschleust wurden.
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Das Lager selbst war, so glaube ich, eine ehemalige Schule. Wir lagen wie Sardinen in den Klassenräumen. Der hygienische Standard war katastrophal. Man hatte keine Waschgelegenheit. Im Garten wurden Gräben ausgehoben, über welche einfach Holzbalken gelegt wurden. Dadurch, dass immer mehrere gleichzeitig ihre Notdurft verrichteten, sah man natürlich auch, dass bei vielen nur noch Blut ausgeschieden wurde. Die Ruhr ist im Lager ausgebrochen. Es gab unzählige Tote. Eines Tages sagte mein Kamerad Haas Karl aus St. Pölten, er möchte mir etwas zeigen. Wir gingen zu einer Baracke, bei der man durch einen Spalt in den Keller sah. Da lagen dutzende Leichen, allesamt nackt, wobei an den meisten medizinische Experimente oder pathologische Untersuchungen durchgeführt wurden. Nach circa drei Wochen in Lemberg wurden wir weitergeschickt.
Die nächste Lagerstation Krieberniks war Kremenčuk, östlich von Kiew, wo die Gefangenen eine Waggonfabrik instand setzen mussten : Dafür kamen mehrere Transporte mit konfiszierten deutschen Maschinen und Geräten. Das Problem war allerdings, dass wir diese oft hunderte Kilo schweren Teile mit bloßer Körperkraft von den Zügen abladen mussten und so sehr viel gutes Material in Brüche ging bzw. Präzisionsgeräte ihre Genauigkeit einbüßten. In diesem Lager verbrachte ich den Winter 45/46.
Weiter ging es per Bahn über Char’kov, Čeljabinsk im Ural bis nach Kara ganda in Kasachstan. Interessanterweise haben die Sowjets dort eine Art Erholungsbaracke eingerichtet. Da ich so schwach war, wurde ich dorthin eingewiesen und verbrachte einen Monat hier. Ich war arbeitsbefreit. Der Boden der Baracke war aus Lehm. Dieser wurde mit Kuhmist eingelassen, so glänzte der Boden wirklich. Zudem haben wir am Rand Verzierungen, so eine Art Ornament, angebracht. Die Farbe Weiß machten wir aus Kalk, Rot aus Ziegelstaub, Schwarz aus Kohlen. Auf Anfrage der Wärter, wer arbeiten möchte, meldete ich mich freiwillig, so bekam ich zusätzlich noch einen Teller Suppe pro Tag. Nach diesem Monat kam ich in das etwa hundert Kilometer entfernte Landwirtschaftslager Burma. Wir marschierten zu Fuß. Hier waren sehr viele Zwangsverschickte. Also Volksdeutsche, Kosaken. Auch lebten Soldaten mit ihren Familien dort. Das Lager war nicht groß. Vielleicht siebenhundert Gefangene. Der Großteil der Insassen waren sowjetische Kriminelle. Unter diesen gab es auch einige Morde, es gab schon fast eine Art Bandenkrieg. Machtkämpfe wurden eben mit dem Messer ausgetragen, wobei der
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Besitz solcher Gegenstände freilich strengstens verboten war. Es gab dort sogar Baracken für Gefangene ohne Bewachung. Aber nur für jene, die nicht nach Artikel 58 verurteilt wurden. Wir arbeiten anfangs auf den Feldern. In einer Kette standen wir Mann an Mann, marschierten die endlosen Felder ab und jäteten das Unkraut. Eines Tages wurde ich zum Lagerkommandanten gerufen. Als er erfuhr, dass ich gelernter Schlosser sei, versetzte er mich wenige Tage später in die Werkstatt.
1949 ging es weiter zu den Kupferbergbauen nach Schesqasghan in Kasachstan, wohin man hauptsächlich sowjetische Schwerverbrecher und politische Gefangene verbracht hatte. Kriebernik war neben ihnen. Den Gefangenen dort wurden Eisenketten an die Beine geschmiedet, am Ende der Kette war eine schwere Eisenkugel montiert. Um überhaupt gehen zu können, mussten diese Männer die Kugeln in den Händen tragen. Es war ein unglaublicher Anblick. Wie im Mittelalter. Und zudem wurden sie extrem streng bewacht. Ganz selten kamen wir in Kontakt mit ihnen.
Zunehmend war das Lager ein Korpus geworden mit gegenseitigen Abhängigkeiten von Gefangenen und den Wachmannschaften, von denen einige mitunter Strafen selbst abzubüßen hatten. Lagerleiter waren auf eine hohe Arbeitsmoral der Gefangenen angewiesen. Nur so waren die Arbeitsnormen zu erfüllen, nur so wurden die daraus resultierenden Prämien gewährt und nur so gab es Beförderungen für die Lagerleitung. Das Entgegenkommen der Gefangenen bestand in einer minimalen Arbeitsmoral, in annähernd erfüllten Normvorgaben. Ihren „Dank“ stattete die Lagerleitung mit kleinen Lockerungen in der Handhabung der Lagerordnungen, im „Frisieren“ von Produktions- und Arbeitsstatistiken oder einfach im Wegsehen bei kleinen Vergehen und Diebstählen ab : Im Herbst 1948 bauten wir unter Anleitung der Bewachungssoldaten aus Steinen und Erde Unterstände für den kommenden Winter. Wir konnten auch einen Ofen hinstellen, das Rohr ging seitlich hinaus. Den ganzen Winter 1948/49 arbeitete ich dort. Es mangelte an Brennholz. Als ein Schneesturm einsetzte, stahlen wir aus dem bestehenden Eisenbahngeleise einige Schwellen und verheizten sie. Obwohl einige Wachsoldaten dabei waren, gab es keine Konsequenzen.
1950 ging es für Kriebernik weiter : nach Sibirien. Über Irkutsk am Baikalsee in das Gefängnis des MVD Aleksandrovsk.
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Hier bekam ich im ersten Moment wirklich wieder Angst. Alles deutete darauf hin, dass es sich hier um ein Vernichtungslager handelte. Ich wurde in ein Verlies gestoßen ; kein Licht, keine Pritsche, nichts. Mehrere Tage verbrachte ich so, ohne zu wissen, wie es nun weiterginge. Eines Tages kam ich in eine andere Zelle, hatte vierzehn Tage Isolierhaft. Dann bekam ich einen Japaner in die Zelle. Da ich nicht englisch, er nicht deutsch sprach, konnten wir uns nur mit Handzeichen verständigen. Allerdings betrieben wir ein wenig Sport. Insofern als mir der Japaner einige Tricks und Techniken asiatischer Kampfsportarten zeigte. Eine Woche danach wurde ich zum Gefängnisdirektor zitiert. Er befragte mich und erkundigte sich zum Schluss, ob ich irgendwelche Beschwerden hätte. Ja, ich sei ja zur Zwangsarbeit verurteilt, und hier bin ich aber den ganzen Tag eingesperrt. (Denn zu arbeiten war trotz Anstrengungen weit angenehmer, als die ganze Zeit nur herumzusitzen.) Der Direktor erklärte mir, dass es sich hierbei um einen Befehl aus Moskau handelte, der besagte, dass die Österreicher aus Sicherheitsgründen in einem Gefängnis zu internieren seien. Unmittelbar nach dem Gespräch wurde ich in eine Großzelle verlegt. Hier wurden vierzehn Österreicher und etwa fünfzehn Sowjets festgehalten. Jeder Gefangene hatte ein Einzelbett mit Bettwäsche, die sogar alle zwei Wochen gewechselt wurde. Ich fasste auch neue Lederschuhe und qualitativ hochwertige Bekleidung aus. […]
Bis 1953 war Kriebernik im Aleksandrovsker Gefängnis, teilweise zusammen mit politischen Häftlingen, untergebracht. So mit einem früheren ukrainischen Landwirtschaftsminister, der sich das Wohlwollen des Gefängnisdirektors mit Spitzeldiensten erwarb. Nach Stalins Tod, im Juni 1953, kam Leo Kriebernik wieder auf „Etappe“. Das Ziel der Eisenbahnfahrt war ungewiss. Eismeer ? Kolyma ? Vorkuta ? Doch die nächste Station war das Durchgangslager in Rybinsk, nördlich von Moskau. In die berechtigte Hoffnung auf baldige Heimkehr kam die Mitteilung eines Politoffiziers : Die Heimreise wird aus politischen Gründen auf unbekannte Zeit verschoben ! Unbekannte Zeit war natürlich […] eine Katastrophenmeldung.
Im Oktober 1953 war es schließlich soweit : Noch während der Fahrt war man sich nicht sicher, ob man uns nach Hause fahren würde oder nicht. Kein sowjetischer Offizier gab uns eine verbindliche Auskunft. Doch in unserem Waggon, der mit offener Tür fuhr, gab es Frontoffiziere, die in Russland kämpften. Diese erkannten aufgrund der Beschilde-
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rung an den Bahnhöfen, dass es Richtung Heimat ging : Über Smolensk, die Karpaten und Budapest nach Wiener Neustadt. Die Emotionen, die wir damals alle verspürten, konnte man nicht wiedergeben. Bei der Ankunft spielten sich unglaubliche Szenen ab. Auch meine Frau, die erst am gleichen Tag von meiner Ankunft erfahren hatte, erwartete mich […] Endlich konnte ich meinen bereits achtjährigen Sohn zum ersten Mal in die Arme schließen. Erschienen in : Stefan Karner, „Ich bekam 10 Jahre Zwangsarbeit“. Zu den Verschleppungen aus der Steiermark durch sowjetische Organe im Jahre 1945, in : Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955. Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark, Bd. 38. Graz 1995, S. 249–259.
Margarethe Ottillinger: ein Opfer des „Kalten Krieges“ (2005)
Zu den bekanntesten österreichischen Verhaftungsopfern durch sowjetische Organe zählte die 29-jährige Sektionsleiterin im Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Margarethe Ottillinger.1 Sie war am 5. November 1948 von den Sowjets auf der Ennsbrücke beim Überqueren der Zonengrenze von der US- in die sowjetische Zone, bei Ennsdorf/St. Valentin im Beisein ihres Ministers Peter Krauland aus ihrem Auto heraus verhaftet, nach Verhören in Baden per Fernurteil aus Moskau (OSO) zu 25 Jahren GULAG verurteilt und in die Sowjetunion deportiert worden. Urteilsbegründung : Spionage für die USA und Fluchthilfe für einen sowjetischen Techniker. Möglicherweise war ihre Verhaftung jedoch als sowjetische Warnung an Minister Krauland zu verstehen. Eine andere Version besagt, dass sie von Mitarbeitern des eigenen Ministeriums denunziert worden sei. Sie selbst äußerte auch die Vermutung, ihre Verhaftung wäre unter Mithilfe des US-Geheimdienstes erfolgt. Der Fall Ottillinger zeigte schlagartig, wie neben Berlin auch Österreich zu einem wichtigen Operationsfeld der Geheimdienste der beiden Supermächte im „Kalten Krieg“ geworden war. Wien wurde als Vorposten gegenüber dem jeweils anderen Einflussbereich angesehen.2 Die Geheimdienste der USA (OSS), der Sowjets (Smerš), GRU, NKGB/MGB/KGB, der Briten und Franzosen arbeiteten hier nahezu unter idealen Bedingungen, teilweise auch mit Netzwerken in den österreichischen, noch im Aufbau befindlichen Diensten. Die Einbindung von Österreichern in geheimdienstliche Tätigkeiten an dieser Nahtstelle des „Kalten Krieges“ war vielfältig. Im prowestlichen Grundkonsens, besonders nach dem Oktober 1950, galt eine Hilfeleistung für die westlichen, vor allem die US-Dienste weniger als Vergehen denn als eine pat1
2
Vgl. zum Beitrag generell : Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. Margarita Ottillinger. Graz – Wien 1992 ; Stefan Karner, Zur Politik der sowjetischen Gewahrsamsmacht : Das Fallbeispiel Margarethe Ottillinger, in : Alfred Ableitinger – Siegfried Beer – Eduard Staudinger (Hg.), Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 63. Wien – Köln – Graz 1998, S. 101–130 ; jüngst erschienen : Ingeborg Schödl, Im Fadenkreuz der Macht : das außergewöhnliche Leben der Margarethe Ottillinger. Wien 2004. Vgl. zu Berlin und Deutschland : George Bailey – Sergej A. Kondraschow – David E. Murphy, Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin. Berlin 1997.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
riotische Tat. Ehemalige Emigranten und Kriegsgefangene arbeiteten in west alliierten Stäben ; Techniker, Verwaltungsbeamte, Manager gaben Informationen, vor allem über die sowjetische Seite weiter. Anders war die Situation für die Sowjets. Die ehemaligen KP-Emigranten hatte man eher in niederen NKVD-Diensten eingesetzt. Durch die sowjetische „Antifa“ „umgeschulte“ österreichische Kriegsgefangene versuchte man als Vertrauenspersonen für die sowjetische Besatzungsmacht zu verwenden, mit mäßigem Erfolg. Fallweise versuchte die KPÖ, Vertrauensleute in hohe staatliche Stellen zu bringen. So bekannte sich Ottillingers Stellvertreter in der Sektion, Peter Feltl, als Kommunist, arbeitete aber vermutlich sowohl für die Sowjets als auch für den amerikanischen Geheimdienst. Feltls Schwester wiederum war die Gattin eines US-Agenten. Auszukundschaften gab es viel : die Verstaatlichungen, Beratungen über den US-Marshall-Plan, Fragen zu USIA und SMV. Für das alles war an leitender Stelle neben Minister Krauland vor allem Ottillinger zuständig. Bei ihr liefen alle Fäden zusammen. Sie galt als einflussreichste Frau Österreichs. Als im Juni 1947 der US-Marshall-Plan für Europa verkündet wurde, besaß Österreich die fertigen und im Vorfeld schon mit den Amerikanern abgestimmten Pläne und konnte sich so die zweithöchste Pro-Kopf-Zuweisung (nach Norwegen) aus den ERP-Mitteln sichern. Führende Experten und Geheimdienstleute der Supermächte zählten zu ihren dienstlichen Gesprächspartnern : die US-Amerikaner Edwin M. J. Kretzmann, Charles (Karl) B. B. Friediger, ein ehemaliger österreichischer Journalist, Heimwehrmann und Funktionär der Vaterländischen Front, der Brite Arthur Cox, der Stahlexperte Andrej I. Didenko, dem sie zur Flucht in die britische Zone verhalf, Ingenieur Kulagin, die Hauptleute Koretko und Polinskij, der Leiter des Chemiereferates, Ljusov, und USIA-Chef, General Efisov. Nach einer ersten Auswertung der Verhörprotokolle scheint Ottillinger doch eher ein Opfer von Denunziation im eigenen Bereich geworden zu sein. Zudem hatte sie für die Amerikaner 1948 dem Anschein nach keinen „Informations- und Beschaffungswert“ mehr dargestellt, und man wollte sich ihrer vermutlich entledigen, weil sie einen US-Geheimdienstmitarbeiter in ihrer eigenen Sektion enttarnt und ihn zur Rede gestellt hatte.3 Dass auch die Sowjets 1951/52 von ihrer ursprünglichen Position abgingen und die Schuldlosigkeit der Verurteilten indirekt zugaben, geht aus den von Ottillinger erzwungenen Verhören in der Lubjanka um die Jahreswende 3
Vgl. auch : Stapo-Protokoll eines ausführlichen Gespräches mit Frau Dr. Margarethe Ottillinger, aufgenommen am 15. u. 18.7.1955 in Mauerbach. Das Protokoll wurde mir von Frau Dr. Margarethe Ottillinger 1992 ausgehändigt.
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1951/52 hervor. Die Argumente Ottillingers überzeugten, und der stellvertretende Minister für Staatssicherheit der UdSSR, Gen Obst. S. Goglidze ordnete am 23. August 1952 eine neuerliche Überprüfung ihres Falles bei der Sonderkommission mit dem Ziel einer Verlegung des Haftortes vom GULAG-Lager in Pot’ma in das Sondergefängnis des MGB an. Etwa gleichzeitig wurde Ottillinger aufgefordert, entsprechende Beschwerden an das Innenministerium und an den Generalstaatsanwalt der Sowjetunion zu richten, was sie 1953 auch in umfassender Form tat. In den Beschwerden benannte sie gegenüber den sowjetischen Organen ihren angeblichen Denunzianten und MGB-Mitarbeiter (Tarnname „Arthur Vogler“) aus dem eigenen Ministerium und widerlegte seine Aussagen, auf denen ihre Verurteilung wegen Spionage und der Ermunterung sowjetischer Offiziere zum Überlaufen und damit zum „Vaterlandsverrat“ basierten. Am 10. März 1955 schlug der erste Vorsitzende des KGB beim Ministerrat der UdSSR, Gen. Lt. P. Ivašutin in einem Schlussbericht vor, die Haftdauer Ottillingers von 25 auf 10 Jahre zu verkürzen. Dazu kam es nicht mehr, Ottillinger wurde im Zuge der erfolgreichen Staatsvertragsverhandlungen am 21. April 1955 vorzeitig entlassen und im Jahr darauf bereits von der UdSSR rehabilitiert. 1994 wurde sie auf Basis des russischen „Gesetzes über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ vom 18. Oktober 1991 in allen ihr zur Last gelegten Punkten rehabilitiert.4 Nur ihre Zähigkeit, ihr Überlebenswille, ihr in der Haft gewonnener christlicher Glaube und ihre Hartnäckigkeit retteten Ottillinger das Leben. Erschienen in : Stefan Karner, Margarete Ottilinger – Ein Opfer des „Kalten Krieges“, in : Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), Österreich ist frei. Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband Schallaburg 2005, S. 227–230. Siehe dazu auch jüngst : Stefan Karner, Im Kalten Krieg der Spionage. Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948–1955. Innsbruck – Wien – Bozen 2016.
4
Vgl. Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, Moskau, Rehabilitierungsbescheid Ottillinger, gez. v. N. S. Vlasenko – Die Rehabilitierung erfolgte aufgrund der persönlichen Eingaben des Verfassers an das Außenministerium der RF und an die Staatssicherheit der RF aus den Jahren 1992 und 1993.
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten in der Sowjetunion unter Chruschtschow und in den 1990er-Jahren: dargestellt am Beispiel von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen (2015)
In meinem Beitrag beschäftige ich mich mit den Kriegsgefangenen und Internierten, die wegen ihnen zur Last gelegter Verbrechen in der Sowjetunion verurteilt wurden oder ohne Urteil inhaftiert waren. Es sind nicht die Prominenten, wie Rajk, Slánský oder Mindszenty. Es geht um den Alltag der sowjetischen Gerichtsinstanzen sowie den Alltag in den Lagern. Und so sind es Tausendschicksale. Jedes Einzelne dennoch wert, aufgezeichnet zu werden. Dazu kommen die Folgen für Angehörige, die Ehefrauen, Verlobte, Kinder, die ihren Vater mitunter erst im Alter von zehn Jahren erstmals sahen, Mütter und Väter, die sich bis zu ihrem Tod nicht damit abfinden konnten, ihr Kind komme nicht wieder heim. Insgesamt sind es auch Folgen eines vom „Dritten Reich“ begonnenen Krieges, die nachwirkten ; Wunden, die bis heute nicht verheilt sind. Die Sowjetbehörden führten genau Buch über jeden Einzelnen, den sie einmal registriert hatten, seinen Weg durch die Lager, seine Krankengeschichte, die Verhöre, die Prozesse, das Urteil, die meist abgewiesenen Rekurse, die Exekution oder Haftverbüßung. Die teilweise Öffnung der russischen Archive gab seit 1990 einen Spalt frei, ermöglichte einen begrenzten Blick in die Prozesse, Schauprozesse und in die Archipele des sowjetischen Kriegsgefangenen- und Internierungswesen (GUPVI), in die Besserungsarbeitslager- und Kolonien (GULAG) sowie in die Haftanstalten und Gefängnisse. In sowjetischer Hand wurden über vier Millionen ausländischer Kriegsgefangener und Internierter aus über 30 Ländern registriert. Unter ihnen waren über 2,3 Millionen Deutsche, über 800.000 Japaner, rund 500.000 Ungarn, etwa 180.000 Rumänen, 134.000 Österreicher, rund 70.000 Tschechen und Slowaken, knapp 60.000 Polen, über 40.000 Italiener (darunter viele Südtiroler), etwa 24.000 Franzosen (unter ihnen viele aus dem Elsass) und circa 21.000 Jugoslawen. Dazu kamen Holländer, Finnen, Belgier (vor allem Flamen), Lu xemburger, Dänen, Spanier, Norweger, ja selbst Briten und US-Amerikaner. Weiters Hunderttausende an „Internierten und mobilisierten Deutschen“, an
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Internierten anderer Nationalitäten, die ohne Gerichtsurteil, vorwiegend in Arbeitsbataillonen, festgehalten wurden. Sie werden im Folgenden nicht behandelt.1 Die wissenschaftlichen Arbeiten zum Kriegsgefangenenwesen und zu den Verurteilungen in der Sowjetunion konnten auf sowjetischer Aktenbasis und systematisch erst 1990/91 beginnen. Alle ehemaligen französischen, luxemburgischen, verurteilten deutschen, österreichischen und italienischen Kriegsgefangenen wurden in den Archiven der NKVD-Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (GUPVI) sowie im Zentralarchiv des russischen Innenministeriums (MVD) erfasst. Insgesamt weit über 200.000 Personen. Von jedem einzelnen Kriegsgefangenen wurden 28, bzw. bei den Verurteilten 36, wichtigste Merkmale in einer Datenbank archiviert. Das Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung verfügt damit über die erste und größte EDV-Datenbasis zu Kriegsgefangenen, Internierten und Verurteilten verschiedener Länder in sowjetischer Hand außerhalb Russlands (was auch zahlreiche Vergleiche zulässt) sowie über die größte Sammlung der entsprechenden Dokumente zu allen Fragen der Gefangenschaft in der Sowjetunion.2 Durch sowjetische Instanzen verurteilte Kriegsgefangene hatten – nach Schauprozessen, nach Geheimverfahren oder nach Schreibtisch-Urteilen aus Massenverfahren – ihre Freiheitsstrafen generell in den Lagern der Hauptverwaltung für Besserungsarbeitslager und -Kolonien des NKVD (GULAG) sowie in Justiz- und Haftanstalten und zu einem kleinen Teil in ehemaligen Lagern der GUPVI des NKVD zu verbüßen. Zum Tod Verurteilte und Exeku1
2
Die Basis der Zahlenangaben stellen die Unterlagen der GUPVI des NKVD (vor allem : RGVA, Moskau, Fonds 1p, 4p, 32p, 45 ; Zentralarchiv des MVD, Moskau, Strafprozessakten). Diese wurden aufgrund eigener Erhebungen und Forschungen ergänzt bzw. korrigiert. Dazu und zum gesamten Beitrag vgl. Stefan Karner, Im Archipel GUPVI : Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1945. Kriegsfolgen-Forschung. Bd. 1. Wien – München 1995. Sehr gute Überblicke zur Kriegsgefangenenforschung bieten für Russland : Aleksandr L. Kuzminych, Sistema voennogo plena i internirovanija v SSSR : Genezis, funktsionirovanie, lagernnyj opyt (1939–1956gg.). Archangelsk 2014 ; insgesamt : Stefan Karner – Günter Bischof – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Wien – München 2005 ; Ralf Stettner, Archipel GULag. Stalins Zwangslager. Terror instrument und Wirtschaftsgigant. Paderborn 1996. Dazu zählen besonders Akten zu Prozessen, Verurteilungen, die normative Basis des Kriegsgefangenenwesens, Arbeitseinsatz, rund 4.000 GUPVI-Lager und Teillager mit Plänen und Beschreibungen, rund 3.000 Kriegsgefangenenfriedhöfe mit Plänen und Grabbüchern, Dokumente zur Rückführung, Rehabilitierungsunterlagen, Akten der operativ-tschekistischen Abteilungen des NKVD als Basis der Untersuchungen und Erhebungen gegen einzelne Kriegsgefangene usw.
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten
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tierte hatten selbst das Recht auf ein Todesdatum verwirkt. Es wurde gemäß einer Anordnung falsch weitergegeben und die Auskunftsstellen, etwa des Roten Kreuzes und Halbmondes, entsprechend instruiert und angewiesen. Für Verurteilte endete die Gefangenschaft, soweit sie diese überhaupt überlebten, meist erst nach vielen Jahren. Waren bis 1949 Kriegsgefangene zum überwiegenden Teil in Einzelverfahren verurteilt worden, so begannen 1949, nachdem der internationale Druck auf die Sowjetunion zur Freilassung ihrer Kriegsgefangenen sehr stark geworden war, die Massenverfahren gegen Kriegsgefangene. In mehreren Schüben verurteilten 1949 sowjetische Militär- und Sondergerichte Tausende als Kriegsverbrecher zu 25 Jahren : vor allem Deutsche und Österreicher, aber auch Japaner. Ab 1946/47 wurde die geheimdienstliche Arbeit zur Ausforschung von Kriegsverbrechern unter den Lagerinsassen intensiviert. Der dabei „entdeckte“ Sohn des ehemaligen NS-Reichsstatthalters in Wien, Richard Seyß-Inquart, führte zu weiteren „Filtrierungen“ der Kriegsgefangenenlager durch das MVD. So verblieben ab 1949 von den Deutschen und Österreichern in den sowjetischen Lagern nur noch jene rund 30.000, die man wegen verschiedener zu Last gelegter Delikte und Kriegsverbrechen zumeist zu 25 Jahren GULAG verurteilt hatte. Vor allem die GULAG-Verwaltung verfügte über rund 8.000 Lager, Teillager, Kolonien, Sonderlager und lagerähnliche Einrichtungen mit insgesamt rund 20 Millionen Häftlingen, die bekanntesten unter ihnen waren die großen Lagerbezirke Solovki, Vorkuta, Kolyma, Kemerovo und Pot’ma. Zu den bekanntesten Gefängnissen der Sowjetunion, in denen auch verurteilte Ausländer einsaßen, zählten der „Politisolator“ in Vladimir, die Butyrka als größtes russisches/sowjetisches Gefängnis überhaupt, das Moskauer Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit im Stadtteil Lefortovo, das Innere Gefängnis auf der Lubjanka oder das Gefängnis Kresty in St. Petersburg. Ab 1948 wurden innerhalb des GULAG zusätzliche „Sonderlager“ (Osobye lagerja) und „Sondergefängnisse“ für „besonders gefährliche Staatsverbrecher“ (v. a. nach § 58 StGB von 1926 : Neben den Klassenfeinden und ideologischen Gegnern v. a. „Diversanten“, Spione und „Teilnehmer“ in antisowjetischen Gruppen) eingerichtet. Die „Sonderlager“ befanden sich im Lagerbezirk Kolyma, in den Gebieten Inta und Noril’sk, in Karaganda sowie in Mordowien (Javas, Temniki). Die „Sondergefängnisse“ wurden in Wladimir, Aleksandrovsk und Verchneural’sk eingerichtet. Sonderlager und Sondergefängnisse hatten auch einen Teil der „Katorga“-Häftlinge aufzunehmen.3 3
GARF, F. 9401, op. 12, d. 318, 2–5. Gemeinsamer Befehl der Minister von MVD und MGB sowie vom Gen. Staatsanwalt, Nr. 00279/00108/72SS, 16.3.1948, gez. S. Kruglov,
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GUPVI- Lager, in denen nach 1950/53 auch Verurteilte festgehalten wurden, lagen vor allem in den Gebieten Ekaterinburg (Swerdlowsk), Stalino Donec'k (Stalino), Rostov, Lugansk (Vorošilovgrad), Wolgograd (Stalingrad), Ivanovo und Moskau.4 Verurteilungen vorgeblicher ausländischer Kriegsverbrecher erfolgten durch sowjetische Instanzen nach dem „Ukaz 43“, aber auch nach dem dafür nicht heranzuziehenden, weil nur für Deutschland geltenden Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates für Deutschland vom 20. Oktober 1945.5 Bei den Verurteilten handelte es sich vor allem um ehemalige Soldaten und Offiziere der Deutschen Wehrmacht, Mitglieder der SS (einschließlich der Waffen-SS), des SD, der Gestapo sowie von „Sondereinheiten“, Feldgendarmen, Polizeiangehörigen, von KZ-Personal und höherem Besatzungspersonal. Das Strafausmaß schwankte in der Regel zwischen einem Freiheitsentzug von 12 Monaten bis zu 25 Jahren. In zahlreichen Fällen wurde auch die Höchststrafe, der Tod durch den Strang oder durch Erschießen, ausgesprochen und exekutiert. Lediglich zwischen 1947 und 1950, als in der Sowjetunion die Todesstrafe in Gerichtsverfahren ausgesetzt worden war, stellte eine Verurteilung zu 25 Jahren Freiheitsentzug ebenfalls die Höchststrafe dar. In Wahrheit stellte auch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren in einem GULAG-Lager einen Tod auf Raten dar. Trafen die ausgesprochenen Strafen unter den Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilisten auch die Kriegsverbrecher ? War der sowjetische ordentliche und außerordentliche Justizapparat in der Lage, rechtsstaatliche Verfahren durchzuführen, oder lieferte gerade die sowjetische Praxis jenen Kritikern die entscheidenden Argumentationshilfen, die von Siegerjustiz der Alliierten sprachen ? Können und konnten die russischen und GUS-Rehabilitierungs-
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V. Abakumov und G. Safonov. Kopie im BIK-Archiv. Abgedruckt auch in : A. I. Kokurin – Nikita Petrov, GULAG (Glavnoe upravlenie lagerej) 1917–1960. Wiss. Red. V. N. Sostakovskij, in : A. N. Jakovlev (Hg.), Rossija XX. vek. Dokumenty. Moskau 2000, S. 38f. BIK-Archiv, Datenbanken : Verurteilte deutsche Kriegsgefangene und Österreicher in der Sowjetunion (beide : Stefan Karner) sowie Datenbanken zu den französischen und luxemburgischen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand (Stefan Karner). Vgl. dazu viele Beispiele bei Irina V. Bezborodova, Generäle des Dritten Reiches in sowjetischer Hand (1953–1656). Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Bd. 4. Graz 1998, S. 28, 38, 50, 83, 91f., 113, 146, 166, 173, 233, 243 ; sowie die russ. Ausgabe : Irina V. Bezborodova, v plenu. Voennoplennye vtoroj mirovoj vojny Bd. 2. Hg, von Jurij N. Afanas’ev – Stefan Karner. Moskau 1998, S. 54, 60, 69, 77, 83, 100, 121, 131, 136, 158, 162. Inländische Kriegsverbrecher wurden gemäß dem „Ukaz 43“ auch mit Strafarbeit, der „Katorga“ bestraft. Vgl. Andreas Hilger (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Bd. 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 17. Köln 2001, S. 105.
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten
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verfahren6 Schuld und Unschuld so viele Jahre später, meist ausschließlich auf Basis des Aktenmaterials, tatsächlich klären ? Die Forschungen und Arbeiten zu den Rehabilitierungen von aus politischen Gründen Verurteilten in der Sowjetunion gingen und gehen meist Hand in Hand mit den eingangs kurz umrissenen Forschungen zur Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion. Die langsame Öffnung der sowjetischen Gesellschaft in der Zeit von Perestrojka und Glasnost’ ermöglichte es ab 1990/91 zunächst einzelnen sowjetischen Forschern, sich mit den Bedingungen sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. Gleichzeitig verschaffte sich Stefan Karner 1990/91 als erster westlicher Historiker Archiv-Zugang zum dafür zentralen NKVD-Bestand.7 Es folgten erste wissenschaftliche Tagungen, wie 1992 in New Orleans (Günter Bischof, Rolf Steininger, Rüdiger Overmans)8, 1993 in Bonn-Bad Godesberg (Günther Wagenlehner) über „Stalins Willkürjustiz gegen die deutschen Kriegsgefangenen“ oder 1995 auf der Schallaburg/NÖ (Stefan Karner9 mit deutscher, österreichischer, russischer und amerikanischer Beteiligung,10 Tagungen des deutschen SVAG-Projektes sowie einzelne kleinere Konferenzen von deutschen Gedenkstätten in ehemaligen SBZ-Lagern. Damit hatten sich Anfang der neunziger Jahre in Deutschland (anfangs Alexander Fischer, später Günther Wagenlehner und Klaus-Dieter Müller, Andreas Hilger, Jörg Morré), Luxemburg (Paul Dostert), im Elsass (Archiv
6 Konkordanz-Gesetzessammlung zur Implementierung des sowjetischen Rehabilitierungsgesetzes von 1991 in den GUS-Staaten. Moskau 1992. 7 Siehe dazu auch die, mehrere Ordner umfassende, mediale Berichterstattung im Inund Ausland. Stefan Karner erhielt für diese Pionierarbeiten u. a. hohe internationale Anerkennungen. 8 Vgl. Günter Bischof – Rüdiger Overmans (Hg.), Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive. Ternitz – Pottschach 1999. Overmans legte 1999 zudem einen Längsschnitt zum Thema Kriegsgefangenschaft vor : Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Köln 1999. 9 Karner, Im Archipel GUPVI. 10 Vgl. dazu auch die Einschätzung von Manfred Zeidler, Die Dokumentationstätigkeit deutscher Stellen und die Entwicklung des Forschungsstands zu den Verurteilungen deutscher Kriegsgefangener in der UdSSR in den Nachkriegsjahren, in : Andreas Hilger – Ute Schmidt – Günther Wagenlehner (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 17. Köln 2001, S. 64 ; vgl. zur Schallaburg-Tagung den Band : Stefan Karner (Hg.), Gefangen in Rußland. Die Beiträge des Symposiums auf der Schallaburg. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Bd. 1. Graz 1995.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
des Departement Haut Rhein), in Ungarn (Tamás Stark)11, in den USA (Günter Bischof, Rafael Zagovec), in England (Bob Moore und Neville Wylie), in der Ukraine (Anatolij St. Čajkovskij)12, in Italien (Maria T. Giusti, Elena Dundovich, Francesca Gori)13, in Japan (Saito Kunio)14, in Tschechien und der Slowakei (Milada Polišenská)15 und in Österreich (am Ludwig Boltzmann-Institut, Graz – Wien, das sehr rasch zum Zentrum der weltweiten Forschungen zur Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde)16 bereits mehrere Wissenschaftlergruppen und Zentren der Kriegsgefangenenforschung herausgebildet, die vor allem mit sowjetischem Quellenmaterial arbeiteten. In Russland beschäftigten sich neben Einzelforschern, wie Nikita Petrov oder Pavel Poljan, einzelnen Mitarbeitern der Archive der Staatlichen Archivverwaltung und des Militärhistorischen Instituts des Verteidigungsministeriums (vor allem Valerij Vartanov), insbesondere die Gruppe um Wladimir B. Konasov und Aleksandr L. Kuz’minych in Vologda sowie einzelne Historiker mit der Kriegsgefangenenproblematik.17 Unter ihnen sind besonders Nikita Petrov in Moskau, Vladimir Motrevič und Natalja V. Suržikova18 in Ekaterinburg, Maksim Zagorul’ko in Wolgo11 Tamás Stark, Ungarische Gefangene in der Sowjetunion, in : Günter Bischof – Rüdiger Overmans (Hg.), Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive. Ternitz – Potschach 1999, S. 407–416 ; Tamás Stark, Ungarische Zivilisten in sowjetischer Gefangenschaft. Ein Sonderfall, in : Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Kriegsgefangene des 2. Weltkriegs. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Wien – München 2005, S. 109–122 ; Tamás Stark, Hadifoglyok beheben. [Kriegsgefangene im Frieden]. Mozgö Viläg, 15/1989, S. 98–106. Siehe auch den Doku-Medienband : Vengerskie Dokumenty, 2005. 12 Anatolij St. Čajkovskij, Plen. Voennoplennye i internirovannye v Ukraine 1939–1953gg. Kiew 2002. 13 Elena Dundovich – Francesca Gori, Italiani nei lager di Stalin. Roma – Bari 2006 ; Maria T. Giusti, I prigionierti italiani in Russia. Bologna 2003. 14 Saito Kunio, Siberialokuryuchey moyama monogatari. Tokyo 1990 ; Elena. L. Katasonova : Japonskie voennoplennye v SSSR. Moskau 2003. 15 Milada Polišenská, Cechoslovaci v Gulagu a ceskoslovenskä diplomacie 1945–1953. Prag – Bratislava 2006. 16 Siehe die publizierten 3-Jahres-Berichte des Instituts, Graz 2004f. sowie im Internet unter www.bik.ac.at (seit 1993). 17 Pavel Poljan, Žertvy dvuch diktatur. Moskau 2002 ; Nikita Petrov, Verurteilungen deutscher und österreichischer Kriegsverbrecher in der Sowjetunion 1943–1952, in : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945. Die Beiträge des Symposions an der Universität Graz 1997. Graz 1998, S. 49–78. 18 Vladimir Motrevic, Kladbišča voennoplennych, Čto dal’še ? Sverdlovsk 1992 ; Rüdinger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Köln – Weimar – Wien 1999 ; Natalja V. Suržikova, Inostrannye voennoplennye Vtoroj Mirovoj Vojny na srednem Urale 194–1956. Ekaterinburg
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten
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grad sowie einzelne Mitglieder der Kriegsgefangenen-Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation mit Vladimir Zolotarev.19 Aus mehreren TV-Dokumentationen in Deutschland, Frankreich und Österreich entstanden wiederum Begleitpublikationen.20
Zur internationalen und sowjetischen Rechtslage Sofort nach Kriegsbeginn hatte Stalin am 1. Juli 1941 die Verfügung Nr. 1798–800S „Zur Lage der Kriegsgefangenen“ erlassen, in der er im fünften Abschnitt anordnete, Kriegsgefangene, die in sowjetischer Hand straffällig geworden waren, den sowjetischen Militärtribunalen zu übergeben und, wie auch Soldaten der Roten Armee, nach sowjetischen Gesetzen zu behandeln. Tatsächlich wurden zahlreiche deutsche und österreichische Kriegsgefangene anfänglich vor allem nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR verurteilt. Die häufigsten Gründe waren Lagervergehen wie Diebstahl, Körperverletzung, Befehlsverweigerung oder vorsätzliche Tötung. Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden durch diese Verfügung noch nicht angesprochen, weil die Verfügung nicht auf die Zeit vor der Gefangennahme abzielte.21 Der Anstoß zur gerichtlichen Verfolgung deutscher Kriegsgefangener für ihnen zur Last gelegte Kriegsverbrechen vor der Gefangennahme ging von den Exilregierungen jener neun europäischen Staaten aus, die vom Deutschen Reich besetzt worden waren, darunter von Polen, Frankreich, den 2006 ; Irina V. Bezborodova, Inostrannye voennoplennye i internirovannye v SSSR : Iz istorii dejatel’nosti UPVI NKVD-MVD SSSR v poslednij period (1944–1953 gg.). Otečestvennaja istorija, 5/1997. 19 Vgl. zum Forschungsstand in Russland v. a.: Viktor B. Konasov, Sudebnoepresledovanie nemeckich voennoplennych v SSSR. Vnešnepolitičeskij aspekt problemy. Moskau 1998, sowie die entsprechenden Beiträge in Problemy voennogo plena : istorija i sovremennost’, materialy meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii 23–25 oktjabrja g. Bd. 2. Vologda 1997. 20 An mehreren TV-Dokus konnten der Autor und sein L. Boltzmann-Institut als wissenschaftliche Berater mitwirken, wie an der Dokumentation von François Erb in „France 3“ oder der Dokumentation von Walter Seledec in ORF 2 und sat1. Vgl. auch den Begleitband : Eva Donga-Sylvester – Günter Czernetzky – Hildegard Torna (Hg.), „Ihr verrecht hier bei ehrlicher Arbeit !“ Deutsche im GULAG 1936–1956. Anthologie des Erinnerns. Graz – Stuttgart 2000. 21 Eine Kopie der Geheim-Verfügung Stalins aus dem RGVA, Moskau, befindet sich im BIK-Graz. Vgl. Andreas Hilger (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Bd. 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 17. Köln 2001, S. 258.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Niederlanden und der Tschechoslowakei. In der Deklaration von St. James wurde im Jänner 1942 gefordert, deutsche Kriegsverbrecher zu bestrafen und hinzurichten : „Les coupables et responsables, á quelque nationalité qu’ils apartiennent, soient recherches, livres á la justice ; les sentences prononces soient executes.“ Die Sowjetunion bewertete am 14. Oktober 1942 die Deklaration positiv.22 Bereits am 19. April 1943 hatte das Präsidium des Obersten Sowjets – „unter Berücksichtigung dessen, dass die Ausschreitungen und Gewaltakte an wehrlosen Sowjetbürgern und gefangenen Rotarmisten und Verrat am Vaterland die schändlichsten und schwersten Verbrechen, die abscheulichsten Missetaten sind“ – in einem Geheimerlass angeordnet, „dass die deutschen, italienischen, rumänischen, ungarischen und finnischen Verbrecher, die der Mordtaten an der Zivilbevölkerung und gefangenen Rotarmisten überführt wurden und auch Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern mit der Todesstrafe durch Erhängen bestraft werden. Die Helfershelfer aus der örtlichen Bevölkerung […] werden mit Verbannung und Strafarbeit von 15 bis 20 Jahren verurteilt. […]“ Die Exekutionen am Galgen waren öffentlich durchzuführen und die Leichen der Gehängten einige Tage auf dem Galgen als Abschreckung zu belassen.23 Wie wichtig der sowjetischen Politik die Betonung der Bestrafung vorgeblicher Täter aus den eigenen Reihen war, zeigt sich allein schon darin, dass man den ersten öffentlichen Prozess auf Basis des Ukaz 43 Mitte Juli 1943 in Krasnodar gegen angebliche Kollaborateure führte .24 In Charkow, das im Sommer 1943 von der Roten Armee zurückerobert worden war, setzte die Sowjetunion die St.-James-Deklaration erstmals in die Praxis um und exekutierte nach einem Schauprozess drei Deutsche und einen Russen wegen deren Menschenrechtsverbrechen an der Zivilbevölkerung und an gefangenen Rotarmisten.25 Die internationalen Reaktionen auf 22 Vgl. Viktor B. Konasov – Aleksandr L. Kuz’minych, Nemeckie voennoplennye v SSSR. Istoriografija, bibliografija, spravočno-ponjatijnyj apparat. Vologda 2002, S. 6 ; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Hamburg 2002, S. 640. 23 Kopie des Geheim-Erlasses v. 19.4.1943 am BIK-Graz. Vgl. auch Günther Wagenlehner, Die russischen Bemühungen um die Rehabilitierung der 1941–1956 verfolgten deutschen Staatsbürger. Dokumentation und Wegweiser. Gesprächskreis Geschichte, Friedrich Ebert Stiftung, Heft 29. Bonn – Bad Godesberg 1999, S. 9f. 24 Vgl. Andreas Hilger, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lagerhaltung und Erinnerungen. Essen 2000, S. 260, der auch die weitere Literatur dazu angibt. 25 Viktor B. Konasov, Sudebnoepresledovanie nemeckich voennoplennych v SSSR. Vnešnepolitičeskij aspekt problemy. Moskau 1998, S. 8f.; Privatbestand Karner, Samm-
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten
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diese Todesurteile waren uneinheitlich :26 vom Triumph des internationalen Rechts bis zur Kritik am vorschnellen Urteil und der besonders in der britischen Presse vertretenen Meinung, Kriegsverbrecherprozesse sollten erst nach Beendigung eines Krieges durchgeführt werden. Auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes erinnerte die kriegführenden Staaten daran, dass gemäß den Haager Landkriegsordnungen und der Genfer Konvention von 1929 Kriegsgefangene nicht strafrechtlich verfolgt werden dürften.27 Am 30. Oktober 1943 unterzeichneten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion anlässlich der Moskauer Außenministerkonferenz auf Vorschlag Churchills eine Erklärung mit der Forderung, „[…] jene deutschen Offiziere, Soldaten und Mitglieder der Nazipartei, die in Gräueltaten und Hinrichtungen in den von den deutschen Streitkräften überrannten Ländern involviert waren, in jene Länder zurückzubringen, in denen ihre abscheulichen Verbrechen begangen wurden, um sie nach den Gesetzen jener Länder anzuklagen und zu bestrafen. […]“Damit sah sich die Sowjetunion in ihren normativen Vorbereitungen zur Verfolgung von Kriegsverbrechern und Kollaborateuren bestätigt. Das Statut des Internationalen Gerichtshofs in Nürnberg klassifizierte am 8. August 1945 schließlich folgende Handlungen als Verbrechen, für deren Aburteilung er sich zuständig erklärte, wobei die Täter solcher Verbrechen persönlich verantwortlich gemacht wurden : Verbrechen gegen den Frieden (wie Planung und Durchführung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen (Verletzung der Kriegsgesetze und Gebräuche, wie Mord und Misshandlungen von Kriegsgefangenen, Töten von Geiseln außerhalb des Kriegsrechtes, Plünderungen, mutwillige Zerstörungen) sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Genozid, Versklavung, Deportationen und ähnliche unmenschliche Handlungen an der Zivilbevölkerung, Verfolgungen aus ras-
lung v. Z. Mühlen, Schauprozesse . Zum Tod verurteilt wurden in Charkov vom MT der 4. Ukrainischen Front Hptm. der Gegenspionage W. Langenheld, SS-UStbf. G. Ritz, der Mitarbeiter der Geheimen Feldpolizei R. Retzlaw und der Chef der Kommandantur der Gestapo M. S. Bulanow. Vgl. auch : Gerd R. Ueberschär, Anmerkungen zur Reaktion der deutschen Führung auf die sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse, in : Klaus D. Müller (Hg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und der Sowjetunion 1941–1956. Köln 1998, S. 219. 26 Dem widersprachen Vertreter der gleichgeschalteten sowjetischen Rechtswissenschaft wie A. N. Trajnin, D. B. Lewin, N. N. Poljanskij oder B. W. Glebow. Sie sahen vor allem in der Anwendung des Geheimerlasses vom 19. April 1943 eine – auch dem Artikel 29 der Genfer Konvention nicht widersprechende – Möglichkeit, gegen Kriegsverbrecher vorzugehen. 27 Wilhelm Grewe (Hg.), Quellen zur Geschichte des Völkerrechts. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 3. Berlin u. a. 1992, S. 129.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
sischen, politischen oder religiösen Gründen). Festgelegt wurde außerdem, dass „Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer […] an einem der vorgenannten Verbrechen […] für alle Handlungen verantwortlich sind, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen wurden.“ Das Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates in Deutschland vom 20. Dezember 1945 bezog sich für das Gebiet Deutschlands auf die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 und sah die Bestrafung von Personen vor, „die sich der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen den Frieden und die Menschheit“ schuldig gemacht hatten. Die Gesetzesformulierungen waren jedoch so unpräzise, dass bei Bedarf keine genaue Grenze zwischen den Maßnahmen des deutschen Okkupators zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und dem verbrecherischen Vorgehen gegen vorgebliche sowjetische Partisanen, andere Gräueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sichtbar gemacht werden konnte. Eine besondere Zielgruppe von KG 10-Urteilen waren deutsche Staatsbürger als Angehörige von Polizeieinheiten.28 Daneben wurden wegen Kriegsverbrechen angeklagte Gefangene immer wieder auch nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR (v. a. nach den §§ 58, 136 bis 161 und 193) verurteilt,29 d. h. vor allem unter den bewusst sehr allgemein gehaltenen Definitionen für „Unterstützung der internationalen Bourgeoisie“, für „Spionage“ (knapp vier Prozent aller Urteile gegen deutsche und österreichische Kriegsgefangene), für „terroristische Handlungen“ gegen Vertreter der Staatsmacht (etwa die Beschuldigung, einen Anschlag auf Stalin geplant zu haben),30 „Banditentum“ oder „Diversion“.31 Bei den deutschen Verurteilten handelte es sich daher zu drei Vierteln um ehemalige Soldaten und Offiziere der Deutschen Wehrmacht (einschließlich der Waffen-SS), um rund zehn Prozent Angehörige der Polizei, knapp drei
28 Internationaler Militärgerichtshof, Bd. 1. Nürnberg 1947. 29 Vgl. Andreas Hilger – Ute Schmidt – Günther Wagenlehner (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 17. Köln – Wien 2001, S. 31f., S. 333f. 30 Freundliche Auskunft von Dr. Günther Wagenlehner, Bonn. 31 Die §§ 58,1 und 2 („konterrevolutionäre Verbrechen“, „bewaffneter Aufstand oder Eindringen von bewaffneten Banden in sowjetisches Gebiet“) kamen gegenüber Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges seltener zum Tragen, ausgenommen waren v. a. Verfahren gegen angebliche „Werwolfgruppen“. Vgl. Friedrich Christian Schroeder, Das Sowjetrecht als Grundlage der Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene, in : Andreas Hilger – Ute Schmidt – Günther Wagenlehner (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Köln – Wien 2001, S. 8f., 90.
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten
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Prozent Luftwaffen-Angehörige und etwa 2,5 Prozent Sanitäter. Quantitativ kaum ins Gewicht fallen Angehörige des SD, der GESTAPO und der Abwehr (unter zehn Prozent).32 Ein stark abweichendes Bild ergibt sich bei den verurteilten österreichischen Kriegsgefangenen : rund zwei Drittel (67,5 Prozent) waren ehemalige Soldaten und Offiziere der Deutschen Wehrmacht (einschließlich der Waffen-SS), über knapp neun Prozent waren Angehörige der Polizei, etwas über drei Prozent waren Luftwaffen-Angehörige und immerhin ein Fünftel (20,5 Prozent) waren vor allem Angehörige von SD, GESTAPO, der Abwehr und Sanitäter.33 Auf den sowjetischen Erhebungs- und Justizapparat kann hier nicht näher eingegangen werden. Festgehalten soll lediglich werden, dass zur Beweis erhebung schon am 2. November 1942 vom Obersten Sowjet ein weitverzweigtes und mächtiges politisches Organ gegründet wurde : Die „Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden, die vom deutsch-faschistischen Okkupator und seinen Mittätern den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, Staatsunternehmen und Einrichtungen der UdSSR zugefügt wurden“ (CGK).34 Für die Kommission arbeiteten bis 1946 Hunderttausende Mitarbeiter, Helfer und Zeugen. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, möglichst viele „Beweise“ von Verbrechen und Übeltaten des NS-Okkupators aufzuspüren, eine gewaltige Sammlung dazu anzulegen, Zeugen ausfindig zu machen und für ihre Aussagen zu unterweisen. Die ČGK initiierte auch den „Ukaz 43“. Ihre Ergebnisse waren jedoch in vielen Fällen politisch motiviert, unpräzise und für ein ordentliches, selbst nach sowjetischem Recht durchzuführendes Beweis- und Gerichtsverfahren wenig aussagekräftig. Sie wurden daher in zahlreichen Urteilen auch nicht mehr als Beweise herangezogen.35 32 Hilger – Schmidt – Wagenlehner (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, S. 326, gibt eine Tabelle der Truppenteile verurteilter deutscher Kriegsgefangener aus der Verurteilten-Datenbank von deutschen Kriegsgefangenen zum Stand März 2001 wieder. Sie lässt erste Trends erkennen. Eine Auswertung der deutschen Datenbank durch das BIK, Graz, wird im Vergleich mit den Datensätzen für verurteilte Franzosen, Luxemburger, Italiener und Österreicher durchgeführt. Ergebnisse liegen noch nicht vor. 33 BIK-Datenbank, verurteilte Österreicher in der Sowjetunion. Auswertung : Harald Knoll, Graz. 34 ČGK = Črezvyčajnaja gosudarstvennaja komissija. Vgl. dazu und zum Folgenden : Stefan Karner, Zum Umgang mit der historischen Wahrheit in der Sowjetunion. Die „Außerordentliche Staatliche Kommission“ 1942 bis 1951, in : Wilhelm Wadi (Hg.), Kärntner Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Alfred Ogris. Klagenfurt 2001. 35 Vgl. dazu auch : Stefan Karner, Nur einen Teil zugeben. Zum Umgang mit der Wahrheit in der Sowjetunion, in : Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 245, 22.10.2001.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Urteile in sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen Die Verurteilungen von Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilisten erfolgten, wie schon ausgeführt, in Massen-, vor allem jedoch in Einzelverfahren. Neben den Schauprozessen der Jahre bis 1947 befassten sich mit den als Kriegsverbrecher angeklagten Kriegsgefangenen und Zivilisten vor allem :36 – Militärtribunale der Armee und des NKVD,37 – Außergerichtliche Organe („Sondergerichte“ wie OSO-Sonderkommissionen, „Dvojka“ und „Troika“), die eine strafrechtliche Ahndung ohne Gerichtsverhandlung auf Basis von Unterlagen aus Voruntersuchungen durchführten. OSO-Entscheide waren zudem Fernurteile. Ein großer Teil der Urteile war politisch motiviert, eine Rekursmöglichkeit bestand zwar generell, jedoch entbehrte sie einer objektiven Beweiswürdigung im Verfahren. Dies galt noch nicht für die Schauprozesse seit 1943, die völlig nach den Drehbüchern der 1930-Jahre abliefen und bar jeder Rechtsstaatlichkeit waren.
Tabelle 1 : Die Todesurteile und Verurteilungen zur Strafarbeit in den Schauprozessen 1945/46. Gericht in :
Todesurteile dav. Generäle
Strafarbeit
dav. Generäle
Verurteilte Gesamt
Smolensk
7
0
3
0
10
Brjansk
3
2
1
0
4
Leningrad
8
1
3
0
11
Nikolajev
7
1
2
0
9
14
3
4
0
18
Minsk
36 Vgl. auch : Leonid Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung widerrechtlich repressierter deutscher Staatsangehöriger, in : Andreas Hilger – Ute Schmidt – Günther Wagenlehner (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 17. Köln – Wien 2001, S. 365. 37 Die Verfahren vor den MT des NKVD/MVD waren durch die „Ordnung über die Militärtribunale und die Militärprokuratur“, v. 20.8.1926, geregelt. Friedrich Christian Schroeder, Das Sowjetrecht als Grundlage der Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene, in : Andreas Hilger – Ute Schmidt – Günther Wagenlehner (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 17. Köln – Wien 2001, S. 88.
Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten Gericht in : Kiew
Todesurteile dav. Generäle 12
3
89
Verurteilte Gesamt
Strafarbeit
dav. Generäle
3
0
15
Vel. Luki
8
1
3
0
11
Riga
8
7
0
0
8
Quelle : Nach : Konasov, Sudebnoe presl., S. 128 und eigenen Erhebungen im GARF, Moskau ; Materialien im BIK-Graz.
Im Januar 1950 wurden in der Sowjetunion noch 52.506 ausländische, teilweise verurteilte, deutsche und österreichische Kriegsgefangene sowie Internierte festgehalten. Von ihnen waren in Lagern der GUPVI bzw. in Spezialspitälern 32.931 (davon 10.550 Verurteilte), in den Lagern des GULAG 13.894 (ausschließlich Verurteilte) und in den Gefängnissen 5.681 (davon waren 4.208 verurteilt und 1.473 in U-Haft).
Tabelle 2 : Anzahl der verurteilten Kriegsgefangenen in der Sowjetunion 1952. Stand Deutsche Österreicher Japaner
30.3.1952 14194 822 1049
Rumänen
586
Ungarn
487
Andere
329
Summe
17467
Quelle : Maksim Zagorulko, Voennoplennye v SSSR 1939–1956. Moskau 2000, S. 789.
Das gesamte Ausmaß an gegenüber den Sowjetbürgern und den Ausländern begangenen Repressionen lässt sich statistisch einigermaßen fassen, in seinem persönlichen, menschlichen Leid ist es nicht darstellbar. Das wichtigste Repressionsorgan, das Netz des ehemaligen NKVD (dem phasenweise auch die Staatssicherheit eingegliedert war), hatte 1995 intern eine Statistik über seine vorhandenen Personalakten von Opfern der politischen Repression erstellt. Demnach verfügte das Informationszentrum des MVD mit den eigenen GUVD-Einrichtungen in Moskau und St. Petersburg sowie mit seinen nach-
90
Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
geordneten Stellen in den Provinzen Russlands für den Zeitraum von 1917 bis 1994 über 13.749.299 Akte (delo) zu Repressierten.38 Dazu kommen noch die Bestände des ehemaligen KGB und der Gefängnisverwaltungen. Jeder einzelne Akt enthält mehr oder weniger umfangreich das Schicksal eines Menschen und dient der Sachverhaltsdarstellung im Rehabilitierungsverfahren.39 Die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der RF bezifferte die Zahl der von 1926 bis 1954 von Militärtribunalen und außergerichtlichen Organen verurteilten Personen unter ihrer Aufsicht mit 1.373.397 Personen (10 Prozent der Gesamtzahl an Repressierten). Unter diesen waren etwa 1952 noch rund 800 Österreicher in sowjetischen Haftanstalten. Auch sie waren, ähnlich den deutschen Kriegsgefangenen, vor allem nach dem Ukaz 43 verurteilt worden.
Tabelle 3 : Die Rechtsbasis der Verurteilungen von Österreichern 1931–1956. Rechtl. Basis
Prozent
Strafgesetzbuch, UK
13,8
Ukaz 43
71,5
Ukaz 32, 47 Diverses Summe
7,9 6,8 100,0
Quelle : BIK-Datenbank, verurteilte Österreicher in der Sowjetunion. Auswertung : Harald Knoll.
Diese knapp zusammengefasste und keineswegs alle wichtigen Bereiche tangierende Darstellung kann die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der Verurteilungspraxis durch die sowjetischen Organe und die darauf bezugnehmende Politik der Sowjetunion im Einzelnen nicht ausleuchten. Erst die Beispiele einzelner Gefangener können einen tieferen Einblick in die Komplexität des Themas und die Problematik seiner persönlichen und wissenschaftlichen Aufarbeitung geben. Auf einzelne Beispiele wird in diesem Beitrag verzichtet.40 Erwähnt soll lediglich die österreichische Spitzenbeamtin Mar38 Obzor dejatel’nosti podrazdelenij po reabilitacii žertv političeskich repressii i archivnoj informacii informacionnych centrov MVD respubik v sostave RF, GUVD g. Moskvy, g. Sankt Peterburga i Leningradskoj oblasti, UVD kraev, oblastej Rossii za 1994 god. GIC MVD RF. Moskau 1995, S. 8. 39 Interne Empfehlung GIC MVD RF an die nachgeordneten Stellen, 12.4.95 N 34/5-893, gez. GMj. G. L. Lezikov. 40 Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung, S. 354.
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garethe Ottillinger werden, die 1948, 29-jährig, als „amerikanischer Spion“ zu 25 Jahren verurteilt, 1955 aus der Haft entlassen und schon 1956 unter Chruschtschow von persönlicher Schuld freigesprochen wurde. 1994 wurde Ottillinger auf Basis des russischen „Gesetzes über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repression“ vom 18. Oktober 1991 in allen ihr zur Last gelegten Punkten rehabilitiert.41 Als Nikita Chruschtschow die Gulag-Lager 1953 öffnete und Hunderttausende Häftlinge nach Hause entließ, machte das Wort der Schriftstellerin Anna Achmatova die Runde : Jetzt sehen sich zwei Russlands in die Augen : das Russland, das in den Lagern saß, und jenes, das es dorthin gebracht hat“.42 Aber dazu kam es nicht. Oder wie es Sveta Ivanova, eine ältere Frau aus Wolgograd, auf den Punkt brachte : „Man sah sich nicht in die Augen. Die einen sagten : So war es nicht. Die anderen sagen immer noch : Das gab es nicht.“43 Nach Stalins Tod und der Entmachtung Berijas hatte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 1. September 1953 die OSO-Verfahren beim MVD aufgelöst und die Staatsanwälte des Landes verpflichtet, bei Beschwerden von Personen wegen zu Unrecht erfolgter politischer Verurteilungen deren Akten zu überprüfen. Die ersten Rehabilitierungen von aus politischen Gründen Verurteilten In- und Ausländern begannen.44 Bis 1962 beschäftigte sich eine große Gruppe von etwa 500 Militärstaatsanwälten innerhalb der Hauptmilitär-Staatsanwaltschaft allein mit den einlangenden Anträgen und rehabilitierte in dieser Zeit 269.913 Personen. Dazu wurden Zusatzstrafen wie Verbannung, Ausweisung, Verlust der staatsbürgerlichen Rechte usw. gestrichen. Kollaborateure „mit den Okkupanten während des Großen Vaterländischen Krieges“ wurden partiell amnestiert.45 41 Verwiesen sei hier insbesondere auf : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953. Wien – München 2009, wo insbesondere auf die Verurteilungspraktiken, auf die Tribunale, die Möglichkeiten der Rehabilitierung und der Auffindung von Grablagen Hingerichteter in der ehemaligen UdSSR eingegangen wird. Richtungweisend zuvor bereits : Arsenij Roginskij – Frank Drauschke – Anna Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“ Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoe 1950–1953. Berlin 2008. 42 Stefan Karner, Geheime Akten des KGB. Graz – Wien 1992. 43 Vgl. Markus Wehner, Auf fremder Erde hat es keine Helden gegeben, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.12.2002, S. 7. 44 Vgl. etwa die 1956 erfolgte Rehabilitierung von Margarethe Ottillinger. Stefan Karner, Geheime Akten des KGB. Graz – Wien 1992. 45 Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, v. 17.9.1955. Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung, S. 356.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
Es ist evident, wie 1956 die Ergebnisse der von Chruschtschow eingesetzten Rehabilitierungskommissionen den KP-Chef vor seinem XX. Parteitag peinigten. Doch plötzlich war wieder alles anders, das „Tauwetter“ zu Ende. Die Kommunisten wussten, dass sie fortgesetzt Unrecht taten und zuließen. „[…] Früher oder später werden die Leute aus den Gefängnissen und Lagern kommen […] Sie werden […] allen daheim erzählen, was passiert ist“, fürchtete Chruschtschow. So wurde 1962, nach der „zweiten Entstalinisierung“, noch unter Chruschtschow, die Rehabilitierung von Opfern der phobischen Repression praktisch eingestellt, die entsprechenden Abteilungen und Gruppen in der Hauptmilitär-Staatsanwaltschaft aufgelöst. Evident ist auch, wie panikartig und aggressiv Leonid Breschnew 1972 auf die ersten entdeckten Abschriften des Archipel Gulag reagierte und 1974 selbst einfache Touristen bei ihrer Ein- und Ausreise nach eventuell im Reisegepäck befindlichen Abschriften oder gar gedruckten Exemplaren46 durchsuchen ließ. „Reines Dynamit“ nannte 1988 Gorbatschow zunächst das NKVD-Dossier über Katyn und ordnete in Panik an, dieses sofort wieder unter Verschluss zu halten.47 Erst später in der Perestrojka erfolgte der zweite Schritt zur Rehabilitierung von politisch motivierten Gerichtsurteilen in der Sowjetunion. Damit wurde auch nach außen signalisiert, dass das stolze Bild von der heroischen Vergangenheit des „sowjetischen“ Volkes und des Sowjetstaates eine Fiktion war – eine große Lüge. Die Öffnung der sowjetischen Archive zu Ende der Perestrojka war daher noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion das erste und wichtigste Signal eines ehrlicheren Umganges mit der eigenen Vergangenheit. Sämtliche Archivgesetze und Archivordnungen der Sowjetunion und ihrer Republiken hatten bis dahin für Historiker oder Journalisten bzw. Privatpersonen keinen allgemeineren Zugang zu den sensiblen Aktenbeständen vorgesehen.48 Das wichtige Signal zur Rückkehr zu einer ehrlicheren Aufarbeitung der Verbrechensgeschichte des KP-Regimes war der Ukaz vom 16. Jänner 1989 des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, mit dem Personen, die während der Stalinjahre von außergerichtlichen Instanzen repressiert wor46 Das Buch war 1974 zum ersten Mal bei YMCA-Press in Paris erschienen. 47 Zum Hintergrund vgl. u. a.: Stefan Karner, Nur einen Teil zugeben. Zum Umgang mit der Wahrheit in der Sowjetunion, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 245, 22.10.2001, S. 9. 48 Vgl. etwa die Zusammenstellung von einschlägigen Gesetzen und Verordnungen : Osnovnye dekrety i postanovlenija sovetskogo pravitel’stva po archivnomy delu 1918– 1982. Moskau 1985.
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den waren, automatisch rehabilitiert wurden, ausgenommen u. a. Kriegsverbrecher, „NS-Banden-Angehörige“ oder deren Handlanger sowie Kriminelle. Allein in den drei Jahren bis 1991 rehabilitierte man in einer eilends zu diesem Zwecke in der Hauptmilitär-Staatsanwaltschaft geschaffenen Juristengruppe 86.176 Personen.49 Die neue und für den Umgang mit den Hunderttausenden Unrechtsurteilen und daraus folgenden, bis heute nachwirkenden Schicksalen von Millionen Menschen entscheidende Maßnahme war das Gesetz der RSFSR vom 18. Oktober 1991 „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“.50 Nach dem Zerfall der UdSSR, wenige Monate später, wurde das Gesetz jeweils mit kleineren Änderungen auch in den GUS-Staaten eingeführt.51 Bis 1994 lagen in den Informationszentren des MVD, der GUVD von Moskau und St. Petersburg und der UVD der Kreise und Gebiete der Russischen Föderation 933.149 Anträge von Bürgern auf „Rehabilitierung und Anerkennung als Opfer politischer Repression“ vor. Von diesen waren 46,9 Prozent Anträge von als „Kulaken“ Repressierten bzw. deren Familienangehörigen und 47,4 Prozent Anträge von Personen, die man aus nationalen Gründen repressiert hatte. Durch die Arbeit der Rehabilitierungskommissionen konnten bis 1994 insgesamt 274.137 Bescheide ausgestellt werden, wovon in 36.517 Fällen keine Rehabilitierung erfolgte. Von den bis 27. September 1999 eingereichten rund 12.600 ausländischen Anträgen um Rehabilitierung wurden etwa zwei Drittel positiv erledigt. Davon waren 7.900 Deutsche und 550 Österreicher, dazu 300 Ungarn und 1.000 Japaner.52 Die Rehabilitierung wurde – trotz diverser innerrussischer Schwierigkeiten und mehrerer Wechsel in der Führung der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft – fortgesetzt. Zum 1. Jänner 2001 hatte die Hauptmilitär-Staatsanwaltschaft über 15.000 Anträge von Ausländern bearbeitet, davon 13.035
49 Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung, S. 357. 50 Mit der Novelle v. 3.9.1993. Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung, S. 357 ; und Wagenlehner, Die russischen Bemühungen um die Rehabilitierung der 1941–1956 verfolgten deutschen Staatsbürger. 51 Sbornik zakonodatel’nych aktov o reabilitacii prinjatych v gosudarstvach – byvšich sojuz. 52 Obzor dejatel’nosti podrazdelenij po reabilitacii žertv političeskich repressii i archivnoj informacii informacionnych centrov MVD respubik v sostave RF, GUVD g. Moskvy, g. Sankt Peterburga i Leningradskoj oblasti, UVD kraev, oblastej Rossii za 1994 god. GIC MVD RF. Moskau 1995, S. 3 ; Vladimir I. Kupec, Die Rehabilitierung von Verurteilten Deutschen und Österreichern durch Rußland seit 1991, in : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945. Graz 1998, S. 85.
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Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion
rehabilitiert.53 Allerdings wurden schon 2001 die Mittel zur gemäß Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz vorgesehenen symbolischen Entschädigung, auch für Ausländer, wenn sie auf dem Territorium der russischen Föderation verurteilt und rehabilitiert worden waren, pro Jahr von 800 Millionen Rubel auf 200 Millionen Rubel gekürzt ! Sehr bald wurden die Abteilungen und Gruppen der Hauptmilitär-Staatsanwaltschaft aufgelöst, verkleinert und viele Juristen anderwärtig eingesetzt. Die Rehabilitierungen wurden weniger oder hörten, bis auf wenige Ausnahmen, gänzlich auf. Erschienen in : Stefan Karner, Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten in der Sowjetunion unter Chruschtschow und in den 1990er-Jahren. Dargestellt am Beispiel von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen, in : Csaba Szabó (Hg.), Sowjetische Schauprozesse in Mittel- und Osteuropa. Wien 2015, S. 11–30.
53 Konasov – Kuz’minych, Nemeckie voennoplennye v SSSR, S. 215.
Die sowjetische Besatzung Österreichs
Zu den Anfängen der sowjetischen Besatzung in Österreich 1945/46 (2005)
Zum europäischen strategischen Grundkonzept Stalins gehörte die Umkehrung des „cordon sanitaire“, wie er als Resultat des Ersten Weltkrieges entstanden war und von Stalin als gegen eine Expansion der Sowjetunion gerichtet interpretiert wurde.1 Damit verbunden war das strategische Ziel, den dreigliedrigen Sicherheitsgürtel („Zwischeneuropa“, Giselher Wirsing) unter sowjetischen Einfluss zu bringen, d. h. Polen, Rumänien und Bulgarien als direkte Nachbarn, Ungarn, die CSR, Finnland, Jugoslawien und Albanien, nach deren Besetzung 1945 möglichst auch die sowjetische Zone im Osten Deutschlands.2
Österreich im sowjetischen Konzept Österreich kam in diesen großflächigen, mittel- bis langfristigen Konzepten der Sowjets zunächst nur am Rande, ab Dezember 1941 jedoch als Fixpunkt vor : Um vor allem Deutschland zu schwächen, verfolgte Stalin ab November/Dezember 1941 die Variante, „Österreich als selbständigen Staat von Deutschland abzutrennen“.3 Drei Planungskommissionen des sowjetischen 1
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Die Recherchen zu diesem Beitrag erfolgten im Rahmen des vom österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderten und von mir geleiteten Projektes „Die Rote Armee in Österreich 1945–1955“, durchgeführt am Ludwig Boltzmann–Institut für Kriegsfolgen–Forschung, Graz – Wien – Klagenfurt (BIK). Projektkoordination : Barbara Stelzl-Marx. Vgl. dazu auch : Stefan Karner – Barbara StelzlMarx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005 ; und Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich 1945–1955. Dokumente. Krasnaja Armija v Avstrii. Sovetskaja okkupacija 1945–1955. Dokumenty. Graz – Wien – München 2005. Vgl. dazu u. a.: Vojtech Mastny, Russia’s Road to the Cold War. Diplomacy. Warfare, and the Politics of Communism, 1941–45. New York 1979, S. 49–60 ; Donald O’Sullivan, Stalins “Cordon sanitaire”. Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktion des Westens 1939–1949. Paderborn u. a. 2003, S. 15 ; Giselher Wirsing, Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft. Jena 1932, sowie die entsprechenden Abschnitte bei Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955. 4. Auflage. München 1983. Schreiben Molotovs an Majskij, v. 21.11.1941, AVP RF, F. 059, op. 1, p. 354, d. 2.412, S. 21–24. Siehe dazu Jochen Läufer, Die UdSSR und die Zoneneinteilung Deutschlands
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
Außenamtes4 unterfütterten in den folgenden Monaten Stalins generelle Richtschnur, ohne dass Stalin nachweislich davon noch besonders Notiz genommen hätte.5 Knapp formulierte der Diktator seine Österreich-Position im Dezember 1941 gegenüber dem britischen Außenminister Anthony Eden, als dieser zum Abschluss des militärischen Bündnisses mit der Sowjetunion im Kreml weilte : „Österreich ist als unabhängiger Staat wieder herzustellen.“ Ähnlich äußerte sich noch in Moskau Eden und zeitgleich in London Churchill : „We can never forget here in this island that Austria was the first victim of Nazi aggression. […] The people of Britain will never desert the cause of freedom of Austria from the Prussian yoke.“6 Für die Sowjetunion standen ab Dezember 1941 die Eckpfeiler in der Frage Österreich fest : – Wiederherstellung als unabhängiger Staat (was noch nicht zwingend ein Beuterecht beinhaltete).7 Dies diente vor allem der Schwächung Deutschlands.
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(1943/44), in : ZfG 43/1995, S. 312. Dokument abgedruckt bei Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Im Herbst 1943 wurden im sowjetischen Außenministerium drei Kommissionen gebildet, die sich mit strategischen Nachkriegsplanungen befassten. Der ehemalige Außenminister der Sowjetunion (bis 1939), Maksim Litvinov, leitete die Vorbereitung der Friedensverträge, Kliment Vorošilov, Mitglied des Staatlichen Verteidigungskomitees GOKO, die militärischen Planungen und Ivan Majskij, ehemaliger Sowjetbotschafter in Großbritannien, 1943 bis 1946 stellvertretender Außenminister, die Planungen zu Deutschland und Österreich. Eduard Mark, Revolution by Degrees. Stalin’s National-Front Strategy for Europe, 1941–1947. Working paper No. 31. CWIHP. Washington, D. C. 2001 ; V. A. Torčinov – A. M. Leontjuk, Vokrug Stalina. Istoriko – biografičeskij spravočnik. St. Petersburg 2000, S. 134–137, 298–301, 307–309 ; die Vorošilov-Kommission wurde durch den Beschluss des sowjetischen Rats der Volkskommissare am 4. September 1943 gegründet, ebenso die Litvinov-Kommission, etwas später die Majskij-Kommission. Aleksej Filitov, Raskol poslevoennogo mira : formirovanie bipoljamosti, in : Rossijskaja akademija nauk – Institut vseobščej istorii (Hg.), Cholodnaja vojna 1945/63gg. Istoričeskaja Retrospektiva. Sbornik statej. Moskau 2003, S. 223–256, hier S. 225f. Zum Einfluss der drei sowjetischen Planungskommissionen (unter Majskij, Vorošilov und Litvinov) vgl. Aleksej Filitov, Stalins Deutschlandplanung und -politik während und nach dem Zweiten Weltkrieg, in : Boris Meissner – Alfred Eisfeld (Hg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkung auf das gegenseitige Verhältnis. Berlin 1999, S. 49f.; Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Graz – Wien – München 2005. Aus Churchills Rede bei der Übergabe einer Feldküche durch das Austrian Thank-Offering-to-Churchill Commitee, PRO, FO 371/30942. Anders bei Oliver Rathkolb, Sonderfall Österreich ? Ein peripherer Kleinstaat in der
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– Eine Grenzziehung, die sich an den Grenzen von 1937 orientierte,8 und – Die Positionierung Österreichs an der Peripherie der geostrategischen Planungen in Europa. Folgerichtig lehnte die Sowjetunion in der Folge auch Planungen, vor allem der Briten, etwa um eine Donau-Konföderation, ab. Die Moskauer Erklärung9 der Außenminister von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion von Ende Oktober 1943 war eine deutliche Absichtserklärung der „Großen Drei“, trug den Intentionen Moskaus Rechnung und griff die britischen Mitteleuropa-Planungen ebenso nicht mehr auf, wie sie US-amerikanische Neigungen (vor allem im Umfeld von Präsident Roosevelt, der auch die Variante Habsburg, im Verein mit Ungarn, als wenig aussichtsreich verwarf), Österreich dem Moskauer Einflussgebiet zu überlassen, negierte. Mit dem Hinweis auf die „Mitschuld“ Österreichs am Kriege Hitler-Deutschlands war zudem für die Großmächte eine Hintertür geöffnet worden, um später Entschädigungsleistungen einfordern zu können, was vor allem seitens der Sowjetunion nach Kriegsende auch genützt wurde. Die Moskauer Deklaration wurde über die alliierten Medien, Presse und Rundfunk, nicht nur verbreitet, um über die Absichten der Allianz zu informieren und den Widerstand in Österreich weiter zu mobilisieren, sondern diente, was bisher noch nicht dargelegt wurde, auch im Krieg an der gesamten Ostfront Österreichern als Gesinnungsnachweis : als Aufdruck auf den von sowjetischen Organen produzierten und über den deutschen Linien mil-
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sowjetischen Nachkriegsstrategie 1945–1947, in : Stefan Creuzberger – Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin ? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn u. a. 2000, S. 256, der bereits für 1941 aus der Unabhängigkeit ein angedachtes Beuterecht, besonders für die Sowjetunion, ableitet. Die von sowjetischen Diplomaten der Litvinov-Kommission mehrfach angedachte und artikulierte Erweiterung des österreichischen Staatsgebietes um Südtirol oder die Diskussionen um die jugoslawischen Gebietsforderungen nach Südkärntner und kleineren südsteirischen Gebieten sind wohl auch in diesem Lichte zu sehen. Vgl. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 62. 4. Auf,. Wien – Köln – Graz 1998, S. 18 ; und : Rathkolb, Sonderfall Österreich ?, S. 380. Zu den jugoslawischen Forderungen nunmehr : Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, „Eine weitere Unterstützung der jugoslawischen Gebietsforderungen bringt uns in eine unvorteilhafte Lage“. Der Artikel 7 des Österreichischen Staatsvertrags als diplomatischer Kompromiss mit Österreich und den Westmächten, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (†) (Hg.), Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Klagenfurt 2005, S. 99–118. Zum Folgenden und zur Moskauer Deklaration, ihrer Funktion und Bedeutung für das Nachkriegsösterreich vgl. durchaus kontrovers v. a.: Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 345–366.
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lionenfach abgeworfenen Übertrittscheinen („propusk“) zur Desertion. Der streng verbotene Besitz eines Übertrittscheines mit der Moskauer Deklaration sollte den österreichischen Soldaten der Deutschen Wehrmacht als Ausweis ihres Bekenntnisses zu Österreich und als Absage an den Krieg und das „Dritte Reich“ dienen.10
Die Rückstufung österreichischer Kommunisten durch Stalin Was die Frage der personellen Zusammensetzung einer österreichischen Regierung nach Kriegsende anging, hatte Moskau noch zu Anfang 1945 keine konkreten Vorstellungen. Generell galt : Wie in ganz Europa sollte auch in Österreich versucht werden, das Land über das generelle Konzept der Bildung einer nationalen Volksfront Schritt für Schritt kommunistisch zu machen. Österreich sollte in der sowjetischen Strategie seine sozialistische Gesellschaftsordnung nicht durch einen revolutionären Umbruch erhalten und auch nicht von der KP geführt werden, sondern aus einer evolutionären Entwicklung nach einem Zeitraum von 30 bis 50 Jahren zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gelangen.11 Die Diskussion um eine damals mögliche Sowjetisierung Österreichs ist daher im Lichte der sowjetischen globalen Sicherheitspolitik zu sehen, die darauf abzielte, langfristig „Frieden“ in Europa durch das Niederhalten potenzieller Großmachtgegner (in erster Linie Deutschlands) zu bewahren, um der Sowjetunion Sicherheit zu garantieren.12 Zwar waren die österreichischen Kommunisten im Moskauer Exil konzeptionell nicht untätig geblieben, die Umsetzung ihrer Pläne wurde von Stalin jedoch nur sehr bedingt berücksichtigt. Noch weniger fanden Planungen österreichischer Exilanten im Westen das Gehör Moskaus ; sie gaben Stalin lediglich den Anstoß, sich nun Gedanken über Österreich zu machen : Zunächst galt es, eine geeignete Person zu finden, um in Österreich die sowjetischen Pläne zu einer nationalen Volksfront-Regierungsstrategie, d. h. einer Vereinigung der nationalen linken Kräfte unter Regierungsbeteiligung von Bür-
10 Die „propuski“ wurden in der Propagandaabteilung der Roten Armee hergestellt. Originalscheine wurden mir von Prof. Dr. Michael Semirjaga (†), Moskau, zur Verfügung gestellt. 11 Vgl. dazu die entsprechenden Planungen der Majskij-Kommission zum Übergang zum Kommunismus in ganz Europa. Siehe Eduard Mark, Revolution by Degrees. Stalin’s National-Front Strategy for Europe, 1941–1947. Working Paper No. 31. CWIHP. Washington, D. C. 2001. 12 O’Sullivan, Stalins “Cordon sanitaire”, S. 194.
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gerlichen, umzusetzen. Ende März 1945 waren Ernst Lemberger13 und Fritz Molden von der Widerstandsbewegung „O5“ in Paris an den sowjetischen Verbindungsoffizier der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF)14 mit dem Ersuchen herangetreten, in Moskau eine Vertretung des Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees (POEN) einzurichten.15 Etwa zur selben Zeit stellte Stalin konkrete Überlegungen zur Bildung einer österreichischen Regierung an. Eine bürgerliche, von den Westmächten gestützte Regierung, wie sie von Lemberger und Molden angestrebt worden war, widersprach langfristig natürlich den Interessen der sowjetischen Führung.16
Die Karte Renner Der sowjetische Armeegeneral Sergej Štemenko erinnerte sich, Stalin habe bereits in den Sitzungen des staatlichen Verteidigungskomitees GOKO Ende März 1945 an Karl Renner gedacht und vor seinem Generalstab gefragt : „Wo ist eigentlich jener Sozialdemokrat Karl Renner, der ein Schüler von Karl Kautsky17 war ? Er gehörte viele Jahre zur Führung der österreichischen Sozialdemokratie. Und war, wenn ich nicht irre, Präsident des letzten österreichischen Parlaments.“18 Sowohl der Generalstabschef der Roten Armee, 13 Ernst Lemberger, alias Jean Lambert, emigrierte 1938 nach Frankreich und war während des Zweiten Weltkrieges führendes Mitglied in der französischen Widerstandsbewegung. Nach 1945 war er Botschafter Österreichs, u. a. in Brüssel, Washington und Paris. 14 Die SHAEF hatte ihre erste Sitzung am 15.12.1943. Zur Struktur der SHAEF siehe The Oxford Companion to World War II, S. 998–1000. 15 Siehe dazu Fritz Molden, Fepolinski und Waschlapski auf dem berstenden Stern. Berichte einer unruhigen Jugend. Wien – München – Zürich 1976, S. 352–354 ; Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945–1955. Graz 1979, S. 68 ; Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945. Materialien zur Zeitgeschichte. Bd. 1. Wien 1977, S. 100f. 16 Molden, Fepolinski und Waschlapski, S. 354. 17 Karl Kautsky, 1854–1938, Verfasser von politiktheoretischen und historischen Studien, Leiter der Zeitschrift der Zweiten Internationale, die „Neue Zeit“, Verfasser des Entwurfs des „Erfurter Programms“ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Geprägt von der Theorie des Marxismus strebte er eine sozialistische Gesellschaft an, lehnte aber den russischen Weg nach 1917 ab. 1924 zog Kautsky nach Wien, von wo er 1938 in die Niederlande emigrierte und dort im selben Jahr 84-jährig verstarb. 18 Vgl. dazu : Sergej Matwejewitsch Schtemenko, Im Generalstab. Bd. 1. 6. Aufl. Berlin-Ost 1985, S. 403–405 ; S. M. Stemenko, General’nyj stab v gody vojny. Moskau 1974, S. 356. Für Stemenko und Antonov mag die Äußerung unerwartet gekommen sein, Stalin hatte sich nach der Berichterstattung der sowjetischen Botschaft in Paris wohl vor der Sitzung Gedanken gemacht.
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Aleksej Antonov,19 als auch Armeegeneral Sergej Štemenko20 sollen betreten geschwiegen haben, ehe Stalin weiter ausführte : „Man darf die einflussreichen Kräfte, die auf antifaschistischen Positionen stehen, nicht außer Acht lassen. Die Hitlerdiktatur hat sicherlich auch den Sozialdemokraten etwas beigebracht.“21 Stalin soll daraufhin der 3. Ukrainischen Front fernmündlich befohlen haben, „in Erfahrung zu bringen, was aus Renner geworden sei, ob er noch lebe und wo er sich aufhalte“.22 Aus sowjetischer Sicht drängte nun die Zeit, um die Personalfrage in Österreich zu klären. Konnte ein „österreichischer Miklós“23 gefunden werden ? Das Anforderungsprofil war klar : Es musste sich um eine anerkannte integrative Persönlichkeit handeln, in der Lage, die linken Kräfte zu vereinen und für die Bürgerlichen akzeptabel zu sein. Auf der Suche nach einem provisorischen Regierungschef für Österreich rief Stalin am 2. April den Leiter der Abteilung für internationale Information des ZK der VKP(b) (später : KPdSU), Georgi Dimitrov, zu sich, und wies ihn an, „ein paar nützliche Österreicher auszuwählen, um sie zur 3. Ukrainischen Front zu entsenden“. Österreich solle, so Stalin zu Dimitrov, in den Grenzen vor dem „Anschluss“ wiederhergestellt werden.24 Dimitrov teilte Stalin am nächsten Tag mit, dass 19 Aleksej I. Antonov, geb. 1896, war ab Dezember 1942 erster stellvertretender General stabschef und einer der wichtigsten militärischen Berater Stalins. Während des Zweiten Weltkrieges war er Stabschef mehrerer Fronten, ab Februar 1945 Generalstabschef. V A. Torčinov – A M. Leontjuk, Vokrug Stalina. Istoriko – biografičeskij spravočnik. St. Petersburg 2000, S. 60f. 20 Štemenko und seine Genossen beeindruckte der Auftritt Stalins mit seiner plötzlichen Erinnerung an Renner. Der Einfall dürfte aber keinesfalls ad hoc erfolgt sein, wurden Stalin doch erst dieser Tage die Pläne der POEN vorgelegt. 21 Schtemenko, Im Generalstab, S. 403–405 ; S. M. Stemenko, General’nyj stab v gody vojny, S. 356. Während des Prager Frühlings war Stemenko Stabschef der Warschauer-Pakt-Truppen. 22 Sergej M. Stemenko General'nyj stab v gody vojny. Moskau 1968 ; in deutscher Übersetzung erschienen : Sergej M. Schtemenko, Im Generalstab. Berlin-Ost 1969. In der neuesten wissenschaftlichen Analyse zur Rolle Renners ist man versucht, Motive für die Wahl Renners durch Stalin bzw. das Einverständnis der Sowjets zu Renner zu begründen. Vgl. Robert Kriechbaumer, „… dass der Einfluss der Kommunisten beseitigt wird.“ Sowjetische Meinungen über die politische Lage sowie über österreichische Politiker 1945/46, in : Siegfried Beer – Edith Marko-Stöckl – Marlies Raffler – Felix Schneider (Hg.), Focus Austria. Vom Vielvölkerstaat zum EU-Staat. Festschrift für Alfred Ableitinger zum 65. Geburtstag. Graz 2003, S. 417–433, hier S. 424. 23 Janos M. Rainer, Der Weg der ungarischen Volksdemokratie. Das Mehrparteiensystem und seine Beseitigung 1944–1949, in : Stefan Creuzberger – Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin ? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn 2002, S. 319–352. 24 Dass Stalin den Status quo von 1938 ansprach, lässt darauf schließen, dass er die Gren-
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er gemeinsam mit dem Zentralsekretär der KPO, Johann Koplenig, die Namen der sich in der UdSSR befindlichen Österreicher, Kommunisten und kriegsgefangenen „Antifaschisten“, durchgegangen sei.25 Aus ihnen empfahl Dimitrov neben Johann Koplenig und Ernst Fischer noch weitere Exilkommunisten „zur Abreise von hier zur 3. Ukrainischen Front“.26 Diesem Bericht, den Stalin vermutlich noch am 3. April zur Kenntnis genommen hatte, folgte nach zwei Tagen ein zweiter.27 Am 4. April erhielt Stalin von Tolbuchin Nachricht über den Verbleib Karl Renners. Nun handelte der Diktator selbst und rasch (Dimitrov erhielt in der Österreich-Frage bis zur Abreise der österreichischen Kommunisten aus Moskau am 8. April 1945 keine weiteren Weisungen mehr). Mit dem Auftauchen Renners wurde die Position der österreichischen Exil-Kommunisten in Moskau schwächer. Denn Stalin hatte sich bereits am 8. April 1945 für Karl Renner als künftigen österreichischen Regierungschef entschieden. Die Frage, ob Stalin den Österreicher suchen ließ oder ob sich Renner selbst in den Vordergrund drängte, ist für die weitere Entwicklung ohne Belang. Sie wirft höchstens ein Schlaglicht auf die Persönlichkeitsstruktur Renners und die Entscheidungsabläufe im inneren Machtzirkel um Stalin. Nahezu zeitgleich mit dem Suchbefehl Stalins hatte sich Renner am 3. April aus eigenem Antrieb den sowjetischen Truppen in Gloggnitz vorgestellt. Einem Politoffizier muss aufgrund des Suchbefehls der 3. Ukrainischen Front die Bedeutung des Österreichers sofort bewusst geworden sein.28
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zen und die Größe Österreichs ins Auge gefasst hatte, eine Restauration des Stände staates lag freilich nie in Stalins Interesse. Vgl. Manfried Rauchensteiner, Nachkriegs österreich 1945, in : Österreichische Militärische Zeitschrift. 1972/6, S. 407–421, hier S. 413. Nachdem Dimitrov zu Stalin beordert worden war, beriet sich Dimitrov am 2. April mit Koplenig und Chvoscev sowie am 3. April erneut mit Koplenig. Am 4. April zog er auch Fischer zu den Beratungen zu. Siehe dazu hier und in der Folge Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. Zur Regierungsbildung in Österreich 1945, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 105–148. RGASPI, F. 495, op. 74, d. 25, S. 1f. Es sind zumindest keine weiteren Anweisungen an Dimitrov bekannt. Vgl. RGASPI, F. 495, op. 74, d. 24, 25. Siehe auch Natal’ja Lebedeva, Österreichische Kommunisten im Moskauer Exil. Die Komintern, die Abteilung für internationale Information des Zentralkomitees der Allunionspartei und Österreich 1943–1945, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 39–60. Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle ; vgl. Rauchensteiner, Nachkriegsösterreich 1945, S. 408 ; Siegfried Nasko, Zur Rolle Dr. Renners im April 1945, in : Siegfried Nasko (Hg.), Gedenkraum 1945. Hier entsteht Österreich wieder. Katalog zu „Gedenkraum 1945“. Wien – Wiener Neustadt – Hochwolkersdorf 1981 ; so auch die
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Er erklärte Renner, er könne alleine nicht über ihn verfügen, und forderte ihn auf, ins Truppenkommando (des Stabes der 103. Garde-Schützen-Division) nach Köttlach mitzukommen. Von Köttlach wurde Renner schließlich ins Hauptquartier der sowjetischen 9. Garde-Armee nach Hochwolkersdorf gebracht, wo er erstmals mit Generaloberst Aleksej Želtov29 zusammentraf.30 Želtov war über sein Gegenüber von den Politoffizieren Glagolev und Gromov aus Köttlach bereits schriftlich informiert worden.31 Als die Nachricht von Renners Auffindung am 4. April um 18.25 Uhr beim obersten militärischen Führungsstab in Moskau, der Stavka, eintraf, reagierte Stalin verwundert, dass der „alte Renner“ noch lebe,32 und wies binnen Minuten Marschall Fedor Tolbuchin an, Renner Vertrauen zu erweisen und ihm mitzuteilen, dass ihn das Oberkommando der Roten Armee beim Aufbau demokratischer Verhältnisse in Österreich unterstützen werde und dass die sowjetischen Truppen Österreich „nicht zwecks Besetzung des Staatsgebiets überschritten haben, sondern um die NS-Besatzer33 aus Österreich zu vertreiben“.34 Die Wort-
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Erinnerung der Tochter Karl Renners : „In Gloggnitz, bedeutete man ihm, […] er müsse sich an die Kommandantur in Köttlach wenden. Dort erinnerte sich ein sowjetischer Offizier an den Namen Renner und hielt ihn sofort fest, bis er Befehl für weitere Verwendung aus Moskau hätte.“ Salzburger Nachrichten, 10.5.1975, S. 25. Aleksej Sergeevič Želtov (1904–1991) war bis Juli 1950 der stellvertretende sowjetische Hochkommissar in Österreich. Sein erster Berater war Botschaftsrat Kiselev. ÖStA, AdRAA, II-pol. 1945, Kt. 1,11-pol 45, AV Wien, 19.7.1945 ; AVP RF, E 66, op. 23, d. 8, S. 24 ; F. 06, op. 8, p. 22, d. 305, S. 14 ; O. A. Ržeševskij – N. B. Borisov – E. K. Zigunov (Hg.), Kto byl kto, v Velikoj Otečestvennoj Vojne. 1941–1945. Ljudi. Sobytija. Fakty. Spravočnik. Moskau 2000, S. 96f.; Peter Gosztony, Die Rote Armee. Geschichte und Aufbau der sowjetischen Streitkräfte seit 1917. Wien u. a. 1980, S. 325f., 341f.; Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 351 ; Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945. Wien 1995, S. 504 ; A. P. Gorkin u. a. (Hg.), Voennyj Enciklopedičeskij slovar’. Moskau 2002, S. 559. Renner war in Köttlach zunächst von den Sowjets nicht erkannt worden. „Zuerst schenkte ihm niemand besondere Beachtung. Dann aber kam einer von den Politarbeitern darauf, mit wem er es zu tun hatte.“ Siehe Nasko, Zur Rolle Dr. Renners im April 1945, S. 17. „Bericht des Kommandos der 9. Garde-Armee an den Militärrat der 3. Ukrainischen Front über Gespräche mit dem Ex-Vorsitzenden des Österreichischen Parlaments, 3. April 1945.“ ; Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. Herbert Grubmayr, 60 Jahre mit den „Russen“. Erinnerungen an die Zeit als Legationssekretär der Österreichischen Botschaft in Moskau, in : Stefan Karner – Barbara StelzlMarx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005. Im russischen Original wörtlich : „faschistischen“, was der sowjetischen Terminologie entspricht. Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. Vgl. auch Schtemenko, Im Generalstab, S. 405.
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wahl entspricht jener des ersten Aufrufes der Roten Armee an die Bevölkerung Österreichs, dessen Text auf Stalin selbst zurückgeht.35 Dass sich Stalin just in dieser Phase für Renner und gegen einen KPÖ- Emigranten entschieden hatte, wird auch durch seine Direktive Nr. 11055 vom 2. April 1945 bekräftigt, in der er Tolbuchin und Malinovskij anwies, „dem Bürgermeister der Stadt Wien zu verstehen zu geben, dass das sowjetische Kommando der Schaffung einer Provisorischen Regierung unter Einschluss der demokratischen Kräfte Österreichs nicht entgegenwirken werde“, aber darüber keine Flugblätter zu verfassen.36 Die Variante einer österreichischen KP-Regierung bereits zum Zeitpunkt des Einmarsches der Roten Armee, also um Ostern 1945, war von den Sowjets nicht umgesetzt worden.37 Der Weg zum Sozialismus sollte also auch in Österreich über die Errichtung von nationalen Volksfront-Regierungen, wie sie beim Vormarsch der Sowjets am Balkan und auch in Ungarn eingesetzt worden waren, führen (teilweise auch in Entsprechung einer Übereinkunft zwischen Churchill und Stalin über die prozentuellen Einflusssphären in Mittel- und Südosteuropa).38 Offensichtlich glaubte Stalin in Renner sogar einen derart idealen Kandidaten gefunden zu haben, dass er der KPÖ nicht einmal einen zeitlichen Vorsprung geben musste,39 wie er dies in Deutschland der KPD40 zugebilligt hatte. Dabei ist klar, dass Stalin im bereits 75-jährigen Renner nicht mehr den endgültigen Vollstrecker des Übergangs Österreichs 35 Beide Dokumente (Direktive der Stavka v. 2.4.1945, Aufruf Tolbuchins) abgedruckt in : Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. 36 Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. 37 Vojtech Mastny, The Cold War and Soviet Insecurity : The Stalin Years. New York – Oxford 1998, S. 21. 38 Siehe hierzu v. a. O’Sullivan, Stalins “Cordon sanitaire”, S. 301–389. 39 „In diesem Zeitraum [bis zur Regierungsbildung] muss man der österreichischen kommunistischen Partei die Möglichkeit gewähren, die Arbeit zur Sammlung ihrer Kräfte, zur Festigung ihres Einflusses in den Massen und zur Entfaltung des Kampfes mit den Überresten des Faschismus in Österreich zu beginnen.“ Entwurf einer Direktive der 3. Europäischen Abteilung des sowjetischen Außenministeriums v. 3.4.1945. Wolfgang Mueller, Sowjetbesatzung, Nationale Front und der „friedliche Übergang“ zum Sozialismus : Fragmente sowjetischer Österreich-Planung 1945–1955, in : 200 Jahre Russisches Außenministerium. MÖStA 2003/50, S. 133–156, hier S. 146. Am folgenden Tag erhielt Stalin erstmals Nachricht über den Verbleib Renners. Dann nahmen die Dinge, wie von Stalin gewünscht, ihren Lauf. Die angesprochene Direktive dürfte nie in Kraft getreten sein, wie auch Mueller vermutet. Mueller, Sowjetbesatzung, S. 147. 40 Erst am 10. Juni 1945 erlaubte die sowjetische Militäradministration in Deutschland die Tätigkeit „antifaschistischer“ Parteien. Die KPD war bis zu diesem Zeitpunkt von der Besatzungsmacht massiv unterstützt worden. Siehe Wolfgang Benz (Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Berlin 1999, S. 85 ; Mueller, Sowjetbesatzung, S. 146.
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zum Sozialismus sah, sondern nur noch den perfekten Weichensteller. Renner erschien als der am ehesten geeignete Kanzler einer „antifaschistischen“ Regierung. Vermutlich aus innenpolitischen Gründen hatte Renner den Sowjets sogar eine „Entfaschistisierung“ (Entfernung von ÖVPlern aus seiner Regierung) angeboten. Unter Berücksichtigung der Konzeptionen der sowjetischen nationalen Volksfront-Strategie überrascht es jedoch nicht, dass sich die Sowjets besonders gegen diese für die KPÖ vermeintlich vorteilhaften Pläne stellten ! Denn noch wollten die Sowjets alle „antifaschistischen“ Parteien in der Regierung vertreten sehen. Die sowjetische Haltung entsprach völlig ihrer Strategie.41 Die Etappen der österreichischen Regierungsbildung sind bekannt : 17. April (Befehl Stalins an Tolbuchin, Renner wieder zu sich kommen zu lassen), 19. April (Beauftragung Renners zur Regierungsbildung auf Befehl Stalins), in der Folge Kontakte Renners zu den drei Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ, 24. April (Abschluss der Regierungsbildung). Nach interalliierten Konsultationen trat am 27. April die Konzentrationsregierung zusammen : Wiederherstellung der Republik Österreich, Regierungserklärung, Unabhängigkeitserklärung. Schließlich zwei Tage später, am 29. April : feierliche Regierungserklärung im Parlament und Fahnenhissung unter großer Beteiligung der Bevölkerung. Österreich war zu diesem Zeitpunkt erst im östlichen Teil (vor allem Wien, Teile Niederösterreichs, der Steiermark und des Burgenlandes) von der Roten Armee besetzt, im Großteil des Landes herrschte noch das NS-Regime, das Durchhalteparolen ausgab und Regimegegner, Deserteure, Juden verurteilte und ermordete. Einige Gebiete, wie das steirische Joglland, waren durch Wochen Frontgebiet, hatten immer wechselnde Besetzungen und Einquartierungen.
Die 5-fache militärische Besetzung Österreichs und die Errichtung der Besatzungszonen Mit dem Überschreiten der alten österreichischen Grenze bei Klostermarienberg im Mittelburgenland am Gründonnerstag, dem 27. März 1945, durch sowjetische Verbände der 3. Ukrainischen Front begann die alliierte militärische 41 Auch die Kommunisten in Osteuropa waren unbedingt zu zügeln und jede sowjetische Einflussnahme sorgfältig zu steuern und zu „maskieren“. O’Sullivan, Stalins „Cordon sanitaire“, S. 183.
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Besetzung des österreichischen Gebietes. Begleitet wurden die Bodenoperationen der Roten Armee von schweren westalliierten Luftangriffen der letzten Phase ihres strategischen Luftkrieges gegen die wichtigsten Nachschub- und Verkehrsziele sowie gegen letzte Ziele der Rüstungsindustrie, vor allem gegen Graz, Wien, Villach, Selzthal, St. Pölten, Krems, den Raum Innsbruck und Seefeld, St. Veit/Glan oder Linz,42 laufenden Tieffliegerangriffen, auch bereits sowjetischer Maschinen, die etwa noch am 10. Mai, praktisch gleichzeitig mit ihrem Einrücken, Kapfenberg unter Beschuss nahmen (1 Toter).43 Die sowjetischen Verbände der 3. und 2. Ukrainischen Front besetzten – trotz teilweise starken militärischen Widerstands deutscher Truppen (wie im steirischen Joglland, im Wechselgebiet oder um und in Wien) – binnen zwei Wochen in einer Zangenbewegung große Teile des Burgenlandes, Teile der Oststeiermark, des Semmeringgebietes, Wiener Neustadt, Baden, Teile des Weinviertels bis über Gänserndorf hinaus, Klosterneuburg, Tulln und standen vor St. Pölten. Wien wurde in zähen Kämpfen bis zum 13. April „eingenommen“.44 In der zweiten Aprilhälfte und Anfang Mai 1945 stießen die sowjetischen Verbände auf der ganzen Linie weiter nach Westen vor und trafen auf der Linie Freistadt – Enns – Steyr – Hieflau – Liezen – Scheifling – Judenburg – Köflach – Südsteiermark auf US-amerikanische (aus Bayern und Tschechien) und britische Truppen (aus Italien), in der Südsteiermark auf Partisanen-Einheiten der jugoslawischen 4. operativen Zone und teilten sich mit ihnen sowie mit der unter sowjetischem Oberkommando stehenden 1. Bulgarischen Armee die Besetzung des Gebietes.45 26.000 Rotarmisten sollen bis zum 9. Mai 1945 auf österreichischem Gebiet gefallen sein.46 Mit dem Einrücken französischer Verbände über Obersdorf, Warth und Bregenz in den ersten Maitagen war Österreich militärisch sechsfach besetzt, wobei die sowjetischen Truppen den weitaus größten Gebietsanteil innehatten. Zehntausende versuchten noch im letzten Moment über die sowjetisch-westlichen Demarkationslinien (vor allem an der Enns und Mur) zu gelangen, um sich nicht den Tito-Partisanen, sondern den Briten zu erge42 Vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945. Wien 1995, S. 61–76 ; Siegfried Beer – Stefan Karner, Der Krieg aus der Luft. Kärnten und Steiermark 1941–1945. Graz 1992, bes. S. 33f. und 146–155. 43 Beer – Karner, Der Krieg aus der Luft, S. 155. 44 Die entsprechende hunderttausendfach aufgelegte und verliehene sowjetische Medaille hat die Aufschrift „Für die Einnahme Wiens“. Archiv des Museums der 4. Garde-Armee, Moskau. 45 Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, S. 103–281 ; Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Graz 2000, S. 302f. 46 Ein langjähriges Forschungsprojekt von Ing. Peter Sixl, Grambach, erhebt unter anderem die Kriegsgräber der Rotarmisten in Österreich. Es steht vor dem Abschluss.
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ben. Vielfach vergeblich : Zehntausende Domobranzen, kroatische Ustasche wurden von den Briten in Südkärnten, wo sie sich schon in Sicherheit wogen, an die Tito-Partisanen übergeben (und anschließend größtenteils von diesen ermordet), ebenso wie an die 50.000 Kosaken und Angehörige der Vlasov-Armee, die von den Briten in Judenburg an die sowjetischen Organe übergeben wurden. An der Enns versuchten Soldaten der Wehrmacht, Frauen und Kinder den reißenden, kalten Fluss zu überqueren, auf der Flucht vor den Sowjets, den US-Amerikanern entgegen. Im Raum Freistadt übergaben US-Einheiten Tausende kapitulierte Wehrmachtssoldaten an die sowjetischen Truppen. Für sie begann eine jahrelange Kriegsgefangenschaft, aus der etwa jeder Zehnte nicht mehr zurückkehrte.47 Die Demarkationslinien, im Gelände oft zufällig gezogen, wurden so für Zehntausende Menschen zu Schicksalslinien. Für rund 1,5 Millionen Soldaten der Deutschen Wehrmacht und mit ihr verbündeter Einheiten war der Zweite Weltkrieg auf österreichischem Gebiet im Frühjahr 1945 zu Ende gegangen. Eine genaue Datumsangabe für das Kriegsende in Österreich ist nicht möglich. In den zuerst besetzten Gebieten Ostösterreichs und Wiens war am 27. April 1945 bereits die Provisorische Regierung Renner installiert und die Zweite Republik ausgerufen worden, während weiter westlich noch gekämpft wurde. In einzelnen Gegenden währten Kämpfe noch bis Mitte Mai 1945 (etwa in Südkärnten). Zu den kapitulierten 1,5 Millionen Soldaten48 kamen noch rund 1 Million Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft und in den Industriebetrieben, Hunderttausende Flüchtlinge und versetzte Personen („Displaced Persons“), vor allem Donauschwaben und Sudetendeutsche. Ein Teil von ihnen versuchte ebenfalls, soweit dies möglich war, aus dem sowjetischen Bereich zu entkommen und in einen westlichen zu gelangen. Eine bedeutende Westwanderung aus den sowjetisch kontrollierten Gebieten setzte ein. Nach dem Ende der militärischen Aktionen, der Errichtung der Demarkationslinien und den ersten gemeinsamen Truppenparaden von Sowjets und US-Amerikanern, der Einrichtung von Kommandanturen und (teilweise gemeinsamen) Verwaltungen (etwa in der Südsteiermark) wurden von der 1943 in Moskau installierten European Advisory Commission (EAC, Europäische Beratungskommission in London) nach langwierigen Verhandlungen die endgültigen Besatzungszonen für Österreich festgelegt.
47 Vgl. Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion. Wien – München 1995. 48 Schätzung nach Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, S. 391 f.
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Auf Basis britischer Vorschläge wurde dabei versucht, keine Besatzungsmacht erheblich zu benachteiligen. Am 4. Juli 1945 vereinbarte die EAC schließlich die bekannte Einteilung Österreichs in vier Besatzungszonen, wobei Wien schließlich in den Grenzen von 1937 ebenfalls vierfach geteilt wurde, der 1. Bezirk jedoch als internationaler Sektor turnusmäßig von einer anderen Macht verwaltet wurde. Die Sowjets waren von ihrer Forderung nach Einverleibung des 1. Stadtbezirkes in ihre Zone abgegangen, hatten dafür jedoch als Kompensation die 1938 nach Wien eingegliederten niederösterreichischen Gemeinden („Groß-Wien“) erhalten. Durch die gemeinsame Verwaltung des inneren Stadtbezirkes von Wien (was es etwa in Berlin nicht gab) erhielt die österreichische Zentralverwaltung und Regierung mehr Freiraum und die Alliierten auch in Zeiten des heißen Kalten Krieges eine Plattform zur Begegnung.49 Auf die Organisation der sowjetischen Zone kann in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. Im Folgenden werden vor allem Auswirkungen der sowjetischen Besatzung dargestellt.
Die Rote Armee als Instrument der Besatzungsverwaltung in der sowjetischen Zone Die Rote Armee (ab Jahresende 1945 : Sowjetische Armee) war seit ihrem Einmarsch 1945 zu einem bestimmenden Faktor geworden, besonders in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland,50 im Mühlviertel51 sowie bis Ende Juli 1945 auch in großen Teilen der Steiermark52 und in Graz : militärisch, logistisch, in den örtlichen Besatzungsverwaltungen, bei Assistenzleistungen, im Alltag der Menschen.
49 Vgl. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 28–31. 50 Siehe hierzu auf breiter Quellenbasis burgenländischer Archive Sonja Wagner, Der Sowjetstern auf dem Schlossberg. Besatzungserfahrungen im Burgenland, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 487–502. 51 Siehe hierzu auf breiter Quellenbasis oberösterreichischer Archive Gerald Hafner, Das Mühlviertel unter sowjetischer Besatzung, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 503–522. 52 Siehe hierzu auf breiter Quellenbasis auch aus sowjetischen Archiven Edith Petschnigg, Die „sowjetische“ Steiermark. Zwischen Befreiung und Besatzung – Aspekte einer Wende, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 523–562.
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Rund 400.000 Rotarmisten53 hatten Österreich militärisch besetzt,54 allein 270.00055 wurden mit dem Orden „Za vzjatie Veny“ – „Für die Einnahme Wiens“56 ausgezeichnet. Ein beträchtlicher Teil von ihnen blieb noch monatelang auf österreichischem Gebiet, ehe sie durch andere ersetzt wurden. In den ersten Jahren waren in der sowjetischen Zone Österreichs ständig an die 200.000 Sowjetsoldaten als Besatzer stationiert.57 Noch 1955 standen mehr als 50.000 sowjetische Soldaten, Familienangehörige und Angestellte der Sowjet-Armee in Österreich. Organisatorisch wurden die Einheiten der Sowjetischen Armee in Österreich und in Ungarn als Zentrale Gruppe der Streitkräfte (CGV) mit vier Divisionen aufgebaut, deren zentraler Stab sich in Baden bei Wien befand.58 Drei Divisionen, die 13. Garde-Mechanisierte, die 95. Garde-Schützen-Division und die 23. Fliegerabwehr-Division, waren in Österreich, die 2. und die 17. Garde-Mech.-Division in Ungarn stationiert. Zum Verband der CGV zählten außerdem eine Luft-Armee, Minenwerfer- und Artillerieregimenter, selbstständige Verbindungsregimenter, Fernmeldebaueinheiten, Verkehrswegebau- oder Verkehrswegeinstandhaltungseinheiten. Die CGV wurde 1945 nach einer alliierten Übereinkunft geschaffen, die auf Basis der Kapitulationsurkunde des Deutschen Reiches erzielt wurde, mit dem Ziel, die Besatzungsaufgaben in Österreich zu erfüllen. Der Oberbefehlshaber der CGV hatte bis 1953 auch die Funktion des Chefs der sowjetischen Administration in Österreich inne.59 53 Vgl. dazu u. a. Manfried Rauchensteiner, Nachkriegsösterreich, in : ÖMZ 6/1972, S. 420. 54 Vgl. zum Diskurs um den Terminus und die Faktizität der „Befreiung“ u. a. Wolfgang Wagner, Die Besatzungszeit aus sowjetischer Sicht. Die Errichtung der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich von 1945 bis 1946 im Spiegel ihrer Lageberichte. Phil. DA Wien 1998, S. 85. 55 V. N. Sunkov, Krasnaja armija. Harvest 2003, S. 341. 56 Auffallend ist, dass die Orden, die für die Einnahme Wiens und Berlins ausgegeben wurden, nicht den Terminus „Befreiung“, wie das bei Belgrad, Warschau oder Prag der Fall war, tragen. Erich Klein, Die Russen in Wien. Die Befreiung Österreichs. Wien 1995, S. 16, führt dies auf die harten Kämpfe, sprich auf die militärische Einnahme, zurück. Vgl. auch Wagner, Die Besatzungszeit, S. 30, der allerdings irrtümlich auch für Budapest den Orden als „Für die Befreiung“ bezeichnet. Vgl. Sunkov, Krasnaja armija, S. 339. 57 Schätzung aufgrund der Truppengliederungen. 58 Vgl. Valerij Vartanov, Die Aufgaben der sowjetischen Besatzungszone Österreichs von 1945–1955, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 163–178. 59 Siehe dazu Harald Knoll – Barbara Stelzl-Marx, Der Sowjetische Teil der Alliierten Kommission für Österreich. Struktur und Organisation, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 179–218.
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Die große sowjetinterne militärische Bedeutung der CGV in Baden ging allein schon daraus hervor, dass hier zahlreiche nachmalige hohe Sowjet-Befehlshaber stationiert waren. Unter ihnen waren die späteren Sowjet-Marschälle S. S. Birjuzov, G. V. Zimin, K. P. Kazakov und P. S. Kirsanov. V. V. Fedorčuk war stellvertretender Leiter der Sonderabteilung und wurde später Armee-General und Vorsitzender des KGB der UdSSR. Die sowjetischen Divisionen in Österreich wurden von Generalmajor M. I. Duka, einem ehemaligen Befehlshaber einer Partisaneneinheit, und vom Panzersoldaten Generalmajor N. P. Ochman befehligt. Der erste Oberbefehlshaber der CGV und Chef der sowjetischen Administration war Marschall Ivan S. Konev, bekannter Heerführer im Zweiten Weltkrieg. Konev war Kommandeur an zahlreichen Fronten, zuletzt Befehlshaber der 2. Ukrainischen Front, der von Stalin mit der Einnahme Prags beauftragt worden war, obwohl er sich in Konkurrenz zu Georgij K. Žukov die Einnahme von Berlin gewünscht hatte.60 Nach der Ernennung Konevs zum Oberkommandierenden der sowjetischen Landstreitkräfte 1946 übernahm Generaloberst Vladimir V. Kurasov dessen Funktion in Baden und Wien. Kurasov galt als hochqualifizierter, gebildeter und erfahrener Heerführer. Während des Zweiten Weltkrieges war er Chef des Stabes und Armeekommandant gewesen und hatte mehrere Frontstäbe geleitet. Unmittelbar nach Kriegsende wurde er zunächst Chef des Stabes der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland (SVAG). Ihm folgte von 1950 bis 1952 Generalleutnant V. P. Sviridov,61 ebenfalls ein weltkriegserfahrener Kommandeur an verschiedenen Fronten. 1953 folgte ihm der Weltkriegs-Offizier und Armeestabschef Generaloberst S. S. Birjuzov.62 In den letzten Kriegstagen war Birjuzov oberster sowjetischer Militärberater bei der bulgarischen Armee. Nach Kriegsende kommandierte Birjuzov die Truppen des Wehrkreises „Primor’e“. Nach der Funktion in Baden wurde er zum Marschall der Sowjetunion ernannt und Oberkommandierender der sowjetischen Luftraumverteidigung, der strategischen Raketen-Einheiten und Chef des Generalstabes der Streitkräfte der UdSSR. In den Jahren 1954 und 1955 war Generaloberst A. S. Žadov, ab 1955 Armeegeneral, Oberbefehlshaber der CGV. Im Zweiten Weltkrieg hatte er ein Luftlandekorps und eine Gardearmee befehligt, war Teilnehmer der Schlachten von Stalingrad, Kursk und um den Dnepr. Dem Stab der CGV standen die Generalleutnante und Kriegsteilnehmer I. T. Šlemin und I. I. Bajkov vor. 60 Ivan Stepanovič Konev, geb. 1897. 61 Vladimir Petrovič Sviridov, geb. 1897. 62 Sergej Semenovič Birjuzov, geb. 1904.
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Slemin war Kommandant, Bajkov Armee-Stabschef, jung, energisch und von schnellem Entschluss. Stellvertretende Oberbefehlshaber waren Generaloberst F. F. Žmačenko und Generalleutnant der Panzertruppen V. I. Ždanov. Die Luftwaffe wurde von Generalleutnant der Luftwaffe G. V Zimin befehligt, der 1954 von D. Ja. Slobočan abgelöst wurde. Stabschef der Armee war Kotel’nikov, die operative Abteilung leitete G. P. Skorikov. Die operative Stabsleitung lag bei Generaloberst Kostylev, der gemeinsam mit Konev in der 1. Ukrainischen Front gedient hatte, und bei Koršunov und G. A. Ščelbanin. Chefs der Spionageabteilung waren Generalleutnant M. A. Kočetkov, der während des Krieges Chef jener Frontaufklärung war, die sich bei der Beurteilung der Kampf- und Mannschaftsstärke der um Stalingrad stationierten Truppen einen Fehler geleistet hatte, in seiner Funktion als Chef der Spionageabteilung wurde er von Generalmajor M. F. Fedorov abgelöst. Die Artillerie der CGV befehligte Generalleutnant der Artillerie K. P. Kazakov. Baden war für viele der Genannten zum Sprungbrett für eine beachtliche militärische Karriere geworden. Zahlreiche Offiziere der unteren Ebenen wurden später sowjetische Generäle.
Die Repatriierungen von Sowjetbürgern Unabhängig von der Repatriierung der Kriegsgefangenen hatten sich die Westalliierten in Jalta im Februar 194563 verpflichtet, Sowjetbürger, die in ihren Gewahrsam fallen würden, den sowjetischen Behörden zur Repatriierung in die UdSSR zu übergeben. In der ersten Nachkriegszeit kamen die Amerikaner, Franzosen und Briten dieser Verpflichtung auch nach. Die Orte ihrer Übergabe an die Sowjets waren zahlreich, im Mühlviertel, in Niederösterreich, in Wien oder anfänglich auch in der Steiermark. Dennoch war es an zwei Orten zu besonders vielen Verhaftungen, Übergaben und Zwangsverbringungen gekommen : auf der Ennsbrücke bei St. Valentin und in Judenburg. Einen traurigen Höhepunkt stellte dabei die Auslieferung Zehntausender Vlasov-Kämpfer und Kosaken, nach sowjetischer Auffassung samt und
63 Hier geht es unter den verschiedenen Verträgen besonders um das „Abkommen betreffend die von Truppen unter sowjetischem Kommando und Truppen unter britischem Kommando befreiten Kriegsgefangenen und Zivilpersonen“, v. 11.2.1945, zit. in : Die Krim(Jalta)konferenz. Dokumentensammlung. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. Deutsche Fassung. Moskau – Berlin 1986, S. 236f.
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sonders „Vaterlandsverräter“ (Ukaz 1943), zu Pfingsten 1945 in Judenburg dar.64
Kosaken Zu den etwa 35.000 Kosaken, die unter dem Kommando der Russischen Befreiungsarmee (KONR) gegen die Sowjetarmee gekämpft hatten und über Oberitalien nach Österreich gekommen waren, zählten vor allem :65 – das 15. Kosaken-Kavallerie-Korps (unter Hellmuth v. Pannwitz) und – der „Kosaken-Stanj“ mit den Regimentern Don, Kuban und Terek, mit dem Kosaken-Dorf mit Frauen und Kindern. Dazu kamen noch militärische Einheiten, Frauen und Kinder von mehreren Tausend Kaukasiern unter Sultan Girej-Kłycz sowie Tausende Angehörige von Vlasov-Verbänden. Die Gesamtzahl der in Judenburg Übergebenen wird vom NKVD mit 42.913 Personen angegeben, dürfte jedoch etwas höher gelegen sein. Unter ihnen befanden sich auch jene zwölf militärischen Führer der Kosaken, die man über Graz, Baden und Wien nach Moskau gebracht hatte, um ihnen einen Hochverratsprozess zu machen. Die führenden unter ihnen wurden 1947 in Moskau gehängt, unter ihnen Pannwitz, der 1998 von Russland rehabilitiert wurde. Der Kosaken-Tross – mit den Atamanen Timofej I. Domanov und Petr Krasnov – war von den Briten größtenteils zwangsweise vor allem aus Kärnten, Osttirol (oberes Drautal und Lienzer Talkessel) und der Steiermark zusammengetrieben und mit Lastkraftwagen und in Viehwaggons der Bahn nach Judenburg gebracht worden. Tausende dürften noch auf der Murbrücke Selbstmord begangen haben : Männer erschossen ihre Frauen, schnitten sich ihre Kehlen durch, Frauen stürzten sich mit ihren Kindern im Arm in die kalte Mur, weil sie dieses Schicksal einer Auslieferung an die Sowjets vorzogen.
64 Vgl. hier und in Folge Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, (Zwangs-)Repatriierungen sowjetischer Staatsbürger aus Österreich in die UdSSR, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 243–274. 65 Vgl. zum Folgenden, wenn nicht anders zit.: Stefan Karner, Zur Auslieferung der Kosaken an die Sowjets 1945 in Judenburg, in : Johann Andritsch (Hg.), Judenburg 1945 in Augenzeugenberichten. Judenburg 1994, S. 243–259 ; Nikolai Tolstoy, Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte. München 1978, bes. S. 207f., S. 312.
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Sie wussten und ahnten, dass sie als „Vaterlandsverräter“ entweder gehängt oder im GULag verschwinden würden. Die zwangsweise Rückführung der Kosaken verstieß klar gegen den Geist des humanitären Völkerrechts, wie es in Den Haag oder Genf festgeschrieben worden war. Nach der Auslieferung der Kosaken entließen die sowjetischen Organe österreichische Kriegsgefangene aus der sowjetischen Zone auch in jene Heimat-Regionen der Gefangenen, die von westalliierten Mächten besetzt waren.
Repatriierung von Zwangsarbeitern Wie die Kosaken, so wollten von den etwa 500.000 sowjetischen Zivilisten, die sich in der sowjetischen Zone zu Kriegsende aufhielten, Zehntausende nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren. Besonders am Land hatten viele als Zwangsarbeiter eine relativ gute Unterbringung, Verpflegung und Arbeit erhalten, mitunter sogar eine persönliche Beziehung aufbauen können, die sie nun nicht gegen ein ungewisses Schicksal eintauschen wollten. Andere ahnten, dass sie als „vom Imperialismus“ infiziert galten und umerzogen würden. Ein Geheimerlass Stalins vom 19. April 1943 hatte sie kollektiv auch zu „Verrätern am Vaterland“ gemacht. Die Organe Lavrentij P. Berijas empfingen die „Heimgekehrten“ mit der Losung „Die Heimat wartet auf euch, ihr Schurken !“66 Insgesamt dürften sich in Österreich an die 70.000 Sowjetbürger einer Rückbringung in ihre Heimat entzogen haben und hier geblieben sein, wobei ein Untertauchen und Verstecken vor den sowjetischen Repatriierungsorganen naturgemäß in den Westzonen wesentlich leichter war als in der Ostzone. Dennoch konnten Sowjetbürger auch in den Westzonen bis 1955 keineswegs sicher sein, nicht doch noch von verdeckt operierenden Sowjetorganen entdeckt zu werden. Noch am 1. März 1946 betrachtete die Sowjetunion in den westlichen Besatzungszonen Österreichs rund 53.000 Menschen als ihre Landsleute.67 Die erste Repatriierungsgruppe auf österreichischem Gebiet wurde bereits im Februar 1945 mit elf Personen in Wien gegründet. Mithilfe der rund 50 Sammelpunkte sollte der Transit von Sowjetbürgern aus Frankreich, der Schweiz, 66 Siehe auch Pavel Poljan, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung. Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 2. München – Wien 2001, S. 165f.; Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939 bis 1945. Veröffentlichungen der Historikerkommission der Republik Österreich, Bd. 26/2, Wien – München 2004. 67 Zum Folgenden Pavel Poljan, Zertvy dvuch diktatur. Moskau 1996, bes. S. 208f.
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Süddeutschland und teilweise auch aus dem Südwesten der Tschechoslowakei via Österreich und die Tschechoslowakei in die UdSSR betreut werden. Zu Jahresende 1945 wurden einzelne sowjetische Repatriierungsmissionen in allen westlichen österreichischen Besatzungszonen gegründet. Zuerst in der britischen, dann in der französischen und amerikanischen Zone. Das Hauptquartier der Mission in der britischen Zone war bis August 1951 im Hotel Bauer in Bruck an der Mur untergebracht, daneben bestanden noch Operativgruppen in Graz und Klagenfurt. Insgesamt wurden aus den Westzonen Österreichs bis 1. März 1946 über 143.000 Sowjetbürger, teilweise gegen ihren erklärten Willen, repatriiert.
Vergewaltigungen, Plünderungen, Verhaftungen, Verschleppungen „Die Russen kommen !“ In diesen Ruf mischte sich meist Angst vor der „Befreiung“ aus der NS-Herrschaft. In vielen Fällen waren österreichische Frauen, aber auch „Ostarbeiterinnen“ für Soldaten, besonders in den ersten Tagen und Wochen der Besatzungszeit, zum Freiwild geworden. Dieser Erzähltopos konnte den zweiten Erzähltopos vom „kinderliebenden Russen“ in den Hintergrund stellen. Positive Aspekte (Liebesbeziehungen zwischen Rotarmisten und Österreicherinnen,68 die sowjetischen Lebensmittelspenden und Wiederaufbauhilfen) werden dadurch vielfach überlagert – im kollektiven Gedächtnis dominiert die Erinnerung des Negativen, wobei bisher nur die österreichischen schriftlichen und mündlichen Quellen herangezogen werden konnten. So war bislang unbekannt geblieben, dass es innerhalb der sowjetischen Armeen harte Bestrafungen für Übergriffe und Vergewaltigungen gab, die bis zur Todesstrafe reichten.69
68 Siehe dazu : Barbara Stelzl-Marx, „Russenkinder“ und „Sowjetbräute“. Besatzungserfahrungen in Ostösterreich 1945–1955, in : Clemens Vollnhals – Mike Schmeitzner (Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität ? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich. 1945–1955 ; und Barbara Stelzl-Marx, Freier und Befreier. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 421–448. 69 Vgl. Wolfram Dornik, Besatzungsalltag in Wien. Die Differenziertheit von Erlebniswelten. Vergewaltigungen – Plünderungen – Erbsen – Straußwalzer, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 449–468.
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Vergewaltigungen „Die Nachbarin“, so eine „Zeitzeugin“ aus Wien, die hatte ihre Kollegin hier eingeladen, weil man gedacht hat, hier ist es besser als in der Stadt. Aber die kamen von Hütteldorf, über den Lainzer Tiergarten […]. Meine Schwester und ich waren unten im Schuppen, […] in der Nacht sind die dann gekommen zu dritt, nebenan und haben dann, haben sich an der Kollegin gütlich getan. Zwei haben gehalten und einer hat sich dann erfreut und das war in Abwechslung und die Tochter wusste natürlich die Schliche im Haus, die ist dann über das Klofenster in den Garten gelaufen. Und wie die dann weg waren, dann kamen sie zu dritt. Macht auf ! Dann haben wir aufgemacht. Da war noch das Schlafzimmer der Eltern hier herunten ; und dann haben wir sie beim Fenster hereingenommen und vor dem Bett war so, wie das früher üblich war, eine Ottomane, und darauf haben sie sie dann […] Liebe war da ja nicht vorhanden, sondern das war ja nur mehr der Trieb da und sonst nichts.70
Die Soldaten der Sowjetarmee waren in Ostösterreich beinahe omnipräsent, dominierten das öffentliche Leben, drangen in die Privatsphäre ein und sahen oft auch die österreichische Frau als Trophäe für den Sieger an.71 Offiziell versuchte die Rote Armee sich dem Thema Vergewaltigungen und Plünderungen zu entziehen.72 Intern wurden jedoch Untersuchungen durchgeführt, die für die Verantwortlichen oft erschreckende Ergebnisse brachten.73 Auch die Inneren Truppen des NKVD/MVD in Österreich waren
70 AdBIK, OHI, VD-0295, Loidolt. 71 Hierbei handelt es sich um ein Begleitphänomen aller Kriege seit Menschengedenken. Auch auf deutscher Seite kam es zu zahlreichen Übergriffen auf Frauen in den besetzten Gebieten. Vgl. dazu : Hannes Heer – Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg 1995 ; Marianne Baumgartner, „Jo, des waren halt schlechte Zeiten …“ Das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von Frauen aus dem Mostviertel. Frankfurt am Main 1994, S. 127. Betont werden muss zudem, dass Vergewaltigungen auch von britischen, amerikanischen und französischen Soldaten in Österreich verübt wurden. Vgl. Margarethe Hannl, Mit den Russen leben. Ein Beitrag zur Geschichte der Besatzungszeit im Mühlviertel 1945–1955. Phil. DA Salzburg 1988, S. 63. Außerdem wurden auch Plünderungen und Übergriffe, die von der österreichischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit begangen wurden, auf Angehörige der sowjetischen Armee geschoben. So stand nicht immer fest, ob es sich bei den – wie es in der Diktion der Polizeiberichte hieß – „Tätern in Uniform“ tatsächlich um Rotarmisten handelte oder ob ihnen einfach die Funktion eines Sündenbockes für von Österreichern begangene Delikte zukam. 72 AVP RF, F. 066, op. 25, p. 119, d. 16, S. 23–25. 73 AVP RF, F. 06, op. 7, p. 26, d. 322, S. 19–26.
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angehalten, gegen „verbrecherische Elemente (feindliche Agenten, Diversanten, Terroristen, Deserteure der Roten Armee und andere verbrecherische Kräfte)“ vorzugehen.74 Ganz offen wird in den Berichten von den Razzien durch Einheiten des NKVD im Mai 1945 von unzähligen vergewaltigten Frauen, Alkoholexzessen, Plünderungen und Schwarzmarkthandel „verbrecherischer Elemente“ berichtet. Jedoch waren auch Soldaten der inneren Einheiten an solchen Übergriffen beteiligt. Von offizieller österreichischer Seite wurde versucht, Vertreter der sowjetischen Truppen nicht konfrontativ auf das Thema anzusprechen, um Konflikte zu vermeiden. Mithilfe der Terminologie wurde eine Deeskalation versucht : Vergewaltigungen und Plünderungen wurden mit dem Begriff der „Sicherheitsprobleme“ umschrieben.75 Der provisorische Staatskanzler Karl Renner sprach Marschall Ivan S. Konev bei einer Besprechung auf dieses Thema vorsichtig an und versuchte, eine Besserung zu erreichen.76 Konev antwortete darauf mit den Worten : „Wir werden uns nicht rächen und haben auch nicht die Absicht dazu. Und obwohl Österreich am Krieg teilgenommen hat, sind wir weit davon entfernt eine Politik der Rache auszuüben. Wir verstehen, im Bezug auf das österreichische Volk, die Nöte. […] Zu jedem einzelnen Fall (Gewalttaten), Beschlagnahmungen werden entschlossene Maßnahmen zu deren Aufklärung gesetzt.“77 Ob dieser Intervention Renners konkrete Schritte Konevs folgten, ist nicht klar. Ebenso unsicher sind genaue Zahlen, wie viele Frauen Opfer von Vergewaltigungen in Österreich wurden : Sie unterliegen reinen Schätzungen, dürften jedoch für Wien, Niederösterreich, das Burgenland, Mühlviertel und die von Ostern bis Ende Juli 1945 besetzten steirischen Gebiete (inklusive Graz) an die 400.000 betragen haben.78 Viele Frauen begaben sich aus Schamgefühl 74 RGVA, F. 32900, op. 1, d. 216, S. 44. 75 Oliver Rathkolb, Besatzungspolitik und Besatzungsleben in Ostösterreich vom April bis August 1945, in : Manfried Rauchensteiner – Wolfgang Etschmann (Hg.), Österreich 1945. Ein Ende und viele Anfänge. Graz – Wien – Köln 1997, S. 185–224, hier S. 196–200. 76 CAMO, F. 275, op. 353.761, d. 1, S. 60. Renner berichtet davon auch im Ministerrat : Gertrude Enderle-Burcel – Rudolf Jerabek – Leopold Kammerhofer (Hg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945. Bd. 1 : Protokolle des Kabinettsrates 29. April 1945 bis 10. Juli 1945. Horn – Wien 1995, S. 357–365. 77 CAMO, F. 275, op. 353.761, d. 1, S. 60. 78 Vgl. dazu die Schätzungen bei Günter Bischof, Austria in the First Cold War, 1945– 1955. The Leverage of the Weak. Cold War History Series. London – New York 1999, S. 33. (70,000 bis 100.000 für Wien) ; bei : Marianne Baumgartner, Vergewaltigung zwischen Mythos und Realität, in : Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien. Wien 1995, S. 60–72, hier S. 64. (240.000 für Wien und Niederösterreich) ; sowie Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 318, wo es allein in der Oststeiermark 1945 zu 9.463 amtlich re-
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und/oder Unkenntnis beziehungsweise aufgrund der schlechten medizinischen Infrastruktur auch nicht in ärztliche Behandlung, viele erstatteten keine Anzeige. 1945 verzeichneten allerdings alle Gesundheitsämter in den sowjetisch besetzten Bezirken einen signifikanten Anstieg von Geschlechtskrankheiten, insbesondere Gonorrhöe (Tripper). Allein das Land Niederösterreich meldete 1945 rund 47.000 Neuzugänge von insgesamt 70.000 bezifferten Fällen von Gonorrhöe im gesamten Bundesgebiet.79 Dennoch sind auch diese wenigen Zahlen von Geschlechtskrankheiten (vor allem Gonorrhöe, Syphilis)80 nur bedingt aussagekräftig. Ähnlich ist es mit „offiziellen“ Zahlen von Schwangerschaftsabbrüchen in öffentlichen Krankenhäusern. Zu betonen ist in diesem Kontext auch, dass ehemalige Zwangsarbeiterinnen Opfer von Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten wurden. Die Frauen wurden auf offener Straße oder in Repatriierungslagern vergewaltigt. Diese sind in den bisherigen Statistiken praktisch nicht erfasst, sondern nur über lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen bekannt geworden.81 gistrierten Vergewaltigungen (oft mit nachfolgenden Schwangerschaftsabbrüchen) gekommen war. 79 Baumgartner, Vergewaltigung zwischen Mythos und Realität, S. 64. Da die vorherrschende Geschlechtskrankheit Gonorrhöe bei Nichtbehandlung zu einem akuten, schmerzhaften Krankheitsbild führt, kann davon ausgegangen werden, dass sich ein äußerst hoher Prozentsatz der infizierten Frauen in medizinische Behandlung begab. Mit einzurechnen sind hier auch die aufgrund der sogenannten „Überlebensprostitution“ oder echter Liebesbeziehungen erfolgten Ansteckungen. Merl gibt an, dass 80 bis 85% der gemeldeten Fälle eine venerische Krankheit aufwiesen. Vgl. Edmund Merl, Besatzungszeit im Mühlviertel. Anhand der Entwicklung im politischen Bezirk Freistadt. Linz 1980, S. 179. Würde man von dieser Quote ausgehen, wäre die hochgerechnete Zahl der Vergewaltigungen geringer als die von Baumgartner errechneten 5,8%. Vgl. Wagner, Besatzungszeit, S. 39. Andere Schätzungen liegen höher, wobei dies insbesondere auf zwei Ursachen zurückgeführt werden kann : einerseits auf das hohe subjektive Ausmaß von Angst und Bedrohung, andererseits auf die große Bedeutung, die den Übergriffen durch sowjetische Soldaten im gesellschaftlichen Diskurs beigemessen wurde. Vgl. Baumgartner, Schlechte Zeiten, S. 93. 80 Andrea Petö, Stimmen des Schweigens. Erinnerungen an Vergewaltigungen in den Hauptstädten des „ersten Opfers“ (Wien) und des „letzten Verbündeten“ Hitlers (Bu dapest), in : ZfG, 47/1999, S. 892–913. 81 Dies wird in unzähligen Arbeiten beschrieben, darunter beispielsweise : Peter Ruggen thaler, Ettendorf im Lavanttal. Eine kleine Kärntner Landgemeinde zur Zeit des Nationalsozialismus. Gesellschaftspolitische Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur 1938–1945, in : Harald Knoll – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Konflikte und Kriege im 20. Jahrhundert. Aspekte ihrer Folgen. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderbd. 3. Graz – Wien –
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(Überlebens-)Prostitution Außerdem gab es jede Form von professioneller und halbprofessioneller Prostitution, wobei sich vor dem Hintergrund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage zu Kriegsende und der materiellen Asymmetrien zwischen Soldaten und einheimischen Frauen die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang nicht immer eindeutig ziehen lassen. Das Schlagwort „Überlebensprostitution“, das Beschaffen von Lebensmitteln durch sexuelle Kontakte, wurde in diesem Zusammenhang geprägt.82 Enge Berührungspunkte gab es insbesondere zu Beginn der Besatzungszeit durch die Zwangseinquartierungen von Angehörigen der Roten Armee in Privatquartieren, was meist als massiver Einbruch in die Privatsphäre angesehen wurde.83 So beschreibt die Situation ein mit dem stereotypen Satz „Das Verhältnis zu den Besatzungsmächten ist im allgemeinen gut“ eingeleiteter Lagebericht der burgenländischen Sicherheitsdirektion vom September 1946 : „Böses Blut erzeugen die gewaltsamen Einquartierungen […] Durch die Einquartierungen […] werden die Bewohner der einzelnen Räume zusammengedrängt und ihre Einrichtungsgegenstände dadurch gefährdet, dass Möbelstücke bei der Räumung der Wohnung durch die einquartiert Gewesenen verschleppt werden.“84 Auch der Monatsbericht der Sicherheitsdirektion Wien für Oktober 1946 schlägt in eine ähnliche Kerbe : „Besonders von den Bewohnern der Randbezirke wurde immer wieder über die russischen Einquartierungen Klage geKlagenfurt 2002, S. 237–262, hier S. 261 ; Stefan Karner – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Die Lapp Finze AG in Kalsdorf bei Graz 1939 bis 1945. Graz 2004, S. 206–212. Dass dies kein österreichisches Spezifikum war, zeigen folgende Arbeiten : Poljan Pavel, Deportiert nach Flause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung. Kriegsfolgen-Forschung. Bd. 2. München – Wien 2001, S. 70 ; Naimark, Russen in Deutschland, S. 91–180. 82 Irene Bandhauer-Schöffmann – Ela Hornung, Von der Trümmerfrau auf der Erbse. Ernährungssicherung und Überlebensarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Wien, in : L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 2/1/1991, S. 77–105, hier S. 103. 83 Um Zwangseinquartierungen zu vermeiden, nahmen Hausbesitzer mitunter freiwillig Flüchtlinge oder Verwandte auf, nur um ihr Haus „zu füllen“. Vgl. Karin Pöpperl, Das Russlandbild in Weitra heute. Unter Berücksichtigung der Besatzungszeit 1945–1955 und der Propaganda der Kriegs- und Nachkriegszeit. Phil. Dipl. Arb. Wien 2003, S. 10; die Besatzungstruppen beschlagnahmten Häuser, Wohnungen, Werkstätten und u. a. Schulen. Auch Einrichtungsgegenstände mussten zur Verfügung gestellt werden. Vgl. Hannl, Mit den Russen leben, S. 70. 84 Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (= ÖStA, AdR), Abt. 2, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, Monatsberichte, Sicherheitsdirektion für das Burgenland, 2.9.1946, S. 3.
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führt. Die Fälle, in denen russische Soldaten in Privatwohnungen eindrangen um nach Frauen zu suchen, haben wieder erschreckend zugenommen.“85 Nicht selten stellten jedoch die Einquartierten, besonders Offiziere, auch einen Schutz vor Übergriffen seitens anderer Soldaten dar und konnten auch zur Aufbesserung des kärglichen Speiseplans der Gastgeberfamilie beitragen („Überlebensprostitution“). Während Eheschließungen mit Österreicherinnen nicht erlaubt waren, wurden sexuelle Beziehungen seitens der Armee zumindest geduldet oder zogen nur in manchen Fällen Strafen mit sich : „Alle Offiziere hatten solche Beziehungen. Eine ging, glaube ich, sogar in die Geschichte ein. Ein Major verliebte sich in eine Österreicherin. Es war eine echte Liebe und sie wollten heiraten ! Das ging dann zum obersten Kommandostab. Es wurde nicht erlaubt. Und dieser Major wurde bestraft. […] Heiraten, nein. Das durfte man offiziell nicht. […] Wenn [Vergewaltigungen] aufgedeckt wurden, wurde das hart bestraft. Das war verboten, verboten. Aber wenn das freiwillige Beziehungen waren […]. Alle hatten diese Beziehungen. All diese Mädchen, sie haben nicht einfach so […]. Sie hatten Offiziere als Freunde. Dauerhafte Freunde. Es gab keine Konflikte, keine Strafen“,86 erinnert sich – vermutlich etwas verklärt – ein ehemaliger sowjetischer Besatzungssoldat.
Besatzungskinder Aus den Vergewaltigungen, teilweise und später auch aus vorhandenen tatsächlichen Liebesbeziehungen, gingen Tausende87 „Besatzungskinder“ hervor, deren sowjetische Väter bald nicht mehr greifbar oder bereits vor der Geburt nicht mehr vor Ort waren. Viele dieser sogenannten „Russenkinder“ wissen bis heute nicht, wer ihr leiblicher Vater ist, oder kennen nicht mehr als einen russischen Vornamen und eine Region in der damaligen Sowjetunion als Herkunftsgebiet des Vaters, der natürlich auch keine Alimente zahlte.88 Dennoch standen die Mütter in der Mehrzahl zu ihren Kindern : Von 603 Fäl-
85 ÖStA, AdR, Abt. 2, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, Polizeidirektion Wien, Monatsbericht für die Zeit vom 1. bis zum 31. Oktober 1946, Beilage A, 4.11.1946, S. 3. 86 AdBIK, OHI, VD-O257a, VD-O256b, Moskau 2.7.2003. 87 Siehe dazu Stelzl-Marx, Freier und Befreier. 88 Aufgrund der hohen Zahl an Besatzungskindern weltweit versuchten die Sozialbehörden in der Nachkriegszeit, ein internationales Alimentationsabkommen durchzusetzen, allerdings ohne Erfolg. Vgl. Besatzungskinder, in : Arbeiter-Zeitung.
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len in Österreich, in denen die Mütter von der Fürsorge aufgefordert wurden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben, erklärten sich nur 92 dazu bereit.89
Plünderungen Die sowjetische Führung wurde durch Politberater über Exzesse und Übergriffe von Angehörigen sowjetischer Organe in Österreich informiert. Denn Österreich galt als „befreit“ und unmittelbare Racheakte und Übergriffe90 gegen die Bevölkerung waren untersagt. Daran sollten sich auch die sowjetischen Truppen halten, denn „all dies untergräbt die Würde und die Ehre von sich im Ausland aufhaltenden Sowjetbürgern, schadet der Autorität des sowjetischen Staates und der sowjetischen Armee“.91 Freilich, die Praxis sah anders aus, wie etwa der sowjetische politische Berater bei der Alliierten Kommission für Österreich, Evgenij D. Kiselev, Mitte August 1945 über die Situation in Wien an Molotov rapportierte : „Alle Einheiten und Unterabteilungen der Roten Armee, die nicht zur Garnison der Stadt zählten und de facto kein Recht besaßen, sich in der Stadt aufzuhalten, versorgten sich mit Lebensmitteln aus von ihnen beschlagnahmten Lagern, Geschäften und Bauernhöfen. Außerdem verübten einige […] Einheiten Raubüberfälle […]. Den Befehlen des Kommandos der 3. Ukrainischen Front […] wurde oftmals nicht nachgekommen, um die Disziplin in einigen Einheiten war es in der Tat nicht gut bestellt. […] Als Ergebnis der nicht vorhandenen Kontrolle über einen großen Teil von Armeeangehörigen war die Ordnung in der Stadt erschüttert“.92
89 Besatzungskinder, in : Arbeiter-Zeitung. 90 In den wenigsten Fällen dürfte es sich bei den Vergewaltigungen um gezielte Racheakte wegen der Gräueltaten der deutschen Soldaten am sowjetischen Volk gehandelt haben. Dies zeigt allein der Umstand, dass es auch in mit der UdSSR verbündeten Ländern wie Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei zu Übergriffen kam. Vgl. Wilfried Loth, Die Teilung der Welt 1941–1955. München 1980, S. 97. Auch die Vergewaltigung befreiter sowjetischer Zwangsarbeiterinnen widerlegt dieses weit verbreitete Argument von befohlenen Racheaktionen. Vgl. etwa : Harald Knoll – Peter Ruggen thaler – Barbara Stelzl-Marx, Zwangsarbeit bei der Lapp Finze AG, in : Stefan Karner – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Die Lapp Finze AG in Kalsdorf bei Graz 1939–1945. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 8. Graz 2004. 91 Russisches Staatliches Archiv für sozial-politische Geschichte, Moskau (= RGASPI), F. 17, op. 128, d. 117, S. 201. 92 AVP RF, F. 06, op. 7, p. 26, d. 322, S. 19–26. Bericht d. sowj. politischen Beraters E. Kiselev, an Molotov und Vyšinskij, v. 15.8.1945.
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Die Übergriffe wurden intern häufig angesprochen. Als Ursache für die „in letzter Zeit […] zahlreichen Fälle von Undiszipliniertheit und Rechtsübertretungen seitens sowjetischer Soldaten“ führte ein Report die schlechte Kontrolle der Kommandanturen über ihre Mannschaften, Missstände im Mannschaftsstamm der Kommandanturen selbst und auch häufige Fälle organisatorischer Schwächen des militärisch-juridischen und administrativen Apparates an.93 Auch in den internen sowjetischen Dokumenten wurden – scheinbar nach „oben“ entschuldigend – die meisten Vergehen in einen engen Zusammenhang mit Alkoholexzessen und österreichischen Frauen gestellt : „Diese und andere analoge Übergriffe der Truppen im genannten Quartal [Jänner bis März 1946] zeigen, dass beinahe alle verbrecherischen Handlungen auf Trunksucht und Beziehungen zur örtlichen Bevölkerung samt allen daraus resultierenden Konsequenzen zurückzuführen sind.“94 Sämtliche Fälle „von ungesetzlichen Taten von Angehörigen der Roten Armee gegenüber der örtlichen Bevölkerung (Raub, Vergewaltigung von Frauen usw.)“ mussten geahndet werden, wie ein Befehl des Kommandanten des 335. Grenzregiments der NKVD-Truppen95 bereits am 8. März 1945 verlangte : Die „Schuldigen [sind] festzunehmen, ein Akt anzulegen und ein Verhörprotokoll aufzusetzen, die gemeinsam mit den Materialien der Vorerhebung entweder an die eigene Einheit oder an die Smers96 zu senden sind“,97 hieß es darin.98 Konnte ein Vergehen nachgewiesen werden, führte dies durchaus zu harten Strafen wie Gefängnishaft, der Einweisung in ein GULag-Lager99 oder selbst zur Hinrichtung.100 93 RGASPI, E 17, op. 128, d. 117, S. 199. 94 RGVA, F. 38650, op. 1, d. 1222, S. 118. 95 NKVD = Narodnyj kommissariat vnutrennich del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten). 96 Smerš = Smert’ špionam (wörtlich : Tod den Spionen ; sowjetische Spionageabwehr). 97 RGVA, F. 32917, op. 1, d. 7, S. 96. 98 Zu den Inneren Truppen des NKVD in Österreich vgl. v. a. Nikita Petrov, Die Inneren Truppen des NKVD/MVD im System der Sowjetischen Repressionsorgane in Österreich 1945 bis 1946, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 219–240 ; und Natal’ja Eliseeva, Zum Schutz des Hinterlandes der Roten Armee. Der Einsatz von NKVD-Truppen in Österreich von April bis Juli 1945, in : Stefan Karner – Barbara StelzlMarx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 91–104. 99 GULAG = Glavnoe upravlenie lagerej (Hauptverwaltung der Lager). 100 So wurde sogar im oben genannten Report vom Dezember 1946 kritisiert, dass von fünf verurteilten sowjetischen Soldaten zunächst nur einer hingerichtet wurde : „Ein schlechtes Licht auf unsere Truppen wirft auch die Tatsache, dass von den fünf verurteilten Tätern, die eine Aufsehen erregende Vergewaltigung mit Mord im Prater verübt hatten, erst einer erschossen wurde. Hier liegt eine klare Unterqualifizierung der politi-
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Verhaftungen In den zehn Besatzungsjahren verhafteten sowjetische Organe in Österreich rund 20.000 Zivilisten, die meisten in Wien und Niederösterreich. Über 1.000 von ihnen wurden anschließend verurteilt und in die Sowjetunion verbracht.101 Die Verhaftungsgründe waren mannigfach : unerlaubter Waffenbesitz, Zugehörigkeit zu „Werwolf“-Gruppen, Raufhändel mit Rotarmisten, kriminelle Handlungen, Kriegsverbrechen in Österreich oder in der Sowjetunion und Spionage. Unter den Verhafteten waren bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft ebenso wie scheinbar wahllos von der Straße weg festgenommene Menschen.
Verhaftungsgründe Mitte Juli 1946 verhafteten die Sowjets den niederösterreichischen LAbg. der SPÖ Franz Gruber aus Amstetten wegen verbotenen Waffenbesitzes, verurteilten ihn und brachten ihn außer Landes. Seine Tochter verschwand mit ihm. Aus dem Haus Maderstraße 1 wurde eine in einen Teppich gewickelte Frau hinausgetragen, in ein Auto geworfen und weggeführt. Sie schrie dabei um Hilfe.102 Dutzende weiterer Fälle von „abgeholten“ und seither „verschwundenen“ Österreichern listete die „Arbeiter-Zeitung“ am 18. September 1949 penibel auf : eine österreichische Verlustliste, freilich eine leider unvollständige. Die bisher erhobene Liste umfasst 2.201 von den Sowjets verhaftete österreichische Zivilisten, 1.965 Männer und 236 Frauen. Nur knapp 40 Prozent von ihnen kehrten wieder nach Österreich zurück, von rund 40 schen Tragweite dieser Tat vor.“ RGASPI, F. 17, op. 128, d. 117, S. 201. Übersetzung aus dem Russischen. Die erwähnte Vergewaltigung im Prater fand am 3. November 1946 statt. Hierbei wurde eine Österreicherin getötet, die andere schwer verletzt. Vgl. Das Verbrechen im Prater. Wir fordern Aufklärung !, in : Arbeiter-Zeitung. 7.11.1946, S. 3 ; Die Praterverbrecher zum Tod verurteilt. Vom sowjetischen Militärgericht, in : Arbeiter-Zeitung. 30.11.1946, S. 1. 101 Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Klagenfurt, Datenbank österreichischer Zivilverurteilter in der UdSSR (= AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte). 102 Arbeiter-Zeitung. Wien, 18.9.1949. Gerade Franz Kreuzer deckte als junger Journalist bei der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ viele Fälle von Verschleppungen durch die sowjetische Besatzungsmacht auf. Geworben wird mit dem Slogan „Die Zeitung, die sich was traut !“, weswegen die „Arbeiter-Zeitung“ wohl eine Zeit lang die auflagenstärkste Zeitung Österreichs war. Vgl. dazu : Hugo Portisch, Österreich II. Die Geschichte vom 2. Weltkrieg bis zum Staatsvertrag. Band 4. Der lange Weg zur Freiheit, München 1985, S. 13f.
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Prozent blieb das Schicksal ungeklärt, 9 Prozent starben in Haft, knapp 7 Prozent wurden hingerichtet und etwa 1 Prozent verblieb nach der Entlassung aus den Lagern und Gefängnissen in der Sowjetunion.103 Neben dem häufigsten Grund für Verhaftung und Verurteilung, einer vermeintlichen Spionage gegen die Interessen der Sowjetunion (siehe weiter unten), zählten „Werwolf“-Aktivitäten, illegaler Waffenbesitz, Misshandlungen von „Ostarbeitern“ und sowjetischen Kriegsgefangenen, Kriegsverbrechen auf sowjetischem Gebiet und in Österreich, kriminelle Handlungen, Raufhändel, Alkoholexzesse, polizeiliche Tätigkeiten sowie als Sowjetbürger eingestufte Österreicher zu den signifikanten, von den Sowjets dargestellten Tatbeständen.104
Verschleppungen Insgesamt verschleppten sowjetische Organe zwischen 1945 und 1955 in Österreich rund 200 Österreicher, darunter besonders viele wegen vorgeblicher oder tatsächlicher Spionagetätigkeit gegen die Sowjetunion bzw. für die USA oder Großbritannien. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde nach ihrer Verurteilung in die Sowjetunion verbracht. Die bisher aus den sowjetischen Akten ermittelbare Zahl ist jedenfalls wesentlich niedriger als die bis heute im kollektiven Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung tradierten Größenangaben.105 Sie entspricht etwa 6 Prozent der in der SBZ/DDR von Sowjetorganen verurteilten Zivilisten.106 Unter ihnen waren 704 Wiener, 614 Niederösterreicher, 223 Steirer, 163 Oberösterreicher und etwa 80 Burgenländer. In der Steiermark wurde während der kurzen sowjetischen Besatzung von Mai bis Juli 1945 mit 179 Festnahmen die österreichweit höchste Zahl an Verhaftungen innerhalb eines Jahres 103 AdBIK, Auswertung der Datenbank Zivilverurteilte. 104 Vgl. zum Folgenden v. a.: Harald Knoll – Barbara Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945–1955, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 275–322. 105 Freilich nicht mit eingeschlossen werden kann eine Dunkelziffer von besonders 1945 von Sowjetorganen verschleppten Personen, über deren weiteres Schicksal – trotz vielfältiger Erhebungen – bis heute nichts bekannt ist. 106 Andreas Hilger – Mike Schmeitzner – Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln – Weimar – Wien 2003. Somit liegt nach heutigem Wissensstand der Prozentsatz der in Österreich von sowjetischen Organen verhafteten Zivilisten unter dem ansonsten in vielen Bereichen angenommenen 10%-igen Verhältnis Österreichs zu Deutschland.
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vorgenommen. In den folgenden neun Jahren britischer Besatzung kam es in der Steiermark zu keiner Verhaftung durch sowjetische Organe mehr, sehr wohl jedoch an den Grenzübergängen zur sowjetischen Zone am Semmering und bei Fürstenfeld-Rudersdorf.107 1947 lieferten die Briten zudem einen angeklagten Steirer an die Sowjets aus, der daraufhin verurteilt wurde.108 Allein das 91. Belgoroder Grenzregiment des NKVD, das zu Kriegsende nach der kämpfenden Truppe über den Semmering in das Mürz- und Murtal einmarschiert war, nahm zwischen 11. Mai und 13. Juli 1945 40 Personen fest, verhörte sie und gab 18 von ihnen, offensichtlich wegen Vorliegens von Verdachtsmomenten, an andere sowjetische Sondereinheiten oder an die örtliche Exekutive weiter. Von ihnen wurden 18 in die Sowjetunion verbracht. Die Gründe ihrer Verhaftung waren vor allem bei den Jüngeren „Diversant, Terrorist“. Bemerkenswert erscheint, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Festnahmen aufgrund von Denunziationen erfolgte.109
Ottillinger 5. November 1948, nachmittags auf der Ennsbrücke bei St. Valentin, einer Nahtstelle zwischen der US- und der Sowjetzone : Margarethe Ottillinger, 29 Jahre, Leiterin der Planungssektion im Ministerium Krauland, wird aus dem Auto heraus im Beisein ihres Ministers von Sowjetorganen verhaftet. Major Prichodko, Mitarbeiter der sowjetischen Spionageabwehr Smerš : „Ottillinger gilt als eine der wertvollsten Agenten des amerikanischen Geheimdienstes, welche Spionage gegen die Russen betreiben. Sie hat über Auftrag der Amerikaner enge Kontakte mit den sowjetischen Offizieren geknüpft und unter Ausnützung ihrer Sorglosigkeit wertvolle Informationen über die sowjetischen Streitkräfte für den amerikanischen Geheimdienst gesammelt.“110 107 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte ; Barbara Stelzl-Marx, Die „Wiedervereinigung“ Österreichs. Kontinuität und Wandel, in : Manfried Rauchensteiner – Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neue Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, 24. Wien – Köln – Weimar 2005. Zur britischen Besatzung der Steiermark vgl. Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955. Graz 1995. 108 Vgl. dazu : Barbara Stelzl-Marx, Die „Wiedervereinigung“ Österreichs. 109 Vgl. Stefan Karner, „Ich bekam zehn Jahre Zwangsarbeit“. Zu den Verschleppungen aus der Steiermark durch sowjetische Organe im Jahre 1945, in : Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955. Graz 1995, S. 249–259 ; siehe auch Edith Petschnigg, Die „sowjetische“ Steiermark, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, 523–562. 110 Archiv des FSB (vormals KGB), Moskau (= Archiv FSB), K-106182. KGB-Untersu-
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Es folgen ihre Verurteilung zu 25 Jahren Gulag-Lager und acht Jahre Haft in der Sowjetunion. Urteilsbegründung : Spionage. Nach acht Jahren Haft in sowjetischen Lagern und Gefängnissen wird Ottillinger nach Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages krank und von den Haftbedingungen schwer gezeichnet entlassen. Ein Jahr später teilt ihr die Sowjetunion über Antrag mit, dass ihre Verhaftung jeder Grundlage entbehrte, und rehabilitierte sie.111 Ottillinger wurde zum bekanntesten österreichischen Verhaftungsopfer der Nachkriegszeit. Sie war 1948, zu einem ersten Höhepunkt der Eskalation des „Kalten Krieges“ in Österreich, in die Operationsfelder sowohl der amerikanischen wie auch der sowjetischen Geheimdienste geraten, ohne selbst aktiv Spionage betrieben zu haben. Wien war nach Berlin zu einem wichtigen Operationsfeld der globalen Auseinandersetzung der beiden Supermächte und damit auch ihrer Geheimdienste geworden. Wien galt als Vorposten gegenüber dem gegnerischen Einflussbereich,112 wobei die Vorteile zunächst bei der Sowjetunion lagen. Sie war zu Ende des Zweiten Weltkrieges zur Weltmacht aufgestiegen, hatte Wien und Berlin erobert und anfänglich auch allein verwaltet. Berlin und Wien lagen mitten in den sowjetischen Besatzungszonen, sodass die sowjetischen Geheimdienstorgane Smerš,113 NKGB/MGB/KGB114 über einen Vor-
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chungsakt Margarethe Ottillinger, hier : Begründung der Verhaftung Ottillingers. Ottillingers Vorname wird in der Folge in der gebräuchlichen und von ihr selbst ebenfalls benützten Schreibweise „Margarethe“ verwendet, obwohl verschiedene Dokumente, wie auch die Geburtsurkunde, sie als „Margareta“ ausweisen. Siehe dazu im Einzelnen : Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottillinger“. Graz 1992 ; Stefan Karner, Verschleppt in die Sowjetunion : Margarethe Ottillinger, in : Gerhard Jagschitz – Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945–1955. Beitragsband zur Ausstellung Schallaburg 1995. Innsbruck 1995, S. 35–49. Vgl. zu Berlin und Deutschland : George Bailey – Sergej A. Kondraschow – David E. Murphy, Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin. Berlin 1997. Smerš war zwischen 1943 und 1946 die sowjetische Sonder-Abwehrbehörde. Smerš wurde mit ihren Sonderabteilungen vom Innenministerium NKVD abgetrennt und direkt Stalin als Vorsitzendem des Staatskomitees für Verteidigung (GOKO) unterstellt. Leiter der Smerš war V. Abakumov, der von 1946 bis 1952 Minister für Staatssicherheit (MGB) war und unter Chruščev verurteilt und erschossen wurde. Smerš beschäftigte sich, neben der „Beobachtung“ der rückzuführenden Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, vor allem mit der „Entlarvung ausländischer Spione“. 1946 wurde die Smerš von der 3. Verwaltung des MGB übernommen. Vgl. dazu u. a.: Christopher Andrew – Oleg Gordiewsky, KGB. Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow. München 1990, S. 438f.; Rossi, GULAG, S. 364. Die sowjetische Staatssicherheit war seit 1917 unter verschiedenen Bezeichnungen
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sprung, vor allem was Erfahrungen und Informationsquellen anbelangte, verfügten.
Marek, Kiridus War Ottillinger in Wirklichkeit eher aus anderen denn aus Spionagegründen verhaftet worden, so lagen die Dinge bei den beiden ebenfalls sehr bekannt gewordenen Fällen in Wien anders. Polizeiinspektor Anton Marek115 und Gendarmeriebeamter Franz Kiridus116 waren die „inoffiziellen“ Chefs des österreichischen Geheimdienstes und hatten schon von Berufs wegen mit geheimdienstlichem Material und Geheimdienstaufgaben zu tun. Die Vorgänge rund um die Verhaftung von Marek wurden nicht nur am häufigsten im Alliierten Rat behandelt,117 sie fanden auch ein starkes natioorganisiert worden : CK (sprich : „Tscheka“, 1917–1922), GPU, OGPU (1922–1934), NKVD (1934–1946 unter Einschluss des NKGB), MGB (1946–1953), MVD (1953–1954) und KGB (1954–1991). Sie war als ein weitverzweigtes, von der „Lubjanka“ (Dzeržinskij-Platz) in Moskau aus, im In- und Ausland operierendes Netz organisiert und war eines der stärksten Machtmittel des totalitären kommunistischen Systems geworden. Vgl.: Lubjanka. Moskau 1997. 115 RGVA, Personalakt 461.190448. Anton Marek. – Marek, geb. 28.8.1889 in Vasas (Ungarn), leistete von 1910 bis 1913 seinen Militärdienst ab und musterte als Zugsführer ab. Im selben jahr rückte er zur Sicherheitswache ein. 1920 trat er zum Kriminalbeamtenkorps über. 1934 soll er es gewesen sein, der das Bundeskanzleramt vergeblich über das Zusammentreffen der NS-Putschisten in der Turnhalle in der Siebensterngasse gewarnt hatte. Bis 1938 war Marek Kriminalbeamter im BKA und wurde nach der NS-Machtübernahme am 1.4.1938 im „Prominententransport“ in das KZ Dachau gebracht, wo er auch mit Leopold Figl sehr gut bekannt wurde. Marek verstarb 1976. – RGVA, 461.190448, Personalakte Marek (= RGVA, Personalakt Marek) ; Hauptstaatsanwaltschaft der RF Moskau (= GVP), Rehabilitierungsbescheid Marek und Kiridus, 5UV–50915–48 ; Gerald Theimer, Wiener Staatspolizei in den Jahren 1945–47. Phil. Diss. Wien 1995, S. 182–195. Letzterer bezieht seine Angaben zu Marek vornehmlich aus Akten des Österreichischen Staatsarchivs ; Transportliste der Gestapo Wien v. 1.4.1938, DÖW 532, abgedruckt in : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), „Anschluß“ 1938. Eine Dokumentation, S. 535–537 ; freundliche Auskunft von Dr. Josef Marek, v. 11.6.2003. 116 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 140f.; Manfred Fuchs, Der österreichische Geheimdienst. Das zweitälteste Gewerbe der Welt. Wien 1994, S. 133f.; Wilhelm Svoboda, Die Partei, die Republik und der Mann mit den vielen Gesichtern. Oskar Helmer und Österreich II. Eine Korrektur. Wien – Köln – Weimar 1993, S. 84f. Kiridus wurde am 29. Dezember 1916 in Wien geboren. Nach 1945 war er als Gendarmeriebeamter der Gruppe Marek zugeteilt worden. Am 16. Juli 1948 wurde er auf dem Rückweg von einer Dienstbesprechung in Graz an der Demarkationslinie am Semmering verhaftet und konnte erst 1955 wieder nach Österreich zurückkehren. 117 ÖStA/AdR. Zu Marek : ALCO Nr. 4, 77, v. 25.6.1948 ; ALCO Nr. 4, 82 v. 10.9.1948 ;
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nales und internationales Presseecho.118 1945 war Marek einer der Hauptbeteiligten bei der Auffindung der sogenannten „Gauakten“119, die mithilfe der SPÖ-Innenminister Oskar Helmer direkt unterstellten und ausschließlich für ihn arbeitenden Abteilung 5 (Gruppe Marek) auch erfolgreich vor dem KPÖ-Chef der Wiener Staatspolizei Heinrich Dürmayer120 geheim gehalten werden konnten.121 Natürlich galt es für Marek dabei Fälle zu bearbeiten, die Dürmayer eben aus Gründen des nicht vorhandenen Vertrauens nicht übertragen wurden. Dabei galt es Lösungen zu erzielen, „ohne die Regierung zu kompromittieren“.122 Marek war damit der verlängerte Arm Helmers bei der Staatspolizei. Zum Aufgabenkreis der Gruppe Marek gehörten auch Aktionen gegen die KPÖ, wofür sich besonders die sowjetischen Geheimdienstorgane in Österreich interessierten, wie ein KGB-Akt belegt : „So erteilten die führenden Beamten des [österreichischen] Innenministeriums, Pammer und Peterlunger, Marek eine bestimmte Aufgabe in Bezug auf die KPÖ. Marek rekrutierte dazu zu den ihm unterstellten 36 Beamten noch weitere Kriminalbeamte mit dem Auftrag, in der KPÖ, in ihren Unterorganisationen eine Agententätigkeit einzurichten und sie in ihrem Aufbau zu unterwandern.“123 Marek und seine
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ALCO Nr. 4, 92 v. 11.2.1949 ; ALCO Nr. 5, 102 v. 15.7.1949 ; ALCO Nr. 5, 108 v. 14.10.1949. Zu Kiridus : ALCO Nr. 4, 79 v. 30.7.1948. Als Beispiel sei hier nur die kurze Notiz in der Sydney HAI v. 25.6.1948 zitiert. „London“, June 24 (A.A.P) : “The Austrian Governement yesterday sent a Note to the Allied Control Council for Austria demanding that it order the Russians to release Anton Marek, a high Austrian police official. The Russians arrested Marek last week on charge of Sabotage. The Note asked the Control Council for assurances that the occupying Powers were not using their occupation of Austria as a preparadon of a new war.” Maximilian Pammer, Die „Gauakten“. Wien 1980, S. (1), (maschinschriftlich), zit.: Svoboda, Helmer, S.6f. Heinrich Dürmayer, Wiener, geb. 10.4.1905, gest. 22.9.2000. Rechtsanwalt und KPÖ-Politiker, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil, in der NS-Zeit in den KZ Auschwitz und Dachau inhaftiert, 1945–47 Leiter der Staatspolizei. Vgl. Ernst Bruckmüller (Hg.), Personenlexikon Österreich. Wien 2001, S. 94. Interview Heinrich Dürmayer v. 20.11.1987, S. 9, zit. Svoboda, Helmer, S. 64. Zum Zeitpunkt des Interviews waren beide – Pammer schon todkrank – gute Freunde geworden. Fuchs, Der österreichische Geheimdienst, S. 136 ; Interview Heinrich Dürmayer v. 20.11.1987, S. 9, zit. Svoboda, Helmer, S. 64. Sondermitteilung der Inspektion des Sowj. Teils der Alliierten Kommission für Österreich an das MGB der UdSSR (an den stv. Minister für Staatssicherheit der UdSSR, GenLt. Selivanovskij) über die antisowjetische Hysterie in Veröffentlichungen österreichischer Zeitungen, über die Säuberung des Polizeiapparates unter dem Druck von US-Repräsentanten und über die Verzögerung des Fortganges der Entnazifizierung in Österreich durch die [West-]Alliierten und einige österreichische Parteien. Gez.: Leiter der Inspektion des sowj. Teils der All. Kommission f. Österreich, Obstlt. Bogdanov, 9.9.1947. CA FSB RF, F. 4, op. 5, d. 870, S. 172–181.
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Mitarbeiter hatten zudem Entführungen und Verschleppungen durch die sowjetischen Besatzer aufzuklären. Die sowjetische Anklage warf Marek noch weitere Tätigkeiten vor, wie Spionage in den sowjetischen Erdölbetrieben124 sowie Fluchthilfen aus Ungarn. Wie Marek bei Dürmayer so war Helmers Arm bei seinem ÖVP-Staatssekretär Ferdinand Graf125 der Gendarm Franz Kiridus, der zweite führende Beamte der Abteilung 3. Der etwa 30-jährige Wiener war nach 1945 der Gruppe Marek zugeteilt worden und hatte in deren Tätigkeitsfeld gearbeitet. 1948 wurde er deswegen an der Zonengrenze am Semmering von Sowjetorganen verhaftet und anschließend in die UdSSR deportiert. Marek und Kiridus wurden mit anderen gemeinsam am 7. Februar 1951 durch ein Militärtribunal des Truppenteils 28990 (Zentrale Gruppe der sowjetischen Streitkräfte) zur Höchststrafe, dem Tod durch Erschießen, verurteilt. Die Verurteilungen erfolgten nach den Artikeln 58/6/1 (Spionage) und 58/11 (Teilnahme an einer verbrecherischen Organisation). Kurze Zeit später, am 19. März 1951, wurde das Todesurteil von einem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR aufgehoben und in eine Haftstrafe von 25 Jahren umgewandelt. Beide kamen erst 1955, nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrages, nach Österreich zurück. Und beide wurden in den letzten Jahren von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Russlands rehabilitiert.126
Sowjetische Gerichte Zu den wichtigsten sowjetischen Gerichten, vor die österreichische Zivilisten gestellt wurden, gehörten die Militärtribunale der Zentralen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Baden (v. a. die Code-Nr. 28990) und der 4. Garde-Armee in Wien, die Sondergerichte des NKVD/MVD in Moskau (Fernurteile), die Militärtribunale der Südlichen Gruppe der Streitkräfte sowie der Garnison Wien und andere Armeedienststellen. Auffallend wenige Zivilisten verurteilten die Gerichte der 2. und 3. Ukrainischen Front der 5. Garde- und der 2. Luftlandearmee.127 124 AdBIK, KGB/MVD-Personalakt Marek. 125 Ferdinand Graf, geb. 15.6.1907 in Klagenfurt, gest. 8.9.1969 in Wien. 1938–40 in KZHaft, 1945–46 Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren, 1956–61 Bundesminister für Landesverteidigung, 1949–62 NAbg. der ÖVP. Vgl. Ernst Bruckmüller (Hg.), Personenlexikon Österreich. Wien 2001, S. 160. 126 AdBIK, Rehabilitierungsakt, 5UV-50915–48. Antrag auf Rehabilitierung wurde vom AdBIK gestellt. 127 Knoll – Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich.
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Von den Österreichern wurden rund 17 Prozent zum Tod, alle anderen zu 1- bis 25-jährigen Haftstrafen in Gulag-Lagern oder Gefängnissen verurteilt. Darunter rund ein Drittel zu 25 Jahren und mehr als ein Viertel zu zehn Jahren. Relativ kurze Haftstrafen bis zu drei Jahren erhielten weniger als 5 Prozent der österreichischen Zivilisten, von denen 236 Frauen und 1.965 Männer waren. Von den 188 zum Tode Verurteilten wurden 152 hingerichtet,128 sechs verstarben in Haft, bei 26 wurde die Todesstrafe in Lagerhaft umgewandelt (da runter bei Ottillinger, Kiridus und Marek) und vier sind bis heute abgängig.129 Der weitaus häufigste Urteilsgrund in diesen Fällen war Spionage (Artikel 58-6 des russischen Strafgesetzbuches), gefolgt von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion („Ukaz 43“).130 Spionage wurde bei 41 Prozent der verurteilten Männer und sogar bei 67 Prozent der verurteilten Frauen als urteilsrelevant angeführt.
Österreicherinnen im Netz der sowjetischen Spionage Österreicher wurden – wissentlich oder unwissentlich – von westlichen Geheimdiensten vor allem für niedere Spionagedienste eingesetzt : Aufschreiben von Flugzeugen und Kennzeichen sowjetischer Militärfahrzeuge oder Fotografieren von Militäranlagen und Truppenübungsplätzen. Sogar 1955 verhafteten die Sowjets noch einen Österreicher, der den Truppenübungsplatz Kaisersteinbruch fotografiert hatte.131 Besonders gefährdet scheinen Österreicherinnen gewesen zu sein, die – zum Teil „professionelle“ – Verhältnisse mit sowjetischen Besatzungssolda128 Ol’ga Lavinskaja, Zum Tode verurteilt : Gnadengesuche österreichischer Zivilverurteilter an den Obersten Sowjet der UdSSR, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 323–338. 129 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. 130 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte. Die Zahl der zum Tode verurteilten österreichischen Zivilisten wurde insbesondere aufgrund der hiermit erstmals erschlossenen Bestände aus dem GARF (Gnadengesuche zum Tode verurteilter österreichischer Zivilisten an den Obersten Rat der UdSSR) erhoben. 131 Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, Moskau (= GVP), Rehabilitierungsbescheid 7ud-4O7, 14–55. Othmar E. Moskau 24.5.2001. Im Vorfallenheitsbericht der Sicherheitsdirektion für das Burgenland heißt es dazu : „Mittels zwei Photoapparaten tätigte er Aufnahmen vom russ. Lager, sowie von Geschützen und Panzern und wurde dabei von russ. Soldaten betreten und festgenommen.“ Zit. nach : Burgenländisches Landesarchiv, Eisenstadt (= BLA), A/Vffl/14,1/5, Vorfallenheitsbericht 7.5.1955.
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ten unterhalten hatten.132 So wurden mehrere Prostituierte, die dies bestritten, wegen Spionage zu 15 bzw. 25 Jahren Gulag verurteilt. Eine Niederösterreicherin schilderte ihre Verhaftung : „1950 holte man mich von meinem Arbeitsplatz weg, zur damaligen sowjetischen Stadt-Kommandantur in St. Pölten. Man konfrontierte mich mit der absurden Anschuldigung, Spionin zu sein, was ich in berechtigter Entrüstung energisch verneinte ! Am darauffolgenden Tag brachte mich eine dunkle Limousine mit Vorhängen an den Fenstern in ein Untersuchungsgefängnis in Wien […]. [In] Baden […] verurteilte mich ein sowjetisches Militärtribunal am Ostermontag 1951 […] zu zweimal 25 Jahren Sibirien.“133 Das Bundeskanzleramt/auswärtige Angelegenheiten nahm im November 1952 allerdings als mutmaßlichen Grund für die Verhaftung „die Infizierung zweier Angehöriger der sowjetischen Besatzungsmacht mit Geschlechtskrankheiten“134 an, wodurch sich auch die Verurteilung wegen „Sabotage“ erklären lässt. Viel wichtiger als Sabotage war den sowjetischen Geheimdiensten natürlich die Gefahr, das sogenannte „Bettgeflüster“ zu Spionagezwecken missbraucht zu haben.135 Ein anderes von vielen Beispielen ist etwa die in einem USIA-Betrieb136 beschäftigte Arbeiterin Inge Brenner, die zunächst mit sowjetischen Soldaten verkehrt, sich aber kurz vor ihrer Verhaftung einem amerikanischen Besatzungssoldaten zugewandt hatte. Sie wurde im April 1952 wegen Spionage zu zehn Jahren Gulag in der UdSSR verurteilt.137 Oder der Fall einer Wiener Bordellbesitzerin, deren Etablissement in erster Linie Rotarmisten frequentierten. Ihr Verhängnis war dabei anscheinend, dass sie sich wiederholt auch mit einem US-Offizier getroffen hatte.138 Die im selben Bordell arbeitende Prostituierte, genannt „der Tiger“, wurde rund ein Jahr später von sowjetischen Organen verhaftet und 1948 wegen Spionage zu 15 Jahren
132 Vgl. dazu ausführlicher : Harald Knoll – Barbara Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion. Ein Überblick, in : Andreas Hilger – Mike Schmeitzner – Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln – Weimar – Wien 2003, S. 571–605 ; Stelzl-Marx, Die „Wiedervereinigung“ Österreichs. 133 Laut Rehabilitierungsbescheid erfolgte die Verurteilung nach Artikel 58/6/1 und 58/14 (Sabotage) zu insgesamt 25 Jahren Gulag. Vgl. AdBIK und GVP, Moskau, Rehabilitierungsbescheid (hier ohne Namensnennung). Brief an das AdBIK-Graz. St. Pölten 1997. 134 AdBIK und ÖBM, Personalakte. 135 Knoll – Stelzl-Marx, Österreichische Zivilverurteilte in der Sowjetunion. 136 USIA = Upravlenie sovetskim imuščestvom v Avstrii (Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich). 137 Die verhängnisvollen Soldatenbekanntschaften, in : Arbeiter-Zeitung. 12.4.1951, S. 2. 138 AdBIK, Datenbank österreichischer Zivilverurteilter in der UdSSR, Ziv-SU-107.
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Gulag verurteilt.139 Auch hier dürfte ein möglicher Informationsfluss an die Amerikaner zur Festnahme geführt haben. Tatsächlich lag bei ihr eine offensichtlich schwere Geschlechtskrankheit vor und zudem ein nicht tolerabler Umgangston, sodass Zellengenossinnen im Gefängnis von Vladimir – allen voran Margarethe Ottillinger – einen Hungerstreik organisierten, um eine Verlegung der Prostituierten in eine andere Zelle zu erzwingen.140 Bedeutend ausführlicher wurden gezielte Spionagetätigkeiten beim Wiener Josef H., 1946 bis 1949 Zensor für die 6. sowjetische Zensurstelle, dokumentiert, den ein sowjetisches Militärtribunal im November 1950 wegen seiner Verbindung zur amerikanischen Spionageabwehr CIC zum Tod durch Erschießen verurteilte. H. hatte zunächst von April 1946 bis zu seiner Entlassung im Jänner 1949 als Zensor für die 6. sowjetische Zensurstelle gearbeitet. Im sowjetischen Urteil heißt es dazu : „Im Auftrag des CIC sammelte H. von Februar bis April 1949 Informationen über die Arbeit der 6. Zensurstelle und gab diese dann der amerikanischen Spionageabwehr weiter. Im Oktober 1949 bekam H. vom CIC den Auftrag, einen Einbruch in die 6. sowjetische Zensurstelle vorzubereiten und von dort für die amerikanische Spionageabwehr interessante Unterlagen zu entwenden. Bei der Durchführung dieses Auftrages erstellte er einen ausführlichen Plan der Diensträumlichkeiten der 6. Zensurstelle. Im November 1949 vermittelte H. dem amerikanischen Geheimdienst die 2 ehemaligen Angestellten der 6. sowjetischen Zensurstelle, Josef A. und Eduard W., die von diesem zur Spionage gegen die UdSSR angeworben wurden. Außerdem nahm H. mehrmals an Versammlungen teil, bei denen die Gründung einer militärischen, konterrevolutionären Organisation zum bewaffneten Kampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen in Österreich zur Sprache kam.“141 Das Urteil wurde am 14. Mai 1951 vollstreckt. Zu Unrecht, wie heute dokumentiert ist. Auch Josef H. wurde von Russland rehabilitiert, freilich posthum.142
139 AdBIK, Datenbank Zivilverurteilte ; Österreichische Botschaft Moskau (= ÖBM), Personalakte. 140 Vgl. Karner, Geheime Akten des KGB ; Stefan Karner, Zur Politik der sowjetischen Besatzungs- und Gewahrsamsmacht. Das Fallbeispiel Margarethe Ottilinger, in : Alfred Ableitinger – Siegfried Beer – Eduard G. Staudinger (Hg.), Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Wien – Köln – Graz 1998, S. 401–430 ; Ingeborg Schödl, Im Fadenkreuz der Macht. Das außergewöhnliche Leben der Margarethe Ottilinger. Wien 2004 ; und Renata Stelzer, Russland-Aufzeichnungen. Bd. II. Nach dem Urteil. Unveröffentlichtes Manuskript, o. O. o. J., S. 52. Für die Überlassung des Manuskriptes danke ich auch an dieser Stelle besonders herzlich. 141 AdBIK, Personalakt 461.1722 34, Josef A. 142 AdBIK und GVP, Rehabilitierungsbescheid 5UV-45845-50. Josef H./Moskau 14.5.1997.
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Wie leichtfertig die sowjetischen Geheimdienste gerade mit dem Vorwurf der Spionage umgingen bzw. wie sensibel sie in der angespannten Wiener Szene während des Kalten Krieges auf jeden Verdacht reagierten, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass von allen Rehabilitierungen der größte Anteil (über 35%) Spionage-Urteile betrifft.143
Entnazifizierung „Die österreichische Regierung, die eine Außenstelle des angloamerikanischen Imperialismus darstellt, bereitete der Rückkehr reaktionärer Kräfte im Land den Weg. Sie behindert die Durchführung der Entnazifizierung, handelt gegen die demokratische Bewegung und unterstützt offen die Tätigkeit faschistischer Elemente im Land“,144 so ein interner sowjetischer Bericht zur Entnazifizierung in Österreich aus dem Jahr 1949.145 Von Beginn an schlug die sowjetische Besatzungsmacht bei ihrer Entnazifizierungspolitik in Österreich einen eigenen Weg ein, der zwischen Gnade und Verfolgung, Amnestie und Forderungen nach einer radikaleren Lösung der NS-Frage hin und her schwankte. Mit der Durchführung der Entnazifizierung betraute sie nahezu ausschließlich österreichische Behörden und versuchte so, „den komplexen und nicht enden wollenden Prozess zu vermeiden, in welchem sich die Briten und Amerikaner verfingen wie in einem riesigen Spinnennetz“146. Diese Einbeziehung einheimischer „antifaschistischer“ Kräfte etwa in Form von Regierung, Gewerkschaften und Betriebsräten entsprach dem langfristigen pragmatischen Vorgehen der sowjetischen Besatzung und erreichte eine den örtlichen Begebenheiten angepasste Vorgangsweise, ohne sich selbst zu sehr zu belasten. Selbst nahm sie nur vereinzelte, teilweise willkürliche Maßnahmen vor, wozu insbesondere Verhaftungen und Verschleppungen österreichischer Zivilisten zählten.147 Besondere 143 AdBIK, Auswertung der Rehabilitierungsbescheide. Herrn Mag. Harald Knoll und Herrn Mag. Arno Wonisch, beide BIK-Graz, danke ich in diesem Zusammenhang besonders für die vielfältige Hilfestellung bei der Auswertung der Daten. 144 AVP RF, F. 066, op. 31, d. 14, S. 6. Übersetzung aus dem Russischen. 145 RGASPI, F. 17, op. 128, d. 118, S. 100. Bericht des Sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich, 30.9.1946. 146 Zit. nach : Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich. Wien 1981, S. 42. 147 Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, S. 40–41 ; Mulley, Aspekte sowjetischer Besatzung, S. 394–395 ; Stefan Karner, Die sowjetische Gewahrsamsmacht und ihre Justiz nach 1945, in : Claudia Kuretsidis-Haider – Winfried R. Garscha (Hg.), Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945. Leipzig – Wien 1998, S. 102–129.
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Anhaltelager für Nationalsozialisten – wie die Lager Wolfsberg und Glasenbach – gab es in der sowjetischen Zone jedoch nicht.148 Wie auch bei den westlichen Alliierten bestand das erste sowjetische Entnazifizierungsziel in der Eliminierung der NS-Elite. Der sogenannte „kleine Parteigenosse“, der Mitläufer, sollte hingegen schnell und formlos in die Gesellschaft reintegriert werden.149 Bereits der Befehl Nr. 1 des sowjetischen Kommandanten von Wien im April 1945 signalisierte, dass einfache NSDAP-Mitglieder nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Partei verfolgt werden sollten, und bezeichnete solche Meinungen als „Lüge“.150 Erst nach den November-Wahlen 1945 begannen die Sowjets radikalere Maßnahmen zur Entnazifizierung zu fordern, wie dies etwa Aleksej S. Želtov als stellvertretender Hochkommissar von Leopold Figl forderte.151 Als erstes Beispiel diente die Bestrafung von NS- und Kriegsverbrechern. Mit Empörung verwiesen die Sowjets darauf, dass die von der österreichischen Regierung eigens eingerichteten und von den Westmächten geförderten Volksgerichte ihrer Meinung nach die Mehrheit der NS-Verbrecher unbestraft ließen. Von insgesamt 80.377 zwischen April 1945 und 1. Februar 1950 erhobenen Anklagen gegen „schuldige Nazis wurden lediglich 6.219 Verbrecher verurteilt, was 7,8% der gesamten Fälle darstellt“,152 rechneten die Sowjets vor. Noch ärger stünde es um die Art der Bestrafung in den Westzonen : Von insgesamt 6.219 Verurteilten seien lediglich 235 Verbrecher zu „ordentlichen Haftstrafen“ verurteilt worden, während die übrigen 5.984 Personen „minimale Strafen“ bekommen hätten und in den meisten Fällen nach Prozessende auf freien Fuß gesetzt worden seien. Und die Sowjets konstatierten : „So schaut die Bestrafung von Nazi- und Kriegsverbrechern in den westlichen Zonen in Wirklichkeit aus.“153 Gleichzeitig kritisierte man die beiden Großparteien, die mit einem Schielen auf Wählerstimmen, durch juristische „Tricks“ die Zahl der schuldigen Natio-
148 Barbara Stelzl-Marx, Entnazifizierung in Österreich. Die Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht, in : Wolfgang Schuster – Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Bereich. Linz 2004, S. 431–454. 149 Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, S. 41 ; Oliver Rathkolb, Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955. Wien 1986, S. 14. 150 Proklamation Marschall Tolbuchins an die Wiener Bevölkerung. Zit. nach : Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945–1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik. Wien 1955, S. 140–141. 151 Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 146–147. 152 AVP RF, F. 066, op. 31, d. 14, S. 16. Übersetzung aus dem Russischen. 153 Ebd.
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nalsozialisten auf ein Drittel senkten und die Gründung des Verbands der Unabhängigen ermöglichten.154 Als weiteres Beispiel für die aus sowjetischer Sicht mangelhafte Entnazifizierung diente die Situation im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft, wo man ebenfalls tatsächlich nur einen Bruchteil der tatsächlich belasteten Nationalsozialisten entlassen habe.155 Unter Bezugnahme auf einen Bericht der österreichischen Regierung an den Alliierten Rat wurde hervorgehoben, dass 1947 von den 18.773 ehemaligen NS-Lehrern in Volks- und Hauptschulen noch 31,7 Prozent aktiv waren. Ein ähnliches Bild herrsche, wurde bemängelt, an den Universitäten, wo viele „Nazi-Universitätslehrende“ weiterhin angestellt beziehungsweise bereits wieder an ihre früheren Posten zurückgekehrt seien.156 Eine „geistige Erneuerung“ (auch bei den Schulbüchern) wurde zwar gefordert, in der Praxis jedoch dadurch verzögert, dass man den Wiener Buchbindereien den Auftrag gab, zwei Millionen Exemplare der „Geschichte der VKP(b)“ zu binden.157
Zur Nachkriegswirtschaft in der sowjetischen Zone Die Ausgangslage der Wirtschaft im sowjetisch besetzten Gebiet Österreichs unterschied sich wesentlich von jener im übrigen Österreich. In Wien, Niederösterreich, dem Burgenland und großen Teilen der Steiermark, wo seit Ostern 1945 sowjetische Einheiten standen, sowjetische Verwaltungen und Kommandanturen eingerichtet wurden, hatte die Besatzungsmacht tief in die Wirtschaft der Gebiete eingegriffen : – durch zentral geplante Demontagen, – durch den Aufbau von sowjetischen, quasi exterritorial agierenden Wirtschaftsverwaltungen (USIA, SMV, teilweise DDSG), – durch die reduzierte Zuteilung von ERP-Mitteln an die sowjetische Zone (auf die in diesem Beitrag nicht mehr eingegangen werden kann). Zudem waren die Repatriierungen von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen im sowjetisch besetzten Gebiet von Beginn an zügig durchgeführt worden, sodass über den Sommer 1945 besonders in der Landwirtschaft (Ernteeinsatz), am Bau und in der anlaufenden gewerblichen Wirtschaft
154 155 156 157
Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Übersetzung aus dem Russischen. Ebd., S. 28. Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, S. 163.
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eine beträchtliche Lücke an Arbeitskräften entstanden war, weil auch rund 500.000 heimische Arbeitskräfte (Kriegsgefangene, Internierte, Vermisste) bis zum Frühherbst noch nicht zur Verfügung standen. Die Lücke konnte durch den Einsatz von DPs (vor allem vertriebener „Volksdeutscher“) nur teilweise geschlossen werden. Außerdem hatte die Landwirtschaft die Besatzungstruppen (vor allem die Pferde) aus der laufenden Futtermittelaufbringung (mit) zu versorgen. Futterreserven gab es nicht mehr. Die vorgesehenen Lebensmittelrationen für Arbeiter wurden im September 1945 auf ein Minimum gesenkt : in Niederösterreich und dem Burgenland auf 1.054 Kalorien pro Tag.158 Vergleichsweise dazu lagen die Kaloriensätze für Arbeiter zur gleichen Zeit in Tirol schon bei 1.648 oder in Kärnten bei 1.881 Kalorien pro Tag. Krankenhäusern wurden Ende September/Anfang Oktober 1945 in „Oberösterreich-Süd“ bereits 2.018 Tageskalorien zugeteilt, während es in Niederösterreich und dem Burgenland nur 936 Tageskalorien waren.159 In Niederösterreich betrug etwa die Aufbringung an Roggen und Weizen bis Mitte Oktober 1945 nur elf bzw. 13 Prozent des Jahres 1944. An eine Bevorratung für den Winter 1945/46 war überhaupt nicht zu denken. Die Rinderbestände Niederösterreichs waren um 50 bis 70, die Schweinebestände um bis zu 90 Prozent dezimiert worden. Ähnliche Rückgänge an Erzeugung und Aufbringung gab es bei Fett, Milch oder Zucker.160
Kartoffelertrag im Jahr 1946 je Hektar in Zentner 140 122,8
120
111,1
106,8
100 80
82,5
60 40 20 0 Sowjetische Zone
US-Amerikanische Zone
Britische Zone
Französische Zone
Quelle : Wifo 1–2/1945, S. 144. 158 Festgesetzte Kalorienwerte des Staatsamtes für Volksernährung, zit. nach : Monatsberichte des Österr. Inst. f. Wirtschaftsforschung (= Wifo) 1–2/1945, S. 19f., 22. 159 Wifo 1–2/1945, S. 22. 160 Wifo 1–2/1945, S. 21.
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Sowjetische Lebensmittelhilfen Die Lebensmittelspenden (Mai-Spende und Hilfe der Roten Armee) sowie die vom obersten sowjetischen kriegswirtschaftlichen Leitungsorgan GOKO161 angeordnete Überlassung von Lebensmittelreserven für drei Monate an die Stadt Wien162 konnten unter diesen Umständen die Versorgungslage nur kurzfristig entspannen. Die sowjetischen Spenden an die Wiener Bevölkerung kamen zum Großteil direkt aus Armee-Reserven und unter Kürzung der eigenen Rationen. So stellte allein die 2. Ukrainische Front bis zum 3. August 1945 12.418 Tonnen Getreide, 1.666,5 Tonnen Brotmehl, 6.310 Tonnen Gemüse, 1.125 Tonnen Mais, 946 Tonnen Kleie, 20 Tonnen Salz, 1.700 Tonnen Zucker, 105 Tonnen Kaffee, 3.000 Tonnen Fleisch sowie 500 Tonnen tierisches Fett zur Verfügung.163 Die 3. Ukrainische Front verbesserte für drei Monate, beginnend ab 23. Mai 1945, die Lebensmittelrationen in Wien bedeutend, wobei präzise Ausgaberichtlinien – streng nach Arbeitseinsatz und physischer Bewertung der Arbeit sowie nach dem Gesundheitszustand – einzuhalten waren.164 Die sowjetischen Spenden von Lebensmitteln und Waren (darunter v. a. Schuhwerk und Transportmittel) waren die ersten wesentlichen Hilfen des Auslandes. Versuche der sowjetischen Propaganda, daraus noch vor dem Anlaufen der UNRRA politisches Kapital zu schlagen und die Stimmungslage in der Bevölkerung zugunsten der Sowjetunion zu beeinflussen, schlugen allerdings fehl. Vor allem weil durch Übergriffe, Raub und Plünderungen in großem Ausmaß durch einzelne Einheiten der Roten Armee oder einzelne Rotarmisten (nicht selten unter Beteiligung von Einheimischen und zurückflutenden Truppen der deutschen Wehrmacht oder ehemaliger Verbündeter, von ehemaligen Zwangsarbeitern oder Angehörigen ehemaliger Vlasov-Truppen) eine starke Stimmung gegen alles Sowjetische entstanden war. Dazu kamen, wie bereits ausgeführt, örtliche Angst und Engpässe durch Plünderungen in großem Stil, vor allem in Wien, aber auch in anderen größeren Städten Niederösterreichs. So in Neunkirchen, wo über Anordnung des
161 CAMO, F. 243, op. 2912, d. 175, S. 59. Schreiben Chrulevs an die 2. Ukr. Front, Malinovskij und Tevcenkov, 28.5.1945. Kopie erging u. a. an A. Mikojan. 162 GOKO-Beschluss Nr. 8719/s, v. 23.5.1945. CAMO, F. 243, op. 2963, d. 136, S. 830, v. 23.5.1945, gez. Tolbuchin u. a. – AVP RF, F. 06, op. 7, p. 26, d. 322, S. 19–26. Bericht d. sowj. politischen Beraters E. Kiselev an Molotov und Vysinskij, v. 15.8.1945. 163 CAMO, F. 275, op. 2838z, d. 17, S. 326, Telegramm Nr. 1558, v. 3.8.1945, gez. Loginov ; op. 2962, d. 136, S. 623, Statistik. 164 CAMO, F. 243, op. 2963, d. 136, S. 83 off., v. 23.5.1945, gez. Tolbuchin u. a. – Mit der Verteilung der Lebensmittel wurde Gen. Obst. Zebunin betraut.
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sowjetischen Generalleutnants der Panzertruppen, Rossijanov, „die gesamte Stadt regelrecht ausgeraubt wurde“, bis das übergeordnete sowjetische Kommando die Aktion stoppen konnte. Die Beschlagnahmungen von Vieh wurden als Alltagsereignisse kaum noch registriert und standen gewissermaßen auf der Tagesordnung.165
Demontagen Die Eingriffe der sowjetischen Besatzer in die Wirtschaft der Ostzone durch Hunderte Demontagen von industriellen und gewerblichen Anlagen und ihre Verbringung wogen besonders schwer, entzogen sie doch der österreichischen Wirtschaft ihre Existenzgrundlage. Bereits im Februar 1945 hatte Stalin den Entschluss gefasst, Beutegüter („Kriegstrophäen“) in den zu besetzenden Gebieten zu konfiszieren und für bestimmte sowjetische Anlagen nutzbar zu machen. Eigene Kommissionen bei den sowjetischen Fronten sollten die Anlagen erkunden, deren Demontage und Abtransport – unter Zuhilfenahme leitender Angestellter der jeweiligen sowjetischen Aufnahmebetriebe – besorgen. Per GOKO-Verordnung 7590SS gründete man im obersten kriegswirtschaftlichen Leitungsgremium ein Sonderkomitee unter Vorsitz von Georgij M. Malenkov, u. a. mit Nikolaj A. Bulganin. Im März 1945 wurde schließlich das Volkskommissariat für Bauwesen unter S. Ginzburg mit den Demontagen „Deutscher Anlagen“ für die im Wiederaufbau befindlichen sowjetischen Betriebe betraut.166 Bereits sechs Tage nach der Einnahme Wiens durch die Rote Armee erging ein von Stalin gezeichneter GOKO-Befehl zur Verbringung von 13 Messerschmitt-Jagdflugzeugen der neuesten Serie 109G zur technischen Analyse durch die sowjetischen Luftstreitkräfte und in die höhere Offiziersschule der Roten Armee nach Ljubercy.167 Es folgten wenige Tage danach die GOKO-Befehle zur Demontage wichtigster Betriebsteile der Sauerwerke (für das Autowerk in Jaroslav I), von Gräf & Stift (für das Moskauer Stalin-Autowerk) und von Austro-Fiat (für das Minsker Automontagewerk).168 165 Das Zitat entstammt : AVP RF, F. 06, op. 7, p. 26, d. 322, S. 19–26. Bericht d. sowj. politischen Beraters E. Kiselev an Molotov und Vysinskij, v. 15.8.1945. 166 Poljan, Deportiert nach Hause, S. 170. 167 RGASPI, F. 644, op. 1, d. 402, S. 16. GOKO-Befehl 8196SS, 19.4.1945. 168 Dazu wurden Verantwortliche für die Demontagen ernannt, die selbst führende Positionen in den Aufnahmebetrieben hatten. Für Sauer : stv. Dir. A. P. Barinov, für Gräf & Stift : Direktionsassistent P. Ja. Sofronov und für Austro-Fiat : stv. Dir. N. Malinin. RGASPI, F. 644, op. 1, d. 405, S. 162.
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Es folgten noch im April die Demontagen bei Rudolf Haar in Wien und bei Fischer & Schnabel in Sommerfelde und eine ganze Reihe von Telefon-Anlagen, Telefonkabel und Vermittlungseinrichtungen, wie aus dem Wiener Telegrafenamt, und 30.000 Radiogeräte für Kiew, Charkow und Leningrad.169 Am 4. Mai 1945 folgten Demontagen im E-Werk Simmering (sechs Turbogeneratoren mit 77.000 KW),170 danach jene bei Minerva-Radio in Wien, wo man praktisch die komplette Einrichtung an Werkzeugbänken und Halbfabrikaten für ein Forschungsinstitut demontierte,171 die gewaltigen Demontagen an Lokomotiv- und Waggonbaueinrichtungen bei den Paukerwerken in Floridsdorf (die zum „Hermann Göring“-Konzern gehörten),172 bei der „Donau“-Werft, bei Kesselbau Albrecht Franz in Wien und bei der Wiener Lackfarbenfabrik Ebersberger (für eine Fabrik in Jaroslav I).173 Im Mai 1945 folgten noch größere Demontagen im Wiener Hafengelände und bei SteyrDaimler-Puch in Wien.174 Im Juni wurden die Einrichtungen der Chemiefabrik in Kaindorf-Pischelsdorf sowie elektrotechnische Geräte (wie 12.000 Isolatoren, Umspanner) auf dem Bisamberg für eine Anlage in Leningrad abgebaut und verbracht.175 Es folgten Großdemontagen von Einrichtungen bei Böhler in Waidhofen, bei der Aluminiumfirma Bernhard Berghaus in Berg, bei der Berndorfer Metallwarenfabrik Arthur Krupp, bei der Metallfabrik von Wachtmann in Wien und bei Wiener Brückenbau.176 Nahezu gleichzeitig wurden in der steirischen Mur-Mürz-Furche ein komplettes, neues Stahlwerk von Böhler in St. Marein sowie die Anlagen eines Murkraftwerkes in St. Dionysen, Walzwerkstrecken in Donawitz, bei Böhler in Kapfenberg, Einrichtungen bei Elin in Weiz, der Puchwerke in Graz, der Grazer Waggonfabrik, eine Reihe weiterer Produktionsmaschinen bei Schoeller-Bleckmann in Temitz und Königsberg, Anlagen bei Voith in St. Pölten ebenso demontiert wie die „Wiener Holzwerke“ zur Sperrholzproduktion für den Flugzeugbau, Anlagen des Wiener Panzer-Reparaturwerkes oder „Siemens & Halske“ in Wien.177 Bei Vogel & Noot in Wartberg, Breitenfeld und Mitterdorf wurden sogar die Dachziegel fortgeschafft. Aus Mariazell ver-
169 170 171 172 173 174 175 176 177
RGASPI, F. 644, op. 1, d. 406, S. 44. GOKO-Befehl v. 26.4.1945. RGASPI, F. 644, op. 1, d. 411, S. 155. GOKO-Befehl v. 4.5.1945. RGASPI, F. 644, op. 1, d. 414, S. 121. GOKO-Befehl v. 10.5.1945. Ebd., S. 113. GOKO-Befehl v. 10.5.1945. Ebd., S. 119, 121. GOKO-Befehl v. 10.5.1945. RGASPI, F. 644, op. i, d. 417, S. 127, d. 421, S. 168. GOKO-Befehl v. 16.5. u. 31.5.1945. RGASPI, F. 644, op. 1, d. 426, S. 61, d. 436, S. 81. GOKO-Befehl v. 8.6.1945. RGASPI, F. 644, op. 1, d. 443, S. 172, 175,199f. GOKO-Befehl v. 28.7.1945. RGASPI, F. 644, op. 1, d. 444, S. 9–17. GOKO-Befehl v. 28.7.1945.
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brachten die Sowjets 2.000 Radioapparate der Firma Kapsch. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Ein Teil der demontierten Anlagen aus Österreich erreichte tatsächlich die Bestimmungsorte. So traf der Ministerrat der UdSSR im Mai 1946 die Entscheidung über die weitere Verteilung eines Teiles der verbrachten Maschinen und Anlagen, die bis dahin in einem Zwischenlager im Primorsker Gebiet gelagert hatten. Die 476 Metallschneidewerkzeugbänke, drei Walz anlagen und acht Guillotinen sollten auf Fabriken in Ostsibirien aufgeteilt werden.178 Die große Walzstrecke „Bluming“ aus Donawitz kam etwa in das Stahlwerk Petrovski, die Qualitätswalzstrecke von Felten & Guilleaume in Bruck in das Stahlwerk Frunze, das gesamte Ostwerk der Gussstahlwerke Judenburg zu Asovstahl. Die neuen Walzstrecken und E-Öfen von Böhler wurden im Dneprospezstahl, die Feinstahlstrecken von Böhler im Stahlwerk Dzerzinskij implementiert.179 Im Spätsommer berichtete Hochkommissar Konev an Außenminister Molotov direkt, dass erst ein Teil der Betriebe „in unserer Okkupationszone Österreichs demontiert“ wäre und die Kontrolle über das Deutsche Eigentum zu wünschen übrig lasse. Mehr noch : Einzelne Österreicher, Firmen und sogar Organe der Provisorischen Staatsregierung Renner begännen bereits, das entsprechende, ehemals „Deutsche Eigentum“ für ihre Zwecke wiederzuverwenden.180 Konev erbat entsprechende Instruktionen, wie dagegen vorzugehen sei. Gleichzeitig wurden die Demontagen in der sowjetischen Zone auf Hochdruck fortgeführt, die Bewachungen der zu demontierenden Anlagen durch Rotarmisten verstärkt.181 Die Gesamtschäden allein in der Steiermark, die durch Demontagen und Plünderungen, vor allem von sowjetischen Organen und Rotarmisten, entstanden waren, betrugen 284,9 Millionen RM (Wert 1945), dreimal mehr als die Luftkriegs- und Kampfschäden im Lande ausgemacht hatten.182
Das sowjetische Vermögen in Österreich Die Antwort der sowjetischen Führung auf Konevs Frage ließ nicht lange auf sich warten. Das Scheitern des sowjetischen Plans zur Gründung einer öster-
178 179 180 181 182
RGAE, F. 4372, op. 94, d. 1246. Entwurf eines Ministerratsbeschlusses der UdSSR. Vgl. auch Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 322f. AVP, F. 06, op. 7, p. 26, d. 322, S. 100f. Konev an Molotov, 14.12.1945. RGAE, Demontagen, ohne Bestandsangabe. Vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 322.
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reichisch-sowjetischen Ölgesellschaft zur Ausbeutung der österreichischen Erdölquellen („Sanafta“) und Verstaatlichungsdiskussionen in Österreich ließen die Sowjets handeln. Verärgert und schroff berichtete etwa Politberater Kiselev im August 1945 an Molotov : „Derzeit wird ein erbitterter Kampf um die größten Betriebe der österreichischen Industrie ausgetragen : die Ölfelder in Zistersdorf und die Alpine-Montan. Neben starkem Druck und direkter Einmischung der Briten, die für die Alpine ihren eigenen Generaldirektor […] mitgebracht haben, […] wird auch innerhalb der Regierung darüber gestritten, ob dieses Unternehmen verstaatlicht werden soll oder nicht. Auf Versammlungen, die beinahe in allen Betrieben der Alpine und in einer Reihe anderer Betriebe abgehalten wurden, verabschiedete man Resolutionen mit der Forderung nach Verstaatlichung der Alpine. Hinter der Übergabe der größten Unternehmen an die Angloamerikaner stehen, wenn auch nicht öffentlich, reaktionäre Elemente der Bourgeoisie und die Katholiken, die sich um die Minister Heinl und Raab scharen.“183 Den nächsten Anstoß zum Handeln gaben die für die KPÖ desaströsen Wahlergebnisse am 25. November 1945. Jetzt wollten die sowjetischen Planer einen stärkeren Einfluss auf die österreichische Industrie und damit auf einen großen Teil der Arbeiterschaft. Dazu sollte das in der sowjetischen Zone beheimatete „Deutsche Vermögen“ unter sowjetische Kontrolle gebracht werden. Ein erster, ausgearbeiteter, mit März 1946 datierter Entwurf einer entsprechenden Weisung wurde im sowjetischen Außenministerium bereits im Februar 1946 als Entwurf eines Ministerratsbeschlusses fertiggestellt.184 Kurz darauf erfolgte der Befehl Nr. 12, wonach die Bürgermeister der Zone innerhalb weniger Tage den sowjetischen Militärkommandanturen mitzuteilen hatten, welches ehemalige Deutsche Eigentum sich in ihren Gemeinden befand.
Befehl Nr. 17 Diese noch relativ milde Befehlsgebung wurde jedoch im Frühjahr 1946 weiter verschärft. Um den sowjetischen Ansprüchen auf das Deutsche Eigentum in Ostösterreich (als Ersatz für Reparationsleistungen) zur Realisierung zu verhelfen, erließ Hochkommissar Gen. Obst. Vladimir V. Kurasov am 27. Juni
183 AVP RF, F. 066, op. 7, p. 26, d. 322, S. 19–26. Bericht v. 17.8.1945. 184 Wie in den Vorlagen üblich, wurde das genaue Datum freigelassen. AVP RF, F. 06, op. 8, p. 22, d. 312, S. 4-8. Abgedruckt in : Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dokument Nr. 93.
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1946 seinen auf Vortrag der Unterzeichnung des 2. Kontrollabkommens rückdatierten „Befehl Nr. 17“ zur Beschlagnahmung deutscher Vermögenswerte in Österreich durch die Sowjetunion. Unter die Beschlagnahme fielen etwa 10 Prozent der gesamtösterreichischen Industriekapazität, nahezu die gesamte Erdölindustrie sowie ein bedeutender Teil der DDSG.
USIA, SMV, DDSG Die österreichischen Vermögenswerte wurden von der sowjetischen Hauptverwaltung des sowjetischen Vermögens im Ausland beim Ministerrat der UdSSR,185 zu der etwa auch die Vermögenswerte in Ostdeutschland gehörten, übernommen und in eigenen für Österreich bestimmten Verwaltungen zusammengefasst. Die USIA (Upravlenie sovestkim imuščestvom v Avstrii, Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich) hatte zum 1. Dezember 1952 436 Betriebe und Organisationen, von denen 332 in Betrieb standen, 69 verpachtet und 35 geschlossen waren. Unter den Betrieben waren 231 Industrie- und 21 Handelsbetriebe, 153 land- und forstwirtschaftliche (mit über 160.000 Hektar Kulturfläche) und 31 Betriebe des Baugewerbes. Dazu kam ein Netz von 114 Verkaufsläden (ORT),186 die SNU (Sovetskoe neftjanoe upravlenie v Avstrii, Sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich, heute OMV) mit nahezu den gesamten Erdölfeldern und der Raffinerie in Schwechat sowie ein Teil der DDSG. Das knapp einen Monat später vom österreichischen Nationalrat beschlossene 1. Verstaatlichungsgesetz versuchte, entgegen den sowjetischen Warnungen, 13 der beschlagnahmten Unternehmen durch Verstaatlichung dem Zugriff der Sowjets zu entziehen. Darunter etwa die Zistersdorfer Erdölfelder, die DDSG, wichtige elektrotechnische Betriebe wie Elin, Siemens-Schuckert (Starkstrom) oder die AEG-Union. Dazu kamen Betriebe der Alpine-Montan, von Böhler, Hofherr-Schrantz oder von Krupp. Die USA reagierten zwar ebenso mit der Ansicht, das Verstaatlichungsgesetz verstoße gegen das mittlerweile erlassene Zweite Kontrollabkommen, mit dem Österreich wieder zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammenwuchs, doch begannen sie gemeinsam mit Briten und Franzosen das in ihrer Zone bis dahin von
185 RGASPI, F. 17, op. 164, d. 212, Bericht an Malenkov. 186 Vgl. u. a. Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Wien 1985 ; Otto Klambauer, Die USIA-Betriebe. Phil. Diss. Wien 1978 ; sowie : RGASPI, F. 17, op. 164, d. 212. Materialien und Statistiken zur Lage der USIA, v. 10.2.1953.
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ihnen verwaltete Deutsche Eigentum in die treuhändische Verwaltung österreichischer Stellen zu geben.187 Die USIA mit ihrer Zentrale in der Wiener Starhemberggasse (4. Bezirk), ab 1947 im Trattnerhof, nahm am 16. Juli 1946 ihre Tätigkeit auf, hatte mehrere Fach- und politischgeheimdienstliche Abteilungen,188 die von Militärs der sowjetischen Militärverwaltungen, ab 1949 von Managern geführt wurden. Ihre Tätigkeit während der neun Jahre bis 1955 lässt sich in drei Perioden gliedern : Die erste Phase bis etwa 1951 war gekennzeichnet durch hohe Umsätze und Gewinne, die zweite Phase bis Ende 1954 zeigte einen starken wirtschaftlichen Rückgang der Betriebe, Unrentabilitäten und machte Adaptionen und Investitionen dringend notwendig, was die schlechte Finanzlage der USIA gar nicht zuließ. Und zu außerordentlichen Zuweisungen war die Sowjetunion nicht bereit. Die Planvorgaben wurden produktionstechnisch zwar noch erfüllt, allein die „Waren konnten am österreichischen Markt nicht mehr abgesetzt werden“. Die Gründe nannte der stellvertretende Kontrollminister in einem Bericht an G. M. Malenkov, wenige Tage vor Stalins Tod, beim Namen : „Hohe Erzeugerpreise, schlechte Qualität.“189 Um die ganze Schuld nicht auf die Organisation der USIA abzuladen, wurde noch angeführt, dass es zu Jahresbeginn 1953 in der USIA mehr als 59 Mitarbeiter ehemaliger NS-Organisationen gab, die gegenüber der Sowjetunion feindlich eingestellt seien. Die letzte Phase der USIA im Jahr 1955 war schließlich von der deutlichen Absicht der Sowjetunion gekennzeichnet, den gesamten Komplex von Österreich abgelöst zu bekommen, was schließlich durch die Staatsvertragsbestimmungen auch geschah. Österreich übernahm sämtliche Kredite von USIA und SMV zu zwei Dritteln (zusammen 508 Millionen Schilling) und übernahm die Betriebe, inklusive der AG für Handel mit Ölprodukten (OROP), der Aktiven der Westautobahn und des Donaukraftwerkes Ybbs-Persenbeug Anfang August 1955.190
187 Vgl. u. a.: Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 94f. 188 Vgl. dazu im Detail : Hubert Steiner, Die USIA-Betriebe. Ihre Gründung, Organisation und Rückgabe in die österreichische Hoheitsverwaltung, in : MIÖG 43/1993, S. 206–220. 189 Dazu und zum Vorherigen : RGASPI, F. 17, op. 164, d. 212. Bericht zur Lage der USIA, v. 10.2.1953. 190 Steiner, USIA, S. 218f.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
Die Änderung der sowjetischen Haltung gegenüber Karl Renner Die Sowjets bemerkten sehr rasch, dass Renner nicht der war, für den ihn Stalin gehalten haben dürfte. Erste negative Einschätzungen zur Person Renner finden sich bereits im Mai 1945. Renner ließ aus sich keine Marionette Stalins machen. Er nutzte die Gelegenheit, die sich ihm bot, sehr gut aus. Als Folge änderte die sowjetische Besatzungsmacht kontinuierlich ihre Meinung über Renner. Im Herbst 1947 endete dies schließlich in offenen Hasstiraden gegen Renner in der sowjetischen Presse. Die Kominform stellte ihn in den Beschlüssen ihrer ersten Sitzung als Gefahr für den Sozialismus hin. Die nun zugänglichen internen Berichte der sowjetischen Besatzungsmacht und der politischen Abteilungen der Inneren Truppen des NKVD lassen die Meinungsänderung der Sowjets deutlich werden. Erste kritische Töne zu Renner finden sich in sowjetischen Akten sehr bald. Nachdem Renner bei der 4. Plenarsitzung der Provisorischen Regierung am 10. Mai 1945 erklärt hatte, zu den künftigen Zusammenkünften nur noch die Minister einladen zu wollen, war den Sowjets klar, was dieser Schritt bedeutete : „Damit strebt Renner an, die 9 stellvertretenden kommunistischen Staatssekretäre und genauso viele Vertreter der Volkspartei loszuwerden, womit er beabsichtigt, das Stimmenverhältnis in eine für die Sozialdemokraten günstige Lage zu ändern. […] Die Auftritte Renners haben eine klare Tendenz zur Teilnahmebegrenzung aller Regierungsmitglieder bei der Lösung der grundsätzlichen Fragen und zur Ausschaltung aus diesen Fragen, in erster Linie der Kommunisten“, berichtete Oberstleutnant Merkulov am 11. Mai 1945 nach Moskau.191 Renner in einer gewissen Weise durchschauend, beschrieb ihn Oberst Piterskij, als dieser zur Berichterstattung Ende Mai 1945 nach Moskau beordert wurde. Bei einem Gespräch mit einem Mitarbeiter der 3. Europäischen Abteilung des NKID äußerte er sich über den Provisorischen Staatskanzler : „Renner interessiert sich für Fragen des materiellen Wohlstandes, nicht nur des ganzen österreichischen Volkes, sondern auch für seinen eigenen. Renner fragt, wie werden die Österreicher wohl leben, und sagt gleichzeitig, dass er persönlich keine gute Uhr habe und ob es möglich wäre, ihm aus Moskau Kaviar zu schicken. Man darf Renner nicht in allem glauben, er ist bisweilen ein Schlitzohr.“192
191 Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. 192 Ebd. Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Lavrov, Mitarbeiter der 3. Europäischen Abteilung und Oberst Piterskij. Moskau 24.5.1945. Siehe auch Kriechbaumer, „… dass der Einfluss der Kommunisten beseitigt wird“, mit etwas anderer Übersetzung, S. 426.
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Das Auftreten Renners bei der Länderkonferenz wurde noch als „vorzüglich“ bezeichnet. Das Einlenken der Briten wurde als diplomatischer Sieg verkauft, nicht ohne die eigennützige Hilfe Renners. In einem eher persönlich gehaltenen Bericht an Andrej Smirnov schrieb der sowjetische Politberater Michail E. Koptelov über die Länderkonferenz aus Wien nach Moskau : „Die Konferenz entwickelte sich in die von uns gewünschte Richtung. Die Regierung Renner wurde auf der Konferenz bestätigt. Als nun auf der Konferenz Einigung über eine Vergrößerung der Regierung erzielte […], griff Renner zu einem kleinen Trick : Vor allen Konferenzteilnehmern verlas er die Zusammensetzung der gesamten Regierung mit den neuen Mitgliedern. Die Engländer haben das aufgegriffen und schrieben von einer völligen Reorganisierung und Neubildung der Regierung. Es ist offensichtlich, dass sie sich zumindest damit etwas trösten und sich das Leben versüßen wollen.“193 Mit dem steigenden Misstrauen seitens der Sowjets gegenüber Renner dürften auch die Hoffnungen auf ein gutes Abschneiden der KPÖ bei den ersten freien Wahlen im November 1945 gesunken sein. Die sowjetische Führung hatte gehofft, in allen von der Roten Armee besetzten Ländern durch Basisarbeit, Intelligenz und großes Engagement gleichsam auf demokratischem Wege den Kommunisten zum Siegen verhelfen zu können. Für Österreich hatte Stalin in Renner große Hoffnungen gesetzt, die Linke zu vereinen. Obwohl die Sowjets bald bemerkten, dass Renner nicht den von ihnen gewünschten Weg ging, unternahmen sie vorerst nichts. Auch nachdem ihnen klar geworden war, dass die KPÖ bei den Novemberwahlen nicht erfolgreich abschneiden würde und Renner ihnen in einem vertraulichen Gespräch mit Politberater Evgenij D. Kiselev vermutlich wider besseres Gespür noch falsche Hoffnungen gemacht hatte. Der interne Bericht von Nikolaj Lun’kov gibt trocken die sowjetische Einschätzung, die sich als richtig erweisen sollte, wieder :194 „Genosse Kiselev teilte mir mit, dass […] Renner seine Meinung zum Ausdruck gebracht habe, wonach die Kommunisten voraussichtlich rund 20% der Stimmen erhalten würden. Kiselev 193 Handschriftlicher Brief Koptelovs an Smirnov. Wien 27.9.1945. Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. 194 Nikolaj Lun’kov, einer aus „dem Kindergarten“ Andrej Smirnovs, wie er sich selbst bezeichnet, als er unerwartet 1944 unmittelbar aus der Höheren Parteischule in den diplomatischen Dienst der 3. Europäischen Abteilung des NKID berufen wurde. Im Februar 1945 wurde er zum Stab Tolbuchins nach Ungarn geschickt und erlebte den Einmarsch in Österreich und die Schlacht um Wien von dort aus mit. Lun’kov agierte bis 1946 als stellvertretender Politberater Tolbuchins und Konevs. Nach seinem Dienst als erster Sekretär an der sowjetischen Botschaft in der Schweiz kehrte er in den diplomatischen Dienst in der 3. Europäischen Abteilung des NKID zurück. Vgl. Nikolaj M. Lun’kov, Russkij diplomat v Evrope. Tridsat’ let v desjati evropejskich stolicach. Moskau 1999, S. 10f., 58.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
merkte seinerseits an, dass diese Zahl zweifellos übertrieben hoch sei.“195 Die Politberater in Wien dürften demnach etwa 10 Prozent KPÖ-Stimmen erwartet haben, Molotov vermutlich jedoch mehr.196 Doch auch dieses Ziel wurde mit 5,42 Prozent der Stimmen für die KPÖ klar verfehlt. Daran konnten auch die sowjetische Wahlhilfe für die KPÖ, die stark herausgestellte sowjetische Wirtschaftshilfe für Österreich (etwa zum Wiederaufbau der Staatsoper)197 oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Österreich198 – noch vor der offiziellen Anerkennung der Provisorischen Regierung durch die Westmächte199 – nichts mehr ändern. Das erste politische Zeichen für eine härtere Gangart im Umgang mit Österreich war bekanntermaßen das von der UdSSR im Alliierten Rat eingelegte Veto gegen einige von Bundeskanzler Figl vorgesehene Minister.200 Die Empfehlung der sowjetischen Politberater in Wien an Moskau ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig : „Wir erachten es für notwendig, die Frage zu stellen, Ferdinand Graf, der in einer ganzen Reihe antisowjetischer Auftritte involviert war, von der Kabinettsliste zu streichen, ebenso Dr. Schumy, der für seine profaschistischen Auftritte bekannt ist. Ebenso werden wir die Frage über ein Ersetzen Raabs201 und Korps stellen. Im Übrigen halten wir die Liste für annehmbar. Das ZK der KPÖ fasste den Entschluss, sich an der Regierung zu beteiligen, wie von Figl angeboten. Die Kandidatur der Kommunisten wurde vom künftigen Kanzler angenommen.“ 195 AVP RF, F. 066, op. 25, p. 118a, d. 2, S. 61–62. Bericht Lun’kovs an Vize-Volkskommissar Dekanozov. Siehe auch Rathkolb, Sonderfall Österreich ?, S. 368. 196 Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 61–88. 197 Molotov gab hierfür eine Million Rubel frei. Karner – Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. 198 Zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen siehe Oliver Rathkolb, Der Wiederbeginn der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und der Sowjetunion 1945–1947 zwischen Kaltem Krieg und österreichischer Innenpolitik, in : 200 Jahre Russisches Außenministerium. MÖStA 2003/50, S. 157–166, 299–308. 199 Politbüro-Beschluss des ZK v. 19.10.1945, verkündet am 23. Oktober in einem Schreiben Konevs an Renner. Der Brief wurde in der Österreichischen Zeitung abgedruckt. Österreichische Zeitung, 23.10.1945, S. 1. 200 Zum Überschwenken auf eine härtere Gangart siehe Ol’ga Pavlenko, Österreich im Kraftfeld der sowjetischen Diplomatie 1945, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 565–602. 201 Die sowjetischen Diplomaten lasteten Raab eine „sowjetfeindliche“ Einstellung an, die er des Öfteren in Reden mit „feindlichen Aussagen in Richtung Sowjetunion und Roter Armee“ zum Ausdruck gebracht hatte. A. Smirnov an A. Vysinsldj, Moskau, 8.12.1945. Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte.
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Eine Regierungsbeteiligung der KPÖ stand freilich noch nicht fest. Nachdem das ZK der KPÖ die Empfehlung abgegeben hatte, sich an der Regierung zu beteiligen, sofern der KPÖ ein Ministerposten angeboten würde, wandte sich Johann Koplenig an Moskau mit der Frage, ob sich die KPÖ an der Regierung überhaupt beteiligen solle, was der Kreml positiv entschied. Karl Altmann bekleidete schließlich bis zu seinem Ausscheiden 1947 (wegen des Währungsschutzgesetzes) den einzigen kommunistischen Ministerposten in der Geschichte der Zweiten Republik.202 Nach den Wahlen 1945 gab man sich weiterhin Illusionen hin, durch eine verstärkte Propaganda einen größeren Teil der Österreicher auf die sowjetische Seite zu bringen Das Politbüro der VKP(b) gestattete dazu eine höhere Auflage der „Österreichischen Zeitung“. Es nützte nichts. 1947 mussten sich die Sowjets eingestehen, dass ihre Politik in Österreich auf allen Linien versagt hatte. Der sowjetischen Führung wurde von Österreich das folgende Bild übermittelt : „Es ist offensichtlich, dass die österreichische Regierung zu einer folgsamen Marionette in den Händen der Amerikaner geworden ist und mit ihrer Hilfe in Österreich eine amerikanische Politik betrieben wird. Deshalb sind die sowjetischen Interessen in Österreich mit großer Beharrlichkeit und Konsequenz zu wahren, indem man insbesondere verhindert, dass in der sowjetischen Zone Gesetze und Verordnungen durchgesetzt werden, die im Grunde genommen nicht mit den Vier-Mächte-Abkommen zu Österreich vereinbar sind.“ Die sowjetischen Organe mussten sich eingestehen, dass es „den Amerikanern, Engländern und Franzosen mit Hilfe der österreichischen Regierung […] gelungen [ist…], den Einfluss der österreichischen kommunistischen Partei einzuschränken“. Die ÖVP und SPÖ wurden als „der Sowjetunion feindlich gesinnte Parteien“ eingestuft. Feindselige Strömungen gegenüber der Sowjetunion würden gepflegt, sämtliche Vorschläge des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission abgelehnt, sabotiert oder ignoriert. Als Ursache der eingetretenen Situation betrachteten die Sowjets die „überaus schwache“ Position der Kommunisten. Aber auch in den eigenen Reihen suchte man nach Sündenböcken203 : die Verantwortlichen der sowjetischen Propagandaabteilung in der Alliierten Kommission, die einerseits in Zukunft daran gehindert werden sollten, 202 Auch vor dem Austritt aus der Regierung im November 1946 holte das ZK der KPÖ die Erlaubnis dazu in Moskau ein. AVP RF, F. 012, op. 7, p. 101, d. 80, S. 90. Eine Kopie des Dokuments befindet sich in der Sondersammlung des Bruno-Kreisky-Archivs. 203 Wolfgang Mueller, „Die Kanonen schießen nicht … Aber der Kampf geht weiter.“ Die Propaganda der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich im Kalten Krieg, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945 bis 1955. Beiträge. Graz 2005, S. 339–362.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
„sich in die Arbeit der KPÖ einzumischen“, und diese nicht durch „kleine Bevormundungen“ behindern sollten, andererseits jedoch die ihr gestellten Aufgaben der „Bloßstellung der antidemokratischen Politik der Österreich besetzenden Westmächte“ nicht realisieren konnten. Zudem bedauerten die Sowjets, der österreichischen Regierung durch Abschluss des Zweiten Kontrollabkommens zu viel Freiraum gegeben zu haben. Der Verzicht auf die Durchführung einer Landreform und auf eine ausreichende Wahrnehmung einer Kontrolle durch die Militäradministration hätte vor allem den Westmächten Vorteile gebracht. Der Antifaschismus hatte besonders in Ostösterreich nach Ende des Weltkrieges nur kurzen Bestand. Schnell war allerorten ein Antikommunismus entstanden, der seine Wurzeln nicht nur im seit Jahrzehnten tradierten „Russenbild“ oder im Bild des sowjetischen „Untermenschen“ der Nationalsozialisten hatte, sondern auf Tausenden negativen Erfahrungen der Menschen, besonders in der ersten Zeit der sowjetischen Besatzung, fußte. Besonders Figl konnte diese Stimmung glaubhaft aufgreifen, weil er – im Gegensatz zu Renner – ohne historische Hypothek war. Erschienen in : Stefan Karner, Zu den Anfängen der sowjetischen Besatzung in Österreich, 1945/46, in : Manfried Rauchensteiner – Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Wien – Köln – Weimar 2005, S. 139–185.
Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945 (2010)
Zu Kriegsende 1945 wurde die Steiermark durch die Armeen fünf verschiedener Mächte besetzt : Die US-Truppen kamen bis zur Enns und standen in Liezen, britische Einheiten kamen über die Pack und den Neumarkter Sattel bis nach Köflach und Judenburg. Einheiten der Roten Armee waren seit Ostern 1945 bis nach Voitsberg und zur Enns vorgerückt und besetzten neben Graz, Leoben und das Mürztal, die Ost- wie Teile der Weststeiermark, also den Großteil des Landes.1 Den äußersten Süden der Steiermark, die Gerichtsbezirke Radkersburg, Mureck, Leibnitz, Arnfels und Eibiswald, nahmen neben den Sowjets bulgarische Truppen und Titopartisanen ein. Auf diese Weise wurden einzelne Ortschaften sogar mehrfach besetzt, sodass die Kommandanturen untereinander wechselten. Die Sowjets machten von Beginn an klar, dass sie nun die Herren im Land waren. In der zur „Grazer antifaschistischen Volkszeitung“ mutierten NS-Gauzeitung „Tagespost“ publizierten sie den Befehl Nr. 1 ihres kurzzeitig amtierenden Grazer Stadtkommandanten, Oberstleutnant Chabarov, der deutlich war : „Alle Gewalt ist in meiner Person konzentriert als dem Repräsentanten des Oberkommandos der Roten Armee. Die Anordnungen des Ortskommandanten der Roten Armee sind für die Bevölkerung bindend und haben Gesetzeskraft.“ Ähnliche Befehle und Anordnungen gab es auch von den anderen sowjetischen Kommandanten im Lande. Die Strafen für Zuwiderhandlungen waren vor allem zu Beginn sehr hoch, in der Anwendung teilweise auch willkürlich. Die tägliche Unsicherheit, die tägliche Angst vor etwas Unvorhersehbarem, Lebensbedrohlichem, verbreitete sich besonders in den ersten Wochen der sowjetischen Besatzung.2 1945 bedeutete daher für die Mehrheit der Menschen des von der Roten Armee besetzten Gebietes nicht ein Gefühl von „Befrei1
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Vgl. dazu und zum Folgenden : Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Graz – Wien – Köln 2000, S. 322f.; Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung. Graz 1994, S. 437–442 ; Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945. Wien 1995, S. 241–282. Zur Errichtung der Besatzung durch die Rote Armee siehe Stefan Karner – Othmar Pickl (Hg.), Die Rote Armee in der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945. Quellen zur geschichtlichen Landeskunde 21. Graz 2008, Dok. Nr. 26, 32, 33, 39, 40 u. 43.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
ung“, sondern von Besetzung. Mehr noch : Das Auftreten der Sowjets wurde zu oft als teilweise Bestätigung des Zerrbildes, das die NS-Propaganda vom Rotarmisten gezeichnet hatte, empfunden. Der vergewaltigende und plündernde Russe wurde ein gängiger Erzähltopos. Auch einzelne sowjetische Zivilisten, meist ehemalige Zwangsarbeiter, ergänzten für kurze Zeit dieses Bild. Zusätzlich zu den sowjetischen Besatzern requirierten auch einheimische Kommunisten immer wieder Wohnungen, wie die Besatzungsmacht nach Moskau rapportierte : „In den ersten Tagen nach unserem Einmarsch [in Graz] gab es mehr als 100 Fälle, wo Arbeiter/Kommunisten verlassene Wohnungen eigenmächtig bezogen, was von einigen örtlichen Parteikomitees unterstützt wurde.“ Selbst in ihren täglichen, zunächst Großteils schöngefärbten Stimmungsberichten meldeten die Sowjets bald eine Stimmung gegen sich.3 Ihre Besatzungsmonate waren geprägt von Verhaftungen, von Demontagen wichtiger Betriebe, von geheimdienstlichen Unternehmungen des NKVD und der militärischen Spionageabwehr SMERS („Tod den Spionen“). Ihre selbst erklärte Rolle als „Befreier“ hatten die Rote Armee und die Besatzungsorgane in der Praxis zu selten erfüllt, sieht man von der sprichwörtlich gewordenen Kinderliebe der sowjetischen Soldaten ab.4 Ein zentrales Feld der politischen Arbeit der Sowjetorgane war das Aufspüren ehemaliger NSParteigänger, von Angehörigen des „Werwolf“, von Kriegsverbrechern oder Soldaten, die man dafür hielt.5 Im Zuge der Registrierung der Bevölkerung im sowjetisch besetzten Gebiet wurden höhere NS-Parteigänger, Angehörige von Gestapo, Polizei und SS, inhaftiert, niedere oft zu Aufräumarbeiten herangezogen. Auch für die steirische Wirtschaft hinterließ die sowjetische Besatzung deutliche Spuren, vor allem durch ihre umfangreichen Demontagen.
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Vgl. ebd., Dok. Nr. 75 u. 92. Siehe : Siegfried Beer, Das sowjetische „Intermezzo“. Die „Russenzeit“ in der Steiermark. 8. Mai bis 23. Juli 1945, in : Joseph F. Desput (Hg.), Vom Bundesland zur europäischen Region. Die Steiermark von 1945 bis heute. Geschichte der Steiermark 10. Graz 2004, S. 53f.; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 315–317. Stefan Karner, Schuld und Sühne ? Der Prozeß gegen den Chef der Gendarmerie von Cerginov von 1941–1943 : Karl Ortner, in : Stefan Karner (Hg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945. Graz 1999, S. 159–178.
Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945
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Sowjetische Demontagen Die materiellen Schäden des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Gebiet Österreichs waren gewaltig :6 Kriegsschäden, Requisitionen und Demontagen an Anlagen, Fabriken, Wohnungen, Gewerbebetrieben, an Bauernhöfen, Bahnstrecken, öffentlichen Gebäuden, im Tourismus oder an Rüstungsbetrieben. Betroffen waren Einzelfirmen ebenso wie Gesellschaften oder die öffentliche Hand. So fassungslos vor allem die Zeitgenossen, die Belegschaften von Firmen und die öffentliche Meinung den Demontagen gegenüberstanden, so scheint andererseits doch erwiesen zu sein, dass eben die Demontagen auch als stille Reparationen (Schadenersatzleistungen) Österreichs an die Alliierten zu verstehen und zu sehen sind. Die Beschlagnahmungen und der sich daran vielfach anschließende gezielte Abbau von Anlagen, wie ganzen Walzstrecken, Maschinenhäusern von Kraftwerken, ihre Verladung auf Eisenbahnwaggons, Großteils mit Hilfe und unter Assistenzleistung von Besatzungssoldaten der Roten Armee, und schließlich ihre Verbringung außer Landes wurde generell auf drei Kategorien von Gütern angewandt : – auf Geräte- und Sachinvestitionen, die während des „Dritten Reiches“ angeschafft bzw. getätigt worden waren, – auf Anlagen, die zum weit und unscharf gefassten „Deutschen Vermögen“ (Auslandsvermögen des Deutschen Reiches) gerechnet werden konnten sowie – auf Geräte mit einer Herkunftsbezeichnung, die auf das Deutsche Reich oder ein von Deutschen besetztes Gebiet schließen ließ.
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Roman Sandgruber bezifferte den Schaden (auf der Preisbasis von 1960) von 160 Milliarden Schilling mit 61 Milliarden Euro (Preisbasis 2003). Vgl. Roman Sandgruber, Die Wirtschaft in der Nachkriegszeit, in : Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei !“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F. 457. Horn – Wien 2005, S. 173–181, hier 173 ; zum Aufsatz vgl. auch Roman Sangruber, Das 20. Jahrhundert. Geschichte Österreichs 6. Wien 2003, S. 100–119, 124–136 ; Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, S. 443–445 ; Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Wien 1985 ; Ferdinand Tremel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs. Von den Anfängen bis 1955. Wien 1969 . Vgl. dazu auch den Kurzbeitrag : Stefan Karner, Zu den sowjetischen Demontagen in Österreich 1945/46. Ein erster Aufriss auf russischer Quellenbasis, in : Michael Pammer – Herta Neiss u. a. (Hg.), Erfahrung der Moderne. Festschrift für Roman Sandgruber zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2007. Auf die Angabe weiterführender Literatur wird hier verzichtet.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
Alle drei Kategorien konnten durch internationale Beschlüsse abgesichert werden : die ersten beiden durch die Potsdamer Konferenz 1945, die letzte durch die Londoner Deklaration von 1943 (die eben die Vermögensübertragungen während der NS-Zeit nicht für ungültig erklärt hatte) und die hinsichtlich der Reparationen auf ihr fußende Pariser Reparationskonferenz zu Jahresende 1945.7 Bis 1945 herrschte nach Kriegen die Praxis, Entschädigungen an den Sieger in Gold oder in konvertierbarer Währung durch den Verlierer bezahlen zu lassen. Basierend auf der Kritik, vor allem von John M. Keynes, wonach die Hauptschuld für die Finanz- und Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre vor allem in den deutschen Reparationsleistungen in Reichsmark zu suchen wäre,8 aber auch auf Drängen der Sowjetunion, die in Reparationen durch Naturalleistungen Vorteile für ihr planwirtschaftliches System sah, einigten sich die Siegermächte 1945 darauf, dass sich – in Deutschland wie im wiedererrichteten Österreich – jede Besatzungsmacht für die im Krieg erlittenen Schäden in ihrer Besatzungszone durch die Nutzung der beschlagnahmten Anlagen schadlos halten konnte. Daher folgten den militärischen Verbänden der Westmächte und der Sowjetunion auch in Österreich Spezialisten und Rückstellungskommissionen, die einerseits nach rückstellungspflichtigen Maschinen und Anlagen suchten, andererseits aber vor allem interessante Betriebe und Anlagen auskundschafteten, um sie für eine Demontage auszuwählen. Vom alliierten Offert der Naturalentschädigung machte vor allem die Sowjetunion Gebrauch. Und dies mehrfach durch : – den Abtransport von Maschinen und Anlagen als „Beutegut“ namentlich in die Sowjetunion, bereits vor den Potsdamer Beschlüssen Anfang August 1945 ; – die planmäßige Demontage von Anlagen und Gütern in einer exzessiven Auslegung der alliierten Beschlüsse ; – den Aufbau einer zentralen Verwaltung für von ihr beanspruchte Vermögen in den besetzten Gebieten Mittelosteuropas (in Österreich wurde als entsprechende Unterbehörde die USIA9 registriert, die über 400 industrielle Anlagen umfasste, dazu Waldbesitz und Immobilien) ; 7
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Dazu und zum Folgenden : Hans Seidl, Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien 2005, S. 390f. Der Text der Pariser Reparationskonferenz vom 9. Nov. bis 21. Dez. 1945 befindet sich in Kopieform im AdR, BMfVuW (Krauland-Ministerium), ZI. 57510-14/1946. John M. Keynes, The Balance of Payments of the United States, in : The Economic Journal. June 1946. Vgl. dazu die grundlegenden Arbeiten von Ernst Bezemek und Otto Klambauer, hier : Otto Klambauer, Staat im Staate : Sowjetisches Vermögen in Österreich 1945–1955,
Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945
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– den Aufbau einer Sowjetischen Mineralölverwaltung (SMV) in Österreich,10 die vor allem die niederösterreichischen Erdölfelder, damals nach Rumänien die ergiebigsten in ganz Europa, Raffinerien11 und ein großflächiges Tankstellennetz (verwaltet von der OROP) umfasste ; – die Übernahme der deutschen Anteile an der DDSG sowie schließlich – den Aufbau eines dichtmaschigen Netzes von USIA-Verkaufsläden, die mit Preisdumping (erfolglos) versuchten, die österreichischen Geschäfte niederzukonkurrenzieren ; – den entgegen dem internationalen Völkerrecht erfolgten langjährigen Arbeitseinsatz von rund 100.000 österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in der Sowjetunion, Großteils bis 1947/48, teilweise bis 1955/56 (als Verurteilte) ;12 – die zwangsweise Rekrutierung von Ingenieuren und Technikern, oft durch Verschleppungen wie im Fall des Steweag-Direktors Karl Augustin, zum Wiederaufbau der schwer zerstörten sowjetischen Wirtschaft. Österreich war durch die vor allem von der Sowjetunion geübte Praxis der Umsetzung der alliierten Beschlüsse, wie dies Hans Seidel treffend formuliert hatte, zweimal zur Kasse gebeten worden :13
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in : Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei !“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F. 457. Horn – Wien 2005, S. 182f. Vgl. u. a. Ernst Bezemek, Die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV), in : Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei !“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F. 457. Horn – Wien 2005, S. 188f.; auf sowjetischer Aktenbasis siehe jüngst : Walter M. Iber, Die Sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich. Zur Vorgeschichte der OMV 1945–1955. Innsbruck – Wien – Bozen 2010. In einem streng geheimen Schreiben an das ZK der KPdSU benannte Innen-Volkskommissar Lavrentij Berija die sechs Raffinerien mit ihren Öl-Jahresproduktionskapazitäten : Floridsdorf (Shell) mit 100.000 t, Korneuburg (Creditul Minier) mit 50.000 t, Kagran (Vakuum Oil & Co) mit 60.000 t, Vösendorf (Österreichische Fanto) mit 40.000 t, Schwechat (Nova Oel & Brent) mit 50.000 t sowie Lobau (Wintershall-Elwerath) mit 500.000 t. Die Erdölproduktion war in Österreich während der NS-Zeit stark gesteigert worden : Von 63.000 t im Jahr 1938 auf 1,2 Millionen Tonnen im Jahr 1944. Berija betont außerdem, dass die Raffinerien 1944 nur mit der Hälfte ihrer Leistung fuhren. – RGASPI, Moskau, F. 17, op. 121, d. 395, S. 1–3. Schreiben und Aufstellung des Volkskommissars für Inneres, L. P. Berija, an Georgij M. Malenkov, ZK VKP(b), v. 13. April 1945. Vgl. Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1955. Kriegsfolgen-Forschung 1. Wien – München 1995. Insgesamt wurden über 130.000 Österreicherinnen und Österreicher in sowjetischer Hand als Kriegsgefangene oder Internierte registriert. Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 390–393.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
– einmal als deutsches Inland (weil die Sowjetunion und in weit geringerem Ausmaß auch die anderen Besatzer inklusive der Tito-Partisanen in den militärisch besetzten Gebieten Güter beschlagnahmten und außer Landes brachten) und – ein zweites Mal als deutsches Ausland, weil die Alliierten Anspruch auf die dem Deutschen Reich zuzurechnenden Vermögenswerte in Österreich erhoben hatten und besonders die Sowjetunion die Ansprüche auch geltend machte. Die Haltung der Sowjetunion in Fragen der Reparationen bzw. Entschädigungszahlungen entspricht auch der Auffassung einiger sowjetischer Spitzenrepräsentanten in Österreich, wie des stv. Militär- und Hochkommissars (1945–1950), dem Politoffizier der 3. Ukrainischen Front sowie der Zentralen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte, Generaloberst Aleksej S. Želtov, der stets den Standpunkt vertrat, Österreich sei nicht ein „befreites“, sondern ein „unterworfenes“ Land gewesen.14 270.000 Rotarmisten erhielten für ihren Kampfeinsatz die Erinnerungsmedaille für die „Einnahme von Wien“, und eben nicht für die „Befreiung“ von Wien, wie dies etwa für Belgrad, Budapest oder Bukarest festgelegt worden war.15 Der Zugriff der sowjetischen Besatzer auf Anlagen, die während der NSZeit mit welchem Geld und von wem auch immer angeschafft worden waren, begann sofort nach dem Ende der Kämpfe, im Wesentlichen also nach Ostern 1945. Für die österreichische Friedensproduktion bleiben noch genügend Anlagen übrig, alterierte sich Sowjet-Marschall Fedor I. Tolbuchin auf eine diesbezügliche Beschwerde der österreichischen Staatsregierung. Und im Alliierten Rat verlangte die Sowjetunion postwendend über eine Begrenzung der österreichischen Industriekapazität zu verhandeln, wie sich Adolf Schärf erinnerte16 und wie dies auch Sowjet-Marschall Ivan St. Konev, der erste sowjetische Militärkommissar in Österreich und Oberbefehlshaber der Zentralen Gruppe der Streitkräfte, in einer Unterredung mit Staatskanzler Renner, Landeshauptmann Leopold Figl, KPÖ-Vorsitzenden Johann Koplenig und einigen sowjetischen Vertretern, am 9. Juli 1945 erklärte : „Im Großen
14 AdR, BMaA, IIpol/1947, Kart. 42, AV 20. Sept. 1945. 15 Vgl. Barbara Stelzl-Marx, Die sowjetische Besatzung Österreichs 1945–1955. Zur militärischen Struktur und Verwaltung, in : Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei !“ Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N. F. 457. Horn – Wien 2005, S. 65. 16 Adolf Schärf, Österreichs Erneuerung 1945–1955. Wien 1955, S. 117.
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und Ganzen glauben wir, dass der Abtransport abgeschlossen ist, offen ist noch die Menge, die mit der Regierung vereinbart wurde“.17 In der Sowjetunion hatte sich nach den Potsdamer Beschlüssen vom August 1945 das Staatliche Verteidigungskomitee (GOKO) unter Stalin systematisch mit den Demontagen in Deutschland (auch außerhalb der sowjetischen Zone), in Österreich sowie in den osteuropäischen Staaten, die von der Roten Armee militärisch besetzt worden waren, beschäftigt. Seine Beschlüsse, die als rechtliche Basis der organisierten Demontagen durch die Sowjetunion dienten, fußten auf den entsprechenden Vorerhebungen, die von sowjetischen Spezialisten vor Ort gepflogen wurden. Ähnlich wie 1938 durch die NS-Wehrmachts- und Rüstungsdienststellen wurde die österreichische Industrie 1945 ein zweites Mal, nunmehr von sowjetischen Volkskommissariaten für Rüstung, Erdöl, Flugzeugindustrie, Elektroindustrie, Schiffbau, E-Werke, chemische Industrie, Metallurgie, Munition oder Kohlenindustrie, abgesucht und die entsprechenden Kapazitäten, ihre Verwertungsmöglichkeiten usw. erhoben.
Umfang und Wert der Demontagen Insgesamt demontierten die sowjetischen Beutekommandos in Österreich 220 Betriebe (über 31.000 Waggonladungen mit Material, Einrichtungen und Maschinen). Das entsprach freilich nur einem Bruchteil dessen, was zum Beispiel in der SBZ oder in Polen demontiert wurde, war aber immerhin weit mehr als der Umfang der sowjetischen Demontagen in Ungarn und der Tschechoslowakei (siehe Tab. 1). Trotz zahlreicher Missstände – die Probleme reichten von unsachgemäßem Abbau und unachtsamer Behandlung der Anlagen bis hin zu schweren logistischen Fehlern18 – blieben die demontierten Güter und Anlagen für den Wiederaufbau in der Sowjetunion von kaum zu überschätzendem Wert.19 Der
17 Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955. Bd. 2 : Dokumente. Wien – München 2005, S. 207, Dok. Nr. 44. 18 Vgl. Bogdan Musial, Modernisierung durch Demontagen ? Zur Wirtschaftspolitik Stalins nach dem Zweiten Weltkrieg. in : Wolfram Dornik – Johannes Gießauf – Walter Iber (Hg.), Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Innsbruck – Wien – Bozen 2010, S. 535–555. 19 Vladislav Subok – Constantine Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise. Deutsche Übersetzung von Ulrich Schweitzer [amerikan. Originaltitel : Inside the Kremlin’s Cold War : From Stalin to Krushchev]. Hildesheim 1996, S. 81.
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ökonomische Schaden für die betroffenen Länder war natürlich beträchtlich – so auch für Österreich, und hier nicht zuletzt für die Steiermark.
Tabelle 1 : Umfang der sowjetischen Demontagen in Europa, Stand 1. Mai 1947. Zur Demontage vorgesehen
Tatsächlich demontiert
Anzahl der Betriebe
Waggons in Tausenden
Anzahl der Betriebe
Insgesamt
4.537
841,6
4.458
809,5
Deutschland (SBZ)
3.024
550.8
2.955
518.5
Polen (in den heutigen Grenzen)
1.119
211,5
1.119
211,5
Österreich
Waggons in Tausenden
220
31,2
220
31,2
Ungarn
16
2,8
16
2,8
Tschechoslowakei
36
6,5
36
6,5
Quelle : Musial, Stalins Beutezug, S. 337.
Die fiskalische Bewertung der Demontagen ist problematisch und schwierig. Es zeigt sich, dass die unterschiedlichen Berechnungs- bzw. Schätzweisen sowie verschiedene Interpretationen und das Fehlen klarer Definitionen (nicht zuletzt im Hinblick auf den Dollarwert) für eine große Schwankungsbreite sorgen und es nur schwer möglich machen, den tatsächlichen Gesamtwert der sowjetischen Demontagen 1945/46 zu eruieren.20 Verschiedene Autoren haben in jüngerer Zeit dennoch versucht, eine Größenordnung festzulegen. So schätzt Hans Seidel den Wert der Demontagen in Österreich auf 350 Millionen Dollar,21 Walter M. Iber kommt auf Basis sowjetischer Akten zu einer Summe von rund 300 Millionen Dollar.22 Im Jahr 194523 dürften die demontierten und beschlagnahmten Anlagen und Vorräte einen Buchwert von insgesamt etwa 1,206 Milliarden RM repräsentiert haben. 20 Vgl. Roman Sandgruber, Das wirtschaftliche Umfeld des Staatsvertrages, in : Manfried Rauchensteiner (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek Salzburg, 24. Wien u. a. 2005, S. 359–377, hier S. 361. 21 Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 467. 22 Walter M. Iber, Ökonomischer Aderlass. Österreichs „Reparationen“ an die Sowjetunion, 1945–1955/63, in : Der Soldat, 15/2009, S. 3. 23 Buchwerte 1945 zuzüglich Sonderabschreibungen (Oststeuerhilfe) ; Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 395.
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Davon gingen 1,150 Milliarden RM auf das Konto der Sowjets, der Rest von 55 Millionen RM auf das Konto von US-Amerikanern, Briten und Franzosen, die von den Westalliierten die höchsten Demontierungsraten hatten.24 Die westlichen Besatzer hatten Beschlagnahmungen in ihren besetzten Gebieten und Zonen durchgeführt, auch um Regressansprüche anderer westlicher Staaten mit Reparationsansprüchen zu vermeiden. Dazu setzten sie zunächst auch eigene Verwalter in den Betrieben ein, die ihrerseits – nicht immer friktionsfrei – auf die von der österreichischen Staatsregierung Renner ernannten Verwalter in den Betrieben stießen.25 Ab Juli 1946 überließen die Westmächte die beschlagnahmten Betriebe ihrer Zonen sukzessive der österreichischen Verwaltung. Die folgende Tabelle 2 zeigt den Wert der von den vier Alliierten in Österreich demontierten Anlagen und beschlagnahmten Güter in RM (Buchwerte 1945 zuzüglich Sonderabschreibungen, Oststeuerhilfe).26
Tabelle 2 : Die Demontagen in Österreich (in RM). Sowjetunion In den (später) beschlagnahmten Betrieben
Summe 410,41
In sonstigen Betrieben : Wien-Ost
128,35
Wien-West
185,94
Niederösterreich Burgenland Steiermark (1945) Oberösterreich
82,36 7,65 270,64 65,42
1150,77
Westmächte Frankreich
33,26
USA
13,49
Großbritannien Summe insgesamt
8,83 1206,35
Tab. nach Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 395.
24 Ebd. 25 Vgl. auch hier : Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 406 ; sowie für die Alpine Montan, SteyrDaimler-Puch oder die Betriebe der Mur-Mürz-Furche : Karner, Steiermark im Dritten Reich, S. 447 ; und Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 359. 26 Nach Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 395.
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Wie die Tabelle 2 zeigt, dürfte die Steiermark, trotz (oder gerade wegen) der nur kurzen sowjetischen Besatzung von den Demontagen in verhältnismäßig hohem Maße betroffen worden sein.
Demontagen steirischer Betriebe Im Laufe des Zweiten Weltkrieges, spätestens ab 1943, war man in Moskau bereits relativ genau über das wirtschaftliche Potenzial Österreichs, über seine Bedeutung für die Kriegswirtschaft im „Dritten Reich“, über die Bodenschätze und auch über den industriellen Schwerpunkt im Osten des Landes informiert. Dieses Wissen machte man sich zu Nutze, als man in der 1943 gebildeten „Waffenstillstandskommission“ beim Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR („Vorošilov-Kommission“) die möglichen Aufteilungsvarianten der Besatzungszonen in Österreich zu konzipieren begann. Einer der Vorschläge sah das Burgenland und jeweils die Hälfte von Niederösterreich und Steiermark als sowjetische Zone vor. Damit, so im Endbericht der Kommission an Stalin vom 12. Juni 1944, befinde sich ein großer Teil der Industriebetriebe in der sowjetischen Zone.27 Die endgültige Zonenaufteilung vom Juli 1945 sah schließlich zwar anders aus – sie legte das oberösterreichische Mühlviertel, Niederösterreich, das Burgenland und Teile Wiens als sowjetischen Einflussbereich fest –, einen gewissen Einfluss der Ergebnisse der Vorošilov-Kommission auf den wirtschaftlich-geografischen Fokus der sowjetischen Besatzungsmacht wird man jedoch nicht von der Hand weisen können.28 Denn die Sowjets wurden auch in der Steiermark aktiv, die schließlich eben nicht zur sowjetischen Zone gehörte : Bis Ende Juli 1945 blieben Truppen der Roten Armee in der Steiermark stationiert, wo sie bis zu ihrem Abzug die wichtigsten Industriezentren kontrollierten und in den großen ehemaligen Rüstungsbetrieben Demontagen vornahmen.29
27 Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Bd. 1 : Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 27–37, hier S. 33f. 28 Iber, Mineralölverwaltung. 29 Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 322f.; Stefan Karner – Peter Ruggenthaler u. a., Die sowjetische Besatzung der Steiermark 1945, in : Stefan Karner – Othmar Pickl (Hg.), Die Rote Armee in der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945. Quellen zur geschichtlichen Landeskunde 21. Graz 2008, S. 34–36.
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In der Steiermark fehlte im Jänner 1946 jede fünfte Werkzeugmaschine, was vor allem auf die Demontagen, speziell im eisenverarbeitenden Sektor, zurückzuführen war.30 In St. Marein demontierten die sowjetischen Besatzer bei Böhler das modernste Stahlwerk des Deutschen Reiches, das erst 1944 von Albert Speer eröffnet worden war.31 Ein ähnliches Bild zeigt die E-Wirtschaft.32 Durch die Demontage bedeutender Kraftwerksanlagen, ja selbst des kompletten Mur-Kraftwerkes in St. Dionysien, fielen gerade im Winter 1945/46 bedeutende Strommengen aus. Strom konnte durch den Abbau von Überlandleitungen nicht angeliefert werden, sodass der Stromengpass auch die Produktionsmöglichkeiten der österreichischen Wirtschaft deutlich senkte. Besonders betroffen war der Bezirk Mürzzuschlag, obwohl die sowjetische Besatzung hier nur bis 24. Juli 1945 dauerte : Vom Stahlwerk wurden mithilfe von 120 Rotarmisten wichtigste Motoren abtransportiert, das Südwerk von Schoeller-Bleckmann zur Gänze demontiert. Bei den ÖBB in Mürzzuschlag waren seit dem Einmarsch der Roten Armee binnen weniger Wochen von 40 Lokomotiven 16 „verschwunden“, im Hammerwerk betrafen die Demontagen zahlreiche Maschinen. Bei Vogel & Noot in Wartberg, Breitenfeld und Mitterndorf, einem wichtigen Produzenten für landwirtschaftliche Maschinen, wurden alle Maschinen und selbst die Dachziegel fortgeschafft. Aus Mariazell wurden 2.000 Radioapparate der Firma Kapsch weggeführt.33 Die Bestimmungsorte der demontierten Anlagen, Geräte und Werkzeuge waren verschiedene Industriebetriebe in der UdSSR. Für die steirische Wirtschaft erwiesen sich die Demontagen freilich als folgenschwer – die wirtschaftlichen Schäden waren enorm. Häufig mussten österreichische Arbeiter beim Abbau ihrer eigenen Arbeitsstätte mitwirken. Die Befehle für die Demontagen erteilte das sowjetische Staatliche Verteidigungskomitee GOKO, teilweise jedoch – wie etwa in der Steiermark – im Nachhinein. So erging erst am 28. Juli 1945 der von Stalin gezeichnete GOKO-Befehl an das Volkskommissariat für Munition, „die Anlagen der Werkshallen für die Herstellung von Führungs-Geschützhülsen aus Eisenpulver der Firma Vogel und Noot, Pengg-Bührlen in Mitterdorf mit einem Bestand von 120 Maschinensätzen, darunter : 50 Mühlen, 45 Hydraulikpressen mit einer Kapazität von 60 bis 300 Tonnen, 42 Elektroofen,
30 Seidl, Österreichs Wirtschaft, S. 387. 31 Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 322. 32 Dazu u. a. Norbert Schausberger, Geschichte der österreichischen Elektrizitätswirtschaft, in : Österreich in Geschichte und Literatur 14/1970, S. 78. 33 Karner, Demontagen ; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 322.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
20 Werkbänke zur Metallverarbeitung, die technische Dokumentation und die Ausstattung des Werkslaboratoriums“ zu demontieren und in die Ostukraine zu verbringen.34 Zum Zeitpunkt der Datierung des Befehls befand sich die Steiermark jedoch bereits unter britischer Besatzung. Die Demontagen im Eisenwerk waren, wie erwähnt, bereits zuvor erfolgt.
Das Ende der sowjetischen Besatzung Ab dem 24. Juli 1945 bildete die Steiermark (noch ohne das Ausseerland35) nach dem alliierten Zonenplan zusammen mit Kärnten die britische Besatzungszone in Österreich.36 Die Briten hatten sich gründlich auf ihre Aufgabe vorbereitet, kannten das Land durch ihre Agententätigkeit, aus ihren eigenen Besatzungserfahrungen im oberen Murtal und in der Weststeiermark sowie aus ihren jahrelangen Planungen. Der Abzug der Sowjets wurde mit dem US-Abzug aus Thüringen, das zur „Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands“ (SBZ/DDR) geschlagen wurde, junktimiert und begann eher zögerlich am 19. Juli 1945. Zwei Tage später verließen die letzten sowjetischen Einheiten Judenburg und Leoben, in der Nacht vom 22. auf den 23. Juli auch Graz.37 Im Zuge der „Operation Styria“ übernahmen die Regimenter der 46. Infanteriedivision der 8. Britischen Armee am 24. Juli 1945 die Besatzung der gesamten Steiermark. Ab 6 Uhr morgens fuhren die Briten in langen Fahrzeugkolonnen über die Pack, Voitsberg und Lieboch nach Graz. In Graz hatten sich Tausende Schaulustige auf dem Hauptplatz versammelt, um die neuen Besatzer, teilweise in Schottenröcken und mit Dudelsack, unter Generalmajor Weir und General Richard McCreery, dem späteren britischen Hochkommissar in Österreich, zu sehen. McCreery legte dabei die dreifache Aufgabe seiner Truppen fest : – Gesetz, Ordnung und Sicherheit zu unterhalten, 34 Karner – Pickl, Rote Armee, Dok. Nr. 123. 35 Das Ausseerland, in der NS-Zeit dem Gau Oberdonau zugeschlagen, unterlag noch bis 1948 der Verwaltung durch den US-Besatzungsapparat. Felix Schneider, Britische Besatzungs- und Sicherheitspolitik, in : Joseph F. Desput (Hg.), Vom Bundesland zur europäischen Region. Die Steiermark 1945 bis heute. Geschichte der Steiermark 10. Graz 2004, S. 60. 36 Zur Steiermark unter britischer Besatzung siehe v. a. die Beiträge bei Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955. Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 38. Graz 1995. 37 Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 324–327 ; zum Abzug der NKVD-Regimenter aus der Steiermark vgl. Karner – Pickl, Rote Armee, Dok. Nr. 107 u. 109.
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– Hilfeleistung zur Behebung der schlimmsten Not, – Ausrottung aller Spuren des Nationalsozialismus. Chef der britischen Militärregierung für die Steiermark wurde Oberst Alexander C. Wilkinson. Zu seinem Stab zählten mit Arthur Radley oder Patrick L. Graham Offiziere, die sich bald als verständnisvolle Freunde des Landes erwiesen. Die Erwartungen der Steirer gegenüber den britischen Besatzern, als doppelte „Befreier“, waren hoch : neben einer schnellen Besserung der Versorgungslage und Normalsierung des Alltags, dem Weichen von Angst, war es vor allem die Hoffnung auf die Auflösung der kommunistischen „Hilfspolizei“. Weiters erwartete man ein Ende der zahlreichen Verhaftungen und Verschleppungen, von Vergewaltigungen, von Demontagen, man hoffte auf Hilfe beim Wiederaufbau und bei der Errichtung demokratischer Strukturen sowie auf einen Anschluss an westliche Standards. Von einem missionarischen Sendungsbewusstsein erfüllt, die Regierung Renner als eine Marionette Stalins betrachtend, erfüllten sie die Erwartungen rasch : Lebensmittel wurden angeliefert, die „Hilfspolizei“ entwaffnet, Fraternisierungsverbote erlassen und bald wieder gelockert. Steirerinnen, die Beziehungen mit Briten eingegangen waren, wurden von der einheimischen Bevölkerung bald als „Schokoladies“ diffamiert. Gleichzeitig mischten sich die Briten stark in die inneren Angelegenheiten ein und machten den Spielraum der steirischen Politik eng. Sie untersagten etwa den Kontakt steirischer Politiker zum provisorischen Staatskanzler Renner oder setzten die schon erlassenen österreichischen Gesetze außer Kraft. Bei jeder Sitzung der Landesregierung war zumindest ein britischer Offizier anwesend. Es war ein Glücksfall, dass Renner schon bald nach Kriegsende bei seinem Besuch in Graz Machold umfassende Kompetenzen übertragen hatte. So konnte der provisorische steirische Landeshauptmann die Bereiche Post, Finanz und Hochschulen selbst regeln.38 Der Abzug der Sowjets hatte bereits am 22. Juli begonnen. Am 31. Juli wurde die sowjetische Besatzung der Steiermark mit dem Abzug der letzten Rot armisten aus Mürzzuschlag endgültig beendet.39
38 Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert, S. 325–327. 39 Ebd., S. 325f.; Edith Petschnigg, Die „sowjetische“ Steiermark. Aspekte einer Wendezeit, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Bd. 1 : Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 96 f.; Siegfried Beer, Kriegsende und Besatzung, in : Josef Riegler (Hg.), Die Neue Steiermark. Unser Weg 1945–2005. Graz 2005, S. 22f.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
Erschienen in : Stefan Karner, Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945, in : Historische Landeskommission für Steiermark (Hg.), Rutengänge. Studien zur geschichtlichen Landeskunde. Festgabe für Walter Brunner zum 70. Geburtstag. Graz 2010, S. 656–674.
Zur Auslieferung der Kosaken und Vlasov-Kämpfer an die UdSSR (2010)
Glasnost und Perestrojka haben auch in Russland die Kosaken wieder öffentlich bewusst gemacht und damit ihre Auslieferung durch die Briten an die sowjetischen Organe zu Pfingsten, zwischen dem 28. Mai und Anfang Juli 1945, auf der Judenburger Murbrücke in Österreich.1 Ein Teil von ihnen hatte sich während der NS-Besetzung der Ukraine und Südrusslands der Deutschen Wehrmacht angeschlossen und war bereit, gegen die Rote Armee zu kämpfen. Mit dem Rückzug der Wehrmacht aus dem Osten waren auch die verschiedenen Kosakenverbände (unter ihnen das 15. Kosaken-Kavalleriekorps unter Hellmuth von Pannwitz und Kosakeneinheiten mit Frauen und Kindern unter Timofej I. Domanov), erbitterte KP-Gegner der ersten Stunde, nach Südösterreich gelangt und so vor allem unter britische Besatzungshoheit gekommen. Formell unterstanden die Kosaken schon vor Kriegsende dem „Komitee zur Befreiung der russischen Völker“ (KONR unter General Andrej A. Vlasov). Die militärische Führung der Kosaken wurde in Moskau persönlich im Juni 1945 von SMERŠ-Chef Viktor S. Abakumov verhört. Die Briten konnten ahnen, welches Schicksal den Kosaken und den anderen, rund 15.000 von den Briten und zum geringeren Teil auch von den 1
Siehe hierzu im Detail Stefan Karner, Zur Auslieferung der Kosaken an die Sowjets 1945 in Judenburg, in : Johann Andritsch (Hg.), Judenburg 1945 in Augenzeugenberichten. Judenburger Museumsschriften XII. Judenburg 1994, S. 243–260 ; weiters : Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, (Zwangs-)Repatriierungen sowjetischer Staatsbürger aus Österreich in die UdSSR, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 4. Graz – Wien – München 2005, S. 243–273 ; Georgij Grigor’evic Verbickij, Vydača v Lience, in : Novyj Časovoj 4/1996 ; Armin Wilding, Die Kosaken im oberen Drautal und ihre Auslieferung an die Sowjetunion 1945. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 1999 ; Nikolai Tolstoy, Klagenfurter Verschwörung. London – Klagenfurt 1983 ; Nikolai Tolstoy, Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte. München 1981 ; Nikolai Tolstoy, The Minister and the Massacres. London 1986 ; Josef Mackiewicz, Die Tragödie an der Drau. Die verratene Freiheit. München 1988 ; Harald Stadler – Martin Kotier – Karl C. Berger, Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol. Innsbruck 2005 ; Carol Mather, Aftermath of War. Everyone must go home. London – Washington – New York 1992 ; Christopher Booker, A Looking-Glass Tragedy. The controversy over the repatriations front Austria in 1945. London 1997.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
Amerikanern als Sowjetbürger angesehenen Kaukasiern und russischen politischen Emigranten bevorstand. Die schlimmsten Erwartungen trafen ein. Tausende von ihnen überlebten den Sommer 1945 nicht mehr, sei es, weil sie sich selbst aus Furcht vor den Sowjetorganen und den Verfolgungen das Leben nahmen, ihre Kinder und Verwandten selbst umbrachten, sei es, weil sie auf den Transporten ums Leben kamen oder – wie vor allem die Offiziere – von sowjetischen Organen nach kurzen schematischen Prozessen hingerichtet wurden. Dabei war lange Zeit lediglich die Aburteilung und Hinrichtung der Kosakenspitze unter Petr N. Krasnov, Andrej G. Škuro und dem zu diesen in Gegnerschaft stehenden Hellmuth von Pannwitz2 zu Jahresbeginn 1947 in Moskau bekannt geworden. Die Auslieferung der Kosaken an die Rote Armee durch die Briten war gegenüber den internationalen Konventionen zumindest eine bedenkliche Aktion und führte zur Ermordung der militärischen Führungsschicht und geistigen Elite der Kosaken. Man hatte sie eben, Großteils entgegen allen internationalen Konventionen und Vereinbarungen,3 in die Hände ihrer schärfsten Gegner übergeben.4 Der britischen Politik stellte diese Aktion in Judenburg gegenüber den Menschen in Osteuropa ein denkbar schlechtes moralisches Zeugnis aus. Vor allem am Beispiel der Übergabe der Kosaken und Angehörigen der Vlasov-Armee in Judenburg geht es auch um die moralische und politische Verantwortung der britischen militärischen und politischen Besatzungsführung. Immer wieder kommt dabei die Vermutung auf, dass die Auslieferung der Kosaken im Austausch für die ehemalige 14. Waffengrenadierdivision der SS5
2
3
4
5
Generalleutnant Hellmuth von Pannwitz unterstellte sich mit seinen Kosakenverbänden der SS. Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS. Bindlach 1989, S. 468. Jalta, Genfer Konvention, Haager Landkriegsordnung. DEF, SEP (Surrended Enemy Personnel). Siehe dazu James D. Sanders – Mark A. Sauter – R. Gort Kirkwood, Soldiers of Misfortune. The Gold War Betrayal and Sacrifice of American POWs. New York 1994, vor allem S. 87f. Ihre Gegnerschaft rührte – neben anderen historischen und ethnischen Gründen – vor allem aus der Zeit des Bürgerkrieges in der Sowjetunion, zu Beginn der 1920er-Jahre. Damals hatten die Kosaken, zusammen mit den verschiedenen Gruppierungen der „Weißen“, gegen die Bolschewiki bzw. die „Roten“ gekämpft. Siehe hierzu etwa S.P. Mel’gunov, Krasnyj terror v Rossii. Moskau 1990 ; Pjotr Grigorenko, Erinnerungen. München 1981, bes. S. 32–54, 171–173. Diese Einheit wurde im September 1943 als „14. Galizische SS-Freiwilligen-Division“ aufgestellt, am 22.10.1943 in „14. Galizische SS-Freiwilligen-Infanteriedivision“ und im August 1944 in „14. Waffengrenadierdivision der SS (Gal. Nr. 1)“ umbenannt. Siehe hierzu Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945, Bd. 3. 2. Aufl. Osnabrück 1974 ; Georg Tessin, Die Landstreitkräfte 6–14. 2. Aufl. Osnabrück 1974, S. 313.
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(„Gal. Nr. 1“, rund 10.000 Mann) durchgeführt wurde, von deren antisowjetischem Einsatz sich vor allem Winston Churchill im Zuge des zu erwartenden Kalten Krieges Vorteile erwartete.6 Nur ein kleinerer Teil der Kosaken konnte vor der Auslieferung oder während der Transporte – teilweise mithilfe einzelner britischer Besatzungssoldaten – fliehen, der weitaus größere Teil, soweit sich die Menschen nicht selber das Leben nahmen, kam über die sowjetischen Filtrations- und Repatriierungslager bis nach Sibirien. Eine große Anzahl der in Österreich ausgelieferten Kosaken, darunter fast alle Offiziere, wurden entweder noch in Judenburg, in Graz oder auf dem Weg nach Wien, also binnen kurzer Zeit, erschossen7 oder begingen Selbstmord.8 Die Mehrheit der überlebenden Kosaken wurde in einen Lagerkomplex um Kemerovo in Mittelsibirien, südlich von Tomsk, verbracht, wo die meisten von ihnen in den nächsten Monaten verstarben.9 Die Sterblichkeit im gesamten Lagerbereich war erschreckend hoch und betrug über die gesamte Bestandsdauer der Lagerverwaltung, bis 1949, rund zehn Prozent. Die Lagergeschichte des NKVD spricht in diesem Zusammenhang von schrecklichen Lebensbedingungen der ersten in die Lager verbrachten Kontingente, zu denen auch die Kosaken gehörten : enge Baracken, Erdhütten als Behausung, zwei bis drei Bettkojen übereinander, äußerst niedrige Raumtemperatur in den Wohnstätten, keine Krankenabteilungen, keine Sanitäranlagen. Darüber hinaus gab es kaum Lebensmittel, täglich die gleiche Nahrung, zu wenig warme Bekleidung, zu wenig Bettwäsche und wegen schwieriger Transportwege keine Möglichkeit einer Beschaffung der fehlenden Ausrüstung. 6 7 8
9
Sanders – Sauter – Kirkwood, Soldiers of Misfortune, vor allem S. 86f. und 92f. Tolstoy, Die Verratenen von Jalta, S. 564. Siehe hierzu die Tagesmeldungen des Stabes des 17. Grenzregimentes der Truppen des NKVD. Viele davon sind abgedruckt in : Stefan Karner – Othmar Pickl (Hg.), Die Rote Armee in der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945. Unter Mitarbeit von Walter M. Iber, Harald Knoll, Hermine Prügger, Peter Ruggenthaler, Arno Wonisch und Silke Stern. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderbd. 8. Quellen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark, Bd. 21. Graz 2008. Tolstoy, Die Verratenen von Jalta, S. 571. Nach sowjetischen Dokumenten wurden zwischen 10. und 30.6.1945 „sechs Transportzüge mit Angehörigen der Vlasov-Armee nach Focşani (Rumänien) verbracht“ : 6.800 in das Lager 595 Prokop’ev und 3.700 in das Lager 314 nach Kemerovo. RGVA, F. 32900, op. 1, d. 217, S. 131. Schriftliche Erklärung zum Bericht über die Kampftätigkeit des 25. Unteren Dnestr-Rotbanner-Grenzregiments zum Schutz des Hinterlandes der 3. Ukrainischen Front im Juni 1945, nach dem 30.6.1945, abgedruckt in : Karner – Pickl (Hg.), Die Rote Armee in der Steiermark, Dokument 99, S. 359–362.
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Die sowjetische Besatzung Österreichs
Das NKVD weist in seinem Bericht in diesem Zusammenhang auf die Unterwanderung des Lagerpersonals durch kriminelle Elemente hin.10 Ein kleiner Teil von 808 Personen der in Judenburg übergebenen Kosaken, vor allem Frauen und Kinder, überlebte noch bis Ende Oktober 1945. Zu diesem Zeitpunkt findet man sie auf einer NKVD-Liste des Speziallagers 525/9 (Kemerovo/KUSBAS) in Sibirien. Von den insgesamt 808 auf der Liste namentlich erfassten und in Judenburg an die Sowjets übergebenen Kosaken waren 807 Frauen und Kinder und ein Mann : Viktor V. Klavdiev, geboren 1929, aus Voronež. Er gab als Beruf „Rechnungsführer“ an. Die Altersverteilung zeigt eine vorwiegend junge Zusammensetzung der in das Lager Deportierten : Mehr als die Hälfte von ihnen war unter 21 Jahren, etwa jeder siebente noch keine fünf Jahre alt, rund fünf Prozent waren Babys, geboren 1945 irgendwo in Österreich oder Italien. Von den 269 Frauen zwischen 15 und 35 Jahren waren in Kemerovo Ende Oktober 1945 insgesamt 26 schwanger,11 einige stillten noch ihre Babys. Ein Säugling konnte die Strapazen nicht überleben und starb praktisch während der Erstellung der Listen. Von den 808 ausgelieferten Kosaken stammte der überwiegende Teil aus Südrussland, der Westukraine, dem Nordkaukasus und dem Kubaner Gebiet. 456 von ihnen gaben russisch, 261 ukrainisch, 32 weißrussisch als ihre Nationalität an. Dazu kamen noch sieben mit deutscher, sechs mit polnischer, drei mit tschechischer und jeweils einer (eine) mit bulgarischer, estnischer, kroatischer und tatarischer Volkszugehörigkeit. Wie viele von ihnen die Strapazen der Lager überlebten und heute noch am Leben sind, sich vielleicht aktiv um die „Wiedergeburt“ des Kosakentums in Russland bemühen, lässt sich nicht sagen. Viele können es freilich nicht sein. Stefan Karner, Zur Auslieferung der Kosaken und Vlasov-Kämpfer an die UdSSR, in : Peter Ruggenthaler – Walter M. Iber (Hg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 14. Innsbruck 2010, S. 281– 287.
10 RGVA, F. lp, op. 15a, d. 352, S. 1–4, Lagercharakteristik des Teillagers Nr. 9 der Lagerverwaltung 525, 3.8.1946. 11 Ebd. Die Altersverteilung der schwangeren Frauen war : 19–24-jährig 14, 25–35-jährig 7 und 36–40-jährig 5 Frauen.
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
Die Tür zu den Spuren Wallenbergs offen halten (2015)
Der Name Raoul Wallenberg steht für Mut, Menschlichkeit und Erfolg bei der Rettung Tausender Juden 1944/45 in Budapest vor deren Abtransport in die Konzentrations- und Vernichtungslager des „Dritten Reiches“. Er gehört zu den „Gerechten der Völker“, seine Denkmäler stehen in der ganzen freien Welt. Seine Spuren finden sich überall dort, wo Humanität gegen Willkür und Terror steht. Sie aufzuspüren ist ein Akt der Menschlichkeit. Sie in den Archiven und Sammlungen zu finden, ist eine wissenschaftlich notwendige Aufgabe.1 Raoul Wallenberg, geboren 1912, Spross einer der bedeutendsten schwedischen Industriellenfamilien, hatte in besonderer Mission einen schwedischen Diplomatenpass erhalten und 1944/45 in Budapest Tausenden Juden das Leben gerettet : mit von ihm gedruckten und unterfertigten schwedischen „Schutzpässen“, mit Bestechung (dafür waren ihm von Schweden und den USA Gelder bereitgestellt worden), durch Bluff und mit viel Energie.2 Am 12. Jänner 1945 kam Wallenberg, gemeinsam mit seinem Chauffeur Vilmos Langfelder, in die „Obhut“ der 151. Schützendivision der 7. Gardearmee der 2. Ukrainischen Front (Marschall Rodion Ja. Malinovskij). Im Stab der 151. Schützendivision schilderte Wallenberg die Rettung Tausender Juden und die Situation im Budapester Ghetto. Auf die mehrmalige Frage, warum er Budapest beim Herannahen der Roten Armee nicht verlassen habe, antwortete Wallenberg stets : Er erfülle seinen Auftrag – die Insassen des Ghettos zu retten. Daher auch sein Wunsch, mit der in Debrecen formierten ungarischen Regierung und dem sowjetischen Oberkommandierenden das weitere Vorgehen – laut einem von ihm exakt ausgearbeiteten Plan zur Gründung eines Sonderfonds für Terroropfer – zu besprechen. Dazu kam es nicht mehr. In Debrecen, wo Malinovskij seine Front befehligte, wurde er am 17. Jänner 1945 von der sowjetischen Gegen-
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Der Beitrag entspricht dem gesprochenen Referat und bezieht sich im Wesentlichen auf die vorhandene, umfangreiche Literatur. Vgl. dazu insbesondere die neue Studie von Johan Matz, Sweden, the United States ; and Raoul Wallenberg’s Mission to Hungary in 1944, in : Journal of Cold War Studies, 14/3/Sommer 2012, S. 97–148.
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spionage „Smerš“ festgenommen und in der Folge – über Iaşi – nach Moskau verbracht. Seither gab es ungezählte Mutmaßungen über sein weiteres Schicksal. Hatte anfangs die Sowjetunion überhaupt geleugnet, einen Gefangenen namens „Wallenberg“ im Gewahrsam gehabt zu haben und das Thema tabuisiert, so begann man v. a. unter Michail S. Gorbatschow langsam den Mantel des Schweigens zu lüften. Zögerlich wurden angebliche Teile seiner Akte, die man „zufällig gefunden“ hatte, publik gemacht und schließlich der 17. Juli 1947 als sein Todesdatum festgesetzt. Zahlreiche Menschen bezeugten unterdessen, Wallenberg oder zumindest einen „schwedischen“ Diplomaten in sowjetischer Hand gesehen, mit ihm kurz Kontakt gehabt, ja sogar mit ihm gesprochen zu haben. In Moskau, in Vladimir, ja auch in Sibirien oder in Vorkuta. Der slowakische Gulag-Gefangene Anatol Krüger3 will sogar dabei gewesen sein, als man Wallenberg im September 1950, nahe dem Vorkuta-Lager Nr. 2, begrub. Und vieles, was Krüger 2001 erzählte, passt zwar in den Rahmen des möglicherweise Geschehenen. Mehr als eine zusätzliche, unbewiesene Spur, die aber ganz offensichtlich in eine Sackgasse führt, ist es freilich nicht. Die Aussage Krügers soll hier dennoch dargestellt werden. Krüger zur Situation in Vorkuta : Wallenberg war schwer krank, von Anfang an. Und er konnte kaum aufs WC gehen. Er brauchte Hilfe. Wir haben ihm geholfen, soweit wir eben konnten. Aber er war von den anderen Gefangenen isoliert. In einer eigenen Baracke. Daneben war noch ein deutscher Gesandter, ich glaube, er kam aus Ulan Bator oder Bukarest. Dieser deutsche Gesandte und sein, ich glaube Sekretär, sind nach Hause gekommen. Fünf oder sechs Jahre später. Ich nehme an, sie müssten dann ja auch etwas ausgesagt haben, oder waren sie schon so gebrochen, dass sie nichts mehr sagten. Im September 1950, eines Tages, in der Früh, brachte ich wie üblich von der Küche des Lagers Essen in die Baracke zu Wallenberg. Doch da war er tot. Natürlich habe ich das sofort gemeldet. Es waren ja täglich 10, 15 Tote zu melden. Tot ist eben tot. Wir haben ihn bestattet. Ein Kollege, ein Armenier (er wohnt jetzt in Russland) und ich waren ja das Bestattungskommando. Er, der Armenier, hat das eigentlich gemacht, das
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Mehrfache Gespräche des Autors mit Anatol Krüger, Bratislava, zu Beginn der 2000er-Jahre. Über Krüger findet sich ein umfangreicher Personalakt im slowakischen Geheimdienst-Archiv. Krüger wurde seinerzeit und unabhängig von den Gesprächen mit dem Autor auch von Mitgliedern der Wallenberg-Kommission befragt, worüber es auch umfangreiche Aufzeichnungen gibt.
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Grab geschaufelt. Es war ja wenig tief, weil dort die Erde immer gefroren war, etwa 30 cm tief konnte man graben. Da war die Erde noch weich. Man hat die Toten nicht immer in solche Gräber gegeben. Meist waren es ja Massengräber. Das Grab war ungefähr 3 km vom Lager entfernt. Dort war kein Friedhof, sondern nur eine Stelle, wo man bestattet hat. Dort waren keine Kreuze, rein gar nichts. Es war immer dieselbe Stelle. Begraben haben wir die Toten ohne Sarg. Nur mit Unterwäsche bekleidet. Ich bin überzeugt, wenn man dort gräbt, kommen Knochen zum Vorschein, denn das waren ja Tausende Tote. Ich weiß, dass die Sowjetorgane dort waren. Die müssen das alles verzeichnet haben, das weiß ich. Auch der Armenier wusste, dass diesmal ein schwedischer Diplomat begraben wurde. Sonst wusste es von den Mithäftlingen aber vermutlich niemand. Das waren ja ganz verschiedene Leute, verurteilt für ganz verschiedene Sachen, die allesamt nicht wahr waren.
Als Raoul Wallenberg 1944 nach Budapest kam, war er 32 Jahre alt, als er in die Lubyanka eingewiesen wurde, war er 33, als man ihn liquidierte, war er vermutlich 35. Die Akte Wallenberg hat zwei Teile : Der erste – sein Leben in Budapest, wenige Monate, diese aber voller Dramatik. Der zweite Teil – gute zwei Jahre in Moskau, genauer in den Gefängnissen der Lubyanka und in Lefortovo. Gab es für ihn noch ein Leben nach dem Juli 1947 in der Sowjetunion ? Ich glaube nicht. Hunderte Menschen haben seit 1945 die Akte Wallenberg studiert, über sein Schicksal geforscht : Diplomaten, Journalisten, Historiker. Zuletzt wurden 2001, nach der Perestrojka und ersten zaghaften Zugängen zu sowjetischen Unterlagen, die Ergebnisse der russisch-schwedischen Wallenberg-Kommission publiziert. Kurzum, es gab zwei Berichte, denn zu weit lagen die Ansichten auseinander. Die Akte sei zu schließen, forderte Moskau. Die Akte sei zu komplettieren, forderte Stockholm. Die russische Seite resümierte : 1. Alle relevanten Zeugnisse unterstreichen, dass Wallenberg am 17. Juli 1947 starb bzw. ums Leben kam. 2. Die Verantwortung für den Tod Wallenbergs trägt die damalige Staatsführung der UdSSR, denn keine andere Instanz hätte damals über das Schicksal eines schwedischen Diplomaten entscheiden können, einem Vertreter eines neutralen Staates, einem Mitglied des „Hauses Wallenberg“, das im In- und Ausland, und auch Josef Stalin, bestens bekannt war. Eine besondere Schuld für dieses Verbrechen trifft Viktor S. Abakumov, dem Vollstrecker und der Schlüsselfigur in der physischen Beseitigung Wallenbergs und der Beseitigung aller Hinweise. Vjačeslav M. Molotov
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dürfte vom Arrest und dem Tod Wallenbergs gewusst haben und hat später, als Außenminister, die Aufklärung des Verbrechens gebremst. 3. Die sowjetische Seite zeigte insgesamt keine Bereitschaft, den Fall mit Schweden zu erörtern. Erst mit der Glasnost’ wurden die Lügengebäude abgebaut. Die schwedische Seite resümierte : 1. Der Tod Wallenbergs erscheint als nicht erwiesen. 2. Viele wichtige Fragen bleiben unbeantwortet und die Akte Wallenberg kann nicht geschlossen werden. Das heißt, die Tür für weitere Nachforschungen muss offen bleiben, geprüft und neue Spuren gefunden werden. 3. Es bedarf der weiteren Öffnung relevanter Materialien des Außenministeriums und der Geheimdienste, vor allem in Russland und in Schweden. Doch die Schlüssel zur Klärung liegen in Moskau. Eigentlich wäre es an der UdSSR gelegen gewesen, die Forschungen zu Wallenberg voranzubringen. Nur die sowjetische Regierung trage Schuld am Verschwinden Wallenbergs, an der Vertuschung seines Schicksals, resümierte etwa die russische Generalstaatsanwaltschaft. Als Alexander N. Jakovlev, Mitstreiter Gorbatschows und Leiter der nach ihm benannten Rehabilitierungskommission, den russischen Präsidenten über Wallenberg informierte, stimmte Vladimir V. Putin einer Rehabilitierung in besonders würdiger Weise zu. Auch unterstrich die russische Generalstaatsanwaltschaft, dass Wallenberg nicht als gewöhnlicher Spion repressiert wurde, sondern aus politischen Motiven. Die formale Rehabilitierung folgte. Doch sie erscheint deshalb unzureichend, weil darin betont wurde, „dass es nicht gelang, alle Umstände des Aktes [wie den Grund für den Arrest usw.] zu klären.“ Erst jetzt, unter Putin, habe man Teile des Aktes gefunden. Im Analogieschluss zu anderen, ähnlich gelagerten, freilich weniger öffentlich bekannt gemachten Fällen, und aus der Erfahrung 20-jähriger Archivarbeit in verschiedenen russischen, zentralen Archiven ist zu folgern, dass es die Akte Wallenberg in beträchtlichem Umfang geben muss. Raoul Wallenberg ist nicht schuldig, dass er gegen seinen Willen in die Mühlen der Geschichte des 20. Jahrhunderts geraten war, als staatliche und ideologische Interessen die Schicksale von Millionen bestimmten. Als er in Budapest Tausende Juden vor dem sicheren Tod rettete, zeigte er, dass auch ein Einzelner den Kampf mit der barbarischen NS-Maschinerie führen kann. Vernichtet wurde Wallenberg allerdings, als ihm in Moskau die zweite barbarische, stalinistische Maschinerie entgegentrat.
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In der Diskussion im Rahmen der Tagung zum Schicksal Wallenbergs in Wien am 14. November 2012 erklärte Vasilij Christoforov, Direktor des Zentralarchivs des FSB (CA FSB) in Moskau, auf Anfrage, dass er das seinerzeit von den sowjetischen Behörden festgelegte Todesdatum weder bestätigen noch dementieren könne. Dies bedeutete das erste offizielle Abrücken Moskaus vom offiziellen Todesdatum Wallenbergs, dem 17. Juli 1947. Ein wesentlicher Schritt und ein wichtiges Ergebnis der Tagung. In Kenntnis der hier dargelegten Recherchen, wie von Vadim Birštein und Susanne Berger, aufgrund verschiedener Hinweise sowie vor allem auf Basis langjähriger Erfahrungen mit der Praxis sowjetischer Untersuchungsverfahren des KGB/MGB, wie sie sich aus den sowjetischen Akten erschließen, bin ich letztlich der Meinung, dass Wallenberg die Lubjanka im Juli 1947 nicht mehr lebend verlassen hat. Eine weitere Suche nach möglichen Aufenthalten Wallenbergs nach dem Juli 1947 ist damit obsolet. Wallenberg starb im Juli 1947 in der Lubjanka. Die Spuren zu den Umständen seines Todes, zu den internationalen Verflechtungen der Jahre 1945–1947, die sein Schicksal mit besiegelten und die Spuren zu den sowjetischen und schwedischen privaten und staatlichen Archiven, die diese Fragen zu beantworten in der Lage sind, bleiben allerdings weiterhin verwischt und müssen aufgedeckt werden. Erschienen in : Stefan Karner, Die Tür zu den Spuren Wallenbergs offen halten, in : Stefan Karner (Hg.), Auf den Spuren Wallenbergs. Innsbruck – Wien – Bozen 2015, S. 15–20.
Der „französische Spionagering“ in Rostock und die sowjetische Staatssicherheitsakte zu Wilhelm Joachim Gauck (2015)
Einleitung Von den rund 2,6 Millionen Deutschen, die in sowjetischen Lagern des NKVD (Narodnyj kommissariat vnutrennich del/Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) zwischen 1941 und 1956 registriert wurden, waren rund 2,2 Millionen Kriegsgefangene und rund 400.000 Zivilisten (nicht verurteilte Internierte sowie verurteilte Zivilisten und Kriegsgefangene).1 Noch am 20. Januar 1950 hielt die Sowjetunion 52.506 ausländische, praktisch ausschließlich Verurteilte (deutsche Kriegsgefangene und Zivilisten) fest. Von ihnen saßen rund 46.000 in Lagern des NKVD und etwa 5.700 in Gefängnissen. Ein Teil von ihnen war wegen angelasteter Kriegsverbrechen, der größere Teil aber wegen vorgeblicher Spionagetätigkeit und „Lagerkriminalität“ zu meist 25-jährigen Haftstrafen in den NKVD/MVD (Ministerstvo vnurennich del/Ministerium für Innere Angelegenheiten)-Lagern des Gulag und in Haftanstalten verbracht worden. Bis knapp vor Stalins Tod 1953 fällten sowjetische Gerichte Todesurteile gegen Deutsche und Österreicher.2 Die Verurteilungen erfolgten durch Organe der sowjetischen Nachkriegsjustiz (Dvojkas, Trojkas, Militärtribunale und Sonderkommissionen) nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR und Sonderbefehlen, wie dem „Ukaz 43“ 1
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Einen sehr guten Überblick bieten u. a.: Viktor B. Konasov – A. L. Kusminych, Nemeckie voennoplennye v SSSR [Deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR]. Wologda 2002 ; und die Sammelbände : Problemy voennogo plena. Istorija i sovremennost’ [Probleme der Kriegsgefangenschaft. Geschichte und Gegenwart]. 2 Bände. Wologda 1997 ; Maksim M. Zagorulko, Voennoplennye v SSSR 1939–1956. Dokumenty i materialy [Kriegsgefangene in der UdSSR. Dokumente und Materialien]. 5 Bände. Wolgograd 2000f., sowie der Überblicksband : Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara StelzlMarx (Hg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Wien 2005. Die erste zusammenfassende Darstellung auf sowjetischer Quellenbasis zur Thematik stammt von Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Wien 1995. Vgl. Arsenij Roginskij – Jörg Rudolph – Frank Drauschke – Anne Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“ Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. Berlin 2005 ; Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953. Wien 2009.
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(vor allem angelastete Kriegsverbrechen).3 Ein großer Teil der Urteile wurde nach 1991 von russischen Gerichtsorganen (und der Militärstaatsanwaltschaft) aufgehoben und die Betroffenen, unabhängig davon ob sie noch lebten oder schon tot waren, rehabilitiert.4 Alle Zahlenangaben weichen freilich hinter den bedrückenden Einzelschicksalen zurück. Allein in der SBZ/DDR wurden zwischen Mai 1945 und März 1950 rund 120.000 Personen aus politischen Gründen in sowjetischen Speziallagern interniert, zum Großteil verurteilt, teilweise auch ohne Urteil jahrelang festgehalten.5 Der folgende, spektakuläre Fall, recherchiert vor allem aus dem sowjetischen Akt Wilhelm Joachim Gauck, soll beispielhaft die Vorgehensweise und Zusammenarbeit der Erhebungs- und Justizorgane der DDR und der Sowjetunion zeigen und die drakonischen Strafen, bis zu Todesurteilen, dokumentieren, die für vergleichsweise geringe Vergehen verhängt wurden.
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Die beste Arbeit zu den sowjetischen Gerichtsverfahren, Gerichtsorganen und Urteilen bietet noch immer die Dissertation von : Viktor B. Konasov, Sudebnoe presledovanie nemeckich voennoplennych v SSSR. Vnešnepolitičeskij aspekt problemy [Die gerichtliche Verfolgung der deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR. Der außenpolitische Aspekt des Problems]. Moskau 1998. Zur militärgerichtlichen Praxis in der Sowjetunion vgl. Stefan Karner – Vjačeslav Selemenev (Hg.), Österreicher und Sudetendeutsche vor sowjetischen Militär- und Strafgerichten in Weißrussland 1945–1950. Graz 2007. Zur Rehabilitierung in Russland vgl. besonders : Günther Wagenlehner, Die russischen Bemühungen um die Rehabilitierung der 1941–1956 verfolgten deutschen Staatsbürger. Bonn 1999 ; sowie die Beiträge von Vladimir Korotaev – Manfred Blum – Konstantin Nikischkin – Galina Vesnovskaja – Vladimir Kupec, in : Klaus-Dieter Müller – Konstantin Nikischkin – Günther Wagenlehner ( Hg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941–1956. Köln 1988, S. 395–438. Zur Nachkriegsjustiz in der Sowjetunion und in der DDR sowie zu den Haftanstalten und Lagern vgl. vor allem : Bettina Greiner, Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburg 2010 ; Andreas Hilger (Hg.), „Tod den Spionen !“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953. Göttingen 2006 ; Andreas Hilger – Mike Schmeitzner – Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003 ; Sergej Mironenko – Lutz Niethammer – Alexander von Plato (Hg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 1 : Studien und Berichte. Berlin 1998 ; Sergej Mironenko – Lutz Niethammer – Alexander von Plato ( Hg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Band 2 : Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik. Berlin 1998 ; Peter Reif-Spirek – Bodo Ritscher (Hg.), Speziallager der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“. Berlin 1999.
Der „französische Spionagering“ in Rostock
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Verhaftung und Anklage Freitag, 29. Juni 1951 : Schwerin/Untersuchungsgefängnis, Operativer Sektor des MGB6 in Mecklenburg. Es ist 23 Uhr nachts, eine Stunde vor Mitternacht. Gauck wird seit drei Stunden von Geheimdienst-Major Ivan Ušakov7 im Büro Nr. 102 hart verhört. Fragen über Fragen sind zu beantworten : Geburtsjahr, Wohnadresse, seine Frau Olga, Mutter Antonia in Wustrow, die Kinder Joachim, Marianne, Eckart und Sabine, seine Gymnasialzeit, die Mitgliedschaft in der NSDAP, politische Einstellung, Militärkarriere, die Arbeit im Rostocker Hafen nach dem Krieg. Und dann nennt Ušakov den Grund für die Verhaftung vom 27. Juni : Spionage für den französischen Geheimdienst. Die aus den Akten konstruierten „Beweise“ sind erdrückend. Das erste Verhör wird beendet, Gauck unter strenger Bewachung zurück in Zelle 76 gebracht. Ušakov hat, was er braucht. Gauck war Mitglied eines „Spionageringes“ gegen die sowjetischen und DDR-Interessen. Er wird vor das sowjetische Militärtribunal gestellt und abgeurteilt werden. Noch in der Nacht unterzeichnen Ušakov und sein Vorgesetzter, Hauptmann Sosnov, den Haftbeschluss – eine reine Formsache, denn schon am Vortag hat der Geheimdienstchef der Sowjetischen Militäradministration des Landes Mecklenburg, Oberst Evgenij P. Gorelow,8 ein ausgewiesener „Tschekist“, den Haftbeschluss mit Stempel und Unterschrift bestätigt. Die Sowjets und das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) sind sich sicher. Sie kennen die Aussagen der zuvor Verhafteten und haben bei ihnen Material sichergestellt. Die sowjetische Gegenspionage und die Stasi sind seit Monaten einem „Spionagering“ auf der Spur. Eher zufällig hält an diesem Tag die Rostocker Kriminalpolizei den 26-jährigen Schiffsmaschinenschlosser Adalbert Schimmer wegen „Schwarzfahrens“ mit einem Auto an. Schimmer versucht dabei eilig, Papiere zu verstecken.
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MGB = Ministerstvo gosdarstvennoj bezopasnosti (Ministerium für Staatssicherheit) der Sowjetunion, Vorläufer des KGB. Ab 4. Mai 1946 waren die Organe der militärischen Spionageabwehr, die zuvor in der GUKR „Smerš“ [Akronym : Tod den Spionen] zusammengefasst waren, Teil des MGB. Vgl. v. a. A. I. Kokurin – N. V. Petrow, Lubjanka. Spravočnik, Moskau 2003, S. 8 und 139. Vgl. Nikita Petrov, Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland. Der leitende Personalstand der Staatssicherheitsorgane der UdSSR in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR von 1945–1954. Berlin 2010, S. 756f. Vgl. Petrov, Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland, S. 305f.
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Es gelingt ihm nicht mehr. Es sind verbotene Aufzeichnungen über den Schiffsverkehr im Rostocker Hafen : Ein interessanter Fund für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit und die sowjetische Gegenspionage. Nun beginnt die Wühlarbeit der Geheimdienste. 16 weitere Verhaftungen folgen. Auch der Name Gauck taucht auf. Sofort schlägt die Stasi zu, sucht den 45-jährigen Familienvater unter einem Vorwand zunächst in seiner Wohnung in Rostock. Seine Tochter Marianne erklärt den beiden Stasi-Männern in Zivil, er sei bei seiner Mutter in Wustrow, um mit ihr den 71. Geburtstag zu feiern. Dort wird Gauck am 27. Juni 1951 abends verhaftet.9 Sein Sohn Joachim, damals 11 Jahre alt, schrieb, die Stasi-Mitarbeiter in Zivil hätten sich mit seinem Vater zunächst in die Gartenlaube zurückgezogen. Kurz habe sein Vater sogar überlegt, wegzulaufen, doch fürchtete er Sanktionen gegen seine Familie. Also sei er mit ihnen in einem blauen Opel fortgefahren.10 Ziel der erzwungenen Fahrt ist das Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und der sowjetischen Gegenspionage (MGB) im Schweriner Justizgebäude am Demmlerplatz.11 Hier herrschen katastrophale Haftbedingungen : Die Verhafteten sind auf engstem Raum zusammengepfercht, die Zellen überbelegt, die Verpflegung
9 Alle nicht näher ausgewiesenen wörtlichen Zitate entstammen dem NKVD-Personalakt Wilhelm Joachim Gauck, im RGVA, Moskau, F. 461p, d. 196812 ; hier S. 2 : Beschluss über die Verhaftung gem. § 100 UPK RSFSR, 29.6.1951. Der Beitrag folgt im Wesentlichen, teilweise auch wortident : Stefan Karner, „Die MGB-Akte Joachim Gauck senior“, in : FAZ vom 12.3.2012, S. 7 ; vgl. auch Ulrich Schmid, Ein liberalkonservativer Herold der Freiheit, in : NZZ vom 19.3.2012. 10 Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. 6. Auflage München 2011, S. 10f. 11 Vgl. Anne Kaminsky (Hg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in der SBZ und SSR. 2. Auflage Berlin 2008. Der Grundstein für das Justizgebäude wurde am 25.3.1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, gelegt. 1916 war der Bau fertiggestellt, inklusive dem angeschlossenen, dreistöckigen Gefängnistrakt. Das Gebäude beherbergte verschiedene Gerichte. In der NS-Zeit war es u. a. Sitz des „Anerben- und Gesundheitsgerichtes“ und ein Sondergericht. Im U-Gefängnis waren Hunderte politische Häftlinge festgesetzt. 1945 war das Gebäude kurzfristig von westalliierten Truppen besetzt, ehe der sowjetische NKVD/MVD in das Justizgebäude einzog und bis 1954 blieb. Von da an diente das Gebäude dem MfS der DDR und war eine Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Vgl. u. a. Johannes Beleites, Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Schwerin. 2. Auflage Schwerin 2004 ; Kai Langer, Das Schweriner Justizgebäude zwischen Obrigkeitsstaat und Diktatur 1916–1989. 2. Auflage Schwerin 2004 ; sowie Anne Drescher – Georg Herbstritt – Jörn Mothes, „Recht muss doch Recht bleiben“. Schwerin 1999. Heute befindet sich am Demmlerplatz ein Dokumentationszentrum „für die Opfer deutscher Diktaturen“, zuvor war es eine Außenstelle der „Gauck-Behörde“.
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mangelhaft, eine medizinische Versorgung praktisch nicht vorhanden, Folter in vielfältiger Art. Das Schlimmste jedoch ist die totale Isolation von der Außenwelt. Hier werden Regimegegner und Widerständler zu langjähriger Haft verurteilt, viele zum Tod, wie Arno Esch. Für das MfS und die Sowjets scheint der Fall Gauck in Umrissen klar. Daher übernimmt die sowjetische Gegenspionage den Festgenommenen gleich am nächsten Morgen, es ist Donnerstag, der 28. Juni 1951. Ihren Beschluss zum Haftbefehl fasst sie ausschließlich auf Basis des vorhandenen Aktenmaterials : „Gauck Joachim wird verdächtigt, Verbrechen gemäß Art. 58/6, Z.1 und 58/11 des Strafgesetzbuches der RSFSR begangen zu haben“, also Spionage (58/6) und „konterrevolutionäre Tätigkeit“ (58/11).12 Spionage kann mit der Höchststrafe, der Hinrichtung, geahndet werden. Und weiter : „Zur Überprüfung des Festgenommenen müssen weitere Untersuchungen vorgenommen werden. Daher wird befohlen, Joachim Gauck weiter festzuhalten und zu visitieren“. Noch am selben Tag werden ihm bei einer Leibesvisitation, durchgeführt von zwei Wärtern, Mironov und Aksjonov, seine persönlichen Gegenstände abgenommen und in den Lagerbestand des Gefängnisses gegeben : Eine Aktentasche, ein Rasierzeug, ein Kugelschreiber. Gauck unterschreibt, dass die „abgenommenen Gegenstände richtig im Protokoll verzeichnet wurden und dass es von seiner Seite keine Klagen und Beschwerden“ gäbe. Es verbleibt ihm nur noch seine Armbanduhr (Firma : „Siegerin“) mit 25,2 Gramm Gewicht, wie das Protokoll präzise vermerkt, und ein wenig Bargeld. Beides wird ihm später abgenommen. Gauck ist einer der Letzten, die bei dieser Aktion verhaftet werden. Er kennt die anderen nicht, bis auf ganz wenige – und da haken die Untersuchungsrichter des MGB ein. Die Gangart der Verhöre wird verschärft. Man will mehr von Gauck hören, als ohnehin aus den erbeuteten Materialien hervorgeht und bereits in den aus Verhören konstruierten Papieren steht : Namen, Verbindungen, Material. Hauptmann Sosnov übernimmt selbst die stundenlangen Verhöre, Ušakov wechselt sich mit anderen im Verhörzimmer ab. Bei Tag, bei Nacht. Dazwischen Leibesvisitationen, Fragebögen, Erkennungsdienst und quälende Ungewissheit. Jedes Verhör wird minutiös im Akt verzeichnet, mit Wachpersonal, Dauer, Ort und Aufsehern. Gauck muss dreimal seine Zellen wechseln : Von Zelle 76 kommt er ab Juli in Zelle 58 und ab September in Zelle 62. Es ist anzunehmen, dass man gegen ihn Spitzel („nasedki“) in die Zellen setzte. Immer wieder wird auch der bürokratische MGB-Akt Gaucks selbst auf seine Vollständigkeit und Richtigkeit intern überprüft. 12 RGVA, F. 461p, d. 196812, S. 6–7ob, Verhafteten-Fragebogen, 10.6.1951, S. 7ob.
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Man geht kein Risiko, keinen Formalfehler ein. Um etwa zu verhindern, dass sich der Untersuchungshäftling weiteren Verhören und dem Gericht, vor allem durch Flucht, entzieht, befehlen Gorelov und der Militärstaatsanwalt der Schweriner Garnison, Oberstleutnant d. Justiz Suchanov, am 5./6. Juli, Gauck unter Sonderbewachung zu stellen und die Verfügung von ihm gegenzeichnen zu lassen, was Gauck offenbar nicht mehr macht. Möglicherweise auch gar nicht mehr kann, denn gleichzeitig wird er per Order Nr. 8 für 24 Stunden in das Schweriner Gefängnis, unter Oberleutnant Nikičenko, geworfen und anschließend in die Zelle 58 verlegt. Die Verhöre und Ermittlungen gehen weiter ; der Untersuchungszeitraum wird dazu vom Militärstaatsanwalt des MGB der UdSSR eigens bis zum 26. September verlängert. Nun stehen im Zentrum der Erhebungen weitere strafrelevante Tatbestände sowie eine eventuelle Beteiligung Gaucks an nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Beides würde eine Ausweitung der Anklage nach sich ziehen. Man prüft die Mitgliedschaft Gaucks bei der NSDAP seit 1934 und seine Tätigkeit bei der Marine. Gauck hatte schon 1940, mit 34 Jahren, die Prüfung zum Kapitänspatent als „Kapitän auf großer Fahrt“ für Handelsschiffe (nicht : Kapitän zur See für Kriegsschiffe) geschafft und später den Rang eines „Oberleutnants der Reserve“ erhalten. Von 1940 bis zum Kriegsende diente er in der Marine.13 Nach Kriegsende findet Gauck, offenbar aufgrund seiner Ausbildung und seiner Marineerfahrung während des Krieges, Arbeit als Arbeitssicherheitsinspektor in einem Trockendock im Hafen von Rostock in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Ausdrücklich hält die sowjetische Erhebung im Untersuchungsakt Nr. 1104 fest, dass Wilhelm Joachim Gauck „am Krieg gegen Sowjetunion nicht teilgenommen hat“.14 Andernfalls hätte dies eine Anklage als Kriegsverbrecher, vermutlich nach Ukas vom 19. April 1943, bedeutet.
Enttarnung des Spionagerings In einem anderen Punkt werden die Untersuchungsrichter allerdings fündig : Bei der Verhaftung Gaucks am 27. Juni 1951 hatte man bei ihm „Zeitschriften mit Artikeln antisowjetischen, antidemokratischen Inhalts“15 aus Hamburg (damals britische Besatzungszone) gefunden, die er nicht nur aufbewahrt, 13 Vgl. Gauck, Winter im Sommer, S. 10. 14 RGVA, Moskau, F. 461p, d. 196812, S. 6–7ob, Verhafteten-Fragebogen, 10.6.1951, S. 6ob. 15 Ebd., S. 21.
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sondern auch verbreitet hatte. Womit ein weiterer Straftatbestand hinzukam : Antisowjetische Propaganda, wie sie im Artikel 58/10 des Strafgesetzbuches der RSFSR definiert war. Parallel zu Gauck werden auch die anderen 16 Verhafteten verhört. Die Ermittlungen fördern, nach sowjetischer und Stasi-Lesart, einen „Spionagering“ zutage, der im Auftrag des „französischen Geheimdienstes“ (es wird nicht gesagt, um welchen Dienst es sich genau handelte) und unter der Leitung des angeworbenen, 30-jährigen Deutschen Willy Karbe,16 alias Otto Krüger, verschiedene Informationen über die sowjetische Besatzungszone gesammelt und weitergeleitet haben soll. Karbe, der parteilos war, diente während des Krieges in der deutschen Luftwaffe und war in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er Mitte Dezember 1949 entlassen wurde. Er kehrte zu seinen Eltern im französischen Sektor Berlins zurück und meldete sich als „Heimkehrer“ bei der französischen Kommandantur. Vier Monate später, so die Erhebungen der sowjetischen Spionageabwehr, habe ein Mitglied der Residentur „des französischen Nachrichtendienstes“,17 Oberst Opier, alias Lemmer, in Berlin Kontakt zu ihm aufgenommen.18 Zuerst wurde Karbe zu einer Schiffswerft in Leningrad/St. Petersburg befragt, auf der er während seiner Kriegsgefangenschaft in der UdSSR arbeitete. Karbe erwies sich während dieser Befragungen offenbar als dermaßen sorgfältig, fachkundig und kooperativ, dass er im Juni 1950 von dieser Residentur als „Informant“ angeworben wurde. Er erhielt für seine Tätigkeit einen gefälschten Ausweis für die sowjetische Besatzungszone auf den Namen „Otto Krüger“ und eine Fotokamera. Sein Auftrag bestand fortan darin, in der sowjetischen Besatzungszone geeignete Küstenabschnitte für mögliche Truppenlandungen zu fotografieren, Informationen über Trockenwerften, Häfen und Schiffe zu sammeln und Pläne der Anlagen zu erstellen. Zudem sollte er über wahrgenommene 16 Ergänzende Daten zu Willy Karbe : Geb. 10.11.1921 in Kraatz/Brandenburg, Kraftfahrer und Musiker, zuletzt wohnhaft in Berlin-Wedding. 1938 Eintritt in die Firma Arnold & Co in Berlin-Schöneberg als Expedient, bald Geschäftsführer. 1940–1945 Dienst in der Deutschen Luftwaffe als Ausbilder und Beobachter einer Fernaufklärerstaffel. 1945–1949 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. März 1950 Eintritt in den französischen Geheimdienst. 19.5.1951 Festnahme durch das MfS in Rostock wegen Tätigkeit für den französischen Geheimdienst und Kontakt zu Lars Larsson-Naucke. Er galt als der Kopf des Spionagerings. Am 24.11.1952 zum Tod verurteilt und am 1.3.1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij – Drauschke – Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“, S. 251f. 17 RGVA, F. 461p, d. 196812, S. 9–25. Urteil des MT des Truppenteils 48240 in Schwerin, 24.11.1951, S. 13. 18 Roginskij – Drauschke – Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau …“, S. 252f.
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Truppenverlegungen und Flugplätze berichten und weitere, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Deutsche für Befragungen und eine geheimdienstliche Arbeit gewinnen. Als Entschädigung für seine Informationsarbeit erhielt Karbe, alias Krüger, wie ihm die Sowjets vorrechneten, monatlich 500 bis 800 DM in bar ausbezahlt.19 Tatsächlich gehen die 16 weiteren Verhaftungen des von den Sowjets so bezeichneten „Spionagerings“ um Rostock letztlich auf Anwerbungen von Karbe zurück : ehemalige Kriegsgefangene, die sich für eine Befragung seitens des französischen Nachrichtendienstes zu Verfügung stellten, oder Personen, die sich als „Informanten“ für sein Netzwerk anwerben ließen.20 Am 19. Mai 1951 wird jedoch auch Karbe durch das MfS verhaftet. Einer der angeworbenen „Informanten“ ist Wilhelm Joachim Gauck, der nach Kriegsende nahe seiner Heimatstadt Rostock in einem Trockendock („Neptun“) in Warnemünde eine Arbeit als Arbeitssicherheitsinspektor bekommen hat. Im Januar 1951 wird er von einem Agenten des Netzwerkes Karbe, dem Oberspielleiter des Volkstheaters Rostock, Lars Larsson-Naucke,21 auf konkrete geheimdienstliche Aktivitäten angesprochen. Der Kontakt ist für Larsson-Naucke erfolgreich : Gauck wird sein „Informant“. Bis zu seiner Verhaftung soll er zahlreiche Informationen zu den im Bau befindlichen Schiffen der „Neptun“-Werft weitergegeben haben.22 Im Herbst 1951 sind die Vorerhebungen der sowjetischen Gegenspionage gegen die vorgeblichen Mitglieder des „Spionagerings“ abgeschlossen, der Geheim-Prozess vor dem Militärtribunal des sowjetischen Truppenteils 48 240 in Schwerin auf vier Tage, vom 20.–24. November 1951 festgelegt. Das Schweriner Militärtribunal zählte zu den großen sowjetischen Militärgerichten in der sowjetisch besetzten Zone bzw. in der DDR. Es tagte bis 1953 meis-
19 RGVA, F. 461p, d. 196812, S. 9-25. Urteil des MT des Truppenteils 48240 in Schwerin, 24.11.1951, S. 14f. 20 Ebd., S. 9–12. 21 Lars Larsson-Naucke, geb. 19.2.1893 in Oldesloe/Schleswig-Holstein, war der Sohn eines Theaterdirektors in Hamburg, ab 1913 Kapellmeister in Leipzig, danach im Ersten Weltkrieg. 1919–1921 Engagement als Sänger an der Staatsoper in Dresden, 1933 NSDAP-Mitglied, 1934 bis 1936 in der SA. Parallel dazu, schon ab 1921, Sänger, Spiel- und Oberspielleiter in Chemnitz, ab 1949 Oberspielleiter in Rostock. Am 24.6.1951 wegen Spionage für den französischen Geheimdienst verhaftet, am 24.11.1951 zum Tod verurteilt und am 1.3.1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij – Drauschke – Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“, S. 281f. 22 RGVA, F. 461p, d. 196812, S. 9–25. Urteil des MT des Truppenteils 48240 in Schwerin, 24.11.1951, S. 21.
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tens im Gerichtsgebäude am Demmlerplatz und verurteilte Tausende Menschen zu langjährigen Haftstrafen und Hunderte zum Tode.
Das Urteil Scheinbar emotionslos legte die Anklageschrift den Sachverhalt aus ihrer Sicht dar : Von französischen geheimdienstlichen Organen wurde in West-Berlin unter Leitung von Oberst Opier, alias Lemmer, eine Spionage-Residentur mit der Aufgabe gegründet, in den Gebieten der Ostseeküste und in den Hafenstädten der SBZ Deutschlands Informationen militärischen und wirtschaftlichen Charakters zu sammeln. Zu diesem Zweck wurde aus den, der Sowjetunion und der DDR-Regierung feindlich eingestellten Deutschen, eine vielköpfige Agentur aufgebaut, die Angaben über sowjetische Truppeneinheiten und Flugplätze erhob, in die DDR-Häfen einlaufende Schiffe, Schiffsreparaturund Schiffsbauwerften sowie die Ostseeküste von der polnischen Grenze bis zur Demarkationslinie im Westen, die Absetzräume für den Kriegsfall und den Zustand der Küstenverteidigung und der Artillerieanlagen erkundeten. Chef der Residentur war der Deutsche Willy Karbe, ehemaliger Feldwebel der Deutschen Luftwaffe.
Weiterhin werden alle Angeklagten mit ihren wichtigsten Kenndaten, den Umständen ihrer Anwerbung und der Spionagetätigkeit aufgelistet : Adalbert Schimmer,23 Karl Jaskulski, Franz Fechner, Eva Kinikowski und ihr Va23 Adalbert Schimmer, Maschinenschlosser, geb. 20.8.1926 in Danzig/Gdańsk, stammte aus einer Arbeiterfamilie, diente ab 1943 in der Waffen-SS und wurde 1945 an der Ostfront eingesetzt. Nach dem Krieg arbeitete Schimmer in Österreich als Landarbeiter, seine Eltern flohen nach Rostock. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes konnte die Familie schließlich in Hamburg wieder zusammenführen. Später arbeitete Schimmer in Rostock auf der Neptun-Werft, war zeitweise arbeitslos und ging 1951 der Kriminalpolizei in Rostock wegen einer „Schwarzfahrt“ mit dem Auto ins Netz. Dabei versuchte er, Notizen zum Schiffsverkehr im Hafen, die er vermutlich selbst angefertigt hatte, zu vernichten. Sofort wurde er als mutmaßliches Mitglied der Gruppe Karbe dem MGB, der sowjetischen Gegenspionage, übergeben. Tatsächlich hatte Schimmer zuletzt auf einem sowjetischen Zerstörer Reparaturen durchgeführt und hatte darüber Karbe in einem Gasthaus erzählt. Die Geheimdienste der DDR bzw. der Sowjets sahen seine Spionagetätigkeit für den französischen Spionagering als erwiesen an, weil er auch andere Leute angeworben hatte. Am 1. März 1952, ein Jahr vor Stalins Tod, wurde Schimmer in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij – Drauschke – Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“, S. 381.
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ter Benno, der jedoch in den Westen flüchten konnte, Otto Tschinkel, Willi Stecker, Georg Sauerbaum, Christl Behrens, Friedrich Jager, Otto-Heinz Rachow,24 Karl Rosenberg,25 Irmgard Daimer, Gerda und Ludwig Schwitz. Zu Gauck vermerkt die Anklageschrift : „Joachim Gauck ging über den Agenten und V-Mann Lars Larson-Naucke eine verbrecherische Verbindung mit dem Residenten der französischen Aufklärung, dem Deutschen Lebau, ein und übergab über Auftrag des Letzteren der französischen Aufklärung in zwei schriftlichen Berichten, die er durch Larson-Naucke übermittelte, Spionagemitteilungen über die Schiffswerft ,Neptun‘, über das Trockendock in Warnemünde und über Bauten in der DDR. Außerdem erhielt der Angeklagte Gauck aus Hamburg Zeitschriften mit Artikeln antisowjetischen und antidemokratischen Inhalts, bewahrte sie auf und gab sie anderen zu lesen.“ Alle 17 Mitglieder des Netzwerkes werden wegen Spionage gegen die Sowjetunion schuldig gesprochen, fünf davon zum Tode verurteilt. Die Gnadengesuche werden abgewiesen. Karbe, Schimmer, Rachow, Rosenberg und Larsson-Naucke werden 1952 in Moskau erschossen, verbrannt und ihre Asche auf dem Friedhof des Donskoi Klosters in einem Massengrab vergraben. Heute erinnert ein Gedenkstein auf dem Friedhof an diese letzten Opfer Stalin’scher Justiz. Die verbleibenden zwölf Angeklagten erhalten hohe Gulag-Lagerhaftstrafen zwischen sieben und 25 Jahren. Alle Verurteilten wurden mittlerweile von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert. Gauck wird in vier Punkten schuldig gesprochen : in der Hauptanklage „Spionage“ (Artikel 58/6, Z. 1), im „Unterhalten von Beziehungen zu einem ausländischen Staat oder zu einzelnen Vertretern desselben in konterrevolutionärer Absicht“ (Artikel 58/3), für „konterrevolutionäre Propaganda und Agitation“ (Artikel 58/10) sowie in der „Vorbereitung oder Begehung der nach Artikel 58 strafbaren Handlungen“ (Artikel 58/11). Das gesamte Straf-
24 Otto-Heinz Rachow, geb. 20.1.1922 in Rostock, arbeitete nach dem Abschluss einer Schlosserlehre zunächst bei den Arado-Flugzeugwerken, rückte 1944 zur Wehrmacht ein, kam 1945 kurzzeitig in polnische Kriegsgefangenschaft und arbeitete anschließend bei der Neptun-Werft in Rostock. 1951 wurde er wegen geheimdienstlicher Arbeit für den französischen Geheimdienst verhaftet, zum Tod verurteilt und am 1.3.1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij – Drauschke – Kaminsky ( Hg.), „Erschossen in Moskau …“, S. 353. 25 Karl Rosenberg, geb. 2.5.1923 in Rostock, war der Sohn eines Polizeikommissars, arbeitete als Maschinenbauer auf der Neptun-Werft in Rostock, ehe er 1942 auf den französischen Marinestützpunkt Renn als Geselle kam. 1944 diente er in der deutschen Kriegsmarine, kam in US-Gefangenschaft. 1947 arbeitete er bei der deutsch-sowjetischen Transportgesellschaft „Deruta“ in Rostock. 1951 wurde er wegen Spionage verhaftet, zum Tod verurteilt und am 1.3.1952 in Moskau hingerichtet. Vgl. Roginskij – Drauschke – Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“, S. 368.
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maß für Gauck beträgt 25 Jahre Haft in einem Besserungsarbeitslager des Gulag (ITL, Ispravitel’no-trudovoj lager’). Nach der Verurteilung erhält er am 26. und 27. Januar 1952 die ihm im Herbst abgenommenen persönlichen Gegenstände wieder zurück, wird nach einer ärztlichen Untersuchung als transportfähig erklärt und erhält folgende Wäsche für den Bahntransport und die Lagerhaft : 1 Bettlaken, 1 Kissenbezug, 1 Handtuch, 1 Unterhose, 1 Sträflingshemd, 1 Decke. Das Urteil und der Verbleib der Häftlinge werden geheim gehalten. Auch seine Frau Olga und die Familie erfahren nichts. Auf Umwegen wird seiner Ehefrau jedoch mitgeteilt, ihr Mann sei ein Spion und sie solle sich scheiden lassen. Die Frau bleibt standhaft, bietet der SED-Diktatur die Stirn. Auch die vier Kinder erliegen den Versuchungen des Regimes nicht. Über Brest, wo die Eisenbahn auf die russische Breitspur wechselt, wird Gauck in das sibirische Gulag-„Sonderlager des Innenministeriums der UdSSR“ Nr. 37, mit der Bezeichnung „Osjorlag“ in Tajšet im Westen des Gebietes von Irkutsk verbracht.26 „Osjorlag“ ist die interne Abkürzung für „Osjornyj Lager“ (abgeleitet von „osero“, See) und steht für ein ganzes System von einzelnen Lagern, von denen die ersten 1948 als „Sonderlager Nr. 7“ gegründet wurden. Im Dezember 1948 erhalten sie die Tarnbezeichnung „Osjornyj“. Neben anderen bekannten Sonderlagern des GULAG, wie „Retschlag“, „Kraslag“, „Steplag“ oder „Ustvymlag“, ist das „Osjorlag“ einer jener Sonderlager-Komplexe, in denen das sowjetische Innenministerium ab Juli 1949 verstärkt beginnt, verurteilte „Ausländer“ zu internieren.27 Die Inhaftierten, vor allem die „Politischen“, haben Häftlings- und Zwangsarbeit zu verrichten, die vorgegebenen „Arbeitsnormen“ zu erreichen, wollen sie das Minimum an Verpflegung bekommen, um überhaupt zu überleben, und sie sind von den Schikanen ihrer Bewacher, die selbst meist verurteilte Kriminelle sind, abhängig. Im Januar 1952 befinden sich allein im „Osjorlag“ noch rund 37.000 Häftlinge, die vor allem im Eisenbahnbau an der Linie Tajšet–Bratsk und bei Holzarbeiten in den umliegenden Wäldern und Gebieten eingesetzt werden. 26 RGVA, F. 461p, d. 196812, S. 26. Beschluss über die Verbringung des Verurteilten in ein Sonderlager des MVD der UdSSR, 6.12.1951 ; ebd., S. 27, Ordner Nr. 9/so-349/3 über die Verbringung des Häftlings Gauck ins Sonderlager des MVD, 17.1.1952. Zu den Gulag-Lagern vgl. u. a. Ralf Stettner, „Archipel Gulag“. Stalins Zwangslager. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928–1956. Paderborn 1996. 27 Vgl. Andreas Hilger, „Haft in entlegenen Gebieten“. Zum Problem der Deportationen verurteilter Deutscher, in : Andreas Hilger – Mike Schmeitzner – Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955. Köln 2003, S. 663–683, hier S. 678f.
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Gauck ist dem Teillager 2 zugeteilt und arbeitet, trotz körperlicher Schwäche (körperlicher Gesamtzustand 2 von maximal 4 Stufen) vor allem in der Holzbearbeitung und Holzbringung aus den Wäldern (Brigaden 17, 29 und 20). Dadurch kann er seine fiktive, gesamte Haftzeit, die bis 26. Juni 1976 festgesetzt war, um neun Monate, bis zum 1. Oktober 1975, verkürzen. Schon Ende Februar 1953, knapp vor Stalins Tod, hat Gauck eine Erklärung zu unterschreiben, wonach er den Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 13. Januar 1953 „Über Maßnahmen zur Verstärkung des Kampfes mit besonders schändlichen Erscheinungen des Banditentums unter den Verhafteten in den ITL-Lagern“ zur Kenntnis nimmt. Gauck unterschreibt bereits in russischer Schrift. Am 5. Oktober 1955, nach dem Besuch Konrad Adenauers in Moskau und der vorgesehenen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau, erhält Gauck die Mitteilung, dass er gemäß Beschluss des Obersten Sowjets vom 28. September in die DDR repatriiert wird. Ob er noch weitere Bemerkungen habe, wird er gefragt. „Nein“, ist seine knappe Antwort. Dass er abgemagert und ausgemergelt ist und nahezu alle Zähne verloren hat, nimmt er hin. Die Freude über die Umsetzung des Wunsches „Skoro domoj“ (Bald geht’s nach Hause) ist größer. Ab 19. Oktober 1955 fährt er per Eisenbahn den langen Weg, den er vier Jahre zuvor gen Osten im Güterwaggon transportiert worden war, wieder zurück. Nun jedoch über das Repatriierungslager in Frankfurt/Oder heim nach Rostock. Erschienen in : Stefan Karner, „Der französische Spionagering“ in Rostock und die sowjetische Sicherheitsakte zu Wilhelm Joachim Gauck, in : Andreas Kötzing – Francesca Weil – Mike Schmeitzner – Jan Erik Schulte (Hg.), Vergleich als Herausforderung. Festschrift für Günther Heydemann zum 65. Geburtstag. Göttingen 2015, S. 171–180.
Der Wiener Gipfel 1961 : Kennedy – Chruschtschow (2011)1
Wien, 4. Juni 1961. Zum Schluss des Wiener Gipfels : Chruschtschow : „Drohungen von Ihrer Seite werden uns nicht aufhalten. Wir wollen keinen Krieg, wenn Sie ihn uns aber aufnötigen, wird es ihn geben !“ Darauf Kennedy kühl : „Ja, wie es scheint, wird es einen kalten Winter geben in diesem Jahr.“ So endete der Wiener Gipfel am letzten Tag zum Thema Berlin. In den entscheidenden Punkten : Berlinkrise und Atomtest-Stopp, ohne Ergebnis. Binnen weniger Monate geriet die Welt an den Rand eines Atomkrieges : in Berlin und vor allem in Kuba. Dabei sollte vor fünfzig Jahren, am 3. und 4. Juni 1961, der Kalte Krieg eine Atempause einlegen. Der neu gewählte amerikanische Präsident, 1
Der Artikel basiert auf der Neuerscheinung : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Natalja Tomilina – Alexander Tschubarjan – Günter Bischof – Viktor Iščenko – Michail Prozumenščikov – Peter Ruggenthaler – Gerhard Wettig – Manfred Wilke (Hg.), Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow. Innsbruck – Wien – Bozen 2011. Die Publikation ist ein Ergebnis des gleichnamigen Forschungsprojektes, an dem von 2008 bis 2011 rund sechzig Wissenschaftler aus Europa, Russland und den USA unter Leitung des L. Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung (Leitung : Stefan Karner, Koordination : Barbara Stelzl-Marx) in enger Projekt-Kooperation arbeiteten. Säulen des Forschungsnetzwerkes waren das Russische Staatsarchiv für Zeitgeschichte in Moskau (ehem. Archiv des ZK der KPdSU, Natal’ja Tomilina und Michail Prozumenščikov), die Russische Akademie der Wissenschaften in Moskau (Alexander Tschubarjan und Viktor Iščenko), das Center Austria der Universität New Orleans (Günter Bischof), das Institut für Zeitgeschichte, München – Berlin (Horst Möller und Gerhard Wettig) sowie Manfred Wilke, Berlin. Das Projekt wurde außerdem von der Österreichisch-Russischen Historiker-Kommission empfohlen. Zudem entstand aus der Forschungskooperation und in enger Abgleichung ein Dokumentenband in russischer Sprache mit Schlüsseldokumenten zum Wiener Gipfel und dessen Vorgeschichte. Siehe Stefan Karner – Natal’ja Tomilina – Aleksandr Čubar’jan – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), „Venskij val’s“ cholodnoj vojny, Moskau 2011. Sowie eine Dokumentation in deutscher Sprache von Gerhard Wettig, Dokumentation Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. München 2011. Einige Beiträge dieses Bandes werden auf Englisch in der Harvard Cold War Studies Book Series der Harvard University erscheinen, wofür Mark Kramer herzlich gedankt sei. [Siehe Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), The Vienna Summit and its Importance in International History. Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham 2014.] Besonders verwiesen wird auf die beiden in deutscher Sprache erschienenen Monographien von Gerhard Wettig, Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958. München 2011 ; und von Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte. Berlin 2011.
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John F. Kennedy, und der sowjetische Partei- und Regierungschef, Nikita S. Chruschtschow, sollten diese Hoffnungen in Wien bei einem Gipfeltreffen erfüllen. Die Hoffnungen, so wurde schnell klar, waren illusorisch, und es kam völlig anders : Chruschtschow heizte die schwelende Berlin-Krise an und ließ schon zwei Monate später, am 13. August 1961, West-Berlin abriegeln, 1962 stationierte er in Kuba Mittelstreckenraketen, die jederzeit die großen Städte der USA mit Atombomben treffen konnten. Die gefährlichste Krise im Kalten Krieg. Der Wiener Gipfel also ein Fehlschlag ? Nur auf den ersten Blick, denn er hatte kaum zählbare positive Ergebnisse. Schon auf den zweiten Blick zeigt sich ein anderes Bild. Wien war ein Wendepunkt im Kalten Krieg, in der totalen Konfrontation. Zum ersten Mal waren beiden die Konsequenzen eines Atomkrieges in aller Deutlichkeit klar geworden und die Notwendigkeit, jede Chance zu nützen, diesen zu verhindern. Der „Friede durch Angst“ und die Bereitschaft zum Dialog über verschiedene, auch geheimdienstliche Kanäle, hielt bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion dreißig Jahre später.
Kennedy angeschlagen, Chruschtschow am Höhepunkt seiner Macht Kennedy und Chruschtschow hatten sich erst sehr spät, Mitte Mai, endgültig für den Gipfel in Wien Anfang Juni 1961 entschieden. Freilich aus ganz unterschiedlichen Gründen : Kennedy, erst kurz im Amt, war angeschlagen, gesundheitlich gehandicapt und außenpolitisch in der Defensive : Das US-Fiasko in der Schweinebucht auf Kuba Mitte April 1961, der befürchtete Domino-Effekt in Südostasien, wo nach Laos auch Vietnam und Kambodscha kommunistisch zu werden drohten, die Erfolge der Sowjets im Weltraum, die fragiler gewordene NATO-Allianz, das Problem Kongo, wo man Patrice Lumumba mit offensichtlicher Beteiligung der CIA im Jänner 1961 ermordet hatte, und die andauernde Haft des abgeschossenen U2-Piloten Garry Powers in Moskau. Daher brauchte Kennedy einen außenpolitischen Erfolg. Ein Gipfel mit dem Kremlchef, einfach zum Kennenlernen, doch medial inszeniert, sollte es sein. Ohne große Vereinbarungen, schon gar nicht über die „heiße Kartoffel“ Berlin. Genau dies wollte aber Chruschtschow. Und er war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Erfahren im politischen Infight, konnte er Erfolge vorweisen : die Entstalinisierung, Wirtschaftsreformen im Inneren, ein starkes Engagement in der „Dritten Welt“, die Erfolge im Weltraum (am 12. April hatte Gagarin als erster Mensch die Erde umkreist) und die atomare Aufrüstung seines Landes hatten ihn stark gemacht. Chruschtschow ließ 1960 kurzerhand den
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Pariser Gipfel wegen des amerikanischen U2-Spionagefluges platzen und gab Themen vor : vor allem die Strategien des begrenzten Krieges, der „friedlichen Koexistenz“ und schließlich die offenen Drohungen eines Atomkrieges. Zudem hatte er durch spektakuläre Auftritte (während seiner dreizehntägigen USA-Reise 1959 oder vor der UNO) auch das Interesse der westlichen Medien erweckt, mit denen er erstaunlich geschickt zu agieren verstand. Ein Mann zum Angreifen, der sich nicht hinter den Kreml-Mauern versteckte. Der Zeitgeist schien auf seiner Seite. In diesem Gefühl der Überlegenheit glaubte er, alle Völker würden künftig die Überlegenheit des Sozialismus erkennen und sich der UdSSR zuwenden. Wie in Kuba : „Castro ist doch kein Kommunist. Aber durch Ihre Aktionen […] wird er einer !“, triumphierte er gegenüber Kennedy.
Die Vorbereitungen Die Vorbereitung der beiden auf den Gipfel war kurz, ganz besonders für Kennedy, der dazwischen noch einen Kanada-Besuch absolvierte. Die Sowjets schalteten den Gesprächen in Wien eine Sondersitzung des ZK-Präsidiums in Moskau sowie Besprechungen in Kiew und Bratislava/Pressburg vor. Ähnlich die Amerikaner : Sie terminisierten einen „Minigipfel“ mit Charles de Gaulle in Paris vor und eine Besprechung mit Harold Macmillan in London nach dem Wiener Gipfel, um die NATO-Verbündeten bei der Stange zu halten.
„Ist er gereizt, so schwillt die linke Schläfe an“ Denn die europäischen Verbündeten der USA waren über das Desaster in der Schweinebucht schockiert und begannen an der Verlässlichkeit der Amerikaner unter ihrem neuen Präsidenten zu zweifeln. Kennedy musste also handeln und ihnen durch eine Art persönlicher Diplomatie seine Planungen und Entscheidungen erklären. Macmillan und Konrad Adenauer hatten ihn schon Ende März und Anfang April 1961 in Washington aufgesucht. Dabei ging es vor allem um Berlin, die problematischen militärischen Einsatzpläne (contingency plans), deren Durchführung in einen Atomkrieg zu münden drohte. Argwöhnisch war auch de Gaulle. Zusätzlich wollte er den US-Einfluss in Europa prinzipiell schwächen. Die Briten wollten eine engere und exklusive atomare Zusammenarbeit mit den USA und deren Unterstützung für ihren EWG-Beitritt, gegen den
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sich wiederum de Gaulle wandte. Kennedy versuchte auszugleichen und stellte den französischen Plänen eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa („grand design“) entgegen, das die Bundesrepublik Deutschland zufriedenstellte. Kennedys Außenpolitik der „New Frontiers“ hatte sich aktuell an sechs Stellen zu zeigen : – im Verhältnis zur Sowjetunion (“Let us never negotiate out of fear. But let us never fear to negotiate”), – im verbesserten Verhältnis zu den Partnern in der Allianz, – in Berlin, – in einem Strategiewechsel gegenüber den Ländern der „Dritten Welt“ – in der Reduzierung der Atomtests, ohne dabei den Vorsprung der USA gegenüber der Sowjetunion zu verspielen, – in einer Exit-Strategie für die aufrechte Drohung einer totalen nuklearen Vernichtung, die einen auch selber treffen würde. Auf die Sowjet-Strategie des „begrenzten“ Krieges folgte Kennedys Strategie des „flexible response“, allerdings mit der Gefahr, ein Krieg könnte auf Europa beschränkt werden. Mit den briefing books des State Departments zog sich Kennedy für ein Wochenende auf den Familiensitz in Hyannis Port zurück. Parallel dazu instruierten ihn CIA-Psychologen und trainierten die bekannten, abrupten Gesprächswechsel des Kremlchefs. Kennedy sollte, so der Rat der CIA-Instruktoren, stets die Ader an der linken Schläfe Chruschtschows beobachten : „Ist er gereizt, so schwillt sie an.“ Dazu kam, dass nach seinem Kanada-Besuch Kennedys äußerst schmerzhaftes Rückenleiden aus dem Zweiten Weltkrieg wieder akut wurde. Um sich einigermaßen körperlich aufrecht halten zu können, linderte Kennedy während der Gesprächs- und Veranstaltungspausen in Wien seine Rückenschmerzen mit physiotherapeutischen Übungen und trug fast ständig einen Rückenschutz. Chruschtschow konzentrierte sich in der Vorbereitung auf den Wiener Gipfel vor allem auf die Frage Berlin, deren Lösung aus seiner Sicht in seine außenpolitischen Leitlinien eingebettet sein sollte : – die „friedliche, kompetitive Koexistenz“ mit dem Westen als Form des weltweiten Kampfes zur Durchsetzung des sozialistischen Systems, – die Forcierung der atomaren und konventionellen Aufrüstung, um mit den USA waffentechnisch gleichzuziehen, – die Verbesserung der Beziehungen zu China unter Mao Tse-Tung, – die Demonstration von Stärke innerhalb des Warschauer Paktes, – die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen in „Dritte Welt“-Ländern.
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„Schärfe passt Kennedy nicht in den Kram“ Tatsächlich war seit der zweiten Berlin-Krise, die Chruschtschow 1958 ausgelöst hatte, die Zukunft Berlins zum akuten Problem des Kalten Krieges geworden. Wie schon Stalin 1948 versuchte auch Chruschtschow, die West alliierten aus dem vierfach besetzten Berlin zu vertreiben. Dabei zeigte er taktisches Geschick und forderte eine „entmilitarisierte Freie Stadt“. Bei einer Weigerung des Westens drohte er, mit der DDR einen separaten Friedensvertrag zu unterzeichnen. Dies hätte die automatische Inkorporation Westberlins in die DDR und die Übernahme der KP-Herrschaft in der Stadt bedeutet. Zentraler Streitpunkt waren die unterschiedlichen Auffassungen über den Status von Berlin. Die UdSSR stellte sich auf den Standpunkt, die Stadt sei Teil der Sowjetzone gewesen und gehöre daher inzwischen zum Territorium der DDR. Lediglich aus Großzügigkeit sei man bereit, West-Berlin den Status einer autonomen, freien Stadt zuzubilligen. Dagegen beriefen sich die Westmächte in ihren Besatzungsrechten auf das 1945 gemeinsam erworbene Okkupationsrecht. Ein Friedensvertrag, so erklärte die Sowjetunion, müsse endlich die „Überreste des Krieges“ beseitigen, die mit dem Berlin-Status und der noch nicht fixierten deutschen Ostgrenze nach wie vor bestünden. Genau diesen Friedensvertrag wollte Chruschtschow in Wien gegenüber dem „schwachen“, jungen US-Präsidenten durchsetzen. Sofort nach dem Beginn des Notenwechsels über ein Gipfel-Treffen suchte Chruschtschow wiederholt US-Botschafter Thompson, zu dem er auch persönlich ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, dazu zu bewegen, bei Kennedy die Erfüllung der sowjetischen Berlin-Forderungen zu erreichen. Zwecklos. Kennedy wollte Berlin nicht zum Kernthema in Wien machen. Am 26. Mai 1961, kurz vor seiner Abreise, fand noch eine Sondersitzung des ZK-Präsidiums statt, bei der Chruschtschow leiser auftrat. Er erwarte keine Zustimmung der USA und Westdeutschlands zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit der DDR mehr. Seinem Ärger und seiner Hilflosigkeit machte er dabei mit deftigen Worten Luft und bezeichnete Kennedy als „Hurensohn“. Er hoffe aber, dass Kennedy keine Brücken abbrechen wolle, denn „Schärfe passt [Kennedy] gegenwärtig nicht in den Kram !“ Die westlichen Besatzungstruppen in West-Berlin werde man nicht gewaltsam aus der Stadt vertreiben und auch nicht ihren Abzug fordern, doch beabsichtige er, die westlichen Luftkorridore zwischen der BRD und West-Berlin aufzuheben.
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„Am gefährlichsten ist Amerika“ Chruschtschow setzte den Präsidiums-Mitgliedern auseinander, dass er nicht auf Einigung setze, sondern West-Berlin als den [Gordischen] Knoten betrachte, den er durchschlagen müsse. Dies würde nachhaltige Folgen für die NATO haben, auch wenn die Bundesrepublik das Bündnis nicht verlassen werde : „Sie kann und wird nicht austreten.“ Aus den sowjetischen Geheimdienstberichten über die Haltung der verschiedenen NATO-Staaten zog Chruschtschow auf der Präsidiumssitzung den Schluss : „Wenn man die Aggressivität Deutschlands betrachtet, so macht uns das keine Angst und verwundert uns nicht. Aber nicht sie [die Bundesrepublik] entscheidet über einen Kriegsbeginn. Am gefährlichsten ist Amerika. [Es] hat die reale Macht.“ Chruschtschow sah generell die Möglichkeit, dass die USA einen Krieg beginnen würden. Gegen einen solchen würde sich, so Chruschtschow jedoch Westdeutschland am meisten wehren, ebenso Frankreich und England. Denn ein Atomkrieg würde dort stattfinden. Daher prophezeite er seinem Politbüro : „Zu 95 Prozent wird es keinen Krieg geben.“ Seinen Gesprächspartner kannte Chruschtschow lediglich von einer kurzen Begegnung während seiner USA-Reise 1959, aus Kennedys Aussagen im Wahlkampf, seinen Reden, die im Kreml mit besonderer Akribie analysiert wurden, sowie aus den Einschätzungen in den Berichten seiner Geheimdienstleute. Obwohl er im Wahlkampf eher Sympathien für Kennedy gehegt hatte, degradierte er ihn jetzt – nach dem Fiasko Kennedys in der Schweinebucht – vor den Präsidiumsmitgliedern : „Das ist ein junger Mann, fähig – das muss man ihm lassen. Aber eine Auseinandersetzung führen und die amerikanische Öffentlichkeit hinter sich bringen, das kann er nicht.“
Der Gipfel Chruschtschow traf, begleitet von seiner Frau Nina, seiner Schwiegertochter, Außenminister Andrej A. Gromyko und einer größeren Delegation bereits am 2. Juni 1961 per Bahn in Wien ein. Kennedy landete tags darauf in Wien. Er wurde von seiner Frau Jackie, seiner Mutter Rose, Außenminister Rusk, seinem engen Berater Sorensen und einer riesigen Delegation begleitet. Die österreichische Bundesregierung unter Alfons Gorbach hatte alles an Sicherheit und Komfort aufgeboten, um den Gipfel zu einem Erfolg zu machen und sechs Jahre nach dem Ende der alliierten Besatzung und der Neutralitäts-Erklärung der Welt zu zeigen, dass man wieder in der Lage sei, Konferenzen
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dieser Größenordnung auszurichten und einen strikten Neutralitätskurs steuere. Neben den Gipfelgesprächen, abwechselnd in den Botschafter-Residenzen, gab es ein Damenprogramm und einen Staatsempfang in der kaiserlichen Sommerresidenz Schloss Schönbrunn. Die Wiener Gespräche am 3. und 4. Juni waren viel mehr als das bloße Abtasten, auf das Kennedy eingestellt war. Chruschtschow war erzürnt, weil er von Thompson und Kroll schon wusste, dass Kennedy nicht über Berlin verhandeln oder gar die Position der USA aufgeben werde. Also wünschte er die Gespräche mir Kennedy geradezu herbei und konnte es kaum erwarten, den jungen Präsidenten vorzuführen und ihn zu demütigen. Was ihm gleich am Anfang auch gelang. Denn Kennedy ließ sich, entgegen dem Anraten seiner Berater, auf eine ideologische Debatte ein, die er nur verlieren konnte.
Kuba Zu Kuba hielt der Kremlchef dem US-Präsidenten die Kontraproduktivität der US-Invasion in der Schweinebucht unter die Nase : „Dort [in Kuba] hat eine Handvoll patriotisch gesinnter Menschen mit Fidel Castro an der Spitze das diktatorische Regime gestürzt, weil das Volk das Elend und die Rechtlosigkeit nicht mehr aushalten konnte.“ Weil die USA Batista unterstützten, „übertrug sich der Hass des Volkes auf die amerikanischen Monopole. […] So kommt es, dass Ihre Politik im Grunde Wasser auf die Mühlen der Kommunisten ist.“ Kennedy entgegnete zaghaft, er würde Castro unterstützen, „wäre seine Regierung aufgrund freier Wahlen an die Macht gelangt.“
Laos Darauf ging man zu Laos über, das 1954 unabhängig geworden, doch bald unter kommunistischen Einfluss geraten war. Nach langer Diskussion fand man einen Kompromiss, den einzigen in Wien. Beide Seiten wollten ihren Einfluss in der Region geltend machen, um die Kämpfe sofort zu beenden und den Weg zur Schaffung eines neutralen Laos zu ebnen. 1962 beschloss die 14-Mächte-Konferenz in Genf die am Wiener Gipfel in die Wege geleitete Neutralisierung von Laos. In der Laos-Frage hatte Chruschtschow nachgegeben, weil er offensichtlich Laos für Deutschland tauschen wollte. Gegenüber seinen Beratern äußerte er die Hoffnung, Kennedy würde ihm dadurch in der Berlinfrage entgegenkommen. Eine Fehlkalkulation. Als Chruschtschow nach dem ersten Tag in die sowjetische Botschaft zurückkehrte, war er nicht nur
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mit seinem eigenen Verhalten zufrieden, sondern charakterisierte Kennedy als „Schwächling“ und „Schwätzer“.
Berlin Erst am zweiten Tag kam man zur Berlin-Krise. Beide Seiten versuchten zu begründen, weshalb die Aktionen der Gegenseite zum Krieg führen würden. Kennedy : „Weil man uns jetzt durch eine einseitige Handlung nach West-Berlin jagt, nachdem man uns unserer vereinbarten Rechte beraubt hat, dann verwandeln sich alle Verpflichtungen der USA gegenüber anderen Staaten in Schall und Rauch und niemand wird jemals den USA wieder Glauben schenken.“ Darauf Chruschtschow : „Sie sprechen über Ihr Ansehen, berücksichtigen aber unser Ansehen nicht. […] Sie wollen unseren Staat erniedrigen, aber wir werden das nicht erlauben.“
Das erste nukleare Ultimatum der Geschichte In dieser aufgeheizten Atmosphäre erneuerte der Kremlchef die schon 1958 formulierten Forderungen und übergab dem amerikanischen Präsidenten das erste nukleare Ultimatum der Geschichte. Und der Kremlchef zielte auf Berlin : Sollten die Westmächte nicht zur Beteiligung am Friedensvertrag und zur Aufgabe ihrer Rechte in Berlin bereit sein, werde die UdSSR diese Regelungen allein mit der DDR vornehmen, was in letzter Konsequenz einen Atomkrieg bedeute. Jetzt wollte es Kennedy genau wissen : „Bedeutet dies, dass der freie amerikanische Zugang nach West-Berlin blockiert wird ?“ „Genau das“, erwiderte Chruschtschow. Darauf Kennedy : „Nicht akzeptabel !“ Und Chruschtschow („Ich möchte Frieden, aber wenn Sie einen Atomkrieg wollen, dann können Sie ihn haben“) setzte nach und polterte : „Wollt ihr wegen Berlin einen Krieg auslösen, so wäre es besser, wenn der Krieg jetzt gleich stattfindet als später, wenn es noch viel schlimmere Waffen gibt.“ Die entscheidende Frage des Duells war nie vorher zu stellen gewesen und war auch nie beantwortet worden : Hätte einer der beiden tatsächlich den Abzugshahn für Atombomben gezogen ? Und aus welchem Anlass hätte er dies getan ? Wegen Berlin ? Oder blufften beide nur ? Dazu Chruschtschow-Berater Fedor Burlackij : „Kennedy glaubte jedenfalls, Chruschtschow könnte Atomwaffen einsetzen – ein Irrtum. Chruschtschow glaubte ebenfalls, Kennedy sei zu weich, um Atomwaffen einzusetzen – ebenfalls ein Irrtum. Beide hatten falsch kalkuliert. Die Welt kam nur flüchtig davon.“ Kennedy blieb jedenfalls
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standfest. Oleg Trojanovskij, der Chruschtschow sehr nahe stand, schrieb das Gegenteil : Beide hätten nicht auf den Knopf gedrückt.
„Es wird einen kalten Winter geben …“ Nach dem Mittagessen, bei dem Kennedy noch den versöhnlichen Genius loci beschworen hatte, setzte Chruschtschow nochmals nach : „Drohungen von Ihrer Seite werden uns nicht aufhalten. Wir wollen keinen Krieg, wenn Sie ihn uns aber aufnötigen, wird es ihn geben.“ Auf Chruschtschows wiederholte Drohung, er werde den Friedensvertrag auf jeden Fall im Dezember 1961 unterzeichnen, beendete Kennedy das Gespräch mit der kryptischen, doch deutlichen Warnung an den Kremlchef : „Ja, wie es scheint, wird es einen kalten Winter geben in diesem Jahr.“ Chruschtschow war mit dem Treffen in Wien weitestgehend zufrieden, während Kennedy vor allem von Chruschtschows Verhalten entsetzt war. In London erlebte ihn Macmillan noch aufgebracht und zugleich beeindruckt. Die beiden Männer sahen einander persönlich niemals wieder. Der Wiener Gipfel markierte den Übergang zur Phase der Entscheidung zur Absperrung West-Berlins und schließlich zum Bau der Berliner Mauer. Wien machte, wie es Tim Naftali ausdrückte, Kennedy auch zu einem „besseren Präsidenten, ohne die Welt irgendwie unsicherer zu machen.“ Sofort nach seiner Rückkehr bekräftigte der US-Präsident in einer Rede an die Nation die Rechte der Westmächte in West-Berlin. Der von Kennedy prognostizierte „kalte Winter“ trat bereits im Sommer ein : am 13. August 1961, zwei Monate und neun Tage nach dem Wiener Gipfeltreffen, wurde der Status quo der Frontlage des Kalten Krieges in Europa einbetoniert, die Mauer in Berlin gebaut. Erschienen in : Stefan Karner, Der Wiener Gipfel 1961 : Kennedy – Chruschtschow, in : Historicum. Zeitschrift für Geschichte. Frühling – Sommer 2011. Wiener Gipfel, S. 12–15.
Der „Prager Frühling“: Moskaus Entscheid zur Invasion (2008)
Nach der Öffnung bislang verschlossener Politbüroakten des ZK der KPdSU kann die sowjetische Politik um den „Prager Frühling“ und seine militärische Niederwerfung detailliert dargelegt werden. Es ist Dienstag, der 20. August 1968, kurz vor 22 Uhr. In der Abenddämmerung über Prag landet eine sowjetische Militärmaschine. Luftlandetruppen, längst gedrillt für ihren Einsatz, aber unvorbereitet auf die tatsächliche Situation, besetzen den Tower und die Abfertigungshalle des Flughafens. Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes beginnt, der „Prager Frühling“ wird gewaltsam beendet. Die Vorgeschichte begann 1953. Stalins Tod und die erste Entstalinisierung, ausgehend von Nikita Chruščevs Geheimrede 1956, hatten auch in der Tschechoslowakei zu einer Verurteilung des Personenkults geführt. Seit 1957 amtierte Partei- und Staatschef Antonin Novotný. Er hatte nicht nur sein Land durch vorsichtige Wirtschaftsreformen in die „erste Liga“ des COMECON gebracht, Anfang der 1960er-Jahre die Stalinisten ausgeschaltet und einen Spalt der Liberalisierung und Meinungsfreiheit (etwa durch Live-Fernsehdiskussionen in Kooperation mit dem ORF) geöffnet, sondern auch 1964 als einziger Ostblockführer der Absetzung Chruščevs durch Leonid Brežnev kritisch gegenübergestanden. Letzteres hatte ihm Brežnev übelgenommen. Als sich in der ČSSR 1967 Unzufriedenheit und Unruhe breit machten, formuliert vor allem von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen wie Václav Havel und Pavel Kohout, und sich Novotný gegen die Stationierung sowjetischer Raketenbasen stellte, ergriff Brežnev die Gelegenheit. Die Würfel für die Absetzung Novotnýs fielen bereits Anfang Dezember 1967 während eines überraschenden „Urlaubsbesuches“ des sowjetischen Parteichefs. Am 5. Januar 1968 musste Novotný von seinem Posten als Erster Sekretär der KPČ, der eigentlichen Machtposition, zurücktreten und für den slowakischen KP-Chef Alexander Dubček Platz machen. Novotný blieb Staatspräsident. Dennoch : Der Wechsel an der Parteispitze markierte den Beginn des „Prager Frühlings“, einer zunächst von der Parteispitze verordneten Reform des sozialistischen Modells, die sehr bald von breiten Bevölkerungsschichten übernommen wurde und sich Ende Juni immer weiter verselbstständigte, was den Druck auf die Reformer um Dubček erhöhte. Der Idealist Dubček, geschult in sowjetischen Partei- und Kaderschmieden, hatte sich weitgehend
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von der Doktrin gelöst und versucht, seine Vision eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen. Der Sozialismus erschien ihm weiterhin als beste Gesellschaftsform, doch hatte er sich von den Vorgaben aus Moskau weit entfernt. Dies bedeutete Druck von zwei Seiten : von den Hardlinern im Kreml und den KP-Chefs Walter Ulbricht und Władysław Gomułka einerseits und von den restaurativen, orthodoxen Kräften in der Tschechoslowakei andererseits. Schon im März 1968, zwei Monate nach seiner Inthronisation, brüskierte Dubček den Kreml, als er die Einladung einer Militärdelegation nach Moskau ablehnte. Die restaurativen Kräfte um Novotný gaben sich freilich noch nicht geschlagen. Im März planten sie die Verhaftung der Reformer, General Vladimir Janko sollte mit seiner Panzerdivision vorgehen und nach einer Liste mit 1.030 Namen Verhaftungen durchführen. Als die Liste öffentlich wurde, beging Janko Selbstmord und Novotný musste zurücktreten. Die Ernennung von General Ludvík Svoboda zum neuen Staatspräsidenten, der sofort über tausend politische Gefangene amnestierte, galt als Schritt zur Festigung der Position der Reformer. Heute wissen wir, dass sich Svoboda im August 1968, knapp fünf Monate später, gegen die Dubček-Gruppe stellte und die Position des Kremls stärkte. Am 5. April 1968 folgte das entscheidende Plenum der KPČ mit einem „Aktionsprogramm“, das binnen zwei Jahren von der Regierung umgesetzt werden sollte und das in den an Moskau orientierten europäischen KP-Zentralen die Alarmglocken schrillen ließ : Die KPČ verzichtete weitgehend auf ihr Machtmonopol, ein Schritt, den erst wieder Michail Gorbatschow Ende der 1980er-Jahre wagte, mit dem Ergebnis des Endes der KP-Herrschaft und der Sowjetunion. Im Einzelnen wurde beschlossen, eine teilweise Privatisierung der Wirtschaft (Klein- und Mittelbetriebe) zuzulassen, die Wirtschaft von politischen Direktiven freizuhalten und Betriebsräten Entscheidungskompetenzen zu geben. Die Anerkennung der bürgerlichen Grundfreiheiten wurde vollzogen, von der Rede-, Reise- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien bis zur Gründung von Vereinigungen. Das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken sollte auf föderativer Basis neu geregelt werden. Aus dem KPČ-Plenum ging eine neue Führung hervor, die 15 der 19 neuen Minister in die neue Regierung unter Oldřich Černík entsandte. Innenminis ter Josef Pavel stimmte Neubesetzungen im Geheimdienst nicht mehr mit der Moskauer KGB-Zentrale ab, wie es bis dahin Usus gewesen war. Zudem rückten Frantisek Kriegel und Jozef Smrkovský in die erste Reihe der Reformer auf. Bei einer hastig einberufenen ZK-Sitzung in Moskau zur Lage in der
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ČSSR kamen die Sowjetführer am 10. April 1968 zu folgender Sprachregelung : „Wir werden die Tschechoslowakei nicht aufgeben !“ Diese grundsätzliche Willensäußerung wurde auf politischer und militärischer Ebene umgesetzt. Schon nach wenigen Tagen begann der Oberbefehlshaber der Truppen des Warschauer Pakts, Marschall Ivan I. Jakubovskij, in Polen und daraufhin auch in Berlin, Sofia und Budapest Konsultationen. Das Ziel waren gemeinsame Militärmanöver in der Tschechoslowakei. Die militärische Lösung des Problems sollte zur politischen Option werden. Die Prager Führung kam – in realistischer Einschätzung des Zwecks des Manövers – in die Zwickmühle : Bündnisverpflichtung oder Ablehnung. Schließlich stimmte sie den Manövern zu. Die ersten, beschickt von Panzertruppen Polens und der Sowjetunion, begannen schon im Mai in Südpolen. Ab 19. Juni begannen schließlich in der Tschechoslowakei große Manöver des Warschauer Paktes („Šumava“), von denen einzelne Truppenverbände bis zur Invasion nicht mehr abzogen. Die SED-Führung in Berlin, insbesondere die Staatssicherheit, begann mit der Anlage von Dossiers über die führenden Persönlichkeiten in Prag. Sie dienten nach der Invasion als Basis für Säuberungen im Kaderapparat der KPČ. Ostdeutsche Behörden begannen Ende April, die deutschen Sendungen von Radio Prag zu stören. In der ČSSR hatten sich die Reformer mit dem „Aktionsprogramm“ und der Regierungsbildung fürs Erste gegen die „Konservativen“ durchgesetzt. Die Regierungserklärung vom 24. April 1968 machte dies – trotz der Treuegelöbnisse gegenüber Moskau und dem Warschauer Pakt – deutlich, als man die Aufhebung der Zensur, die Rehabilitierung von politischen Opfern, die Erweiterung von Reisemöglichkeiten und Wirtschaftsreformen versprach. Der Sozialismus wurde nicht zur Diskussion gestellt. Spätestens jetzt war für den Kreml ein weiteres, schwerwiegendes Problem in der kommunistischen Bewegung entstanden, weil die Funken der Ideen von Prag überzuspringen drohten. Die Unterstützung des Dubček-Kurses war unüberhörbar : aus Belgrad und Bukarest, aus den Kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs, aus der Linken der deutschen und französischen „68er-Bewegung“ und nicht zuletzt durch den Faktor China, der den Prager Reformern mehr Handlungsspielraum gab, weil die Moskauer Ideologen, wie sich Brežnev nach dem Einmarsch ausdrückte, „ein Maximum an Aufmerksamkeit auf die Entlarvung der Revision des Leninismus von links, vonseiten der Gruppe Mao Tse-Tungs, richten mussten“, was naturgemäß Kräfte band. In der ČSSR hatte der politische Reformprozess zu einer starken Solidarisierung weiter Teile der Bevölkerung, besonders der Jugend und Intellektuellen, mit der KP-Führung geführt. Wesentlich trugen dazu die gewährten persönlichen Freiheiten bei, etwa die weitgehende Reisefreiheit, auch ins
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westliche Ausland und an die Adria. Zehntausende aus westlichen Staaten kamen im Gegenzug in das Land. Ein Spalt im „Eisernen Vorhang“ hatte sich aufgetan. Dazu kamen die Aufhebung der Pressezensur („Literarni listy“, die neue Zeitschrift des Schriftstellerverbandes unter Eduard Goldstücker, wurde zur publizistischen Plattform der Demokratisierung), Meinungsvielfalt und unzensierte Radio- und TV-Sendungen. Der tschechoslowakische Film (etwa von Milos Forman) setzte internationale Maßstäbe. Neue Vereine wie K231 (nach einem Strafgesetzartikel) und KAN (Klub engagierter Parteiloser) wurden zu Sammelbecken von Reformern außerhalb der Partei. Es kam zu Diskussionen über die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei. Nach Jahren der Unterdrückung erlebte die katholische Kirche einen Aufbruch. Es gab berechtigte Hoffnungen der Slowaken auf mehr Mitsprache im Staat, auf Anerkennung ihrer nationalen Selbstständigkeit im Rahmen einer Föderation und schließlich die Hoffnung vieler Tschechoslowaken, auf diesem Weg dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Block Moskaus entrinnen zu können. Die Bewegung des „Prager Frühlings“ kulminierte am 27. Juni 1968. An diesem Tag veröffentlichten der Schriftsteller Ludvík Vaculík und weitere 67 Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler das sogenannte „Manifest der 2000 Worte“ (Dva tisíce slov), eine Abrechnung mit 20 Jahren KP-Herrschaft. Die weitere Demokratisierung, so das Manifest, könne nur außerhalb der KPČ gesichert werden. Damit stellte man den Sozialismus als Gesellschaftsform überhaupt in Frage. In Moskau brachte das Manifest das Fass zum Überlaufen. Noch in der Nacht darauf soll Brežnev von Dubček einen „sofortigen Angriff der Volksmilizen gegen die konterrevolutionären Kräfte“ gefordert haben. Für den Kreml war das Manifest ein Aufruf zur Konterrevolution in der Tschechoslowakei, obwohl sich die KPČ vom Manifest distanziert hatte. Dubček gehorchte dem KPdSU-Generalsekretär nicht, denn die Masse der Bevölkerung hatte das Manifest begeistert aufgenommen. Die Reformen in der Tschechoslowakei wurden insbesondere in Ost-Berlin mit Missfallen beobachtet. Es war die SED, welche die Reformen des „Prager Frühlings“ zum ersten Mal als Konterrevolution bezeichnete. Unterstützung und Bekräftigung in ihrer Einschätzung fand sie vor allem durch die KP-Chefs Polens und Bulgariens, Gomułka und Todor Živkov. Aufgrund der Auswertung der neu geöffneten Moskauer Akten kann der Entscheidungsprozess im ZK der KPdSU von Januar bis zum Einmarsch im August 1968 in vier Phasen unterteilt werden : 1. Die Phase der Wahrnehmung. Sie wurde am 23. März 1968 in Dresden abgeschlossen und gegenüber den Tschechen und Slowaken mit der Be-
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kanntgabe der politischen Forderungen nach Restauration verbunden. Die folgenden Phasen wurden von der Suche nach einem Weg zur Durchsetzung der Dresdener Forderungen bestimmt. 2. Die Phase des politischen und militärischen Drucks von Ende März bis Ende Juni 1968. 3. Die Phase des Manifests der „2000 Worte“, die Brežnev als „Emser Depesche“ nutzte, um den Druck auf die Reformer zu erhöhen, von Ende Juni bis Mitte Juli 1968. Die Würfel zum Einmarsch fielen schließlich Mitte Juli in Warschau, als die „Warschauer Fünf“ Dubček ein Ultimatum setzten. 4. Die letzte Phase ab dem 17. Juli, als das Politbüro grundsätzlich über die militärische Aktion und die politische Vorbereitung des bürokratischen Putsches in Prag entschied, über die Zwischenspiele in Cierná und Tisou/ Schwarzau a. d. Theiß und Bratislava/Pressburg, bis zur militärischen Intervention.
Die Wahrnehmung Nach der Wahl Dubčeks beschränkte sich der Kreml darauf, die Lage in der ČSSR als schwierig und widersprüchlich zu bezeichnen und „der tschecho slowakischen Führung soweit wie möglich zu helfen“. Man sei, wie man der KPČ-Führung immer wieder zu verstehen gab, mit den Beschlüssen des Januarplenums und dem eingeschlagenen Reformkurs einverstanden. Anders sahen dies dagegen vor allem die ostdeutschen, polnischen und bulgarischen Genossen. Nach der Lockerung der Zensur und den Absetzungen von KP-Funktionären begannen Teile der Moskauer Führung „besorgt“ zu reagieren, vor allem nach einem Bericht von Außenminister Andrej Gromyko und von KGB-Chef Jurij Andropov, den die beiden am 15. März 1968 dem Politbüro vorlegten. Das prognostizierte Horrorszenario: Ohne Gegenmaßnahmen drohe in der ČSSR der Kapitalismus und damit die Spaltung des Warschauer Paktes. Polens KP-Chef Gomułka traf sich – nach Absprache mit Moskau – als einer der Ersten bereits Anfang Februar mit der Prager Parteispitze. Dubčeks Bemühungen, die Lage in seinem Land in bestem Licht darzustellen, überzeugten Gomułka nicht. Anders Živkov: Er blieb trotz der Demontage Novotnýs, dem zweifellos die bulgarischen Sympathien zukamen, gelassen. Die SED-Führung, die ihr Bild aus den Informationen des DDR-Botschafters in Prag, Peter Florin, bezog, schlug indes Alarm :
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Die KPČ-Führung sei gespalten und könne ihre Führungsaufgabe nicht mehr ausüben. Der Reformflügel agiere mit einem offenen und einem illegalen Zentrum, das auch Kontakte zu westlichen Geheimdiensten unterhalte. Das offene Zentrum bestand für ihn aus den Reformern Ota Šik, Eduard Goldstücker, Jiří Pelikán, dem Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens, und dem Schriftsteller Pavel Kohout. Für die SED hing die weitere Entwicklung der KPČ an Kaderfragen. Das Schlüsselwort „Demokratisierung“ war für die SED das Synonym für einen konterrevolutionären Umschwung, den es im Interesse der DDR und des sozialistischen Lagers zu verhindern galt. Die Reformen mussten beendet werden, um das Machtmonopol der KPČ zu restaurieren, denn in Prag war die Konterrevolution ausgebrochen. Die erste Phase endete am 23. März in Dresden mit der ersten von mehreren Konferenzen der „Bruderparteien“. Živkov weilte in der Türkei, hatte aber zuvor Brežnev und Ministerpräsident Aleksej Kosygin versichert, Bulgarien sei bereit, falls notwendig, seine Armee einzusetzen. Kaum ausgesprochen, tauchte am Vorabend von Dresden in der vorbereitenden Sitzung des Politbüros in Moskau bereits der Gedanke auf, man solle auch „auf der militärischen Linie nachdenken“. Politbüro-Hardliner Kirill Mazurov sprach es offen an : „Wir haben uns auf die äußerste Maßnahme vorzubereiten.“ Die Führung der KPČ fand sich in Dresden vor einem Tribunal wieder. Brežnev stellte gleich zu Konferenzbeginn klar, die Fragen seien viel zu ernst, um sie zu protokollieren. Dennoch ließ die SED sie aufzeichnen. Das Protokoll ist die einzige Primärquelle über das Treffen, bei dem die Konfrontation gegen den Kurs der Prager Reformer begann. Dubček musste die Politik seiner Partei erläutern und sich dann von Brežnev nicht nur fragen lassen, was er unter „Liberalisierung der Gesellschaft“ verstehe, sondern sich auch den Vorwurf anhören, dass in der ČSSR die Gefahr einer Konterrevolution bestehe. Er forderte von Dubček, das Machtmonopol der KPČ wiederherzustellen : „Wir sind bereit, Ihnen moralische, politische und demokratische Hilfe zu geben.“ Drohend fügte er hinzu : „Wenn das aber nicht möglich ist oder wenn Sie das als falsch betrachten, dann können wir trotzdem gegenüber der Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht teilnahmslos bleiben.“ Das politische Ziel war formuliert : Die KPČ sollte ihr Machtmonopol behaupten und die „Konterrevolution“ aus eigener Kraft niederschlagen. Über das Dresdener Treffen wurde Stillschweigen vereinbart, an das sich vor allem Dubček hielt ; er ließ seine eigene Parteiführung im Unklaren über die sowjetischen Forderungen.
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Der politische und militärische Druck Die zweite Phase war bestimmt von der Suche nach einem Weg zur Durchsetzung der Dresdener Forderungen. Das „Aktionsprogramm“ und die geänderte Zusammensetzung der Parteiführung zugunsten der Reformer war ein erster, wichtiger Schritt zum Übergang vom Sozialismus sowjetischen Typs zu einem demokratischen Sozialismus. Diese Konzeption war nur durch die Demokratisierung der KPČ und eine Reaktivierung der legislativen und exekutiven Gewalten des Staates zu realisieren. Der Inhalt des „Aktionsprogramms“ war dem Kreml seit Mitte März bekannt und von Novotný nahestehenden Kreisen dem KGB übermittelt worden. War es zunächst in Moskau nur intern diskutiert worden, so kritisierte es Brežnev im Plenum des ZK der KPdSU am 6. April erstmals deutlich als „revisionistisch“. Dieses Signal verstanden einige „Bruderparteien“ sofort, allen voran die SED. In Moskau wurde das „Aktionsprogramm“ zur wichtigsten Triebfeder, die den „Falken“ wie dem Chefideologen Michail Suslov Auftrieb gab, zum Angriff überzugehen. Für Verteidigungsminister Marschall Andrej Grečko war klar : „Wir sind jederzeit bereit, auf Beschluss der Partei gemeinsam mit den Armeen der Länder des Warschauer Paktes dem tschechoslowakischen Volk zu Hilfe zu kommen, sollten die Imperialisten und Konterrevolutionäre versuchen, die sozialistische Tschechoslowakei den sozialistischen Ländern zu entreißen.“ Die Tschechoslowakei war den Militärs wichtig : sicherheits- und rüstungspolitisch, was besonders der KGB unter dem Hardliner Jurij Andropov so sah. Zu den wichtigsten Triebkräften, das tschechoslowakische „Problem“ gewaltsam zu „lösen“, wurden Ulbricht und Gomułka ; ihnen folgte Živkov. János Kádár in Ungarn zögerte. Für Ulbricht ging es um den eigenen Machterhalt. Der polnische Parteichef Gomułka unterstützte die Idee einer „bewaffneten Intervention“ und verlautbarte, dass er keinen anderen Ausweg sehe, „als die Truppen des Warschauer Paktes, auch die polnische Armee, auf das Gebiet der Tschechoslowakei einmarschieren zu lassen“. Auch die bulgarischen Genossen äußerten sich unmittelbar nach Dresden „entschieden für die Ergreifung aller Maßnahmen, auch militärischer, wenn es notwendig ist“. Živkov erklärte : „Es agieren dort westliche Kontaktstellen. In der Tschechoslowakei wie auch in Polen spielt der Zionismus eine große Rolle […]. Es ist dies alles auch das Wirken der jugoslawischen Führung, die über Rumänien, Polen und die Tschechoslowakei versucht, in unsere Familie hineinzuwirken. Es ist nicht notwendig, stalinistische Methoden der Vergangenheit anzuwenden, doch müssen wir […] Methoden wählen, mit denen wir in der
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Tschechoslowakei, in Rumänien und danach auch in Jugoslawien Ordnung schaffen können.“ Ende April kam Živkov zum Staatsbesuch nach Prag, wo er zum ersten Mal persönlich mit Dubček zusammentraf. Als dieser seine Reformen verteidigte, war für Živkov klar : Dubček ist ein Revisionist, in der ČSSR gibt es eine Konterrevolution und eine Restauration des Kapitalismus. Ebenso wie die SED hatten die Bulgaren an der Spitze der KPČ zwei revisionistische Zentren ausgemacht und betont, der konterrevolutionäre Prozess in Prag gehe weiter. Ulbricht stimmte diesem Befund zu und forderte ein zweites Treffen. Zu diesem kam es am 8. Mai in Moskau, wenige Tage, nachdem die KPdSU bilateral mit der KPČ verhandelt hatte. Bei den Moskauer Beratungen (ohne die KPČ) gerieten die Sowjetführer in eine für sie wohl eigenartig prekäre Situation. Einerseits forderten die „Bruderparteien“ äußerste Maßnahmen, andererseits war man sich im Kreml darüber im Klaren, dass solche nur den letzten Ausweg darstellen konnten. Daher sollte die KPČ-Führung zunächst noch nicht im Gesamten attackiert werden, in der Hoffnung, die „gesunden Kräfte“ würden an Einfluss gewinnen. Das wichtigste Ergebnis lag in der Zustimmung der Prager Führung zur Durchführung von Manövern der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei, möglichst nahe der westdeutschen Grenze. Von Mai an stand die „tschechoslowakische Frage“ laufend auf der Tagesordnung der ZK-Gremien in Moskau. Dennoch war der Tonfall in den Besprechungen relativ moderat, weil man „Dubček dazu bewegen (wollte), freiwillig im Land Ordnung zu schaffen“. Parallelen zu Ungarn 1956 zog vor allem KGB-Chef Andropov, ehemals sowjetischer Botschafter in Budapest : „In Ungarn fing es auch so an.“ Zu den „Falken“ im Politbüro und im ZK zählte neben Andropov, Mazurov, Suslov und Grečko auch der ukrainische KP-Chef Petro Šelest, der ein Überschwappen des Reformprozesses auf die Ukraine und damit auf das Sowjetimperium befürchtete. Im Kreml wurden die freien Medien in der Tschechoslowakei im Mai und Juni 1968 zum größten Reizfaktor und waren mitentscheidend für den Entschluss zum militärischen Eingreifen. Das Manifest der „2000 Worte“ brachte das Fass zum Überlaufen. Die „Falken“ im Kreml gewannen zusehends an Stärke. Unterstützt wurden sie von Hardlinern in einigen „Bruderparteien“, etwa Ulbricht oder Gomułka. Für die SED waren die „2000 Worte“ „ein Aufruf zur Konterrevolution.“
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Das Manifest der „2000 Worte“ Das Manifest löste im ZK der KPdSU eine breite Stimmung für eine militärische Lösung aus. Die politische Weichenstellung dafür erfolgte am 15. Juli 1968 beim Treffen der Fünf in Warschau. Die KPČ hatte die Teilnahme, wohl wissend, was sie dort erwarten würde, verweigert. Die fünf Parteien sandten einen gemeinsamen Brief an die KPČ, in dem sie ultimativ eine Kurskorrektur forderten („Warschauer Brief“). Der Führung unter Dubček trauten sie nicht mehr länger die dafür nötige Kraft zu. Der bulgarische Parteichef Živkov forderte als Voraussetzung für den Sieg über die „Konterrevolution“ die Besetzung der ČSSR durch Truppen des Warschauer Paktes. Dem widersprach in Warschau kein anderer Parteiführer. Im Gegenteil : Gomułka, Živkov und Ulbricht forderten vehement eine militärische Intervention. Ulbricht griff in Warschau Kádár scharf an und erklärte : „Der nächste Schlag wird gegen euch, gegen die Ungarische Volksrepublik, geführt werden.“ Brežnev – nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass Dubček „sein Mann“ in Prag war, für dessen Wahl er letztendlich auch eine gewisse persönliche Verantwortung spürte –, war der Einzige, der in Warschau noch eine gemäßigte Linie vertrat. Auf dem danach eilig einberufenen ZK-Plenum in Moskau spielte er nochmals auf Zeit und appellierte dafür, „gemeinsam mit den Bruderparteien alle politischen Mittel auszuschöpfen, um der KPČ und dem tschechoslowakischen Volk zu helfen, die sozialistischen Errungenschaften zu bewahren und zu verteidigen“, bevor die „äußersten Maßnahmen“ getroffen würden.
Vor dem Einmarsch Dennoch liefen parallel dazu die Vorbereitungen für den Einmarsch. Das Politbüro beauftragte offiziell am 22. Juli, wenige Tage nach dem Warschauer Treffen, Verteidigungsminister Grečko damit, „Maßnahmen für die Zeit nach dem Einmarsch zu ergreifen“. Noch einmal sollte mit Dubček eine „politische Lösung“ gesucht werden, und zwar auf Basis der Dresdener Forderungen. Ende Juli kam es zu bilateralen Verhandlungen im slowakischen Cierná nad Tisou (Schwarzau a. d. Theiß), die wider Erwarten aus Sicht des Kremls einigermaßen Erfolg versprechend endeten. Dubček hatte eine letzte „Chance“ erhalten, zumindest aber Zeit gewonnen. Doch am 3. August trafen in Bratislava die „Warschauer Fünf“ mit der KPČ zusammen und veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, die einer
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Legitimation des ins Auge gefassten „bürokratischen Putsches“ gleichkam. Während des Treffens übergab Vasil’ Bil’ak der sowjetischen Delegation den „Einladungsbrief der gesunden Kräfte“ der KPČ, in dem um eine „kollektive Hilfsaktion“ gebeten wurde. Die Übergabe des Briefes soll auf einer Toilette stattgefunden haben. Der angebliche Bruch der Erklärung von Bratislava durch Dubček wurde von den Sowjets dazu benutzt, um den Einmarsch zu rechtfertigen. Am 13. August ließ Brežnev Dubček in einem sehr emotionalen Telefonat fallen. Er warf ihm den Bruch der Absprachen von Cierná und Bratislava vor : Reformer wie Pelikán, Radiochef Zdenek Hejzlar oder Geheimdienstchef Ivan Sviták seien nicht ausgetauscht worden ; er habe die „Konterrevolution“ im Land und in den Medien nicht in den Griff bekommen und die Tschechoslowakei nicht auf einen moskautreuen Kurs zurückgeführt. Dubček reagierte fast apathisch, war gereizt und flüchtete sich in Ausreden. Als Zeichen der Solidarität mit den Reformern stattete der jugoslawische Staatschef Tito vom 9. bis 11. August der ČSSR einen Besuch ab. Er lobte den Reformkurs und wurde von der Bevölkerung begeistert empfangen. In der Presse gab es Gerüchte über eine engere Zusammenarbeit der Donaustaaten Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien. Am 16. August kam Rumäniens Staatschef Nicolae Ceauşescu nach Prag, um einen Freundschafts- und Bündnisvertrag abzuschließen. Ein Blitzbesuch von UNO-Generalsekretär U Thant zum bereits festgelegten Datum des Einmarsches wurde von den Sowjets in letzter Minute verhindert, dafür traf sich Dubček auf sowjetischen Vorschlag noch am 17. August abends mit Kádár in Komárno. Die Entscheidung zur Intervention fiel in Moskau. Das vollzählig versammelte Politbüro des ZK der KPdSU entschied am 17. August einstimmig, den Einmarsch „zum ehest möglichen Zeitpunkt“ durchzuführen. Am folgenden Tag trafen Živkov, Kádár, Ulbricht und Gomułka in Moskau ein und stimmten der Entscheidung zu. Gleichzeitig wurden die USA, die schon vorher beruhigende Signale nach Moskau gesandt hatten, darüber informiert, dass der laufende Truppenaufmarsch nicht gegen die NATO gerichtet sei. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 begann die „Operation Donau“. Das um Mitternacht noch versammelte ZK der KPČ, beschäftigt mit dem für September geplanten außerordentlichen Parteitag, verurteilte den Einmarsch, wies jedoch die Armee an, den Truppen der Sowjetunion, Bulgariens, Polens und Ungarns keinen Widerstand entgegenzusetzen. Die bereitstehenden beiden Divisionen der DDR-Volksarmee wurden im letzten Moment gestoppt : Man wollte jede Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938/39 vermeiden. Lediglich kleinere Trupps gelangten kurzfristig auf
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tschechoslowakisches Gebiet, teilweise, um Transparente zu entfernen : „1938 Hitler – 1968 Ulbricht“. Die wichtigsten Einrichtungen, die strategischen Punkte des Landes und die Redaktionen wurden besetzt, Untergrundsender zum Schweigen gebracht. Die Führung um Dubček wurde verhaftet und im Flugzeug nach Moskau gebracht. Dennoch misslang der bürokratische Putsch. Svoboda weigerte sich, eine neue Marionettenregierung einzusetzen, flog nach Moskau und wurde dort als Staatsgast empfangen. Hier sprach er sich für die Absetzung Dubčeks aus, wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht, dass Brežnev bereits mit Dubček gesprochen hatte und dem Kreml-Chef inzwischen klar geworden war, dass an Dubček kein Weg vorbeiführe, wollte man in der Tschechoslowakei keinen Bürgerkrieg riskieren und aus dem Parteichef einen Märtyrer machen. Der Blutzoll des Einmarsches und der Widerstandsaktionen der Bevölkerung wird mit bis zu 500 Opfern auf beiden Seiten angegeben. Die tatsächlichen Folgen von Prag 1968 waren viel langfristiger. Abgesehen von der bald so bezeichneten „Brežnev-Doktrin“, die fortan die Souveränität jedes kommunistischen Staates beschnitt, erfasste eine Welle des Protestes die Tschechoslowakei, die freie Welt und zahlreiche kommunistische Parteien in Westeuropa ; sie schwappte – trotz größter Vorsichtsmaßnahmen – auch auf die Ostblockstaaten, ja bis auf den Roten Platz in Moskau über. Prag 1968 bedeutete den Anfang vom Ende des Ostblocks. Erschienen in : Stefan Karner, Der „Prager Frühling“ – Moskaus Entscheid zur Invasion, in : Aus Politik und Zeitgeschichte, 20/2008, S. 6–12.
Von der Stagnation zum Verfall: Kennzeichen der sowjetischen Wirtschaft der 1980er-Jahre (2016)
Die entscheidende Frage zum Zustand der sowjetischen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten vor dem Zusammenbruch des Staates 1991 ist : Hätte die Sowjetunion ohne die Reformen der Perestroika unter Michail S. Gorbatschow wirtschaftlich überlebt ? Welche Alternativen hätte es für ein Überleben gegeben ?1 Hat Gorbatschow durch seine Reformen den Zusammenbruch beschleunigt und herbeigeführt, was etwa besonders Gorbatschow verneint, oder hätte die marode Wirtschaft den Crash des Sowjetsystems in jedem Fall herbeigeführt ?2 Es ist hier nicht der Raum, ein breites, umfangreiches Bild der Wirtschaft der Sowjetunion, vor allem seit den 1970er-Jahren, zu entwerfen. Lediglich ein kurzer Befund soll die Situation erläutern.3
Die sowjetische Wirtschaft bis in die 1980er-Jahre Die sowjetische Wirtschaft wuchs seit Beginn der 1950er-Jahre deutlich verlangsamt weiter. Der Boom des Wiederaufbaus nach dem Krieg war verebbt, 1
2
3
Vgl. Steven F. Cohen, Soviet Fates and lost Alternatives. From Stalinism to the New Cold War. New York 2009, S. 85–140. Gegen die Positionen und Thesen vom inneren Zusammenbruch der Wirtschaft des Sowjetimperiums tritt vor allem die revanchistische russische Literatur auf. Sie gibt vor allem Gorbatschow, den USA, nicht näher bezeichneten Kapitalstrukturen des Westens, selbst einer sogenannten Weltregierung von Lions, Rotariern, Freimaurern, Bilderbergern und anderen (Geheim-)Bünden die Schuld am Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Gorbatschow und seine engsten Berater seien im Solde des Westens gestanden. Unter der Fülle dieser Literatur, vgl. u. a.: Sergej Kara-Mursa, Krach SSSR. Moskau 2013 ; Anatolij Utkin, SSSR v osade. Moskau 2010 ; von amerikanischer Seite : Michael Beschloss – Strobe Talbott, At the Highest Levels. The Inside Story of the End of the Cold War. Boston 1993 ; Flugschriften wie : Pjataja kolonna v Rossii. Moskau 1995. Sojuz mozno bylo sochranit’. Belaja kniga. Dokumenty i fakty o politike M. S. Gorbačeva po reformirovaniju i sochraneniu mnogonacional’nogo gosudarstva. Moskau 2007 ; Aleksandr Bezborodov – Natalya Eliseeva – Vladimir Šestakov, Perestrojka i krach SSSR. 1985–1993. St. Petersburg 2010. Michail Polynov, Istoričeskie predposylki v SSSR. Vtoraja polovina 1940 – pervaja polovina 1980–ch gg. St. Petersburg 2012.
210
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
die billigen Arbeitskräfte aus den Gulag-Lagern und die Millionen an Kriegsgefangenen hatte man entlassen und Nikita S. Chruschtschow wandte sich verstärkt der wenig ertragreichen Landwirtschaft zu. Seine Losung, den Westen einzuholen und zu überholen („dostat i peregnat“) hatte – trotz großer Erfolge im Weltraum – mit der sowjetischen Realität nur sehr wenig gemein. Der bestehende Rückstand gegenüber dem Westen konnte nie aufgeholt werden und wurde bald allgemein sichtbar. Drastisch sichtbar und die Sowjetpropaganda Lügen strafend wurde dies auch für die breite Bevölkerung in dem Moment, als man die Informationsflut der westlichen Medien nicht mehr an den Staatsgrenzen stoppen konnte, verstärkt westliche Sender gehört wurden (wie „Radio Free Europe“) und westliche Printmedien ihren Weg durch den „Eisernen Vorhang“, den es auch zwischen den Brudervölkern gab, fanden. Eine erste Liberalisierung der Medienpolitik im Inneren (Zeitschrift „Novyj Mir“, Solženicyns Romane, Pasternaks „Doktor Živago“ u. a.) zeigte die Unterschiede zu den westlichen Werten (dargelegt etwa im KSZE-Prozess)4 auf, die notwendig gewordene Öffnung zum Westen (Chruschtschow : „Face to face mit Amerika“,5 West-Importe) zeigte die Rückständigkeit des Landes v. a. im Alltagsleben der Menschen und in der Breitentechnologie. Das Vertrauen in die Konkurrenzfähigkeit und Qualität der eigenen Produktionen ging verloren. Daher sah man sich auch gerade hier zu Eingriffen in das sowjetische Wirtschaftssystem genötigt. Den konstanten Wachstumsrückgang seit den 1950er-Jahren, vor allem der Einbruch in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre unter Leonid I. Brežnev bedingte vor allem :6 – Die Verringerung des Transfers der Ressourcen von Sektoren niedriger Produktivität zu Sektoren mit höherem Output, weil die ohnehin niedrige Produktionshöhe der Landwirtschaft ohne diese Maßnahmen gar nicht mehr zu halten gewesen wäre. Für den Einsatz moderner Agrartechnologie, die Arbeitskräfte für die Industrie frei gemacht hätte, fehlte es an Geld. Daher verschlang der ineffiziente Agrarsektor weiterhin Ressourcen und 4 5
6
Vgl. Yuliya von Saal, KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. München 2014. Licom k licu s Amerikoj. Rasskaz o poezdke N. S. Chruščeva v SŠA. Moskau 1960. Zum Hintergrund von Chruschtschows Reformen gibt es eine Fülle an Literatur. Verwiesen sei auch auf den persönlichen, umfangreichen und informativen Zugang seines Sohnes Sergej Chruščev, Nikita Chruščev. Reformator. Moskau 2010. Vgl. dazu u. a.: Philip Hanson, The Rise and Fall of the Soviet Economy. An Economic History of the USSR from 1945. London 2003 ; Sergej Kara-Mursa, Narodnoe chozjajstvo SSSR. Moskau 2012, der die tiefe ökonomische Krise der UdSSR als Mythos beschreibt ; N. V. Murškin u. a., Ekonomičeskaja istorija Rossii. St. Petersburg 2010 ; Paul Kengor, The Crusader. Ronald Reagan and the Fall of Communism. New York 2006.
Von der Stagnation zum Verfall
211
9 8 7 6 5
aktuell
4
simuliert
3 2 1 0 1935
1940
1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
Abbildung 1 : Das sowjetische Wirtschaftswachstum 1935–1985 in 5-Jahres-Intervallen (BIP/Kopf).
10,0
9,3
9,3
9,0 8,0 7,0 6,0 5,0
4,4
4,8
4,0 3,0
2,1
2,0
1,0
1,0
0,6
Abbildung 2 : Bruttonationalprodukt UdSSR 1951–1985 (Wachstum in Prozent).
1981-1985
1976-1980
1971-1975
1966-1970
1961-1965
1956-1960
1951-1955
0,0
212
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
bedeutende Gelder mussten eingesetzt werden, um etwa ergänzende Nahrungsmittelimporte zu bezahlen. – Der starke Rückgang an Implementierung neuer Technologien in die Produktion, was diese deutlich beschränkte. – Die Verlagerung von Ressourcen vom europäischen Teil Russlands nach Sibirien mit allen infrastrukturellen Problemen und mit einer viel teureren Rohstoff-Förderung. Generell basierte das Wachstum der sowjetischen Wirtschaft vor allem auf einer gigantischen Ausbeutung von Ressourcen und viel weniger auf technologischer Innovation. Die steigenden Produktionskosten, etwa für Erdöl, konnten in den Energiekrisen der 1970er-Jahre („Ölschocks“) (noch) durch die enorm gestiegenen Öl- und Gaspreise und die erzielten hohen Exportgewinne verdeckt werden. Diese Exportgewinne flossen allerdings weniger in den Ausbau und in die Modernisierung der Industrie und der Transportwege, als vielmehr in militärische „Abenteuer“, wie den Einmarsch in Afghanistan 1979, und in den Ausbau hochmoderner Waffensysteme, um der neuesten US-Waffentechnik (SDI) einigermaßen Paroli bieten zu können. Daher pendelte sich das Wirtschaftswachstum in den 1970er-Jahren zwischen ein und zwei Prozent ein. Eine Steigerung war aus eigener Kraft heraus nicht mehr möglich.7 Die Änderung des sowjetischen Wirtschaftssystems unter Gorbatschow, die Wirtschaftsreformen der Perestroika, war der letzte Versuch, die Sowjet union zu erhalten. Die folgenden Parameter beschreiben vor allem die gesellschaftspolitischen Auswirkungen des Niedergangs der sowjetischen Wirtschaft, wie diese sich in der DDR ausdrückten :8 – Die demographische Situation war äußerst besorgniserregend.9 Evident waren der Rückgang an Geburten und an Lebenserwartung sowie der Rückgang an arbeitender Bevölkerung. Die hohen Sterberaten waren vor allem das Ergebnis des weit verbreiteten Alkoholkonsums, der schlechten 7
8
9
Hillel Ticktin, Zur politischen Ökonomie der UdSSR (1973), in : Marcel van der Linden (Hg.), Was war die Sowjetunion ? Kritische Texte zum real existierenden Sozialismus. Wien 2007, S. 107–130. Angemerkt darf werden, dass der Wahrheitsgehalt und die Kohärenz selbst der amtlichen sowjetischen Statistiken und primären Daten zur Volkswirtschaft (vor allem Narchoz 1955f.) quellenkritisch einer besonderen Prüfung zu unterziehen sind. Dies belegt etwa der Sammelband Karl C. Thalheim (Hg.), Wachstumsprobleme in den osteuropäischen Volkswirtschaften. Berlin 1968, mit zahlreichen Einzelstudien und Beispielen. Kara-Mursa, Narodnoe chozjajstvo SSSR, S. 46f.; Linda J. Cook, The Political Economy of Russia’s Demographie Crisis, in : Neil Robinson (Hg.), The Political Economy of Russia. Lanham 2013, S. 97–119.
Von der Stagnation zum Verfall
213
80 70 60 50 40 30 20 10
Gesamt
Abbildung 3 : Lebenserwartung in Russland/UdSSR 1896–1989. 6
BIP
5
Produktivität
4
3 2 1 0 -1
1928-40
1950-60
1960-70
1970-75
1975-80
Abbildung 4 : Sowjetisches BIP und Produktivität, 1928–1985 (in Prozent).
1980-85
1989
Frauen
1980
1960
Männer
1940
1920
1900
1896
0
214
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
45 40 35
1965-1975
30
1975-1985
25 20 15
10 5
0 -5
-10 -15
Metall
Öl
Kohle
Andere
Lebensmittel
Leichtindustrie
Baustoffe
Maschinenbau
Chemikalien
Strom
-25
Gas
-20
Abbildung 5 : Produktivitätsrückgang in der Industrie 1965–1985 (in Prozent).
ökologischen Situation in den Ballungs- und Industrieregionen in Zentralsibirien, im Süden der Ukraine und im mittleren Ural. – Mit jedem Fünfjahresplan verringerte sich die Zahl an jungen Arbeitskräften. Während es zwischen 1971 und 1975 noch zwölf Millionen junger Beschäftigter in der Sowjetwirtschaft gab, sank diese Zahl auf rund drei Millionen zur Zeit der Perestroika. Dies führte zwangsläufig zu einem gigantischen Arbeitskräftemangel. – Der Rückgang an Produktivität war weithin sichtbar und hatte alle Industriebereiche erfasst. – Dasselbe galt für die Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs. – Das Desaster in der sowjetischen Landwirtschaft war allgemein bekannt und es war hausgemacht. Das sowjetische System konnte dem vor allem aus ideologischen Gründen nicht beikommen. So lieferten etwa die kleinen, privaten Landwirtschaften, mit zusammen 2,8 Prozent der Ackerfläche, rund 60 Prozent aller Kartoffeln, etwa 30 Prozent der Milcherzeugung, an Eiern oder Gemüse.10
10 Siehe auch : M. V. Konotopov – S. I. Smetanin, Ekonomičeskaja istorija. Moskau 2014, S. 363f., 376f.
Von der Stagnation zum Verfall
215
3
2,5 2 1,5
1 0,5 0
1960
1965
1970
1975
1976
1977
1978
1979
1980
Abbildung 6 : Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion 1960–1980 (in Prozent).
– Die allgemeine Lebensqualität ging in den 1980er-Jahren stark zurück. Zwar war ein großer Teil der Sowjetbürger an die Güterknappheit gewöhnt, vor allem von Fahrzeugen oder Wohnungen. Die Zuteilungsraten von sechs Quadratmetern Wohnfläche pro Person wurde vielfach gängige Praxis. – Doch nun wurden wegen des Rückgangs der Ernteerträge auch Lebensmittel knapp und die UdSSR zum größten Importeur von Gütern des täglichen Bedarfs und von Lebensmitteln.11 Die schlechten Produktionsergebnisse der Sowjetindustrie und der Landwirtschaft waren das Ergebnis unzureichender Technologie, Infrastruktur und dem Mangel an echten Leistungsanreizen : Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung waren seit 1979/80 rückläufig. Von diesen Ausgabenkürzungen waren allerdings der militärisch-industrielle Bereich und die eigentliche Militärtechnik weitgehend ausgenommen. Der zivile Bereich der Sowjetwirtschaft blieb technologisch vernachlässigt : 1985 gab es im ganzen Land lediglich ein paar Tausend Personalcomputer, während es zur gleichen Zeit in den USA bereits 17 Millionen waren. Eine gewaltige Nachfrage an westlicher Technologie, die deutlich auf die Handelsbilanz drückte.12
11 Ebenso Egor Gaidar, Gibel’ imperii. Uroki dlja sovremennoj Rossii. Moskau 2012, S. 208f., 226f. 12 Vneštorg SSSR 1979–1989. Stat. Sborniki. Moskau 1979f., zitiert nach Gaidar : Gibel’ imperii, S. 295f.
216
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
3,5
3
2,5
2
1,5
1
Abbildung 7 : Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Prozent des BIP 1950–1986. 40
Anteil des Imports an Maschinen- und Industrieanlagen an Gesamtinvestitionen, %
35 30 25 20
15 10 5 0 1970
1975
1980
1985
Abbildung 8 : Die Abhängigkeit der sowjetischen Ökonomie vom Import von 1970–1985.
Die sowjetische Wirtschaft hatte zwei Produktions-Ausprägungen : Einerseits High-Tech-Produktion in den Bereichen der Raumfahrt oder in der Waffenerzeugung, andererseits qualitativ miserable Produktionen der meisten anderen Erzeugungs-Paletten, was natürlich bald nicht mehr mit den gestiegenen Ansprüchen einer modernen, von den westlichen Informationskanälen nicht
Von der Stagnation zum Verfall
217
mehr gänzlich abgeschnittenen Gesellschaft, kompatibel war. So wurde der Schwarzmarkt eine immer häufigere Alternative, an jene Produkte zu kommen, die in den offiziellen Läden und Verkaufsorganisationen einfach nicht zu haben waren.
Reformen schaffen keinen Turn-off Um die Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz der sowjetischen Planwirtschaft zu steigern, wurde sie mehrfach Reformen unterzogen.13 Sie wurden ideologisch begründet und von oben dekretiert. Dazu zählten anfänglich etwa die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) mit einer gewissen Stärkung privaten Kleinhandels und Gewerbes, um die Versorgung der Bevölkerung einigermaßen sicherzustellen, die Einführung der Planwirtschaft auf allen Ebenen mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 zur Entwicklung der Schwerindustrie, die zwangsweise Vergesellschaftung der Landwirtschaft als entscheidende Etappe des Klassenkampfs („Kulakisierung“) oder Chruschtschows Reformen im Bereich des Privateigentums zur Ertragssteigerung der Landwirtschaft. Chruschtschow, der nahe daran war, die ökonomische Situation des Landes als Sackgasse zu bezeichnen, besann sich schließlich seiner kommunistischen Rhetorik, als er versprach : „Die jetzige Generation sowjetischer Menschen wird es noch erleben, im Kommunismus zu leben !“14 Ein leeres Versprechen, geeignet, weiter das Vertrauen in die sowjetische Wirtschaftspolitik à la longue zu schwächen. Nicht zuletzt hatte auch der jahrzehntelange, massive Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen, vor allem unter Stalin, die Schwächen des Wirtschaftssystems kaschiert und an die acht Prozent der ersten Nachkriegs-Fünfjahrespläne erbracht.15 Diese standen nun ab 1953/55 nicht mehr zur Verfügung. In dieser Situation versuchte Chruschtschow auch mit den wirtschaftspolitischen Ideen des Charkover Nationalökonomen E. G. Liberman das Ruder herumzureißen. Dieser hatte 1962 in der Parteizeitung Pravda den „Gewinn“ als eine wesent13 Einen guten Überblick zu den Reformen in der UdSSR, besonders ihrer letzten Jahre, bietet : Timothy J. Colton, The Dilemma of Reform in the Soviet Union. New York 1986. 14 Zitiert nach Bezborodov – Eliseeva – Šestakov, Perestrojka i krach SSSR, S. 47. 15 Vgl. u. a.: Konotopov – Smetanin, Ekonomičeskaja istorija, bes. S. 372f.; Stefan Karner, Prisoners of War in the Economy of the Former Soviet Union : 1941–1945, in : V. Prucha (Hg.), The System of Centrally Planned Economies in Central-Eastern and South-Eastern Europe after World War II and the Causes of its Decay. 1st International Economic History Congress. Milano 1994. Pre-Conference in Prague 1994, S. 175–199.
218
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
liche ökonomische Antriebsfeder und die Planvorgaben als schädlich für die Entwicklung der Wirtschaft bezeichnet. Ein ideologisches Tabu war gebrochen.16 Allein die letztlich daraus abzuleitende Konsequenz, Privateigentum und Marktwirtschaft, wurde von der politischen Zensur der Sowjetunion nicht mehr in die öffentliche Diskussion gebracht. Dennoch : Libermans Ideen hatten auch in der Folge in verschiedenen Schriften und auch im Untergrund weitergelebt. Auf ihnen hätte Brežnev aufbauen können. Tatsächlich versprach man sich von Brežnev anfänglich einen pragmatischeren Zugang zur Wirtschaftspolitik. Und Alexej N. Kossygin, der nach Chruschtschow 1964 Ministerpräsident geworden war, hatte sich wesentlich auf die Wirtschaftspolitik konzentriert. Doch von einer Abschaffung des Fünfjahresplans, oder wenigstens von einer entscheidenden Kurskorrektur, war nun keine Rede mehr. Im Gegenteil : Mit der Wiederbelebung des „Gossnab“ (Komitee für die materiell-technische Versorgung) wurde eine zentrale staatliche Stelle für die sowjetische Volkswirtschaft geschaffen. Das Komitee koordinierte vor allem die Allokation von Ressourcen, verteilte nach den Planungsvorgaben die Waren auf die Verbraucher, stellte die Lieferungen und die Kooperationen zwischen den einzelnen Industrien sicher und kontrollierte die Erfüllung der Vorgaben des Fünfjahresplans. Selbst nach den offiziellen Angaben sank in der Folge das Tempo der Arbeitsproduktivität : von 4,4 Prozent zwischen 1971 und 1979 auf 3,8 Prozent zwischen 1976 und 1979. Damit einher ging ein absoluter Rückgang der Produktion. Die Praxis des sozialistischen Aufbaus zeigte sich als das genaue Gegenteil von Lenins Losung : „Die Arbeitsproduktivität ist die wichtigste, entscheidendste Bedingung für den Sieg des neuen gesellschaftlichen Aufbaus“. In der Praxis zeigte es sich, dass dies auch für seinen Niedergang stimmte.17 1979 begann man mit einer neuen wirtschaftlichen Reform. Sie sollte zu einer „Verbesserung der Planung und eine Beschleunigung der Wirkungsweise der ökonomischen Mechanismen auf die Effektivität und Qualität der Produktion führen. Besonders finanzielle Anreize sollten dies garantieren. Doch gerade dies führte zu höheren Verkaufspreisen und heizte die Inflation und das Staatsdefizit an. Damit wurde endgültig klar, dass mit den Mitteln eines freien Marktes der von oben gesteuerten monopolisierten Wirtschaft nicht beizukommen war und dies geradewegs in eine sozial-ökonomische Krise führte.“18
16 Pravda, 9. September 1962 (E. G. Liberman : „Plan. Gewinn. Prämie“). 17 Otečestvennaja istorija 1985–2000, S. 45. 18 Ebd.
Von der Stagnation zum Verfall
219
Daher begann in der Sowjetunion in der Übergangsphase nach Brežnev, unter Jurij Andropov, ab 1983 eine autoritäre Modernisierung top down. Im Kern wurden dabei, ganz nach stalinistischer Methode, die Fesseln fester gezurrt. Dies konnte der Effizienz der Sowjetwirtschaft keinen Schub mehr geben. Daher blieb das sowjetische Wirtschaftssystem, ausgenommen die Top-Leistung in Raumfahrt und Waffenproduktion, in den wesentlichen Sektoren ineffektiv und mit dem Westen nicht konkurrenzfähig. Wirtschaftspolitisch nannte es Egor Gaidar eine „Ineffektivität vor dem Hintergrund einer Stabilität“.19 Der Abstand zum Westen vergrößerte sich zudem laufend : technologisch, in Bildung und Ausbildung. Es fehlte der Sowjetwirtschaft einfach an Effizienz, Privateigentum und freien Entwicklungsmöglichkeiten. Es gab kein freies Unternehmertum, die Bürokratie, letztlich aufbauend auf dem Fünfjahresplan, war überbordend, die Korruption war überall anzutreffen. Die „Russische Mafia“ hatte selbst in den Transaktionen der Kommunistischen Partei ihren Einfluss geltend gemacht. Bekannt wurde besonders die Dnepropetrovsker Mafia, der engere Beziehungen zu Brežnev selbst und später zu Viktor Grišin nachgesagt werden, Viktor Sokolov, der korrupte Manager der elitären Supermarktkette „Eliseevski“ wurde unter Jurij Andropov, dem Antipoden von Viktor Grišin, nur wenige Monate vor dem Start der Perestroika hingerichtet. Einige Experten, unter ihnen auch solche aus der USA, sind der Meinung, dass die Krise der sowjetischen Wirtschaft durch Misswirtschaft in der Planung und Verwaltung verursacht wurde. Diese Argumentation deckt sich jedoch mit jener ehemaliger Sowjet-Experten, die diese benutzten, um die Ineffizienz des ganzen Wirtschaftssystems zu verschleiern. Wie war es möglich gewesen, dieses ineffiziente System für eine so lange Zeit aufrechtzuerhalten und dabei noch Spitzenplätze in bestimmten Bereichen wie der Raumfahrt zu belegen ? Die folgenden Faktoren dienen als Erklärung für dieses Phänomen : – Das totalitäre, kommunistische Parteiregime, das großen, repressiven Druck ausübte. – Die großangelegte Abschottung von westlichen Medien, die noch bis Anfang der 1980er-Jahre möglich war. – Die Ausnützung der COMECON-Länder als Lieferanten von Finalprodukten.
19 Gaidar, Gibel’ imperii.
220
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
39,3
UdSSR USA Frankreich
18,2 14,7
1,8
2,7 1970
4,7
7,4 3,4
2,4 1980
1990
Abbildung 9 : Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen im Vergleich, Steigerungen gegenüber 1960 (in Prozent).
– Die Förderung der Öl- und Gasindustrie, um Defizite im Außenhandel und im Staatshaushalt zu verschleiern. Der Export von Rohstoffen und Energie allein stieg zwischen 1960 und 1985 von 16,2 auf 54,4 Prozent ! Die relativ geringen Ausgaben für den Lebensstandard der Bevölkerung, etwa für das Gesundheitssystem. Dadurch wurden die Lebenserwartung gesenkt, geringere Ausgaben für Pensionen getätigt und der Wohnbau eingeschränkt.
Die Phase der Stagnation Gegen Mitte der 1980er-Jahre war die Kluft zwischen der Sowjetunion und den westlichen Staaten derart groß geworden, dass es nicht mehr möglich war, den Informationsfluss aus dem Westen zu unterbinden. Die sowjetische Propaganda verfehlte ihre Wirkung, denn die westlichen Lebensrealitäten, über die man nun Bescheid wusste, machten sie unglaubwürdig. Brežnev kann deshalb als Totengräber der sowjetischen Wirtschaft bezeichnet werden. Die Jahre seiner Amtszeit waren keine „goldenen Zeiten“, eher eine Phase der Stagnation („epocha zastoja“). Brežnev hatte den Grundstein für den Zusammenbruch in den 1970er-Jahren gelegt, indem er notwendige Korrekturen des Wirtschaftssystems verabsäumte : – Er passte die Planwirtschaft nicht an die globalisierte Welt, deren Wirtschaftssysteme auf Arbeitsteilung basieren, an. Diese Schritte hätten Reformen benötigt, die von Gorbatschow später durchgeführt wurden.
Von der Stagnation zum Verfall
221
– Er steigerte weder die Arbeitsproduktivität noch die Qualität der Pro dukte.20 – Er verbesserte weder die Arbeitsethik noch die Moral des Volkes durch effektive Anreizsysteme. – Durch das Verabsäumen von großangelegten Privatisierungen konnte er die katastrophalen Probleme der Landwirtschaft nicht lösen, so die ständige Abhängigkeit von Getreideimporten. Diese Reformen hätten einen radikalen Bruch des politischen und ideologischen Kurses bedeutet, den Brežnev weder wollte noch vollziehen ließ. Es gab zudem kaum noch gefestigte Kommunisten im Land, die Partei hatte ideologisch abgewirtschaftet und war nur noch eine hohle Hülse. Die KPdSU hatte in der Praxis ihre ideologischen Postulate längst über Bord geworfen. Misswirtschaft und Korruption blühten nicht nur in allen Teilen der Wirtschaft, sondern gerade in der Partei, wie etwa die Prozesse nach Brežnevs Tod, wie gegen die Parteimanager Sergej Medunov in Krasnodarsk, Nikolaj Trebugov in Moskau, gegen Innenminister Nikolaj Ščelokov oder gegen den Schwiegersohn Brežnevs, Jurij Čurbanov, deutlich machten.21 – Der schleichende Niedergang unter Brežnev wurde durch den Einfluss des Kalten Krieges noch beschleunigt,22 vor allem durch die hohen Militärausgaben für das Wettrüsten der Supermächte und durch den Rückgang des Ölpreises. – Der militärisch-industrielle Komplex mit rund Zehntausenden Fabriken, geheimen Städten, städtebildenden Betrieben, Konstruktionsbüros, wissenschaftlichen und Forschungsinstituten war der größte Faktor der sowjetischen Wirtschaft der gesamten Nachkriegszeit.23 – Der gesamte Bereich diente im Kalten Krieg dem militärischen Gegengewicht zum Westen. Sein Anteil etwa an der Maschinenbauindustrie betrug durch die 40 Jahre hindurch über 60 Prozent, der Anteil für Militärausgaben am gesamten Bruttonationalprodukt lag bei 23 Prozent. Die Panzerproduktion lag Anfang der 1980er-Jahre um das 4,5-Fache über jener der USA, die Produktion an BTR um das Fünffache, Artilleriewaffen um 20 Vgl. A. A. Vanjukov, Epocha zastoja. Moskau 2008. 21 Siehe etwa : Istorija Rossii. 20 vek. 1939–2007. Bd. 2. Moskau 2009, S. 507. 22 Dazu im Überblick : N. I. Egorova – A. O. Čubar’jan (Hg.), Cholodnaja vojna i politika razrjadki. Diskussionnye problemy. Bd. 1. Moskau 2003. 23 Alexander Bezborodov, Der militärisch-wissenschaftlich-industrielle Komplex der UdSSR im Kalten Krieg, in : Stefan Karner – Erich Reiter – Gerald Schöpfer (Hg.), Kalter Krieg. Beiträge zur Ost-West-Konfrontation 1945–1990. Unserer Zeit Geschichte, 5. Graz 2002, S. 67–72.
222
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
das Neunfache, Atom-U-Boote um das Dreifache. Bis 1975 wurden über 50 Prozent aller Forschungsmittel für die Finanzierung von Militärprojekten aufgewendet. Zentrale Forschungsinstitute bestimmten wesentlich die „Form der Verteidigung“, wie das Institut für Messgeräte (CNIItotčmaš), das Leningrader Institut für Transportmaschinenbau (Transmas) für die Panzertechnik oder das Institut für Systeme der Luftfahrt (GosNIIAS) für die Luftfahrt oder das Maschinenbau-Institut (CNIImaš) für die Interkontinentalraketen.24 Und Luftfahrtminister Petr V. Dement’ev brachte die Einstellung der Branche auf den Punkt : „Wir liefern ihnen [den Militärs] nicht jene Waffen, die sie haben möchten, sondern jene, die sie auch brauchen !“25 In der Militärindustrie der USA arbeiteten rund 2,2 Millionen, in jener der Sowjetunion 5 bis 8 Millionen Menschen. Allein dies führte zu einem gewaltigen Ungleichgewicht in der Wirtschaft.26 Während die Erfolge der Raketentechnik und der Atomprojekte aktiv zur Schau gestellt wurden, entwickelte sich allerdings die Elektronik- und Computerindustrie relativ unbemerkt und bescheiden. Ihre Forschungslabors standen in der Akademie der Wissenschaften und im Bereich des Ministeriums für Radio industrie. Obwohl man die Bedeutung der Computer für die zukünftige Militärtechnik prinzipiell erkannt hatte, wurde ihre Rolle für die Beschleunigung des militärtechnischen Fortschritts total unterschätzt. Zum noch weitgehend computerfreien Land in den 1970er-Jahren trug auch bei, dass westliche EDV-Hochtechnologie nicht in die Sowjetunion exportiert wurde. Microsoft rüstete erst Anfang der 1990er-Jahre Tausende Computer-Zentren in der Sowjetunion mit Hard- und Software aus. Entsprechende politische Demarchen, vor allem der Kommunisten und der Liberaldemokraten unter Žirinovskij, in der Staatsduma waren die Folge des von westlicher EDV-Technologie völlig abhängig gewordenen Staates und seiner Militärforschung.27 1985 führten Kostensteigerungen in der Erdölproduktion, beim Import der dazu benötigten Technik und der Preisverfall bei Erdöl seit 1981 (nachdem
24 Ebd., S. 69. 25 Zitiert nach Nezavisimaja gazeta. 9. Juli 1993, S. 5 („Naše Ministerstvo Oborony poka ešče ne Pentagon“ [Unser Verteidigungsministerium ist noch nicht das Pentagon]. Bezborodov : Der militärisch-wissenschaftlich-industrielle Komplex, S. 69f. 26 Vgl. Otečestvennaja istorija 1985–2005, S. 44 ; sowie Alexander B. Bezborodov, Vlast’ i naučno-techničeskaja politika v SSSR serediny 50-ych - serediny 70-ych godov. Moskau 1997 ; Alexander B. Bezborodov, Der militärisch-wissenschaftlich-industrielle Komplex. 27 Mehrere Gespräche mit dem Microsoft Generalmanager für Russland und die GUS mit Standort Wien, 1991/92.
Von der Stagnation zum Verfall
223
18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1950
1960
1970
1980
1987
Abbildung 10 : Sowjetische Verteidigungsausgaben. Prozentanteile am BIP.
Saudi-Arabien mehr Öl auf den Weltmarkt gepumpt hatte) zu einem drastischen Preisverfall bei Erdöl, einer Haupteinnahmequelle der sowjetischen Wirtschaft und des Staatsbudgets. Allein von 1985 bis 1986 sanken die Preise auf Rohstoffe, von deren Verkauf das sowjetische Staatsbudget, die Handelsbilanz, die Nachfrage am Markt, die Geldmittel für den Getreideimport, die Möglichkeit der Rückzahlung der Auslandsschulden, die Finanzierung der Armee und letztlich das BNP abhingen, um ein Mehrfaches. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl und Erdölprodukten sanken binnen vier Jahren, von 1984 bis 1987, um mehr als ein Viertel !28 Eine direkte Folge des internationalen Ölpreisverfalls, aber auch der Produktivität der sowjetischen Öl-Förderanlagen. Deren durchschnittliche Förderleistung sank zwischen 1975 und 1990 um mehr als die Hälfte von 652,2 auf 413,4 Tausend Tonnen pro Jahr und verringerte die Produktionsmöglichkeiten.29 Parallel dazu stiegen die Ausgaben für den Getreideankauf im Westen : Von 2,7 Milliarden Dollar 1987 auf 4,1 Milliarden Dollar im Jahr darauf !30
28 Die Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl und Erdölprodukten (in Milliarden Rubel) : 1984 : 30,9 ; 1985 : 28,2 ; 1986 : 22,5 ; 1987 : 22,8. – Gaidar, Gibel’ imperii, S. 322. 29 Toplivno-energetičeskij kompleks SSSR 1990. Moskau 1991, S. 140f.; siehe auch : Yu. Bobylev – A. Chemiavsky, The Economic Impact of the Crisis in Russian Oil Exploration and Production. Alexandria 1992, insbes. S. 63, 87 ; Gaidar, Gibel’ imperii, S. 388. 30 Gaidar, Gibel’ imperii, S. 419 nach : UNO-FAO Stat. 2005.
224
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
Das Sowjetsystem hatte keinen Spielraum, auf die enormen finanziellen Herausforderungen flexibel zu reagieren. Dazu kam, dass die politische Führung unter Gorbatschow auch in dieser äußerst angespannten Situation die bedeutenden Finanzmittel an die 73 weltweit agierenden KP-Regime und linken Arbeiterbewegungen nicht kürzte, wie etwa Valentin Falin, Leiter der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, kritisierte.31 Die Berichte an den Ministerrat der UdSSR 1988/89 sprechen unisono von einer äußerst kritischen Situation, die sich ständig weiter verschlimmere.32 In den 1970er-Jahren hatte man derartige internationale Marktentwicklungen noch mit den Gewinnen aus dem Verkauf von Erdöl und Gas abfedern können. Dies war jetzt nicht mehr möglich.33 Der vermutlich von den USA mitunterstützte Verfall des Ölpreises dürfte auch einer der entscheidenden Schläge gewesen sein, die letztlich den wirtschaftlichen Kollaps der Sowjetunion 1990/91 rasch herbeiführten. „Einerseits müssen wir die dringendsten, enormen Staatsschulden im Ausland bezahlen, andererseits fehlt uns das Geld, weil die Preise auf Öl, Holz und Baumwolle, unsere Hauptdevisenbringer, im Keller sind“, brachte Jurij D. Masljukov, Chef der staatlichen Planungsbehörde, die Situation auf den Punkt.34 Wegen der Zahlungsverzögerungen hatten westliche Firmen ihre Lebensmittelexporte in die UdSSR gestoppt, was in den Ballungszentren, vor allem jedoch im Kusbas und im Donbas die sozialen und politischen Konflikte weiter anheizte.35 Es gab nahezu keine Sitzung des ZK der KPdSU oder des Politbüros mehr, in welcher die schwierige Wirtschaftslage nicht das Hauptthema gewesen wäre.36
31 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii [RGANI], F. 89, op. 38, d. 55. Exzerpt aus dem Protokoll der Politbüro-Sitzung vom 28. Dezember 1988. Vgl. Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke (Hg.), Der Kreml und die Wende. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderbd. 15. Innsbruck u. a. 2014, S. 240–263. 32 Gaidar, Gibel' imperii, S. 333f. 33 Ebd., S. 260f. 34 4. Session der Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR, 26. November 1990. Moskau 1990, S. 187. 35 Gosudarstvennyi Archiv Rossijskoj Federatsii (GARF), F. 5446, op. 162, d. 1514. Vgl. dazu etwa das Schreiben des Vorsitzenden von „Prodintorg“, der zentralen sowjetischen Lebensmittel-Behörde an Regierungschef Nikolaj Ryžkov, 15. August 1990, zitiert auch bei Gaidar, Gibel’ imperii, S. 424f. 36 Vgl. etwa die Materialien der Plenen des ZK der KPdSU (Materialy plenuma CK KPSS) oder die Materialien des Moskauer Stadtsowjets der Volksdeputierten Materialy pervoj sessii Moskovskogo gorodskogo soveta narodnych deputatov RSFSR, 21-ogo sozyva, beide Moskau 1990.
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40 35 30 25
20 15 10
1991
1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
0
1975
5
Abbildung 11 : Ölpreisentwicklung 1973–1991 in US-Dollar/Barrel.
Am 23. März 1983 artikulierte US-Präsident Ronald Reagan seine Rhetorik gegenüber der Sowjetunion („Evil Empire“) noch schärfer, als er in einer Rede erklärte : „I call upon the scientific community which gave us nuclear weapons to turn their talents to the cause of mankind and world peace ; to give us the means of rendering these weapons impotent and obsolete.“37 Mit dieser Erklärung startete Reagan seine Strategic Defence Initiative (SDI), ein umfangreiches, modernstes Rüstungsprogramm, dem die schwächelnde Sowjetunion in dieser Phase wirtschaftlich und rüstungstechnologisch nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Die Kampfrhetorik des Warschauer Paktes, etwa aus Bulgarien oder der Tschechoslowakei, wirkte eher hilflos, wenn man Reagan mit Hitler verglich : „The very same words were heard by the world from Berlin just over 45 years ago when Germany was occupying Czechoslovakia.“38 Das sowjetische Engagement in Afghanistan seit 1979 war verlustreich und kostspielig.39 Rund 100.000 Sowjetsoldaten kämpften auf der Seite des Kabuler Regimes in Afghanistan gegen die Einheiten der von den USA unterstützten Mudschaheddin. Die Kosten des sowjetischen Engagements allein für 1985 wurden mit 2,6 Milliarden Rubel, davon mit 2 Milliarden für den Armee-Einsatz be-
37 Zitiert nach Kengor, The Crusader, S. 195. 38 Ebd., S. 211. 39 Vgl. u. a.: Dieter Kläy, Die Afghanistan-Intervention und der Zerfall der UdSSR, in : Martin Malek – Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe. Baden-Baden 2013, S. 203–213.
226
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
ziffert,40 was etwa einem Fünftel des sowjetischen Budgetdefizits von 1985 entsprach.41 Dies band große Ressourcen. Neben den Auswirkungen auf das Staatsbudget und die Wirtschaft des Landes hatte der Krieg große innenund gesellschaftspolitische und für die jungen Sowjetsoldaten auch psychologische Folgen. 14.597 Sowjetsoldaten und Offiziere fielen, 53.700 wurden schwer verwundet, 6.669 blieben dauerhaft invalid, weit über 100.000 Sowjetsoldaten litten unter schweren Infektionskrankheiten.42 Nach zahlreichen internen Auseinandersetzungen über die Sinnhaftigkeit dieses Engagements im Politbüro befahl letztlich Gorbatschow 1988 den sowjetischen Truppenabzug aus Afghanistan. Am 15. Februar 1989 verließ der letzte Sowjetsoldat, offiziell war es der kommandierende General der 40. Armee, Boris Gromov, afghanischen Boden.43 Afghanistan war eine ideologische Niederlage der Sowjetunion, weil Moskau außenpolitisch seinen ideologischen Kurs bei der Unterstützung von Dritte-Welt-Staaten damit augenscheinlich verlassen hatte.44 Gegen Ende der Brežnev-Ära hatte die Sowjetunion auch mit Unabhängigkeitsbewegungen in den westlichen und südlichen Teilen Russlands sowie in den russischen Grenzregionen zu kämpfen,45 genauer : in Polen, den Baltischen Staaten sowie in der Kaukasusregion.46 Die Probleme mit über 100 ethnischen Minderheiten im gesamten Imperium47 waren genauso schwerwiegend wie die innerethnischen Konflikte (zum
40 T. G. Archipova – A. B. Bezborodov – I. V. Bezborodova – S. I. Golotik – N. V. Eliseeva – L. A. Mozaeva, Istorija Rossii v novejšee vremja 1945–2001. Red. A. B. Bezborodov. Moskau 2001, S. 318. 41 Roj Medvedev, Sovetskij Sojuz. Poslednie gody žizni. Konec sovetskoj imperii. Moskau 2009, S. 96. 42 Istorija Rossii. 20. Vek. 1939–2007. Bd. 2. Moskau 2009, S. 521. 43 Archipova, Istorija Rossii, S. 319. Zu den Auseinandersetzungen im Politbüro vgl. u. a. Anatolij S. Černjaev, Sovmestnyj ischod. Dnevnik dvuch epoch. 1972–1991. Moskau 2010, S. 782f. 44 Kläy, Die Afghanistan-Intervention und der Zerfall der UdSSR, S. 210. 45 Mikhail Zirochov, Semena raspada : Vojny i konflikty na territorii byvšego SSSR. St. Petersburg 2012. 46 Egidijus Varejkis, Die baltischen Staaten als Katalysatoren des Zerfalls der UdSSR, in : Martin Malek – Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe. Baden-Baden 2013, S. 311–326. 47 Rudolf A. Mark, Ist die UdSSR an ihren Nationalitätenkonflikten gescheitert ?, in : Martin Malek – Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe. Baden-Baden 2013, S. 269–286; Valentin Michajlow, Die Rolle der autonomen Republiken der RSFSR im sowjetischen Zerfallsprozess, in : Martin Malek – Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe. Baden-Baden 2013, S. 419–461.
Von der Stagnation zum Verfall
227
Beispiel in Karabach, Ossetien, Abchasien oder in Transnistrien)48 oder die fundamental-islamischen Experimente, mehr Einfluss in der Gesellschaft zu gewinnen oder eigene, vom Islam dominierte Republiken zu begründen.49 Diese Bewegungen waren auch Konsequenzen der Islamischen Revolution im Iran.
Hätte das Sowjetsystem ohne Perestroika noch längere Zeit existiert ? Zerstörte also Gorbatschow mit seinen halbherzigen Reformen das sowjetische System ? Oder war das System schon nicht mehr funktionsfähig, bevor Gorbatschow die erste Position im Staat und in der Partei einnahm ? Mit anderen Worten : Hätte das Sowjetsystem ohne Perestroika und Glasnost noch länger existiert ? Nein. Denn, das Sowjetsystem war an sein Ende gekommen, lange vor Gorbatschow. Dieses Ende zu verlängern, war für ihn nicht mehr möglich. Die Kommunistische Partei hatte den Sowjetbürgern seit Jahrzehnten ein fortwährend steigendes Wirtschaftswachstum versprochen, den Westen einund zu überholen war ein jahrelanges Ziel. Auch für die 1980er-Jahre hatte die Partei unter Brežnev eine Steigerung des Wirtschaftswachstums und damit des Lebensstandards versprochen. Daher wirkten die Wachstumsraten von rund zwei Prozent zu Mitte der 1980er-Jahre auf die Menschen als eklatanter Misserfolg. Tatsächlich lagen sie im Bereich der USA (3 Prozent) oder der Bundesrepublik Deutschland (mit 1,6 Prozent). Ein wesentlicher Unterschied zu den Wirtschaften der westlichen Staaten war dabei allerdings, dass das sowjetische Wirtschaftssystem selbst keine endogenen Kräfte mehr zu einer notwendigen Kurskorrektur aufbringen konnte. Jene Agenda, die vom Parteiapparat bereits einen Tag nach dem Tod Brežnevs für den neuen Parteiführer, Jurij Andropov, am 11. November 1982 aufgestellt wurde, spiegelt die Hauptprobleme der Sowjetunion und ihrer Wirtschaft wider. Man verstand sie als allerletzte Chance, das System zu retten. Unter dem primären Ziel „das Volk mit Lebensmitteln zu versorgen und wieder eine Leistungsbereitschaft zu erzeugen“ wurden Andropov folgende Sofort-Maßnahmen empfohlen : 1. Die Beseitigung der Brežnev-Clique (d. h. den gesamten Nepotismus seines Umfeldes, die „Speichellecker aus Dnepropetrovsk und Moldawien“, das Luxusleben, die Jagdgebiete, die Villen usw.), um die moralische Autorität des Leaders zurückzugewinnen ; 48 Vgl. ebenfalls : Istorija Rossii. 20. Vek. 1939–2007. Bd. 2. Moskau 2009, S. 540f. 49 Ebd., S. 461f.
228
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
2. sofortiges Herausgehen aus Afghanistan ; 3. Jaruzelski klar sagen, dass er mit seiner Malaise allein zurechtkommen muss und klar machen, dass wir unter keinen Umständen in Polen einsickern werden ; 4. den sozialistischen Staaten klar machen, „dass sie es machen sollen, wie sie es wollen“, d. h. das Prinzip verwerfen, wonach, „was uns nicht passt, nicht sein darf und wir nicht zulassen“ ; 5. Abzug der SS-20 aus Europa ; 6. den militärisch-industriellen Komplex zähmen, die Armee auf ein Viertel verkleinern. Des Weiteren : Alle Dissidenten, inklusive Andrej Sacharov, ins Ausland entlassen, ebenso die zur Ausreise willigen Juden, Entlassung von 70 bis 80 Prozent der Minister, Verkleinerung des ZK, eine reale Selbstständigkeit für die 15 Republiken, Versorgung der Städte und Industrieregionen auf Kosten der Gebiete und Kreise, Übergabe von unbebautem Land an Pensionisten und an jene, die es bearbeiten wollen usw.50 Andropov, selbst Teil der damaligen Kreml-Gerontokratie,51 dazu bereits krank und zu großen Reformen nicht mehr fähig und in diesem Umfang wohl auch nicht willig, sagte 1983 resignativ nur : „Wir kennen die Gesellschaft nicht [mehr], in der wir leben !“52
Gorbatschows Wirtschaftsreformen Gorbatschows ökonomische Maßnahmen, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und damit auch das Sowjetsystem zu retten, waren zunächst vorsichtig, abwartend.53 In seiner Rede auf dem ZK-Plenum am 23. April 1985, etwa einen Monat nach seiner Wahl zum Generalsekretär der KPdSU, setzte Gorbatschow auf „wirtschaftliche und soziale Beschleunigung der Entwicklung des Landes“ (uskorenie),54 dem bald eine politische Forderung nach „Wende“ (povorot), also einer langsamen Abkehr von festgefahrenen Glei-
50 Černjaev, Sovmestnyj ischod, S. 516f.; zu den Reformen Andropovs vgl. ebenfalls Laszlo Csaba, Die Entstehung der sowjetischen Wirtschaftsreform, in : Österreichische Osthefte 1/1989, S. 18–55. 51 Vgl. Istorija Rossii. 20. Vek. 1939–2007. Bd. 2. Moskau 2009, S. 505f. 52 Nach Bezborodov – Elisseva – Šestakov, Perestroika i krach SSSR, S. 55. 53 Zum Übergang von Brežnev zu Gorbatschow vgl. u. a.: Oleg Grinevskij, Perelom. Ot Brežneva k Gorbačevu. Moskau 2004. 54 Bezborodov – Eliseeva – Šestakov, Perestroika i krach SSSR, S. 56f.
Von der Stagnation zum Verfall
229
sen, folgte. Etwa mit den, wie sich schnell zeigte, erfolglosen Maßnahmen zur Eindämmung der Trunksucht und des Alkoholismus im Volk.55 Um sich außenpolitisch etwas Luft zu verschaffen und den Staatshaushalt zu sanieren (siehe Tabellen 1 und 2) und insbesondere die Militärausgaben zu senken (siehe Abbildung 10), zog Gorbatschow u. a. die Sowjettruppen aus Afghanistan ab56 und vereinbarte mit Ronald Reagan gegen Jahresende in Genf die Wiederaufnahme des amerikanisch-sowjetischen Dialogs.57 Zur Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen bestellte er, nach der Pensionierung von Nikolaj A. Tichonov, den Generaldirektor des Uralmaš-Kombinates für Schwermaschinenbau in Sverdlovsk/Ekaterinburg, Nikolai I. Ryžkov, zum Ministerpräsidenten.58 Er hatte auch die Aufgabe, das aus dem Ruder laufende Staatsbudget zu sanieren.
Tabelle 1 : Der sowjetische Staatshaushalt 1985–1988 (in Milliarden Rubel). Jahr
Einnahmen
Ausgaben
Budgetdefizit
1985
372,8
385,6
12,8
1986
371,6
417,1
45,5
1987
378,9
430,9
52,0
1988
379,4
460,0
80,6
Quelle : Medvedev, Sovetskij Sojuz, S. 96.
Die Verschuldung der Sowjetunion im Westen stieg zwischen 1981 und 1988 um mehr als die Hälfte.
55 Aus der Fülle an Literatur verweise ich hier lediglich auf die Schriften Gorbatschows, darunter : Michail S. Gorbačev, Sobranie sočinenij. 16 Bde. Moskau 2010 ; Gorbačevskie čtenija. 3 Bde. Moskau 2010/11 ; Aleksandr Jakovlev, Perestrojka : 1985–1991. Moskau 2008 ; seines Mitarbeiters Anatolij S. Černjaev, Sovmestnyj ischod. Dnevnik dvuch epoch. 1972–1991. Moskau 2010. 56 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU vom 24. Januar 1989, abgedruckt in : Istorija sovremennoj Rossii. Dokumenty i materialy (1985– 1999). Bd. 1. Hg. von S. M. Sachraj and A. A. Klisas. Moskau 2011, S. 318f. 57 Beschluss des Obersten Sowjet vom 27. November 1985 über die „Ergebnisse des sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffens in Genf und die internationale Lage“, in : Istorija sovremennoj Rossii. Dokumenty i materialy (1985–1999). Bd. 1, S. 311–314. 58 Nikolai I. Ryžkov, XVII. Parteitag der KPdSU. Über die Hauptrichtungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der UdSSR 1986–1990 und für den Zeitraum bis 2000. Moskau 1986.
230
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
Tabelle 2 : Die Auslandsverschuldung der Sowjetunion in den kapitalistischen Staaten 1981–1988 (in Mrd. Dollar). Jahr
Auslandsverschuldung
1981
26,5
1984
22,5
1986
33,1
1987
40,1
1988
41,5
Quelle : GARF, F. 5446, op. 150, d. 73.
Die Delegierten des XVII. Parteitages, der die neuen wirtschaftlichen Zielvorgaben des Gespanns Gorbatschow-Ryžkov absegnete, waren kaum nach Hause zurückgekehrt, da explodierte am 26. April 1986 der 4. Reaktorblock des Atomkraftwerkes im ukrainischen Tschernobyl.59 Ein gewaltiger, teilweise durch eine anfängliche Informationsblockade selbst verschuldeter ökonomischer, ökologischer und humanitärer Imageschaden für die Sowjetunion und Gorbatschow folgte. Erst Mitte August 1986 hatte Gorbatschow wieder die Kraft, entscheidende wirtschaftspolitische Weichenstellungen vorzunehmen, indem er 20 Ministerien und 70 Großbetrieben erlaubte, ab Jahresbeginn 1987 direkte Beziehungen mit ausländischen, d. h. westlichen Partnern aufzunehmen und Joint Ventures einzugehen, zwar noch über Vermittlung der staatlichen Außenhandelsorganisation. Dieser Erklärung folgte ein halbes Jahr später der entsprechende Beschluss des Ministerrates unter Ryžkov mit dem Ziel „der Hereinbringung von ausländischem Kapital“. Damit war ein entscheidender ideologischer Damm gebrochen. Die radikale Kurskorrektur inklusive einer ideologischen Wende war zur Rettung der Union notwendig geworden. Gorbatschow erkannte dies spätestens 1987, als er wirtschaftsund gesellschaftspolitisch von der „Beschleunigung“ zur „Perestroika“ (Umbau) überging60 und am 24. September 1987 die Wiedergeburt des Un-
59 Siehe auch Kerstin S. Jobst, Die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, in : Martin Malek – Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.), Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hintergründe. Baden-Baden 2013, S. 251–268 ; Nikolaj Buchowetz – Marion Jerschowa, Super-Gau Tschernobyl. Vom Leben mit der Katastrophe. Graz u. a. 1996. 60 Die wichtigsten Dokumente zu den vertiefenden Reformen Gorbatschows werden auch abgedruckt in : Istorija sovremennoj Rossii. Dokumenty i materialy (1985–1999). Bd. 1, S. 124–308.
Von der Stagnation zum Verfall
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ternehmertums anpeilte, als der Ministerrat die Bildung von Handels- und Industriekooperativen genehmigte.61 Zusätzlich wurde Betrieben gestattet, selbstständig Entscheidungen zu treffen, was auch einer Abkehr von der Planwirtschaft gleichkam, ohne dass dies explizit so bezeichnet wurde. Bis zum 1. Januar 1990 hatten in der gesamten UdSSR 193.400 Genossenschaften mit über vier Millionen Beschäftigten ihre Tätigkeit aufgenommen. Ihr Umsatz an Waren und Dienstleistungen betrug 1989 rund 40 Milliarden Rubel. Zwei Drittel davon entfielen auf staatliche Betriebe oder Vereinigungen (meist auf Basis von Pacht- und Werkverträgen), ein Zehntel entfiel auf Staatsaufträge. Mit etwa sieben Milliarden Rubel Direktabsatz an die Bevölkerung konnten rund 1,5 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes der UdSSR erzielt werden.62
Das System ist nicht mehr zu retten Im internationalen Vergleich hatte die Sowjetunion 1987 etwa hinsichtlich der durchschnittlichen Lebenserwartung und des Pro-Kopf-Einkommens der Bevölkerung entscheidende Positionen verloren.
Tabelle 3 : Sowjetische Kenndaten im internationalen Vergleich 1987. Staat
Lebenserwartung in Jahren
BNP/Einw.in US-$
Japan
78
45.213
Frankreich
76
13.942
Großbritannien
76
12.270
BRD
75
14.730
USA
74
17.615
Sowjetunion
70
6.000
Quelle : P. Kennedy, Vstupaja v XXI. vek. Moskau 1997, S. 409 ; Otečestvennaja istorija 1985– 2005, S. 34.
61 Dirk Holtbrügge, Genossenschaften in der UdSSR. Vorboten eines freien Unternehmertums ?, in : Osteuropa-Wirtschaft 3/1990, S. 198–207. Das Gesetz über die Genossenschaften wurde am 26. Mai 1988 verabschiedet. 62 Holtbrügge, Genossenschaften in der UdSSR, S. 198.
232
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
Gorbatschow hatte bewusst die Methoden der Kommandowirtschaft verworfen. Doch auch er hatte letztlich zwischen den zwei Alternativen zu wählen : Modernisierung von oben, zentralistisch, ideologisch determiniert. Oder : Dezentralisierung der Wirtschaftsverwaltung und Umleitung der Ressourcen auf die Erneuerung der Technologie und Infrastruktur im Inter esse einer freieren Wirtschaft und damit der Hoffnung, das Land vor einem wirtschaftlichen Kollaps zu bewahren – im Wesentlichen ohne ideologische Vorgaben. Er wählte den zweiten Weg und beschritt ihn ab 1987. Die Folgen waren sofort sichtbar : Ein enormer Widerstand des militärisch-industriellen Komplexes und der Eliten in nahezu allen 15 Republiken. Doch Gorbatschow und Ryžkov, noch immer ein Tandem, ließen nicht locker. 1988 erlaubte man es privaten Kooperativen und Staatsbetrieben ohne Vermittlung der Außenhandelsorganisationen Verträge mit ausländischen Partnern abzuschließen. Gleichzeitig ging man die Eigentumsfrage in der Landwirtschaft an. Als ersten Schritt bereitete man im Herbst 1988 ein Abgehen von den Kommando-Methoden im Agrarbereich vor und nahm Kurs auf die Einrichtung einer „Pacht“. Ein ideologisch gefärbter Kompromiss, doch ein wesentlicher Schritt, womit man sich die Gegnerschaft der Kolchos- und Sowchos-Vorsitzenden (der „Roten Barone“) zuzog. Mit 1. Oktober 1989 sollte ein neues Besteuerungssystem des Lohnfonds der staatlichen Unternehmen die akute Wirtschaftslage und den Lebensstandard im Lande verbessern. Denn der Versuch, ein normatives Verhältnis zwischen dem Anstieg der Löhne und der Arbeitsproduktivität herzustellen, war zuvor gescheitert. Allein im 1. Halbjahr 1989 waren die Löhne im Durchschnitt um 9,5 bis 10 Prozent, die Arbeitsproduktivität jedoch nur um 2,8 Prozent gestiegen ! Ziele des neuen Steuersystems waren die Eindämmung der Inflation und der Ausgleich des Verhältnisses zwischen Lohn, Arbeitsproduktivität und Produktionsmenge. Es sollten die Löhne jährlich nur noch um maximal drei Prozent steigen und die über diesem Niveau liegenden Einnahmen an den Staat abgeführt werden.63 Das neue Steuersystem war jedoch kontraproduktiv und hemmte den Abbau der Planwirtschaft, weil es vor allem ein rein administratives System von Verboten war, schlechter als das vorangegangene System der Normativverhältnisse. Dort war wenigstens der Versuch zu erkennen, Arbeit nach Leistung zu bezahlen.64 Nunmehr wurden vor allem jene Kollektive zu Ver63 So der stv. Leiter des Staatlichen Komitees der UdSSR für Fragen der Arbeit und Soziales, Viktor Petrosjan, in : Sowjetunion heute 11/1989, S. 4. 64 Csaba, Die Entstehung der sowjetischen Wirtschaftsreform, S. 20f.
Von der Stagnation zum Verfall
233
lierern, deren Einkommen stark wuchs und die die Produktivität stark gesteigert hatten. Viele Betriebsleiter begannen daher sofort, ihren Arbeitern hohe, nicht gerechtfertigte Prämien zu bezahlen, und bauten für ihre Beschäftigten die Benefizaktionen aus (Gratisessen, Urlaubsverlängerungen, Pensionszuschläge usw.). Dazu kam, dass das neue Steuersystem Lohnsteigerungen aufgrund erhöhter Konsumgüterproduktion oder einer größeren Ausweitung von Dienstleistungen ausschloss. Damit schränkte es aber gerade jene Bereiche ein. für deren Produktionen eine erhöhte Nachfrage bestand. Trotz aller Bemühungen führten Gorbatschows wirtschaftspolitische Maßnahmen im Resultat von der Stagnation der sowjetischen Wirtschaft unter Brežnev zu ihrem Verfall. Die eingeleiteten Reformen konnten auch nicht greifen, weil sie unter den herrschenden ideologischen Kräfteverhältnissen oft als Kompromiss entstanden waren, überhastet eingeführt wurden (zuletzt 1990 der 500-Tage-Plan des Ökonomen Stanislav S. Šatalin) und in ihren Konsequenzen oft nicht zu Ende gedacht waren. Dazu kam, dass auch das schlecht funktionierende planwirtschaftliche System durch sie völlig ausgehöhlt wurde, während die Ansätze einer Marktwirtschaft noch nicht ausreichend implementiert werden konnten. Dazu gehörten vor allem die Zulassung aller Formen von Eigentum, einschließlich des Privateigentums an Grund und Boden (die „Pacht“ war der Kompromiss, das Gesetz vom 6. März 1990 schloss dezidiert Privateigentum an Grund und Boden aus) und der Privatisierung der Industrie (hier wählte man den Umweg über Kooperativen und Joint Ventures)65 sowie der Aufbau eines freien Unternehmertums (dabei fehlte es am Abbau unzähliger bürokratischer Hemmnisse). Diese Hemmschwelle für viele ausländische Kapitalinvestitionen in der Sowjetunion bzw. ab 1990 auch in der sich langsam herauslösenden Russländischen Föderativen Republik wurde in den einschlägigen Gesprächen zwischen sowjetischen und westlichen Politikern und Unternehmern bzw. Managern immer wieder angesprochen. So machte etwa der Vizepräsident der Deutschen Bank, Axel Lebahn, im Herbst 1989 gegenüber dem Wirtschafts-Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR klar, dass die Wirtschaftsreform in der Sowjetunion auf der Stelle trete, die Perestroika das Bankensystem noch gar nicht erreicht habe66 und man den Eindruck habe, Moskau wolle mit der Businesswelt des Westens gar keine Beziehungen. Ohne radikale Wirtschafts65 Sovmestnye predprijatija SSSR. 1. Auflage. Moskau 1990. 66 Vgl. dazu auch : Mark Kramer, Russland, der Niedergang des sowjetischen Bankenund Finanzsystems und der Zusammenbruch der UdSSR, in : Stefan Karner u. a. (Hg.), Epochenbrüche im „kurzen“ 20. Jahrhundert (1917/19–1945–1989/91). Graz 2015.
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Die Sowjetunion im Kalten Krieg
reformen, so Lebahn, wäre auch die wichtige Rüstungskonversion67 nicht möglich, die wiederum gewaltige Investitionen erfordere, für die es in der Sowjetunion kein Geld gebe. Das Protokoll ging sogleich an Aleksandr N. Jakovlev und an das ZK.68 In die gleiche Kerbe hieb auch selbst Rüstungsminister Boris M. Belousov im Plenum des ZK der KPdSU, der jedoch gleichzeitig mit der Rüstungskonversion die Lebensinteressen von Millionen Arbeitern und ihrer Familien in allen Regionen des Landes berücksichtigt wissen wollte.69 Zu diesen radikalen, marktwirtschaftlichen Reformen konnte man sich aus ideologischen Gründen und wegen der starken kommunistischen Gegenbewegung nicht durchringen. Daher war Gorbatschows wirtschaftspolitischer Zick-Zack-Kurs weder eine Plan- noch eine freie Marktwirtschaft. So sollten Unternehmen nun marktkonform produzieren und vertreiben, mussten jedoch gleichzeitig weiterhin Staatsaufträge erfüllen. Auch die Finanzhoheit der Betriebe hatte eine Fußangel : Die Ausgaben mussten durch die Einnahmen gedeckt sein. Unprofitable Betriebe wurden nicht mehr vom Staat erhalten. Teile der Hoheitsverwaltung und ihre überproportional hohen Beschäftigtenstände wurden finanziell unterdotiert. Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit, Verarmung waren die Folgen, dazu eine gewaltige Schattenwirtschaft70 und weitere Korruption. Selbst im sowjetischen Archivwesen führte dies zu grotesken Erscheinungen, wie der massenweisen Abwanderung von qualifizierten Wissenschaftlern in ökonomische Strukturen („business-many“) oder auch dem Verkauf von Archivgut. Die Forderung nach sofortigen Lohnerhöhungen und einer unternehmensgerechten Steuerreform, wie des Politbüromitglieds Nikolaj N. Sljunkov auf dem Dezember-Plenum des ZK der KPdSU, verhallten ungehört.71 Der Antrag Gorbatschows vom August 1990 auf „Vorbereitung der Konzeption eines Unionsprogramms zum Übergang auf die Marktwirtschaft“ als Basis für den vorbereiteten neuen Unionsvertrag („erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken“),72 hatte kaum noch praktische Bedeutung. Denn parallel dazu hatte die Russische Republik unter Boris Jelzin in entscheidenden Reformpunkten die Union bereits überholt. 67 Vgl. dazu u. a. Petra Opitz, Das Dilemma der Rüstungskonversion in Russland, in : Osteuropa-Wirtschaft 2/1993, S. 134–150. 68 RGANI, F. 5, op. 102, d. 859, p. 59–63. Unterredung, vom 11. September 1989. 69 Materialy plenuma CK KPSS, vom 5.–7. Februar 1990, S. 80f. 70 Vgl. auch : Dirk Holtbrügge, Ursachen, Ausmaße und Ausprägungen der Schattenwirtschaft in der UdSSR, in : Osteuropa 1/1991, S. 198. 71 RGANI, F. 2, op. 5, d. 342, p. 125. 72 M. Sokolov, Referendum, bros’te, ničego strašnogo. Kommersant, vom 4. März 1991.
Von der Stagnation zum Verfall
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10
0
-10
-20 BSP Industrieproduktion Landwirt.Bruttoproduktion Export Import
-30
-40
-50 1986
1987
1988
1989
1990
1991
Abbildung 12 : Signifikante Kennziffern der sowjetischen Wirtschaft 1986–1991 (in Prozent).
Zu Jahresende 1991 trat schließlich Gorbatschow von seinem Posten als Präsident der Sowjetunion, den er seit März 1990 bekleidet hatte, zurück. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es den COMECON und den Warschauer Pakt schon nicht mehr, Deutschland war vereint und der „Eiserne Vorhang“ Geschichte. 1991 stand die sowjetische Wirtschaft vor ihrem totalen Zusammenbruch, der Staat brach auseinander („Pervyj razpad“). Der russische Historiker Aleksandr V. Šubin führt den Zerfall der UdSSR im Wesentlichen auf drei Faktoren zurück : auf die ethnodemographische Krise, auf ihre Umformung in politische Konflikte, auf die sozialen Krisen (Regionalisierung und Verwestlichung) und auf den subjektiven Faktor.73 Auf sie wurde im Beitrag Bezug genommen. Hinter ihnen standen natürlich die skalierbaren volkswirtschaftlichen Daten : Das Bruttosozialprodukt sank von 3,5 Prozent im Jahre 1985 auf –10 Prozent 1991, die Industrieproduktion im selben Zeitraum von 4,5 auf –6,2 Prozent, die landwirtschaftliche Bruttoproduktion gar von 5,5 auf –11,0 Prozent. Besonders gravierend waren auch die Rückgänge des ohnehin bereits schwer defizitären Handels. Gleichzeitig nahmen die Streiks und Demons trationen, besonders in den Industrieregionen, derart zu, dass sie bereits die 73 Aleksandr V. Šubin (Hg.), Raspad SSSR. Dokumenty, hier : Einleitung : Raspad SSSR. Ob’ektivnye pričiny i sub’ektivnyj faktor. Moskau 2006, S. 3–42.
236
Die Sowjetunion im Kalten Krieg
innere Stabilität gefährdeten.74 Der Preis für ein Kilo Fleisch schnellte von zwei Rubel im Jahre 1985 auf 100 Rubel im Jahre 1991. Die Versorgung der großstädtischen Bevölkerung übernahmen zunehmend u. a. westliche FastFood-Ketten wie McDonalds. Die Armut grassierte in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß : 1988 lebten schon 41 Millionen Menschen, also 14,5 Prozent der Bevölkerung, unterhalb des Existenzminimums von monatlich 78 Rubel.75 Wie groß die Unzufriedenheit der Menschen, aber in der Perestroika auch die Möglichkeiten der freieren Meinungsäußerung oder des Arbeitskampfes geworden waren, zeigen die Streikwellen der Jahre 1988/89. Die ersten großen oppositionellen Bewegungen in der Sowjetunion, aus denen später Parteien entstanden waren, nützten die Liberalisierung der Perestroika und die zunehmende Unzufriedenheit der Menschen. So sprach selbst ein kleines 50-Kopeken-Presse-Bulletin des Verlages „Vena-89“ [Wien 1989] in Mittelsibirien im Oktober 1989 die zentralen Themen der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft an : Die Streikwellen der Arbeiter in den Industrieregionen, staatliche Hilfen für die Hafenarbeiter, aufgedeckte Machi nationen der KPdSU, der Schulterschluss von orthodoxer Kirche und Staat, die Annexion von unabhängigen Republiken durch die UdSSR (wie von Bessarabien, der nördlichen Bukowina oder von Tuva) sowie unter der Überschrift „Der Sozialismus – ein Synonym für Grausamkeit“ die Verbrechen staatlicher sowjetischer Organe.76 Im mittelsibirischen Kusbas erreichten sie 1989 ihren Höhepunkt. Gorbatschow selbst musste den Kumpels in Kemerovo entsprechende Zugeständnisse machen, um landesweite Streiks und Arbeitsniederlegungen zu verhindern, die zum weiteren Verfall der Wirtschaft geführt hätten. Im Vergleich dazu gab es in den zehn Jahren zwischen 1975 und 1985 in der gesamten Sowjetunion nur 60 große Streiks.77 Einen Ausweg aus diesem Dilemma boten die Importe aus westlichen Staaten, allen voran aus der Bundesrepublik Deutschland, die wiederum die Handelsbilanz belasteten und zu politischen Zugeständnissen führen mussten. Die Goldreserven der sowjetischen Nationalbank fielen von 2.500 Tonnen im Jahre 1985 auf nur noch 240 Tonnen zu Jahresende 1991. Der Kurs des Rubels gegenüber dem Dollar fiel von 0,6 :1 auf 90 :1. Auch die Ölförderung,
74 Vgl. Kapitel 2 (Arbeiterbewegung) in : B. I. Kobal’ (Hg.), Rossija segodnja. Moskau 1991, S. 319–392. 75 Rene Ahlberg, Armut in der Sowjetunion, in : Osteuropa 12/1990, S. 1159–1174. 76 Press-Bulletin. Novosibirsk, 8. Oktober 1989. 77 Otečestvennaja istorija 1985–2005, S. 41.
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200000
Anzahl der Streikenden (darunter das Datum der Streiks) 150000
100000
50000
0
Streiks Datum
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10.7. 11.7.
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12.7.
13.7.
103
14.7.
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16.7.
167
17.7.
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18.7.
Abbildung 13 : Die Streiks im Gebiet Kemerovo/Kusbas im Juli 1989. Anzahl der Streikbetriebe und Streikenden.
eine Haupteinnahmequelle des Staates, ging im gleichen Zeitraum von 1.172 Millionen Barrel auf 511 Millionen Barrel zurück. Selbst der Handelsausgleich mit den COMECON-Staaten konnte 1990 nicht mehr erreicht werden. Der Handel mit der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn oder Bulgarien blieb deutlich defizitär.78 Deshalb : Gorbatschow war nicht der Zerstörer, sondern versuchte, ein Bewahrer zu sein. Es ist klar, dass er das Imperium und das KP-Regime nicht mehr retten konnte, weder ökonomisch noch sozial noch politisch. Das ganze System war von innen her faul. Die Sowjetunion konnte ihre jahrzehntelange Position als Supermacht ökonomisch nicht mehr aufrechterhalten. Sie hatte den Kalten Krieg nicht nur militärisch, politisch und ideologisch verloren, sondern vor allem ökonomisch. Gegenüber den westlichen Modellen der Marktwirtschaft waren die Wirtschaftsleistung und das planwirtschaftliche System der Sowjetunion seit Jahrzehnten völlig unterlegen. Ihre Anziehungskraft, selbst auf Dritte-Welt-Staaten, sank ständig. Das Vertrauen in die Qualität sowjetischer Produkte erreichte jährlich einen weiteren Tiefpunkt, besonders auch im eigenen Land. Das chinesische Modell eines wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurswechsels wurde 78
Zu den ökonomischen Folgen des Zerfalls der UdSSR in regionaler Hinsicht sehr früh u. a. T. Jagyrina – G. Marchenko, Regionale Prozesse in der ehemaligen UdSSR und im neuen Russland, in : Osteuropa 3/1993, bes. S. 214f.
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Die Sowjetunion im Kalten Krieg 11,4
9,3
Export in Milliarden Rubel
Import in Milliarden Rubel
7,4 7,3 6,6
5,8
6,2 6,3
4,8 3,9
3,8 2,9
2,5 2,4
2,1 2,1
1,8
1,4
1,8 1,9 1,9
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4,2
2,7
Abbildung 14 : Die wichtigsten Handelspartner der UdSSR 1990 (© Globus).
nicht angestrebt. Die mittelosteuropäischen Satelliten-Staaten Moskaus nahmen die erste sich bietende Gelegenheit wahr, dem gesamten Sowjetsystem zu entkommen. Diese Chance bot sich ihnen 1989 durch die neue Politik Gorbatschows, der nicht mehr bereit war, die KP-Regime durch sowjetische Panzer zu schützen. Daher bleibt auch die Annahme des russischen Historikers Petr Svejcer bloße Rhetorik, wenn er meint : „Ohne die Ausweitung des Waffenarsenals durch den Kreml wegen des SDI-Programms, ohne die Katastrophen Polen und Afghanistan, ohne den Verlust von Milliarden Dollars in harter Währung durch den Ölpreisverfall und ohne die Beschränkungen des Zugangs zur Hochtechnologie hätte die Sowjetunion, und ich fürchte mich nicht zu täuschen, überleben können.“79 Erschienen in : Stefan Karner, Von der Stagnation zum Zerfall. Kennzeichen der sowjetischen Wirtschaft der 1980er Jahre, in : Hanns Jürgen Küsters, Der Zerfall des Sowjetimperialismus und Deutschlands Wiedervereinigung. Köln – Weimar – Wien 2016, S. 15–45.
79 Petr Švejcer, Pobeda. Moskau 1995, S. 137
Der Kreml und die Wende (2015)
Der Abbau des „Eisernen Vorhangs“, die Solidarność an der Macht, der Fall der Berliner Mauer, die Umstürze in Bulgarien und der Tschechoslowakei, die Hinrichtung Ceauşescus und das Ende des „Kalten Krieges“. Dies alles binnen weniger Monate – 1989 veränderte das Gesicht Europas ! Der Warschauer Pakt stürzte ein. Warum rollten keine sowjetischen Panzer gegen die Revolution ?
Realistischer Kreml Malta, 3. Dezember 1989 : Auf einem US-Kriegsschiff sitzen einander Michail Gorbatschow und der neu gewählte US-Präsident George Bush gegenüber. Große Weltpolitik. Für Gorbatschow sind die Chinesen „die wichtigste Realität“. Und deshalb, so der Kreml-Chef, „sind die USA und die UdSSR einfach zum Dialog, zur Zusammenarbeit, zur Kooperation verdammt“. Anatolij Tschernjajew, Gorbatschows engster Berater, hat diese entscheidenden Minuten festgehalten : „Da stand Bush auf und reichte Gorbatschow die Hand über den Tisch hinweg. Der Moment war bewegend.“ Der „Kalte Krieg“ war beendet. Ein Fotograf wurde gerufen. Das Bild ging um die Welt und wurde zum Symbol. Das Resultat der Wende vor 25 Jahren ist bekannt. Doch wie sah die Sowjetführung den Kollaps der KP-Regime ? War Gorbatschow doch 1985 angetreten, die Sowjetunion zu reformieren, ohne aber den Sozialismus selbst in Frage zu stellen. Während man im Westen immer wieder eine militärische Reaktion der Sowjetunion, einen Einmarsch in die „Bruderstaaten“ befürchtete, wissen wir heute, dass der Kreml-Chef die Breschnjew-Doktrin intern bereits aufgegeben hatte. Die Dokumente zeigen die Brisanz der Ereignisse und die Kämpfe im Kreml mit den Falken. Wenn etwa Gorbatschow festhält, „das militärstrategische Gleichgewicht ist für die Sicherheit der sozialistischen Staaten notwendig“, aber gleichzeitig verlangt, den „Dialog mit westeuropäischen Staaten ohne Beteiligung der USA in Gang zu bringen“. Denn intern war klar : Ein zweites Ungarn 1956 und eine zweite Tschechoslowakei 1968 darf es nicht mehr geben ! Gegenüber den „Falken“ im Kreml hatte Gorbatschow letztlich ganz im Sinne der alten Partei-Diktion
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Die Sowjetunion im Kalten Krieg
artikuliert : „Die Bruderstaaten kriechen zum Westen – aber sie kriechen in die Falle !“ Gegenüber dem militärisch-industriellen Komplex, der mit dem Wettrüsten im „Kalten Krieg“ gut verdient hatte, musste er sich durchsetzen. Ein harter Weg. Doch letztlich wurde im Politbüro zu Protokoll gebracht : „Wir haben die Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus eingebüßt !“ Doch was nun zählte, waren die Hilferufe der im Westen schwer verschuldeten „Bruderstaaten“. Resignierend der Kreml : „Wir schielen Ungarn und Polen nach, wenn sie sich an den Westen wenden, aber wir können keinen Ersatz bieten.“ Die DDR war ohnehin völlig pleite. Der Kreml sah viele Entwicklungen weitaus realistischer als etwa das DDR-Regime, das eben den 40. Gründungstag feierte, oder das KP-Regime in Prag. Honecker : „Kein Grund zur Panik ! Die Perestrojka wird schon längst in der DDR verwirklicht.“ Und Biľak in Prag : „Wir haben nicht vor, nachzugeben !“ Oder Polens KP-Chef Rakowski nach der Wahlniederlage gegen den Solidarność-Kandidaten Mazowiecki : „Wir nahmen an, dass wir die Wahlen in jedem Fall gewinnen. Schließlich war es auch früher immer so !“ Polen war für den Kreml völlig verloren. Selbst als im Sommer 1989 zum ersten Mal der „Eiserne Vorhang“ an der ungarisch-österreichischen Grenze abgebaut wurde und Tausende DDR-Urlauber nach Österreich strömten, reagierte der Kreml nicht. Gorbatschow hatte schon im März 1989 dem ungarischen Regierungschef Németh, der ihm den Abbau der Grenzanlagen ankündigte, kryptisch zu verstehen gegeben : „Auch wir öffnen uns zusehends.“ Die Ungarn interpretierten diese Äußerung als Zustimmung. Blieben aber sehr vorsichtig. Schließlich setzte Moskau in Tiflis wieder sowjetische Panzer gegen die Freiheitsbewegung ein : 19 Tote blieben in den Straßen zurück. Konnte man Gorbatschow trauen ? Eines wurde im Kreml gegenüber Ungarn aber klargemacht – eine Neutralitäts-Variante schied aus : „Ungarn kann nicht Finnland oder Österreich werden !“
Wirtschaftliche Schwäche Über die Folgen einer deutschen Wiedervereinigung war man sich im Kreml im Klaren. Es werde „ein Deutschland, das man fürchtet“, werden. Im Politbüro ging es sechs Tage vor dem Mauer-Fall, am 3. November 1989, heiß her. KGB-Chef Krjučkov : „Morgen gehen 500.000 in Berlin und in anderen Städten auf die Straße…“ Gorbatschow : „Du hoffst, dass Krenz sie halten wird ? Ohne Hilfe der BRD werden wir sie [die DDR] sowieso nicht über Wasser halten können.“ Schewardnadse : „Die Mauer sollten sie lieber selbst beseitigen.“
Der Kreml und die Wende
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Der Kreml konnte und wollte die Entwicklung zu Demokratie und Marktwirtschaft in den Bruderstaaten, zu einem Mehrparteiensystem und damit zum Sturz der KP-Herrschaft nicht mehr aufhalten. Vor allem, weil er auch wirtschaftlich bereits zu schwach dazu war. Die große „Wende“ war vor 25 Jahren letztlich möglich, weil es eine glückliche Kombination mehrerer Faktoren gab, wie : – Das amerikanische SDI-Programm und gezielte wirtschaftliche Aktionen, – die zunehmende mediale Vernetzung, – Reformen von oben und von innen heraus (vor allem Gorbatschow), – sein großer Druck von unten in den Bürgerbewegungen und – eine seltene personelle Konstellation (Bush sen., Kohl, Gorbatschow), wozu auch der polnische Papst Johannes Paul II. zu zählen ist. Erschienen in : Stefan Karner, Der Kreml und die Wende, in : Die Presse (Blick von außen), 17.1.2015.
Vertreibung und Minderheiten
Die nationale Frage in Kärnten im 20. Jahrhundert (2001)
Eine Forschungsinitiative des Landes Kärnten Die Geschichte Kärntens im 20. Jahrhundert wurde wesentlich von der nationalen Frage geprägt : Die Volksabstimmung 1920, die Aussiedlung von Slowenen 1942, Verschleppungen von Kärntnern durch Tito-Partisanen 1945, die Aussetzung von Minderheitenschutzbestimmungen nach dem Staatsvertrag, die Auseinandersetzungen um die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln Anfang der siebziger Jahre und die Auseinandersetzungen um die Funktion des Ulrichsbergs Ende der neunziger Jahre (mit der Einrichtung eines „Runden Tisches“ unter LH Zernatto) waren Brennpunkte der politischen Entwicklung im Lande. Den Rahmen bildeten die Ebenen der Wirtschaft (von Betriebsansiedlungen bis zum Tourismus), der Beziehungen zu Wien und Laibach/Ljubljana, der Position und des Einflusses der katholischen Kirche, der innenpolitischen Entwicklung mit einer jahrzehntelangen SPÖ-Dominanz im Lande, der innen- und außenpolitischen Entwicklung Sloweniens mit der Wende 1991 sowie der Erhaltung der slowenischen Kultur. Ausgehend von einer Empfehlung des „Runden Tisches“, an dem alle mit der Volksgruppen-Problematik befassten relevanten Organisationen des Landes sowie Historiker der Universität und des Landes in mehreren Besprechungen in der Landesregierung unter Moderation des Autors 1996/97 teilnahmen, beschloss die Kärntner Landesregierung einstimmig eine große wissenschaftliche Forschungsinitiative des Landes. Sie sollte unter dem Sammeltitel „Die nationale Frage in Kärnten im 20. Jahrhundert“ ein Fundament für eine Versachlichung der Diskussionen sein und fehlende, bislang noch nicht bearbeitete Problemfelder aufarbeiten. Damit sollten aber auch die Kenntnisse zur Kärntner Zeitgeschichte vertieft, in Beziehung zur Gegenwart gestellt und der Abbau von Vorurteilen und Intoleranz gefördert werden. Aufbauend auf den bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten (vor allem des Kärntner Landesarchivs, aus dem Bereich des Geschichtsvereins und von Wissenschaftlern der Universität), auf der Erfahrung von „Zeitzeugen“ und in der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus Slowenien besteht das Vorhaben aus fünf Teilprojekten. Diese wurden jeweils zwei wissenschaftlichen Projektleitern überantwortet, die Gesamtleitung dem Autor übertragen. Insgesamt arbeiten seit Jahresbeginn 2000 rund 50, vorwiegend jüngere Wissenschaftler aus Kärnten, Slowenien, der Steiermark und Wien am Pro-
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Vertreibung und Minderheiten
jekt. Die Forschungsinitiative stellt damit auch einen bedeutenden Beitrag des Landes zur Wissenschaftsförderung dar. Ab dem Jahr 2003 soll das Gesamtwerk in fünf Bänden erscheinen und einen kompakten Überblick zur „nationalen Frage in Kärnten im 20. Jahrhundert“ bieten. Im Folgenden sollen die einzelnen Teilprojekte und ihre Inhalte kurz und pointiert vorgestellt werden. Als Grundlage dienen Auszüge aus den Projektdispositionen, wie sie von den Projektleitern erarbeitet und im Rahmen des Gesamtprojektes bei der Kärntner Landesregierung eingereicht wurden.
Kärnten und Österreich (Projektleitung : Claudia Fräss-Ehrfeld und Helmut Rumpler) Kärnten hat es unter den österreichischen Bundesländern mit seiner Zugehörigkeit zum föderalistisch deklarierten, in der Praxis aber doch oft zentra listisch agierenden österreichischen Bundesstaat am schwersten. Das hat tiefe Wurzeln in der Geschichte und schlägt trotz dichter werdender Annäherungsversuche von beiden Seiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit in der gegenseitigen Wahrnehmung durch. Kärnten liegt geographisch sehr weit weg von Wien, was durch die bislang noch immer mangelnde Verkehrsanbindung bis in jüngste Zeit manifestiert ist. Umgekehrt widmet Kärnten dem, was sich in der Bundeshauptstadt abspielt, keine besondere Aufmerksamkeit. Offiziell zieht es keinen Kärntner nach Wien, obwohl rund 70.000 Kärntner dort leben und dort beschäftigt sind. Ob dieses Verhältnis einer tief verwurzelten Distanz – von einer Abneigung kann man wohl nicht sprechen, aber doch von einem Misstrauen gegenüber dem vermissten Wohlwollen zueinander – mit dem theoretischen Konzept vom Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie ausreichend zu erklären ist, bleibt fraglich. Das gespannte oder gestörte Verhältnis hat tiefere Wurzeln und wird jedes Mal wieder aktualisiert, wenn sich die Wiener Regierung, die Wiener Parteizentralen oder die Wiener veröffentlichte Meinung gegenüber Kärntens besonderen Problemen, die in der Minderheitenfrage ihren Zentralpunkt zumindest in der Vergangenheit hatten, wieder einmal kritisch bis abfällig äußern. Dann formiert sich wieder der Stolz der Kärntner. Und sogar für viele Slowenen lässt sich sagen, dass sie ihre Probleme lieber in Klagenfurt mit den deutschsprachigen Kärntnern lösen würden als im fernen Wien. Betrachtet man die politische Geschichte seit 1918, dann lässt sich vieles sehr gut erklären. Es ist eine Geschichte, die vom gegenseitigen Fremdsein in der Zwischenkriegszeit bis zu Annäherungsversuchen in der Gegenwart
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reicht. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass das schwierige Verhältnis eine weitere Seite hat, die das Problem nicht entschärft : Kärnten ist im Grunde und dies nicht erst seit 1918 doch auf Österreich angewiesen. Alle Alternativen, mit Ausnahme der unrealistischen, aber doch in der Politik schon geäußerten Vorstellung des Rückzuges auf einen selbstständigen Freistaat, haben Kärnten nichts gebracht. Auch eine in der Zukunft möglicherweise selbstständigere und lukrativere Existenz im Rahmen einer in der Geschichte vorgezeichneten Alpen-Adria-Region in einem erhofften Zeitalter des abgebauten Nationalismus wird Kärnten nur dann mit Erfolg realisieren können, wenn es in Österreich einen starken Rückhalt hat. Die Spannung zwischen Kärnten und Wien bzw. die Versuche der Annäherung, eines Ausgleichs, waren und sind fast ausschließlich Gegenstand publizistischer Aussagen, sie finden sich in Politikerreden und im Feuilleton der Zeitungen. Die Wissenschaft hat sich, wie eine erste bibliographische Recherche zeigt, mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt. Lediglich für die kritische Zeit um 1920 (Claudia Kromer) ist das Thema Kärnten-Österreich in wissenschaftlicher Weise aufgegriffen worden. Will man das problemgeladene Verhältnis zwischen Kärnten und Wien wissenschaftlich klären, dann muss man bedenken, dass es sich um das Ergebnis eines vielschichtigen Beziehungsgeflechtes handelt. Das als allgemeine Frage behandelte Verhältnis und die gegenseitige Wahrnehmung, die damit verbundenen Urteile und Vorurteile haben ihre Grundlage in sehr konkreten Beziehungen in Politik, Kultur und Wirtschaft. Deshalb wird das Problem auf der Ebene einzelner Sachbereiche untersucht. Damit kann auch ein wichtiger Beitrag zur Erhellung der Ursachen geleistet werden. Das Ziel des Teilprojektes „Kärnten-Österreich“ ist es, eine chronologisch lückenlose Aufarbeitung der Problematik durchzuführen. Stellt man nämlich, wie dies bisher aufgrund der gegebenen Forschungslage der Fall ist, nur die Perioden des Konfliktes heraus, entsteht ein falsches Bild. Es hat neben dem Konflikt, der bis in die jüngste Vergangenheit mit der Problematik des „Abwehrkampfes“ ebenso wie mit der deutschnationalen Orientierung der Landespolitik in Verbindung stand, zahlreiche Versuche der Annäherung gegeben, auch auf politischer Ebene, von Regierung und Parteien. Als Ergebnis einer in diesem Sinne angelegten Untersuchung könnte sich ein differenziertes Bild in dem Sinne ergeben, dass sowohl von Wien als auch von Kärnten aus nicht nur die Kategorie des Konfliktes wirksamer war, sondern auch das Bewusstsein des aufeinander Angewiesenseins.
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Vertreibung und Minderheiten
Kärnten und Slowenien (Projektleitung : Stefan Karner und Janez Stergar) Kärnten und Slowenien hatten im Laufe des 20. Jahrhunderts staatsrechtlich stets verschiedene Positionen. Mehr als die Hälfte des Jahrhunderts lang, in der Zwischenkriegszeit und zwischen 1945 und 1991, waren beide Länder Teile (Bundesland, Teilrepublik) eines Staates mit verschiedenen Aufgaben und Stellungen innerhalb des Staates, in diesen Jahrzehnten waren Klagenfurt und Laibach/Ljubljana als Hauptstädte des Bundeslandes bzw. der Teilrepublik (bzw. der altjugoslawischen Verwaltungsstrukturen bis 1941) gewissermaßen auf einer Ebene und – soweit es die bilateralen Beziehungen zuließen oder man diese aufbrechen und verbessern wollte – direkte Gesprächspartner. Dies änderte sich mit der Selbstständigkeit der Republik Slowenien 1991 schlagartig, als über Klagenfurt hinweg Wien zum direkten Gesprächspartner der slowenischen Regierung avancierte. Die Stellung Kärntens innerhalb Österreichs blieb im Laufe des Jahrhunderts – sieht man von der Monarchie und dem Reichsgau mit den territorialen Erweiterungen 1941 bis 1945 ab – im Wesentlichen ähnlich, d. h. Politik und Wirtschaft Kärntens blieben dem Gesamtstaat unterstellt. Slowenien hingegen hatte im Laufe des Jahrhunderts verschiedene nationale und internationale Positionen durchlaufen : von einem rein geographischen bzw. sprachlich-kulturellen Raum zu Beginn des Jahrhunderts, über eine laufend wechselnde und dem Belgrader Zentralismus unterstellte Verwaltungseinheit nach 1918 mit zwei verschiedenen Staatsregierungen, über seine Aufteilung auf das „Dritte Reich“, Italien und Ungarn, über die Einrichtung einer sozialistischen jugoslawischen Teil-Volksrepublik 1945 bis zur Errichtung des selbstständigen Staates der Republik Slowenien 1991. Diese Grundbedingungen hatten tägliche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Kärnten und Slowenien ; klimatisch, rechtlich, politisch, wirtschaftlich und positionell. Bis zum Ersten Weltkrieg waren es Beziehungen Kärntens zum zentral-slowenischen Raum (vor allem mit dem Herzogtum Krain und dem Herzogtum Steiermark). Zwischen den beiden Weltkriegen umfassten die Beziehungen Kärntens vor allem den jugoslawischen Verwaltungsteil des slowenischen Raumes (zuletzt Draubanschaft), ohne die von Italien verwalteten slowenischen Gebiete. Während der Jahre von 1941 bis 1945, als die slowenischen Gebiete auf drei Staaten aufgeteilt und von diesen besetzt gehalten wurden, waren dies einerseits jeweils bilaterale Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den Staaten Italien und Ungarn bzw. innerhalb des Deutschen Reiches Beziehungen zwischen den Reichsgauen Kärnten und Steiermark bzw. den Reichsinstanzen und den zi-
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vil verwalteten und militärisch besetzten Gebieten von Oberkrain und der Untersteiermark. Von 1945 bis 1990/91 liefen die Beziehungen Kärntens mit der jugoslawischen föderativen Republik Slowenien. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren es Beziehungen des österreichischen Bundeslandes Kärnten mit der souveränen Republik Slowenien. Inhaltlich wird das Projekt vor allem die Geschichte und Eckpunkte der Nachbarschaft im 20. Jahrhundert bearbeiten, die Rolle der jeweiligen Minderheit in Slowenien und Kärnten nach 1918 als Faktor der „Nachbarschafts“-Politik darstellen, Wirtschaftsverflechtungen zwischen Kärnten und Slowenien analysieren, den Zusammenhang von regionaler Wirtschaftspolitik und Minderheitenfrage herzustellen versuchen und den kulturellen Austausch zwischen Kärnten und Slowenien besonders über die jeweiligen Minderheiten erheben. Ein : Wer ist wer ? Deutsche in Slowenien, Slowenen in Kärnten, soll ebenfalls aus der Beschäftigung mit diesem Projekt entstehen.
Der nationale Konflikt (Projektleitung : Stefan Karner und Andreas Moritsch) Der nationale Konflikt wurde in Kärnten generell auf zwei Ebenen ausgetragen : auf der ideologischen und auf der realen Ebene der verschiedenen Lebensbereiche. Beide Ebenen standen zueinander in Wechselwirkung, wobei am Anfang nationaler Konflikte in der Regel das Streben nach gesellschaftlicher Emanzipation stand. Für Kärnten galt dies in sehr hohem Maße. Einmal in Gang gesetzt, entwickeln nationale Konflikte die ihnen eigentümliche Dynamik und werden zunehmend ideologisiert, also über das Bewusstsein, gespeist. Historisch gesehen ist nationales Bewusstsein – und damit nationaler Konflikt – in der breiteren Bevölkerung eine Begleiterscheinung eines Demokratisierungsprozesses. Erst mit der Beteiligung des „Volkes“ am Geschehen im Staat stellen sich die Fragen, wer denn das Volk ist, das als Nation Staat machen will, wer in der sozial-vertikalen gesellschaftlichen Schichtung zur politisch berechtigten Nation gehört und welche territorial-horizontale Ausdehnung die jeweilige Nation beanspruchen kann ? In Kärnten hat der nationale Konflikt im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene Formen und Ausprägungen gefunden, die sich in eine ideologische und reale Ebene teilen lassen. Zur ideologischen Ebene können die sozialen Voraussetzungen, der Emanzipations- und Demokratisierungsprozess sowie die Ideologisierung des nationalen Konflikts – Slowenisch, Deutsch, „Windisch“ – gezählt werden.
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Vertreibung und Minderheiten
Zur realen Ebene gehörten besonders die Versuche zur Schaffung einer national homogenen Wirtschaftsstruktur an der Grenze, die gelenkten Assimilierungsmaßnahmen, die Versuche zur Nichtinkraftsetzung von Minderheitenschutzbestimmungen und die Deportationen von Slowenen und Deutschsprachigen aus Kärnten. Sie zählten zu den schärfsten Ausprägungsformen von „ethnic cleansing“ und gehen bis zur physischen Liquidierung von Menschen aus politischen, rassischen oder ethnischen Gründen. Das Ziel der ethnischen Reinigungen war jeweils die Schaffung von möglichst breiter Übereinstimmung von Nationalität und Territorium. In Kärnten war dies auf slowenischer Seite die Aufrechterhaltung des Scheines eines nach wie vor gültigen und aus dem 19. Jahrhundert stammenden slowenischen Siedlungsgebietes im Unterkärntner Raum – zwischen dem unteren Gailtal und Schwabegg/Lavamünd sowie zwischen Brückl und Eisenkappel. Auf Deutschkärntner Seite war das Ziel die Zurückdrängung des slowenischen Einflusses auf den verschiedenen Ebenen und die Schaffung eines ethnisch reinen, deutschsprachigen Raumes bis zur Südgrenze des Landes. Tatsächlich lässt sich im Laufe der letzten über 100 Jahre ein starker Rückgang von Slowenen im Südkärntner Raum feststellen. Ein großer Teil des Rückganges geht – unabhängig von der „ethnischen Reinigung“ – auf eine natürliche Assimilation zwischen der größeren deutschsprachigen Volksgruppe des Landes und der slowenischen Minderheit zurück. Konkrete Zahlen sind, insbesondere für die Gegenwart, nicht vorhanden oder werden von der slowenischen Volksgruppe nicht anerkannt. Andererseits sind die noch aus den Volkszählungen der Monarchie stammenden Erhebungen der Umgangssprache mit den heutigen Daten nicht immer vergleichbar, sodass nur Größenordnungen und Trends angegeben werden können. Danach verringerte sich der Anteil Slowenisch Sprechender (in den verschiedensten Kombinationen der Sprachenzählungen) in Kärnten von knapp 30 Prozent im Jahre 1880 auf knapp 3 Prozent im Jahre 1991. Der nationale Konflikt in Kärnten wurde von der Historiographie besonders in Kärnten und in Slowenien in Einzeluntersuchungen immer wieder abgehandelt. Während jedoch die wissenschaftliche Literatur zur Frage der „Abwehrkämpfe“ 1918–1920 und zur anschließenden Volksabstimmung im Südkärntner Gebiet vom 10. Oktober 1920 beinahe unübersehbar ist und bis in die Zeit der frühen zwanziger Jahre zurückgeht, fehlen Untersuchungen zur Interdependenz von Wirtschaft und Volkstum, namentlich zu den diversen Besitzumschichtungen und Betriebsgründungen, zu den Deportationen von Kärntnern 1945 durch Tito-Partisanen oder zum sogenannten Ortstafelstreit noch weitgehend. Als grundlegend zu den einzelnen Themenfeldern des Projektes können durchaus kontroversiell u. a. die Arbeiten von Theo-
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dor Domej, Hanns Haas, Stefan Karner, Claudia Fräss-Ehrfeld, Andreas Moritsch, Dušan Nećak, Wilhelm Neumann, Alfred Ogris, Janko Pleterski, Helmut Rumpler, Karl Stuhlpfarrer, Lojze Ude, Hellwig Valentin, Wilhelm Wadl, August Walzl, Martin Wutte und Tone Zorn angeführt werden. Deutlich wird dabei, dass ein Großteil der Arbeiten erst nach 1970 publiziert wurde. Deutliche Defizite gibt es in der Bearbeitung der Themenfelder Wirtschaft, Ortstafelstreit und Deportation von Kärntnern 1945 und den Fragen der Wiedergutmachung für die ausgesiedelten Kärntner Slowenen nach 1945. Keine Überblicksarbeit liegt noch zur Kärntner Landespolitik in den kritischen nationalen „Kampfzeiten“ vor. Die Aufarbeitung des real durchgeführten, teilweise inszenierten nationalen Konflikts soll in den wesentlichen Bereichen seiner Erscheinungsformen erfolgen. Der im „historischen Gedächtnis“ der Menschen des Landes und in der Landesidentität tief verwurzelte „Abwehrkampf“ und die sich daran anschließende und der für Österreich wie für Kärnten positive Ausgang der Volksabstimmung stellen erst in ihrer anschließenden Instrumentalisierung eine Basis des realen nationalen Kampfes dar. Der „Abwehrkampf“ wurde in erster Linie gegen eine bewaffnete Intervention aus dem südslawischen Nachbarstaat geführt. Er weist keine Züge eines bewaffneten Kampfes gegen die slowenische Volksgruppe im Landesinnern auf. Im Zuge der Arbeiten sollen in Feldstudien auch Parallelitäten zwischen dem Stimmverhalten 1920 und den Aussiedlungen 1942 erhoben werden. Die Versuche zur Schaffung einer national homogenen Wirtschaftsstruktur an der Grenze erfolgten in der Zwischenkriegszeit durch die Ansiedlung von Wirtschaftsbetrieben mit nationalpolitischer Ausrichtung sowie durch die Lenkung von Geldflüssen zum Schaden der anderen bzw. zum Nutzen der eigenen Volksgruppe. Assimilierungsmaßnahmen liefen im „Dritten Reich“ besonders über die NS-Volkstumspolitik, die Deportationen und einen starken informellen und offenen Druck. Die Erforschung von Deportationen als der schärfsten Ausprägungsform von „ethnic cleansing“, die bis zur physischen Liquidierung von Menschen aus politischen, rassischen oder ethnischen Gründen gingen, wird vor allem die Aussiedlung der Slowenen 1942 als Teil der NS-Rassen- und Volkstumspolitik (Bedingungen und Durchführung, Besitz umschichtungen, Entschädigung und Wiedergutmachung nach 1945) sowie die Verschleppung von Kärntnern 1945 durch Tito-Partisanen (Planung und Durchführung, Zusammensetzung der Deportierten, Entschädigungen) umfassen. Minderheitenschutzbestimmungen des Österreichischen Staatsvertrages konnten nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Intentionen der Bevölke-
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rungsmehrheit mehrfach nicht verwirklicht werden, etwa in den Fragen der Auflösung der utraquistischen Schule oder im Ortstafelstreit.
Politische und kulturelle Öffentlichkeit (Projektleitung : Werner Drobesch und Avguštin Malle) Die Kärntner Geschichte war seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als im Lande der Eintritt in das Zeitalter der Nationalisierung der Massen vollzogen wurde, eng mit der „nationalen Frage“ verknüpft. Aufgrund der gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Bedeutung dominierte der nationale Konflikt den öffentlichen Diskurs wie den politischen Alltag. Er wurde zu einem öffentlichen Thema ersten Ranges. In diesem Prozess der Nationalisierung bzw. (seit Ende der 1980er-Jahre) De-Nationalisierung der Massen kam der „Öffentlichkeit“ eine wichtige Rolle zu. Es entstand eine Wechselwirkung zwischen „Öffentlichkeit-Schaffen und geschaffener „Öffentlichkeit“. Parteien, Verbände, Vereine, kulturelle Eliten und insbesondere die Medien (Zeitungen, ORF) erzeugten eine „Öffentlichkeit“ und „verdichteten“ auf diese Weise das Problemfeld. Umgekehrt beeinflusste die geschaffene „Öffentlichkeit“ das Verhältnis von deutsch- und slowenischsprachiger Bevölkerung zueinander. Die „nationale Frage“ geriet in den Strudel der Tagespolitik und -polemik. Mit dem Einsatz von Instrumentarien und Institutionen des Öffentlich-Machens konstituierten sich nationale Milieus. Mit der „nationalen Frage“ im Zusammenhang stand nicht ausschließlich, aber doch sehr bestimmend eine Reihe von Problemfeldern, wie das nationale Selbstverständnis der Parteien (Positionen, Ziele, Agieren), die Volksgruppen und das Wahlverhalten seit 1907, die Frage der Kontinuitäten der politischen Eliten, die Rolle und Stellungnahme der kulturellen Eliten im bzw. zum nationalen Konflikt, der Stellenwert des Wirkens von Verbänden (Vereinen) in der „nationalen“ Frage sowie die Berichterstattung über die Volksgruppenfrage in Kärnten und Slowenien. Die Bedeutung der politischen und kulturellen Öffentlichkeit für die „nationale Frage“ wurde bisher in keiner Weise umfassend und vertiefend behandelt. Manches wurde nur angedeutet, anderes blieb unbehandelt. In diese Forschungsdesiderata will das Projekt mit seinen ausgewählten Problemfeldern vorstoßen. Bearbeitet wird weiters die Rolle der katholischen Kirche und der slowenischen Geistlichkeit im slowenischen gesellschaftlichen Leben. Die Arbeit der slowenischen Geistlichkeit wurde bisher vor allem unter dem Aspekt ihres politischen, kulturellen und sozialen Engagements betrachtet. Dies führte dazu, dass ihre pastorale Tätigkeit bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist.
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Zu Beginn des Jahrhunderts sah die Geistlichkeit ihren Hauptgegner im Liberalismus und in der Sozialdemokratie und baute auf die Gegenkraft der christlichsozialen Bewegung. Die Gegnerschaft zu Kommunismus und Nationalismus war ausgeprägt und fand auf slowenischer Seite Ausdruck in vielen grundlegenden Artikeln in der „Nedelja“. Die slowenische Geistlichkeit ventilierte lange die Idee eines eigenen Generalvikariats für die slowenischen bzw. zweisprachigen Pfarren der Diözese Gurk-Klagenfurt. Die Idee wurde mit Nachdruck gerade in Zeiten verfochten, in denen die slowenische Geistlichkeit zu erkennen glaubte oder meinte, dass ihr Einfluss am Ordinariat im Schwinden war. Heute kann von einer Teilautonomie im kirchlichen Bereich gesprochen werden. Über Kontakte der Diözese Gurk-Klagenfurt zu ihren slowenischen Nachbardiözesen Laibach/Ljubljana und Marburg/Maribor ist wenig bekannt. Eine Ausnahme stellt die seelsorgliche Mitbetreuung slowenischer Pfarren seitens der Gurker Diözese zur Zeit des Nationalsozialismus dar. Die slowenischen Katholiken und die slowenische Amtskirche bewerteten die Arbeit der Gurker Diözese meist vom „nationalen“ bzw. sprachpolitischen Standpunkt. Berührungspunkte könnte man noch hinsichtlich der Regelung der Diözesangrenzen und bei der Indienststellung slowenischer Geistlicher vor allem aus der Laibacher Diözese nach 1945 ausmachen. Als eine „slowenische Herzensangelegenheit“ könnte man noch Maria Saal bezeichnen. Die Beziehungen zwischen den Kärntner Slowenen und dem Ordinariat der Diözese Gurk-Klagenfurt waren durch ein ständiges Auf und Ab geprägt. Die Erwartungen, die die katholischen Laien in die Amtskirche gesetzt hatten, waren vielfach zu hoch. Beide Seiten versuchten sich gegenseitig zur Erreichung ihrer Ziele zu instrumentalisieren. Die Distanz Bischof Adam Hefters zum „Politischen und wirtschaftlichen Verein für die Slowenen in Kärnten“ war ausgeprägt, andererseits ist sein Eintreten für verfolgte slowenische Priester während des Ersten Weltkrieges unbestritten. Nach 1945 sahen breite Kreise katholischer Laien die Kirche als verlängerten Arm des Staates. Das Ordinariat verspielte seinen „Bonus“ aus der Zeit des Nationalsozialismus durch die Verzögerung der Rückkehr slowenischer Geistlicher in ihre Pfarren, die Haltung zur Verordnung vom 3. Oktober (zweisprachige Schule) und die Ereignisse vom April 1946 (Erinnerungsfeier an die Vertreibung 1942). Die Spannungen erreichten nach 1958 einen Höhepunkt und konnten erst im Rahmen der Diözesansynode aufgearbeitet und weitgehend beseitigt werden. Der evangelischen Kirche hafteten, was ihre „Stellung“ unter den Kärntner Slowenen im 20. Jahrhundert betraf, nur negative Eigenschaften an. Die Ablehnung der „Evangelischen“ bzw. „Protestanten“ beruhte vor allem auf
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ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Nähe zum Liberalismus (vor dem Ersten Weltkrieg) und zum Nationalsozialismus (die Bodenvermittlungsstelle des Kärntner Heimatbundes brachte vor allem Protestanten mit deutschnationaler bzw. nationalsozialistischer politischer Einstellung auf Höfe in Südkärnten). Die Haltung der Kärntner Slowenen zu den Evangelischen war also gerade zu einer Zeit extrem ablehnend, als auf der Laibacher Universität sich slowenische Literaturhistoriker anschickten, die slowenischen Protestanten als konstitutives Element der slowenischen Nationswerdung festzumachen.
Die politische Festtagskultur (Projektleitung : Ulfried Burz und Heinz-Dieter Pohl) Massenveranstaltungen, bei welchen Uniformierte in „geschlossenen Reihen“, musikalisch umrahmt von Trompeten- und Posaunenklängen, in Erscheinung traten, prägten das Straßenbild der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, nicht nur, aber vor allem Deutschlands, Italiens und Russlands. Doch dieser neue Agitationsstil, Großkundgebungen zu politischen Manifestationen werden zu lassen, war keine Erfindung totalitärer Regimes. Das Konzept vom „Gemeinwillen“ war schon in der ägyptischen, der griechischen und der römischen Gesellschaft und anderen Hochzivilisationen Bestandteil einer Alltagskultur, die dazu diente, Mythen und Symbole zu schaffen. Der „Gemeinwille“ wurde zu einer neuen, gleichsam säkularisierten Religion emporgehoben. Das Volk huldigte sich selbst und die Gestalter von Politik verstanden es, diese Huldigung zu lenken und zu formalisieren. In Europa begegnete man spätestens seit 1945 derartigen Demonstrationen zwar mit größerer Vorsicht, hatten es doch autoritäre Regierungen verstanden, mittels einer neuen nationalen Liturgie einen Patriotismus zu schaffen, der jedem Opfertum Sinn und Inhalt zu vermitteln schien. Trotz der negativen Erfahrungen, wozu politische Festtage missbraucht werden können, sind Nationalfeiertage, Erinnerungs- und Gedenktage auch in der Gegenwart ein fixer Bestandteil der politischen Kultur. In Kärnten und Slowenien schien die politische Festtagskultur, aufgrund der spezifischen Geschichte der Grenzregion, ein prägnantes Profil erhalten zu haben. Dabei kam den Jahren 1918 bis 1920 eine zentrale Bedeutung zu. In dieser Zeit hatte sich, so eine in der Kärntner Gesellschaft bis heute weit verbreitete Ansicht, bedingt durch den „Abwehrkampf“ und die Volksabstimmung, ein starkes Landesbewusstsein entwickelt. Schon ein oberflächlicher Blick in verschiedene Presseorgane oder in das Vereinsleben des Landes
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belegt, dass dieses Landesbewusstsein oft und oft, wenn auch in unterschiedlicher Qualität, Gegenstand von Diskussionen war. Ähnliches galt für Slowenien, in dessen Geschichte der „Kampf um die Nordgrenze“ ebenfalls tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hatte. Für die Erinnerung an diese Zeit und darüber hinaus sorgten zahlreiche Vereine, die sich in Kärnten im Vergleich zu anderen Bundesländern auf eine gut ausgebaute Organisationsstruktur stützen können. Eine flächendeckende Untersuchung darüber liegt für Slowenien noch nicht vor, doch besteht kein Zweifel, dass auch hier Vereine bei der Umsetzung gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Ziele in der Öffentlichkeit tätig sind. In Kärnten gilt dies insbesondere für Festakte rund um die 10.-Oktober-Feier, aber auch für das in der Öffentlichkeit mitunter heftig diskutierte Ulrichsbergtreffen. In Slowenien bildeten der Jahrestag der Gründung der Befreiungsfront (27. April), der Tag der Arbeit (1. Mai), der Tag des Staatswesens (25. Juni), der Tag der Befreiung (29. Oktober), der Tag der Republik (29. November) und der Tag der Selbstständigkeit (26. Dezember) Bestandteile einer Festtagskultur, die nach der Gründung der unabhängigen Republik Slowenien unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen keineswegs überall in neue Formen gegossen wurde. Zusätzliche Bedeutung ist den Gedenktagen, an welchen der Vorbilder nationaler Identitätsstiftung – France Preseren, Valentin Vodnik, General Maister – gedacht wird, beizumessen. Ziele des Projektes sind zunächst einmal die Entstehungsgeschichte der l0.-Oktober-Feier – dazu liegen bereits zahlreiche Publikationen vor – und der Ulrichsbergfeier – hier muss erst ein solides Quellenfundament aufgebaut werden – zu dokumentieren, später auch in einem komparatistischen Verfahren den Stellenwert des Nationalfeiertages herauszuarbeiten. Weiters sollen die soziale und/oder politische und/oder vereinsmäßige Herkunft der Festtagsorganisatoren erfasst sowie deren Zielvorstellungen rekonstruiert werden. In den einzelnen Teilprojekten werden u. a. „Heimat“ und „Welt“ als fruchtbarer Widerspruch (Robert Wlattnig), der Finanzausgleich zwischen Kärnten und Österreich (Hannes Kattnig), die Wirtschaftspolitik über die Grenze (Fritz Jausz und Nada Vilhar), die Verschleppungen von Kärntnern 1945 durch Tito-Partisanen (Susanne Hartl), gelenkte Assimilierungsmaßnahmen über Kirchen, Schule, Amtssprache (Vinzenz Jobst und Berta Luschin), die Kontinuität der politischen Eliten 1918/1945 (Alfred Elste und Michael Koschat), das Wahlverhalten seit 1907 (Heide Wilscher und Dirk Hänisch) bearbeitet. Mit dem Koordinationsausschuss der Diözese Gurk setzt sich Peter Tropper auseinander, über die Parteien der Slowenen arbeitet Johann Filipic.
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Die politische Festtagskultur Kärntens 1945–2000 im Medienspiegel analysiert Christian Pichler, die „Ulrichsberggemeinschaft“ und die „Kärntner Landsmannschaft“ untersucht Thomas Pseiner. Erschienen in : Stefan Karner, Die nationale Frage in Kärnten im 20. Jahrhundert, in : Karl Anderwald – Peter Karpf – Hellwig Valentin (Hg.), Kärntner Jahrbuch für Politik 2000. Klagenfurt 2001, S. 305–315.
Oberkrain und Untersteiermark 1941–1945: zur NS-Okkupationspolitik in Slowenien (2005)
Als Hitler im März 1938 am Wiener Heldenplatz den „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ proklamierte und der „Ostmark“ ihre nationalsozialistische „Mission“ des „Bollwerkes“ gab, so galt dies auch für die Grenzländer im Südosten, Kärnten und Steiermark. In wirtschaftlichen Belangen programmatisch als „Südmark“ zusammengeschlossen, sollten beide Länder Grenzmarken der NS-Ideologie, NS-Kultur und Wirtschaft des „Dritten Reiches“ gegenüber Südosteuropa, vor allem gegenüber Jugoslawien, sein. Der Grazer Eugeniker Rudolf Polland sah schon 1929 den Steirer als „tapferen, standhaften Grenzwächter, zum Schutzwall für das […] stärker nordisch bedingte […] Binnendeutschtum“, sodass die Steiermark „alle Gewähr dafür bietet […] eine treue Hüterin des Deutschtums im Südosten“ zu bilden. Das Land wurde wieder, was es „unter Karl dem Großen und Otto I. geworden war : eine Grenzmark des Reiches, die Südmark“, formulierte etwa der Landeshistoriker und gebürtige Untersteirer Hans Pirchegger. Und NS-Landesrat Josef Papesch ergänzte in „alter Südmark“-Tradition : „Wir sind straffer, wachsamer, energischer als die deutsche Mitte und es ginge dieser deutschen Mitte schlecht, wenn wir diese Eigenschaften nicht hätten.“1 Die „Südostgrenze“ schloss begrifflich ab 1938 auch jene Gebiete im Norden Sloweniens mit ein, in denen starke deutsche Minderheiten lebten bzw. die 1919 von Österreich abgetrennt worden waren. Dabei konnte das NS-System auf jahrzehntelange deutschnationale „Kultur- und Aufbauarbeit“, etwa des „Deutschen Schulvereins Südmark“, teils mit denselben Personen, zurückgreifen. Die Grenze im breiten Wortsinn war so Teil der Identität beider Länder geworden, hatte nunmehr jedoch neben der nationalen eine nationalsozialistische Ausrichtung bekommen. Umso mehr, als 1941 mit dem militärischen Griff nach dem Balkan auch die nordslowenischen Gebiete von Oberkrain und der Untersteiermark an die „Südmark“ angegliedert worden waren. „Grenzer“ brauchte man daher nicht erst zu werden, „Grenzer“ war man bereits. Zur nationalen Grenzer-Funktion brachte der Nationalsozialismus noch die rassische Komponente dazu : die 1
Nach Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung. 3. durchges. Auf. Graz 1994, hier S. 167f., 189f.
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Überlegenheit des „Deutschen“, des Germanischen, gegenüber dem Slawischen oder Slowenischen. Das Gefühl jedes Grenzbewohners, weder da noch dort wirklich dazuzugehören, nirgends wirklich zu Hause zu sein, wurde mit dem deutschen NS-Herrenmenschentum und der NS-Volksgemeinschaft überwunden. Jetzt wusste man, wohin man gehörte, ja, wohin man allein schon aus rassischen Gründen nicht mehr gehören konnte. Am 12. April 1941 hatte Hitler die Richtlinien zur „Aufteilung Jugoslawiens“ bzw. seiner nördlichen Gebiete auf die Steiermark und Kärnten festgelegt :2 Vier Tage zuvor hatte in Graz eine Besprechung zwischen dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium Wilhelm Stuckart, den neuen Chefs der Zivilverwaltungen (CdZ) Uiberreither und Kutschera sowie dem Grazer Regierungspräsidenten Otto Müller-Haccius stattgefunden, bei der die entscheidenden Fragen der Grenzziehung (im Wesentlichen die Save mit Ausnahme von Ljubljana und im Gebiet Brežice, wo man über die Save ging), der Organisation der Zivilverwaltung, der Einrichtung des „Kärntner Volksbundes“ und des „Steirischen Heimatbundes“, der Verfolgung von „Nationalslowenen“, der Behandlung der großen Masse der als „Windische“ (d. h. „Eindeutschungswillige“ und nach NS-Kriterien „Eindeutschungsfähige“) bezeichneten Bevölkerung sowie grundlegende wirtschaftliche Angelegenheiten, d. h. vor allem die Eingliederung der Großindustrie in die Rüstungsindustrie, entschieden wurden.3 1931 lebten auf dem Gebiet Sloweniens insgesamt 1.144.298 Menschen, davon waren gemäß der Volkszählung 28.998 „Deutsche“ und 1.077.679 Slowenen. Für Krain (inklusive Gottschee und Unterkrain) wies die Volkszählung 1931 insgesamt 515.245 Personen (davon 5.099 „Deutsche“ und 484.818 Slowenen), für die Untersteiermark insgesamt 541.036 Personen (davon 12.410 „Deutsche“ und 512.392 Slowenen) aus. Dazu kam noch die erhobene Bevölkerung des nach Kärnten eingegliederten Mießtales und des 1941 letztlich zu Ungarn geschlagenen Übermurgebietes mit zusammen 90.717 Menschen (davon 1.489 „Deutsche“ und 80.469 Slowenen).
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OKW–FHQu, „Vorläufige Richtlinien für die Aufteilung Jugoslawiens“, v. 12.4.1941, in : Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 10. Nürnberg 1974, S. 488. Bundesarchiv (= BA), R 18/5429 ; Tone Ferenc (Hg.), Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941–1945. Maribor 1980, S. 38f.; und persönliche Mitteilungen von Prof. Dr. Manfred Straka (f), der an den Besprechungen teilgenommen hatte.
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Die Verwaltung der besetzten Gebiete Die vielen organisatorischen, wirtschaftlichen und ethnischen Problemfelder bei der Einrichtung der Zivilverwaltungen wurden bei der entscheidenden Besprechung kaum angesprochen. Dies betraf besonders Oberkrain. Kutschera hatte sich offensichtlich gegen den ihm intellektuell und an Durchsetzungsvermögen weit überlegenen Uiberreither nicht durchsetzen können. Zudem zeigten die Kärntner Nationalsozialisten von Beginn an wenig Interesse an der Zivilverwaltung in Oberkrain. Ihr Hauptinteresse lag im Anschluss von Dravograd, des Mießtals (Blei-Zink-Bergbau, Stahlwerk, alles Kärntner Gebiet) und des Asslinger Dreiecks (durchgehende Bahnverbindung Richtung Adria).4 Sehr schnell sollte auch die Grenzziehung zu den deutschen Bundesgenossen Italien und Kroatien entschieden werden, was sowohl Oberkrain als auch die Untersteiermark betraf :5 In die Karte des Führers wurde mit Bleistift hier in Graz die neue Grenze eingetragen. Die Kärntner hatten zunächst kein Interesse an Oberkrain, mussten es schließlich aber doch schlucken. Die Grenze im Bogen um Laibach war ein Unsinn. Hitler wollte es jedoch so, um – wie es hieß – für später, falls es notwendig werden sollte, einen Streitpunkt mit Italien zu haben.
Hinsichtlich der Grenze zu Kroatien und Ungarn entschied sich Hitler für die Beibehaltung der historischen Ostgrenze gegen Kroatien, stimmte aber der Übermur-Lösung prinzipiell zu. So wurde die deutsche Militärverwaltung in den Bezirken Murska Sobota und Lendava aufgelöst und nur noch vier Katastralgemeinden6 des alten Landkreises Murska Sobota mit rund 1.700 Einwohnern7 zur Steiermark geschlagen. Entschieden wurde auch, dass Pastor
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Denkschriften von 1940, zit. nach : Ferenc, Quellen, S. 25f. Freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Manfred Straka, einem Teilnehmer der Besprechungen. Es waren dies die Katastralgemeinden : Fiksinci, Ocinje, Serdica und Kramarovci. Die letzten drei gehörten zur Gemeinde Rogasevci, Fiksinci zur Gemeinde Pertoca. – Gemeinde- und Ortschaftsverzeichnis der Gebiete der Untersteiermark, Kärntens und Krains. Remagen 1954, S. 151 ; Manfred Straka, Untersteiermark. Unvergessene Heimat. Graz 1965, S. 110 ; und Ortschaftsverzeichnis zur Gemeindegrenzkarte von Untersteiermark, Südostdeutsches Institut (Hg.), Mießtal und Übermurgebiet. Bearb. v. Manfred Straka u. Wilhelm Sattler. Graz 1940, o. S. BA Koblenz, R 2/11448a. Bericht des Verbindungsmannes des Reichsministers d. Innern zum CdZ, Dr. Hans Müller-Scholtes, v. 30.6.1941.
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Hans Baron, bis 1941 der Führer des „Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes“ und der untersteirischen „Deutschen“, keine Funktion mehr erhalten sollte.8 Militärisch wurden die besetzten Gebiete bis zum Aufbau einer zivilen Verwaltung zunächst von Militärdienststellen der Deutschen Wehrmacht verwaltet.9 Verwaltungstechnisch wurden Oberkrain und die Untersteiermark zunächst von „Politischen Kommissaren“ in den einzelnen Bezirken geführt (für die einschneidenden Maßnahmen, wie : Deportationen von „Nationalslowenen“, Liquidierung slowenischer Organisationen und Beschlagnahme ihres Vermögens, Entfernung slowenischer Orts- und Geschäftsschilder), Anfang Jänner 1942 jedoch in neu zusammengelegte Stadt- und Landkreise unterteilt, denen Oberbürgermeister bzw. Landräte vorstanden, die wiederum von den Regierungspräsidenten ernannt wurden. Oberkrain wurde in die vier Landkreise Kranj (Krainburg), Radovljica (Radmannsdorf), Kamnik (Stein) und Škofja Loka (Bischoflack) aufgeteilt und das Mießtal den Kärntner Landkreisen Völkermarkt und Wolfsberg zugeschlagen. Die Untersteiermark mit ihren 12 Land- und drei Stadtbezirken wurde nunmehr in sechs Land- und einen Stadtkreis Celje (Cilli), Ljutomer (Luttenberg), Maribor ok. (Marburg-Land), Ptuj (Pettau), Brežice (Rann) und Trbovlje (Trifail) unterteilt. Auf Gemeindeebene wurden die Entscheidungen zumeist vom sogenannten „Ortsdreieck“ getroffen, das aus dem Bürgermeister, aus dem Ortsgruppenführer des „Heimat- bzw. „Volksbundes“ sowie dem Ortsbauernführer bzw. einem Vertreter von Gewerbe und Industrie bestand. Seine Entscheidungskompetenz war lokal weitreichend und reichte von Stellungnahmen zu Kreditvergaben bis zu maßgeblichen Bewertungen bei Einberufungen zur Wehrmacht oder Uk-Stellungen. Die neu eingerichteten Zivilverwaltungen unter Führung der Gauleiter von Kärnten und Steiermark hatten ihre Sitze formell in Bled bzw. in Maribor und mit ihren Stäben und Behörden sowohl administrative als auch politische Aufgaben wahrzunehmen. In regelmäßigen „Stabsbesprechungen“ informierten sich die Chefs der Zivilverwaltungen über die politische (Partei, Vorfeldorganisationen, Germanisierungspolitik, Umsiedlungen), wirtschaftliche (Versorgung, Industrie, Rüstung, Landwirtschaft), kulturelle (Schulen, Theater, Literatur, Kunst) und zunehmend über die sicherheitspolitische Situation (Partisanenaktionen, Widerstand) in den angeschlossenen Gebieten. In diesen Besprechungen, die aus praktischen Gründen meist in Graz oder Klagenfurt abgehalten und oft vertretungshalber von den Regierungsprä-
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Ferenc, Quellen, S. 41. BA, R 41/146.
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sidenten geleitet wurden, fiel ein wesentlicher Teil der Entscheidungen zur Verwaltung und Politik in den angegliederten Gebieten. Die Außerachtlassung des evangelischen Pastors Hans Baron bei der Postenvergabe erscheint symptomatisch für die personelle Rekrutierungspraxis der politischen Führungsgarnitur in den besetzten Gebieten. In den höheren Verwaltungsorganen kamen vorwiegend „Reichsdeutsche“ oder Personen zum Einsatz, die mit den ethnischen Gegebenheiten und Verzahnungen wenig vertraut waren bzw. auf persönliche Bindungen keine Rücksicht zu nehmen brauchten. Selbst hochrangige NS-Funktionäre wie der gebürtige Untersteirer Gauhauptmann Prof. Armin Dadieu erhielten keine Verwendung.10 SA-Brigadeführer Sigfried Uiberreither, Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark, stammte aus Salzburg, SS-Brigadeführer und Salzburger Gauleiter Friedrich Rainer, ab Dezember 1941 Chef der Zivilverwaltung in Oberkrain,11 stammte aus St. Veit/Glan. Franz Steindl und Wilhelm Schick, die zu Chefs der mächtigen und für die folgende Entwicklung maßgeblichen NSDAP-Vorfeldorganisationen „Steirischer Heimatbund“ (für die Untersteiermark)12 und „Kärntner Volksbund“ (für Oberkrain)13 aufstiegen, kamen von auswärts. Otto Lurker, der Polizeichef von Maribor, die SS-Aussiedlungsstellen oder die Spitzen der Verwaltung waren mit „Reichsdeutschen“, Oberkärntnern und Obersteirern besetzt worden. Die Umsiedlungsplanungen wurden von Himmlers Stabsstellen in Berlin, meist nach schematischen NS-Vorgaben und „Erfahrungen“ aus Polen, dem Elsass oder der Tschecho slowakei und ohne Detailkenntnisse vor Ort, vorgenommen und in den slowenischen Gebieten von teils blind ergebenen Erfüllungsgehilfen, die hierher aus anderen Reichsgebieten versetzt worden waren, durchgeführt. 10 Privatbestand Karner, Sammlung Dadieu. 11 Vgl. Ferenc, Quellen, S. 39. 12 Ebd., S. 41, der in einem Vermerk des Reichsinnenministeriums vom April 1941 die Aufgaben des „Steirischen Heimatbundes“ als „Vorbereitungsarbeit“ beschreibt, „bis später nach einigen Jahren der Steirische Heimatbund in die Partei über[ge]führt werden kann“. 13 Der „Kärntner Volksbund“ unter Bundesführer Schick war schon im Herbst 1941 wegen angelasteter Passivität in der Erfüllung seiner „Eindeutschungs“-Aufgaben u. a. von Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Reichsorganisationsleiter Ley und von RKFDV SS-Obersturmbannführer Alois Maier-Kaibitsch stark kritisiert worden. Tatsächlich war bis September 1941 vom „Kärntner Volksbund“ noch keine einzige Mitgliedskarte ausgegeben worden, während zu dieser Zeit etwa der „Steirische Heimatbund“ bereits Tausende Karten vergeben und die Einteilung der untersteirischen Bevölkerung für die Zuerkennung der verschiedenen Formen der Staatsbürgerschaft weitgehend getroffen hatte. Berichte des Leiters der Zweigstelle Veldes des Reichspropagandaamtes in Kärnten, Lothar Weber, an das Propagandaministerium in Berlin, v. 2.9.1941 und 25.11.1941, Ferenc, Quellen, S. 370f.
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„Dieses Land ist wieder deutsch zu machen !“ Wie Hitler am Wiener Heldenplatz, so proklamierten auch die zwei neuen Chefs der Zivilverwaltungen von Oberkrain und der Untersteiermark in Klagenfurt und Maribor die „neue Mission“ der anzuschließenden, überwiegend von Slowenen besiedelten Gebiete : deutsches Grenzland im Südosten des Reiches, ein vorgeschobenes Bollwerk der „Südmark“ zu sein. Dazu wollte der steirische Gauleiter Uiberreither ,,[…] dieses Land so heranbilden, dass drinnen nur Platz hat der Deutsche […]. Mit diesen wollen wir arbeiten. Und alles andere, meine Volksgenossen, daraus mache ich auch öffentlich kein Hehl, das muss hinaus ! […] Wir werden mit Eiseskälte alle jene Maßnahmen treffen, die erforderlich sind […]. Denn dass dieses Land, wenn einmal der Führer seinen Beauftragten entsendet hat, deutsch ist auf ewig, daran zweifelt heute auf der Welt niemand mehr […].“14 Und der stellvertretende Kärntner Gauleiter Franz Kutschera versprach seinem „[…] Führer, dass wir unsere Pflicht hier bis zum letzten erfüllen werden“.15 Dem Erreichen des von Hitler gegebenen Zieles, „Dieses Land ist wieder deutsch zu machen“, galten alle Maßnahmen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Oberkrain und Untersteiermark sollten als Teile der „Südmark“ an der Südost-Ecke des „Dritten Reiches“ Aushängeschilder der Leistungen und der Modernität des „Deutschen Reiches“ werden. Die politische Organisierung der Bevölkerung jener Gebiete wurde vor allem geprägt von der Aufstellung des „Steirischen Heimatbundes“ und des „Kärntner Volksbundes“ als Vorfeldorganisationen der NSDAP. Sie sollten sowohl „Deutsche“ als auch „die in ihrer Mehrzahl deutschfreundlichen Windischen“ umfassen, denn „nur ganz besonders verdiente Volksgenossen könnten schon jetzt in die Partei übernommen werden.“ Wegen der primären Konzentration des Interesses der Kärntner Nationalsozialisten auf die Eingliederung des Mießtales und der Frage des Jesenice schenkte Kutschera der Aufstellung der NSDAP-Vorfeldorganisation in Oberkrain nur wenig Beachtung, sodass der „Kärntner Volksbund“, als Oberkrainer Pendant zum „Steirischen Heimatbund“, erst eineinhalb Monate später, am 24. Mai 1941, gegründet wurde.16
14 Vgl. Stefan Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien. Aspekte ihrer Entwicklung 1939–1997. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 1998, S. 81f. 15 Kärntner Grenzruf, v. 2.5.1941, zit. nach : Ferenc, Quellen, S. 85f. 16 Verordnung des CdZ in Kärnten und Krain, Kutschera, zit. nach : Ferenc, Quellen, S. 129.
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Zur Hauptaufgabe der beiden NSDAP-Vorfeldorganisationen wurde die „Eindeutschungsarbeit“, wobei überall dort, „wo die Bevölkerung Deutsch nicht versteht, diese auch in windischem Dialekt durchgeführt werden muss“. Die „Nationalslowenen“ in der Untersteiermark und die „slowenisierten Windischen“, etwa der Oberkrain, wurden „grundsätzlich als Staatsfeinde“ betrachtet, deportiert und ihr Vermögen beschlagnahmt. Dabei handelte es sich vor allem um Intellektuelle, Geistliche und Beamte. Mit den Chefs der Zivilverwaltungen Uiberreither und Rainer hatten SA und SS hohe Positionen im angeschlossenen Gebiet erhalten und andere Herrschaftsträger des „Dritten Reiches“ klar dominiert.17 Nur in den rassenund volkspolitischen Fragen der 1941 angegliederten slowenischen Gebiete hatten sich Uiberreither und Rainer weitgehend den Anordnungen der SS bzw. des „Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland“ in Salzburg (Erwin Rösener) unterzuordnen. So setzte etwa die SS 1942 gegen den Protest Uiberreithers die Aussiedlungen fort. Die „Eindeutschungsarbeit“ in den slowenischen Gebieten zeigte die Rassen- und Volkstumsideologie des Nationalsozialismus in ihrer praktischen Ausformung. Betroffene waren in erster Linie Slowenen, aber im Wege über eine Kriminalisierung auch „Zigeuner“. Die Slowenen wurden von den NS-Rassenideologen in ihrer überwiegenden Mehrzahl als „rassisch wertvoll, blutlich und politisch anerkannt und voll eindeutschungsfähig“18 betrachtet. Jene, die den rassischen und politischen Werteskalen der Nationalsozialisten nicht entsprachen, wurden ausgesiedelt. Die von dem NS-Okkupator sofort ergriffenen drakonischen Maßnahmen der Aussiedlungen, Inhaftierungen und Ermordungen lehnten viele im Lande sesshafte Angehörige der deutschsprachigen Volksgruppe ab, andere machten – meist auf niederer, lokaler Ebene – bei den brutalen NS-Maßnahmen gegen die Slowenen mit oder wurden dazu von den NS-Organen aufgefordert und angehalten :19 – Die Deportationen von Tausenden „nicht-eindeutschungsfähigen, rassisch minderwertigen“ Slowenen und politischen Gegnern sowie von rund 17 Dazu Karner, Steiermark im Dritten Reich, S. 123–166. 18 Nach den entsprechenden Himmler-Richtlinien, erlassen am 18.4.1941, unmittelbar nach seinen Besuchen in Klagenfurt, Maribor und Celje, wo er den sogenannten „Cillier Häfen“ besuchte, in dem sich bereits zur Aussiedlung vorgesehene Slowenen befanden, zit. nach Ferenc, Quellen, S. 60f. 19 Vgl. zum Folgenden : Marjan Žnidarić, Okupatorjevi raznarodovalni ukrepi v Mariboru leta 1941 [Maßnahmen der Besatzungsmacht zur Assimilierung der Marburger Bevölkerung im Jahre 1941], in : CZN, 1–2/1977, S. 276f.
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30.000 Slowenen aus einem Grenzstreifen südlich der Save um Brežice („Ranner Dreieck“) zur Anlage eines „völkischen Schutzwalls“ an der Südostecke des „Dritten Reiches“ (siehe weiter unten). – Die Absiedlungen der Gottscheer aus dem italienisch verwalteten Teil Krains in das „Ranner Dreieck“, was zwar den Anteil der deutschsprachigen Volksgruppe im besetzten Gebiet schlagartig erhöhte, in der Folge jedoch große Probleme brachte und zu vielen Tragödien führte. – Die vielfältige Germanisierungsarbeit in Oberkrain und der Untersteiermark, wo diese mit Unterstützung des „Kärntner Volksbundes“ und vom „Steirischen Heimatbund“ in erster Linie durch Deportationen, politischen Druck, Repressalien, Veranstaltungen und verpflichtende Deutschkurse durchgeführt wurde. – Die Einbindung der größten Masse der als „geeignet“ bewerteten slowenischen Bevölkerung (der „Windischen“) in den „Steirischen Heimatbund“ und in den „Kärntner Volksbund“. – Die umfangreiche Beschlagnahmung slowenischer Vermögenswerte. Dazu wurden die jeweiligen slowenischen Unternehmen als „volks- und staatsfeindlich“ erklärt und anschließend das Vermögen meist zugunsten einer NS-Organisation liquidiert.20 – Die rassische Überprüfung der gesamten „nicht-deutschen“ Bevölkerung in den okkupierten Gebieten und ihre Zuordnung nach vier rassischen Eignungsgruppen und nach fünf politischen und Wertungskategorien. Die Bewertungen dienten zur Ausfolgung der deutschen Staatsangehörigkeit, die – nach einer entsprechenden Reklamation des „Heimatbundes“ und des „Volksbundes“ – mit einer entsprechenden Mitgliedschaft in diesen NSDAP-Vorfeldorganisationen gekoppelt war. Im Rahmen der Aussiedlungen wurden allein aus der Untersteiermark zwischen 1941 und 1943 in das Deutsche Reich 35.092 Slowenen, aus Oberkrain und dem Mießtal 3.324 Slowenen und aus Kärnten im Jahre 1942 – trotz Protesten, u. a. vom Dichter Josef Friedrich Perkonig und dem Gurker Bischof Andreas Rohracher – 917 Slowenen deportiert.21 20 Bericht des RKFDV in Veldes, v. 20.5.1941, zit. nach : Ferenc, Quellen, S. 108. 21 Stefan Karner, Die Aussiedlungen der Kärntner Slowenen in der Untersteiermark. Ein Beispiel nationalsozialistischer Volkstumspolitik, in : ÖGL, 3/1978, S. 163 ; und Wilhelm Wadi, Das Jahr 1945. Ein Überblick. Klagenfurt 1985, S. 12. Die ursprünglichen Aussiedlungslisten waren in Kärnten 1939 von den Kreisbauernführern Südkärntens unter der Aufforderung erstellt worden, allgemein als Slowenen bekannte Personen bzw. Familien zu nennen. Dieser Umstand erklärte auch die Entrüstung der Kreisbauernführer, als ihre Listen 1942 die Unterlage für die Aussiedelungen wurden. Bis zuletzt
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1943 waren die Chefs der Zivilverwaltungen Rainer und Uiberreither auch zu Reichsverteidigungskommissaren ernannt worden mit zusätzlichen Kompetenzen für ethnische Maßnahmen gegen Slowenen, Juden und „Zigeuner“. Damit hatten ihre Reichsgaue auch militärische Grenzsicherungsaufgaben erhalten : den Bau des „Südostwalls“ entlang der steirisch/deutsch-ungarischen Grenze, den Ausbau der „Alpenfestung“ und der Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland“.22 An den Verteidigungsanlagen arbeiteten täglich Zehntausende Menschen, vor allem Zwangsarbeiter, ungarische Juden, Hitlerjugend aus der Steiermark und KZ-Häftlinge.
Wirtschaft In den letzten Jahren des Königreiches SHS, vor allem aber nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938, wurde die Wirtschaft des slowenischen Gebietes zunehmend von der starken wirtschaftlichen Expansion des in einer militärischen Aufrüstung befindlichen „Dritten Reiches“ bestimmt. Die politische Erstarkung der deutschsprachigen Volksgruppe zu Beginn der dreißiger Jahre ging im slowenischen Gebiet vor allem auch auf die langsame Wiedergewinnung ihrer wirtschaftlichen Stärke zurück, die sie bis 1918 gehabt hatte. Denn : – Trotz der einige Jahre andauernden staatlichen Sequestrierung und Staatsaufsicht waren die wesentlichen Vermögenswerte im Lande geblieben. – Dem nationalen Umbruch der Jahre 1918/19 war auf dem Gebiet Sloweniens kein gesellschaftlicher gefolgt. – Die deutschsprachige Volksgruppe war für die Wirtschaft des slowenischen Gebietes vor allem aus drei Gründen maßgeblich geblieben : – wegen der noch immer starken Kapitalpräsenz österreichischer, „reichsdeutscher“, aber auch Schweizer Eigentümer (z. B. Stahlwerke in Jesenice und Ravne (Gustanj), das Emaillierwerk August Westen in Celje) ; konnten durch Interventionen von Kreisbauernführern und Bürgermeistern Hunderte zur Absiedlung vorgesehene Slowenen aus den Listen gestrichen werden. Freundliche Mitteilung des Völkermarkter Kreisbauernführers Hubert Männer, Krumpendorf, an den Verfasser. Zur Untersteiermark : Stefan Karner (Hg.), Die Stabsbesprechungen der NS-Zivilverwaltung in der Untersteiermark 1941–1944. Unserer Zeit Geschichte. Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Karl-Franzens-Universität, Bd. 3. Graz 1996 ; Karner, Volksgruppe, S. 69–116. 22 Vgl. dazu : Karl Stuhlpfarrer, Die Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland“ 1943–1945. Publikation des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte und des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, Bd. 7. Wien 1969.
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– wegen des starken Know-how-Transfers in die slowenische Wirtschaft und Industrie durch angestellte Ingenieure aus Deutschland und Österreich, wie in der Trifailer Kohlenindustrie, im Draukraftwerk Fala, bei der Pulverfabrik Kamnik oder in der Marburger Textilfabrik ; – wegen der starken Exportabhängigkeit der slowenischen Industriebetriebe von den nördlichen Nachbarn, insbesondere von Deutschland und Österreich, aber auch der Tschechoslowakei, wie dies etwa am Beispiel nahezu aller großen, mehrheitlich im slowenischen Eigentum befindlichen Firmen deutlich gezeigt werden kann (die Marburger Textilfabrik bezog 1939 etwa den Großteil der zur Produktion benötigten 275 Tonnen Farben und Chemikalien aus dem „Deutschen Reich“). Die führende slowenische katholische Zeitung, der Laibacher „Slovenec“, schrieb 1932 das Gefühl vieler Slowenen nieder : „Der Deutsche ist bei uns der Herr, er ist Fabriksbesitzer, Kaufmann oder wenigstens Fleischhauer. Ja, er ist der Herr, in dessen Händen das Schicksal Tausender unserer Arbeiter liegt. Er ist ihr Brotgeber – so denkt er bei sich. Er fühlt sich als Sohn einer herrschenden Nation […].“23 Mit der Angliederung der slowenischen Gebiete und ihrer wirtschaftlichen Integration nach Steiermark und Kärnten sollte das Gebiet der „Südmark“ ein wirtschaftliches Aushängeschild nationalsozialistischer Leistungen sein, zumal man sich im Schaufenster gegenüber dem Südosten Europas glaubte. Wo immer der Händler vom Balkan her die Steiermark oder Kärnten betrat (ob in Brežice oder in Kranj), sollte er mit den wirtschaftlichen und sozialen „Errungenschaften“ des „Dritten Reiches“ konfrontiert werden und merken, dass er sich nicht in einer Randprovinz, sondern mitten im Deutschen Reich befand. Das angeschlossene Gebiet verfügte über sehr große, großteils noch wenig ausgelastete ökonomische Ressourcen und einen sehr guten Facharbeiterstand und erbrachte zwischen 1941 und 1945, trotz aller Umstellungsprobleme und zunehmender Partisanentätigkeit, die die Industrieleistungen wesentlich hemmten, wirtschaftliche und industrielle Werte, die weit über die bloße Größe der Flächen- und Bevölkerungszahl hinausgingen. Verwiesen sei für Oberkrain besonders auf die Rüstungsproduktionen bei der KIG – Aßling in Jesenice, einem bedeutenden Stahlwerk, das nun Pan-
23 Slovenec, v. 15.2.1932, deutsche Fassung nach Arnold Suppan, Zur Lage der Deutschen in Slowenien zwischen 1918 und 1938, in : Helmut Rumpler – Arnold Suppan (Hg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien 1848–1941. Zgodovina Ncmcev na obmoeju danasnje Slovenije 1848–1941. Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropainstitutes, Bd. 13. Wien – München 1988, S. 188.
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zerplatten für Flugzeuge und Panzer erzeugte, bei der Titan-AG in Kamnik, die Granaten produzierte, beim Feinmaschinenbau Willi Schubert in Kranj, bei den Littai-Pragwalder Textilwerken in Litija, die Garne für die Wehrmacht lieferten, bei den Textilfabriken Glanzmann & Gassner in Tržič, Intex in Kranj, der Leinenwarenindustrie AG in Jarše und bei der aus Schweinfurt nach Škofja Loka verlagerten Wälzlagerfabrik sowie vor allem bei dem aus Berlin nach Kranj verlagerten Siemens-Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde, das in die hochtechnologischen Programme zum Projekt des A4 („V2“) eingeschlossen war. Dazu kamen noch die E-Werke an der Drau und Save, das Stahlwerk in Ravne (Gustanj) und der Mießer Blei- und Zinkbergbau (mit dem Stahlhärter Molybdän), die zusammen mit Bleiberg etwa drei Prozent der Reichserzeugung an Blei stellten.24 Für die Untersteiermark können vor allem die Rüstungsfirmen Westen AG in Celje, die u. a. Seeminen, Wasser- und Flugzeugbomben lieferte, das VDM-Luftfahrtwerk in Maribor, das Propeller und Flugzeugmotoren produzierte, die Marburger Allgemeine Baugesellschaft, die Teile für U-Boote und Kriegsschiffe fertigte, Pengg in Maribor mit Kartuschenhülsen sowie Bühl in Maribor mit Munition und Artilleriegeschossen genannt werden. Dazu kamen die Zinkhütte in Celje und die Aluminiumhütte in Strnišče, die Wasserkraftwerke an der Drau (Fala und Mariborski otok) und die Dampfkraftwerke sowie die Kohlenressourcen in Velenje und Trbovlje.25 Die Organisation für die Rüstungsindustrie für Oberkrain und die Untersteiermark übernahmen das Rüstungskommando in Graz und das von ihm abgetrennte, neue Rüstungskommando in Klagenfurt, die jeweils zur Rüstungsinspektion (RüIn) des Wehrkreises XVIII in Salzburg gehörten. Die RüIn XVIII unterstand direkt dem „Rüstungsministerium“ unter Fritz Todt und Albert Speer. Die gewerbliche Wirtschaft der slowenischen Gebiete wurde organisatorisch den nunmehr selbstständigen Gau-Wirtschaftskammern in Graz und Klagenfurt unterstellt, womit die „Wirtschaftskammer Südmark“ zu bestehen aufgehört hatte.26
24 Detailreich bei : Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945. Unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Landeshauptstadt Klagenfurt, Bd. 2. Klagenfurt 1976, S. 131–320. 25 Dazu ausführlicher : Karner, Steiermark im Dritten Reich, S. 254–270, 549–565. 26 Ebd., S. 229f.
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Kultur Im Bereich der Kulturpolitik wurde auch in den besetzten Gebieten die NS-Ideologie mit den althergebrachten Formen der Volkskultur verbunden. So behielt etwa in der Steiermark die steirische Tracht, der „graue Rock“ des Erzherzog Johann, ihre Funktion ; in Kärnten galt dies für den „Kärntner Anzug“. Die Tracht sollte nun aber auch Ausdruck nationalsozialistischer Gesinnung sein. Das „Kärntner Lied“ wurde besonders gepflegt. Provinzkultur an der Grenze wurde in der ideologischen Aufwertung Grenzland-Kultur und als solche integrativer Bestandteil der deutschen Staatskultur. Das Klagenfurter Stadttheater wurde zum Kärntner „Grenzlandtheater“, das Konservatorium in Klagenfurt zum „Grenzland-Konservatorium“. Der Kärntner Lyriker Herbert Strutz wurde für einen Gedichtband, der Dramatiker Hans Sittenberger für ein Stück, das den NS-Juliputsch in Kärnten zum Inhalt hatte und das im „Grenzlandtheater“ uraufgeführt wurde, ausgezeichnet. Der Kärntner Maler Suitbert Lobisser erhielt gemeinsam mit dem steirischen Dichter Hans Kloepfer den Mozartpreis der Goethe-Stiftung. Unter dem obersten Ziel, NS-deutsche „Grenzland“-Kulturpolitik zu machen, diese (vor allem in der Steiermark) aus der Abhängigkeit von Berlin zu lösen und als betont kärntnerisch und steirisch zu formulieren, artikulierte sich die NS-Kulturpolitik vor allem : – in den Schulen als einem der wichtigsten Sozialisationsfaktoren (der Lehrer als berufener Kulturpfleger), – beim Ausbau „Grenzland“-Schulen und der besonderen materiellen Förderung der großteils in jungen Jahren in das besetzte Land zugewiesenen Lehrer, die den Schülern vor allem die deutsche Sprache und Kultur zu lehren hatten ; ein Slowenisch-Unterricht war verboten worden, die slowenische Sprache wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt und bei Strafe verboten, – beim Einsatz von Lehrern aus Kärnten und der Steiermark zur Abhaltung von knapp zehntausend Deutschkursen für Erwachsene mit über 300.000 Teilnehmern in allen Orten von Oberkrain und der Untersteiermark, – bei kulturellen Brauchtumsveranstaltungen, – bei der Förderung der Musikpflege auf breiter Basis, – bei der inhaltlichen Orientierung an „großen“ Kärntnern und Steirern, wie Rosegger, und ihrer Vereinnahmung für die kulturpolitischen Ziele, – bei der „Kulturarbeit an Landschaft und Heimat“ (z. B. deutsche Ortsbildpflege, Förderung des steirischen und Kärntner Bauens, Begabtenförderungen usw.),
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– im Aufbau einer lebendigen Museumskultur, – durch die Einbindung von Fachleuten verschiedener Disziplinen in die Ausformulierung der Kulturpolitik ; Gründung von Schriftenreihen, wo etwa der „steirische Weg der Betreuung des Volkes“ gewiesen wurde, nämlich, „unserem Denken, Fühlen, Wollen, Handeln und Tun die adäquate nationalsozialistische Form zu geben“, – in der Betonung der beklemmenden These eines West-Ost- sowie Nord-Südost-Kulturgefälles (germanisch – slawisch) und der damit verbundenen Abwertung aller Einflüsse slawischer Traditionen.
Der Zusammenbruch des NS-Regimes Seit 1943 (AVNOJ) und 1944 (dem Beginn des großflächig organisierten Partisanenkrieges) erfolgte eine sukzessive Übernahme der Herrschaft in den besetzten slowenischen Gebieten durch die „Befreiungsfront der Völker Jugoslawiens“ (OF) unter dem militärischen Kommando von Josip Broz „Tito“. Dazu kamen zunehmend massierte Luftbombardements alliierter Bomberverbände, die in ihre strategischen Luftziele auch die Rüstungsindustrien und Verkehrsanlagen Oberkrains und der Untersteiermark aufnahmen. Anfang Mai 1945 hatten OF-Einheiten alle wichtigen Orte und Industrien der besetzten Gebiete in ihre Hand gebracht, das NS-Regime war im Inneren, begleitet vom militärischen Druck der Partisanen, noch vor Kriegsende zusammengebrochen. Die deutschsprachige Bevölkerung der Länder floh in Richtung Norden, meist mit den zurückflutenden Truppen der Wehrmacht, wurde – gemäß den AVNOJ-Beschlüssen und politischen Vorgaben der kommunistisch besetzten Verwaltungsorgane – vertrieben, in Lagern wie „Sterntal“ inhaftiert oder ermordet. Kollektiv hatte sie, wie dies auch der slowenische Ministerpräsident Boris Kidrič offen aussprach, für die Verbrechen des NS-Regimes an den Slowenen zu büßen. Erschienen in : Stefan Karner, Oberkrain und Untersteiermark 1941–1945. Zur NS-Okkupationspolitik in Slowenien, in : Stefan Karner – Janez Stergar (Hg.), Kärnten und Slowenien – „Dickicht und Pfade“. Kärnten und die nationale Frage, Bd. 5. Klagenfurt 2005, S. 105–125.
AVNOJ-Erlässe und Beneš-Dekrete (2002)
AVNOJ und Beneš stehen meist als Kürzel für die Repressionen und die schweren Menschenrechtsvergehen zu und nach Kriegsende 1945 gegenüber der deutschsprachigen Volksgruppe in der Tschechoslowakei und in Jugo slawien bzw. in Slowenien. Ihre Vorgeschichte reicht teilweise ins 19. Jahrhundert, psychologisch teilweise an den Beginn der Neuzeit oder bis zur Schlacht am Weißen Berg (1620) zurück, umfasst jedoch vor allem die Ereignisse 1918/19, die Sogwirkung des Nationalsozialismus auf Teile der „Deutschen“ in beiden Ländern und die furchtbaren Verbrechen des NS-Okkupators in beiden Ländern. Dazu zählt insbesondere der Genozid der slawischen Bevölkerung durch die NS-Volkstums- und Rassenpolitik in den okkupierten Gebieten mit dem Ziel, Tschechen und Slowenen Lebensraum und Lebensgrundlagen zu nehmen. Trotz aller Erklärbarkeit der Repression 1945 bleibt Unrecht dennoch Unrecht, wie dies der frühere polnische Außenminister Bartoszewski bezugnehmend auf die „Sudetendeutschen“ klar zum Ausdruck gebracht hat. Die folgende Kurz-Zusammenstellung wichtiger Fakten zu AVNOJ und Beneš versucht historisches Basiswissen zur vielschichtigen Thematik darzustellen und zur Versachlichung der Diskussion beizutragen. Dazu gehört auch, dass zwei Sachverhalte miteinander nicht vermengt werden : einerseits die Enteignungen und der Verlust der Staatsbürgerschaften und andererseits die Vertreibung an sich. Die Erlässe und Dekrete von AVNOJ und Beneš regeln die Vertreibungen nicht. Zur Wiedergutmachung der Enteignungen, die auch eigene Staatsbürger und Institutionen wie die Katholische Kirche betroffen hatte, wurde von Slowenien schon 1991 ein Denationalisierungsgesetz (mit weiteren Novellen) beschlossen, nach dessen Vorgaben die Vermögensrückgabe erfolgt, allerdings können – durch verschiedene Kunstgriffe – Restitutionen an die heute noch in Slowenien lebenden bzw. an die aus Slowenien geflüchteten oder vertriebenen „Deutschen“ weitgehend verhindert werden. Vor allem mit dem Argument der nicht-jugoslawischen Staatsbürgerschaft nach Kriegsende und dem nicht haltbaren Kollektivvorwurf der Illoyalität gegenüber dem jugoslawischen Staat. Trotz aller Probleme ist Slowenien in der Restitutionsfrage bereits ein gutes Stück weiter gekommen. In Tschechien fehlt ein äquivalentes Denationalisierungsgesetz überhaupt.
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Zudem konnte 2001 mit Slowenien im Rahmen des Kulturabkommens, nach zähen, jahrelangen Verhandlungen (auf österreichischer Seite : Wolfgang Schüssel, Benita Ferrero-Waldner) die Existenz einer deutschsprachigen Volksgruppe in Slowenien erstmals im Rahmen eines bilateralen Dokuments festgeschrieben werden. Die Basis dieser, besonders psychologisch für die deutschsprachige Volksgruppe wichtigen Festlegung waren wissenschaftliche Arbeiten in Österreich und Slowenien.
Die AVNOJ–Erlässe Die Abkürzung „AVNOJ“ steht für „Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens“, einer Art Kriegsparlament, das 1942 in Bihać von den jugoslawischen Widerstandsbewegungen (Partisanen) als oberstes staatliches Organ (Legislative und Exekutive) des „neuen Jugoslawien“ ins Leben gerufen wurde und die politisch-gesellschaftliche Neuformierung des Staates vorbereiten sollte. Seine wichtigsten Exponenten wurden zwei Kroaten : Ivan Ribar als Vorsitzender und Josip Broz „Tito“ als Chef des ihm untergeordneten „Nationalkomitees der Befreiung Jugoslawiens“ (NKOJ). In Jajce (Bosnien) hatte das AVNOJ 1943 der jugoslawischen Exilregierung in London ihre Rechte abgesprochen, König Peter II. die Rückkehr in die Heimat verboten, die Wiedererrichtung Jugoslawiens auf föderativer Basis beschlossen, den Anschluss der von Italien und vom Deutschen Reich besetzten Gebiete proklamiert und eine „Kommission zur Feststellung der Verbrechen der Besatzer und ihrer Handlanger“ gegründet. Als zentraler Geheimdienst wurde im Mai 1944 zudem die „Abteilung zum Schutz des Volkes“ (OZNA) gegründet. Die meisten AVNOJ-Erlässe der Jahre 1944/45 wurden nachträglich vom jugoslawischen Bundesparlament zu Gesetzen des Staates, das AVNOJ selbst zur „Provisorischen Nationalversammlung des Demokratischen Föderativen Jugoslawiens“ erklärt.
Rechtlos, enteignet, vertrieben Zur Neugestaltung Jugoslawiens gehörte das politische Ziel einer weitgehenden Auslöschung der deutschsprachigen Volksgruppe, die kollektiv für die Verbrechen des Nationalsozialismus auf jugoslawischem Gebiet verantwortlich gemacht wurde. Dazu erließ das AVNOJ 1944 den Erlass über den „Übergang feindlichen Vermögens in staatliches Eigentum, über die staatliche Ver-
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waltung des Vermögens abwesender Personen und über die Beschlagnahme von Vermögen, welches die Besatzungsmächte gewaltsam enteigneten“. Demnach gingen in Staatseigentum über : 1. alles Vermögen des Deutschen Reiches und seiner Staatsbürger, das sich auf dem Gebiet Jugoslawiens befand ; 2. alles Vermögen von Personen deutscher Nationalität mit Ausnahme jener Deutschen, die in den Reihen der Volksbefreiungsarmee oder in Partisaneneinheiten kämpften oder die Staatsbürger neutraler Staaten waren und sich während der Besetzung nicht feindlich verhielten ; 3. alles Vermögen von Kriegsverbrechern und ihrer Handlanger ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft und, ungeachtet der Staatsbürgerschaft, das Vermögen jeder Person, die in einem Urteil eines zivilen oder militärischen Gerichts zum Verlust des Vermögens zugunsten des Staates verurteilt wurde.
Weil untergeordnete Behörden, vor allem in der Vojvodina und in Slawonien, die Vorschriften offenbar zu großzügig auslegten und auch Personen mit deutschen Familiennamen, die sich aber als Kroaten, Slowenen oder Serben fühlten, enteigneten, erließ das AVNOJ interpretatorische Erläuterungen. Aus ihnen ging hervor, dass eine Mitgliedschaft im „Schwäbischdeutschen Kulturbund“ ein Kriterium der deutschen Nationalität darstellte und ein „illoyales Verhalten“ begründete. Es folgte eine große Anzahl weiterer AVNOJ-Erlässe. Zur Abrechnung mit „Volksfeinden“ konnte zudem ein Gesetz von 1945 über „strafbare Handlungen gegen Volk und Staat“ herangezogen werden. Es stellte Tätigkeiten gegen die Volksherrschaft und Tätigkeiten, die der wirtschaftlichen Stärke Jugoslawiens schadeten, unter Strafe, wie Kriegsverbrechen (auch die Mitarbeit in Polizeiformationen, in Gefängnissen, Konzentrations- oder Arbeitslagern), Dienst in einer feindlichen Armee, einer politischen oder in einer Verwaltungsinstitution der Besatzungsmächte.
Opferzahlen Von den im Jahre 1944 auf dem Gebiet „Jugoslawiens“ (inklusive dem slowenischen Gebiet) lebenden rund 481.000 „Deutschen“ (exklusive 10.000 Deutschsprachigen jüdischer Religion) waren rund 98.000, jeder Fünfte, durch die Kriegsereignisse und die Repressionen 1944–46 ums Leben gekom-
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men. Davon waren etwa 29.000 Soldaten und Angehörige bewaffneter Hilfsdienste sowie rund 69.000 Zivilisten. Von den Zivilisten kamen rund 55.000 in Lagern um, rund 5.800 wurden ermordet bzw. erschossen, 5.700 verstarben nach der Verschleppung, meist in der Sowjetunion, etwa 2.300 starben „auf der Flucht“ und an die 6.500 blieben bis heute vermisst. Auf dem Gebiet Sloweniens lebten 1941 rund 30.000 Angehörige der deutschsprachigen Volksgruppe. Durch die Vertreibungen, Ermordungen und Repressionen verringerte sich ihre Zahl bis 1948 auf rund 2.400 Personen, die noch auf slowenischem Gebiet lebten. Die meisten Slowenien-„Deutschen“ waren 1948 bereits außer Landes und als „Vertriebene“ oder Displaced Persons (DPs) nach Österreich und Deutschland gekommen. Die Vertreibung erfolgte in mehreren Schüben. Vor dem Abschub per Bahn und vor dem buchstäblichen Vertreiben von Menschen durch Partisanen über Felder, Wiesen und die österreichische Grenze wurden Tausende in Gefängnisse und Lager interniert oder, wie andere zu „Volksfeinden“ erklärte Slowenen (Domobrancen, „Kollaborateure“, Partisanen-Gegner), ermordet. Die Massengräber auf dem Bachern/Pohorje bei Marburg/Maribor, in Tüchern/Teharje bei Cilli/Celje oder im Hornwald/Kočevski rog legen Zeugnis davon ab. Zahlreiche Menschen überlebten die Masseninternierungen in den Lagern, deren größtes Sterntal/Strnišče/Kidričevo bei Pettau/ Ptuj war, nicht. Dass es sich bei dieser Massenrepression um einen einkalkulierten genozidähnlichen Vorgang handelte, durch den das KP-Regime das Land von den „Deutschen“ „säubern“ wollte, belegen etwa die Ansprachen des ersten Präsidenten der Regierung der Volksrepublik Slowenien nach dem Krieg, Boris Kidrič, auf dem Marburger Hauptplatz am 9. Juni 1945, wonach „die Deutschen von der slowenischen Erde verschwinden müssten“. „Deutsche“, die im Lande verblieben, wurden vielfach zur Zwangsarbeit herangezogen, administrativ repressiert oder in Gefängnissen inhaftiert.
Staatsbürgerschaftsfrage Ein wichtiges Mittel zur Repression der Deutschsprachigen des Landes wurde das jugoslawische Staatsbürgerschaftsgesetz 1945 und seine Novellen. Demnach erwarb die jugoslawische Staatsangehörigkeit (ex lege), wer schon die Staatsbürgerschaft des Königreiches Jugoslawien nach dem Gesetz vom 28. Oktober 1928 besessen hatte. Dies traf zwar auf den allergrößten Teil der in Slowenien autochthon ansässigen „Deutschen“ zu, allerdings konnte die Staatsbürgerschaft „jenen Volksangehörigen“ entzogen werden, „deren Staaten im Krieg gegen Jugoslawien waren, und die zur Zeit dieses Krieges
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oder in Zusammenhang damit vor dem Krieg mit ihrem illoyalen Verhalten gegenüber den nationalen und staatlichen Interessen gegen ihre Pflichten als jugoslawische Staatsbürger verstoßen hatten“ ; zusätzlich „jedem jugo slawischen Staatsbürger, der im Ausland mit seiner Tätigkeit den nationalen und staatlichen Interessen Jugoslawiens schadet oder während des Krieges schadete, sowie demjenigen, der sich der Ausübung der staatsbürgerlichen Pflichten entzieht, und zwar nach einem Gerichtsurteil in jenen Fällen, die gesondert im Gesetz vorgesehen sind.“ Grundlegend für die noch in Jugoslawien lebenden, von dort geflüchteten oder vertriebenen „Deutschen“ wurde zudem die Novelle des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1948, wonach für die Aberkennung der jugoslawischen Staatsbürgerschaft zwei Momente ausschlaggebend waren : die „deutsche“ Volkszugehörigkeit und damit die unterstellte kollektive Illoyalität sowie die physische Abwesenheit, weshalb eine Eintragung in das Staatsbürgerregister nicht durchgeführt wurde. So wurden die aus Jugoslawien bis 1948 geflüchteten oder vertriebenen „Deutschen“ kollektiv der jugoslawischen Staatsbürgerschaft für verlustig erklärt. Weil man die gesamte deutschsprachige Volksgruppe in Jugoslawien der Zusammenarbeit mit dem NS-Okkupator verdächtigte, musste in der Regel eine Individualschuld nicht mehr nachgewiesen, später vom Beschuldigten selbst Beweise seiner Schuldlosigkeit erbracht werden. Diese Novelle wurde 1948, etwas mehr als eine Woche vor der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ durch die UNO-Generalversammlung, beschlossen. Die UNO-Deklaration hatte jede Diskriminierung aufgrund der Sprache und der nationalen Herkunft verboten und festgelegt, dass niemandem seine Staatsbürgerschaft willkürlich entzogen werden durfte. Eine rückwirkende Geltung der UNO-Deklaration wurde nicht erklärt.
Das slowenische Denationalisierungsgesetz 1991 Im Zuge der Transformation Sloweniens in einen Staat westlicher Prägung seit 1991 stellte sich auch die Frage nach dem weiteren Schicksal jenes Vermögens, das seit dem Zweiten Weltkrieg zugunsten des Staates enteignet worden war. Seine Rückgabe an die enteigneten „deutschen“ Besitzer sollte das slowenische „Gesetz über die Denationalisierung“ von 1991 regeln. Es folgte dem Grundsatz, dass die Rückgabe von Immobilien in natura (also eine Restitution bzw. in vielen Fällen eine Reprivatisierung von Eigentum) einer Entschädigung in Geld vorzuziehen ist. Anspruchsberechtigte zur Eigentumsrückgabe wurden physische und juristische Personen, wie Religions-
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gemeinschaften und deren Orden ; eine Rückgabe des Vermögens von Personen- und Kapitalgesellschaften kann von Aktionären bzw. Gesellschaftern beansprucht werden. Für die Sloweniendeutschen bezog man sich im Gesetz und seinen Novellierungen auf den Enteignungserlass des AVNOJ vom 21. November 1944 und versuchte mit zusätzlichen Bestimmungen, die Vermögensrückgabe sowohl an die heute noch in Slowenien lebenden als auch an die aus Slowenien geflüchteten oder vertriebenen „Deutschen“ unmöglich zu machen. Gefordert wurde von den ehemals Vertriebenen außerdem : Nachweise einer jugoslawischen Staatsbürgerschaft nach dem 9. Mai 1945, eines loyalen Verhaltens gegenüber dem jugoslawischen Staat sowie das Vorliegen keiner anderwärtigen Entschädigung bzw. eines Anrechtes darauf. Damit werden in Slowenien die klar gegen das Menschenrecht verstoßenden AVNOJ-Erlässe hinsichtlich der Kollektivschuld einer ganzen Volksgruppe an den Verbrechen des NS-Okkupators sowie die gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßenden Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes weiterhin in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vor dem Denationalisierungsgesetz angewendet (zuletzt in 2. Instanz im Februar 2002). Insgesamt wurden in Slowenien nach dem Denationalisierungsgesetz bisher rund 30.000 Verfahren angestrengt. Von ihnen betrafen 1.671 österreichische Antragsteller (Stand Februar 2002). Von diesen wurden 720 Fälle zur Gänze bzw. zum Teil positiv abgeschlossen und eine Vermögensrückgabe eingeleitet. Der größere Teil der Anträge wurde negativ beschieden oder es steht eine negative Beurteilung zu erwarten. Als Begründung für Ablehnungen wird vielfach „illoyales Verhalten gegenüber dem Staat“ durch die Mitgliedschaft beim staatlich zugelassenen Verein (bis 1941) „Schwäbisch-Deutscher Kulturbund“ angeführt. Zusätzlich haben die Antragsteller den Beweis des Gegenteils (Beweislastumkehr) zu erbringen. Die bilaterale Historiker- und Juristen-Expertengruppe soll bis 2003 wesentliche Grundlagen der Entwicklung der deutschsprachigen Volksgruppe in Slowenien, der AVNOJ-Erlässe, Vertreibungen und Repressionen in einer größeren historischen Perspektive erarbeiten.
Die Beneš-Dekrete Als „Beneš-Dekrete“ werden meist jene 143 Verfügungen und Erlässe mit provisorischer Rechtskraft bezeichnet, die vom tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš zwischen 1940 und 1945 zum Aufbau der Nachkriegs-Tschechoslowakei erlassen wurden (davon 45 im Londoner Exil
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und 98 zwischen April 1945 und 28. Oktober 1945 in Prag). Sie bilden nach tschechischer Auffassung die Brücke zwischen der 1. und 2. Tschechoslowakischen Republik. Nach dem 28. Oktober 1945 wurden die „Beneš-Dekrete“ vom Parlament zu Gesetzen erklärt. 27 Dekrete wurden nach dem 24. Oktober 1945 erlassen, als bereits die Charta der UNO in Kraft getreten war. Zu den die deutschsprachige Volksgruppe (ebenso wie die Ungarn und Juden, wenn sie der ungarischen bzw. deutschen Volksgruppe zugezählt wurden) diskriminierenden Beneš-Dekreten kam 1946 das bis heute gültige Straffreistellungsgesetz. Es erklärte „eine Handlung zwischen dem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945“ dann nicht als widerrechtlich, wenn „deren Zweck es war, einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu leisten, oder die eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer zum Ziele hatte“ ; auch „wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wäre“. Dies stellt bis heute de facto eine Amnestie für persönliche Straftaten bei der Repression gegenüber den „Deutschen“ in der Tschechoslowakei dar. Von den 143 „Beneš-Dekreten“ betrafen etwa 15 die kollektive Ausbürgerung und Enteignung der Ungarn und „Deutschen“ des Landes, denen eine Kollektivschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus auf dem Gebiet Tschechiens unterstellt wurde. Vor allem folgende, die „Deutschen“ und Magyaren des Landes diskriminierende Dekrete sind noch Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung : Vermögenskonfiskation : Dekrete 5, 12, 108 (mit Folge-Dekret 35) Ausbürgerung : Dekret 33 Andere, die „Sudetendeutschen“ diskriminierenden Dekrete, wie zur Festsetzung der Arbeitspflicht (Dekrete 71, 88), die Kündigung der Arbeits- und Lehrverhältnisse (Dekret 83), zur Kürzung der Lebensmittelzuteilung (Dekret 6), zur Internierung (Dekret 137), zur strafrechtlichen Bestrafung (Dekret 16) oder zur Schließung der Prager Deutschen Universität und der deutschen Technischen Hochschulen in Prag und Brünn/Brno (Dekrete 122, 123) sind mittlerweile durch die Entwicklung wohl obsolet geworden. Die Forderung nach Aufhebung „der“ Beneš-Dekrete ist daher, wie dies Karl-Peter Schwarz pointiert ausdrückte, „eine sachlich in die Irre führende volkstumspolitische Kampfparole“. Geht es doch in Wirklichkeit bei der Behandlung des Problemkreises vor allem um die national diskriminierenden Bestimmungen in den Dekreten 5, 12, 33, 35 und 108 sowie um das Straffreistellungsgesetz von 1946. Der Begriff „Sudetendeutsche“ für einen Großteil der in der Tschechoslo wakei lebenden „Deutschen“ (von denen etwa die Prager-„Deutschen“ oder
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die Karpathen-„Deutschen“ eine andere soziokulturelle Entwicklung genommen hatten) wird erst seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet.
Kriegsende und Vertreibungen Die ersten („wilden“) wie auch die durch die staatlichen Organe durchgeführten Vertreibungen und Morde an den seit Jahrhunderten im Lande siedelnden „Deutschen“, denen man eine Kollektivschuld für die Verbrechen des NS-Besatzers unterstellte, wurden zu einem schweren Menschenrechtsvergehen mit genozidähnlichen Formen. Die Bezeichnung „wilde Vertreibungen“ sollte den Aktionen später gewissermaßen einen bloß spontanen Charakter und den eines „von unten“ ausgelösten Sturms der Entrüstung, Rache und Vergeltung geben. Knapp vor Ende des Krieges, die alliierten Truppen standen bereits nahe Prag, organisierte der tschechische Heimat-Widerstand am 5. Mai 1945 in Prag einen Aufstand gegen die NS-Besatzer. Zusätzlich entlud sich auch die vorhandene antideutsche Stimmung eines Teils der tschechischen Bevölkerung gegen alles „Deutsche“ und gegen die im Lande anwesenden „Deutschen“. Eine gezielte, von diversen Widerstandsgruppen und der Regierung Beneš gesteuerte tschechische Propaganda mit der Parole „Tod den Deutschen“ heizte die Stimmung weiter an. Bis zum Einmarsch der Voraustruppen der Roten Armee fielen mindestens 15.000 Prager „Deutsche“ dem Aufstand zum Opfer. Träger der antideutschen Aktionen und Morde waren in den ersten Wochen zumeist kommunistisch geprägte Partisanengruppen und „Revolutionäre Nationalausschüsse“. Dabei verband das gemeinsame Ziel einer schnellen Vertreibung der „Deutschen“ aus dem Land die durchaus noch heterogenen Gruppen. Erst im Sommer 1945 konnten diese „revolutionären“ Gruppen und Verbände dem „Korps der Nationalen Sicherheit“ (SNB) integriert werden. Ab Ende Mai 1945 organisierten aber auch Teile der neu gebildeten tschecho slowakischen Armee in den deutschen Sprachinseln im Landesinneren (z. B. Brünn/Brno und Iglau/Jihlava) oder in sprachlichen Mischgebieten flächendeckend antideutsche Plünderungs- und Vertreibungsaktionen. So wurden Ende Mai 1945 etwa 25.000 Brünner „Deutsche“ („Brünner Todesmarsch“) über die Grenze nach Österreich getrieben. Bei den lokalen, grenznahen Vertreibungsaktionen wurde die Bevölkerung aufgefordert, sich binnen weniger Stunden unter Mitnahme von 30 bis 60 kg Gepäck an einem Sammelplatz
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einzufinden, von wo sie dann über die Grenze nach Deutschland oder Österreich getrieben, teilweise gejagt, wurden. In den ersten Juniwochen 1945 wurden die Kriterien zur Auswahl der abzuschiebenden „Deutschen“ festgelegt : Am 12. Juni 1945 ordnete der „Böhmische Landesnationalausschuss“ die Vertreibung der „deutschen“ Bevölkerung aus Böhmen an. Ausnahmen bestanden lediglich für Angehörige aus Mischehen, für Facharbeiter und für „Antifaschisten“. Am 10. Juli 1945 erließ der „Mährische Landesnationalausschuss“ in Brünn/Brno Auswahlkriterien für die von der Abschiebung betroffenen „Deutschen“. Zwischen Mitte Juni und der ersten Juliwoche 1945 erreichten die Vertreibungen ihren Höhepunkt, sodass bis Anfang August 1945 an die 450.000 „Deutsche“ aus Böhmen, Mähren und Teilen Schlesiens abgeschoben und teilweise verjagt worden waren. Dabei befanden sich im Sommer 1945 bereits knapp 150.000 Sudetendeutsche in Österreich, die zum Großteil aus Südmähren stammten. Die ersten Vertreibungen endeten mit den Vorgaben des Potsdamer Abkommens, das – allerdings nach der ersten Phase der Vertreibungen – eine „geordnete und humane Aussiedlung“ der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen verlangt hatte. Zwischen Herbst 1945 und Herbst 1946 dürften rund 1,2 Millionen „Sudetendeutsche“ in die westlichen, 800.000 in die sowjetischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs abgeschoben worden sein. Die Vertreibung war meist von Exzessen und persönlichen Demütigungen begleitet : lange Fußmärsche, Viehwaggons als Transportmittel, Beschlagnahmungen von Besitz und Wertgegenständen, Plünderungen, Raub, Totschlag und Morde. Allein von der Zwangsaussiedlung aus Brünn/Brno am 30. und 31. Mai 1945 waren rund 20.000 „Deutsche“ betroffen. Ein großer Teil von ihnen konnte etwa die ungeheuren Strapazen und Schikanen des „Brünner Todesmarsches“ in Richtung Wien nicht durchstehen und blieb entlang des Weges tot zurück. Insgesamt wird derzeit die Zahl der belegbaren Todesfälle bei den Vertreibungsaktionen in Tschechien mit rund 30.000 beziffert. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher.
Einzelne relevante Dekrete Von den 143 „Beneš-Dekreten“ und weiteren Gesetzen sollen hier einige für die „deutsche“ Volksgruppe des Landes und für die ehemals Vertriebenen relevanten Dekrete in Auszügen wiedergegeben werden. Das Dekret vom 19. Mai 1945 (Slg. Nr. 5) über die Ungültigkeit einiger vermögensrechtlicher Rechtsgeschäfte aus der Zeit der Unfreiheit und über die
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nationale Verwaltung der Vermögenswerte der „Deutschen“ und Magyaren, der Verräter und Kollaborateure und einiger Anstalten und Organisationen. Das Dekret konkretisierte Forderungen der KP, das Vermögen „von deutschen und madjarischen [und] ‚sonstigen Bürgern der Tschechoslowakischen Republik‘, welche die Nation verraten und aktiv die deutschen und ungarischen Okkupanten unterstützt haben“, unter nationale Verwaltung zu stellen. Zudem wurden ausnahmslos alle vermögensrechtlichen Handlungen und Vermögensübertragungen, die nach dem 29. September 1938 (München) vorgenommen wurden, für ungültig erklärt. Eine Ausnahme bestand nur, wenn jemand glaubhaft dartun konnte, „Opfer der politischen oder rassischen Verfolgung [gewesen zu sein] und dem demokratisch-republikanischen Staatsgedanken der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben“ [zu sein]. Nur vier Wochen nach Erlass dieses Dekretes waren etwa 10.000 deutsche und ungarische Betriebe bzw. Unternehmen mit rund einer Million Beschäftigten im Bereich Tschechiens staatlich-nationalen Verwaltern unterstellt gewesen. Das („Enteignungs“-)Dekret vom 21. Juni 1945 (Slg. Nr. 12) verfügte die entschädigungslose Enteignung des landwirtschaftlichen Besitzes inklusive der Gebäude und Einrichtungen „aller Personen deutscher und magyarischer Nationalität, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit“ sowie gegenüber „Verrätern und Feinden der Republik“ und Unternehmen, die NS-Zielen gedient hatten. Insgesamt wurden durch dieses Dekret innerhalb der Grenzen der damaligen Tschechoslowakei 1.620.000 Hektar landwirtschaftlichen Nutzbodens sowie 1.300.000 Hektar Wald entschädigungslos zwangsenteignet. Das („Staatsbürgerschafts“-)Dekret vom 2. August 1945 (Sb. Nr. 33) ordnete eine kollektive Aberkennung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft (rückwirkend mit dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, d. h. für die Sudetendeutschen mit 10. Oktober 1938 und für die „Deutschen“ im „Protektorat“ mit 16. März 1939) für jene „tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher oder magyarischer Nationalität“ an, die „nach den Vorschriften einer fremden Besatzungsmacht die deutsche oder magyarische Staatsangehörigkeit erworben“ hatten. Das („Arbeitspflicht“-)Dekret vom 19. September 1945 (Sb. Nr. 71) zwang Männer vom 14. bis 60. und Frauen vom 15. bis zum 50. Lebensjahr, denen die Staatsbürgerschaft nach dem Dekret Nr. 33 aberkannt worden war, zur Arbeitspflicht, um noch vor ihrer Aussiedlung zur „Beseitigung und Wiedergutmachung der durch den Krieg und die Luftangriffe verursachten Schäden,
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wie auch zur Wiederherstellung des durch den Krieg zerrütteten Wirtschaftslebens […]“ beizutragen. Das („Enteignungs“-)Dekret vom 25. Oktober 1945 (Sb. Nr. 108) konfiszierte alle beweglichen und unbeweglichen Vermögenswerte, die bis zum 25. Oktober 1945 nicht auf Grundlage der vorherigen Nationalisierungsdekrete konfisziert oder entschädigungslos enteignet worden waren. Darunter fielen etwa 3.931 ehemals deutsche oder magyarische Indus trie- und 55.000 Gewerbebetriebe, 575.000 Wohngebäude, über eine Million Wohnungseinrichtungen mit dem gesamten Hausrat, 120.000 Kraftfahrzeuge, ferner Hotels, Gaststätten, Schulen, Krankenanstalten, Bäder- und Kureinrichtungen und sonstiges Gemeinschaftsvermögen, Kunstgegenstände oder die Prämienstände der Versicherungsanstalten.
Vertreibungszahlen 1945 kamen im Zuge diverser Vertreibungsaktionen und freiwillig etwa 450.000 sudetendeutsche Flüchtlinge nach Österreich. Doch Österreich blieb für viele von ihnen nur eine Zwischenstation. Ein großer Teil von ihnen zog, auch im Zuge der Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, nach Deutschland weiter, andere wanderten nach Übersee oder in andere europäische Staaten aus. Etwa 160.000 „Sudetendeutsche“ waren in Österreich verblieben. Die größte Zahl von ihnen siedelte in den Bundesländern Niederösterreich und Oberösterreich sowie in Wien. Derzeit wird die Zahl der „Sudetendeutschen“ in Österreich, mit der zweiten und dritten Generation, auf rund 120.000 Personen geschätzt. Die Dekrete, später Gesetze, wurden Grundsäulen der tschechoslowakischen Verfassung. In der gültigen tschechischen Verfassung scheinen sie zwar nicht mehr auf, sie wurden jedoch nie außer Kraft gesetzt und gehören damit zum tschechischen Rechtsbestand. Bis 1995 wurden sie zudem in Restitutions- und Entschädigungsverfahren gegenüber ehemaligen „Sudetendeutschen“ bzw. ihren Nachkommen angewendet, obwohl sie sowohl aus historischer als auch aus völkerrechtlicher Sicht eklatante und schwerwiegende Verletzungen von Menschenrechten darstellen.
Entschädigungsleistungen Die seit 1945 in Österreich lebenden „Sudetendeutschen“ hatten weder von deutscher noch von tschechischer Seite eine Entschädigung für das Unrecht
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und für das konfiszierte bewegliche und unbewegliche Vermögen erhalten. Die bilateralen Verträge, die die Republik Österreich mit der Bundesrepublik Deutschland und der ČSSR in vermögens- und entschädigungsrechtlichen Angelegenheiten in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen hatte, betrafen vor allem Sozialleistungen, die den Betroffenen bei der Integration helfen sollten. Zu den wichtigsten Abkommen zählten : – Das „Bonner Pensionsabkommen 1953“ („Gmundner Abkommen“), das bilateral mit Deutschland die Pensionsversorgung jener deutschen Beamten des öffentlichen Dienstes regelte, die durch die Umstände der Vertreibung nach Österreich gekommenen waren. – Der „Deutsche Lastenausgleich“ („Kreuznacher Abkommen“) von 1952 und die Zahlungen daraus für die nach Österreich vertriebenen „Volksdeutschen“. – Der Entschädigungsvertrag mit der ČSSR 1974. Er regelte „Ansprüche der Republik Österreich sowie österreichischer physischer und juristischer Personen“ und schloss damit die in Österreich beheimateten vertriebenen „Sudetendeutschen“ (durch den Stichtag 27. April 1945) aus.
Straffreistellung Zu den Beneš-Dekreten kommt die Problematik des Straffreistellungsgesetzes von 1946, das verübte Straftaten zwischen dem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945 dann bis heute nicht als widerrechtlich erklärte, wenn es deren Zweck war, „einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu leisten [30.9.1938–4.5.1945], oder die eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer [5.5.1945–28.10.1945] zum Ziele hatten“. Tatsächlich ist bis heute kein Fall einer strafgerichtlichen Verfolgung einzelner Täter für die eklatanten Menschenrechtsvergehen (Morde, Massaker) an den Deutschen des Landes, wie in Brünn/Brno oder etwa im ostböhmischen Lanškroun/Landskron am 18. Mai 1945, als tschechische „Revolutionsgardisten“ deutsche Männer des Ortes auf dem Marktplatz stundenlang verprügelt und anschließend 27 erschossen hatten, bekannt geworden. Zahlreiche heute noch lebende Täter werden durch diese bislang fortwirkende, mit EU-Normen nicht kompatible Regelung (Gleichheitsgrundsatz im Menschenrecht) geschützt. In bilateralen Tagungen von österreichischen und tschechischen Historikern, Juristen, Meinungsforschern und anderen Experten werden, initiiert von den Außenministern Ferrero-Waldner und Kavan, seit 2001 einzelne Fra-
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gen der gemeinsamen Problematik effizient, meist anlassbezogen und konkret erörtert. Eine bilaterale Historikerkommission oder Expertengruppe, wie mit Slowenien, gibt es mit Tschechien nicht. Literaturhinweise : Detlev Brandes u. a. (Hg.), Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938–1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Essen 1999. Stefan Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien. Klagenfurt – Laibach/ Ljubljana – Wien 1998. Stefan Karner, Die Beneš-Dekrete aus historischer Sicht. Manuskript. Graz 2002 (unveröffentlicht). Stefan Karner, AVNOJ aus historischer Sicht. Manuskript. Graz 2001 (unveröffentlicht). Richard G. Plaschka – Horst Haselsteiner – Arnold Suppan – Anna Drabek (Hg.), Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938–1948. ZentraleuropaStudien, Bd. 3. Wien 1997. Helmut Slapnicka, Die Vertreibung der Deutschen aus der Sicht der innerstaatlichen Rechtsordnung, in : Nationale Frage und Vertreibung der Deutschen in der Tschechoslowakei. Fakten, Forschungen, Perspektiven aus dem Abstand von 50 Jahren. MOÖLA 19. Linz 2000. Erschienen in : Stefan Karner, AVNOJ-Erlässe und Beneš-Dekrete, in : Politische Akademie (Hg.), Fragen und Antworten zur EU-Erweiterung. Wien 2002, S. 131–146.
Die Lösung der Kärntner Ortstafelfrage (2005)
Der nationale Konflikt durchzog die Geschichte Kärntens spätestens seit rund 160 Jahren. Der vorläufig letzte Streitpunkt konnte 2011 beigelegt werden : die Lösung der „Ortstafelfrage“. Sie konnte auf Basis eines in Kärnten erreichten, weitgehend flächendeckenden Lösungsklimas, getragen von der Kärntner Konsensgruppe, den politischen Parteien, den Kirchen und Volksgruppenorganisationen, beendet und ein tragfähiger Kompromiss erzielt werden. Mit diesem Kompromiss wurden auch die neueren Altlasten des belastenden, nationalen Streites weggeräumt : Ortstafel-Aufstellung und „Ortstafelsturm“ 1972, Volksgruppengesetz und Topografie-Verordnung 1976/77, Anschläge und Terrorakte, durch Selbstanzeige wegen Schnellfahrens erzwungene Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes, latentes Misstrauen. Das 2005 von der „Konsensgruppe Kärnten“ ausgearbeitete „Karner-Paket“ brachte den entscheidenden Durchbruch, auch wenn die finale Beschlussfassung durch das österreichische Parlament noch weitere sechs Jahre dauerte : 164 Orte, 17,5 Prozent Anteil slowenischer Bevölkerung (ausgenommen VfGH-Erkenntnisse), eine Erhöhung der „Abstimmungsspende“ des Bundes, ein Petitionsrecht und ein „Dialogforum“. Kärnten feierte mit dem zwischen Staatssekretär Josef Ostermayer und Landeshauptmann Gerhard Dörfler sowie den Slowenenverbänden erzielten politischen Kompromiss zu Recht einen wesentlichen Erfolg. Das nationale Erwachen der Völker im 19. Jahrhundert erfasste im Nationalismus auch Slowenen und Deutsche in Kärnten und Krain, ganz besonders jedoch an den Grenzen des jeweiligen Einflussbereiches. Im 20. Jahrhundert degradierte der Nationalsozialismus die im NS-Rassenschema „nicht eindeutschungsfähigen“ Slowenen zu Untermenschen, während das jugo slawische KP-Regime Titos nach dem Zweiten Weltkrieg die Kärntner Slowenenfrage geschickt für seine Ziele eines einheitlichen südslawischen Staates zu nutzen suchte. Vielfach wurde in Kärnten ein Bekenntnis zum Slowenentum gleichgesetzt mit einer Tito-kommunistischen Orientierung. Schüler, die sich in den 1960er-Jahren zum Slowenisch-Unterricht anmeldeten, wurden oft von ihren Mitschülern als „Titoisten“ beschimpft. Die totale Entzweiung der Slowenen-Vertretung in den christlich orientierten „Rat“ und den kommunistisch, später sozialistisch orientierten „Zentralverband“ erfolgte. Aus Nachbarschaft war so vielfach Gegnerschaft geworden, die Trennlinien
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e ntzweiten nicht nur Staaten und Länder, sondern Tausende Male auch Familien, ja, Ehepartner. Zu den am heftigsten umkämpften Themen zählte zweifellos die Aufstellung zweisprachiger topografischer Aufschriften („Ortstafeln“), wie sie im Österreichischen Staatsvertrag 1955 vorgesehen war. Der Streit um eine Lösung währte, mit kurzen Unterbrechungen, 40 Jahre. 2011 konnte er auf Basis eines in Kärnten erreichten, weitgehend flächendeckenden Lösungsklimas, getragen von der Kärntner Konsensgruppe, den politischen Parteien, den Kirchen und Volksgruppenorganisationen, beendet und ein tragfähiger Kompromiss erzielt werden. Mit diesem Kompromiss wurden die Altlasten des belastenden, eineinhalb Jahrhunderte währenden, nationalen Streites und Kampfes weggeräumt. Zu ihnen zählten seit dem Ersten Weltkrieg vor allem :1 – Die Besetzung großer Gebiete Kärntens 1918/19 durch südslawische Truppen und die militärischen Abwehrmaßnahmen der Kärntner Freiwilligenverbände („Abwehrkampf“). – Die neue Grenzziehung 1919 mit der Abtrennung des dreisprachigen Kanaltales, des Seelandes (Jezersko) und des Mießtals (Mežiška dolina) mit den bedeutenden Blei- und Zinkvorkommen und dem Thurnschen Stahlwerk in Streiteben/Ravne. – Das pro-österreichische Ergebnis der Volksabstimmung 1920, zu dessen Erfolg auch Menschen beitrugen, die im Alltag zwar einen slowenischen Dialekt sprachen, sich jedoch zu Österreich bekannten.2 – Das Scheitern einer Kulturautonomie für die Kärntner Slowenen in der Zwischenkriegszeit.
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Vgl. zum gesamten Beitrag vor allem : Josef Feldner, Der Ortstafelstreit. Dokumentation eines Kärntner Grenzlandkonflikts. Klagenfurt 2011 ; Stefan Karner, Die Bemühungen zur Lösung der Kärntner Ortstafelfrage 2006, in : ÖjbfPol 2006, S. 359–376, an dem er sich auch wesentlich orientiert ; Stefan Karner (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. 5 Bde. Klagenfurt – Wien – Ljubljana 2005 ; sowie Helmut Rumpler, Die nationale Frage im Spannungsfeld von kärntnerischem Landespatriotismus, österreichischem Staatsbewusstsein und völkischem Nationalismus 1918–1938, in : Claudia Fräss-Ehrfeld – Helmut Rumpler (Hg.), Kärnten und Wien. Zwischen Staatsidee und Landesbewusstsein. Klagenfurt 2005 ; Stefan Karner (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 4. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 9–82 ; Andreas Moritsch, Formen „ethnischer Säuberung“ in Kärnten, in : Andreas Moritsch (Hg.), Austria Slovenica. Die Kärntner Slowenen und die Nation Österreich. Unbegrenzte Geschichte. Bd. 3. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 1996. Zum gesamten Themenkomplex im historiografischen Überblick v. a.: Hellwig Valentin – Susanne Haiden – Barbara Maier (Hg.), Die Kärntner Volksabstimmung 1920 und die Geschichtsforschung. Leistungen, Defizite, Perspektiven. Klagenfurt 2001.
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– Wirtschaftliche und kulturelle Homogenisierungsversuche auf beiden Seiten der neuen Staatsgrenze (ethnisch reine Grenzzonen) mit Grundstücks aufkäufen und einer gezielten Beschäftigungspolitik. – Die starke Kärntner Präsenz im NS-Besatzungsregime der Oberkrain (1941–45).3 – Die NS-Rassen- und Volkstumspolitik gegen Kärntner Slowenen, vor allem durch die Slowenen-Deportationen ab 1942.4 – Die Besetzung großer Teile von Südkärnten (einschließlich Klagenfurts) durch Tito-Partisanen 1945 und die Forderung nach Anschluss des Gebietes an Tito-Jugoslawien. – Die Deportation und Liquidierung von deutschsprachigen Kärntnern durch Sondereinheiten der Partisanen.5 – Die bedeutenden jugoslawischen Gebietsforderungen gegenüber Österreich bis 1948.6 – Die Entschädigungszahlungen und Wiedergutmachung für die deportierten Kärntner Slowenen.7 – Der verpflichtende slowenische Sprachunterricht in den Südkärntner Schulen zwischen 1945 und 1959.8 3
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Vgl. dazu : Alfred Elste – Michael Koscht, Kärntner Nationalsozialisten und ihr Anteil an der NS-Okkupationspolitik in Slowenien, in : Stefan Karner – Janez Stegar (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 5. Kärnten und Slowenien – „Dickicht und Pfade“. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 133–150. Stefan Karner, Die Aussiedlung von Kärntner Slowenen 1942, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 21–52. Dazu u. a.: Alfred Elste – Michael Koschat – Paul Strohmaier, Opfer, Täter, Denunzianten. „Partisanenjustiz“ am Beispiel der Verschleppungen in Kärnten und der Steiermark im Mai/Juni 1945 : Recht oder Rache. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2007 ; S. Karner – S. Hartl, Die Verschleppungen von Kärntnern 1945 durch jugoslawische Partisanen, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 53–78. Einen guten Überblick gibt u. a.: Hellwig Valentin, Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918–2004. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005. Zu Umfang und wirtschaftlicher Bedeutung der Gebietsforderungen vgl. ausführlich in einem eigenen Kapitel : Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945. Wiss. Veröff. d. Landeshauptstadt Klagenfurt. Bd. 2. Klagenfurt 1976, S. 112–119. Vgl. Augustin Malle u. a., Vermögensentzug, Rückstellung und Entschädigung am Beispiel von Angehörigen der slowenischen Minderheit, ihrer Verbände und Organisationen. Veröff. d. österr. Historikerkommission. Bd. 23/1. Wien – München 2004 ; Stefan Karner, Die Aussiedlung von Kärntner Slowenen 1942, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 21–52. Vgl. dazu zusammenfassend : Svila Tributsch, Der Konflikt um die zweisprachige Schule in Kärnten von 1945 bis 1959, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten
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– Die Schutzbestimmungen des Österreichischen Staatsvertrages von 1955 („Artikel 7“),9 u. a. Slowenisch als Unterrichts- und Amtssprache, slowenische, topografische Aufschriften.10 Der in vielem unklar formulierte Vertragstext des Staatsvertrages bedurfte einer adäquaten Interpretation : hinsichtlich des benannten Gebietes, eines Mindestanteils an Slowenen sowie einzelner ableitbarer Rechte.11 – Die über Nacht durchgeführte Aufstellung von zweisprachigen „Ortstafeln“ in 205 Kärntner Orten im Oktober 1972. – Ihre gesetzeswidrige Entfernung im sogenannten „Ortstafelsturm“. – Die stete Weigerung der Kärntner Slowenen, einer Zählung ihrer Stärke zuzustimmen. Erst sehr spät erkannten die drei Slowenen-Organisationen die Ergebnisse der amtlichen Volkszählung 2001 an (rund 12.500 Personen mit slowenischer Umgangssprache). – Zahlreiche Anschläge seit den Siebzigerjahren auf Denkmäler und Einrichtungen (teilweise unter Beteiligung der jugoslawischen Geheimdienste und einheimischer Slowenen), die an Ereignisse des Nationalitätenkampfes erinnerten („Abwehrkampf“, Partisanenkampf, Schulen oder auf die „Heimkehrer“-Gedenkstätte auf dem Ulrichsberg, die seit den 1980er-Jahren jedoch bereits anders konnotiert war).12
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und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 79–98 ; Claudia Fräss-Ehrfeld, Zwischen Bundeskompetenz und Kärntner Realität. Die Kärntner Minderheitenproblematik in der Zweiten Republik 1945–1976, in : Claudia Fräss-Ehrfeld – Helmut Rumpler (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 4. Kärnten und Wien. Zwischen Staatsidee und Landesbewusstsein. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 83–162, hier bes. S. 11f. Dazu besonders die entsprechenden Abschnitte bei Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. Wien – Köln – Graz 1998 ; erstmals auf sowjetischer Aktenbasis : Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, „Eine weitere Unterstützung der jugoslawischen Gebietsforderungen bringt uns in eine unvorteilhafte Lage“. Der Artikel 7 des Österreichischen Staatsvertrags als diplomatischer Kompromiss, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 99–118. BGBl. Nr. 152/1955, Staatsvertrag, S. 727. Vgl. Karner – Ruggenthaler, Artikel 7. Vgl. Valentin Sima, Die Ulrichsberggemeinschaft. Die Geschichte einer Organisation unter besonderer Berücksichtigung ihrer Anfänge, in : Ulfried Burz – Heinz-Dieter Pohl (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 3. Politische Festtagskultur in Kärnten. Einheit ohne Einigkeit ? Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 275–314 ; sowie : Walter Fanta, Die Ulrichsbergfeiern im öffentlichen Bewusstsein, in : Ulfried Burz – Heinz-Dieter Pohl (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 3. Politische Festtagskultur in Kärnten. Einheit ohne Einigkeit ? Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 315–344.
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Die Auseinandersetzungen und Kämpfe kennen Opfer und Täter auf beiden Seiten. Kaum eine Familie in Südkärnten blieb davon unberührt, was auch die Emotionen auf beiden Seiten erklärt.
„Ortstafelsturm“, Volksgruppengesetz und Topografie-Verordnung Erst zu Beginn der Siebzigerjahre begann die Diskussion um die Anbringung zweisprachiger topografischer Aufschriften, wie im Artikel 7 des Staatsvertrages vorgesehen, heftiger zu werden. Die SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky peitschte im Sommer 1976 schließlich gegen die Stimmen von ÖVP und FPÖ (90 :87) ein Gesetzeswerk durch, mit dem „die Anbringung von zweisprachigen topografischen Bezeichnungen und Aufschriften in den Gebieten Kärntens mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung“ getroffen wurde.13 Das bald als „Ortstafelgesetz“ bezeichnete Gesetz legte 205 Ortschaften in 31 Gemeinden (damalige Gemeindestruktur) fest, in denen zweisprachige Bezeichnungen und Aufschriften angebracht werden sollten. Die Slowenenvertreter hatten ursprünglich rund 800 Orte eingemahnt. SPÖ-Landeshauptmann Hans Sima setzte kurzerhand,14 auch gegen den Rat des Klagenfurter SPÖ-Bürgermeisters Hans Ausserwinkler,15 das Gesetz um. Ende September 1972 wurden buchstäblich über Nacht die Ortstafeln und Hinweisschilder aufgestellt. Ebenso rasch wurden sie allerdings – meist von Einheimischen und oft unter Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch die Exekutive – im sogenannten „Ortstafelsturm“ wieder demontiert und beseitigt.16 13 BGBl. Nr. 270, 6.7.1972. 14 Matthäus Grilc gab 2001 zu Protokoll, dass der „Kärntner Heimatdienst“ von Sima zuvor informiert worden sei und er auch „für diese Art von Regelung die Zustimmung erhalten“ habe. Grilc gab als Quelle eine Information von Alt-LH Sima an. Deckungsgleich ist die Aussage von Dr. Marjan Sturm, der gegenüber dem Autor angab, „Sima habe ihm [Sturm] des Öfteren sehr genau erzählt, dass seine Positionen zu zweisprachigen Ortstafeln innerparteilich abgesegnet waren, auch mit dem KHD, dass aber dann offensichtlich diese Frage sowohl parteipolitisch als auch innerparteilich in der SPÖ missbraucht worden wäre“. Vgl. Die Siebzigerjahre : Zwischen „Ortstafelkrieg“ und ersten Versuchen des Dialoges. Ein Podiumsgespräch mit „Zeitzeugen“, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 187–224, hier S. 214. 15 H. Stritzl, in : Zur Aufstellung der zweisprachigen Ortstafeln 1972. Journalisten : „Wir waren überrascht !“, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 181. 16 Reinhard Reimann, Systematische Verhinderung ? Die Politik gegenüber der sloweni-
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Eine große Protestkundgebung des „Kärntner Heimatdienstes “ in Klagenfurt forderte erfolgreich die Aussetzung der Durchführung des „Ortstafelgesetzes“ und die Einberufung einer „Ortstafel-Kommission“ zur Novellierung des Gesetzes.17 Es folgte 1976 – nach langwierigen Beratungen der eingerichteten „Ortstafel-Kommission“ und organisierten Demontagen deutschsprachiger Ortstafeln in Südkärnten 1975 – eine „Geheime Erhebung der Muttersprache“.18 Sie wurde von der slowenischen Volksgruppe unter abgesprochener und stillschweigender Duldung der Bundesregierung Kreisky boykottiert (so gab es etwa in Wien mehr Slowenen als in Kärnten). Mit dem Volksgruppengesetz 197619 wurden Volksgruppenbeiräte eingerichtet, eine Volksgruppenförderung wurde installiert sowie die Verwendung der Amtssprache und der topografischen Bezeichnungen in 205 Ortschaften festgelegt (Mindestanteil von 25 Prozent Slowenen in den entsprechenden Orten). Zur Umsetzung verordnete die Regierung Kreisky 1977 jene Gebietsteile, in denen zweisprachige „Ortstafeln“ anzubringen waren, und setzte die slowenischen Bezeichnungen für 91 Orte fest.20 Davon wurden bis 2002 in 73 (später 75) Orten zweisprachige „Ortstafeln“21 aufgestellt oder zumindest zweisprachige Wegweiser angebracht.
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schen Minderheit in den Siebzigerjahren, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 133–159. Vgl. dazu ausführlich : Josef Feldner, Stärkung der heimattreuen Kräfte : Der „Kärntner Heimatdienst“ nach dem Zweiten Weltkrieg, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 274–280. BGBl 1976/ 398, v. 7.7.1976. BGBl 1976/39 6 vom 7. Juli 1976 über die Rechtsstellung von Volksgruppen in Österreich (Volksgruppengesetz). Das Gesetz gilt als ein Ausführungsgesetz zu Abschnitt V des III. Teiles des Staatsvertrages von St. Germain 1919 (2a/4) und des Artikels 7 des Staatsvertrages von Wien 1955. BGBl. Nr. 306/1977, v. 14.6.1977 ; Verordnung der Bundesregierung v. 31.5.1977, in Kraft getreten am 1.7.1977, mit der Liste jener Orte, in denen topografische Bezeichnungen in deutscher und in slowenischer Sprache anzubringen sind. BGBl Nr. 306, 308/1977. Aufgrund der 25-Prozent-Regelung wären 235 Ortschaften (in insgesamt 27 Gemeinden) in der Topografieverordnung zu erfassen gewesen, was jedoch aus politischen Rücksichtnahmen und Bedenken nicht durchgeführt wurde. Angemerkt muss auch werden, dass die statistische Basis für eine derartige Regelung umstritten war. 1977 diskutierte zweisprachige Beschriftungen von Bahnhöfen oder Volksschulen und Gemeindeämtern wurden vom Verfassungsdienst des BKA zunächst als kongruent zur Verordnung bezeichnet, später in einer Erledigung des Verfassungsdienstes jedoch mit dem Argument verneint, dass es sich bei den o. g. Fällen nur um Funktionsbezeichnungen, nicht jedoch um topografische Aufschriften handle.
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Erste Annäherungen, Ulrichsberg-Anschlag und „Runder Tisch“ Die aufgestellten 73 „Ortstafeln“ blieben im Wesentlichen bis in die späten neunziger Jahre außer Streit, auch weil man in Kärnten mit ersten vertrauensbildenden Gesprächen und Maßnahmen begonnen hatte : Diözesansynode der Katholischen Kirche (1971/72),22 Kärntner Landsmannschaften, „Kärntner Heimatdienst“ (inklusive dem „Kärntner Sängerbund“ und dem „Kärntner Abwehrkämpferbund“),23 beide Slowenenverbände24, die bis Mitte der 1980er-Jahre auch stark von Ljubljana/Laibach beeinflusst waren, die drei Kärntner Tageszeitungen unter Heinz Stritzl, Walter Raming und Walter Primosch.25 Dies trotz zahlreicher Sprengstoff-Anschläge in den 1970er- und 1980er-Jahren. Die Minderheitenschulgesetz-Novelle 1988 mit dem ergänzenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes 1989 und den landesgesetzlichen Ausführungen 1990/9126 waren Schritte der Entspannung. 1995 hielt erstmals auf Betreiben von Landeshauptmann Christof Zernatto bei der 75-Jahres-Feier der Kärntner Volksabstimmung ein Kärntner Slowene
22 Vgl. u. a. Augustin Malle, Katholische Kirche und Kärntner Slowenen, in : Helmut Rumpler – Ulfried Burz (Hg.), Kärnten. Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bundesland. Herbert Dachs – Ernst Hanisch – Robert Kriechbaumer (Hg.), Geschichte der österreichischen Bundesländer. Bd. 6/2. Wien – Köln – Weimar 1998, S. 748–773, bes. S. 768f. 23 Der „Kärntner Heimatdienst“ hatte mit den angeschlossenen Verbänden in den Achtzigerjahren rund 50.000 Mitglieder. Dazu im Detail : Werner Drobesch, Vereinswesen und „nationale Frage“ 1914–1999. Regionale Schwerpunktbildungen und Breitenwirkung, in : Werner Drobesch – Augustin Malle (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 2. Nationale Frage und Öffentlichkeit. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 185– 214, hier bes. S. 198f.; sowie Josef Feldner, Stärkung der heimattreuen Kräfte : Der „Kärntner Heimatdienst“ nach dem Zweiten Weltkrieg, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 263–284. 24 Die Vorgänger-Organisationen des „Zentralverbandes“, OF und DFDL, standen unter großem Einfluss jugoslawischer Kommunisten. 25 Vgl. dazu im Detail : Christian Pichler, Die Berichterstattung über die Volksgruppen in der deutschsprachigen Tagespresse Kärntens seit 1918, in : Werner Drobesch – Augustin Malle (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 2. Nationale Frage und Öffentlichkeit. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 425–487, hier bes. S. 469f. 26 Das „Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten“, BGBl 1959/101 wurde nach der bedeutenden Novelle BGBI.1988/326 in den folgenden Jahren noch mehrmals novelliert : BGBl. 1990/420,1 1998/137, Kdm. I 2000/23 und I 2001/76. Mit Letzterer wurde der zweisprachige Unterricht im örtlichen Geltungsbereich des Minderheiten-Schulgesetzes auf die vierte Schulstufe an den Volksschulen erweitert.
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(Valentin Inzko) im historischen Wappensaal des Kärntner Landtages eine Rede in slowenischer Sprache.27 ln diese Phase einer zaghaften Annährung platzte im Spätsommer 1997 ein Anschlag auf das „Heimkehrer“-Denkmal auf dem Ulrichsberg, der zwischenzeitlich auch zu einer Pilgerstätte rechtsextremer Gruppen geworden war und seine ursprüngliche Bedeutung („Mahnmal für den Frieden“, als Botschaft der „Heimkehrer“) in der Öffentlichkeit Großteils eingebüßt hatte.28 Schnell wurde aus der Ulrichsberg-Diskussion eine Auseinandersetzung über die jüngere Geschichte Kärntens und den Umgang mit ihr. Dabei spielten die nationale Frage und die Konflikte um ihre zentralen Themen eine wichtige Rolle. Sehr schnell richtete ÖVP-Landeshauptmann Zernatto einen „Runden Tisch“ ein und übertrug die heikle Moderation der mehrfachen Zusammenkünfte im Spiegelsaal der Kärntner Landesregierung an Stefan Karner.29 Die Spitzen aller mit der Thematik befassten Organisationen nahmen an mehreren Zusammenkünften teil.30 Das Ergebnis war richtungweisend : Die Neudefinition der Funktion des „Ulrichsberges“, ein Modell für private, zweisprachige Kindergärten,31 die wissenschaftliche Aufbereitung der „Nationalen
27 Vgl. Christian Pichler, Politische Gedenktage und die deutschsprachige Kärntner Presse (1945–2000), in : Ulfried Burz – Heinz-Dieter Pohl (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 3. Politische Festtagskultur in Kärnten. Einheit ohne Einigkeit ? Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 171–273, hier bes. S. 238f. 28 Vgl. zum „Ulrichsberg“ Valentin Sima, Die Ulrichsberggemeinschaft – Die Geschichte einer Organisation unter besonderer Berücksichtigung ihrer Anfänge, in : Ulfried Burz – Heinz-Dieter Pohl (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 3. Politische Festtagskultur in Kärnten. Einheit ohne Einigkeit ? Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 275–313, hier bes. 298f.; sowie : Walter Fanta, Die Ulrichsbergfeiern im öffentlichen Bewusstsein, in : Ulfried Burz – Heinz-Dieter Pohl (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 3. Politische Festtagskultur in Kärnten. Einheit ohne Einigkeit ? Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 315–343. 29 Vgl. zum Folgenden : Stefan Karner, Gemeinsamkeit als politische Leitlinie : Der „Runde Tisch Kärnten“ 1997/98, in : Stefan Karner – Andreas Moritsch (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Bd. 1. Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2005, S. 285–291. 30 In den Unterausschüssen arbeiteten Josef Feldner, Claudia Fräss-Ehrfeld, Leopold Guggenberger, Günther Hödl, Stefan Karner, Peter Kuchar, Nante Olip, Paul Rösch, Vladimir Smrtnik, Heinz Stritz und Marjan Sturm führend mit. 31 Vgl. u. a.: 32. Sitzung der Kärntner Landesregierung, v. 11. Juli 2000. Amtsvortrag, Pkt. 5 : Kindergartenwesen. Einsetzung einer entsprechenden Arbeitsgruppe zur Erarbeitung von Vorschlägen ihrer Finanzierung (durch Beiträge von Bund, Land, Gemeinden und Eltern), ihrer Erhaltung und eines pädagogischen Konzeptes. Der Beschluss erfolgte über Antragstellung von LH Jörg Haider und LH-Stv. Mathias Reichhold (beide FPÖ).
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Frage in Kärnten im 20. Jahrhundert“32 und die einstimmige Verabschiedung einer „Prinzipienerklärung“ mit dem Kernsatz : „Zweisprachigkeit ist förderungswürdig“.33
2001 : Neustart in der „Ortstafel“-Frage Ein durch eine Selbstanzeige wegen Schnellfahrens im Ortsgebiet St. Kanzian erzwungenes Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zu Jahresende 200134 kippte die entsprechenden Passagen im Volksgruppengesetz von 1976 und in der Topografie-Verordnung 1977.35 Damit war die Liste jener Ortschaften gekippt, in denen „Ortstafeln“ in deutscher und slowenischer Sprache anzubringen waren.36 Noch wesentlicher war jedoch, dass mit einem Schlag die „Ortstafelfrage“ wieder in das Zentrum der nationalen Auseinandersetzung rückte. Der 25-Prozent-Satz war obsolet, ein Zehn-Prozent-Slowenenanteil in Ortschaften als Untergrenze in Diskussion.37 Das Erkenntnis führte zu heftigen, auch persönlich vorgetragenen Attacken von Landeshauptmann Jörg Haider gegen VfGH-Präsident Ludwig Adamovich. So stand man in der „Ortstafelfrage“ wieder vor einem Neustart. Unter den verschiedenen Handlungsoptionen entschied sich Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zu Jahresbeginn 2002 für die Suche nach einem politischen Konsens. Drei sogenannte „Konsenskonferenzen“ auf breitester Basis brachten keine gemeinsame, tragfähige Lösung,38 obwohl man ganz nahe an eine Einigung gekommen war.39
2005 : Das „Karner-Paket“ In der Umsetzung des VfGH-Erkenntnisses von 2001 bestand jedoch weiterhin ein rechtsstaatliches Defizit. In dieser Situation und in Fortsetzung der 2002 abgebrochenen „Konsenskonferenzen“ beauftragten Bundeskanzler 32 33 34 35 36 37 38
Karner (Hg.), Kärnten und die nationale Frage im 20. Jahrhundert. Vgl. Karner, Runder Tisch, S. 285–291. VfGH – Erkenntnis G 213/01, V62, 63/01, 13.12.2001 BGBl 306/1977. Verordnung der BH Völkermarkt. ZI. 4642/1/81, v. 17.8.1982. Zitate nach VfGH-Begründung des Erkenntnisses von 2001. Mitglieder der Arbeitsgruppe waren : G. Obenaus, BKA (Vorsitz), G. Glantschnig (Ktn. LReg), M. Sturm und P. Apovnik (slow. Volksgruppe), J. Feldner (KHD) und F. Schretter (KAB). 39 Resümeeprotokoll der 3. Sitzung v. 11.9.2002.
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Wolfgang Schüssel und in der Folge auch Landeshauptmann Jörg Haider im Februar 2005 Stefan Karner damit, vorbereitende Gespräche für eine neuerliche „Konsenskonferenz“ mit Vertretern der Slowenenorganisationen und der „Heimatverbände“ zu führen, mit dem Ziel, einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiss auszuloten.40 Als Ergebnis kam es zu einem politischen Kompromiss innerhalb der „Kärntner Konsensgruppe“ (Kärntner Heimatdienst unter Josef Feldner, Plattform Kärnten unter Heinz Stritzl, Zentralverband slowenischer Organisationen unter Marjan Sturm und Gemeinschaft Kärntner Slowenen und Sloweninnen unter Bernard Sadovnik), dem sich zuletzt auch der „Rat der Kärntner Slowenen“, die Kärntner Landtagsparteien (ausgenommen das „Bündnis Zukunft Österreich“, BZÖ, unter Haider), die Kirchen, zahlreiche Vertretungskörperschaften, der „Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften“ mit den entsprechenden Vereinen anschlossen. Der „Kärntner Abwehrkämpferbund“ hatte lediglich einen Teil des Kompromisses mit unterzeichnet. Der als „Karner-Paket“ bezeichnete Vorschlag der Konsensgruppe41 sah nach den Modifikationen in den folgenden Konsenskonferenzen unter Bundeskanzler Schüssel von März und April 2005 Folgendes vor : – Die Anbringung von zweisprachigen topografischen Bezeichnungen und Aufschriften in insgesamt 158 Orten (Ortschaften) bis 2010, wovon knapp die Hälfte bereits bestehend und insgesamt 91 bereits verordnet waren. – Ein umfangreiches Maßnahmenpaket für Südkärnten, finanziert von Bund und Land Kärnten.42
40 Die folgenden Ausführungen reflektieren in einigen Ansätzen die subjektive Position des Autors als handelnde Person der Entwicklung, besonders seit 2005. 41 Gemeinschaft der Kärntner Slowenen und Sloweninnen (Bernard Sadovnik), Kärntner Heimatdienst (Josef Feldner), Zentralverband der Kärntner Slowenen (Marjan Sturm) und Plattform Kärnten (Heinz Stritzl), Moderation : Stefan Karner. Anfänglich war auch der Kärntner Abwehrkämpferbund (Fritz Schretter) bei den Beratungen anwesend und hatte am 12.3.2005 den historischen Kompromiss mit seiner Unterschrift mitgetragen. 42 Der vom „Rat der Kärntner Slowenen“ (Josef Wakounig und Rudolf Vouk) ergänzte Maßnahmenkatalog sah eine Reihe wichtiger Maßnahmen für die slowenische Volksgruppe in Kärnten vor. Der „Kärntner Heimatdienst“ behielt sich die Einbringung eines Kataloges von begleitenden Maßnahmen in Form einer „Paketlösung“ zugunsten der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung in Südkärnten für einen späteren Zeitpunkt vor. Neben politischen und rechtlichen Maßnahmen (etwa eine Reform des Volksgruppengesetzes, einer Aufwertung der Volksgruppenbeiräte, einem genau definierten Rederecht des Beiratsvorsitzenden im Kärntner Landtag), betrafen die Vorschläge vor allem die Bildungsarbeit von Funktionären sowie diverse Förderungen, slowenische Sendungen oder den Ausbau des Stadions des Slowenischen Fußballklubs in Klagenfurt.
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– Ein laufender Informations- und Aufklärungsprozess unter der Bevölkerung (Vertrauensbildung). – Eine Öffnungsklausel, mit deren Hilfe auf Gemeinde- und Ortsebene nach 2010 weitere Aufschriften bei entsprechender Unterstützung in der Bevölkerung mit direktdemokratischem Antragsrecht (mindestens zehn Prozent) erlangt werden können. Die Umsetzung des Kompromisses kam 2005, 50 Jahre nach Abschluss des Staatsvertrages, durch das Ausscheren des Koalitionspartners BZÖ nicht zustande. Daran konnten auch die drei seit 1977 fehlenden „Ortstafeln“43 in Schwabegg/Žvabek, Ludmannsdorf/Bilčovs und Windisch Bleiberg/ Slovenji Plajberg44 nichts mehr ändern, die von Schüssel und Haider Anfang Mai 2005 gemeinsam, unter Beteiligung der Öffentlichkeit, aufgestellt wurden. In einem neuerlichen Anlauf versuchte die Bundesregierung unter Wolfgang Schüssel im Sommer 2006 einen leicht modifizierten, auf dem „Karner-Paket“ aufbauenden Vorschlag als Verfassungsgesetz im Parlament durchzubringen. Vergebens. Am 14. Juli 2006 versagte die SPÖ-Parlamentsfraktion – bereits im Wahlkampf für die Nationalratswahlen – dem entsprechenden Antrag ihre Zustimmung, obwohl ihn alle im Kärntner Landtag vertretenen Parteien (auch das BZÖ und die Kärntner SPÖ unter Gaby Schaunig) befürwortet hatten.45 Der nach zahlreichen Einzelgesprächen und nicht in Konsenskonferenzen im Sommer 2007 von SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer vorgeschlagene Kompromiss sah erstmals 163 Orte vor, in denen zweisprachige topografische Bezeichnungen und Aufschriften anzubringen gewesen wären. Dazu wurde der Stufenplan drastisch gekürzt, die Öffnungsklausel verändert und das betroffene Gebiet erweitert. Allerdings waren von Gusenbauer die mehrheitlich SPÖ-dominierten Gemeindevertretungen über die Bürgermeister 43 In etwa 20 Südkärntner Orten standen Anfang Mai 2005 keine Ortstafeln, obwohl nach der Topografieverordnung 1977 zweisprachige Aufschriften stehen müssten. 44 Die Schreibweise Slovenji Plajberg entsprach der Topografieverordnung von 1977, ist wissenschaftlich zwar umstritten, entspricht jedoch – ähnlich wie andere slowenische topografische Bezeichnungen in Kärnten – dem tradierten Kulturgut. Seit 1860 wird in den Kärntner Ortsverzeichnissen für Windisch Bleiberg „Blajberg“ geführt. In den amtlichen Publikationen nach den Volkszählungen seit 1880 wird „Plaiberg“ angegeben. Die slowenischen Bewohner von Windisch Bleiberg nennen sich selbst „Plajberani“. Informationen von Wilhelm Neumann und Alfred Ogris, den ehemaligen Direktoren des Kärntner Landesarchivs. 45 Vgl. dazu ausführlich : Stefan Karner, Die Bemühungen zur Lösung der Kärntner Ortstafelfrage 2006, in : ÖJfP 2007, S. 359–374.
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stark in die Lösung eingebunden worden. Die „Kärntner Konsensgruppe“ monierte transparente und klare Kriterien für die Benennung von Ortschaften und wollte danach den Vorschlag unterstützen. ÖVP, BZÖ und FPÖ waren – in Abstufungen – mit dem Entwurf nicht einverstanden. Vizekanzler Wilhelm Molterer (ÖVP) bot weitere Verhandlungen an. Dazu kam es nicht mehr. Das Thema lag politisch auf Eis.
Kaum Bewegung bis 2009 In dieser Phase bemühte sich die „Kärntner Konsensgruppe“ vertrauensbildende Maßnahmen zu setzen : Mehrere Diskussionsveranstaltungen in Südkärntner Orten, ein kärntnerisch-slowenisches Freundschaftsfest in Ljubno/Slowenien, zahlreiche Pressegespräche, Vorträge, eine Modifizierung der „Öffnungsklausel“ als „demokratisches Antragsrecht“, die gemeinsame Publikation von Josef Feldner („Kärntner Heimatdienst“) und Marjan Sturm („Zentralverband“) : „Kärnten neu denken“,46 ein „Fest der gemeinsamen Heimat Kärnten“ zum 10. Oktober 2008 in Ludmannsdorf unter Beteiligung ranghoher politischer Repräsentanten und Grußbotschaften der hochrangigen Politiker des Staates, die erstmals gemeinsame Trauer um die Kärntner Partisanenopfer in Leše/Liescha/Slowenien 2009, ein „Treffen der Kulturen“ in Marburg/Maribor. An der Spitze der Bemühungen stand die „Feierliche Erklärung zum 10. Oktober, dem Tag der gemeinsamen Heimat Kärnten“ am 9. Oktober 2006 im Kärntner Landhaushof. Die Erklärung wurde von allen relevanten Kräften Kärntens mit unterzeichnet, mit Ausnahme des BZÖ. „Kleine Zeitung“-Chefredakteur Reinhold Dottolo würdigte die Erklärung als einen „historischen Schulterschluss […] in Bezug auf das Miteinander der beiden Volksgruppen“.47 Superintendent Manfred Sauer und Diözesanbischof Alois Schwarz sprachen gemeinsam von einem „Schritt zum Frieden“ im Lande.48 Die „Feierliche Erklärung“ war auch ein „Schulterschluss gegen Haider und die Abwehrkämpfer“49 und die Umfunktionierung der Symbolik des 10. Oktober. Darauf konnte in der Folge aufgebaut werden. Die neue Symbolik sollte bleiben. Ein einseitiges Feiern und Gedenken war seither nicht mehr
46 Josef Feldner – Marjan Sturm, Kärnten neu denken. Zwei Kontrahenten im Dialog. Klagenfurt 2007. 47 Reinhold Dottolo, „Aufwecker“, in : Kleine Zeitung, 10.10.2006. 48 KTZ, 10.10.2006, S. 6. 49 Die Presse, 10.10.2006, S. 5.
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denkbar, auch wenn etwa „Heimatdienst“-Obmann Feldner, ein Motor des Konsenses, 2009 nicht zur Mitarbeit und Teilnahme an den offiziellen Landesfeiern zum 10. Oktober eingeladen wurde. Haider hatte ihm „Verrat an Kärnten“ vorgeworfen.50 Die Arbeit der Konsensgruppe selbst fand 2009 breite Anerkennung : Europäischer Bürgerpreis des EU-Parlaments, Österreichischer Verfassungspreis, Kulturpreis der Stadt Villach. Unterstützung erhielt ihre Konsensarbeit aus großen Teilen der österreichischen Politik, vor allem von Bundespräsident Heinz Fischer, der auch in der Neujahrsansprache eine Lösung des Konfliktes auf Basis der Vorschläge der Konsensgruppe forderte, von Außenministerin Ursula Plassnik, die u. a. eine tragfähige Brücke zum slowenischen Außenminister Dmitrij Rupel herstellte, von Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, der über seinen Kabinettchef Schnitzer zahlreiche Hintergrundgespräche führte, von Vizekanzler Wilhelm Molterer, Grünen-Chef Alexander Van der Bellen oder vom außenpolitischen Sprecher der ÖVP, Michael Spindelegger. Die Kärntner Landesparteien standen, mit Ausnahme des BZÖ unter Haider, hinter der „Kärntner Konsensgruppe“, ebenso wie führende Repräsentanten der Kammern, allen voran Wirtschaftskammer-Präsident Franz Pacher. Haider hatte noch im Jänner 2008 mit Blick auf „nationale“ Wählerstimmen und in Missachtung der oberstgerichtlichen Erkenntnisse eine kleine slowenische Zusatztafel unter die Ortstafel von Schwabegg montiert. Am 11. Oktober 2008 starb Haider – nach einem BZÖ-Wahlerfolg bei den Nationalratswahlen – bei einem Verkehrsunfall nahe Klagenfurt. Das neue Führungstrio des BZÖ, Landesparteiobmann Uwe Scheuch, Landeshauptmann Gerhard Dörfler und Landesrat Harald Dobernig, setzte anfänglich Haiders Weg „in seinem Geist“51 fort und bekräftigte in Punkt 7 seines Parteitags-Manifestes die Allianz mit jenen, die „keine weiteren zweisprachigen Ortstafeln wollen“. Damit war die Konsensgruppe vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Konsequent brachte das BZÖ im Nationalrat auch einen Dringlichkeitsantrag gegen weitere zweisprachige Ortstafeln ein. Blieb jedoch am 21. November 2008 in der Minderheit. Nur zwei Tage später einigten sich SPÖ und ÖVP auf die Bildung einer neuen Koalitionsregierung unter Werner Faymann. Im Koalitionsabkommen bekundeten beide Parteien ihren Willen zur Lösung der Ortstafelfrage „auf der Grundlage der bisherigen Vorschläge“. Dörfler deponierte postwendend sein Nein mit der Begründung, der Staatsvertrag sei erfüllt und die Minderheitenpolitik des Landes ohnehin vorbildlich. Seine Haltung dürfte stark von den bevorstehenden Kärntner Landtagswahlen im Frühjahr 2009 bestimmt gewesen sein. Dezi50 Kronen Zeitung, 10.10.2006, S. 16. 51 Manifest des BZÖ Kärnten, präsentiert auf dem LPT. Klagenfurt, 15.11.2008.
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diert versprach er die 25-Prozent-Hürde zur Aufstellung von zweisprachigen „Ortstafeln“ (mit Bezug auf Bruno Kreisky). Seine Rechnung ging auf. Dörfler konnte – auch mit dem „Haider-Faktor“ („Danke Jörg“) – einen bedeutenden Wahlsieg mit 44,89 Prozent der abgegebenen Stimmen feiern.
Die Einigung 2011 Erst 2010, im Jubiläumsjahr der Volksabstimmung, kam Bewegung in die Debatte. Ausgelöst durch einen Artikel von Wolfgang Schüssel, in dem er forderte, das Ortstafelproblem zum 90-Jahr-Jubiläum der Volksabstimmung auf Basis des „Karner-Pakets“ in der Fassung des Schüssel-Haider-Paktes von 2006 zu lösen. Schüssel erntete breite Zustimmung, auch vom „Rat der Kärntner Slowenen“. Faymann erklärte, die Frage nötigenfalls auch ohne die FPK lösen zu wollen, allerdings „ohne Drüberfahren“. Außenminister Spindelegger sprach sich nach einem Treffen mit seinem slowenischen Amtskollegen Samuel Žbogar ebenfalls für eine Ortstafellösung 2010 aus. Ein Weiteres tat zunächst der Obmannwechsel beim „Rat“, bei dem auf den unversöhnlichen Karel Smolle der Diplomat Valentin Inzko folgte. Der Schlüssel zur Umsetzung einer Lösung auf Basis des Konsensklimas und der vorbereitenden Arbeiten der Konsensgruppe lag jedoch bei Dörfler (seit Dezember 2009 Freiheitliche Partei Kärnten, FPK) und dem neuen Staatssekretär Josef Ostermayer, den Faymann mit der Führung der entsprechenden Gespräche betraut hatte. Als Zeichen des guten Willens ließ Dörfler am 14. Juli 2010 drei zweisprachige Ortstafeln aufstellen. Anfang November 2010 einigte man sich auf „Leitlinien“ (keine Minderheitenfeststellung, wie sie Dörfler noch gefordert hatte, keine Öffnungsklausel, wie sie die Slowenenvertreter verlangt hatten, eine Zehn-Prozent-Klausel auf Ortsebene, wie sie die Slowenen wollten, und auf eine Zahl zwischen 141 und 163 „Ortstafeln“). Die Konsensgruppe sah ihre Vorarbeiten bestätigt und begrüßte die erzielten Fortschritte. Dörfler, der mit zahlreichen Skandalen (u. a. Hypo Alpe Adria) zu kämpfen hatte, war an einer pragmatischen Lösung im Interesse des Landes interessiert, die Bundesregierung unter Faymann und Spindelegger brauchte einen zählbaren Erfolg, und die Menschen in Kärnten verlangten überwiegend nach einer Lösung des ihnen leid gewordenen Themas, mit dem sich auch kaum noch Stimmen maximieren ließen. Zudem gelang es Dörfler mit dem angepeilten Erfolg in der „Ortstafelfrage“, den angeschlagenen Parteiobmann Harald Scheuch in die Schranken zu weisen.
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Die internen vielfältigen Gespräche mit den Slowenenorganisationen, den betroffenen Bürgermeistern und einigen Kärntner Traditionsvereinen, die anschließend politisch wieder fallen gelassen wurden, bogen im Frühjahr 2011 schließlich in ihre Zielgerade ein, auch wenn die Slowenenvertreter Mitte Februar noch insgesamt 273 zweisprachige „Ortstafeln“ forderten. Am 1. April 2011 war nach einer Nachtsitzung die Einigung perfekt. Sie fußte im Wesentlichen auf dem „Karner-Paket“ und war dem Kompromiss von 2005/06 sehr ähnlich : – 164 Orte statt 158. – 17,5 Prozent-Anteil slowenischer Bevölkerung (ausgenommen VfGH-Erkenntnisse) statt 15 Prozent auf Gemeinde und Zehn-Prozent-Schranke auf Ortsebene. – Eine Erhöhung der „Abstimmungsspende“ des Bundes statt der ausgeweiteten Förderungsmaßnahmen für Südkärnten. – Ein Petitionsrecht statt der Öffnungsklausel. – Ein „Dialogforum“ statt der geforderten umfangreichen Aufklärungs- und Dialogarbeit (eingerichtet am 22.11.2011). Ein „Memorandum“ zu den „Ortstafeln“ und zur „Amtssprache“ legte am 28. April weitere Details fest, wie die Finanzierung der slowenischen Musikschule oder neuer Modelle zur Intensivierung des Spracherwerbs im slowenischen Gymnasium in Klagenfurt.52 Eine pro forma rasch durchgeführte Ortstafel-Volksbefragung brachte rund 50.000 Nein-Stimmen in Kärnten, was deutlich machte, dass die Gräben zwischen den Volksgruppen mit der Ortstafellösung noch nicht eingeebnet sind. Am 6. Juli 2011 beschloss der Nationalrat, bei dessen Sitzung Schüssel seine letzte Parlamentsrede hielt, fast einstimmig, jedenfalls aber mit Zustimmung aller Parlamentsfraktionen, das neue Volksgruppengesetz im Verfassungsrang. Es wurde anschließend Ende Juli und Mitte August in Festakten im Bundeskanzleramt und im Wappensaal des Kärntner Landtages, unter Würdigung der Arbeit der „Kärntner Konsensgruppe“, sowie durch die feierliche Aufstellung der Tafeln in Eisenkappel/Železna Kapla und Sittersdorf/ Zitara vas begangen. Kärnten konnte mit dem politischen Kompromiss 2011 einen wesentlichen Erfolg feiern. Ein 40-jähriger Streit wurde beigelegt. Einzelne Störversuche seither finden keine Unterstützung mehr. Dennoch muss die Aufklärungs-
52 1220 der Beilagen XXIV. GP – Regierungsvorlage – Vorblatt und Erläuterungen. Memorandum, 28.4.2011.
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und Konsensarbeit fortgeführt werden, zu der man sich im Verfassungsgesetz auch verpflichtet hat.53 Erschienen in : Stefan Karner, Die Lösung der Kärntner Ortstafelfrage, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2011. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 213–240.
53 Der Anhang des Originalartikels wird an dieser Stelle nicht abgedruckt.
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Vom „Anschluss“ zum Reichspogrom 1938: der Nationalsozialismus an der Macht (2017)
Am 12. März 1938 um 5.30 Uhr früh begann der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich ohne dabei auf geordneten militärischen Widerstand zu stoßen. Die internationale Staatengemeinschaft nahm das Ende Österreichs im Wesentlichen als innerdeutsche Angelegenheit zur Kenntnis. Einzig Mexiko protestierte formell beim Völkerbund und die Sowjetunion warnte vor ähnlichen weiteren Aktionen. Daher wurde auch die Mitteilung der deutschen Reichsregierung an den Völkerbund, wonach Österreich infolge der „Wiedervereinigung aufgehört habe, Mitglied des Völkerbundes zu sein“, ohne Reaktion aufgenommen.
Politik Der Nationalsozialist, Sicherheits- und Innenminister Arthur Seyß-Inquart übernahm als Bundeskanzler die Regierung. Mit Wirksamkeit des Gesetzes „über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ vom 13. März 1938 war Österreich auch de jure kein Völkerrechtssubjekt mehr und wurde von der politischen Landkarte gelöscht. Hitler folgte den Einheiten der Wehrmacht, die zumeist mit Enthusiasmus empfangen wurden, und hielt am 15. März auf dem Wiener Heldenplatz vor einer jubelnden Menge eine Rede, in der er den „Eintritt“ seiner „Heimat in das Deutsche Reich“ proklamierte. Was die Bilder der Wochenschau und der Zeitungen nicht zeigten, war die erste Verhaftungswelle im ganzen Land. Noch im Morgengrauen waren in den Landeshauptstädten und in Wien die führenden Vertreter des Ständestaates und als NS-Gegner bekannte Persönlichkeiten verhaftet oder unter Hausarrest gestellt worden. Unter ihnen Bundeskanzler Schuschnigg, die Landeshauptmänner und Sicherheitsdirektoren. Dazu die Nobelpreisträger Otto Loewi und Erwin Schrödinger, Oberrabbiner, wie David Herzog, Pazifisten, Anarchisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Der steirische Fürstbischof Ferdinand Pawlikowski wurde unter Hausarrest gestellt und am 13. März für 24 Stunden in das Grazer Polizeigefängnis gesperrt. Eine Aktion, die ihresgleichen im „Dritten Reich“ suchte. Die erste Etappe der Machtsicherung ging wesentlich über die Exekutive : Im ganzen Land wurden am Tag der Machtübernahme mit sofortiger
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Wirkung etwa 15 Prozent des Ist-Standes an Exekutivbeamten zwangspensioniert, entlassen oder strafversetzt. Dazu kamen die „totale“ Kontrolle der Medien und ihr anschließender, gezielter propagandistischer Einsatz – meist schon durch eine radikale Besetzung der Redaktionsräume zu mitternächtlicher Stunde des 12. März durch Stoßtrupps der SA, sodass einige Blätter am 13. März 1938 im politischen Teil bereits in nationalsozialistischem Sinne erschienen. Die Chefredakteure wurden sofort abgesetzt und die Redakteure, soweit sie nicht ohnehin mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, auf die neue Blattlinie verwiesen. Die Studios der Radio Verkehrs AG (RAVAG) in Wien und in den Ländern folgten unmittelbar darauf. Das Radio wurde zum wichtigsten Propagandainstrument des NS-Regimes. Die Verhaftungen erfolgten generell ohne öffentliches Aufsehen, still und leise. Sie sollten die „Anschluss“-Begeisterung im Lande nicht stören. Umso einsamer mussten sich die Verhafteten fühlen. Loewi schrieb noch vom Polizeigefängnis eine Postkarte an den Herausgeber der Zeitschrift „Naturwissenschaften“ in Berlin und teilte ihm darin die letzten Ergebnisse seiner Forschungen kurz mit, weil er glaubte, nie mehr forschen zu können. Bereits einen Tag nach dem „Anschluss“, am 14. März, wurde das österreichische Bundesheer auf Adolf Hitler vereidigt, in den folgenden Monaten gingen die österreichischen Truppen in der Wehrmacht auf, führende österreichische Offiziere wurden verhaftet oder zwangspensioniert. Als eine der ersten verwaltungstechnischen Maßnahmen wurden die Gemeindetage aufgelöst und Tausende Bürgermeister ihrer Ämter enthoben. Die neuen Bürgermeister wurden von den ebenfalls kurz zuvor ernannten Bezirkshauptmännern im Einvernehmen mit den NSDAP-Kreisleitern zunächst provisorisch ernannt. Die Neubesetzung der Bürgermeister und Bezirkshauptleute erfolgte in der Regel mit gemäßigteren, in der Bevölkerung weitgehend geachteten Persönlichkeiten. Ortsgruppenleiter oder örtliche, in letzter Zeit in den Vordergrund gekommene Parteiaktivisten und radikale Elemente kamen in dieser ersten Phase – etwa bis zur Volksabstimmung am 10. April 1938 – kaum zum Zug. Die Machtübernahme vollzog sich schrittweise. Dies galt auch für den Rechnungshof, Kulturvereine oder den Großteil der Kammern. Die Arbeiterkammern des „Ständestaates“ wurden liquidiert und ihr Vermögen meist in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) eingebracht. Nach dem Gesetz vom 13. März 1938 wurde Bundeskanzler Seyß-Inquart als Reichsstatthalter den neun österreichischen NS-Landeshauptmännern vorgeschaltet. In ihrer Parteifunktion als Gauleiter unterstanden diese jedoch mit ihrem jeweiligen „NSDAP-Gau“ dem neu bestellten „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ in Wien, dem saarländischen Gauleiter Joseph Bürckel. Wien blieb noch für eineinhalb
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Jahre österreichisches Zentrum. Der länderweise „Anschluss“, die Aufwertung der österreichischen Provinzen und die gleichzeitige Abwertung Wiens, erfolgte erst mit dem „Ostmark“-Gesetz ein Jahr später. Denn von Tirol, wo man auf einen Anschluss Südtirols hoffte, über Kärnten, die Steiermark, wo viele die 1919 abgetrennte Untersteiermark zurück haben wollten, bis ins Burgenland, wo Gauleiter Tobias Portschy vergeblich gegen eine Aufteilung des Landes auftrat, verstand man sich als „Grenzer“, als „Hüter deutscher Kultur“, oder wie es Hitler auf dem Heldenplatz für die gesamte „Ostmark“ formulierte : als „Bollwerk“. Mit der Grenzland-Identität, etwa der „Südmark“ knüpften die Nationalsozialisten an bestehende Traditionen an. Längst war die Grenze Teil des Selbstverständnisses in Kärnten und der Steiermark geworden : Von der ursprünglich militärischen, über die politisch-nationale und wirtschaftliche im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bis zur „rassisch“ motivierten Grenzwächterfunktion. „Grenzer“ brauchte man nicht erst im März 1938 zu werden, „Grenzer“ war man bereits. Graz sollte als NS-„Stadt der Volkserhebung“ nicht nur seiner historischen Identität beraubt, sondern als Hauptstadt des „Grenzgaues“ Steiermark in der Rangordnung der NS-Städte auf die ideologisch höchste Ebene mit den großen deutschen Städten, wie Hamburg, München, Nürnberg, ja selbst von Berlin gestellt werden. „Wir leben in ständigen Auseinandersetzungen mit anderen Völkern und diese ständige Auseinandersetzung zwingt uns […] die Kräfte mehr anzuspornen, als in einem Binnenland […] Wir sind straffer, wachsamer, energischer als die deutsche Mitte und es ginge dieser deutschen Mitte schlecht, wenn wir diese Eigenschaften nicht hätten“, definierte NS-Landesrat Josef Papesch die Identität als „Grenzer“. Der Wirtschaft versprach man Förderprogramme, den schnellen Abbau der hohen Arbeitslosigkeit, ein riesiges Wohnbauprogramm, den Ausbau von Industriekapazitäten oder die Umschuldung der notleidenden Landwirtschaft. Was verdeckt geschah, war ebenso bedeutsam : Der Abtransport des Goldschatzes der Nationalbank nach Berlin, die beginnende Arisierung, vor allem in Wien und Graz, als bald größte Besitzumschichtung bis dahin, der Abzug Tausender Facharbeiter oder der gezielte Aufbau einer Rüstungsindustrie. In großen Propagandaaktionen wurden Tausende Arbeiter wiedereingestellt, am Erzberg, in Simmering, in Graz oder Linz. Das Nebeneinander von Modernität und Traditionalismus, von Führer staat und den starken Herrschaftsträgern der SS oder SA, die Integration möglichst aller „Volksgenossen“ in die breite Palette von NS-Organisationen und die Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich systematische Ermordung von Juden, Zigeunern, Slowenen, politischer Gegner, Wehrdienstverweigerer oder Geisteskranker kennzeichneten die folgenden Jahre der NS-Herrschaft.
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Volksabstimmung Die Uniformierung des Volkes und die gebremste Machtübernahme sollte in einer möglichst hundertprozentigen Zustimmung zum bereits vollzogenen „Anschluss“ bei der Volksabstimmung und Wahl zum „Großdeutschen Reichstag“ am Palmsonntag, dem 10. April 1938, zum Ausdruck kommen. Für den 10. April wurde von der NSDAP ein bis ins Detail durchorganisierter Wahlfeldzug inszeniert : Von der Propagierung entsprechender Wahlempfehlungen der katholischen Bischöfe, Karl Renners oder von Heimatdichtern wie Friedrich Perkonig, Karl-Heinrich Waggerl, Hans Kloepfer oder Franz Karl Ginzkey bis zur Propaganda im Film und Radio, von Massenveranstaltungen mit möglichst prominenten NS-Parteiführern, bis zur wirtschaftlich-sozialen Wahlwerbung (Volksausspeisungen, Eintopfessen, Neueinstellungen von Arbeitslosen, Lohnerhöhungen, Absatzerleichterungen und Kreditaktionen für Bauern, Sozialhilfen, deutliche sozialrechtliche Besserstellungen für „Ausgesteuerte“, Ehestandsdarlehen, Verkehrsprogrammen und Freizeitaktionen mit „Kraft durch Freude“),zog die NSDAP alle verfügbaren Register der Wahlwerbung. Vor allem wirkte für die NSDAP die partielle Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Sie war binnen weniger Tage durch öffentliche Bauprogramme, Auftragsvergaben an Firmen und die Öffnung des großen deutschen Marktes gelungen. Die Chance auf Arbeit, auf eine persönliche Karriere und Perspektive wirkten ebenso wie die nationalen Argumente der Nationalsozialisten. Gleichzeitig wurden mittel- und längerfristige sozial- und wirtschaftspolitische Versprechungen gemacht, die mit dem Hinweis auf analoge erfolgreiche Maßnahmen im Deutschen Reich glaubhaft wurden. Bürckel gab als Abstimmungsbeauftragter Hitlers am 24. März mit einer Radiorede den Wahlauftakt. In Zeitungsaufrufen warb etwa der steirische Arzt und Heimatdichter Hans Kloepfer : „Palmsonntag, der 10. April, wird heuer ein großmächtiger Lostag sein für alle Österreicher und besonders auch für den Bauernstand. Mit einem lauten ‚Ja‘ müssen wir vor der ganzen Welt Zeugenschaft ablegen, […] und es nie vergessen, dass er [Hitler] es gesagt hat : ‚Deutschland wird ein Bauernreich sein, oder es wird nicht sein‘.“ Der Theologe Johannes Ude, für den der steirische Gauleiter Uiberreither trotz Auflösung der Theologischen Fakultät einen eigenen Lehrstuhl sichern wollte, warb landauf landab in Predigten von den Kirchenkanzeln für ein „Ja“ zum „Anschluss“. In einer noch weitgehend autoritätsgläubigen, überwiegend christlichen Bevölkerung, wirkten die Erklärungen der Oberhirten der Katholischen und Evangelischen Kirchen. Die Loyalitätsbekundung und „Feierliche Erklärung“
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der österreichischen katholischen Bischöfe, auch des zuvor inhaftierten Pawlikowski, wurde am 27. März in den österreichischen Kirchen mit einer Interpretation des vatikanischen Nuntius verlesen und tags darauf mit einer Erklärung von NS-Seite von Hamburg bis Eisenkappel in allen Zeitungen und als Flugblatt millionenfach verbreitet. Darin würdigten die Bischöfe die Sozialpolitik des Nationalsozialismus, besonders für die ärmeren Schichten, und seine Bemühungen zur „Abwehr des alles zerstörenden gottlosen Bolschewismus“. Daraus folgte die Empfehlung : „Am Tage der Volksabstimmung ist es für uns Bischöfe selbstverständliche nationale Pflicht, uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen, und wir erwarten auch von allen gläubigen Christen, dass sie wissen, was sie ihrem Volke schuldig sind“. Kardinal Theodor Innitzer setzte unter ein Begleitschreiben noch handschriftlich ein „Heil Hitler“. Mit der Erklärung der Bischöfe wurden die Vertreter des Ständestaates und katholischen NS-Gegner zu Illegalen gestempelt, das NS-Regime hatte einen gewaltigen Propagandagewinn erzielt. Die Empörung Papst Pius XI., das baldige Abrücken des Linzer Bischofs Gföllner, der ausgebliebene Kniefall des Episkopats vor dem Diktat des NS-Staates für ein beiderseitiges Abkommen und selbst die große Andachtsfeier des Kardinals im Stephansdom am 7. Oktober 1938 mit etwa 7000 Jugendlichen – mit „Herz-Jesu-Lied“ und Ovationen für die nicht mehr dem Regime angepasste Haltung Innitzers, konnten die Erklärung und ihre Wirkung nicht mehr ungeschehen machen. Die Haltung der evangelischen Kirche war mindestens ebenso deutlich für den „Anschluss“, nur hatte sie nicht jene Verbreitung und damit nicht die propagandistische Wirkung wie die katholische Bischofserklärung gefunden. In allen evangelischen Gotteshäusern wurde am 3. April ein „Dank an den gnädigen Gott für Rettung und Befreiung unserer Heimat“ mit einem Aufruf für ein „Ja“ verlesen, der zuvor schon in der „Wiener Zeitung“ veröffentlicht worden war. Der frühere Bundespräsident Michael Hainisch und Staatskanzler Karl Renner hatten sich ebenfalls in die Reihe der prominenten „Anschluss“-Befürworter gestellt. Renner bewarb sich bei Bürckel um eine ähnlich starke publizistische Verbreitung seiner Empfehlung wie dies für die Erklärung der österreichischen Bischöfe gemacht wurde. Bürckel gestattete Renner jedoch „nur“ eine Einschaltung im „Neuen Wiener Tagblatt“ am 2. April 1938 : „[…] Ich müsste meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte“. Die „Anschluss“-Erklärungen der Bischöfe und von Renner entspra-
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chen weitgehend der entstandenen Stimmung in der Bevölkerung, hatten aber auch handfeste Gründe : Der Episkopat hoffte, durch ein angepasstes Verhalten die prekäre Lage der Kirche zu verbessern und die Austrittswelle zu bremsen, Renner hoffte, verhaftete Sozialdemokraten und Sozialisten (vor allem Robert Danneberg) aus dem Gefängnis zu bringen. Beides waren Fehlkalkulationen. Der Kirchenkampf des NS-Regimes begann erst richtig. Große Teile der sozialdemokratischen Arbeiterschaft zeigten sich durch die NS-Sozialprogramme und die rasche Beseitigung der Arbeitslosigkeit tief beeindruckt und wurden zu Alltags-Propagandisten der NS-Sozialpolitik. Hitler begann seine Österreich-Reise zur Volksabstimmung, deren Ergebnis bereits feststand, am 3. April 1938 in Graz. Von der Auftakt-Veranstaltung in der Weitzer Waggonfabrik überschlug sich die Stimme des Reporters im deutschen Rundfunk : „[…] Nicht in einem Prunksaal vor wenigen Auserwählten spricht er, nein, er spricht zu Tausenden hier an der Stätte der Arbeit. […] Es sind Jahre her, dass hier die Hämmer dröhnten, die Maschinen stampften, […] da sitzen Arbeiter […], die alle bald wieder […] wirken und schaffen werden für Deutschland.“ Um ein möglichst hundertprozentiges Ja-Ergebnis zu erhalten, schloss das NS-System an die 200.000 Menschen (vor allem Juden, Roma, Regimegegner, Inhaftierte) von vornherein von der Volksabstimmung aus. Dazu kamen Tausende Volksdeutsche aus den angrenzenden Gebieten, die zusätzlich eine Stimmberechtigung erhielten. Die Frage auf dem amtlichen Stimmzettel lautete : „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler ? Ja Nein“. Das „Ja“ hatte einen großen, das „Nein“ einen kleinen Kreis. Das Ergebnis der Volksabstimmung in Österreich mit 99,7 Prozent an Ja-Stimmen für den bereits vollzogenen „Anschluss“ lag über dem Ergebnis im „Altreich“. Wer die Nein-Wähler waren, lässt sich kaum mehr feststellen. Vorwiegend dürften es Arbeiter und kleinbürgerlich-katholische Gruppen gewesen sein. Das Resultat war dennoch zu einem erheblichen Teil Ausfluss der weitverbreiteten Begeisterung im März und April 1938 für den NS-Staat, deren Erklärungsebenen in den nationalen, wirtschaftlich-sozialen und im weitesten Sinn kulturellen Komponenten ebenso zu finden sind wie in der Opportunität vieler Menschen, der nackten Angst vor Repressalien, dem Ausschluss von rund 200.000 Menschen vom Votum sowie der kursierenden Mundpropaganda, wonach die Wahl mit „gezinkten“ Wahlkarten durchgeführt würde.
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Zweite Phase der Machtergreifung Nach der im ganzen Deutschen Reich durchgeführten „Volksabstimmung“ und formellen Wahl zum „Großdeutschen Reichstag“ ging es in der zweiten Phase der „Machtergreifung“ um die weitere Neubesetzung von Führungspositionen in Verwaltung und Wirtschaft, wesentlichen Trägern der NS-Herrschaft, sowie um die Verlängerung der NS-freundlichen Grundstimmung und damit der Zustimmung zur NS-Politik in der Bevölkerung. Die NS-Bewegung gab sich selbst das Prädikat „jung“ und sollte auf allen gesellschaftlichen Ebenen wirksam werden : in der Erziehung der Jugend, in der Schule, in der Freizeitgestaltung, in der Familienplanung, im Betrieb, in der Mode, ja selbst bei der Damenfrisur, im Bauwesen usw.: Nationalsozialismus als eine von den Massen getragene, junge Bewegung. Aus dem Alltag der Wiener, Salzburger, Tiroler oder Kärntner sollte ein „brauner“ Alltag, das Volk „gleichgeschaltet“ werden : Alle sollten das gleiche braune Tuch tragen, die gleiche Uniform oder den Trachtenrock, einen Volksempfänger besitzen, am „Eintopf“ mitessen und mit dem gleichen Gruß grüßen. Der „Anschluss“ Österreichs, der Einbau des Gebietes in das Deutsche Reich, erfolgte 1938 in Etappen : Durch die Überleitung der Reichsgesetze auf Österreich, durch die Sieben-Gaue Lösung am 15. Oktober 1938 (Vorarl berg und Burgenland werden Tirol beziehungsweise Steiermark und Niederösterreich angeschlossen), die Neubenennung Österreichs als „Ostmark“, die sukzessive und in alle Ebenen reichende Übernahme der Macht durch NS-Funktionäre, den Aufbau eines Repressions- und Terrorapparates, der den Gleichschritt der „Volksgenossen“ erzwang, den Aufbau der NS-Strukturen in Wirtschaft, Justiz, Bildung oder Kultur, die sukzessive Ausschaltung von NS-Gegnern, Juden und Slowenen in Kärnten aus dem öffentlichen Leben, die weitgehende Gleichschaltung der Amtskirchen. Die NS-Bewegung wurde auf allen Ebenen, territorial und in ihren Verbänden, strikt nach dem Führer-Prinzip aufgebaut. Die NSDAP verstand sich dabei als Elitepartei. Eine Aufnahme war an bestimmte Kriterien und Prozeduren gebunden. Insgesamt traten bis 1942 rund 650.000 Österreicher der Partei als Mitglieder bei oder waren Parteianwärter. Die höchsten Mitgliederraten finden sich in Kärnten, Steiermark und Oberösterreich. Den größten Schub an Aufnahmen verzeichnete die NSDAP 1938/39 („Märzveilchen“). Später ebbte die Zahl an Neuaufnahmen deutlich ab. Die NSDAP verfügte über Hunderte Organisationen innerhalb der NS-Bewegung, die wiederum in „Gliederungen“ (wie SS, SA, Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK), Hitlerjugend (HJ) oder NS-Frauenschaft), „angeschlossene Verbände“ (wie Deutsche Arbeitsfront, Reichsnährstand oder Volkswohlfahrt)
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und „betreute Organisationen“ (wie Winterhilfswerk oder Lebensborn e. V.) strukturiert wurden. Eine Mitgliedschaft in den einzelnen Verbänden bedeutete keinesfalls eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der NSDAP. Die zahlreichen Verbände und NS-Organisationen hatten die Menschen gleichzuschalten und eröffneten oft Karrieremöglichkeiten beziehungsweise überhaupt, wie für Künstler und Wissenschafter, die Möglichkeit zu arbeiten. Im Anspruch des totalitären Staates sollten die Menschen möglichst von Geburt an (in NS-Mutter-Kind-Heimen) mit der NS-Ideologie so stark vertraut werden, dass sie diese als selbstverständlich annehmen. Hitler 1936 : „Und sie werden nicht mehr frei ein Leben lang“.
Juden „Das Judentum“, „Der Jude“ bildeten in der NS-Ideologie das zentrale Feind-Stereotyp, ein „Urübel“ und Wegbereiter des Bolschewismus. Das deutsche Volk war nach der NS-Propaganda dazu ausersehen, die „zivilisierte“ Welt vor diesem „Urübel“ zu bewahren und den „Weltfeind“, das Judentum, zu besiegen. Nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ von 1935 waren Juden eine „minderwertige Rasse“ und sollten – trotz aller Verflechtungen und Leistungen für die deutsche Kultur – aus dem Herrschaftsbereich des „Dritten Reiches“ gebracht werden. Entsprechende Planungen, wie eine Juden-Deportation nach Madagaskar, wurden erarbeitet. Zugleich griff die NS-Propaganda auf jahrhundertealte Wurzeln des Antisemitismus zurück : Geldwechsler, Financiers, Christusmörder und erklärte Judenhass zum Unterrichtsprinzip. Julius Streicher : „Und wenn ich noch in der Schule stünde, da würde ich jeden Tag am Anfang der Stunde und am Ende […] sagen : Kinder, vergesst es nicht : Christus hat gesagt, die Juden sind seit Anbeginn Mörder, und ihr Vater ist der Teufel. Pflanzt es in die Jugend hinein, das Wissen, dass am Juden die ganze Menschheit zugrunde geht […] Sagt den Kindern, jawohl, mit der Peitsche hat er sie hinausgehauen. Er war ein Hasser der Juden. Erzeugt diesen Hass !“ Sofort nach der Machtübernahme setzten Übergriffe auf Juden und ihre Vermögen ein. Verhaftungen und Geschäftsstörungen waren latent. Die erste Phase der „Entjudung“ der österreichischen, vor allem Wiener und Grazer Wirtschaft, des Stehlens jüdischen Besitzes, mit teilweise anschließenden „Arisierungen“, also der Übergabe des jüdischen Besitzes an „Arier“, betraf nach dem „Anschluss“ zahlreiche kleinere Gewerbebetriebe, wie Kürschner, Maler oder kleine Land-Geschäfte, die Juden gehörten und bei denen zahlreiche Ortsbewohner tief verschuldet waren. Ein besonders krasses Beispiel
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ist die „Entjudung“, das heißt die widerrechtliche Wegnahme des Geschäftes des Juden Maier in Zöbern in Niederösterreich. Als man Maier aus dem Ort trieb, standen die Bauern der Umgebung Spalier, nun waren sie ihre Schulden los. Andere konnten, wie das „Alpenlandkaufhaus“ Kastner & Öhler in Graz, durch Besitzumschichtungen innerhalb der Familie einer zwangsweisen Arisierung entgehen. Die erste Welle der Ausschreitungen gegen Juden und Arisierungen nach der Volksabstimmung begleiteten weitere Verhaftungen unter den Führungen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), die Festnahmen vieler Funktionäre jüdischer Vereine und die Beschlagnahme ihres Vermögens. Für die Masse der Juden in Österreich schwerer wogen die legistischen Maßnahmen des NS-Regimes bis zur Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gegen sie : 15. März 1938 : April 1938 :
26. April 1938 : 14. Juni 1938 : 15. Juli 1938 :
27. September 1938 :
Enthebung aller jüdischen Beamten vom Dienst Entfernung aller jüdischen Schüler aus den öffentlichen Schulen. Nach Abschluss des Schuljahres 1938/39 Unterrichtsverbot für jüdische Schulkinder Errichtung einer Vermögensverkehrsstelle zur Überwachung und „Arisierung“ jüdischer Betriebe. Anmeldepflicht aller jüdischen Gewerbebetriebe Verbot für jüdische Ärzte, die Praxis weiter auszuüben, was mit dem Verlust von Wohnung und Ordination einherging Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte
Mit diesen gezielten Maßnahmen wollte man zunächst die Juden zur Auswanderung zwingen. Die noch handlungsfähigen Reste der IKG versuchten, eine Auswanderung durch Umschulungsaktionen und das Anlernen von handwerklichen Fähigkeiten, selbst der Hühneraufzucht, und der Herstellung von Verbindungen nach Übersee zu erleichtern. Ab Juni 1938 folgte der nächste Schlag : Die Isolierung und „Entfernung“ der Juden aus dem Wirtschaftsleben. Viele Juden waren noch nicht ausgewandert. Zahlreiche Länder, wie die USA, Großbritannien oder die Schweiz, weigerten sich überhaupt, größere Kontingente an Juden aus dem Deutschen Reich aufzunehmen, wie sie dies auf der Flüchtlingskonferenz in Évian unmissverständlich zum Ausdruck brachten. Der letzte europäische Staat, der Juden aus Österreich aufnahm, war Lettland. Nur wenigen gelang die Flucht nach Palästina. Einen Fluchtkorridor für Tausende Juden gab es noch an der steirischen Südgrenze zu Jugoslawien. Dort entwickelte sich ein regelrechter
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Menschenhandel, in den zahlreiche Bauern und Zöllner, teilweise mit Duldung von NS-Stellen, involviert waren. So erhielt der Grazer Unternehmer und Lebemann Josef Schleich Ende Juli 1938 offiziell die Erlaubnis, Schulungskurse für auswanderungswillige Juden abzuhalten, musste sich aber verpflichten, seine „Schüler“ bei der Staatspolizei zu melden. Der Andrang aus dem ganzen Reich übertraf bald sein Angebot an Kursen. Daher stellte Schleich Zerfikate auch ohne Kursbesuch und Prüfungen aus. So sollen rund 15.000 Juden legal aus dem Deutschen Reich geflohen sein. Viele der geflohenen Juden wurden in Agram/Zagreb von der „Hilfsorganisation amerikanischer Juden für jüdische Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich“ (HICEM) aufgenommen. Als die US-Einwanderungsbehörde Schleichs Zeugnisse nicht mehr akzeptierte, begann dieser eine Zusammenarbeit mit dem jüdischen Palästina-Amt in Wien und den Behörden Adolf Eichmanns und wurde offiziell „Reisebegleiter“ ausreisewilliger Juden. Der Judenpogrom in der Nacht zum 10. November 1938 – reichsweit als „Vergeltung“ für den Mord am deutschen Botschaftssekretär vom Rath in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan erklärt – war ein durch und durch gesteuertes Unternehmen. Ein großer Teil der jüdischen Synagogen, Gebetshäuser und Einrichtungen wurde zerstört, niedergebrannt, devastiert und Juden vom Mob unter Aufsicht der NS-Organe verhaftet, gedemütigt und bedroht, wie der Grazer Oberrabbiner Prof. David Herzog, den man in der Mur zu ertränken drohte. Gegen die Judenpogrome gab es vereinzelte Proteste, auch unter der SS und SA. Ein Sicherheitsdienstbericht bemerkte dazu, dass die Ursache für die deutliche Kritik in der Bevölkerung weniger die gesetzlichen Maßnahmen waren als vielmehr „die körperlichen Züchtigungen“. Unter der Kritik nahm das Protestschreiben des Grazer Theologen Johannes Ude an Gauleiter Sigfried Uiberreither eine besondere Stelle ein. Ude verurteilte darin die „banditenartige“ Judenverfolgung als eine „sonst nur im Busch und im Wildwest gebräuchliche Lynchjustiz“. Der Moraltheologe, der sich im Frühjahr 1938 dem Nationalsozialismus genähert und für den „Anschluss“ aktiv geworben hatte, machte damit eine klare politische Kehrtwendung. Als Udes Kritik Monate später in Paris publiziert wurde, erhielt er „Gauverweis“. Reichsweit wurde als Schlusspunkt der Pogromnacht den Juden eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark (RM) und zum Hohn die Behebung der angerichteten Schäden auferlegt. Hermann Göring erhöhte die „Sühne“ ein Jahr später um weitere 250 Millionen RM. Der November-Pogrom hatte den Boden für die nun forcierte wirtschaftliche und physische Vernichtung auch der österreichischen Juden, vor allem in Malyj Trostenec (Weißrussland), auf-
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bereitet und war gewissermaßen der Auftakt für die wirtschaftliche „Endlösung“. Eine Sonderstellung hatten die sogenannten „Mischlinge“. Nach NS-Recht war jüdischer „Mischling“, „wer von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammte“, wobei die Religionszugehörigkeit kein Kriterium für den NS-Rasse-Begriff war. Wichtig war die Unterteilung in zwei Grade, wenn etwa ein „Mischling“ 1. Grades bei einer Eheschließung mit einem Volljuden ebenfalls als solcher gelten konnte. Heiraten zwischen „Mischlingen“ 1. und 2. Grades waren genehmigungspflichtig, solche zwischen einem „Mischling“ 2. Grades und einem Volljuden waren überhaupt verboten. Die Repressalien gegen „Mischlinge“ begannen ebenfalls mit Berufsverboten für Ärzte, Rechtsanwälte und setzten sich später mit Entlassungen aus der Wehrmacht und aus Schulen fort.
Roma und Sinti Nach der Rassenlehre des „Dritten Reiches“ waren die „Zigeuner“ als Indogermanen zwar „Arier“, aber „artfremd wie die Juden“. Zudem waren sie, mit wenigen Ausnahmen im Burgenland, nicht sesshaft, galten vielfach als potenzielle Bagatell-Kriminelle, waren großteils Analphabeten und in keinem Nahverhältnis zur staatlichen Ordnung. Von der Volksabstimmung im April 1938 waren sie ausgeschlossen, ihre Musikkapellen dienten dem folkloristischen Aufputz und waren für sie eine zusätzliche Verdienstquelle. Ihre Bekämpfung begründete das NS-Regime daher sowohl mit „rassischen“ wie mit Maßnahmen zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“. Seit 1935 fielen sie ebenso wie die Juden unter die Nürnberger „Rassegesetze“. Weitere Verordnungen und Erlässe, wie der „Festsetzungserlass“, der ihnen das Verlassen ihrer Aufenthaltsorte verbot, folgten 1939. Am Ende standen auch für die rund 8000 Roma und Sinti, vorwiegend im Burgenland und in der Oststeiermark, die Gaskammern Hitlers. Portschy hatte die NS-Lösung der „Zigeunerfrage“ konzeptiv vorbereitet, wobei er zum Schein eine illusorische „freiwillige Abwanderung ins Ausland“ präferierte. Kein Nachbarland war bereit, Roma und Sinti aufzunehmen. Im Frühsommer 1938 verbot man ihren Kindern den Besuch von Schulen, erteilte Verbote zum Musizieren und Berufsverbote. Enteignung, „Arisierung“ von Grundstücken im südlichen Burgenland, Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation und Morde folgten. Lackenbach im Burgenland wurde zum zentralen Sammellager für ihre weiteren Deportationen, vor allem in Konzentrationslager nach Polen.
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Euthanasie : Tötung „unwerten Lebens“ Ausgehend von sozialdarwinistischen Theorien („der Stärkere setzt sich durch“), Tierreich-Analogien, begann das „Dritte Reich“ das menschliche Leben einer erbarmungslosen Kosten-Nutzen-Rechnung zu unterwerfen. Damit sollten alle „Erbkranken“ und „Minderwertigen“ zur „rassischen Höherentwicklung“ des Volkes „ausgemerzt“ werden : Durch Sterilisation oder Tötung. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 trat in der „Ostmark“ mit 1. Jänner 1940 in Kraft. Doch schon bald nach der Reichs pogromnacht gegen die Juden, vor allem 1939, ging man zur physischen Vernichtung Erb- und Geisteskranker über, zur Tötung „unwerten Lebens“, irreführenderweise „Euthanasie“ genannte verbrecherischen Maßnahmen, die Hitler zu Kriegsbeginn mit Spezialbefugnissen für Ärzte noch erweiterte. Der „Spiegelgrund“ in Wien-Steinhof, Schloss Hartheim oder der Grazer „Feldhof“ wurden zu Laboratorien des Todes.
Widerstand Selten lagen schiere Begeisterung, Verfolgung und Widerstand zeitlich so knapp beieinander wie in der Nacht des „Anschlusses“. Während Tausende auf den Straßen und Plätzen, unter den Lautsprecherwagen oder zuhause ihre Begeisterung in ein vielstimmiges „Heil“ schrien, wurden andere still und leise in die Gefängnisse gebracht, gequält und für Transporte nach Dachau zusammengestellt. Die Nationalsozialisten kannten ihre Gegner aus politischer oder religiöser Überzeugung und hatten Tausende aus „rassischen“ Gründen gebrandmarkt. Der Riss in der Gesellschaft ging quer durch Familien, durch Vereine und Gruppen. Das totalitäre NS-System erzeugte Gewalt und permanente Angst, auch vor Denunziation. Der Widerstand formierte sich schon im grauenden Morgen des 12. März 1938. Der Blick auf die Fundamente der Zweiten Republik Österreichs legt die Bedeutung dieses Widerstandes gegen das NS-Regime in Österreich offen – gibt jenen rund 100.000 Österreicherinnen und Österreichern ein Gesicht, die ihr Nein zum NS-Regime deutlich machten und verfolgt, vertrieben, ghettoisiert und vielfach ermordet wurden. Die Zahlen selbst können den NS-Terror nicht wiedergeben. Unter den Opfern sind Schwester Restituta, Helene Kafka, ebenso zu finden wie Alois Geschwinder, Richard Zach oder Pater Roman Scholz. Die Palette des Widerstandes ist schon 1938 breit und umfasst nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen : Aktivisten aus dem katholisch-konservativem Lager, linke Gruppen (Sozialdemokraten und Kommunisten, deren Ak-
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ten teilweise bereits im „Ständestaat“ angelegt wurden und derer sich die Gestapo bediente), konspirative Gruppen der „Roten Hilfe“ um Lorenz Poketz, Monarchisten, katholische Basisgruppen, Kapläne wie Kapistran Pieller oder Johann Pfeiler, der gegen die HJ predigte, Laienbrüder (wie Josef Ruf und Michael Lerpscher von der „Christkönigsgemeinde“), Priesterstudenten wie Eduard Pumpernig, Priester (wie Maximilian J. Metzger von der Una-Sancta-Bewegung, der für den evangelischen Bischof Eidem von Uppsala ein Memorandum zur Neugestaltung Deutschlands nach dem Krieg verfasste), Gebetsgemeinschaften am Land und in den Städten, Intellektuelle wie Architekt Herbert Eichholzer, mit seinen Netzwerken bis Istanbul und Moskau. Viel später, vor allem ab 1942, gingen Kärntner Slowenen in den Widerstand, bildeten sich Partisaneneinheiten und ein, wenn auch schwacher, militärischer Widerstand. Der Widerstand hatte vielfältige Formen : Vom verbotenen Abhören von „Feindsendern“, über die bewusste und politisch motivierte Nichtbefolgung von Anordnungen, betriebliche Sabotage, die Verweigerung des Wehrdienstes und politische Agitationen, wie die Gruppe um den Archivar Franz Weiss, Josef Neuhold und den Schauspieler Karl Drews in Graz, den Dichter und Lehrer Richard Zach, der sich von der NS-Ideologie losgesagt hatte. Alfred Setscheny, zufällig mit Neuhold in der gleichen Zelle : „Er ist dann gestorben, durch die Folterungen, bevor die Hinrichtung war. Und da hat er auf einem Holzstockerl etwas eingekratzt‚ gegen die Nazis. Also der hat sich bis zum letzten Moment foltern und schinden lassen“. Nach Kriegsbeginn exportierte man den Widerstand auch ins Ausland, schloss sich der französischen Resistance an, wie der Zisterzienserpater Leopold oder der Bauernbündler Franz Kummer oder bildeten in sowjetischer Gefangenschaft das österreichische Antifa-Büro. Andere desertierten aus der Wehrmacht, wie der Kommunist, Schneidermeister Leopold Picej aus Kühnsdorf, der erste aus den sowjetischen Akten nachweisbare Überläufer zur Roten Armee, oder verweigerten den Dienst mit der Waffe wie Hunderte Zeugen Jehovas. Die Einrichtung von Konzentrations- und KZ-Nebenlagern auf dem Gebiet Österreichs war 1938 noch nicht erfolgt. Die ersten Transporte politischer Häftlinge, vor allem von Vertretern des „Ständestaates“, gingen 1938 noch in Lager des „Altreichs“, meist nach Dachau.
Wirtschaft Lange vor dem politischen „Anschluss“ Österreichs hatten deutsche Wirtschaftsplaner ihre Fühler nach Österreich ausgestreckt, detaillierte wehr-
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wirtschaftliche Erkundungen über das Potenzial des Landes und über Ausbaumöglichkeiten eingeholt und strategische Überlegungen angestellt. Ober- und Niederösterreich, Wien und die Steiermark, Kernländer der österreichischen Wirtschaft und Industrie, spielten dabei eine erstrangige Rolle : Landwirtschaftliche Überschüsse, Rohstoffe und die Landbrücken nach der Tschechoslowakei und nach dem Südosten Europas schlugen dabei deutlich zu Buche. Die ökonomische Bedeutung Österreichs kann in folgenden Sparten (gegenüber dem Deutschen Reich) sichtbar gemacht werden : Über ein Fünftel der Eisenerzproduktion, fast die Hälfte der Antimonförderung, nahezu die gesamte Magnesit- und Graphiterzeugung, mehr als das Doppelte der Talkproduktion, fast der gesamte Holzbedarf. Dazu große Gold- und Devisenreserven, Wasserkräfte, Ferrolegierungen, Waggonbau, der bedeutende Fremdenverkehr als Devisenbringer, knapp ein Viertel der deutschen Edelstahlproduktion, der gesamte deutsche Importbedarf an Milch sowie ein gut ausgebildeter Arbeiter- und Facharbeiterstand, der großteils arbeitslos und schnell zu akquirieren war. Sie sollten soweit wie möglich für die deutsche Kriegswirtschaft, Rüstung und Ernährungssicherung herangezogen werden. Schon 1937 wurden die Edelstahlproduktion und die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft in den deutschen Vierjahresplan integriert. Wirtschaftspolitisch und strategisch schloss das „Dritte Reich“ an die Mittelosteuropa-Konzepte des Deutschen Kaiserreichs und die deutschen Ziele im Ersten Weltkrieg an : Österreich als Sprungbrett nach dem Balkan, aber auch als wirtschaftlich selbstständige „Grenzmark“ gegenüber Südosteuropa. Auf der Passivseite der Bilanz stand lediglich die sehr ähnliche Wirtschaftsstruktur, die in einigen Teilen Umstellungen erforderte. Die ersten wirtschaftspolitischen Maßnahmen galten, auch aus Gründen der Propaganda, der Beseitigung der Arbeitslosigkeit und der Umschuldung der österreichischen Landwirtschaft, um ihre Produktion zu steigern und das Reich in der Versorgung der Bevölkerung autark zu machen („Nahrung ist Waffe !“). Die Maßnahmen zur Beseitigung der hohen Arbeitslosigkeit waren im Wesentlichen : die Einziehungen mehrerer Jahrgänge zur Deutschen Wehrmacht und zum RAD (Reichsarbeitsdienst für Burschen und Mädchen), Investitionen in die Infrastruktur : Bau von Wohnhäusern, Kasernen, Straßen, Bahnstrecken, Schulen, Kraftwerken, Meliorationen, Kanalisierungen und der Beginn des Autobahnbaus und schließlich der Ausbau der Rüstungsindustrie. Die gesamte Wirtschaft wurde sofort nach dem „Anschluss“ auch auf einen möglichen Krieg vorbereitet, es war eine Art von „Kriegswirtschaft im Frieden“. Nahezu unbemerkt sicherten sich die Wehrmachtsteile Heer, Luftwaffe und Marine die wichtigsten österreichischen Betriebe in ihre Rüs-
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tungsportfolios : Steyr, Böhler, Alpine Montan, Siemens, Elin, Andritzer, Teufelsberger, BBU, Treiber, Hirtenberger, Schoeller, Grazer Waggonfabrik, Puchwerke, Bleckmann oder Voith. Mit dem Bau großer Betriebsanlagen wurde begonnen, wie der Wiener Neustädter Flugzeugwerke, des Stahlwerkes Linz oder der Flugmotorenwerke Ostmark. Die Rüstung wurde, ebenso wie die gesamte Wehrwirtschaft, in zwei Rüstungsdienststellen (Wien und Salzburg) und in sieben Rüstungskommanden organisiert. Dazu sicherte man sich sich den Ausbau der österreichischen Wasserkraft über die Anlage von Laufkraftwerken an Donau, Drau, Mur, Enns und Inn und des Speicherkraftwerkes Kaprun, einer 100-kV-Sammelschiene mit einer Umspannstation für die Weiterlieferung des Stroms nach Deutschland. Der Hype des „Anschlusses“ sollte möglichst lange anhalten. Der Tourismus wurde langsam von der DAF-Organisation „Kraft durch Freude“ übernommen, die Freizeit sukzessive reglementiert. Eine Propagandawelle kaschierte vieles, überschwemmte das Land in einem vorher nie dagewesenen Umfang. Die Landwirtschaft war für die Nationalsozialisten 1938 politischer Kampfplatz. Große Teile der bäuerlichen Bevölkerung waren traditionell der katholischen Kirche und den Christlichsozialen verbunden. Daher wurden den Bauern sofort nach dem „Anschluss“ großzügige Sofortaktionen gewährt. Sie sollten wiederum Geld auf den Hof bringen. Propagandistisch begleitet wurden Obst, Wein, Zucker, Rinder, Schweine und Stuten abgenommen, mit Entwässerungen, Sofortkreditaktionen, Güterwegbauten (zur „Nutzbarmachung der Holzbestände für die Kriegswirtschaft“), der Anlage von Seilzügen zur Holz- und Milchlieferung, von Stallverbesserungen (durch Entmistungs- und Melkanlagen) und der Verbesserung landwirtschaftlicher Wege begonnen. Ab Mai 1938 versuchte man die Strukturprobleme der bäuerlichen Betriebe, ihre Verschuldung und Abwanderung, zu lösen und sie, soweit möglich, ideologisch aufzuwerten („Erbhöfe“, Mechanisierung, Modernisierung). Verwaltungstechnisch wurde die österreichische Landwirtschaft in drei größeren Einheiten zusammengefasst : Donauland, „Südmark“ und Alpenland, denen jeweils ein „Landesbauernführer“ vorstand. Der Begriff „Bauer“ wurde ideologisch besetzt. Bauer konnte nur sein, wer „deutscher Staatsbürger, deutschen oder stammesgleichen Blutes“ und „ehrbar“ war. Den NS-Ehrentitel „Bauer“ durfte nur der Eigentümer eines Erbhofes führen, ab 1943 kriegsbedingt auch Frauen. Die anderen landwirtschaftlichen Besitzer blieben bloß „Landwirte“. Entscheidend für die NS-Agrarpolitik wurde jedoch die Umschuldung der großteils hoch verschuldeten Betriebe. Die schon länger vorbereiteten Kreditaktionen erstreckten sich sowohl auf Aufbaumaßnahmen als auch auf eine Schuldregelung oder auf beides gleichzeitig. Die Umschuldung betraf eine
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Verlagerung der bäuerlichen Schulden von kurzfristigen, hochverzinsten Verbindlichkeiten auf langfristige, niedrigverzinste. Von den rund 101.000 österreichischen Bauernhöfen, die Aufbau- und Umschuldungsdarlehen in Anspruch nahmen, waren bis zu Kriegsbeginn etwa 90 Prozent umgeschuldet. Etwa ein Drittel der verschuldeten Bauern reichte keine Kreditanträge ein, vor allem wegen des hohen bürokratischen Aufwandes, der notwendigen Offenlegung seiner Vermögens-, Besitz- und Anbauverhältnisse und der jährlich durchzuführenden Hofplanung.
Die „Volksgemeinschaft“ – Der Gleichschritt Der Nationalsozialismus versuchte eine gesellschaftliche Revolution und propagierte die „Volksgemeinschaft“ als neue soziale Wirklichkeit. Hitler : „Wir haben uns bemüht, die Menschen nach ihren inneren Werten zu messen, haben uns bemüht, wegzugehen vom rein Äußeren, vom Oberflächlichen, haben uns bemüht, Herkunft, Stand, Beruf, Vermögen, Bildung, Wissen, Kapital und alles das zu vergessen, was Menschen zu trennen vermag […]“ und verwies auf die Breite der NS-Bewegung. Und RAD-Führer Konrad Hierl ergänzte : „Es gibt kein besseres Mittel, die soziale Zerklüftung, den Klassenhaß und den Klassenhochmut zu überwinden, als wenn der Sohn des Fabriksdirektors und der junge Fabriksarbeiter, der junge Akademiker und der Bauernknecht im gleichen Rock, bei gleicher Kost den gleichen Dienst tun als Ehrendienst für das ihnen allen gemeinsame Volk und Vaterland“. Der Unternehmer sollte Unternehmer bleiben und der Arbeiter ein Arbeiter. Doch sollte dies bloße Berufsbezeichnungen sein. Den Status sollte nur noch bestimmen, ob man Glied des deutschen Volkskörpers beziehungsweise der arischen „Rasse“ war, nicht jedoch Klasse, Bildung oder Beruf. Die neue Elite sollte rassisch geprägt sein. In der „Volksgemeinschaft“ sollten alle gesellschaftlichen Unterschiede aufgehoben werden. Anteil am Staat, Bürger des Staates, konnten nur noch „Volksgenossen“ sein. Vergehen gegen die „Betriebsgemeinschaft“ als den Kern der neuen Ordnung, wurden im Rahmen der „Sozialen Ehrengerichtsbarkeit“ geahndet. Dies alles fußte auf dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ („Ehre“ und „Treue“) von 1934. Es sollte wieder eine Ehre werden, ein Handwerk zu erlernen. „Bauer“ wurde überhaupt ein Ehrentitel, ebenso wie „Mutter“, die für die Sicherung des Volkes mit „Mutterkreuzen“ ausgezeichnet wurde. Möglichst alle „Volksgenossen“ und jeder Einzelne sollten rundum von einem dichten Netz von NS-Organisationen „betreut“ werden. Ausgeschlossen aus dieser „Volksgemeinschaft“ waren jene, die nach der NS-Rassenlehre und Ideologie nicht
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„arisch“ waren oder als Gegner verfolgt wurde : Juden, Slawen, Roma, Sinti, Zeugen Jehovas, Jesuiten, Freimaurer, geistig behinderte Menschen. Hinter der Fassade der „Volksgemeinschaft“ verbarg sich eine tiefe, bewusst herbeigeführte Spaltung der Gesellschaft. Kern dieser gesellschaftlichen Veränderungen war neben der Rassen- die NS-Sozialpolitik. An sie knüpften viele ihre Erwartungen für eine persönliche Besserstellung und Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Sie waren noch jahrzehntelang die „gute Nachrede“ des NS-Systems. Tatsächlich konnte die Einbindung der österreichischen Arbeiterschaft in die NS-Sozialgesetzgebung für den Einzelnen durchaus ambivalent sein. Hatten die Arbeitnehmer in einigen Belangen echte sozialrechtliche Verbesserungen bekommen, so bedeutete ein wichtiger Teil der arbeitsrechtlichen Verfügungen einen eklatanten Rückschritt. Entscheidende Veränderungen gab es vor allem beim Arbeitsvertrag, durch die Einführung von Kinderbeihilfen, Familienunterstützungen, in der Sozialversicherung und der betrieblichen Sozialpolitik. Die Frauen sollten generell weniger in den Arbeitsprozess eingebunden werden, als vor allem als Frau und Mutter ihren Beitrag zur Erhaltung des Volkes und zur Kriegswirtschaft leisten. Restriktiv auf die arbeitsrechtliche Situation der österreichischen Arbeitnehmer wirkten sich 1938 vor allem die Einführung des „Arbeitsbuches“ am 23. April 1938 und die Unmöglichkeit, frei den Arbeitsplatz zu wechseln, aus. Freie Gewerkschaften und Betriebsräte gab es bereits seit dem „Ständestaat“ nicht mehr. Nun wurden selbst die ständestaatlichen, rudimentären Vertretungseinrichtungen durch NS-Vertrauensleute ersetzt. Auch waren Arbeitnehmer auf Eintragungen des „Betriebsführers“ im Arbeitsbuch angewiesen, um etwa während des Krieges Lebensmittelkarten zu bekommen. Die sozialrechtlichen Vorteile betrafen zunächst die Altersversorgung auch für Arbeiter, einen gewissen Kündigungs- und Entlassungsschutz vor oder bei Betriebsstillegungen, Lohnfortzahlungen an Feiertagen und die von Firma zu Firma unterschiedlich gehandhabte betriebliche Sozialpolitik. Mit der endgültigen Übernahme der meisten reichsdeutschen sozialrechtlichen Vorschriften und Gesetze wurde das deutsche Arbeits- und Sozialrecht eingeführt und der Arbeitsvertrag von einer rein schuldrechtlichen Vereinbarung in ein personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis uminterpretiert. Damit sollte dem ideologischen Postulat einer Betriebsgemeinschaft als wechselseitigem Treueverhältnis von „Betriebsführer“ und „Gefolgschaft“ entsprochen werden. Mit der Sieben-Gaue-Lösung hatte man in jedem Gau der NSDAP ein eigenes Propagandaamt geschaffen, die Gesetzgebung der Reichskulturkammer (RKK) eingeführt und die „Eingliederung der österreichischen Kulturschaf-
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fenden in die Einzelkammern“ angeordnet. Die Mitgliedschaft in der RKK unter ihrem Präsidenten, Propagandaminister Goebbels, war für die Künstler nicht nur Pflicht. Sie allein gab ihnen das Recht und die Möglichkeit zur Ausübung ihres Berufes. Ausschlüsse kamen einem Berufsverbot gleich. Die NS-Kulturpolitik hatte sich ein breites Wirkungsfeld gesichert. Von Vereinsauflösungen bis zur Schaffung von Einrichtungen, die teilweise auch in den folgenden Nachkriegsjahrzehnten ein fester Bestandteil des kulturellen Lebens in Österreich wurden. Die Gründung einer Musik-Hochschule in Graz, die Anlage von Galerien, eine neu eingeführte Begabtenförderung zum Besuch weiterführender Schulen, der Bau von neuen Schülerheimen, die Förderung des heimischen Musikgutes in „Heimatschutz“-Tradition, die Einrichtung der Kulturpflege auf dem Lande und die Schaffung eines Grundstocks an „Volksbildnern“ und „Kulturpflegerinnen“, die Verbesserung der Stellung und der Wohnmöglichkeiten von Lehrern als „Pioniere der Kulturund Volkstumsarbeit“. Denn, „versagt hier der Lehrer, […] dann besteht die Gefahr, dass […] Seele und Geist unserer Bauern wieder unter die Führung der katholischen Pfarrer und Kapläne geraten“. Nur in Salzburg wurde eine öffentliche Bücherverbrennung bekannt. Ein sichtbarer Umbruch hatte in der Literatur und bildenden Kunst dennoch nicht stattgefunden. Die meisten Dichter schrieben so weiter, wie sie dies auch bis dahin getan hatten und teilweise auch nach 1945 weiter taten. Völlig unbekannt blieben im Bewusstsein der Öffentlichkeit die Untergrund- und Exilliteraten. In der NS-Zeit galten sie als verfemt und „artfremd“. Unter ihnen Friedrich Torberg, Ernst Fischer, Richard Zach oder der „Steirer-Seppl“ der BBC, Josef Otto Lämmel. Die Dichter-Enklave, der „Sonderfall Aussee“, wurde fast ausnahmslos ins Exil getrieben, wie Friedrich Torberg, Leopold v. Andrian, Raoul Auernheimer, Hermann Broch, Gina Kaus, Theodor Herzl, Marta Karlweis, Robert Neumann und Ernst Waldinger. In die innere Emigration zogen sich unter anderem der Naturlyriker Hans Leifhelm, die katholische Lyrikerin Anna Lukesch und der Pazifist Rudolf Jeremias Kreuz, der beim P.E.N.-Kongress 1933 in Dubrovnik entscheidend an der Resolution gegen die Bücherverbrennungen in Deutschland beteiligt gewesen war, zurück. Auch die Theater und Opernhäuser 1938 spielten, mit wenigen Ausnahmen oder kurzfristig ins Programm genommenen Stücken, noch ihre Repertoires, die man 1936/37 zusammengestellt hatte. Lediglich eindeutige Ständestaats-Stücke wie „Der Kanzler von Tirol“ wurden abgesetzt. Es wurde „weiter Theater gespielt […] fast so gutes Theater, als ob das Regime des Ungeistes außerstande wäre, das Niveau zu senken“. Neben der Staatsoper und dem Wiener Burgtheater stand das Grazer Opernhaus („Stadt der Volkserhebung“) unter besonderer Beobachtung.
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Dennoch gab man hier weiter die Wiener Operettenkönige Lehar und Strauß und die Possen Johann Nestroys. Von März bis Ende Juli 1938, also in der zweiten Hälfte des Spieljahres 1937/38, wurden „Die bestrafte Spröde“ von Lope de Vega mit acht Aufführungen, Leoncavallos „Bajazzo“ sowie die Operetten „Liebe in der Lerchengasse“ (Vetterling) und „Wenn die kleinen Veilchen blühen“ (Stolz) sowie „Wilhelm Tell“ (Schiller) mit je 7 Vorstellungen am häufigsten gespielt. Insgesamt gab es in Graz im ersten Halbjahr der NS-Herrschaft 12 Wagner-, je 8 Lehár- und Lope de Vega- sowie je 7 Leoncavallo-, Schiller-, Stolz- und Vetterling-Aufführungen. Vom 13. März 1938 bis zum Ende des Spieljahres 1937/38 brachten die Städtischen Bühnen insgesamt 41 Produktionen und 128 Vorstellungen heraus. Die Dominanz Richard Wagners, die überaus starke Betonung der „leichten Muse“ und der volkstümlichen, heimatlichen Stücke prägten auch in den folgenden Jahren den Spielplan der zwei Bühnen. Auch Shakespeare, Puccini und Shaw blieben noch bis Ende 1939 im Repertoire. Shakespeare, der aufgrund von „Verdiensten der deutschen Dramaturgen, Schauspieler, Übersetzer und Wissenschafter als Mitbesitz“ betrachtet wurde, stand bis zur Schließung der Theater im Rahmen des totalen Kriegseinsatzes, 1944, auf den Spielplänen aller deutschen Theater, freilich in sinkendem Ausmaß. In Graz gab man in den Spieljahren 1938/39 und 1939/40 14 Vorstellungen von „Hamlet“ und der „Lustigen Weiber von Windsor“ und eine Vorstellung von „Der Widerspenstigen Zähmung“. Für Oscar Wilde, dessen Stücke und Verfilmungen staatlicherseits als ausgezeichnet galten, änderte sich mit Kriegsbeginn 1939 die Lage. „Lady Windermeres Fächer“ wurde in Graz vom 25. Dezember 1938 bis 2. März 1939 elfmal aufgeführt und danach eingestellt. George Bernard Shaws „Frau Warrens Gewerbe“ wurde in Graz und in Wien nur selten gespielt, obwohl der Ire vom NS-Regime nicht verboten worden war. Dafür feierten die Operettenkomponisten Nico Dostal, Fred Raymond und Robert Stolz große Erfolge. Ihre Werke „Monika“, „Maske in Blau“ und „Wenn die kleinen Veilchen blühen“ zählten zu den meistgespielten Stücken. Der öffentlich inszenierte Sturz aller Kennzeichen des „Ständestaates“, bis zum Sturz des Dollfuß-Denkmals am Grazer Opernring während der „Anschluss“-Tage, demonstrierte den politischen Sieg des Nationalsozialismus im öffentlichen Raum. Bald schon inszenierte das NS-Regime Feiern zum Gedenken an die „Blutzeugen der Bewegung“, monumental und bis ins kleinste Detail, in allen größeren Städten. Nichts wurde dabei dem Zufall überlassen : Die Hausfarbe, die Steckschilder und Schriftgestaltung, das Wandbild und die Architekturplastik. Linz und Graz sollten eine NS-Fasson bekommen. Die Architekten standen bereit. Wien, das um die Umlandgemeinden vergrößert wurde („Groß-Wien“) wurde von Hitler nicht im selben Ausmaß „gefördert“.
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Die österreichischen Hochschulen, Studenten wie Lehrende, hatten in der Mehrzahl die „Anschluss“-Bewegung wesentlich mitgetragen, in einzelnen Fächern, wie der Eugenik, Germanistik oder Geschichte, seit Jahren Theorien entwickelt, die von den Nationalsozialisten übernommen und als NS-Ideologie ausgegeben werden konnten. Der großen Mehrzahl an NS-Sympathisanten, „März-Veilchen“ und illegalen NSDAP-Mitgliedern stand an den Hochschulen nur eine kleine, gefährdete Minderheit gegenüber, zu der Juden, prononcierte Katholiken, Inhaber öffentlicher Ämter unter dem vergangenen Regime und ganz allgemein politisch Unzuverlässige zählten. Einige, wie Otto Loewi, wurden sofort verhaftet, andere, wie Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, nützte man aus und entließ sie, trotz „Bekenntnisses zum Führer“. Die Gleichschaltung der Hochschulen, der Lehrenden und Studenten, ging schnell und geschah von innen. Am 13. März 1938 wurde die fünf Jahre vorher aufgelöste „Deutsche Studentenschaft“ wieder eingesetzt, die Rektoren entlassen und nahezu alle akademischen Funktionsträger ausgetauscht. Unter den Entlassenen waren, wie bereits erwähnt, die Nobelpreisträger Otto Loewi, weil er Jude war, Viktor Franz Hess, weil er Kulturrat im Ständestaat und gläubiger Katholik und mit einer nicht „ganz tragbaren“ Frau verheiratet war, sowie Erwin Schrödinger seiner politischen Haltung wegen, die er schon in seiner Berliner Zeit an den Tag gelegt hatte. Schrödingers Zeitungsaufruf, am 10. April mit „Ja“ zu stimmen, bewahrte ihn nicht vor der Entlassung. Dennoch hegte die NSDAP weiter Misstrauen gegenüber den Hochschullehrern. Hatte doch die SS schon 1937 klar formuliert : „Es gibt vor allem ein Gebiet, wo uns der jüdische Geist der ‚Weißen Juden‘ in Reinkultur entgegentritt […] die Wissenschaft.“ Neben dem Radio und den Zeitungen wurde der Film zum wichtigen Propagandamittel der Nationalsozialisten. Ab Mitte März 1938 gab es in den österreichischen Kinos die NS-Kultfilme „Triumpf des Willens“ (Nürnberger Reichsparteitag), „SA-Mann Brand“, „Hitlerjunge Quex“ oder „Der Tag der Freiheit“. Die Wochenschauen dienten der Manipulation der Bevölkerung, wie „Die nationale Erhebung in Österreich“. Das Abspielen einer Wochenschau wurde für jedes Kino obligatorisch. Organisatorisch war das Filmwesen über die Filmkammer in der Reichskulturkammer erfasst und gleichgeschaltet. Filme, die gegen „staatliche, religiöse, sittliche, künstlerische oder nationalsozialistische Empfindungen“ verstießen, wurden verboten. Gefordert waren „völkisch selbständige Kunstwerke“. Freies Kunstschaffen gab es damit nicht mehr, außerdem galt Präventivzensur. Als regionale Unterorganisation der Reichsfilmkammer entstanden die Gaufilmstellen, die als maßgebliche Kontroll- und Lenkungsstelle der Filmpropaganda des jeweiligen
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Gaues fungierten und wiederum in Kreis- und Ortsfilmstellen untergliedert waren. Um den Film selbst in den kinolosen Orten für Parteizwecke nützen zu können, hatten die Gaufilmstellen ein eigenes Wanderkino mit Tonfilmwagen eingerichtet.
Verwendete Literatur Christian Angerer – Maria Ecker, Nationalsozialismus in Oberösterreich. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 6. Innsbruck – Wien – Bozen 2014. Herbert Brettl, Nationalsozialismus im Burgenland. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozia lismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 2. Innsbruck – Wien – Bozen 2012. Felix Butschek, Die Österreichische Wirtschaft 1938 bis 1945. Stuttgart 1978. Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Wien 1985. Gerhard Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940). Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 1. Wien 1988. Gerhard Botz, Wien vom „Anschluß zum Krieg“. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39. Wien 1978. Nadja Danglmaier – Werner Koroschitz, Nationalsozialismus in Kärnten. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 7. Innsbruck – Wien – Bozen 2015. Stefan Eminger, Nationalsozialismus in Niederösterreich. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 9. Innsbruck – Wien – Bozen 2016. Hermann Hagspiel, Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1938 bis 1945. Wien 1995. Heimo Halbrainer – Gerald Lamprecht, Nationalsozialismus in der Steiermark. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 4. Innsbruck – Wien – Bozen 2015. Ernst Hanisch, Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1938–1945. Salzburg 1997. Johannes Hofinger, Nationalsozialismus in Salzburg. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 5. Innsbruck – Wien – Bozen 2014. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung. 3. Aufl., Graz 2003. Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945. Unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Landeshauptstadt Klagenfurt ; Bd. 2. Klagenfurt 1976. Stefan Karner – Karl Duffek (Hg.), Widerstand in Österreich. 1938–1945. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005. Veröff. d. L. Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Sdbd. 7 und des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Graz – Wien 2007. Martin Kirst – Albert Lichtblau, Nationalsozialismus in Wien. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 6. Innsbruck – Wien – Bozen 2017.
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Oliver Kühschelm – Stefan Eminger – Ernst Langthaler (Hg.), Niederösterreich im 20. Jahrhundert. 3 Bde. Wien – Köln – Weimar 2008. Radomír Luža, Der Widerstand in Österreich 1938–1945. Wien 1985. Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945. Überarbeitete und erweiterte Fassung. Wien 2015. Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer. Täter. Gegner. Nationalsozia lismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 3. Innsbruck – Wien – Bozen 2012. Horst Schreiber, Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. Opfer. Täter. Gegner. Tiroler Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 8. Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Bd. 1. Innsbruck – Wien – Bozen 2008. Emmerich Tálos – Ernst Hanisch – Wolfgang Neugebauer u. a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2002. Wilhelm Wadl – Alfred Ogris, Das Jahr 1938 in Kärnten und seine Vorgeschichte. Ereignisse, Dokumente, Bilder. Das Kärntner Landesarchiv, Bd. 15. Klagenfurt 1988. August Walzl, „Als erster Gau…“. Entwicklungen und Strukturen des Nationalsozialismus in Kärnten. Klagenfurt 1992. Erschienen in : Stefan Karner (Hg.), Die umkämpfte Republik. Österreich von 1918–1938. Innsbruck et al. 2017, S. 65–81.
Die Grazer Industrie 1938 (1988)
Es besteht in der historischen Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass der Zweite Weltkrieg auf deutscher Seite militärisch nicht durch das Zusammenbrechen der Produktion und Versorgung im Hinterland verloren wurde. Wesentlichen Anteil an der Aufrechterhaltung der Produktion hatten der oft brutale und bedingungslose Einsatz von Menschen und Material und die bis zuletzt unter Albert Speer straff geführte deutsche Industrie ; vor allem in der Rüstungsindustrie, die noch 1944 – zum Zeitpunkt stärkster Luftangriffe – Höchstproduktionen lieferte. Die Grazer Industrie gehörte, was vielfach unbekannt ist, dazu. Welche Voraussetzungen hatte die Industrie von Graz ? Wie war sie strukturiert ? In welchem Maße wurde sie für die Aufträge der deutschen Rüstung und Kriegswirtschaft herangezogen ? Welche Rolle spielte sie schließlich im Rahmen der Rüstung des Dritten Reiches ? Es wurde versucht, unter drei Aspekten an die Beantwortung dieser Fragen heranzugehen. Da Arbeiten zur Grazer Industrie zu Ende der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts weitgehend fehlen,1 mussten vielfach zunächst Erhebungen zur Struktur gemacht und vorgelegt werden. Fragen zur Industrie- und Unternehmenspolitik des NS-Systems, Fragen zur Verflechtung von Industrie und NSDAP werden hier bewusst ausgespart. Die rein organisationsgeschichtlichen Themen wurden auf ein Mindestmaß beschränkt. So gliedert sich die Arbeit wesentlich in vier Teile :
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Paul W. Roth, Die Industrialisierung von Graz, in : Grazer Industrie hat Tradition. Graz 1981, S. 7–10 ; Paul W. Roth, Betriebsgeschichten, in : Grazer Industrie hat Tradition. Graz 1981, S. 21–59 ; und Paul W. Roth, Grazer Industriedenkmäler. Graz 1978 ; sowie Rudolf Stöckl, Die Industrie von Graz. Masch. Habil.-Schrift 1953 ; Rudolf Stöckl, Die Standorte der Grazer Industrie, in : Mitteilungen der Geogr. Ges., 93/1–6/1951, S. 25– 29, haben partiell vor allem das 19. Jahrhundert bzw. die Zeit nach 1945 beschrieben. Wegen der Definitionsprobleme beim Terminus „Industrie“ bzw. „Industriebetrieb“ und aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit mit anderen Untersuchungen wurden im vorliegenden Aufsatz jene Unternehmen unter „Grazer Industrie“ zusammengefasst, die auch in der Mitgliederkartei der Sektion Industrie der Handelskammer Steiermark bzw. auch im Mitgliederverzeichnis 1952 aufschienen. Die „Reichsgruppe Industrie“ des Deutschen Reiches hatte den Begriff ,,Industrie“ weiter gefasst und vor allem viele Gewerbebetriebe der Lebensmittel-, chemischen und Baubranche zur „Industrie“ subsumiert.
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Die Organisation der gewerblichen Wirtschaft und der Industrie Standorte und Standortverschiebungen Zur Struktur der Grazer Industrie Die Bedeutung der Grazer Industrie für die Kriegswirtschaft und Rüstung im Dritten Reich.
Die Organisation der gewerblichen Wirtschaft und der Industrie Die gewerbliche Wirtschaft der Mittel- und Untersteiermark, und damit auch von Graz, war organisatorisch in der 1850 von Erzherzog Johann gegründeten Handels- und Gewerbekammer in Graz zusammengefasst. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Grazer Handelskammer auch noch die Anstalt in Leoben (für die Obersteiermark) angegliedert worden. Seit 1930 gliederte sich die Handelskammer in drei Sektionen : Industrie, Handel und Gewerbe, womit man alle Bereiche der gewerbsmäßig betriebenen Wirtschaft erfassen konnte. Die Präsidenten der Handelskammer der Zwischenkriegszeit waren anerkannte Persönlichkeiten der steirischen, meist der Grazer Industrie ; wie Karl Gigler (Greinitz AG) oder Viktor Franz.2 Die Industriellen hatten neben der Handelskammer, der sie als Interes sensorganisation der gewerblichen Wirtschaft anzugehören hatten, noch ihre eigenen Standes- und Parteivertretungen, wie die „Eisenhütte Ost“ für die Bergleute, den „Hauptverband der Industrie Österreichs“ oder den „Bund der österreichischen Industriellen“.3 Diese Standesorganisationen der Industriellen versuchten, in der österreichischen Innenpolitik ihren Vorstellungen zum Durchbruch zu verhelfen. Bei den diversen Wahlgängen gaben sie entweder klare Wahlempfehlungen ab oder traten selbst mit einer Partei an. Ge-
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Mitteilungsblatt der Industrie- und Handelskammer Graz, 11//12 v. 1.12.1940, S. 173f.; und : Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung. Graz 1. und 2. Aufl. 1986, hier S. 229. Vgl. vor allem : Theodor Faulhaber, Die Vereinigung Österreichischer Industrieller. Wien 1980, S. 16f. Zu den steirischen Mitgliedern in den Vorgängerverbänden des „Hauptverbandes der Industrie Österreichs“ bzw. des „Industriellenbundes“ (ab 1934) gibt es Ansätze zu quantitativen Analysen bei Otto Hwaletz, Zur sozialen Zusammensetzung des innerösterreichischen Industrie- und Gewerbevereines, in : ZHVSt 78/1987, S. 267–276 ; und : Stefan Karner, Die Abtrennung der Untersteiermark von Österreich 1918/19, in : Helmut Rumpler (Hg.), Kärntens Volksabstimmung 1920. Klagenfurt 1981, vor allem S. 283–290, untersteirische Mitglieder des Reichsverbandes der österreichischen Industrie 1918.
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nerell unterstützten sie bis Anfang der dreißiger Jahre die Heimwehren und den Heimatschutz, später auch die NSDAP.4 In der Steiermark hatten die Wirtschaftsparteien bei den letzten freien Wahlen der Ersten Republik, den Gemeinderatswahlen von 1932, ihren Mandatsanteil auf 28,2 Prozent beträchtlich steigern können und galten als die eigentlichen Wahlsieger.5 In den 1938 nach Graz eingegliederten VorstadtGemeinden hatten sich die Wirtschaftsparteien ebenfalls gut behauptet (Wahlergebnisse in %) : Waltendorf 41,2, St. Peter 58,5, Andritz 38,3, Gösting 22,1, Eggenberg 29,4, Straßgang 28,4, Wetzelsdorf 70,8, Mariatrost – Fölling 25,3 und Kainbach 67,3.6 In Graz selbst war 1932 nicht gewählt worden. Die letzte Gemeinderatswahl in Graz fand im Jahre 1929 statt. Dabei errangen der „Nationale Wirtschaftsblock“ 13,8 Prozent der Stimmen und 16 Mandate und der „Wirtschaftsbund der Stände“ 2,9 Prozent und 1 Mandat. Die NSDAP brachte es vergleichsweise nur auf 1,8 Prozent der Stimmen und ebenfalls 1 Mandat.7 Doch nicht nur bei den Wahlen manifestierte sich die Position der steirischen und Grazer Industriellen : Weniger öffentlich, doch deshalb kaum weniger effizient, wirkte sich ihr Einfluss in den wichtigsten Körperschaften und bei der Vergabe der wichtigsten Positionen in Politik und Wirtschaft aus. Auf ihre Dominanz bei der Besetzung der Präsidentenstelle der Handelskammer wurde schon hingewiesen. Von den steirischen Landeshauptleuten zwischen 1918 und 1938 gehörte zwar keiner einer Industriellenvertretung an, doch standen ihr der Generaldirektor des Styria-Verlages und Landeshauptmann von 1934 bis 1938 Karl Maria Stepan, sein Nachfolger Dr. Rolph Trümmer und Landeshauptmannstellvertreter Dr. Jakob Ahrer sehr nahe. Von den Landesräten waren u. a. die Referenten für die Wirtschaftspolitik Viktor Wutte, Heinrich Wastian oder August Einspinner Mitglieder des „Hauptver-
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Es sei hier etwa auf das Beispiel Alpine verwiesen. Vgl. u. a. Karl Stöcker, Arbeiterschaft zwischen Selbstbestimmung und Unternehmerkontrolle, in : Otto Hwaletz, Bergmann oder Werkssoldat. Eisenerz als Fallbeispiel industrieller Politik. Graz 1984, S. 21f. Zur steirischen Situation in Umrissen : Gerhard Pferschy, Steiermark, in : Erika Weinzierl – Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938. Bd. 2. Graz – Wien – Köln 1983, S. 940f.; sowie : Robert Hinteregger, Die steirische Arbeiterschaft zwischen Monarchie und Faschismus, in : Gerhard Botz u. a. (Hg.), Bewegung und Klasse. Wien 1978, S. 269f. Vgl. generell vor allem Karl Haas, Industrielle Interessenspolitik in Österreich zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, in : Jahrbuch für Zeitgeschichte. Wien 1978. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 28. Tagespost, v. 25.4.1932 ; Tagblatt, v. 25.4.1932. Die in den Zeitungen publizierten Wahlergebnisse müssen hinsichtlich ihrer Genauigkeit mit Vorsicht verwendet werden. Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 1929, S. 75f.; Wahlen in der Landeshauptstadt Graz von 1919–1963. Graz 1964.
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bandes der Industrie Österreichs“ bzw. ab 1934 des „Bundes der österreichischen Industriellen“ oder standen ihm nahe.8 Die Liste ließe sich vor allem bei den Versicherungsanstalten, den diversen kulturpolitischen Vereinigungen, wie dem „Deutschen Schulverein Südmark“, den zahlreichen Aufsichtsratsposten der Gesellschaften und den Landesgesellschaften, wie der Steweag, fortsetzen. Mitunter hatten einzelne Industrielle, wie der GKB-Direktor und steirische Wirtschaftskommissar Viktor Wutte, zeitweilig so viel an Einfluss erreicht, dass sie zur bestimmenden Kraft im Lande geworden waren.9 Der Generaldirektor der Alpine-Montan, des größten Betriebes Österreichs, mit seiner Handelsniederlassung Greinitz in Graz, Anton Apold, hatte sich schon Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre so stark aufseiten der Nationalsozialisten exponiert, dass er von der österreichischen Regierung 1934 abgelöst und durch einen Regierungskommissar ersetzt worden war.10 Eine Annäherung an die nationalsozialistische Bewegung hatten in Graz einige der Besitzer bzw. leitenden Angestellten u. a. der Stahlbaufirma Ludwig Binder, der GKB, der Greinitz AG, der Leykam AG, der Maschinenfabrik Andritz und von Waagner Biró versucht. Die Nationalsozialisten hatten sich in ihren Wirtschaftsprogrammen industriefreundlich bis kapitalistisch gezeigt. Zudem versprach man sich von einem „Anschluss“ an das Deutsche Reich eine entscheidende Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Die offensichtliche Ohnmacht der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg, mit den wirtschaftlichen Problemen Österreichs, vor allem der starken Arbeitslosigkeit und dem beschränkten Außenhandel, fertigzuwerden, wirkte auch in Unternehmerkreisen stark für die NSDAP. Dabei fiel diese Wirkung auf einen guten Nährboden : den Deutschnationalismus und die 1918/19, 1922 und 1932 nur mühsam staatlicherseits unterdrückte, auch wirtschaftliche „Anschluss“-Begeisterung breiter Unternehmer- und Industriellenkreise.11
8 Vgl. Stefan Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 1938 in Graz, in : Graz 1938. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 18/19, Graz 1988 ; und : Die Abgeordneten zum österr. Nationalrat 1918–1975 u. die Mitglieder des österr. Bundesrates 1920–1975. Wien 1975. 9 Vgl. zu Wutte u. a. Stefan Karner, Der Kampf zwischen „weißer“ und schwarzer Kohle, in : BlHk 4/1977, S. 127f.; und Stefan Karner, Die Abtrennung der Untersteiermark, S. 271f. 10 Vgl. dazu Stefan Karner, Die Eingliederung der österreichischen Montanindustrie in die deutsche Kriegsrüstung : Die Alpine Montan 1938–1945, in : Der Anschnitt 1/1981, S. 19. 11 Vgl. auch Karl Haas, Industrielle Interessenspolitik in Österreich zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, in : Jahrbuch für Zeitgeschichte. Wien 1978, S. 97f.
Die Grazer Industrie 1938
329
Wie ein großer Teil der steirischen und Grazer Industriellen, der höheren Manager und Gewerbetreibenden, so war auch ihre große Interessensvertretung, die Handelskammer, seit der Mitte der dreißiger Jahre stark von (seit 1933) illegalen NS-Parteimitgliedern oder NS-Sympathisanten durchsetzt gewesen. Für die offizielle Trauerfeier der Handelskammer für Bundeskanzler Dollfuß am 16. November 1934 hatten sich folgende Kammermitglieder entschuldigen lassen : Dr. Anton Apold (Alpine), Ing. Hermann Bührlen (Vogel & Noot), Michael Gspandl (Grazer Messe), Johann Jost, Dipl.-Ing. Carl Lipp, Karl Prangl, Franz Seidler, Hans Stark (Bad Radkersburg) und Dr. Franz G. Strafella (u. a. ÖBB und Grazer Tramway-Gesellschaft).12 Der österreichische Bundesminister für Handel und Verkehr, Fritz Stockinger, bestellte daher am 14. Dezember 1935 den Leiter der Abteilung 7 (Handel, Gewerbe, Industrie, Eichwesen) der Steiermärkischen Landesregierung, Hofrat Dr. Robert Rattek, zum Regierungskommissar bei der Handelskammer.13 Dieser löste den bis dahin amtierenden Präsidenten der Handelskammer und stellvertretenden Landesobmann des „Industriellenverbandes“, Viktor Franz, ab.14 Am 30. Juni 1937 wurde mit dem neuen, auf berufsständiger Grundlage geschaffenen Kammergesetz die „Landeskammer für Industrie, Gewerbe, Handel und Finanzen“ unter Präsident Ing. August Schmid-Schmidsfelden geschaffen. Doch auch Schmid-Schmidsfelden galt ebenso wie der Kammeramtsdirektorstellvertreter Habelsberger als NS-Sympathisant, sodass dem Nationalsozialismus von Spitzenfunktionären der Handelskammer Steiermark, als der wichtigsten Vertretung der steirischen und Grazer Industrie, selbst in der ständestaatlichen Organisationsform des Jahres 1937 bis zum „Anschluss“ 1938 gewisse Sympathien entgegengebracht worden waren.15 Die neue Kammergesetzgebung des Ständestaates brachte eine wesentliche Neuerung : Erstmals tauchte 1937 die Industrie, die bis dahin die wichtigste Sektion der Handelskammer gewesen war, nun auch in der Namensgebung der Kammer auf. Nach dem „Anschluss“ übernahm sofort Dr. Wilhelm Habelsberger die Direktorenstelle, der Wirtschaftsreferent der NSDAP, Armin Dadieu kommissarisch die Präsidentenstelle der Handelskammer. Die Gleichschaltung 12 Verhandlungsschrift der a.o. Vollversammlung der Handelskammer Graz, v. 16.11.1934 ; Adressbuch der Verwaltungsräte und Direktoren. Compass. Wien 1938. 13 Ordentliche Vollversammlung der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Graz, v. 3.4.1936, S. 2 ; und Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 229. 14 Vgl. Bruno Brandstetter, Die Präsidenten und leitenden Angestellten der Handelskammer Steiermark. Graz 1976, S. 25. 15 Vgl. Stefan Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 1938 in Graz.
330
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
der Handelskammer Graz folgte, sofern sie nicht freiwillig und begeistert vor sich ging, zwangsweise in den folgenden Wochen. Die Organisationsstruktur der Handelskammer blieb noch ein Jahr unverändert. Erst am 1. April 1939 wurde im Zuge der Neuorganisation des gesamten Kammerwesens in der „Ostmark“ die Grazer Handelskammer der Reichswirtschaftskammer in Berlin unterstellt und zudem wesentlich beschnitten : Alle Produktionsgewerbe, die handwerklich betrieben wurden, unabhängig von ihrer Betriebsgröße, ihrem arbeitsteiligen Verfahren usw., wurden – nach dem deutschen Gewerberecht – aus der Handelskammer ausgegliedert und in die neugeschaffene Handwerkskammer eingebracht.16 Beide Kammern unterstanden der ebenfalls neugeschaffenen „Wirtschaftskammer Südmark“, zu der auch noch die Handels- und Handwerkskammern Kärntens gehörten. Damit war das österreichische, regionale und fachliche Organisationsprinzip unterlegen. Die Organisationsstruktur der NS-Wirtschaftskammern unterschied sich wesentlich von den österreichischen Handelskammern. Auf sie näher einzugehen, ist jedoch nicht Aufgabe dieses Aufsatzes zum Jahr 1938. Es soll lediglich noch darauf verwiesen werden, dass 1942 abermals eine tiefgreifende Umorganisation der gewerblichen Wirtschaft durchgeführt wurde und dafür das österreichische Organisationsmuster wesentliches Vorbild war : Nach jahrelangen Änderungsbestrebungen von Kammerfunktionären, vor allem auch aus der Steiermark, wurden die überregionalen Wirtschaftskammern wieder aufgelassen und analog zu den alten österreichischen Ländern wiederum „Gauwirtschaftskammern“ (jetzt mit dem Handwerk) eingerichtet. Die Handwerkskammern wurden aufgelöst. Die erste derartige „GauWirtschaftskammer“ wurde 1942 in Graz feierlich von Reichswirtschaftsminister Funk installiert.17 Damit gehörte jeder Industrie- und Gewerbebetrieb in regionaler Hinsicht zur „Gauwirtschaftskammer“, in fachlicher Hinsicht jedoch zur zuständigen Wirtschaftsgruppe, von denen in der Steiermark allein für die Industriebetriebe 30 eingerichtet wurden. Die „Gauwirtschaftskammer“ hatte vier Abteilungen : Fremdenverkehr, Handel, Handwerk und Industrie.18 16 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 229f. 17 Ebd., S. 232–234. 18 Ebd., S. 233. 1944 gab es in der Steiermark in insgesamt 30 Wirtschaftsgruppen 2.661 Industriebetriebe (gemäß der reichsdeutschen Definition). Von ihnen lagen 519, also knapp 20%, im Kreis Graz. Gliederung der steirischen Industrie nach Wirtschaftsgruppen und Kreisen. Graz Nov. 1944. Mehrfachnennungen waren möglich. Zum Organigramm der „Gauwirtschaftskammer“ Steiermark 1943–1945 vgl. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 232.
Die Grazer Industrie 1938
331
Mit dem „Anschluss“ wurden auch die industriellen Organisationen aufgelöst, der „Industriellenbund“, der ja seit 1934 der Aufsicht des Bundesministeriums für Handel und Verkehr im Rahmen der ständestaatlichen Verfassung unterstand, ging auf die regionale Instanz der „Reichsgruppe Industrie“, später auf die entsprechenden Abteilungen der „Gauwirtschaftskammer“ über. Erst nach mühsamen Verhandlungen gelang es der österreichischen Industrie, eine zentrale Repräsentanz in Form einer „Geschäftsstelle der Reichsgruppe Industrie in Wien“ zu erhalten, die „ein gemeinsames Auftreten in wichtigen allgemeinen industriellen Fragen gegenüber der Reichsgruppe Industrie und den Zentralbehörden ermöglichte“. Diese Geschäftsstelle blieb – neben der kirchlichen Organisation und der Luftwaffe (Luftgau XVII) – eines der bis Kriegsende wenigen noch verbliebenen Bande in der administrativen Teilung Österreichs in die „Alpen- und Donaureichsgaue“.19
Standorte und Standortverschiebungen Die Standorte der Grazer Industriebetriebe waren 1938 im Wesentlichen von sechs Faktoren bestimmt :20 – Aus der historischen Entwicklung des Grazer Wirtschaftsraumes, verdeutlicht vor allem im Bevölkerungswachstum der Stadt als einem wichtigen Nachfrageerreger. Die Bevölkerungszunahme ging vor allem in Richtung Südosten und Südwesten. – Aus den verkehrsgeographischen Veränderungen, die zunächst eine Konzentration entlang der Wasserstraße der Mur und den alten Fernhandelswegen, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (mit dem Bau der Eisenbahn) entlang der Südbahn und der West-Ost-Verbindung nach Köflach bzw. Feldbach brachte. – Aus der natürlichen Verteilung der Energiequellen als Antriebskräfte für die Betriebe : von der Wasserkraft (besonders für die Mühlenindustrie) entlang der Mur bis zur Dampfkraft im 19. Jahrhundert. Die dafür benötigte Kohle und das Heranbringen zwang die Betriebe, möglichst nahe an die Bahnhöfe zu kommen. Mit der Einführung des elektrischen Stromes mittels Überlandleitungen in den Fabriken zu Beginn unseres Jahrhunderts
19 Vgl.: Faulhaber, Die Vereinigung Österreichischer Industrieller, S. 18 ; und Othmar Tuider, Die Luftwaffe in Österreich 1938–1945. Wien 1985. 20 Vgl. zur historischen Entwicklung der Grazer Industrie vor allem Roth und Stöckl, sowie Fritz Popelka, Geschichte der Stadt Graz. 2 Bände. Graz 1928/1935.
332
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
konnte die Standortbindung an die Hauptenergiequellen allmählich nachlassen. – Aus der Schwierigkeit, eine Verlegung bereits lange bestehender Großbetriebe, wie der Maschinenfabrik Andritz, an optimale, der modernen Entwicklung angepasste Standorte vorzunehmen. – Aus einem noch Ende des 19. Jahrhunderts vorhandenen, ausgewogenen Verhältnis von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben, das sich nach dem Ers ten Weltkrieg, spätestens jedoch nach der Weltwirtschaftskrise zugunsten der Klein- bis Mittelbetriebe verschob. – Aus der (bis 1938) scheinbar politischen Unmöglichkeit, das Stadtgebiet in seine natürliche Entwicklungsrichtung, nach Südosten, zu erweitern sowie die angrenzenden Vorortgemeinden, vor allem im Norden und Westen, zu integrieren. Unter diesen Voraussetzungen verteilte sich die Grazer Industrie ein Jahr vor dem „Anschluss“, 1937, hauptsächlich auf die Bezirke entlang der alten Nord-Süd-Verbindungen der Mur, der Wiener- bzw. Triesterstraße sowie der Südbahn-Strecke. Über 53 Prozent der Grazer Industriebetriebe lagen in den dortigen Bezirken Lend und Gries, knapp 15 Prozent im Bezirk Jakomini, der im Süden der Stadt von der Mur und entlang der Bahnlinie nach Feldbach bis in den Osten der Stadt reicht. In diesen Bezirken waren die Eisen- und Metallindustrie sowie die Nahrungs- und Genussmittelindustrie vorherrschend. Relativ bedeutend erscheint auf den ersten Blick noch die innere Stadt. Hier waren 1937 noch 12,2 Prozent der Grazer Industriebetriebe ansässig. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man, dass die überwiegende Mehrzahl von ihnen der graphischen Branche zuzurechnen war, es sich also vor allem um Druckereien mit den angeschlossenen Medienbetrieben handelte. Hier war die Nähe zum Zentrum, zum Mittelpunkt des Geschehens, eine der Hauptvoraussetzungen für den Standort. Industriebetriebe anderer Branchen finden sich im 1. Bezirk, der inneren Stadt, 1937 praktisch nicht mehr ! Im Wesentlichen kann bereits aufgrund dieser wenigen Angaben die Standortverteilung der Grazer Industrie 1937 als den natürlichen Gegebenheiten und der technisch-infrastrukturellen Entwicklung angepasst bezeichnet werden. Die Eingemeindung der Grazer Vororte nach dem „Anschluss“ 1938 integrierte die Industriebetriebe im nördlichen und westlichen Vorstadtbereich und eröffnete im Südosten bedeutende Erweiterungsmöglichkeiten. Demgemäß veränderte sich auch 1938 die Standortstruktur der Grazer Industrie. Auf die neuen Stadtbezirke VII bis XVI entfiel nun rund ein Drittel aller Grazer Industriebetriebe (33,1 Prozent), während die Bedeutung des Stadtkernes
Die Grazer Industrie 1938
333
als Industriegebiet zunehmend zurückging. Alle während der folgenden Jahre neu gegründeten Großbetriebe wurden in den neuen Stadtteilen errichtet. Verwiesen soll hier auf die Luftwaffenfirma Treiber in Puntigam werden. Das größte Grazer Industrieunternehmen, die Puchwerke in Thondorf (mit rund 8.000 Beschäftigten), wurde ab 1939/40 überhaupt bereits an der neuen Stadtgrenze im Süden der Stadt errichtet. Obwohl Veränderungen von Standorten stets nur in längeren Zeiträumen beobachtet werden können, ließ die Kriegswirtschaft und Forcierung der Rüstung während des Zweiten Weltkrieges eine solche – zumindest in Ansätzen – schon für das Jahr 194421 erwarten. Tatsächlich hatte sich die Standortstruktur wiederum stärker zugunsten der neuen Stadtteile verlagert. Sie stellten 1944 bereits knapp 35 Prozent der Grazer Industriebetriebe.22 Dazu kam die größte Betriebsneugründung in Graz – Thondorf, die in dieser Statis tik nicht aufscheint, für Graz jedoch in den folgenden Jahrzehnten besonders wichtig wurde. Der Standortanteil der besonders industrialisierten, „alten“ Grazer Industriebezirke Lend, Gries und Jakomini nahm von 1937 bis 1944 von 68 auf 45,5 Prozent ab. Um vieles deutlicher zeigt sich die zunehmende industrielle Bedeutung der neuen Grazer Randbezirke im Westen und Süden partiell anhand der teilweise noch eruierbaren Beschäftigtenzahlen der Unternehmungen. Insgesamt entsprach die Standort-Verteilung der Grazer Industrie 1938 im Wesentlichen den natürlichen und teilweise politischen Gegebenheiten, die eine frühere Ausbreitung nach Südosten und Westen (innerhalb eines geschlossenen Stadtgebietes) nicht zuließen. Spektakuläre Standortverlegungen kamen in den folgenden Jahren des Zweiten Weltkrieges in Graz nicht vor, sieht man von der bedeutenden Betriebsneugründung von Steyr-DaimlerPuch in Thondorf, im nochmals erweiterten Stadtgebiet, sowie von den oft nur wenige Monate in der Endphase des Krieges dauernden kriegsbedingten Untertage-Verlagerungen wichtiger Rüstungsproduktionen ab. So verlegte Steyr-Daimler-Puch einen Teil seiner Rüstung in die Kellergewölbe der Reininghaus-Brauerei („Gambrinuswerk“) und ein deutsches Planungsbüro in die Gewölbe unter dem Tummelplatz und der Hans-Sachs-Gasse.23 21 Das Jahr 1944 ist als Vergleichsjahr mehrfach interessant. Es erbrachte den höchsten Produktionsausstoß der Industrie, alle industriepolitischen Entscheidungen der NSZeit waren bereits gefallen, sodass keine strukturellen Veränderungen mehr folgten, und es ist das Jahr, aus dem sich (über die Reichsbetriebskartei im Bundesarchiv Koblenz/BRD) die meisten betriebsgeschichtlichen Daten erhalten haben. 22 Gezählt wurden hier allerdings nur die noch nicht stillgelegten 202 Grazer Industriebetriebe. 23 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 248 ; und Vortrag Ing. Karl Klamer im Semi-
334
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Zur Struktur der Grazer Industrie Eine Beschreibung der Grazer Industriestruktur 1938 wurde ansatzweise mithilfe folgender betrieblicher Merkmale versucht : Branchenzugehörigkeit, Betriebsgröße und Alter der Industriebetriebe.24 Die Branchenstruktur zeigt generell die Vorbedingungen der Grazer Industrie für ihre Integration in die deutsche Kriegswirtschaft und Rüstung, zumal der „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland auch eine entscheidende wirtschaftliche Dimension hatte und die auf vollen Touren laufende deutsche „Kriegswirtschaft im Frieden“ dringend der ökonomischen Ressourcen Österreichs bedurft hätte.25 Die Größenstruktur wurde – mangels gleichförmiger Daten – aufgrund der durchschnittlichen Beschäftigtenzahlen der einzelnen Betriebe in den Jahren 1937, 1938, 1944 und 1946 erhoben. Sie zeigt, wie bereits im Kapitel zur Standortfrage kurz angedeutet, einerseits die strukturelle Basis für eine industrielle Verflechtung von Groß- und Kleinbetrieben, stellt andererseits jedoch vor allem einen Indikator für die betrieblichen Kapazitäten der Grazer Industriebetriebe dar. Großbetrieben entsprechen in der Regel höhere Kapazitäten als Kleinbetrieben. Hingegen waren – gerade in der laufenden Rüstungsindustrie – hochspezialisierte Kleinbetriebe (etwa der Metall- oder chemischen Branche) für Spezialfertigungen, Musterfertigungen oder „Maßproduktionen“ prädestiniert und leichter freizubekommen. Die Altersstruktur der Grazer Industrie bietet generell u. a. Hinweise auf die Modernität der Betriebsstätten, auf ihre Handelsverflechtungen und Absatzgebiete sowie auf ihren Mitarbeiterstand. Man wird davon ausgehen können, dass „alte“ Betriebsstrukturen 1938 (d. h. vor oder in der „Gründerzeit“ nar „Alltag im Dritten Reich“, das im Sommersemester 1987 unter meiner Leitung an der Grazer Universität abgehalten wurde. Ein Tonband-Mitschnitt und ein schriftliches Protokoll des Vortrages befinden sich im OHAWISOG, Graz. 24 Die Daten für die Erhebung mussten aus mehreren Beständen entnommen und errechnet werden. Sie seien hier summarisch angeführt, werden in der Folge jedoch nicht mehr einzeln zitiert (eine detaillierte Auswertung habe ich in Arbeit) : Handelskammer Steiermark, Sektion Industrie. Bundesarchiv Koblenz, R 3/2019 (Reichsbetriebskartei 1944). Mikrofilme des National Archivs in Washington, Mf–T–77, R–742, 743. Gliederung der steirischen Industrie nach Wirtschaftsgruppen und Kreisen ; Graz im Nov. 1944 (nur für den Dienstgebrauch, Nr. 079). Verzeichnis der Mitgliedsfirmen der Sektion Industrie nach dem Stande vom 31.1.1952. Graz, im März 1952. Entsprechende Mitteilungen nahezu aller Firmen der Metallbranche, teilweise der Grazer Stadtwerke. Für die großzügige Auskunftsbereitschaft habe ich den Firmenleitern zu danken. Für die Rüstungsbetriebe : Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 549–553. 25 Vgl. vor allem : Norbert Schausberger, Der Griff nach Österreich. Wien 1978, S. 389f. und 451f.
Die Grazer Industrie 1938
335
bis 1872 gegründete Unternehmen) eher veraltete Betriebseinrichtungen, einen erfahrenen, weil älteren Mitarbeiterstand und traditionelle Absatzgebiete (etwa im Donauraum und den Nachfolgestaaten der Monarchie) aufwiesen. Dazu kann die Altersstruktur der Grazer Industrie mit der Altersstruktur der österreichischen und steirischen Rüstungsindustrie verglichen werden, um Abweichungen vom österreichischen bzw. steirischen Durchschnitt festzustellen. Von den 172 im Jahre 1937 einer Branche zugeordneten Grazer Betrieben zählte knapp ein Drittel zur Metallindustrie, knapp ein Fünftel zur Nahrungs- und Genussmittelindustrie und nur 1,2 Prozent zur Industrie der Steine und Erden. Im Bereich der hoffnungsträchtigen Chemie waren nur 5,2 Prozent der Betriebe, hauptsächlich Kleinstfirmen, zu finden. Damit zeigte sich bereits aus dieser ersten Beobachtung, in welcher Sparte Rüstungs- und Wehrmachtsaufträge des Deutschen Reiches zu erwarten waren, in welchen bestehenden Bereichen sich die Rüstung des Dritten Reiches in Graz etablieren würde. Dieser erste Befund verstärkt sich 1938 nach der Eingemeindung weiter, als sich auch durch die 85 neu hinzugekommenen Betriebe (knapp die Hälfte der bisherigen Industriebetriebe) die Branchenstruktur kaum änderte. Die Metallindustrie blieb mit 27,2 Prozent tonangebend, gefolgt von der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (wichtig für die Kriegswirtschaft, weniger für die Rüstungsindustrie) mit 21,7 Prozent. Lediglich die Industrie der Steine und Erden hatte durch die eingemeindeten Betriebe im Südwesten und Wes ten der Stadt eine größere Zunahme auf 5,8 Prozent erfahren. In der auf Hochtouren laufenden deutschen Rüstungs- und Kriegswirtschaft 1944, als in Graz 55 Industriebetriebe zugunsten der Rüstungsproduzenten stillgelegt und die noch verbliebenen Beschäftigten in die „kriegsentscheidende“ Rüstung „umgesetzt“ wurden (so hieß der damalige Fachausdruck für den erzwungenen Arbeitsplatzwechsel), nahm die Bedeutung der Grazer Metallindustrie stark zu. 34,1 Prozent der Industriebetriebe waren dieser Branche zuzuzählen, wogegen der Abstand zu den anderen Branchen weiter zunahm : Nahrungs- und Genussmittelindustrie 22,2 Prozent, Chemische Industrie 9,4 Prozent und Graphische Industrie 8,9 Prozent. Die größten Grazer Industrieunternehmen (nach der Beschäftigtenzahl) gehörten 1944 nahezu alle der Metallbranche an.
336
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Tabelle 1 : Die Branchenzugehörigkeit der größten Grazer Industriebetriebe 1944. Beschäftigte/Branche 1. Steyr-Daimler-Puch AG, Werk Puchstraße
ca. 2000
Metall
2. Simmering-Graz-Pauker AG
1760
Metall
3. Maschinenfabrik Andritz AG
1533
Metall
985
Metall
782
Metall
4. Waagner-Biró AG 5. Treiber & Co GmbH 6. „NS-Gauverlag“ GmbH, ehem. Leykam
rd. 550
Graphik
7. „Steirerdruck“, ehem. Styria GmbH
rd. 500
Graphik
8. Treiber & Co KG
337
Metall
9. Duller & Co
250
Metall
10. Steirische Fahrradwerke „Junior“
210
Metall
11. „Vaemag“ Apparatebau AG
209
Metall
ca. 8400
Metall
Betriebe an der Stadtgrenze : 1. Steyr-Daimler-Puch AG, Werk Thondorf 2. August Sattler, Werk Rudersdorf
253
Textil
Die Größenstruktur der Grazer Industrie wurde anhand ihrer Beschäftigten erhoben. Dazu wurden die Betriebe Beschäftigtenklassen zugewiesen, die eine Bewertung in Kleinst- und Klein- (bis 50 Beschäftigte), Mittel- (bis 500) und Großbetriebe (über 500) zulassen. Wie aus den Graphiken 2–4 deutlich zu ersehen ist, veränderte die NS-Zeit die durchschnittlichen Beschäftigtenzahlen der Grazer Industriebetriebe deutlich : von der noch 1937 dominierenden kleinst- und kleinbetrieblichen bis hin zur 1944 schon vorherrschenden kleinbis mittelbetrieblichen Größenstruktur. Ein paar punktuell zusammengefasste Bemerkungen sollen die Aussagen der Graphiken akzentuieren : – Durch die Eingemeindung und Ausweitung der Produktion stieg die Zahl der Industriebeschäftigten von rund 9.000 im Jahr 1937 auf über 20.000 im Jahr 1944 an. Rund ein Drittel von ihnen waren jedoch bereits Kriegsgefangene und ausländische Zivil- und Zwangsarbeiter. Sie sollten die durch die Einberufungen zur Wehrmacht entstandenen Ausfälle kompensieren. – 80,8 Prozent der Industriebetriebe hatten 1937 weniger als 50 Beschäftigte. Der Anteil der Großbetriebe (über 500 Beschäftigte) betrug nur 0,6 Prozent, der Anteil der Mittelbetriebe (51 bis 499 Beschäftigte) nur 18,6 Prozent. – Damit ergibt sich für die Grazer Industrie im Zeitraum von 1937 bis 1944 eine deutliche strukturelle Verschiebung hin zu einer mittelbetrieblichen bis größer betrieblichen Struktur.
Die Grazer Industrie 1938
337
– Die Gesamtverteilung der Industriebeschäftigten auf die Grazer Industriebetriebe erhärtet diesen Befund weiter : Arbeiteten 1937 noch 34,2 Prozent der insgesamt 9.000 Industriebeschäftigten in Klein- und Kleinstbetrieben, so waren es 1944 nur noch 15,8 Prozent. – Umgekehrt : 1937 arbeiteten nur 16,6 Prozent der Beschäftigten in Großbetrieben, während es 1944 von insgesamt 20.000 Beschäftigten bereits 41,6 Prozent waren. Die Altersstruktur der 261 bis zum Jahre 1944 bestehenden Grazer Betriebe zeigt eine „junge“ Industrie. Immerhin waren 224 Betriebe nach der Weltwirtschaftskrise 1873 und dem Ende der Ersten Gründerzeit gegründet worden : Rund 85 Prozent der Grazer Industrie waren 1938 also jünger als 65 Jahre. 173 davon (ca. 77 Prozent) waren sogar nach 1900 gegründet worden, also jünger als 38 Jahre ! – 1944 hatten 22,4 Prozent der Industriebetriebe keine Beschäftigten mehr und waren stillgelegt. 74,1 Prozent der Betriebe hatten weniger als 50 Beschäftigte, der Anteil der Großbetriebe (über 500 Beschäftigte) war auf 2,8 Prozent angestiegen. Der Anteil der Mittelbetriebe (51 bis 499 Beschäftigte) stieg auf 23,1 Prozent. – Unter Außerachtlassung der 1944 bereits stillgelegten Firmen ergibt sich eine noch deutlichere Strukturverschiebung : Der Anteil der Großbetriebe lag knapp über 3,5 Prozent, der Mittelbetriebe bei knapp 30 Prozent und der Kleinbetriebe bei 66,6 Prozent. Zwar lassen sich auch anhand der Grazer betrieblichen Altersstruktur die Konjunkturphasen der Monarchie und der Ersten Republik deutlich verfolgen (so gab es deutliche Gründungsschübe zwischen 1867 und 1872, vor dem Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren), doch weicht die Altersstruktur der Grazer Industrie wesentlich von der als „alt“ gekennzeichneten steirischen Rüstungsindustriestruktur ab.26 Die Graphik 5 zeigt die Altersverteilung der Grazer Industrie von 1938 nach Dezennien. Die Tabelle 2 setzt die Altersverteilung der Grazer Industrie (in Prozent) in Vergleich mit der Alters26 Da 1944 nahezu alle großen Industriebetriebe der Steiermark und Österreichs bereits zu Rüstungsbetrieben erklärt worden waren, kann deren altersmäßige Verteilung durchaus zum Vergleich für die Grazer Industrie herangezogen werden. Zur Altersstruktur der steir. Rüstungsbetriebe vgl. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 255f. Zur österr. Rüstungsstruktur vgl. Stefan Karner, Österreichs Rüstungsindustrie 1944. Ansätze zu einer Strukturanalyse, in : Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 25. Jg., 3/1980. Karner, Rüstungsindustrie, S. 179–206.
338
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Graphik 1 : Beschäftigten-Größenklassen der Grazer Industrie 1937.
Graphik 2 : Beschäftigten-Größenklassen der Grazer Industrie 1938.
struktur der österreichischen und steirischen Rüstungsindustrie 1944, auf der Folie der konjunkturellen Entwicklung der österreichischen Wirtschaft seit dem 19. Jahrhundert. Die Eigentumsstruktur der Grazer Industrie 1938 wäre eine eigene Untersuchung wert. „Arisierungen“ wurden 1938 zwar durchgeführt (etwa bei Reininghaus), wirkten sich in der Eigentumsstruktur insgesamt jedoch kaum aus.27 27 Vgl. dazu auch Otto Rendi, Zur Geschichte der Juden in Graz und in der Steiermark, in :
Die Grazer Industrie 1938
339
Tabelle 2 : Prozentverteilung der Altersstruktur der Grazer Industrie im Vergleich zur österreichischen und steirischen Rüstungsindustrie 1944. Gründungszeit
Betriebe ingesamt
Österreich
Steiermark
vor 1814
1,5
1,2
9
3,4
1815–1848
6,3
4,9
8
3,1
1849–1856
3,4
4,9
7
2,7
1857–1866
2,9
4,9
9
3,4
1867–1872
6,0
8,5
9
3,4
1873–1880
3,4
3,7
9
3,4
1881–1888
3,5
2,4
12
4,6
1889–1895
6,0
8,5
15
5,8
20
1896–1904
in %
6,3
7,3
39,3
46,3
1905–1913
8,4
3,7
27
10,4
1914–1917
0,8
0,0
5
1,9
1918–1922
7,1
9,8
19
7,2
1923–1928
8,4
6,0
37
14,3
1929–1933
4,6
1,2
16
6,1
Zwischensumme
7,7 37,5
1934–1937
4,1
7,3
11
4,3
1938–1944
21,9
22,0
9
3,4
undatiert Summe
5,4
3,7
39
14,9
100
100
261
100
Die Bedeutung der Grazer Industrie für die Kriegswirtschaft und Rüstung im Dritten Reich Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln ausgeführt, verfügte die Grazer Industrie über gute Grundvoraussetzungen für eine entsprechende Ausweitung, wie sie jede Kriegswirtschaft, also eine Wirtschaft unter extremem Leistungs- und Anforderungsdruck bei strengster Reglementierung und Planung, mit sich bringt :
ZHVSt 1971, S. 157–177 ; sowie Gerhard W. Salzer-Eibenstein, Die Wohn- und Berufsstandorte der Grazer Juden 1938, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 10, Graz 1978, S. 295f.
340
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Graphik 3 : Beschäftigten-Größenklassen der Grazer Industrie 1944.
Branchenvielfalt, bei deutlichem Übergewicht der Metallindustrie, starke Verflechtung von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben, eine relativ junge Industrie mit Großteils modernen Betriebseinrichtungen. Standortnachteile für einige „alte“ Industriebetriebe versuchte man mit der Eingemeindung 1938 und der Erweiterung des Stadtgebietes nach Süden und Südosten auszugleichen. Dazu kam, was bisher noch nicht erwähnt wurde, ein traditionell gut ausgebildeter Arbeiter- und Facharbeiterstand, die Forschungsleistungen von Universitätsinstituten und der Technischen Hochschule, die in enger Kooperation mit der Industrie stand und europaweit einen guten Namen hatte. Verwiesen sei hier auf die Lehrkanzeln des Maschinenbaus, der Wasserwirtschaft und der Physik. Um die räumliche Distanz von Graz zum deutschen Wirtschaftsraum zu verkürzen, wurden neue Bahnverbindungen nach Berlin und München geschaffen und eine direkte Flugverbindung von Graz nach München erwogen und vermutlich kurzfristig auch in Betrieb genommen.28 Die aus politischen Gründen erfolgte Aufwertung der 200.000-Einwohner-Stadt an der Südostgrenze des Dritten Reiches („Stadt der Volkserhebung“) brachte der Grazer Industrie wirtschaftliche Vorteile, die sie auch für die Rüstung des Dritten Reiches lukrativer machte. Die Bedeutung einer Industrie im Kriege wird an ihrer Leistung für die Kriegswirtschaft und im Besonderen für die Rüstung, also die Waffen- und Kriegsgerätefertigung gemessen. Betriebe, die mit Rüstungsaufträgen belegt 28 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 218f.
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worden waren, fielen generell unter die Zuständigkeit der Rüstungsdienststellen des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition, später des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion („Rüstungsministerium“ ; Todt, Speer) ; Betriebe, die hauptsächlich die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen hatten, wurden dem Reichswirtschaftsministerium (Funk) zugeordnet. Dazu zählten vor allem die Betriebe der Nahrungs- und Genussmittelbranche, der Industrie der Steine und Erden, der Graphischen Industrie, aber auch der Grundstoffindustrie usw. Obwohl die Bedeutung dieser Industriebetriebe für eine funktionierende Kriegswirtschaft außer Frage steht, soll in diesem Rahmen doch vor allem auf die von den Rüstungsdienststellen „betreute“ Grazer Rüstungsindustrie eingegangen werden. Der Begriff der Rüstungsindustrie umfasste anfänglich lediglich alle Betriebe mit Fertigung nach Wehrmachtszeichnungen und Wehrmachtsanweisungen (das Oberkommando der Wehrmacht, OKW, fungierte als direkter Auftraggeber). Die Auftragsvergaben, die Finanzierung und Vorfinanzierung dafür notwendiger Investitionen, später die Uk-Stellungen einberufener Beschäftigter oder die Zuweisung von Arbeitskräften, Strom, Rohstoffen und Vorfabrikaten regelte und kanalisierte die Wehrwirtschaftsstelle Graz des OKW, ab November 1939 das Rüstungskommando Graz des OKW, ab 1943 des Rüstungsministeriums.29 Sofort nach dem „Anschluss“ sicherte sich das OKW die wichtigsten Grazer Industriebetriebe für seine Aufträge. Von den drei Wehrmachtsteilen, Heer, Luftwaffe und Marine, ging das Heer am effektivsten und schnellsten vor. Durch rascheste Zuteilung von Aufträgen waren in den Grazer Betrieben schon derart große Kapazitäten gebunden worden, dass die Luftwaffe und noch weniger die Marine überhaupt keine entsprechenden freien Kapazitäten mehr vorfanden. Als Erstes wurden vor allem die wichtigsten Metall- und Fahrzeugbaukapazitäten der Maschinenfabrik Andritz, der Weitzer Waggonfabrik, von Steyr-Daimler-Puch und anderer, kleinerer Firmen in die deutsche Rüstung integriert. Danach folgten die wichtigsten Betriebe der Leder- und Textilbranche, wie Rieckh, Bieber oder Sattler. Kriegsaufträge auf Uniformstoffe, Zeltplanen und Wehrmachtsschuhe sowie Leder aller Sorten stellten in dieser Phase einen Gutteil der Wehrmachtslieferungen und versorgten die großteils unterbeschäftigten Grazer Betriebe dieser beiden Branchen mit Arbeit.30
29 Ebd., S. 236f. 30 Ebd., S. 262.
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Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Graphik 4 : Altersstruktur der Grazer Industrie 1938.
Generell ist in diesem Zusammenhang die beschäftigungspolitische Wirkung der Wehrmachtsaufträge und Rüstungsproduktion festzuhalten. Zusammen mit einem Bündel anderer Maßnahmen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit (Einziehungen zur Wehrmacht, zum RAD, öffentliche Baumaßnahmen, Abzug von Tausenden Facharbeitern ins „Altreich“ etc.) bewirkten die Rüstungsaufträge die Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Graz bis Herbst 1938, also binnen eines halben Jahres. Insgesamt produzierten bis 1944 59 Betriebe der Grazer Industrie für Aufträge der Deutschen Wehrmacht. Ihre Branchenzugehörigkeit zeigt die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft und Rüstung auch im geographisch kleinen Bereich von Graz.31
31 Zusammenstellung nach den verschiedenen Angaben, wie Anm. 24, insbesondere nach dem Kriegstagebuch des Rüstungskommandos Graz, Mf–T–77, R–742, 743.
Die Grazer Industrie 1938
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Tabelle 3 : Die Grazer Wehrmachts-Produzenten nach ihrer Branchenzugehörigkeit bis 1944. Branche :
Anzahl der Firmen :
absolut in %.
Steine/Erden
0
0
E-Werk, Gas- u. Wasserwerke
0
0
Metall
35
59,3
Holz
3
5,1
Leder
5
8,5
Textil
10
16,9
Gebrauchsartikel
2
3,4
Papier
0
0
Graphik
1
1,7
Chemie
3
5,1
Nahrung/Genuss
0
0
Summe
59
100
Zu Beginn des Krieges waren von den insgesamt 23 in der Steiermark zu „Rüstungsbetrieben“ erklärten Firmen 10 in Graz. Es waren dies :32 Maschinenfabrik Andritz AG (Kranbau) ; Ludwig Binder (Metallbau) ; August Sattlers Söhne (Textil) ; Jakob Rathleitner (Textil) ; Steyr-Daimler-Puch (Fahrzeugbau, Motoren, Metallverarbeitung) ; Treiber & Co KG (Metallbau) ; Grazer Waggonfabrik (Fahrzeugbau) ; Pengg-Walenta (Ketten) ; Robert Bieber (Leder) ; Franz Rieckh (Leder). In einzelnen Etappen, die teilweise die Kriegslage und die Bedürfnisse der Wehrmacht widerspiegelten, teilweise den immer größeren Bedarf des Krieges und der Rüstung zeigten, wurden in den folgenden Jahren noch weitere Grazer Industriefirmen zu Rüstungsbetrieben erklärt, also vollkommen in die „Betreuung“ eines Wehrmachtsteiles übernommen. Es waren dies bis Jahresende 1940 :33 Otto Haase (Seilerwaren), Noricumwerke Cless (Metall), Fahrradwerke Weiß „Junior“ (Fahrräder), Alfred Wall (Graphik), WaagnerBiró (Metall), Witiz (Lehren), Albin Kassar (Maschinenbau), Ludwig Höfler (Elektro- und Maschinenbau) und Josef Treiber (Metallbau). In den nächsten Jahren folgten noch der Heizanlagenbau Raimund Culk (1941), die Maschinenschlosserei Franz Erbida (1941), die Schlosserei Alois Jaindl 32 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 239f. 33 Ebd., S. 240f.
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Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
(1941), die Registrierkassenfabrik Alois Knotz (1941), die Metallgießerei Rudolf Mörth (1942), die mechanische Werkstätte Anton Paar (1941), der Steirer-Elektrobau, Kuczera & Co (1944), der Steirerfunk (1941), die Metallbau Treiber & Co GmbH (1943) und der Elektro-Maschinen- und Apparatebau „Vaemag“ (1941).34 Von den größeren Betriebs-Neugründungen im Rahmen der deutschen Rüstung während des Zweiten Weltkrieges betrafen zwei direkt Graz : 1942 wurde die Metallwarenerzeugung Hinkel & Co mit 20 Beschäftigten zur Produktion von Druckguss- und Spanschlössern gegründet, im Jahr darauf der dritte Treiber-Betrieb, die Treiber & Go GmbH in Graz-Puntigam, die 1944 mit 782 Beschäftigten Flugzeugteile aus hochwertigem Metall (Ringsammler, Auspuffanlagen) erzeugte.35 Dazu kam der Bau des Werkes Thondorf der SteyrDaimler-Puch AG, direkt an der Stadtgrenze ab 1940/41 in Fertigteilbauweise, der dem Ausbau der deutschen Luftrüstung dienen sollte.36 Insgesamt beschäftigten 1944 – zum Zeitpunkt der höchsten Rüstungsproduktion – die 39 Grazer Rüstungsfirmen (inklusive der 7 Handwerks-Landeslieferungsgenossenschaften) rund 20.000 Menschen. Damit hatte im Schnitt ein Grazer Rüstungsbetrieb 465 Beschäftigte (inklusive Steyr-Daimler-Puch, Werk Thondorf).37 In Österreich lagen nur fünf Prozent aller Rüstungsbetriebe des Deutschen Reiches ;38 in der Steiermark – mit den zwei Rüstungszentren der Mur-MürzFurche und dem Raum Graz – nur etwa elf Prozent aller Rüstungsbetriebe Österreichs.39 Trotzdem erlangten ein paar Grazer Firmen mit ihren Produktionen einige Bedeutung auch für die Gesamt-Rüstung des Dritten Reiches : So waren nur die Firmen Treiber & Co. KG und GmbH neben zwei anderen Firmen des Deutschen Reiches in der Lage, jenen Spezialstahl zu bearbeiten, der für die Flugzeuge der Deutschen Luftwaffe und deren Auspuffanlagen (wegen der großen Hitzeentwicklung) unbedingt notwendig war. Die Waggonfabrik, 1938 noch (bis auf die Schmiede) stillgelegt, wurde ein wichtiges Unternehmen für den Bau von Container- und Lastenwaggons (später für Granaten), die Maschinenfabrik Andritz wurde – im Zuge der zunehmenden alliierten Luft überlegenheit – ein wichtiges Werk zur Erzeugung von Kränen aller Art, die besonders in den Werftanlagen (Marine-Aufträge) und in den großen Fabriken 34 Die Liste wurde nach den Angaben der Reichsbetriebskartei in BA-Koblenz, R 3/2019 erstellt. Ein Auszug davon auch in Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 249. 35 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 257. 36 Vgl. auch Stefan Karner, Bemühungen zur Ausweitung der Luftrüstung im Dritten Reich 1940/41, in : Zeitgeschichte 9–10/1979, S. 318–345. 37 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 264. 38 Karner, Rüstungsindustrie, S. 205. 39 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 263.
Die Grazer Industrie 1938
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zum Einsatz kamen. Dazu kamen die Fertigungen von Steyr-Daimler-Puch in der Puchstraße und in Thondorf, die vor allem Getriebe, Flugzeugmotoren und Kettenfahrzeuge (wie den „Raupenschlepper-Ost“) produzierte. Der Standort Graz und Graz-Thondorf von Steyr-Daimler-Puch war 1944 nach dem Firmenhauptsitz in Steyr und nach dem Werk Wiener Neudorf der „Flugmotorenwerke Ostmark“ das drittgrößte Rüstungswerk in Österreich.40
Tabelle 4 : Waffen- und Kriegsgeräteproduktion der Grazer Industrie 1944. Produktionen :
Firmen :
Panzer-Material und Teile für U-Bootskörper
Binder, Waagner-Biró
Pionier-, Brücken- u. Sprenggerät
Binder, Waagner-Biró
Geschütze, Minenwerfer, inkl. Teile
MFA, Cless
Munition über 2 cm, Artilleriegeschoße ab MFA, SGP 7,5 cm, Torpedos Flak, inkl. Einzelteile und Zubehör
Kasser
Wehrmachts-Fahrzeuge mit motor. Antrieb
Steyr-Daimler-Puch
Panzer- u. Sturmgeschütze, Teile dazu
Binder, Steyr-Daimler-Puch
Flugmotorenbau
Steyr-Daimler-Puch
Luftfahrtausrüstung
Jaindl, MFA, J. Treiber, Steirer-Elektrobau, Treiber GmbH, Treiber KG
Scheinwerfergeräte und Zubehör
Binder, Vaemag
E-Fernsteuerung und Kommandogerät
Veamag
E-Zündeinrichtungen mit Zubehör
Veamag
E-Nachrichtengeräte mit Zubehör
Steirerfunk, Veamag
Handfeuerwaffen, Waffen bis 2 cm, Teile dazu
Steyr-Daimler-Puch
Ladestreifen, MG-Gurte
MFA
Doch Graz brachte aufgrund der schon geschilderten strukturellen Vorteile auch ideale Voraussetzungen für eine spezialisierte Zulieferindustrie, welche die großen Stahlerzeuger und Waffenproduzenten in der Obersteiermark ergänzte. Denn mit Fortdauer des Krieges hatte gerade die Zulieferindustrie (also besonders die Klein- bis Mittelbetriebe) zusehends an Bedeutung ge40 Karner, Rüstungsindustrie, S. 203f.
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Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
wonnen : Vom Hemmschuh der Rüstung, der sie noch zu Jahresbeginn 1942 gewesen war, hatte sie sich zum unentbehrlichen Motor des Rüstungsausstoßes in der Endphase des Krieges entwickelt, weil in ihren Betrieben noch jene Materialreserven lagen, die eine Fortsetzung der Produktion überhaupt erst ermöglichten. Die Liste der Waffen- und Kriegsgerätefertigungen 1944 der Grazer Industrie beinhaltet daher bereits eine Reihe kleinerer und mittlerer Firmen.41 Dazu kamen die zahlreichen allgemeinen Produktionen der Grazer Rüs tungsindustrie, die vom einfachen Rohrleitungsbau (etwa Waagner-Biró) über die Kartonage- und Beutelerzeugung (etwa bei Wall) bis zum Vorrichtungsbau (bei Knotz) reichten.42 Zuletzt sollen noch die großteils nicht unbedeutenden Gewinne erwähnt werden, die Industriebetriebe aus der Rüstungsproduktion ziehen konnten. Sieht man von ausgesprochen widrigen Entwicklungen nach Kriegsende ab, wie sie etwa den Firmen Treiber oder Steyr-Daimler-Puch widerfuhren, so konnten einige Grazer Industriebetriebe, trotz des Luftkrieges und der nachfolgenden Demontagen durch die Rote Armee, nach 1945 das Ergebnis der Rüstungsfertigung für das Dritte Reich auf ihre Habenseite verbuchen, vor allem :43 – wegen der relativ hohen Gewinnspannen der Rüstungsaufträge – wegen der Erweiterung ihrer Kapazitäten für die Abwicklung der Auf träge – wegen der modernisierten maschinellen Einrichtung, Energieversorgung und infrastrukturellen Bereinigungen (etwa Verkehrserschließung) – wegen der effizienten Betriebsorganisation. Zusammenfassend kann generell Folgendes festgehalten werden : – Die Grazer Industrie hatte 1938 rein betriebswirtschaftlich die ihr gebotene Chance genützt und an den Auftragsvergaben des Dritten Reiches entsprechend mitpartizipiert. – Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit konnte zu einem Teil durch die stark angekurbelte Produktion, teilweise und zunehmend stärker werdend die Rüstungsproduktion, erreicht werden.
41 Nach BA, R 3/2019 (RBK) und Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 266. 42 Vgl. dazu eine Auswahl, zusammengestellt nach der Reichsbetriebskartei, Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 556–560. 43 Vgl. dazu vor allem Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft 1938–1945. Wien 1978, S. 110f.; und Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, S. 259 und 268.
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– Die Integration der Grazer Rüstung in den deutschen Wirtschaftsraum und seine Bedürfnisse veränderte ihre Strukturen vor allem hin zu einer mittleren Größe, aber auch hinsichtlich neuer Standorte. – Die Grazer Industrie wurde in einigen Bereichen ein wichtiger Finalproduzent der deutschen Rüstung, in den meisten Fällen jedoch Zulieferant für die obersteirischen, in Deutschland oder in Wien gelegenen Industrien. – Einzelnen Spezialbetrieben, wie den Treiber-Werken, gelang es, in bestimmten Produktionssparten Hauptproduzent im Deutschen Reich zu werden. Erschienen in : Stefan Karner, Die Grazer Industrie 1938, in : Graz 1938. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 18/19. Graz 1988, S. 229–248.
Die Steuerung der V2: zum Anteil der Firma Siemens an der Entwicklung der ersten selbstgesteuerten Großrakete (1979)
Welche Entwicklung die deutsche Raketenforschung von 1932 bis 1945 eingeleitet hat, zeichnet sich erst heute, 40 Jahre später, ab.1 Die spektakulären Raumfahrtexperimente der Gegenwart einschließlich der gesamten Satellitentechnik, aber auch die ungeheure, auf Vernichtung ausgerichtete militärtechnische Weiterentwicklung wären nicht denkbar ohne die Pionierleistungen der deutschen Wissenschaftler um Wernher von Braun2 und ohne die am Raketenprogramm in der Steuerungsproblematik mitarbeitenden Firmen. Die seit einem halben Jahrtausend bekannte militärische Rakete musste im 19. Jahrhundert der hochentwickelten Rohrartillerie wegen ihrer hoffnungslos unterlegenen Treffsicherheit weichen,3 solange ihre Anfangsgeschwin1
2
3
Als Quellengrundlage für die Abfassung des vorliegenden Aufsatzes dienten dem Verfasser, neben den einschlägigen Akten des Militärarchivs in Freiburg/Breisgau (= BA/ MA), vor allem private Aufzeichnungen sowie in seinem Besitz befindliche Originaldokumente Dipl.-Ing. Dr. Karl Wilfried Fiebers, Klagenfurt. Darüber hinaus trugen Gespräche mit Dr. Fieber wesentlich zum besseren Verständnis der für einen technischen Laien äußerst komplizierten Materie bei. Ohne seine instruktiven Erklärungen, die in mir auch ein großes Interesse für die rein technische Seite des Problems weckten, wäre dieser Aufsatz nicht möglich gewesen. Dafür möchte ich Dr. Fieber an erster Stelle aufrichtig danken. – Herrn Professor Dr. Friedrich Hausmann, Universität Graz, danke ich für die Anregung zur Bearbeitung des Themas sowie für wertvolle Hinweise. – Meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Othmar Pickl, danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und für anschließende Gespräche. Wernher von Braun (1912–1977). In Wirtsitz als Sohn eines hohen preußischen Staatsbeamten geboren. Ab 1932 Mitarbeiter des HWA in Kummersdorf, später Leiter der dortigen Versuchsstelle „West“. Ab 1936 führend am Aufbau der HVA Peenemünde beteiligt, deren technische Leitung er bis zu Kriegsende innehatte. Nach Kriegsende Arbeiten in der US-Raketenrüstung und an amerikanischen Raumfahrtprogrammen. Ab 1960 Direktor des Marshall Space Flight Center der NASA. „Vater“ der Saturn 5-Trägerrakete, die 1969 die ersten Menschen auf den Mond brachte. – BA/MA – RH 8/v 1211. Heinz Mielke, Dtv-Lexikon der Raumfahrt und Raketentechnik. München 1972, S. 58. Zur Weiterverwendung der Steuerungstechnik vgl. B. Stückler, Über das Problem der Lenkung von Flugabwehr-Flugkörpern, in : Luftfahrttechnik. Bd. 5. Düsseldorf 1959, S. 38–45. Zu den Anfängen der Raketenentwicklung in Österreich vgl. Fritz Sykora, Pioniere der Raketentechnik aus Österreich, in : Blätter für Technikgeschichte, 24/1960, S. 189–204. Zur Anfangsentwicklung der Raketen in England : A. R. Weyl, Lenkflugkörper-Ent-
350
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
digkeit vo bei Brennschluss4 in Größe und Richtung unbeherrschbar blieb. Diesen Mangel im Wesentlichen zu beheben, gelang dem deutschen Heereswaffenamt (HWA) und Siemens-Technikern zwischen 1930 und 1939. Durch die Entwicklung des Aggregates 5 wurden schon 1939 zwei bis dahin unlösbare Hauptprobleme der Raketentechnik überwunden : 1. Der Flüssigkeitsantrieb Methanol-Aethanol-Wasser-Gemisch/Flüssig sauerstoff5 mit dem kontrollierbaren Brennschluss (Peenemünde) 2. Eine vollkommen automatisch arbeitende Selbststeuerung des Flugkörpers (Siemens) Bei entsprechender Vorzugseinstufung des Projektes wäre damit ein Einsatz dieser völlig neuen Waffe in ein bis zwei Jahren, also spätestens 1941/42 möglich gewesen. Tatsächlich musste jedoch das Programm in untergeordneten Dringlichkeitsstufen bis 1941 um seine Daseinsberechtigung und die Zuweisung der notwendigsten Entwicklungs- und Erprobungseinrichtungen und -geräte, wie der Kurskreisel, ankämpfen. Im Zuge der Darstellungen über Hitlers Geheimwaffen wurde die Entwicklung des Flüssigkeitsantriebes der späteren V 2 (= A 4) mehrfach abgehandelt.6 Über die Lösung des steuerungstechnischen Problemkreises
4
5 6
wicklung in Großbritannien, in : Luftfahrttechnik. Bd. 5. Düsseldorf 1959, S. 49–54. Zu den Experimentierversuchen der Artillerie vgl. auch Geza Dell’ Adami, Die pneumatische Dynamit-Kanone, in : Organ der militärwissenschaftlichen Vereine. Band 36. Wien 1888, S. 225–258. Herrn Dr. C. H. Colshorn, Werksarchivar der Peine-Salzgitter AG, danke ich in diesem Zusammenhang für wertvolle Hinweise. Der Brennschluss ist jener Zeitpunkt, zu dem der Antrieb einer Rakete zu arbeiten aufhört und der antriebslose, ballistische Flug beginnt. Im einfachsten Fall ist der Brennschluss durch den völligen Verbrauch der Treibstoffe gegeben. Bei exakt einzuhaltendem Schubprogramm, wie es für die Zielgenauigkeit von militärischen Fernraketen Voraussetzung ist, wird der Brennschluss durch ein Steuerkommando ausgelöst, das die Triebwerke zu dem Zeitpunkt abstellt, in dem die geforderten Anfangsparameter für die Freiflugbahn erreicht sind. Vgl. Raumfahrtlexikon, S. 59. Vgl. dazu vor allem : Karl-Heinz Ludwig, Raketentreibstoffe im 2. Weltkrieg, in : Technikgeschichte. Bd. 42, Nr. 1/1975, S. 44–71. Die als V 3 konzipierte „Hochdruckpumpe“ (auch : „Fleißiges Lieschen“) konnte, weil sie technisch noch unausgereift war und wegen der fortschreitenden Invasion, nicht mehr zum Fernbeschuss Englands eingesetzt werden. Karl-Heinz Ludwig, Die „Hochdruckpumpe“, ein Beispiel technischer Fehleinschätzung im 2. Weltkrieg, in : Technikgeschichte. Bd. 38, Nr. 2/1971, S. 142–157. Zur Literatur über Hitlers Geheimwaffen vgl. vor allem : David Irving, Die Geheimwaffen des Dritten Reiches. Reinbek b. Hamburg 1968. Walter Dornberger, V 2 – Der Schuß ins Weltall. Geschichte einer großen Erfindung. Eßlingen 1952 ; G. J. I. Kokhuis, Van V1 tot ruimtevaart. De geschiedenis van de VI en V 2. Amsterdam, o. J.; Basil Collier, The battle of the V-weapons. London 1964 ; Rudolf Lusar, Die deutschen Waffen und Geheimwaffen des 2. Weltkrieges und ihre Weiterentwicklung. München 1956. James McGovern, Spezialisten und Spione. Ame-
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herrschen jedoch noch weitestgehend Unklarheit oder falsche Vorstellungen vor.7 Diese Lücke in einer der wichtigsten Voraussetzungen zum Funktionieren der gesteuerten Flüssigkeitsraketen, nämlich ihrer Selbststeuerung, zu verringern, sei Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes. Im Jahre 1930 hatte das HWA eine Sonderabteilung unter Reichswehrhauptmann Ing. Dr. Walter Dornberger eingerichtet mit der Aufgabe, zu klären, ob man Raketenwaffen in größerem Umfang entwickeln sollte. 1932 stieß der 20-jährige Wernher von Braun zur Gruppe um Dornberger und erhielt auf dem Schießplatz Kummersdorf (28 km südlich von Berlin) ein Experimentiergelände, um mit Raketentriebwerken zu arbeiten. Das erste Ergebnis der Arbeiten von Brauns, das Aggregat 1, lag zwar schon 1933 vor, flog aber nicht.8 Es fehlte vor allem an der Stabilität, was man beim Folgeprojekt, dem A 2, durch die Verlegung der Stabilisierungskreisel in die Projektilmitte erreichen wollte. Doch auch das A 2 war, wie Wernher von Braun erklärte, nur eine Zwischenlösung auf dem Weg zur endgültigen V 2. Die wichtige Stabilisierungsfrage wollte von Braun nun mit den Forschungsergebnissen der Kreiselgeräte GmbH in Berlin-Brietz und ihres Direktors, Josef Maria Boykow (1878–1935), lösen. Boykow, ein ehemaliger österreichischer Marineoffizier und eher intuitiv arbeitender Forscher, hatte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren mit Kreiselfragen beschäftigt und mehrere Patente erworben. Boykow schlug vor, zunächst die Rakete durch eine Rudersteuerung zu stabilisieren. Erfahrungen, die er mit seinen Autopiloten gesammelt hatte, kamen ihm dabei zugute. In den Antriebsstrahl wurden Steuerruder aus Molybdän gesetzt, die durch Rudermaschinen betätigt wurden. Um eine größere Zielgenauigkeit zu erreichen, schlug Boykow schließlich vor, drei integrierte Beschleunigungsmesser aufzuschalten,
7
8
rika erobert Hitlers Wunderwaffen. Gütersloh 1967 ; Ernst Klee – Otto Merk, Damals in Peenemünde. Oldenburg – Hamburg 1963 ; und : Karl Heinz Kens – Heinz J. Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945. Deutschlands Luftfahrt-Entwicklungen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. München 1964, S. 541–575. Gespräch mit Dr. Fieber vom 26.4.1978. Vgl. dazu auch Dornberger, V 2 ; und Klee – Merk, Damals in Peenemünde, in den auf die Steuerung bezugnehmenden Passagen. Eine gute Zusammenfassung bietet : J. F. Wiren, Geschichtliches zur Entwicklung der Flugregelungen, in : Luftfahrttechnik, 4/3/1958, S. 46–68. BA/MA-RH 8/v 1211– Werdegang, Arbeiten der Vorkriegszeit und Leistungen im Kriege des Professors Dr. v. Braun. Hitler, dem man den Flugversuch vorgeführt hatte, zeigte sich von dem Projekt wenig beeindruckt. Dies war sicherlich mit ein Grund, warum sich Hitler erst 1942, nach der Flächenbombardierung Lübecks, wieder für das Projekt erwärmen konnte. Irving, Geheimwaffen, S. 14f. Das A 1 war 1,40 m lang, 150 kg schwer und hatte einen Durchmesser von 30 cm. Dornberger, V 2, S. 40 ; McGovern, Spezialisten, S. 26 ; Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 548.
352
Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
also den zurückgelegten Schwerpunktweg durch Doppelintegration der Beschleunigungen in den drei Hauptachsen zu ermitteln.9 Doch der Entwurf der Steuerung nach Boykows ursprünglicher Vorstellung war kaum ausführbar. Für Dr. Johannes G. Gievers, dem langjährigen Mitarbeiter Boykows in der Firma N. V. Aerogeodetic, Amsterdam, Zweigniederlassung Berlin-Zehlendorf und seit 1935 Nachfolger in der technischen Leitung der Kreiselgeräte GmbH, zerfiel die Entwicklungsaufgabe grundsätzlich in zwei Teile : Den Autopiloten und eine mit Beschleunigungsmessern ausgerüstete Kreiselplattform.10 Die ersten vier Schießversuche mit dem Aggregat 3 und dem Boykow/ Gievers- Steuergerät auf der Greifswalder Oie, einer kleinen Insel nördlich von Usedom, im Dezember 1937 gelangen jedoch nicht. Die Raketen konnten den vorgesehenen Kurs nicht beibehalten und fielen schon nach wenigen hundert Metern Steighöhe in die Ostsee.11 9 BA/MA - RH 8/v 1211. John G. Gievers, Erinnerungen an Kreiselgeräte, in : Jahrbuch der DGLR, 1971, S. 280f. Die Empfindlichkeitsachse des ersten Beschleunigungsmessers lag in der Schussrichtung. Die Empfindlichkeitsachsen der beiden anderen nahmen dazu einen Winkel von 90 Grad ein und hatten die Beschleunigungen in den beiden senkrecht zur Schussrichtung liegenden Achsen zu messen. Jede der gemessenen Beschleunigungen wurde „integriert“ und so Geschwindigkeit und Weg ermittelt. Der in Schussrichtung messende Beschleunigungsmesser schaltete bei einer bestimmten Geschwindigkeit und nach Zurücklegung eines bestimmten Weges den Antrieb ab. BA/MA – RH 8/v 1947 ; RH 8/v 1944. Denkschrift der Kreiselgeräte GmbH : Weiterentwicklung der stabilisierten Plattform v. Oktober 1937. Zur Kreiseltechnik in Deutschland vgl. Kurt Magnus, Zur Geschichte der Anwendung von Kreiseln in Deutschland, in : Razvitie mechaniki gidroskopičeskich i inerzial’nich sistem. Moskau 1973, S. 285– 306. 10 BA/MA – RH 8/v 1947. Mitteilung Fiebers vom 13.5.1978. Bei der Steuerung der stabilisierten Plattform erfolgte die Überwachung jeder Komponente durch zwei übereinander angeordnete Wagen. Der Ausschlag des einen federgefesselten Wagens war proportional der seitlichen Beschleunigung ; der des zweiten proportional der Geschwindigkeit. Eine schwingungsfreie Überwachung der Steuerung durch die Wagen war jedoch nur möglich, wenn sie stark gedämpft wurden. Daher waren die Wagen mit einer Öldämpfung ausgestattet. Neben den dadurch bedingten Fehlern beim Geschwindigkeitswagen ließ sich die Ölwanne auch nicht geschlossen ausführen, sodass beim schrägen Start das Öl auslief, d. h. die Wagen in diesem Fall nicht verwendet werden konnten. Anfang Oktober 1937 wurde daher die stabilisierte Plattform zu einem Stückpreis von 8.000,- RM von der Kreiselgeräte GmbH umkonstruiert. Der Beschleunigungs- und Geschwindigkeitswagen wurde durch ein Horizontpendel ersetzt, das mit einem Variometer ausgerüstet war, um den Pendelausschlag elektrisch weiterzugeben. BA/MA – RH 8/v 1944 ; auch : Gievers, Erinnerungen, S. 281. 11 Gievers, Erinnerungen, S. 281 ; und Dornberger, V 2, S. 52–64. Die Leitung der Schussversuche hatte Major Dipl.-Ing. Zanssen. BA/MA – RH 8/v 1948. Nach Boykows Tod, 1935, hatte Dr. Gievers, als der verantwortliche Leiter der Entwicklung in der Kreiselgeräte GmbH, für das A 3 eine vereinfachte Spezial-Dreikreiselplattform gebaut. Auf
Die Steuerung der V2
353
Die Ursachen für das Misslingen der vier Versuche12 wurden – nach Vortragsnotizen Dornbergers – von den Peenemünder Wissenschaftlern in folgenden Unzulänglichkeiten gesucht :13 1. Zur Erzielung eines einwandfreien-pfeilstabilen Fluges nach Brennschluss war der Angriffspunkt der Luftwiderstandskräfte ziemlich weit nach hinten gelegt worden. 2. Die Richtkraft der Steuermaschine war aufgrund der Versuchsergebnisse auf den Prüfständen berechnet und dementsprechend die Steuermaschine gebaut worden.14 3. Beim Start auf der Greifswalder Oie erhielt das Aggregat 3 durch starke Bodenwinde ein höheres Drehmoment um den Schwerpunkt, als die Steuermaschine aufnehmen und ausgleichen konnte. Dadurch wurde das A 3 gegen den Wind geneigt ; die Flugbahn war die einer normalen Flügelmine. Dr. John G. Gievers macht heute allerdings das Sonderproblem eines Autopiloten dafür verantwortlich. Die Kreiselgeräte GmbH hatte jedoch für eine eigene Entwicklung weder die geeigneten Bauelemente noch genügend Erfahrung aufzuweisen. Dieses Sonderproblem – Autopilot – wurde dann von Dr. Fieber gelöst.15 Das Hauptgewicht der Weiterentwicklung wurde daher nach diesem Fehlschlag auf den Freiflug, auf die Ermittlung der elektrischen Aufladung des Aggregats beim Brennen und auf die Erhöhung der Leistung der Steuermaschine auf das 3–4-Fache gelegt.
12
13 14
15
der Plattform saßen jedoch keine Beschleunigungsmesser, wie noch von Boykow konzipiert worden war. Brief von Dr. John G. Gievers an den Verfasser vom 14.7.1978. Dabei wurden 4 teure Sg 33-Kreisel-Plattformen (Stückpreis 20.000,– bis 25.000,– RM) „verheizt“. Bei keinem der Versuche konnte aus den geborgenen Trümmern sicher auf die Ursachen des Versagens geschlossen werden. Nach den ersten zwei Schüssen wurde das Misslingen beim Fallschirm gesucht, daher erfolgten noch zwei weitere Schulversuche ohne Fallschirm. BA/MA – RH 8/v 1949 ; und Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge, S. 549. BA/MA – RH 8/v 1948. Dornberger, V 2, S. 64, und Klee – Merk, Damals in Peenemünde, S. 23f. Dr. Fieber sieht allerdings die Problematik weniger in der kraft- als in der steuer- und regeltechnischen Komponente, womit sie grundgedanklich auf einem ganz anderen wissenschaftlichen Gebiet lagen. Auch die Siemens/LGW-Steuerung des A 5 war kraftmäßig sicherlich nicht stärker als die der Kreiselgeräte GmbH. Gespräch mit Dr. Fieber vom 26.4.1978 in Klagenfurt. BA/MA – RH 8/v 1948. Schreiben v. Dr. John G. Gievers, Rochester, Michigan, an den Verfasser vom 14.7.1978.
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Nach den gescheiterten Flugversuchen standen dem HWA zur Lösung des Raketen- Steuerungsproblems drei deutsche Industriegruppen für eine Zusammenarbeit offen :16 1. Die klassischen hydraulischen Steuerungsfirmen aus der Schwermaschinenregelung (hydraulische Turbinenregelung und elektrische Motorregelung, z. B. Schiffsstabilisierungen)17 2. Die regeltechnisch erfahrene Firma Askania in Berlin18 mit ihren pneumatischen Steuerungen auch auf dem Luftfahrtgebiet 3. Die Luftfahrtabteilung von Siemens-SAM Die ersten zwei Gruppen schieden aus, weil sie auf den notwendigen Leichtbau nicht eingestellt waren und die elektrischen Regelungen damals viel zu große Zeitkonstanten besaßen. Die pneumatische Regelung bei Askania (G. Wünsch) litt außerdem an dem grundsätzlichen Mangel des elastischen Kraftmediums Luft und konnte sich daher auch später in der Luftfahrt kaum durchsetzen. So wandte sich das HWA an Siemens mit dem Auftrag, eine Raketenselbststeuerung zu entwickeln. Maßgebend für die Einschaltung von Siemens war auch die Absicht des HWA, eine ernstzunehmende Konkurrenz-Entwicklung zur Kreiselgeräte-GmbH ins Leben zu rufen. Zum Großteil unabhängig von den Vorschlägen Boykows sollten damit neue Wege zur Erfüllung der gestellten Anforderungen an die Steuerung gefunden werden.19 Anfang der dreißiger Jahre hatte sich im Hause Siemens eine Arbeitsgruppe mit Problemen der Fernsteuerung von Schiffen beschäftigt. Diese Gruppe erhielt unter Dr. Eduard Fischel den Auftrag, auch Flugzeuge der damaligen Größe und Geschwindigkeit (vor allem Junkers) fernsteuerbar oder zumindest „selbststabilisiert“ zu machen. Diese Aufgabenstellung führte zunächst auf der Grundlage der von Siemens aufgekauften Boykow-Patente und Arbeiten von Fischel selbst zu einer Siemens-Flugzeug-Drei-Ruder-Selbststeu16 Karl W. Fieber, Zur Geschichte der deutschen Raketensteuerung. Maschinschriftlicher Bericht. Klagenfurt 1965, S. 8. 17 Zu dieser Firmengruppe zählte auch die österreichische Firma J. M. Voith in St. Pölten. 18 Askania baute später die 3-Achsen-Kreiselsteuerung, die von einem Kurskreisel-Kompass überwacht wurde, für die Fieseier 103 (= V 1) und die hydraulischen Verstellglieder für die V 2. Irving, Geheimwaffen, S. 25 ; und Collier, V-weapons, S. 17, 156 und 180. BA/MA–RH 8/v 1959. 19 BA/MA – RH 8/v 1949. Besprechung bei Siemens v. 9.11.1937. Vgl. Dornberger, V 2, S. 65. Dornberger irrt hier, wenn er feststellt, Siemens hätte schon eine „stärkere Steuermaschine“ als die Kreiselgeräte GmbH in Entwicklung gehabt. Gespräch mit Dr. Fieber v. 26.4.1978. Vgl. dazu auch : Karl W. Fieber, Kenngrößen, Justierung und Eich- und Vermessungsgrundlagen für Rückführungssteuerungen. SAM-Berlin 1939 (Entwicklungsbericht 77 LG 1 – E 22).
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erung.20 1934 hatte man im Siemens-SAM-Luftfahrtlabor21 erkannt, dass ein um die Hochachse (Kursachse) gut stabiliertes Flugzeug des damaligen Geschwindigkeitsbereiches (120–280 km/h) bei konstantem Propellerschub auch um die beiden anderen Flugzeugachsen ausreichend stabil flog. Das damals vorherrschende militärische Interesse forcierte daher die Weiterentwicklung einer reinen Kurssteuerung.22 Die letzte Kurssteuerungstype, K 12,23 ging noch 1939 in Großserie ; mit ihr und den vorhergehenden Typen flogen die meisten kursstabilisierten Flugzeuge Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges.24 Diese Siemens-Steuerung bestand im Wesentlichen aus drehstromangetriebenen Ein-Kreiselrichtgebern für Lage- und Drehgeschwindigkeit mit verschiedenen, anfangs mechanischen und teilweise auch hydraulischen, später aber durchwegs elektrischen Abgriffen, Impuls-Mischverstärkern (Magnetverstärkern) und elektrohydraulischen Stellgliedern.25 Im Herbst 1934 war der junge österreichische Techniker Karl Wilfried Fieber in das SAM-Luftfahrtlabor eingetreten und hatte, basierend auf der hauseigenen Flugzeugsteuerung,26 begonnen, sich mit Kreisel- und Regelpro20 Sigfrid v. Weiher – Herbert Goetzeler, Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847–1972. Ein Beitrag zur Geschichte der Elektroindustrie. 8. Beiheft der „Tradition“. München 1972, S. 108 ; und A. Thauß – B. v. Kaull, Selbsttätige Steuerung von Flugzeugen. Die Siemens-Automatische-Kurssteueranlage, in : Siemens-Zeitschrift 14/1934, S. 369–372. 21 SAM = Siemens Apparate- und Maschinenbau GmbH in Berlin-Marienfelde. 22 Zuerst waren es die Typen K4, K6, K8. K6 und K 8 wurden nur als Versuchsmuster gebaut ; die K 4 erzeugte man in Serie. BA/MA RH 8/v 1268. Siemens-LGW-Steuer- und Navigationsgeräte. Beschreibungen. 23 Patent-Nr. 749542/kl62b/Gro2, 9.11.1939. Siemens-Aufstellung von Siemens-Fieber- Patenten, 1967. Siemens-LGW-Kurssteuerung K 12. Allgemeine Beschreibung. Fieber – Aktensammlung zur V 2. Vgl. dazu auch : Winfried Oppelt, A Historical Review of Autopilot Development, Research, and Theory in Germany, in : Journal of Dynamic Systems, Measurements, and Control. September 1976, S. 215–223. 24 Fieber, Raketensteuerung, S. 7 ; und Weiher – Goetzeler, Siemens, S. 108. Die ersten unbemannten Starts und Landungen wurden erstmals 1940 auf einer Ju 52 vorgeführt. BA/MA – RH 8/v 1946. Vgl. Das Regel- und Verstärkerprinzip der Siemens-LGW-Kurssteuerung. Nach einem Vortrag von Dr. K. W. Fieber. LGW-Hakenfelde (o. J.). 25 Karl W. Fieber, Das Regel- und Verstärkerprinzip der Siemens-LGW-Kurssteuerung. LGW-Hakenfelde GmbH, Berlin-Spandau ; A 50003/1–24, zit. in : Fieber, Raketensteuerung, S. 7 ; und BA/MA – RH 8/v 1268. Siemens-LGW-Kurssteuerung. 26 Weiher – Goetzeler, Siemens, S. 108. Außerdem hatte Siemens einige der Boykow-Patente aufgekauft. Die zukünftige Steuerungsgeräte-Entwicklung für die V 2 wurde bei Siemens von innen allerdings nicht mehr beeinflusst, weil sich der Leiter des Luftfahrtlabors, Prof. Dr. E. Fischel, dem Drängen der Werksleitung (Karl Otto Altvater), die nicht oder nur sehr schwer realisierbaren Boykow-Patente zu verwerten, erfolgreich widersetzen konnte. Brief Dr. Fiebers an Dr. Gievers vom 5.4.1978. Vgl. dazu Anm. 28.
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blemen zu beschäftigen.27 Nachdem Siemens vom HWA zur Entwicklung der Steuerungen des A 4-Programms vorgesehen worden war, wurde Fieber, als Leiter des Labors für Sondersteuerungen und Regelungen, am 9. November 1937 zu einer geheimen Konferenz geladen, an der von Siemens-SAM auch Werksdirektor Kapitän zur See a. D. Altvater, Entwicklungschef Dr. Fischel und Dipl.-Ing. Klein sowie vom HWA Generalmajor Ing. Dr. Dornberger, Dr. v. Braun und die Ingenieure Riedel und Hüter teilnahmen.28 Die Besprechung stellte die erste offizielle Fühlungnahme zwischen dem Heereswaffenamt-Prüfwesen 13 und der Siemens-SAM dar, die das Ziel verfolgte, mit SAM eine Entwicklung auf dem Gebiet der Steuerung von Rauchspurgeräten aufzunehmen. Das Besprechungsprotokoll führt über diese für die zukünftige Raketenentwicklung bedeutende Sitzung aus : „Dr. von Braun berichtete sodann über die bisher auf dem Steuerungsgebiet geleisteten Vorarbeiten. In einer auf das Jahr 1933 zurückgehenden Zusammenarbeit mit dem inzwischen verstorbenen Kapitän a.D. Boykow und der Fa. Kreiselgeräte GmbH ist es gelungen, eine Steuermaschine zu bauen, die den Boykow’schen Forderungen entsprechend eine Schwerpunktbahn auszusteuern vermag. Eine derartige Steuerungsmaschine ist bereits in den jetzt dicht vor dem Startversuch stehenden Rauchspuraggregaten der Type A 3 eingebaut.“ Weiters wurde bei der Sitzung angeregt, durch einen Dreier-Vertrag zwischen dem HWA, der Kreiselgeräte GmbH und Siemens die patentrechtliche Lage der Boykow-Entwicklungen zu klären. Zu einem Vertragsabschluss kam es allerdings nicht mehr. Konkret wurde den Siemens-Technikern folgende Aufgabe gestellt :29 Um ein Fernziel ballistisch genau zu treffen, sollte die Rakete nach zunächst noch freigestellter Startart (Senkrecht- oder Schrägstart) in einem Fluggeschwindigkeitsbereich zwischen Null und 4,5-fach Schall zu einem Punkt im Raum in ca. 30 km Höhe (Brennschlusszeit) geführt und an diesem in eine
27 Dipl.-Ing. Dr. Karl Wilfried Fieber wurde 1906 in Velden/Wörthersee (Kärnten) geboren, promovierte 1934, nach Studien in Graz und Wien, an der TH Wien mit der Dissertation „Indikatoren schnelllaufender Brennkraftmaschinen“. Da er in Österreich keine Arbeit finden konnte, bewarb sich Fieber beim Siemens-Konzern ; wurde 1934–1935 Entwicklungsingenieur im Steuerlabor, von 1936–1942 Leiter verschiedener Laboratorien für automatische Steuerungen und Kreiselgeräte für Luft- und Wasserfahrzeuge, 1942–1944 zentraler Leiter des Werkslabors des neu geschaffenen Siemens-LGW-Hakenfelde in Berlin-Spandau und ab 1944 technischer Referent der Direktion des LGW ; ab 1946 selbstständig. 28 BA/MA – RH 8/v 1949. Besprechung bei Fa. Siemens, Berlin-Siemensstadt vom 9.11.1937 ; und Brief Dr. John G. Gievers an den Verfasser vom 10.11.1978. 29 Fieber, Raketentechnik, S. 1, 9–11.
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azimutal frei vorwählbare und gegen den Horizont unter 45 Grad geneigte Sollflugbahn gebracht werden. Zu diesem Zeitpunkt müssten sämtliche aufgetretenen Störungen oder willkürlich eingebrachten Korrekturen statisch und dynamisch ausgeregelt sein.30 Für Start, Bahnsteuerung und Ausregeln aller Steuer- und Störvorgänge stand nur etwa eine Minute, später sogar nur 45 Sekunden, gesteuerten Fluges zur Verfügung. Die Erfüllung dieser Forderung überstieg die bisherige Erfahrungsbasis im Flugzeug-Selbststeuern in mehrfacher Hinsicht um viele Größenordnungen und erschien den SAM-Technikern bei der völligen Unkenntnis der Steuerbarkeit solcher Flugkörper und der Unmöglichkeit einer Flugjustierung einfach utopisch. Auch die Schallgeschwindigkeit galt noch als unerreichbar.31 Daraus stellten sich, so Fieber, zunächst folgende generellen Probleme :32 1. Der steuertechnisch zu beherrschende Fluggeschwindigkeitsbereich erstreckte sich – im Vergleich zu den selbstgesteuerten Flugzeugen – auf 1 : ∞ 2. Die notwendigen Steuervorgänge mussten sich, wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit (max. eine Minute), außerordentlich schnell abspielen und trotzdem ein hohes dynamisches Dämpfungsmaß besitzen. 3. Über Flugeigenschaften, Stabilitätsverhältnisse und Eigendämpfung des Flugkörpers war so gut wie nichts bekannt. Sie würden sich auch bei einem derartigen Geschwindigkeits- und Luftdichte-Änderungsbereich weder näher vorausberechnen noch regeltechnisch verwerten lassen. Ebenso unbekannt war der dynamische Auftrieb des Flugkörpers im Schrägflug, über den man den für die Sollflugbahn erforderlichen Anstellwinkel hätte errechnen können. 4. Die Trägheitsmomente der Rakete um die beiden Querachsen waren für den Start bei vollen Tanks theoretisch errechenbar. Das Trägheitsmoment um die Längsachse war wegen der freien Flüssigkeitsbewegung nicht mehr ohne Weiteres errechenbar und sicher wegen der Schlankheit des Flugkörpers um Größenordnungen kleiner als die beiden anderen. Alle Trägheitsmomente änderten sich aber durch den Brennstoffverbrauch 30 Entsprechend dieser Forderung bezeichnete man die lotrechte Azimutebene, in der sich die Rakete vom Start bis zum Ziel bewegen sollte, als „Bahn- oder Zielebene“ und jene, zur Ersteren senkrechte Ebene, die von der Rakete bei Brennschluss verlassen werden sollte, als „Dachebene“. 31 Die für den damaligen Stand der Wissenschaft utopisch anmutende Aufgabe trug auch wesentlich dazu bei, dass das Projekt, sieht man von den sogenannten „Oslo-Briefen“ ab, die von einem hohen deutschen Beamten aus dem Widerstand stammten, bis 1942 vor dem Zugriff der alliierten Geheimdienste bewahrt werden konnte. McGovern, Spezialisten, S. 15. 32 Fieber, Raketentechnik, S. 9–11.
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ständig. Die zu erwartenden Regelfrequenzen waren daher weder absolut vorauszuberechnen noch auch nur annähernd konstant zu halten und um die Längsachse im Überlagerungsverfahren um ein Vielfaches höher. 5. Weiter bestand keinerlei Möglichkeit einer Flugjustierung, also einer Variation der Regelgrößen im Flug, wie sie für die Siemens-Techniker in der Flugzeugselbststeuerung selbstverständlich war. 6. Schließlich fehlte es an Entwicklungszeit, Entwicklungskapazität und Führungswillen. Das Steuergerät sollte binnen eineinhalb Jahren fliegen. Nach langem Ringen auf höchster Siemens-Konzernebene wurden zwei Diplomingenieure, ein Fachschulingenieur und zwei Mechaniker sowie der Bau einiger Steueranlagen für dieses Projekt genehmigt. Die Entwicklung des Fieber-Kreiselgerätes „Vertikant“ wurde von Siemens vorerst überhaupt abgelehnt und dann von Braun nach der Siemens-Patentanmeldung einer Fremdfirma übertragen, die jedoch nicht damit zurechtkam. Das Siemens-Technikerteam musste sich also alles in allem mit mehr oder weniger tauglichen Ersatzmitteln behelfen. Sofort nach dem Fehlschlagen der Flugversuche auf der Greifswalder Oie setzte ein äußerst intensiver Meinungsaustausch zwischen dem HWA und den Firmen Siemens-SAM und Kreiselgeräte GmbH ein. Die führenden Fach-Techniker beider Firmen wurden zu getrennten Besprechungen und Arbeitssitzungen eingeladen, um gemeinsam mit den Peenemünder Raketenbauern die Steuerungs- und Kreiselgeräteprobleme für das nächste Programm-Projekt, das Aggregat 5, zu lösen. Dabei kristallisierte sich immer klarer heraus, dass die stabilisierte Plattform der Kreiselgeräte GmbH, Sg. 52, wegen ihrer relativen Trägheit und der enorm hohen Produktionskosten von 27.500,- RM je Stück keine brauchbare Lösung des Problems darstellte.33 Daher wurde Ende Januar 1938 Siemens-SAM der definitive Auftrag zum Bau einer „betriebssicheren Steuerung für das Aggregat 5“34 übergeben. Die ersten Standversuche im Frühjahr 1938 mit der Siemens-Rudermaschine K 4ü brachten eine erste Orientierung über das Verhalten des gesteuerten Aggregates und die notwendigen Aufschaltgrößen der Impulsgeber für den Flugzustand v=0.35 Nach weiteren Versuchen auf der Greifswalder Oie vom 3.–15. Oktober 1938 (mit ungesteuerten Aggregaten ohne Strahlruder)36 ven-
33 BA/MA – RH 8/v 1949. 34 Ebd. 35 Ebd. und BA/MA – RH 8/v 1268. 36 BA/MA – RH 8/v 1949.
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tilierte Fieber aus steuerungstechnischen Gründen folgende Eingriffe in die Form der künftigen Rakete :37 1. Strahlruder statt Luftruder ; Peenemünde hatte gerade eine Lösung mit Graphitrudern gefunden38 2. Volle Lagestabilisierung der Rakete um ihre Längsachse statt dem von einigen Peenemünder Artillerietechnikern vorgeschlagenen Geschoßdrall. Die Rakete benötigte damit vier, rechtwinklig angeordnete, voneinander völlig unabhängige Einzelruder mit je einer gleichen, selbstständigen Rudermaschine, von denen je zwei gegenüberliegende die Steuerbefehle der entsprechenden Querlagensteuerung bekamen. Alle vier erhielten jedoch gleichsinnig jene Steuerungsbefehle der Drallsteuerung im Überlagerungsverfahren ausgedrückt.39 Dies führte erstmals in der Fahrzeugsteuerungstechnik zu einer „dreiachsigen Vier-Quadranten-Steuerung“, wie sie Fieber ab 1943 seiner vollelektrischen „Dreiachs-Torpedo-Steuerung“40 zugrunde legte.41 3. Senkrechtstart mit nachfolgender Bahnumlenkung statt „Schrägstart“. Aufgrund dieser grundlegenden Überlegungen und Entscheidungen bauten in den Jahren 1938 und 1939, wie noch ausgeführt wird, die Siemens-Techniker um Dr. Fieber die „Vertikantsteuerung“.
37 Fieber, Raketentechnik, S. 9f. 38 Vgl. dazu auch Irving, Geheimwaffen, S. 16 ; Dornberger, V 2, S. 67 ; und Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge, S. 550. Die erste Rakete mit Graphitrudern, statt der bisher verwendeten wesentlich teureren Molybdän-Ruder, war das A 5. Gegen die Lösung mit den radial in den Gasstrahl gestellten Graphitrudern hatte sich – allerdings erfolglos – der Raketenfachmann Prof. Hermann Oberth ausgesprochen. Oberth wollte die Raketen nämlich nicht mit Rudern steuern, sondern damit, dass die Brennkammern gegen den übrigen Apparat geschwenkt werden sollten. Mitteilung von Prof. Dr. H. Oberth an den Verfasser vom 5.3.1979, für die ich auch an dieser Stelle danke. 39 Ohne diese Drallstabilisierung müssten Teile der Steuerung wegen Aufrechterhaltung der Soll-Flugebene raumstabilisiert werden und die körperfesten Rudermaschinen entsprechend ihrer Drallgeschwindigkeit in ihrer Wirkung ständig „Ruderwechsel“ vornehmen. Mitteilung Fiebers vom 13.5.1978. 40 Karl W. Fieber, Bericht über eine elektrische Dreiachs-Torpedo-Steuerung. Kiel 1945 (masch. schriftl.) Hergestellt im Auftrag der britischen Besatzungsmacht. 41 Vgl. dazu Stefan Karner, Marine-Rüstung in Österreich 1938–1945, in : Blätter für Technikgeschichte, 39–40/1980.
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Die dreiachsige Siemens-Vierquadranten-Steuerung mit Vertikantkreiselsystemen Als Hauptrichtgeber (Lage) der Steuerung führte Fieber in der Patentschrift im Gegensatz zur selbstgesteuerten Siemens-Flugzeugsteuerung42 und dem Siemens-Autopiloten43 zwei in ihrem Schwerpunkt kardanisch gelagerte „freie Kreisel“ ein.44 Ein Kreisel stand mit seiner Drallachse senkrecht zur Zielebene, also horizontal, und stabilisierte die Rakete um ihre zwei, in dieser Ebene aufeinander senkrecht stehenden Hauptachsen, also um ihre Längsachse und eine ihrer beiden Querachsen. Weil dieses Kreiselgerät eine zur Erde vertikal stehende Ebene stabilisierte, nannte es Fieber „Vertikant“. Diese Bezeichnung wurde später bei Siemens als pars pro toto für die ganze V 2-Steuerung verwendet.45 Das Gerät musste unter folgenden Bedingungen einwandfrei arbeiten : 1. Bei einem Außendruck bis zu 10 Torr 2. Nach einer Schüttelprobe mit einer Frequenz von 75 Hz und 0,8 Ampli tude über die Dauer von 10 Minuten 3. Bei einer Gerät- und Außentemperatur zwischen –40 und +40 Grad. Der andere Kreisel wurde mit seinem Drall in die Zielebene verlegt und steuerte, mit einem durchdrehbaren Abgriff versehen, die Bahnbewegung der Rakete innerhalb der Zielebene je nach Abgriffstellung in jedem beliebigen Flugwinkel zur Horizontalen.46 Wollte man also das Geschoß vom Senkrechtstart in die Dachebene umlenken, brauchte man nur den Abgriff dieses Kreiselgeräts aus der Senkrechtlage in die der gewünschten „Schräglage“ entgegengesetzte Richtung verdrehen.47 Die Rakete musste dieser Drehung synchron
42 Thauß – Kaull, Siemens-Steuerungen, S. 369–372. 43 Vgl. dazu : A. Thauß – B. v. Kaull, Der „Autopilot“ (Selbsttätige Flugzeugsteuerung), in : Siemens-Zeitschrift, 15/1. Berlin 1935, S. 1–6. Siemens Autopilot war eine elektrisch-hydraulische Anlage zur selbstständigen Steuerung von Flugzeugen. Zur Kurshaltung diente als Richtgeber ursprünglich nur ein Kompass. Die spätere Kurssteuerung leitete den Kursrichtwert von einem kompassüberwachten Kurskreisel ab. BA/MA – RH 8/v 1268. 44 Fieber, Raketensteuerung, S. 19. 45 Ebd. 46 BA/MA – RH 8/2481A. Vertikant LZ 40. Lieferbedingungen. 47 Dies geschah mittels eines kleinen Programmmotors mit fast beliebiger Winkelgenauigkeit. Im Prinzip hätte man die Rakete mit dieser Steuerungs-Einrichtung auch Loopings fliegen lassen können. Gespräche mit Dr. Fieber.
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folgen.48 Auch dieses Gerät musste unter denselben Bedingungen wie der „Vertikant“ arbeiten können.49 Die zwei Kreisel selbst erhielten an den Kardanachsen elektrische Momentgeber, mit denen sie vor dem Start auf die Ausgangslage ausgerichtet und im Flug, wenn erforderlich, korrigiert werden konnten. Weitere damit zusammenhängende Steuerungseinrichtungen bewirkten ferner, dass die V 2 vor dem Start auf der Abschussrampe gar nicht erst in eine genau senkrechte Lage gebracht werden musste, weil die Rakete unmittelbar nach dem Abheben bereits selbsttätig die vorher auf das Lot ausgerichtete Kreiselsteuerlage aufsuchte. Aus Vereinfachungsgründen wurden beide Kreiselgeräte gleich und austauschbar vorgesehen, später sogar durch ein 3-Kreiselgerät ersetzt. Als Kreisel dienten die für die Siemens-Flugzeugsteuerungen entwickelten Drehstromkreisel-Reihen LK mit einer Umlaufgeschwindigkeit von 500 U/Sek.50 Alle Abgriffe waren als Wolfram-Feindrahtpotentiometer mit Fliegenbeinschleifern ausgebildet. Jedes der vier Strahlruder der V 2 wurde von einer hydraulischen Rudermaschine mit Potentiometerabgriff für die Rückführung betätigt und von einem Tauchspul-Steuerventil sehr hoher spezifischer Ruderlaufgeschwindigkeit51 gesteuert.52 Für das Siemens-Fieber-Steuerungsprojekt wurde zu Jahresende 1938 unter der Bezeichnung „Vertikantsteuerung“ von Siemens ein Geheimpatent angemeldet und vom Reichspatentamt erteilt.53 48 Grundsätzlich hätte man das Umlenkproblem auch durch ein zeitlich gesteuertes „Präzidieren der freien Kreiselachse“ lösen können. Wegen des sehr hohen Geräteaufwandes und des Umstandes, dass man damit den Kreisel seines „vornehmsten Erbteiles“ (Fieber) beim Start, seines Lotes, beraubt hätte, wurde diese Methode abgelehnt. 49 BA/MA – RH 8/2481A. Horizont LZ 39. Lieferbedingungen. Der zweite Kreiselrichtgeber für die Flugbahn innerhalb der Zielebene wurde bei Anschütz, wohin man seine Bauausführung verlegt hatte, „Horizont LZ 39“ genannt. Das HAP-Kurzzeichen für den Vertikant war StF-Ve-2, das für den sogenannten „Horizont“ StF-Ho-1. Beide Kreisel liefen unter der Tarnbezeichnung „Viktoria II“. BA/MA – RH 8/v 3105. Tarnbezeichnungsliste für das Gerät A4. Vgl. Anm. 58. 50 BA/MA – RH 8/2481A. Der Kreisel war ein Bauteil des Kreiselgerätes, er wurde einer Firmen-Normreihe entnommen und konnte ganz verschiedener Größe sein, je nach Einsatzzweck. Mitteilung Dr. Fiebers vom 13.5.1978. 51 BA/MA – RH 8/2481A. Dies war ein ganz entscheidender Punkt der Regeltechnik, der von keiner der üblichen bis dahin bekannten Steuerungen erreicht worden war ; z. B. K 4 ca. 3,5–4, K 12 ca. 30–40, Vertikantsteuerung weit über 100. Mitteilung Dr. Fiebers vom 13.5.1978. 52 Fieber, Raketensteuerung, S. 21. Ihre Steuerimpulse erhielt jede Rudermaschine aus einem 4-teiligen Magnetmischverstärker mit je 6 Steuereingängen. Vgl. dazu auch : Irving, Geheimwaffen, S. 152. 53 Sämtliche einschlägigen Arbeiten liefen unter „Geheime Kommandosache“ (GEKADOS) und mussten so geheim gehalten werden, dass die Patentschrift nach Vernich-
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Alle Steuer- und Energieversorgungsgeräte54 wurden, mit Ausnahme der Ruderantriebe, zu einer Gerätegruppe zusammengefasst und unmittelbar hinter der Raketenspitze in einer wasserdichten Tonne untergebracht.55 Im Versuchsstadium konnten so die wertvollen Steuerungsgeräte56 beim Schießen über dem Meer nach gelungener Fallschirmlandung gerettet und wieder verwendet werden. Schwierigkeiten gab es zunächst nur bei der Beschaffung der für die vielen Einzelversuche und Tests erforderlichen Kurskreisel LK u 4 und Kursmotoren, die alle von SAM geliefert wurden. Dies vor allem deshalb, weil das RLM darauf pochte, durch Abgabe eines Teiles der eigenen Produktion bei SAM an die Heeresentwicklung mit den eigenen Programmen nicht in Verzug zu kommen.57 Bei der Entwicklung dieser Steuerung wurden die Siemens-Wissenschaftler von Peenemünde58 tatkräftig unterstützt. In kürzester Zeit wurde in Peenemünde beispielsweise ein eigener Prüfstand, VI, mit kardanisch aufgehängtem Originalflugkörper und mit ausreichenden Stör- und Messmöglichkeiten aufgestellt.59 Damit wurde es möglich, die so dringend erforderliche Kenntnis der Regelkonstanten wenigstens für die Zeit unmittelbar nach dem Start bei annähernd v = 0 unter echten Momentbedingungen zu gewinnen. Schon nach relativ kurzer Zeit konnte Fieber daher an die Planung der Schussversuchssteuerung gehen.
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tung aller Konzeptunterlagen nur in drei Exemplaren existierte, von denen eines das Reichspatentamt, eines das HWA bzw. Peenemünde und eines die Siemens-Patentabteilung erhielten. Der Erfinder der Vertikantsteuerung für die V 2, Karl Fieber, durfte keine Patentabschrift behalten. Der dieser Arbeit im Wesentlichen zugrunde liegende Raketensteuerungsbericht wurde von Dr. Fieber unter Zuhilfenahme von Handnotizen fast ausschließlich aus der Erinnerung niedergeschrieben. Gespräche mit Dr. Fieber. Einankerumformer und eine Öl-Zahnradpumpe mit Bordnetzanschluss. Fieber, Raketensteuerung, S. 21 ; und Irving, Geheimwaffen, S. 152. Allein das Siemens-Vertikantgerät kostete als Labormuster viele Hundert, in der Serie etwa 60–80 Arbeitsstunden. Gespräch mit Dr. Fieber am 26.4.1978. BA/MA – RH 8/v 1946. Briefwechsel zwischen dem RLM und OKH vom 6.5.1939– 16.8.1939. Nach dem britischen Luftangriff auf die HVA Peenemünde vom 17.8.1943 wurde ihr Name in Heimat-Artillerie-Park, HAP, geändert. Im Sommer 1944 war dieser HAP in der Hoffnung, die alliierte Spionage in die Irre führen zu können, in einen zivilen, staatlichen Industriekonzern umgewandelt worden, der den Namen EW trug – Elektromechanische Werke GmbH, Karlshagen, Pommern. Generaldirektor der EW wurde Direktor Paul Storch von Siemens. Im Februar 1945 wurde die A 4-Fertigung schließlich in den sogenannten „Mittelbau“ im Südharz verlagert, wo sie in einem Salzbergbau bei Bleicherode untergebracht wurde. McGovern, Spezialisten, S. 97 ; und Manfred Bornemann, Geheimprojekt Mittelbau. Die Geschichte der deutschen V-Waffen-Werke. München 1971, S. 53, 93, 126f. Mitteilung Dr. Fiebers vom 13.5.1978 ; Irving, Geheimwaffen, S. 21.
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In dieser Phase trat ein ernstzunehmendes rein bautechnisches Problem auf : Der Bau leichter, freier Kreisel, wie sie als „Vertikanten“ das Herz der Steuerung bilden sollten, stand damals mitten in der Entwicklung. Vor allem waren dazu höchste Werkstättenpräzision und Unempfindlichkeit gegenüber Beschleunigungen bis zur 10-fachen Erdbeschleunigung erforderlich ; kam es doch bei der Schwerpunktlage des Kreisels zu seiner Kardanlagerung auf Genauigkeiten von 10’3 mm an.60 Eine solche Entwicklung ließ sich keinesfalls unter Termindruck und beschränkter Arbeitskapazität bewerkstelligen, und Siemens hatte in dieser Situation die Entwicklung dieses Gerätes zunächst überhaupt abgelehnt. Als die Entwicklung an diesem Punkt zu scheitern drohte, womit auch eine erfolgversprechende Weiterentwicklung der V 2-Steuerung in dieser Form fraglich wurde, ersetzte Fieber die beiden patentmäßig vorgesehenen „Vertikanten“ fürs Erste durch drei im Raum um 90 Grad verdrehte Flugzeugkurskreisel, wie sie bei Siemens für die verschiedensten Flugzeuge schon in Serie gebaut wurden.61 Wider ehrliches Erwarten glückte diese für einen Kreiseltechniker fast absurde Idee : Schon nach einigen Startversuchen in der zweiten Oktoberwoche 1938,62 bei denen fast immer der Steuerungsteil mit 60 Fieber Raketensteuerung, S. 24 ; und : John G. Gievers, Über die Geschichte der Trägheitsnavigation, Michigan am 25.2.1977 (Brief an Mr. J. N. Thiry, o. S.). 61 BA/MA – RH 8/v 1946. In diesem Zusammenhang blieb Fieber ein für die damalige Zusammenarbeit Siemens-Peenemünde typisches Erlebnis in Erinnerung : „Just am Abend vor jenem Tag, an dem die Versuchsstückzahlen und Termine mit Peenemünde auf höchster Siemens-Halske-Direktionsebene festgelegt werden sollten – unter anderem waren auch unsere Vorstände Dr. von Buol und Dr. Friedrich Lüschen erschienen –, war mir jener Ausweggedanke mit den Flugzeugkurskreiseln gekommen. Als nun Braun am nächsten Morgen in mein Labor kam, um mich zu fragen, welche Versuchsstückzahlen er vernünftigerweise fordern dürfte, um nicht ein glattes Nein zu riskieren – er träumte von 20–25 Steuerungen, während unsere Werksleitung aus der Flugzeuggerätefertigung und Kapazitätsbetrachtung heraus höchstens an eine Zahl von 2–3 Versuchsgeräten dachte –, schilderte ich ihm ganz offen die technische, terminliche und kapazitätsmäßige Lage und meinen vagen Ausweggedanken in der Kreiselfrage. Zu meiner höchsten Überraschung erklärte er dann auf der Konferenz, die ganze Angelegenheit sei durch meine Ausweichlösung mit den Kurskreiseln vollkommen entschärft, die Sache wäre klar und durch Versuche erhärtet, und es bestünde daher gar keine Schwierigkeit, seine Stückzahlenforderungen zu erfüllen. Dr. Lüschen gab tatsächlich sein Einverständnis und ich konnte die Sache kaum dementieren, ohne das ganze Projekt zu gefährden. Wir jüngeren Laborführer hätten es niemals gewagt, unserer Konzernleitung gegenüber auch erfolgversprechende Pläne ohne eindeutige Versuchsbestätigung als erhärtete Tatsachen hinzustellen. Als ich aber Dr. v. Braun darüber nachträglich wütend Vorhalte machte, schlug er mir einlenkend auf die Schulter und meinte lächelnd : aber Dr. Fieber, kühn behauptet ist halb bewiesen ! Er hatte recht behalten, es glückte eben.“ Fieber, Raketensteuerung, S. 25f. 62 BA/MA – RH 8/1949.
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einem Bänder-Fallschirm63 gerettet wurde, konnte man das Funktionieren des Steuerungsgerätes feststellen.64 Nach Beendigung der erfolgreichen Entwicklungsarbeit wurden die ersten flugtauglichen Steuerungen in Versuchsträger-Aggregate A 565 eingebaut und Ende Oktober 1939 zu Schussversuchen auf die Greifswalder Oie gebracht. Was an Vorversuchs- und Sicherungsarbeiten vorgenommen werden konnte, so Fieber, war getan.66 Jetzt ging es um die praktische Entscheidung, die Peenemünde ebenso nottat wie Siemens und der Fieber-Gruppe. Alle drei vorgenommenen Schießversuche waren für die Siemens-Fieber-Steuerung ein voller Erfolg. Die Hauptaufgabe der Versuchsstarts, nachzuweisen, dass und wie sich ein freifliegender Raketenkörper in einem nach damaliger Sicht fast unbegrenzten Geschwindigkeitsbereich überhaupt künstlich stabilisieren und auf ein willkürlich wählbares Flugprogramm zwingen lässt, war damit erstmals in der Geschichte der Technik eindeutig und jederzeit reproduzierbar gelöst.67 Bei den drei Flugversuchen wurde – noch ohne Schallgeschwindigkeit68 – eine Höhe von sieben Kilometern erreicht.69 Auch von Braun war mit dem 63 Entwickelt von der Luftfahrt-Forschungsanstalt Graf Zeppelin in Stuttgart. Der Bänderfallschirm bremste die Rakete im Kulminationspunkt von 100 m/sec auf 20 m/sec herab. Das Geschoß sank dann per Tragfallschirm mit 5 m/sec zu Boden. Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 550. 64 BA/MA – RH 8/v 1949 ; Fieber, Raketensteuerung, S. 26 ; und Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 550. 65 Nach dem Misslingen der Flugversuche mit dem A 3 wurde ein reines Versuchsprojektil, das A 5, in das Raketenprogramm eingeschoben. Irving, Geheimwaffen, S. 16. Das A 5 hatte im Wesentlichen die gleichen Maße wie das A 3, nur der Durchmesser wurde um 10 cm auf 77 cm vergrößert. Auch das bereits beim A 3 bewährte Triebwerk wurde, mit zwei leichten Verbesserungen, beibehalten. Dornberger, V 2, S. 65 ; Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 550 ; und BA/MA – RH 8/v 1251. 66 Gespräch mit Dr. Fieber vom 26.4.1978. 67 BA/MA – RH 8/v 1946 ; RH 8/v 1791. Nach Vorstellungen des HAP sollte durch ein nach einem bestimmten Zeitpunkt arbeitendes Räderwerk die Achse des Kreisels, der den senkrechten Aufstieg bewirkte, langsam in Schussrichtung gekippt werden. Auch hier irrt Dornberger bei seiner Schilderung des Umlenkens der Rakete. Dornberger, V 2, S. 71f. Fieber hatte die Kreiselachse um ihrer wertvollen Lotanzeige willen nicht angetastet, sondern der durchdrehbaren Abgriffbasis das Flugbahnprogramm mittels eines Zeitprogrammwerkes aufgezwungen. Fieber, Raketensteuerung, S. 27 ; und Mitteilung Dr. Fiebers vom 13.5.1978. Vgl. dazu vor allem : Uwe Krogmann, Die selbsttätige Ausrichtung einer Trägheitsplattform vor dem Start, in : Luftfahrttechnik-Raumfahrttechnik. Bd. 11, Düsseldorf 1965, S. 185–188. 68 Dies war nur eine Frage der Brennzeit, nicht aber der Steuerung. Trotzdem erreichten die Aggregate fast die Schallgeschwindigkeit. Gespräch mit Dr. Fieber vom 26.4.1978 und Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 550. 69 Bei den späteren Schießversuchen erreichten die Peenemünder Techniker mit dem A 5 eine Reichweite von 18 km und eine Steighöhe von 12 km. Dornberger, V 2, S. 72.
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Erreichten überaus zufrieden und sagte noch auf der Oie glückstrahlend zu Fieber : „Dr. Fieber, das war das erste Mal auf der Welt, dass es glückte, eine Großrakete gesteuert in den Himmel zu schicken“.70 Unmittelbar nach dem Abschluss der Versuche wurde am 10. November 1939 das gesamte Arbeitsgebiet der Steuerungsentwicklung an die Entwicklungsstelle Diepensee der Firma Askania (Leitung : Dipl.-Ing. Möller) übertragen.71 Fieber, der das Herz der Steuerung erfunden und mit seinen Mitarbeitern gebaut hatte, war damit von der weiteren bautechnischen Entwicklung der Steuerung für die V 2 auf kurze Zeit ausgeschlossen worden. Neben der Kreiselgeräte GmbH und Siemens-SAM sollte damit noch eine dritte Entwicklung die beste Steuerung für das A 4 finden.72 Im Wesentlichen hatte dies drei Gründe :73 1. Es war trotz dieses entscheidenden Erfolges im Oktober 1939 Dornberger und von Braun nicht gelungen, für das A4-Projekt höhere Dringlichkeitsstufen zu erwirken. Im Gegenteil : Im November 1939 brachte Hitler das so hoffnungsvolle Projekt fast zum Erliegen ; er halbierte die Stahlzuteilung, weil er durch den schnellen Sieg in Polen glaubte, in diesem Krieg ohnehin keine Raketen mehr zu brauchen.74 Und in der neuen Dringlichkeitsaufstellung vom Frühjahr 1940 hatte Hitler das Raketenprogramm überhaupt gestrichen, obwohl es erst knapp ein halbes Jahr zuvor von Generalfeldmarschall Brauchitsch in die höchste Dringlichkeitsstufe des Heeres gesetzt worden war.75 Daher wäre Siemens bei dem schon allgemein 70 Fieber, Raketensteuerung, S. 29. Dr. Fieber und seinen beiden Laboringenieuren Oskar Würthner und Rudolf Beulke wurde danach das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse verliehen. Von 1939 bis 1942 wurden in Peenemünde mehrere Hundert A 5 abgeschossen und erprobt. Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 550. 71 BA/MA–RH8/vl946. 72 BA/MA–RH 8/v 1955 ; RH 8/v 1950. 73 Fieber, Raketensteuerung, S. 29f.; und Gespräche mit Dr. Fieber. 74 Irving, Geheimwaffen, S. 16f.; Willi A. Boelcke (Hg.), Deutschlands Rüstung im Zweiten Weltkrieg. Hitlers Konferenzen mit Albert Speer 1942–1945. Frankfurt/Main 1969, S. 74. Die Zurücksetzung des V2-Programms durch Hitler beweist nicht zuletzt, dass auch kooperativ erarbeitete, von technischer Seite präferierte und für realisierbar angesehene „Hoffnungs-Projekte“ im Kriege mitunter weit hinter die für den unmittelbaren Frontbedarf notwendigen Produktionen gesetzt wurden ; dass sich also Ingenieure mit ihrem Sachverstand bei den NS-Machthabern nicht durchzusetzen vermochten. Vgl. dazu die Referate der VDI-Tagung vom 1./2. März 1979 in Düsseldorf : „Die historische Funktion technisch-wissenschaftlicher Zusammenarbeit“ ; hier im Besonderen : KarlHeinz Ludwig, Die Widersprüche der technisch-wissenschaftlichen Gemeinschaftsarbeit im Dritten Reich. 75 Dornberger V 2, S. 77. Mit dem Ausscheiden des Oberbefehlshabers des Heeres, von Brauchitsch, hatte Peenemünde überhaupt einen großen Förderer innerhalb der obersten Stellen des Reiches und der Wehrmacht verloren.
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spürbaren Arbeitskräfte- und Materialmangel und der Dringlichkeit der anderen Rüstungsfertigungen gezwungen gewesen, bestenfalls verbotene Schwarz–Entwicklung auf eigene Rechnung zu betreiben. 2. War das 1940 von Siemens – Halske gegründete LGW-Hakenfelde76 in Berlin-Spandau seiner Bestimmung nach ein Luftfahrtgerätewerk und seine Werksleitung (Altvater), auch gegen das technische Interesse seiner Ingenieure, für betriebsfremde Aufgaben höchstens zur Hilfestellung, kaum aber zur Entwicklung um ihrer selbst willen bereit. „Außerdem gab es“, so Fieber, „auch innerhalb unseres Werkes sehr starke Kräfte, die diese Fremdentwicklung und den Erfolg der Labordienststellen etwas missgünstig ansahen.77 Die innerbetrieblichen Schwierigkeiten für Fieber bei Siemens brachten damit auch eine Abkühlung der bis dahin recht kollegialen Beziehungen zu den Peenemünder Raketenbauern. 3. Hatte Peenemünde bei den bisherigen Labor-, Prüfstand- und Schießversuchen in Steuerungsfragen von der Siemens-Gruppe genügend an Methodik, Geräte- und Reglertechnik gelernt, um auch allein, wenn auch wahrscheinlich bei Weitem langsamer, weiterarbeiten zu können. So entstand nach 1939 zwischen den in Peenemünde später mit den V 2-Steuerungsfragen Beschäftigten und den Siemens-Leuten eine gewisse Rivalität, die sich auf das Programm nur entwicklungsverzögernd auswirken konnte.78 Allerdings konnte Askania die Steuerungsfrage der V 2 nicht mehr entscheidend beeinflussen. In einer Aufstellung der mit der V 2-Entwicklung direkt beschäftigten Firmen von Ende 1941 ist der Beitrag von Askania79 nur noch mit der Produktion von Steuerungsteilen ausgewiesen.80 Noch im Juli 1941 hatte Askania Aufträge über 510 Rudermaschinen Wm 4a für das A4-Programm erhalten !81
76 Zum Krainburger LGW-Zweigwerk in Krainburg/Kranj (Jugoslawien) vgl. Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945. Unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie. Mit einem Nachwort von Albert Speer. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Landeshauptstadt Klagenfurt. Bd. 2. Klagenfurt 1976, S. 312f. 77 Fieber, Raketensteuerung, S. 29. In diesem Zusammenhang sei auf die Bemühungen des LGW zur Erforschung der Trägheitsortung hingewiesen. Dr. S. Reisch erhielt dafür in Wien sogar ein eigenes Kreisellabor eingerichtet. Gievers, Trägheitsnavigation, o. S. 78 In diesem Zusammenhang beklagte sich Dr. Fieber : „Wir hatten Peenemünde all unser Wissen und Können rückhaltlos gegeben …“ Gespräche mit Dr. Fieber. 79 BA/MA – RH 8/v 1955. Askania hatte damit auch ihre Unterlieferanten im besetzten Frankreich beschäftigt. 80 Ebd. Vgl. dazu Anm. 18. 81 BA/MA – RH 8/v 1950. Die Rudermaschinen waren mit einem Drehmagneten versehen.
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Siemens selbst wurde erst im Zuge der Vorbereitungen für die Serienproduktion der V 2,82 etwa ab November 1941, wieder in die Entwicklung und Fertigung der Steuerung einbezogen.83 Die Richtgeberkreisel für die Baureihe A der Nullserie des A 4 (150 Aggregate ab September 1942) wurden zunächst noch von der Firma Anschütz & Co. in Kiel hergestellt.84 Der erste erfolgreiche Start der V 2, am 3. Oktober 1942, war also mit einem Anschütz-Steuerungsherz nach Fieber-Patent erfolgt ;85 fast drei Jahre ( !) nach den erfolgreichen Schussversuchen auf der Greifswalder Oie, die beide großen Problemkreise der Raketenentwicklung, Antrieb und Steuerung, im Wesentlichen bereits gelöst hatten. Insgesamt erhielt Siemens bis Ende 1944 Aufträge auf 5.000 komplette LGW-Steueranlagen D 15,86 die man entsprechend der bei Siemens inzwischen weiter fortgeschrittenen Kreiseltechnik ohne Schwierigkeiten erfüllen konnte. Im Laufe der Serienvorbereitungen war es auch gelungen, die Bauausführung soweit zu vereinheitlichen, dass jede wahlweise Kombination zwischen LGW- und Anschütz-Richtgebern möglich wurde.87 Die automatische Kreiselkurssteuerung der V 2 „Vertikant LEV-3“, wie sie in den Großserieneinsatz kam und im Geräteraum unter der Raketenspitze untergebracht wurde, war im Prinzip nach Fiebers Vertikantpatent konzipiert und zum Großteil mit Siemens-Kreiselgeräten versehen.88 Der Geräteraum hatte vier Unterteilungen. Die erste enthielt zwei Bordbatterien, das Funkgerät, den Verdoppler und das Netzteil für das I-Gerät. Raum zwei enthielt den Hauptverteiler sowie die Umformer 1 und 3. Der dritte Raumteil enthielt die beiden Kreiselrichtgeber (Vertikanten oder auch kreiselstabilisierte Plattform), das Zeitschaltwerk und die Kommandogeberbatterie. Im vierten Raumteil wurden das Leitstrahlgerät, die Zusatzbelüftung und die Zu-
82 Irving, Geheimwaffen, S. 23. Der definitive Befehl zur Serienfertigung des A 4 wurde am 22. Dezember 1942 von Hitler unterschrieben. 83 BA/MA – RH 8/v 1949. 84 BA/MA – RH 8/v 1959. Die Baureihe umfasste die Aggregate der Werknummern 016–0165. Zu den Steuerorganen des A 4 vgl. Ludwig Bölkow, Flugkörper, in : Luftfahrttechnik. Bd. 5. Düsseldorf 1959, S. 198–203. 85 Vgl. dazu : Bornemann, Mittelbau, S. 28f. 86 BA/MA – RH 8/v 1950 ; RH 8/v 1974 ; RH 8/v 1949 ; RH 8/v 1984. D = Dreiachssteuerung. 87 BA/MA – RH 8/v 1984 ; RH 8/v 1211. Vorbereitung der Massenherstellung der Peenemünder Geräte vom 23.3.1942. 88 Fieber, Raketensteuerung, S. 31 ; Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 553. Als weiteres Steuerungsgerät diente vor allem die kreiselstabilisierte Plattform Sg 66 der Kreiselgeräte GmbH. BA/MA – RH 8/v 1950 und Mitteilung Dr. Fiebers vom 13.5.1978.
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satzladung untergebracht.89 Die militärische Nutzlast der V 2 betrug 975 kg Pulver. Der Sprengstoff war mit einem Aufschlagzünder versehen.90 Die V 2, von Goebbels als „kriegsentscheidende Vergeltung“91 versprochen, sollte laut Plan bis zur erwarteten Invasion der Alliierten einsatzbereit sein. Sie wurde jedoch erst ab 6. September 1944 gegen London eingesetzt, als sie aufgrund der fortgeschrittenen Invasion von den französischen Abschussbasen nicht mehr auf militärisch konzentrierte, höchst verwundbare Flächenziele abgeschossen werden konnte, sondern nach Holland zurückgenommen werden musste.92 Insgesamt wurden bis Kriegsende von Peenemünde und den Verlagerungsbetrieben93 5.951 V 2-Raketen gebaut, von denen etwa 1.359 gegen England und 1.712 gegen Antwerpen, Brüssel und Lüttich abgeschossen wurden.94 Davon erreichten nur 1.115 (London) und rund 1.300 (belg. Städte) ihr eigentliches Ziel.95 Die V 2 tötete 2.754 britische Zivilisten und verwundete 6.523 schwer.96 Die erhoffte kriegsentscheidende Wirkung blieb also völlig aus. Dabei verschlangen Bau und Betrieb einer einzigen V 2 sechs Tonnen Eisen und Stahl, 1,5 t NE-Metalle, 12,2 t flüssigen Sauerstoff, 7,4 t Äthylalkohol und 0,35 t T-Stoff.97 Allein für das Jahr 1944 bedeutete dies bei dem schon stark spürbaren Rohstoffmangel einen Verbrauch von 24.870 t Eisen und Stahl, 50.569 t flüssigem Sauerstoff sowie 1.450 t T-Stoff !98 Dies entsprach bei Wasserstoffperoxid etwa der Gesamt-Monatsproduktion des Deutschen Reiches zu Jahresende 1944. Allerdings waren die Hauptverbraucher für T-Stoff die Luftwaffe und die Kriegsmarine.99 Weit größere Schwierigkeiten bereitete in
89 BA/MA – RH 8/v 3105 und Bornemann, Mittelbau, S. 96. 90 Kens – Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933–1945, S. 553. Die übrigen technischen Daten der V 2 sind aus der Fachliteratur bekannt. Vgl. Anm. 6. 91 Helmut Heiber (Hg.), Goebbels-Reden, Bd. 2 : 1933–1945. Düsseldorf 1972, S. 228, 335 und 438. 92 Kokhuis, Van V1 tot ruimtevaart, S. 47f. Vor allem in das Gebiet um Den Haag. 93 BA/MA – RH 8/v 1265. Zusammenfassung der Entwicklungsgemeinschaft Mittelbau vom 16.3.1945. 94 Insgesamt wurden 12.000 V 2-Raketen bestellt. Irving, Geheimwaffen, S. 157. 95 Kokhuis, Van V1 tot ruimtevaart, S. 55f.; KTB/OKW, IV., 1944, S. 971. 96 Kokhuis, Van V1 tot ruimtevaart, S. 53–56 ; und McGovern, Spezialisten, S. 267. 97 BA/MA – RH 8/v 1211. Vgl. dazu vor allem Ludwig, Raketentreibstoffe, S. 57f. Beschaffungsschwierigkeiten bereitete Ende 1944 vor allem der Flüssigsauerstoff. T-Stoff war ein hochkonzentriertes Wasserstoffperoxid. Grundsätzlich vgl. dazu auch : Armin Dadieu, Hauptlinien der Entwicklung neuzeitlicher Raketentreibstoffe, in : Luftfahrttechnik, Bd. 5. Düsseldorf, 1959. S. 123–130. 98 Boelcke, Deutschlands Rüstung, S. 24. 99 Ludwig, Raketentreibstoffe, S. 54–63 ; und Karner, Marine-Rüstung in Österreich 1938– 1945.
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den letzten Monaten des Jahres 1944 die Beschaffung des Flüssigsauerstoffes, da der Bedarf des A 4 die gesamte Produktion ausmachte. Die Gesamtproduktionskosten einer einzigen V 2 betrugen etwa 14.0000,– RM, rund ein Viertel der Baukosten eines modernen Jagdflugzeuges. Trotzdem waren sie für eine Massenherstellung zu hoch.100 Reichsminister Speer, der das A4-Programm bis zum Schluss tatkräftig gefördert hatte, erklärte schon vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg : Die Raketen waren für uns produktionstechnisch eine sehr kostspielige Angelegenheit, und ihre Wirkung war im Verhältnis zu dem Aufwand eine minimale […] mit dem Aufwand einer Rakete hätte ich etwa einen Jäger bauen können.101 Es ist klar, dass es viel besser für uns gewesen wäre, wenn wir uns diesen Unsinn nicht geleistet hätten.102
General Dornberger sieht die Situation rückblickend und zusammenfassend anders : Was wäre aber vielleicht eingetreten, wenn schon zwei Jahre früher, ab Sommer 1942, jahrelang, Tag und Nacht, die Fernrakete mit ständig steigender Schussweite, Treffsicherheit,103 Zahl und Wirkung auf England gefallen wäre ?104
100 Ludwig, Raketentreibstoffe, S. 46 und 66 ; Irving, Geheimwaffen, S. 339 ; und Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945, S. 301. 101 Allerdings war der Einsatz beider Waffen, sowohl der Raketen als auch der modernen Jäger, eine Frage der Treibstoffproduktion, die gegen Kriegsende rapid abnahm, sodass modernste Waffen allein aus Treibstoffmangel nicht mehr eingesetzt werden konnten. Zur Treibstoffversorgung vgl. vor allem : Wolfgang Birkenfeld, Der synthetische Treibstoff 1933–1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschafts- und Rüstungspolitik. Studien und Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Bd. 8. Göttingen 1964, S. 172f. 102 IMT XVI, S. 578f. Speer bezeichnet heute überdies die V 2-Entwicklung „als unser aufwendigstes und zugleich unser sinnlosestes“ Projekt. Albert Speer, Erinnerungen. Frankfurt – Berlin – Wien 1969, S. 375. Vgl. dazu auch : Hans Kehrl, Krisenmanager im Dritten Reich. 6 Jahre Frieden – 6 Jahre Krieg. Erinnerungen. Düsseldorf 1973, S. 336f. Kehrl hatte Speer schon 1944 in einem Bericht aufmerksam gemacht : „Mit der Wunderwaffe wird es nichts, ja, es ist meiner Meinung nach nicht einmal zu verantworten, daß [sic !] die Produktion weiter geführt wird“. 103 Tatsächlich konnte die Treffsicherheit bei den vielen Schussversuchen bedeutend erhöht werden. BA/MA – RH 8/v 1974 ; RH 8/v 1984. 104 Dornberger, V 2, S. 292.
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In die gleiche Kerbe schlug auch Dwight D. Eisenhower, der in seinem Buch „Kreuzzug in Europa“ schrieb : Es war anzunehmen, dass unsere Invasion in Europa sich als äußerst schwierig, vielleicht sogar als unmöglich erwiesen hätte, wenn es den Deutschen gelungen wäre, diese neuen Waffen sechs Monate früher fertigzustellen. Ich bin überzeugt, dass das Unternehmen „Overlord“ (= Invasion) hätte ausfallen müssen, wenn es dem Feind gelungen wäre, diese Waffen sechs Monate lang einzusetzen, besonders dann, wenn er den Raum von Portsmouth und Southampton (Aufmarschgebiet der Invasionstruppen) zu einem seiner Hauptziele gemacht hätte.105
Von der Steuerungsseite her wäre dies in jedem Falle erreichbar gewesen. Erschienen in : Stefan Karner, Die Steuerung der V2. Zum Anteil der Firma Siemens an der Entwicklung der ersten selbstgesteuerten Großrakete, in : Technikgeschichte. Bd. 46, 1/1979, S. 45–66.
105 Dwight D. Eisenhower, Kreuzzug in Europa. Amsterdam 1948, S. 309.
Ökonomische Kriegsfolgen : Abrüstung im Betrieb. Die Rüstungskonversion bei SteyrDaimler-Puch, Werk Graz, 1945 (1994)
„Stunde null“, „Ende und Anfang“, „Wiedergründung“, „Westorientierung“, „Entnazifizierung“, „Besatzungs- und Russenzeit“, „Trümmerjahr“ sind nur einige der in der Diskussion oft gebrauchten Bezeichnungen für dieses Schnittjahr der österreichischen Geschichte, 1945. Alle zitierten Umschreibungen sind in bestimmten Konstellationen berechtigt. Sie versuchen, eine historische Wende des Staates und seiner Gesellschaft zu beschreiben. Oder waren doch die Symptome der Kontinuität stärker ? Unter den Folgen des Krieges rangieren Flüchtlinge, versetzte Personen, bombenzerstörte Häuser und Fabriken, gesprengte Brücken, Barrikaden, Schutt und Trümmer, Gefallene und Kriegsgefangene im Bewusstsein der Öffentlichkeit weit voran.1 Ökonomische Folgen, sieht man vom Wiederaufbau ab, sind aus dem öffentlichen Bewusstsein eher ausgeblendet. Und doch war gerade ihre Bewältigung entscheidend für den Fortbestand unseres Staates : Der Aufbau eines österreichischen Außenhandels,2 die ökonomischen Hilfen der UNO, der USA und anderer Staaten,3 die Spenden der Roten Ar-
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Vgl. zu den verschiedenen Aspekten der Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Besatzungszeit in Österreich u. a. Gerald Sturz, Geschichte des Staatsvertrages 1945–1955. Österreichs Weg zur Neutralität. Graz – Wien – Köln 1980 ; Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955. Graz – Wien – Köln 1979 ; Stefan Karner – Rudolf Kropf (Hg.), Reflexionen zu 1945. Eisenstadt 1986. Vgl. dazu u. a. Felix Butschek, Das kleine Reich der Weltanschauung – demonstriert am Strukturproblem, in : Wirtschaft und Gesellschaft. Sonderheft. Wien 1979, S. 137 ; Felix Butschek, Österreichs Wirtschaft – vom Zusammenbruch zum Staatsvertrag, in : Europäische Rundschau 2/80, S. 67–77 ; Felix Butschek, Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Kriegsendes – Österreichs Wirtschaft 1938 bis 1952, in : Stefan Karner – Rudolf Kropf (Hg.), Reflexionen zu 1945. Eisenstadt 1986, bes. S. 161f.; Stefan Karner, Zu den ökonomischen Problemen 1945 in Österreich, in : Ernst Bezemek – Willibald Rosner (Hg.), Niederösterreich 1945 – Südmähren 1945. Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde, Bd. 21. Wien 1996, S. 79–85. Vgl. u. a. Arno Einwitschläger, Amerikanische Wirtschaftspolitik in Österreich 1945– 1949. Graz – Wien 1986 ; Österreichisches ERP-Handbuch. Wien 1950 ; Zur UNRRA : Die Bilanzen. Beiblatt zu „Der österreichische Volkswirt“, 32. Jg., Wien 1946, A 2 ; Karl Renner, Drei Monate Aufbauarbeit der provisorischen Staatsregierung der Republik Österreich. Wien 1945 ; Butschek, Die wirtschaftlichen Konsequenzen, bes. S. 171f.
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mee,4 die Fragen des „deutschen Eigentums“,5 die Ordnung der Währung, der dringendste Wiederaufbau, die Bewirtschaftung der wichtigsten Waren und Rohstoffe6 und schließlich auch in diesem Zusammenhang die Umstellung der österreichischen Industrie von der Kriegs-/Rüstungsproduktion auf Friedensfertigung, die Rüstungskonversion. Schon ein kurzer Blick auf die Zahl und Struktur der österreichischen Rüstungsindustrie 1944, also zu einem Zeitpunkt ihrer höchsten Produktion, zeigt, dass die 716 zu Rüstungsbetrieben ernannten österreichischen Firmen etwa fünf Prozent aller Rüstungsbetriebe des „Dritten Reiches“ ausmachten. Trotzdem erreichten einige Firmen, darunter die steirischen Betriebe der Böhler AG., die Elin in Weiz, die Hütte Donawitz, die Firmengruppe Treiber und die Grazer Werke der Steyr-Daimler-Puch AG., eine hohe Prioritätsreihung und waren in den letzten „Notprogrammen“ zur Rüstungsproduktion unter besonderen Schutz gestellt worden, insbesondere was die Zuteilung von Rohstoffen, Arbeitskräften und Energie betraf.7 In den 716 zu Rüstungsbetrieben erklärten Firmen und den in die Rüstungsprogramme integrierten Zulieferfirmen arbeiteten rund 500.000 Arbeiter, davon gegen Kriegsende vermutlich bereits 15 Prozent ausländische Fremdarbeiter.8 Die höchsten Belegschaftsstände wiesen das Werk Steyr mit 15.753, die Flugmotorenwerke „Ostmark“ in Wiener Neudorf mit 13.829, das Werk Graz-Thondorf der Steyr-Daimler-Puch AG mit 10.438 und die Heinkel AG in Schwechat mit 9.832 Beschäftigten auf. Deutlich dahinter rangierten die Enzesfelder Metallwerke, die Hütte Donawitz, das Wiener Neustädter
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Dazu vor allem Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945. Phil. Diss. Wien 1977. Vgl. Österreichs verstaatlichte Industrie. Wien 1953. Dazu kritisch : Rosmarie Atzenhofer, Wie das Deutsche Eigentum wieder „deutsch“ wurde, in : Margit Scherb – Inge Morawetz (Hg.), In deutscher Hand ? Österreich und sein großer Nachbar. Wien 1990, S. 61f. Die entsprechenden Bestimmungen finden sich für 1945 zusammengefasst in : Die Bilanzen, 32. Jg. Wien 1946. Vgl. Stefan Karner, Österreichs Rüstungsindustrie 1944. Ansätze zu einer Strukturanalyse, in : Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 3/1980, S. 179–206 ; und : Norbert Schausberger, Rüstung in Österreich. Wien 1970. Die Schätzung basiert auf Angaben bei Roswitha Helga Gatterbauer, Arbeitseinsatz und Behandlung der Kriegsgefangenen in der Ostmark während des Zweiten Weltkrieges. Phil. Diss. Salzburg 1975 ; Schausberger, Rüstung ; Josef Moser, Oberösterreichs Wirtschaft 1938–1945. Industrialisierung einer rückständigen Region während der NS-Zeit. Phil. Diss. Linz 1991 ; Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945. Unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie. Klagenfurt 1976 ; Harry Slapnicka, Oberösterreich als es „Oberdonau“ hieß (1938–1945). Linz 1978.
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Flugzeugwerk, die Wiener Lokomotivfabrik, Böhler Kapfenberg und das Nibelungenwerk in St. Valentin.9 In der Steiermark arbeiteten in den Rüstungs- und Zulieferbetrieben rund 100.000,10 in Graz selbst rund 52.000 Menschen11 für die deutsche Rüstung. Die größten steirischen Rüstungsbetriebsstätten lagen in Thondorf, in Donawitz, Kapfenberg, in Marburg/Maribor (VDM-Luftfahrtwerke) und in Weiz. In Graz kam vor allem noch die Firmengruppe Treiber mit drei Standorten und zusammen rund 4.000 Beschäftigten dazu.12 Die steirischen Betriebe erzeugten vor allem Panzer, Geschütze, Flugzeug- und U-Bootsteile, Motoren, Scheinwerfer, Fernsteuerungen, Nachrichtengeräte, Munition und Bomben.13 Die Waffen- und Kriegsgerätefertigungen wurden, soweit sie nicht Unterlieferanten für andere Betriebe waren, direkt vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW) oder einem Wehrmachtsteil bestellt. Heer, Luftwaffe und Marine traten also als Kunden der steirischen und Grazer Rüstungsfirmen auf. Die Betriebe hatten dazu Kalkulationen aufzustellen, aus denen die Herstellungskosten sowie die Verwaltungs-, Gemein- und Vertriebskosten und auf der Haben-Seite der Erlös ersichtlich waren. Aus diesen Aufstellungen gehen deutlich die Gewinne der Firmen in der Waffenfertigung hervor : Der Reingewinn betrug dabei durchwegs zwischen 7 und 15 Prozent vom jeweiligen Auftragswert.14 Unter den steirischen, aber auch österreichischen Rüstungsbetrieben hatten ab 1941 die Grazer Werke der Steyr-Daimler-Puch AG. in der Puchstraße und in Thondorf, die organisatorisch als Einheit geführt wurden, eine besondere Stellung eingenommen. Dies war in erster Linie auf die Betriebsstätte in Thondorf zurückzuführen. Erst 1941 zur Ausweitung der deutschen Luftrüstung gegründet, fertigte das Grazer Werk, praktisch ausschließlich in Thondorf und teilweise in verlagerten Betriebsstätten und unter Heranziehung von KZ-Häftlingen in Peggau oder Aflenz bei Leibnitz, während des 9 Nach Karner, Rüstungsindustrie 1944, S. 200f. 10 Vgl. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. 3. Auflage. Graz 1994, bes. S. 245f. 11 Dazu : Ursula Ebner – Kurt Müller u. a., Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Thondorf, Seminararbeit am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Graz (Seminarleiter : Stefan Karner), WS 1984/85, S. 24 ; Stefan Karner, Die Grazer Industrie 1938, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 18/19. Graz 1988, zur Rüstungsindustrie 1944 bes. S. 240f. 12 Vgl. zu Treiber vor allem : Ursula Ebner, Metallbau Treiber KG. Eine Firmengeschichte und Betriebsanalyse mit der schwerpunktmäßigen Behandlung der Jahre 1975 bis 1990. Sowi-DA, Graz 1990. 13 Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich, S. 235–270. 14 Ebd., S. 268.
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Krieges mit über 10.000 Beschäftigten (seit 1943) vor allem Flugzeugmotoren für Daimler Benz und Junkers sowie Militärfahrzeuge, Kraft- und Fahrräder, Waffenteile, Panzerteile und Zahnräder.15 Der Konzern der Steyr-Daimler-Puch AG., erst 1934 aus einer Fusion zwischen Steyr, Austro Daimler und Puch hervorgegangen, war zunächst im Mehrheitsbesitz der CA-BV ab Herbst 1938 der „Reichswerke Hermann Göring“ und ab 1943 der Bank der Deutschen Luftfahrt. Gegen Kriegsende versuchte Rüstungsminister Albert Speer, den Konzern wieder stärker an den alten Hauptaktionär anzubinden, was seinen Reprivatisierungsbemühungen in der Rüstung entsprach.16 Seit 1944 war das Werksgelände in Thondorf mehrfach schwer zerbombt worden, die Produktion konnte jedoch im Wesentlichen aufrechterhalten werden.17 Lediglich in der Schlussphase des Krieges, als auch die wichtigsten Transportwege für die Zulieferung der Vorprodukte aus der Luft zerstört worden waren, war die Produktion stark abgesunken. Die Rüstungsproduktion der Grazer Puchwerke in Thondorf und in der Puchstraße umfasste zunächst vor allem Fahr- und Motorräder, wobei 1939 nach dem „Kriegsfertigungsprogramm“ im Fahrradbau nur 75 Prozent der Friedenskapazität produziert werden durften. Die so frei gewordenen Kapazitäten wurden zur Produktion von Zwei beinlafetten, MP- und MG-Magazinen, für Raupenketten und 2-cm-Sprenggranatenhüllen eingesetzt. Ab 1940/41 wurden zunehmend Zweibeine für 15 Zur Geschichte des Thondorfer Werkes während des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren vgl. die Spezialuntersuchungen : Hans Jörg Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG. Standorte Graz 1918–1950. Sowi – DA, Graz 1985, hier S. 80 ; Steyr-Daimler-Puch AG. Festschrift Puch 1899–1949. Graz 1949 ; Ebner – Müller, Steyr-Daimler-Puch. Das Thondorfer Werk der Steyr-Daimler-Puch AG. wurde zum ersten Mal in Fertigteilbauweise errichtet und als Betriebsstätte des Werkes Graz des Konzerns am 9. Dezember 1941 zum Wehrmachtsbetrieb erklärt. BA, R 3/ 2019,0/1079/0005. Vgl. zur Luftrüstung in Österreich u. a.: Stefan Karner, Bemühungen zur Ausweitung der Luftrüstung im Dritten Reich 1940/41. Die Flugmotorenwerke Ostmark und ihr Marburger Zweigwerk 1941–1945, in : Zeitgeschichte, 9–10/1979, S. 318–345. Zur österreichischen Rüstungsindustrie in der Schlussphase des Krieges vgl. vor allem Schausberger, Rüstung ; Karner, Rüstungsindustrie 1944, S. 179–206 ; zur Rüstung in Oberösterreich : Slapnicka, Oberösterreich ; Moser, Oberösterreichs Wirtschaft ; zu Kärnten : Karner, Kärntens Wirtschaft ; sowie zur Steiermark : Karner, Steiermark im Dritten Reich, bes. S. 245f. 16 Dieser Themenbereich erfordert insgesamt noch weitere Untersuchungen. Ich beziehe mich hier lediglich auf entsprechende Mitteilungen Speers aus den siebziger Jahren sowie auf die Resultate bei Steyr-Daimler-Puch selbst. Vgl. auch Karner, Rüstung 1944, S. 201f. 17 Vgl. Walter Brunner, Bomben auf Graz. Die Dokumentation Weißmann. Veröff. d. Stmk. Landesarchivs, Bd. 18. Graz 1989 ; Siegfried Beer – Stefan Karner, Der Krieg aus der Luft. Kärnten und Steiermark 1941–1945. Graz 1992, bes. S. 248f.
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MG, Böden der 8,8–cm-Sprenggranaten, Panzerkurbelwellen, Panzerschaltgetriebe, Raupenfahrzeugteile und MG-Magazine produziert. Obwohl die Planungen für die Ausweitung der Flugmotorenproduktion sehr weit gediehen waren und Thondorf ausschließlich zur Ausweitung der Luftrüstung aus dem Boden gestampft worden war, wurden in der Folge die Grazer Puchwerke durch die laufenden Umrüstungen der Deutschen Wehrmachtsfertigung (vor allem für die Bodentruppen) nicht mehr mit vollen Kapazitäten in der Flugmotorenerzeugung verwendet. 1943 stellten etwa die Flugmotoren einen Anteil von rund einem Drittel des Gesamtumsatzes des Grazer Werkes dar, der in den folgenden zwei Jahren weiter sank.18 3000
Waffen 2500
Motorräder 2000
1500 Fahrräder
1000 Allg. Fabriksber. 500 Lehrlinge 0 1936
Auto-Rep. 1937
1938
1939
1940
1941
Die folgende Tabelle 1 zeigt die wichtigsten Kenndaten des Grazer Puchwerkes für das Jahr 1944. Sie waren die Ausgangsposition für die Umstellung auf die zivile Produktion dieses Rüstungsbetriebes.
18 Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 79f.
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Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Tabelle 1 : Kenndaten des Grazer Werkes der Steyr-Daimler-Puch AG. (Betriebsstätten : Thondorf und Puchstraße) 1944. Besitzer :
Bank der Deutschen Luftfahrt AG., Private
Betriebsfläche :
rund 100.000 m2, davon 86.112 m2 in Thondorf
Beschäftigte :
10.435
Qualifikation der Beschäftigten :
guter Facharbeiterstand, weil das Werk Thondorf unter weitgehendem Rüstungsschutz gestanden war
Gesamtumsatz :
45 Millionen RM, davon 65 % Kriegsaufträge
Umsatz/Beschäftigten :
4300 RM
Produktionen :
Fahrräder, Motorräder, Zweibeine für MG, Panzer-, Geschütz- und Geschoßteile, Flugmotoren, Teile zu Wehrmachtsfahrzeugen
Quelle : Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz-Thondorf. Herrn Mag. Enzinger danke ich für vielfältige Hilfe bei der Beschaffung der statistischen Unterlagen.
Mit dem Kriegsende und dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hatte das Grazer Werk mit den Betriebsstätten in Thondorf und in der Puchstraße ein Bündel von Problemen fast gleichzeitig zu lösen. Darunter : – Die Neuinstallierung einer Führungsstruktur. Eine Verbindungsaufnahme zum Konzern in Steyr. Die Führungsebenen aus der NS-Zeit waren entweder nicht mehr zugegen oder nicht mehr handlungsfähig. – Die fehlgeschlagenen Versuche, wichtigste Fertigungsanlagen und Maschinen vor einer Demontage durch die sowjetische Besatzungsmacht zu bewahren, um so dem Werk die Chance zu geben, von den Sowjets als ein für das Funktionieren der Nachkriegswirtschaft wichtiger Industriebetrieb eingestuft zu werden. Schließlich die praktische Aufgabe des Werkes in Thondorf. – Die Beseitigung der schlimmsten Bombenschäden, die möglichst rasche Ingangsetzung einer zivilen Produktion in der Puchstraße. – Die Rekrutierung der Beschäftigten, wobei die bis dahin verpflichteten Ost- und Fremdarbeiter nicht mehr zur Verfügung standen. – Das buchstäblich auf Schritt und Tritt sichtbare Überangebot an Waffen und Kriegsgeräten. Auf der Haben-Seite stand u. a. der Lern- und Erfahrungsprozess, den auch das Grazer Werk während der NS-Zeit im „Umrüsten“ durch die laufenden Produktionsänderungen und -anpassungen hatte machen müssen. Dieses Know-how ließ die Konversion auf Friedensprodukte von der Betriebsorganisation her als etwas Alltägliches erscheinen, für das noch dazu die Motiva-
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tion der Beschäftigten, soweit sie noch im Betrieb erschienen waren, schon aus Sorge um den eigenen Arbeitsplatz, vorhanden war. Das Thondorfer Werksgelände wurde am 9. Mai 1945, sofort nach dem Einmarsch der 27. Panzerarmee der 3. Ukrainischen Front in Graz, nahezu gleichzeitig mit den Anlagen in der Puchstraße von Einheiten der Roten Armee besetzt und sämtliche Produktionseinrichtungen beschlagnahmt.19 Wenige Tage zuvor waren die Anlagen der Konzernmutter in Steyr von den Amerikanern besetzt worden.20 Das Bild, das Thondorf am 9. Mai 1945 bot, zeigte die Auswirkungen des Bombenkrieges : Die Halle II war zu zwei Dritteln, die Hallen I und III weniger schwer zerstört worden. Die Produktion stand still. Fabrikate und Halbprodukte lagen teilweise verstreut im Werksgelände umher. Anders in der Puchstraße : Dieses Werk, das seit der Jahrhundertwende vor allem Fahrräder erzeugte, hatte den Krieg mit leichteren Schäden überstanden.21 Um im Werk selbst eine funktionierende Führungsstruktur einzurichten, ernannte der provisorische steirische Landeshauptmann Reinhard Machold Dr. Wilhelm Rösche zum Betriebsleiter Graz der Steyr-Daimler-Puch AG., später zum öffentlichen Verwalter, jedenfalls so lange, bis wieder ein Kontakt mit der Konzernführung in Steyr hergestellt werden konnte. (In Steyr hatten mittlerweile zwar Richard Ryznar als Generaldirektor sowie Walther Glöckel und Karl Rossner als Direktoren die Leitung des Unternehmens übernommen, eine ständige Verbindung in das amerikanisch besetzte Steyr war jedoch nicht einrichtbar, sodass Rösche auf sich allein gestellt handeln musste.).22 Obwohl verschiedene Apparate und Maschinen noch rechtzeitig vor den Sowjets in Sicherheit gebracht und eine einigermaßen funktionierende Gesprächssituation mit den Besatzern aufgebaut werden konnte, gelang es der Betriebsführung und den Arbeitern nicht, den Umfang der Demontagen in Thondorf wesentlich zu begrenzen. Die Sowjets gingen von einem sehr weit gefassten Begriff des „Deutschen Eigentums“ aus und demontierten sämtliche Maschinen und Anlagen, die nicht als bereits vor 1938 existent eingestuft werden konnten. Dazu gehörte in erster Linie Thondorf, das ja erst 1941 errichtet worden war. Die Maschinen und Apparaturen wurden auf Waggons verladen und in den Osten verbracht, wobei zahlreiche Zugladungen niemals ihre Zielbahnhöfe in der Sowjetunion erreichten, sondern spätestens bei der Umladung der Güter von Normal- auf Breitspurwaggons an den un19 Vgl. dazu Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 81f.; der sich auf ein Gespräch mit Direktor L. Kuttler stützt. 20 Dazu : Harry Slapnicka, Oberösterreich – zweigeteiltes Land 1945–1955. Linz 1986, S. 38 ; und Manfried Rauchensteiner, 1945. Entscheidung für Österreich. Graz 1975, S. 37. 21 Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 82. 22 Ebd., S. 89.
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garisch-sowjetischen Grenzbahnhöfen liegen blieben. In Thondorf gingen durch Demontagen und die vorangegangenen Luftangriffe des Jahres 1944 insgesamt allein 3.000 Werkzeugmaschinen verloren.23 Damit war klar, worin die „Stärke“ der Grazer Puchwerke lag, worauf eine Rüstungskonversion aufbauen konnte : in der Möglichkeit einer Adaption der relativ noch unbeschädigten Betriebsanlagen in der Puchstraße für eine rasch in Gang zu bringende Fahrraderzeugung. Dafür hatte man seit der Jahrhundertwende einen zumindest österreichweit eingeführten Namen, entsprechende Facharbeiter, eine zu erwartende gute Nachfrage und eine wiederum zu erringende Marktposition. Die Gefahr der damit faktisch notwendig werdenden Produktionsbeschränkung auf Fahr- und Motorräder, womit man praktisch zu einer Einproduktunternehmung wurde, war zweitrangig. Auch nachdem die Briten am 24. Juli 1945 zur Besatzungsmacht für die Steiermark geworden waren, änderte sich für das Grazer Puchwerk nichts. Wie zuvor die Sowjets beanspruchten nunmehr auch die Briten das Gelände in Thondorf für sich, womit es für Steyr-Daimler-Puch zunächst nicht zur Disposition stand.24 Die Briten hatten hier versucht, eine Lkw-Reparaturwerkstätte (für MAC) in Gang zu setzen, soweit dies aufgrund der Demontagen und Zerstörungen überhaupt noch möglich war. Damit verwendete das Grazer Werk alle Kräfte und Planungen auf das alte Stammwerk in der Puchstraße, das seit Jahrzehnten auf die Herstellung von Fahr- und Motorrädern spezialisiert war. Nach den ersten Aufräumungsarbeiten und der Adaptierung des Maschinenparks gelang es, die Produktion noch im Sommer 1945 wiederum aufzunehmen. Sämtliche unternehmerischen Entscheidungen wurden dabei von Betriebsleiter Rösche getroffen, der als öffentlicher Verwalter auch den Eigentümer repräsentierte. Bei der Produktentscheidung orientierte man sich in Graz unter den herrschenden Rahmenbedingungen einzig an den technischen Gegebenheiten und den Absatzmöglichkeiten. Beide Kriterien sprachen eindeutig für die Fahrrad- und Motorraderzeugung. Trotz enormer Probleme, die durch den Mangel an Rohstoffen und Zulieferfabrikaten, den zusammengebrochenen Handel, auch innerhalb Österreichs,25 im Transport der benötigten und produzierten Waren, bedingt waren, gelang es, bis Jahresende 1945 immerhin bereits 8.164 Damen- und Herrenfahrräder zu erzeugen. Durch den Wegfall
23 Ebd., S. 82. 24 Ebd. 25 Zum Aufbau eines österreichischen Handels in den Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Karner, Zu den ökonomischen Problemen 1945 ; sowie Monatsberichte des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Jg. 1946, und Bilanzen 1946, i 2.
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der deutschen und österreichischen Zulieferbetriebe, die österreichischen lagen zumeist in anderen Besatzungszonen, über deren Grenzen bis zum Frühjahr 1946 praktisch kein Warenaustausch ging, mussten viele Bestandteile des Fahrrades jetzt selbst erzeugt werden : Ketten, Freilaufnaben, Dynamos, Scheinwerfer, Sättel, Pedale, Rücklichter und Gepäcksträger. Die Fahrräder wurden auch wertmäßig das wichtigste Produkt des Puchwerkes in der zweiten Jahreshälfte 1945, als ihr Anteil immerhin 64 Prozent der Gesamtproduktion bzw. des Gesamtverkaufs erreichte.26 Leider liegt für das Jahr 1944 beim Grazer Puchwerk zur betrieblichen Entwicklung nur noch ganz wenig Quellenmaterial auf, sodass hier zum Vergleich das umsatzmäßig schwächere Jahr 1943 herangezogen werden muss. Trotzdem ergab sich für das Grazer Werk ein besonders drastischer Rückgang, auch gegenüber 1943 : Die Zahl der Beschäftigten sank um 85,5 Prozent, der Umsatz gar um 96,6 Prozent, wovon allein 71 Prozent reine Rüstungsaufträge waren, die nunmehr nach Kriegsende weggefallen waren. Trotz der einigermaßen guten Startbedingungen war für das Grazer Werk der Einstieg in die zivile Fertigung nicht nur abrupt, sondern auch besonders schmerzlich : Mit einem Schlag fielen Kriegsaufträge des OKW in der Höhe von knapp 30 Millionen RM weg. Der Gesamtumsatz im Jahr 1945 hatte ohne diese Kriegsaufträge, die großteils nicht mehr ausgeliefert werden konnten, nur noch 1,2 Millionen RM betragen.27
Tabelle 2 : Zivile Produktion des Grazer Puchwerkes von Mai bis Dezember 1945. Produkt Motorräder
Stück 12
Fahrräder
8164
Pedale für Fahrräder
1350
Gepäcksträger
8442
Freilaufnaben
1150
Vorderradnaben
2300
Schlittschuhe
?
Feuerzeuge
7
Quelle : Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Statistik.
26 Vgl. Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 85. 27 Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG. Werk Graz, Statistik ; Kriegstagebuch des Rüstungskommandos Graz 1943–1944, Mikrofilmarchiv des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien ; sowie Ebner – Müller, Steyr-Daimler-Puch AG.
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Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Mit der Freilaufnabenerzeugung gelang es dem Werk, etwa 80 Prozent des dringendsten österreichischen Bedarfes zu erzeugen. Mit der langsamen Etablierung eines österreichischen Außenhandels ab dem Frühjahr 1946 verfügte damit das Grazer Puchwerk wiederum über einen Exportartikel. Die Not machte zudem erfinderisch, und man produzierte auch für den unmittelbaren Alltagsbedarf. Beispielsweise wurden 1945 im Grazer Puchwerk Feuerzeuge (wohl mithilfe der ebenfalls in der britischen Zone gelegenen Treibacher Chemischen Werke) und Schlittschuhe erzeugt. Größtenteils Angehörige der britischen Besatzungsmacht erfreuten sich an den mit Kurbeln und gehärteten Kufen ausgestatteten, auf normalem Winterschuhwerk zu befestigenden Eisschuhen, die uns heute als „Schraubendampfer“ noch ein Begriff sind. Die englischen Soldaten liefen mit ihnen vorwiegend auf dem Grazer Hilmteich. Der Anteil an Eislaufschuhen und Feuerzeugen am Gesamtumsatz des Werkes betrug 1945 immerhin 14,3 Prozent. Im Jahr darauf noch immer 3,2 Prozent.28 Trotz der angelaufenen und sich ständig ausweitenden zivilen Produktion war der Beschäftigtenstand des Werkes in allen Produktionssparten viel zu hoch, d. h. die Produktivität relativ gering, und musste verbessert werden, wollte man in den folgenden Jahren konkurrenzfähig bleiben. Lediglich im Fahrradbau hatte man bereits eine gewisse Reduktion des Mitarbeiterstandes erreichen können. Besonders hoch waren noch die Personalstände am Sektor Motorrad und im Werkzeugbau geblieben.
Tabelle 3 : Produktionskennzahlen des Grazer Puchwerkes 1945–1947. Jahr
Gesamtproduktion
1945
11,4
Fahrradproduktion 27,3
1946
80,4
104,2
1947
100,0
über 150
Quelle : Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz, Statistik.
Durch die hauptsächliche Orientierung der Produktion auf die traditionellen Puch-Produkte Motorrad und Fahrrad gelang es dem Werk, binnen kürzester Zeit wieder zu einem wichtigen Betrieb der steirischen Industrie zu werden. Die relativ rasche Überwindung der Kriegsfolgen und die geglückte Umstel-
28 Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz, Statistik.
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lung auf die zivile Fertigung kann deutlich anhand der stückmäßigen Produktion abgelesen werden, wie sie die Tabelle 4 ausweist.29
Tabelle 4 : Stückproduktionen des Grazer Puchwerkes 1945–1946. Produkt
1945
Stückzahl 1946
Freilaufnaben
1.150
106.920
Vorderradnaben
2.300
32.222
lose Motoren
0
66
Sättel
0
33.000
Motorradketten
0
1.700
Quelle : Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz, Statistik.
Abgesetzt konnten die Puch-Produkte, sieht man von kleineren Ausnahmen ab, zunächst vor allem auf dem österreichischen Markt werden. Hauptabnahmegebiete waren dabei vor allem Wien, Niederösterreich, die Steiermark und Oberösterreich. Die Tabelle 5 zeigt den wertmäßigen Fahrradumsatz nach Bundesländern in den Jahren 1946 und 1947.
Tabelle 5 : Puch-Fahrradverkauf nach Bundesländern 1946 und 1947 (in Schilling). Bundesland Wien Niederösterreich
1946
1947
3.189.291
3.955.300
7
3.260.742
1.208.013
3.045.824
Salzburg
453.953
545.074
Tirol
386.469
484.362
Vorarlberg
308.960
356.276
Steiermark
2.538.851
3.837.664
656.750
946.518
Oberösterreich
Kärnten Burgenland Summe
241.905
464.117
8.984.192
16.885.877
Quelle : Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz, Statistik. 29 Ebd.
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Nationalsozialismus und wirtschaftliche Kriegsfolgen
Hatten 1945 die Fahrräder bei Puch noch 64 Prozent des Gesamtumsatzes ausgemacht, so war ihr Anteil in der Folge kontinuierlich gesunken, was der Tendenz hin zu einer Mehrproduktunternehmung entsprach. 1946 war der Anteil des Fahrrades bereits auf unter 60 Prozent gerutscht. Dafür war der Umsatzanteil der Motorräder und Freilaufnaben von jeweils 2 Prozent auf 16,4 Prozent im Jahr 1946 gestiegen. Im selben Jahr konnten wiederum die ersten 74 Puch-Motorräder und 6.435 Freilaufnaben im Ausland verkauft werden. Die Neutralen, Schweden und Schweiz, waren die Exportländer. Damit betrug der Exportanteil bei Motorrädern im Jahr 1946 bereits 7,6 Prozent, während er bei Fahrrädern noch bei spärlichen 0,3 Prozent lag.30 Von 1947 auf 1948 wurden das Produktionsvolumen verdoppelt und die Exportquoten weiter erhöht. 1948 hatte Puch bei Fahr- und Motorrädern die Produktionszahlen von 1937 bereits erreicht, bei Freilaufnaben schon deutlich übertroffen. Im Jahr 1949 verließen bereits täglich 50 Motorräder, 500 Fahrräder und 1.700 Freilaufnaben das Werk.31 Die Bedeutung von Puch auf dem österreichischen Markt der Nachkriegsjahre zeigt die Tabelle 6. Erst 1950 musste das Grazer Werk Einbußen bei Marktanteilen hinnehmen, die vor allem auf die zunehmende Motorisierung und eine verstärkte ausländische Konkurrenz zurückzuführen waren.
Tabelle 6 : Puch-Fahrräder auf dem österreichischen Markt 1947–1950. Jahr
Gesamtbestand
davon Puch-Fahrräder
1947
59.244
54.825
1948
110.460
99.341
1949
173.748
129.931
1950
131.250
81.984
Quelle : Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 93.
Auch der Beschäftigtenstand war im Jahre 1946 mit 1891 Beschäftigten wieder über die Marke des Jahres 1937 gestiegen, wobei das Verhältnis von Angestellten zu Arbeitern auf 1 :7 verbessert werden konnte.32
30 Vgl. Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 87 ; und Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz, Statistik. 31 Borstnar, Die Steyr-Daimler-Puch AG., S. 87. 32 Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG., Werk Graz, Statistik.
Ökonomische Kriegsfolgen : Abrüstung im Betrieb
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Abrüsten im Betrieb war, wie das Beispiel des Grazer Puchwerkes zeigt, demnach möglich und durchführbar, wenn auch unter großen Anstrengungen und Opfern der Beschäftigten. Die Konversion war auch möglich in einem entsprechenden Klima : Neuaufbau, totale Veränderung, Kriegsmüdigkeit, Friedenssehnsucht. Die Konversion beim Grazer Puchwerk war total, weil Thondorf zur Gänze ausgefallen war. Sie erfolgte allerdings nicht in einer sich selbst regelnden Marktwirtschaft, sondern in einer staatlichen Bewirtschaftung und in drakonischen Planvorgaben des Ministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung (Sektionsleitung : Margarethe Ottillinger). Erschienen in : Stefan Karner, Ökonomische Kriegsfolgen : Abrüstung im Betrieb. Die Rüstungskonversion bei Steyr-Daimler-Puch, Werk Graz, 1945, in : Graz 1945. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 25. Graz 1994, S. 253–264.
Anhang
Verzeichnis der wissenschaftlichen Schriften von Stefan Karner 1976–2017 bearbeitet von Harald Knoll und Doris Wünschl
Selbstständige Werke Stefan Karner, Im Kalten Krieg der Spionage. Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948–1955. Innsbruck – Wien – Bozen 2016. (2. korrigierte Aufl. 2016). Stefan Karner, Stoj ! Tragédie pri železnej opone Tajné spisy. Bratislava 2015. Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Die Renner-Stalin Briefe. Eine Dokumentation von Stefan Karner und Peter Ruggenthaler. Gloggnitz 2015. Stefan Karner, Halt ! Tragödien am Eisernen Vorhang. Die Verschlussakten. Salzburg 2013. Stefan Karner, Steiermark. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Innsbruck – Wien 2012. Stefan Karner, Der erste Schritt auf dem langen Weg zum Staatsvertrag. Sowjetische Überlegungen zum Staatsaufbau 1945/46. Schriftenreihe Niederösterreichische juristische Gesellschaft. H. 94. Wien 2005. Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939–1945. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Bd. 26/2. Wien – München 2004. Stefan Karner, Archipelag GUPVI NKVD. Plen i internirovanie v Sovetskom Sojuze 1941– 1956. Moskva 2002. Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur. Graz 2000 (1. Aufl.), 2005 (2. Aufl.). Stefan Karner, Slowenien und seine „Deutschen“. Die deutschsprachige Volksgruppe als Subjekt und Objekt der Politik 1939 bis 1998. Forum für Kultur und Politik. H. 27. Bonn 2000. Stefan Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien 1939–1997. Klagenfurt – Ljubljana – Wien 1998. Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Wien – München 1995. Siegfried Beer – Stefan Karner, Krieg aus der Luft. Kärnten und Steiermark 1941–1945. Graz 1992. Stefan Karner, Graz 1938. Begleitheft zur Ausstellung der Stadt Graz : „1938 : Illusionen – Ängste – Wirklichkeiten“. Graz 1988. Stefan Karner, Bad St. Leonhard in alten Ansichten. Zaltbommel 1987. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlichen-sozialen und kulturellen Entwicklung. Graz, 1. u. 2. Auflage 1986, 3. durchgesehene Auflage 1994. Theodor Graff – Stefan Karner, 400 Jahre Leykam Druck und Papier. Festschrift der Leykam AG und der Leykam-Mürztaler AG. Graz 1985. Stefan Karner, Kärntens Wirtschaft 1938–1945. Unter besonderer Berücksichtigung der Rüstungsindustrie. Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Landeshauptstadt Klagenfurt. Bd. 2. Klagenfurt 1976.
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Anhang
Herausgegebene Werke Stefan Karner – Gerhard Botz – Helmut Konrad (Hg.), Epochenbrüche im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Bd. 4. Wien 2017. Wilhelm Himmel – Stefan Karner (Hg.), 100 Jahre Lions Club International. 65 Jahre Lions in Österreich. Graz 2017. Stefan Karner (Hg.), Festschrift in memoriam Karl W. Hardach. Graz 2016. Stefan Karner – E. I. Pivovar – Natalja G. Tomilina – A. O. Cubar’jan – Irina V. Kazarina – T. M. Kuz’mičeva – Michail Ju. Prozumenščikov – Peter Ruggenthaler (Hg.), Konec epochi. SSSR i revoljucii v stranach Vostočnoj Evropy v 1989-1991gg. Dokumenty. [= Das Ende einer Epoche. Die UdSSR und die Revolutionen in den Ländern Osteuropas 1989–1991. Dokumente]. Moskau 2015. Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung. Interne sowjetische Analysen. Berlin 2015. Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Unter Mitarbeit von Dieter Bacher und Peter Ruggenthaler. Wien – Köln – Weimar 2015. Stefan Karner – Walter M. Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“. Restitution und Entschädigung in Österreich. Die Bilanz der Regierung Schüssel. Innsbruck – Wien – Bozen 2015. Stefan Karner (Hg.), Auf den Spuren Wallenbergs. Innsbruck – Wien – Bozen 2015. Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die „Wende“ 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente. Innsbruck – Wien – Bozen 2014. Martin Eichtinger – Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Rugenthaler (Hg.), Reasessing History from Two Continents. Festschrift Günther Bischof. Innsbruck 2013. Dieter Bacher – Stefan Karner (Hg.), Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihre Nachkriegsschicksale. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Ein Zwischenbericht. Innsbruck – Wien – Bozen 2013. Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), The Vienna Summit and Its Importance in International History. The Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham – Boulder – New York – Toronto – Plymouth 2012. Gerhard Wettig – Stefan Karner – Horst Möller – Michail Prosumenschtschikow – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx – Natalja Tomilina, Aleksandr Tschubarjan – Matthias Uhl – Hermann Wentker (Hg.), Dokumentation Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen. Band 3. Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962). München 2011. Stefan Karner – Natalja G. Tomilina – Alexander O. Tschubarjan – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Venskij val’s cholodnoj vojny (vokrug vstreči N.S. Chruščeva i Dž. F. Kennedy v 1961 godu v Vene). Dokumenty. Moskau 2011. Stefan Karner – Philipp Lesiak – Heinrichs Strods (Hg.), Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck – Wien – Bozen 2010. Natalja G. Tomilina – Stefan Karner – A. O. Čubar’jan – Irina V. Kazarina – Michail Ju. Prozumenščikov – Peter Ruggenthaler (Hg.), „Pražskaja vesna“ i meždunarodnyj krizis 1968 goda. Bd. 2. Dokumenty. Moskau 2010. Natalja G. Tomilina – Stefan Karner – A. O. Čubar’jan – Irina V. Kazarina – Michail Ju. Prozumenščikov – Peter Ruggenthaler (Hg.), „Pražskaja vesna“ i meždunarodnyj krizis 1968 goda. Bd. 1. Issledovanija. Moskau 2010. Bruno P. Besser – Walter M. Iber – Stefan Karner (Hg.), Nordberg. Der Weg in den Welt-
Verzeichnis der wissenschaftlichen Schriften von Stefan Karner 1976–2017
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raum. Beitragsband zu Symposium und Ausstellung in Fehring 2010. Graz – Fehring 2010. Viktor V. Iščenko – Stefan Karner – I. V. Krjučkov u. a. (Hg.), „Pražskaja Vesna“ 1968 goda i sovetskie respubliki. Reakcija vlasti i obščestva. Sbornik naučnych statej. Moskau 2009. Günter Bischof – Stefan Karner – Peter Ruggenthaler (Hg.), The Prague Spring and the Warsaw Pact Invasion of Czechoslovakia in 1968. Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham – Boulder – New York – Toronto – Plymouth 2009. Stefan Karner – Michal Stehlík (Hg.), Česko. Rakousko. Rozděleni – odloučeni – spojeni. Ve spolupráci s Arminem Lausseggerem a Philippem Lesiakem. Sborník a katalog Dolnorakouské zemské výstavy 2009. Schallaburg – Jihlava 2009. Stefan Karner – Michal Stehlík (Hg.), Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint. Beitragsband und Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009. Graz – Wien – Klagenfurt 2009. Wolfram Dornik – Stefan Karner (Hg.), Okupacija Ukraïny 1918 roku. Istoryčnyj kontekst – stan doslidženyja – ekonomični ta social’ni naslidky. Černivci 2009. Stefan Karner – Ludwig Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck – Wien – Bozen 2008. Stefan Karner – Vjačeslav D. Selemenev – V. V. Skalaban – Irina V. Kazarina – Harald Knoll – Peter Ruggenthaler – Silke Stern – Michail Prozumenščikov – Natalja Tomilina (Hg.), Dokumenty Nacional’nogo Archiva Respubliki Belarus’ o čechoslovackom krizise 1968 goda. Minsk 2008. Wolfram Dornik – Rudolf Graßmug – Stefan Karner (Hg.), GrenzenLos. Österreich, Slowenien und Ungarn 1914–2004. Beitragsband zur Ausstellung im Gerberhaus Fehring. Graz – Fehring 2007. V. V. Minaev – Stefan Karner – Aleksyndr O. Čubar’jan – V. A. Šapovalov (Hg.), Rossijsko-avstrijskij al’manach : istoričeskie i kul’turnye paralleli. Bd. 2. Moskau – Graz – Wien – Stavropol’ 2006. Stefan Karner (Hg.), Kärnten und die nationale Frage. Klagenfurt 2005 (unter Mitarbeit v. P. Fritz, P. Pirnath und St. Vavti). Bd. 1 : Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf (gem. mit A. Moritsch u. a.). Bd. 2 : Nationale Frage und Öffentlichkeit (gem. mit W. Drobesch, A. Malle). Bd. 3 : Politische Festtagskultur – Einheit ohne Einigkeit (gem. mit U. Burz, D. Pohl). Bd. 4 : Kärnten und Wien. Zwischen Staatsidee und Landesbewusstsein (gem. mit C. Fräss-Ehrfeld, H. Rumpler). Bd. 5 : Kärnten und Slowenien – „Dickicht und Pfade“ (gem. mit J. Stergar). Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei !“. Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Horn – Wien 2005. Stefan Karner – Heinz Kopetz (Hg.), Die Grüne Mark. Steirische Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert. 75 Jahre Steirische Landwirtschaftskammer 1929–2004. Graz 2004. Stefan Karner (Hg.), Österreich Zukunftsreich. Denkpfeiler ins 21. Jahrhundert. Wien 1999. Gerhard Jagschitz – Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg – Schicksale 1945–1955. Wien 1995. Stefan Karner (Hg.), Geheime Akten des KGB. „Margarita Ottilinger“. Graz – Wien 1992. Stefan Karner – Rudolf Kropf (Hg.), Reflexionen zum Jahr 1945. Eisenstadt 1988. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland. H. 74. Eisenstadt 1987. Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahre 1945. Beiträge zur Landes-Sonderausstellung 1985. Eisenstadt 1985.
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Anhang
Wissenschaftliche Aufsätze (Auszug) Aufsätze in Peer Reviewed Büchern und Zeitschriften werden am Ende mit * gekennzeichnet. Stefan Karner, Der Zerfall der Österreichisch-ungarischen Monarchie und die Handelskontinuität im Donauraum, in : Horst Möller – Aleksandr Čubar’jan (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Deutschland und Russland im europäischen Kontext. Berlin – Boston 2017, S. 149–154. Stefan Karner, Epochenbrüche im 20. Jahrhundert – Einleitung, in : Stefan Karner – Gerhard Botz – Helmut Konrad (Hg.) Epochenbrüche im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Bd. 4. Wien 2017, S. 7–14. Stefan Karner, Eine globale Herausforderung, in : Österreich 22. Die Zukunft unserer Republik. Graz 2017. Stefan Karner, Wo sind sie geblieben ? in : Wilhelm Himmel – Stefan Karner (Hg.), 100 Jahre Lions Club International. 65 Jahre Lions in Österreich. Graz 2017, S. 169–171. Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper, 2016 : Regierung vor dem Ende oder Neustart, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2016. Wien – Köln – Weimar 2017. Stefan Karner, Vor 500 Jahren. Zu den Anfängen österreichisch-russischer Beziehungen. Herbersteins Gesandtschaft und sein Bild von Russland, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2016. Wien – Köln – Weimar 2017. Stefan Karner, Hätte die sowjetische Plan-Wirtschaft ohne Gorbačev überlebt ? Zum wirtschaftlichen Kollaps der Sowjetunion, in : Stefan Karner (Hg.), Festschrift in memoriam Karl W. Hardach. Graz 2016, S. 87–113. Stefan Karner, Die österreichisch-russischen Wissenschaftsbeziehungen am Beispiel der „Österreichisch-Russischen Historikerkommission“, in : Austria Kultur International. Jahrbuch der Österreichischen Auslandskultur 2015. Wien 2016, S. 51–55. Stefan Karner, Von der Stagnation zum Zerfall. Kennzeichen der sowjetischen Wirtschaft der 1980er Jahre, in : Hanns Jürgen Küsters (Hg.), Der Zerfall des Sowjetimperialismus und Deutschlands Wiedervereinigung. Köln – Weimar – Wien 2016, S. 15–45. Stefan Karner, Das „Haus der Geschichte Niederösterreich“ (HGNÖ) und die Etappen eines langen Weges, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2015. Wien – Köln – Weimar 2016, S. 491–519. Stefan Karner, Die Opfer des Nationalsozialismus in Österreich. Opferfürsorge und „Wiedergutmachung“, in : Günther Heydemann – Clemens Vollnhals (Hg.), Nach den Diktaturen. Der Umgang mit den Opfern in Europa. Göttingen 2016, S. 47–54. Stefan Karner, Zu den Rehabilitierungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten in der Sowjetunion unter Chruschtschow und in den 1990er-Jahren. Dargestellt am Beispiel von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen, in : Csaba Szabó (Hg.), Sowjetische Schauprozesse in Mittel- und Osteuropa. Wien 2015, S. 11–30. Stefan Karner, Die Tür zu den Spuren Wallenbergs offen halten, in : Stefan Karner (Hg.), Auf den Spuren Wallenbergs. Innsbruck – Wien – Bozen 2015, S. 15–20. Stefan Karner, Im Fundament der Zweiten Republik – die Opfer des Nationalsozialismus in Österreich. Zur Einleitung, in : Stefan Karner – Walter M. Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“. Restitution und Entschädigung in Österreich. Die Bilanz der Regierung Schüssel. Innsbruck – Wien – Bozen 2015, S. 11–19. Walter M. Iber – Stefan Karner, Die Restitutions- und Entschädigungsbemühungen der Re-
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gierung Schüssel und ihre Rezeption im In- und Ausland, in : Stefan Karner – Walter M. Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“. Restitution und Entschädigung in Österreich. Die Bilanz der Regierung Schüssel. Innsbruck – Wien – Bozen 2015, S. 91–104. Stefan Karner, Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Globaler Konflikt mit lokalen Folgen, in : Jahrbuch der steirischen Volkskultur 2014. Graz 2015, S. 126–134. Stefan Karner, Vorwort, in : Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Unter Mitarbeit von Dieter Bacher und Peter Ruggenthaler. Wien – Köln – Weimar 2015, S. 19f. Stefan Karner, Die Ausgangslage in Ostmitteleuropa am Vorabend der Friedlichen Revolution : Die Sicht des Kreml, in : Andreas H. Apelt – Robert Grünbaum – Martin Gutzeit (Hg.), Umbrüche und Revolutionen in Ostmitteleuropa 1989. Berlin 2015, S. 35–45. Stefan Karner, Die Demontage Österreichs, in : Kleine Zeitung Spezial. 1945. Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik. Graz 2015, S. 140f. Stefan Karner, Verhaftet und verschleppt, in : Kleine Zeitung Spezial. 1945. Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik. Graz 2015, S. 142f. Stefan Karner, Die Vertreibung, in : Kleine Zeitung Spezial. 1945. Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik. Graz 2015, S. 150f. Stefan Karner, Die Heimkehr, in : Kleine Zeitung Spezial. 1945. Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik. Graz 2015, S. 150f. Stefan Karner, Steiermark Essay, in : Herwig Hösele, Die Steiermark 1945–2015 : eine Erfolgsgeschichte. Graz 2015. Stefan Karner, Zur sowjetischen Umerziehung : Die „Antifa“ 1941–1949 und das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ in der Sowjetunion, in : Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Unter Mitarbeit von Dieter Bacher und Peter Ruggenthaler. Wien – Köln – Weimar 2015, S. 177–195. Wolfram Dornik – Stefan Karner, Perehne slovoin, in : Wolfram Dornik – Georgiy Kasianov – Hannes Leidinger – Peter Lieb – Alexey Miller – Bogdan Musial – Vasyl’ Rasevyč (Hg.), Ukraina miž samovyznačennjam ta okupacieju : 1917–1922 roky. Kiev 2015, S. 13–15. Stefan Karner, Der „französische Spionagering“ in Rostock und die sowjetische Staatssicherheitsakte zu Wilhelm Joachim Gauck, in : Andreas Kötzing – Francesca Weil – Mike Schmeitzner – Jan Erik Schulte (Hg.), Vergleich als Herausforderung. Festschrift für Günther Heydemann zum 65. Geburtstag. Göttingen 2015, S. 171–183. Stefan Karner, 1955–1965. Die „langen 50er Jahre“, in : politicum 118. 70 Jahre steirische Reformkraft. Graz 2015, S. 22–37. Stefan Karner, Damals jung : Kriegsopfer in Österreich 1938–1945, in : Kriegsopfer- und Behindertenverband Österreich (Hg.), Redaktion : Maria Brandl, Verminte Kindheit. Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Graz – Wien 2015, S. 17–23. Stefan Karner – Mark Kramer – Olga Pavlenko – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke, Der Kreml und der deutsche Vereinigungsprozess 1989/90, in : Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung. Interne sowjetische Analysen. Berlin 2015, S. 13–108. Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx, Introduction : The Vienna Summit and Its Importance in International History, in : Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), The Vienna Summit and Its Importance in International History. The Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham – Boulder – New York – Toronto – Plymouth 2014, S. 3–37.* Stefan Karner, Der Prager Frühling 1968. Ein Schlüsselereignis für den antisowjetischen Widerstand in Zentral- und Osteuropa, in : Andreas H. Apelt – Robert Grünbaum – János
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Anhang
Can Togay (Hg.), Die ostmitteleuropäischen Freiheitsbewegungen 1953–1989, Berlin 2014. S. 51–68. Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke, Die Sowjetunion und Osteuropa 1989. Zur Einleitung, in : Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die „Wende“ 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente. Innsbruck 2014, S. 13–66. Stefan Karner, Mehrheiten Minderheiten : Die Deutschen in Slowenien, in : Peter Karpf – Thomas Kassl – Werner Platzer u. a. (Hg.), Dialog und Kultur. Beiträge zum Europäischen Volksgruppenkongress 2013 und Sonderthemen. Klagenfurt 2014, S. 21–26. Stefan Karner – Philipp Lesiak, Vorwort, in : Stefan Karner – Philipp Lesiak (Hg.), Erster Weltkrieg. Globaler Konflikt – lokale Folgen. Neue Perspektiven. Innsbruck – Wien – Bozen 2014, S. 11–19. Stefan Karner, Conséquences de la Première Guerre mondiale, in : Ministère fédéral des Affaires européennes et internationales (Hg.), Centenaire. Document de base de chercheuses et de chercheurs autrichiens. Vienne 2014. Stefan Karner, Consequences of World War I, in : Austrian Federal Ministry for European and International Affairs (Hg.), World War I Centenary. Summary Report prepared by Austrian researchers. Vienna 2014. Stefan Karner, Folgen des Ersten Weltkriegs, in : Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, Kulturpolitische Sektion (Hg.), Gedenken 1. Weltkrieg. Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wien 2014. Stefan Karner, Die Wirtschaft der Steiermark im 20. Jahrhundert, in : Wirtschaftpolitische Blätter. Zeitenblicke. 100 Jahre Wirtschaft in der Steiermark. Graz 2014, S. 7–19. Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke, Die Sowjetunion und Osteuropa 1989. Zur Einleitung, in : Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die „Wende“ 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente. Innsbruck – Wien – Bozen 2014, S. 13–66. Stefan Karner, Die „Hausherren“ der Lubjanka. Zu den Biographien der Vorsitzenden der sowjetischen Staatssicherheit 1917–2012, in : Alfred Ableitinger – Martin Moll (Hg.), Licence to detect. Festschrift für Siegfried Beer zum 65. Geburtstag. Graz 2013, S. 139– 181. Stefan Karner, Folgen des Ersten Weltkriegs, in : 1914–2014. Grundlagenpapier Österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Wien 2013, S. 30–33. Martin Eichtinger – Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler, Günter Bischof zum Sechziger, in : Martin Eichtinger – Stefan Karner – Mark Krämer – Peter Ruggenthaler, Reassessing History from two Continents. Festschrift Günter Bischof. Innsbruck 2013, S. 17–22. Stefan Karner, Peter Rosegger und die Orientierung der steirischen NS-Kulturpolitik, in : Gerald Schöpfer (Hg.), Peter Rosegger. Leben und Wirken. Graz 2013, S. 107–114. Stefan Karner, Die Vorsitzenden der sowjetischen „Staatssicherheit“ 1917–1953, in : Helmut Konrad – Gerhard Botz – Stefan Karner – Siegfried Mattl (Hg.), Terror und Geschichte. Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Bd. 2. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 99–120. Stefan Karner, Die Lösung der Kärntner Ortstafelfrage, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2011. Wien – Köln – Weimar 2012, S. 213–240.
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Stefan Karner, Gerald Schöpfer – zur Emeritierung, in : Wirtschaft & Geschichte & Politik. FS Gerald Schöpfer. Graz 2012, S. 11–14. Stefan Karner, Material für „Vergeltung“ und Kampagnen : Zur Arbeit und Instrumentalisierung der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission“ der Sowjetunion, in : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich. FS für Brigitte Bailer. Wien 2012, S. 385–397. Stefan Karner, Der Zusammenbruch des Ostens – Eine Chance für die Wissenschaft. Persönliche Bemerkungen und Erfahrungen, in : Verein zur Dokumentation der Zeitgeschichte (Hg.), Schauplatz Eiserner Vorhang. Europa : gewaltsam geteilt und wieder vereint. Weitra 2012, S. 94–99. Stefan Karner, „Überhaupt habe ich an ihm nichts Schlechtes bemerkt.“ Unschuldig und dennoch erschossen. Das sowjetische Gerichtsverfahren gegen Karl Ortner, in : Michael Steiner (Hg.), Unschuldsvermutung. Graz 2012, S. 167–178. Stefan Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe Sloveniens und Avnoj, in : Untersteirischer Geschichts- & Kulturspiegel, 8,1/2012, S. 12–16. Stefan Karner, Kärnten im „Dritten Reich“ (1938–1945), in : Ein Kärnten. Die Lösung. Klagenfurt 2012, S. 35–41. Stefan Karner, Die Ortstafelfrage im Fokus der Kärntner Politik (1976–2011), in : Ein Kärnten. Die Lösung. Klagenfurt 2012, S. 50–54. Stefan Karner, Österreichs Wirtschaft unter sowjetischer Besatzung 1945–1955. Ansätze zu einem Überblick, in : Karl Hardach (Hg.), Internationale Studien zur Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft. Teil 1. Frankfurt am Main u. a. 2012.* S. 425–447. Stefan Karner, Die Rückkehr der Kriegsgefangenen aus der UdSSR, in : Hans Ströbitzer, Leopold Figl und seine Zeit. St. Pölten 2012, S. 123–125. Stefan Karner, Das Mögliche ist zu tun. Die Anerkennung der Deutschen in Slowenien als Volksgruppe, in : Fachzeitschrift für Bibliotheken in der Steiermark, 2012, S. 23f. Stefan Karner – Christoph H. Benedikter, Wachstum in der Bewegung. 85 Jahre MIBA. Growth in Motion : 85 Years of MIBA, hrsg. v. F. Peter Mitterbauer, Therese Niss und der MIBA AG. Laakirchen 2012. Günter Bischof – Stefan Karner – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx – Gerhard Wettig, Der Wiener Gipfel 1961 und seine Bedeutung für die internationale Politik. Zur Einleitung, in : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Natalja Tomilina – Alexander Tschubarjan (Hg.), Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow. Innsbruck – Wien – Bozen 2011, S. 17–74. Stefan Karner, Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow, in : Historicum. Zeitschrift für Geschichte. Frühling – Sommer 2010 : Wiener Gipfel, S. 12–15. Stefan Karner, Wo wird Europa manifest ?, in : Norbert Schreiber – Lojze Wieser (Hg.), Europa weiter erzählen … Klagenfurt 2011, S. 61–71. Stefan Karner, Der österreichische Rechnungshof in der NS-Zeit 1938 bis 1945, in : Rechnungshof (Hg.), 250 Jahre der Rechnungshof. Gestern, Heute, Morgen. Kontrolle zahlt sich aus. Wien 2011, S. 183–191. Stefan Karner, Emotional berühren und neue Brücken schlagen. „2009 : Wie aus einer mutigen Idee eine erfolgreiche Landesausstellung wurde“, in : Peter Fritz – Reinhard Linke (Red.), 50 Jahre Landesausstellungen Niederösterreich. St. Pölten 2011, S. 183–185. Stefan Karner, Vorwort, in : Walter M. Iber – Peter Ruggenthaler (Hg.), Stalins Wirtschaftpolitik an der sowjetischen Peripherie. Ein Überblick auf der Basis sowjetischer und osteuropäischer Quellen. Innsbruck – Wien – Bozen 2011, S. 7f. Stefan Karner – Natalja G. Tomilina – Barbara Stelzl-Marx, Vvedenie, in : Stefan Karner – Natalja G. Tomilina – Alexander O. Tschubarjan – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Venskij val’s
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Anhang
cholodnoj vojny (vokrug vstreči N.S. Chruščeva i Dž. F. Kennedy v 1961 godu v Vene). Dokumenty. Moskau 2011, S. 5–8. Stefan Karner, Österreich und die Invasion in die Tschechoslowakei 1968. Ein kurzer Überblick, in : David Schriffl – Niklas Perzi (Hg.), Schlaglichter auf die Geschichte der Böhmischen Länder vom 16. bis 20. Jahrhundert. Schriftenreihe der Waldviertel Akademie. Bd. 6. Wien – Berlin 2011, S. 361–365. Stefan Karner, Vita Severini. Der altehrwürdige Name wurde zum Programm, in : Pater Severin Seckau. Zum Achtzigsten Geburtstag von seinen Freunden. Seckau 2011, S. 34–36. Stefan Karner, The Council of Europe’s European Commission against Racism and Intolerance, in : Renate Kicker (Hg.), The Council of Europe. Pioneer and guarantor for human rights and democracy. Strasbourg 2010, S. 77–81. Günter Bischof – Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Introduction, in : Günter Bischof – Stefan Karner – Peter Ruggenthaler (Hg.), The Prague Spring and the Warsaw Pact Invasion of Czechoslovakia in 1968. The Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham – Boulder – New York – Toronto – Plymouth 2010, S. 3–34. Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Austria and the “Prague Spring”. Neutrality in the Crucible ?, in : Günter Bischof – Stefan Karner – Peter Ruggenthaler (Hg.), The Prague Spring and the Warsaw Pact Invasion of Czechoslovakia in 1968. The Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham – Boulder – New York – Toronto – Plymouth 2010, S. 419–439.* Bruno P. Besser – Walter M. Iber – Stefan Karner, Nordberg. Der Weg in den Weltraum. Zur Einleitung, in : Bruno P. Besser – Walter M. Iber – Stefan Karner (Hg.), Nordberg. Der Weg in den Weltraum. Beitragsband zu Symposium und Ausstellung in Fehring 2010. Graz – Fehring 2010, S. 17–21. Stefan Karner, Die Steuerung der ersten Großrakete. Zum Anteil der Firma Siemens an der Entwicklung des Aggregats 4 („V 2“), in : Bruno P. Besser – Walter M. Iber – Stefan Karner (Hg.), Nordberg. Der Weg in den Weltraum. Beitragsband zu Symposium und Ausstellung in Fehring 2010. Graz – Fehring 2010, S. 71–82. Stefan Karner, Der Versuch zur Lösung der Ortstafelfrage 2005/06, in : Was ist die Wirklichkeit wirklich ? 11. Symposion in der Reihe „Kunst und Gesellschaft“. Warmbad Villach, vom 9. bis 11. Juli 2009. Klagenfurt – Wien 2010, S. 145–166. Stefan Karner, Bilanz der Regierung Schüssel auf dem Gebiet der Restitution, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Stefan Karner – Dietmar Halper (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2009. Wien – Köln – Weimar 2010, S. 399–413. Stefan Karner – Philipp Lesiak – Heinrichs Strods, Vorwort, in : Stefan Karner – Philipp Lesiak – Heinrichs Strods (Hg.), Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck – Wien – Bozen 2010, S. 13–17. Stefan Karner, Vorwort, in : Peter Ruggenthaler – Walter M. Iber (Hg.), Hitlers Sklaven. Stalins „Verräter“. Innsbruck – Wien – Bozen 2010, S. 7–9. Walter M. Iber – Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Einleitung, in : Peter Ruggenthaler – Walter M. Iber, (Hg.), Hitlers Sklaven. Stalins „Verräter“. Innsbruck – Wien – Bozen 2010, S. 11–23. Stefan Karner, Zur Auslieferung der Kosaken und Vlasov-Kämpfer an die UdSSR, in : Peter Ruggenthaler – Walter M. Iber, (Hg.), Hitlers Sklaven. Stalins „Verräter“. Innsbruck – Wien – Bozen 2010, S. 281–287. Stefan Karner, NS-Rüstungsindustrie und technischer Fortschritt. Zum Anteil der Firma Siemens an der Entwicklung des Aggregates 4 („V2“), in : Wolfram Dornik – Johannes Gießauf – Walter M. Iber (Hg.), Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Innsbruck – Wien – Bozen 2010, S. 489–497. Stefan Karner, Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945, in : Historische Landeskom-
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mission für Steiermark (Hg.), Rutengänge. Studien zur geschichtlichen Landeskunde. Festgabe für Walter Brunner zum 70. Geburtstag. Graz 2010, S. 656–674. Stefan Karner, In Stalin’s Custody : The Soviet Camp System for Prisoners of War during and after World War II, in : Günter Bischof – Fritz Plasser – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), New Perspectives on Austrians and World War II. Contemporary Austrian Studies, Vol. 17. New Brunswick – London 2009, S. 121–134.* Stefan Karner, Die „Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“ des Europarates, in : politicum 108. 30. Jg. Graz 2009, S. 73–77. Stefan Karner, From Empire to Republic. Economic problems in a Period of Collaps, Reorientation and Reconstruction, in : Ministerstvo osvity I nauky Ukrajiny Černiveck’yj nacional’nyj universytet imeni Jurija Fed’kovyča – Fakul’tet istorii, politologiji ta mižnarodych vidnosin – Kafedra istoriji novogo ta novitn’ogo času (Hg.), Materialy. Minarodnoji naukovoji konferenciji (Černivci, 29–30 ovtnja 2008). Černivici 2009, S. 81–92. Stefan Karner, Kriegsfolgen. Einleitung, in : Siegfried Mattl – Gerhard Botz – Stefan Karner – Helmut Konrad (Hg.), Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft. Wien – Köln – Weimar 2009, S. 193f. Wolfram Dornik – Stefan Karner, Peredmova, in : V. Dornik – St. Karner (Hg.), Okupacija Ukraïny 1918 roku. Istoryčnyj kontekst – stan doslidženyja – ekonomični ta social’ni naslidky. Černivci 2009, S. 9f. Stefan Karner – Michal Stehlík, Einleitung, in : Stefan Karner – Michal Stehlík (Hg.), Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint. Beitragsband und Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009. Graz – Wien – Klagenfurt 2009, S. 21–23. Stefan Karner, Waffen für den Krieg. Rüstung in Österreich und Tschechien 1938 bis 1945, in : Stefan Karner – Michal Stehlík (Hg.), Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint. Beitragsband und Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009. Graz – Wien – Klagenfurt 2009, S. 178–185. Stefan Karner, Eine Landesausstellung lebt auch von den Begleitveranstaltungen, in : A min Laussegger – Reinhard Linke – Niklas Perzi (Hg.), Österreich. Tschechien. Unser 20. Jahrhundert. Begleitband zum wissenschaftlichen Rahmenprogramm der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009 „Österreich. Tschechien, geteilt – getrennt – vereint“. Wien 2009, S. 13f. Stefan Karner, Vom großen Handelsraum zum kleinen Exportland. Problemfelder des wirtschaftlichen Aufbaus in Österreich nach 1918, in : Armin Laussegger – Reinhard Linke – Niklas Perzi (Hg.), Österreich. Tschechien. Unser 20. Jahrhundert. Begleitband zum wissenschaftlichen Rahmenprogramm der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009 „Österreich. Tschechien, geteilt – getrennt – vereint“. Wien 2009, S. 23–27. Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Le “trattative” di Mosca, in : Santi Fedele – Pasquale Fornaro (Hg.), La Primavera di Praga. Quarant’anni dopo. Soveria Mannelli 2009, S. 69– 86. Stefan Karner, Der Krieg an der österreichisch-slowenischen Grenze 1991 und seine Folgen, in : politicum 109. 30. Jg. Graz 2009, S. 65–68. Stefan Karner, Das Buch gibt Hoffnung – das Wagnis ist gelungen, in : Josef Feldner – Marjan Sturm (Hg.), Kärnten neu denken. Zwei Kontrahenten im Dialog. Klagenfurt 2007, S. 249f. Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Stalin, Tito und die Österreichfrage. Zur Österreichpolitik des Kreml im Kontext der sowjetischen Jugoslawienpolitik 1945 bis 1949, in : Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008. Berlin 2008, S. 81–105.* Stefan Karner, GrenzenLos grenzenlos. Die Steiermark vor einer entscheidenden Weichenstellung, in : Steiermark : innovation : 2020. Graz 2008, S. 9f.
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Anhang
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Stefan Karner, Festansprache anläßlich des Sommertreffens der „Deutsch-Untersteirer“ in Eibiswald am 24. Juni 2001, in : Der Untersteirer, 3/2001, S. 1–6. Stefan Karner, Die sowjetische Justiz gegenüber Österreichern nach 1945 – am Beispiel von Karl Ortner, in : Norbert Weigl (Hg.), Faszination der Forstgeschichte. Festschrift für Herbert Killian. Wien 2001, S. 101–145. Stefan Karner, Bemerkungen zu einer Neupositionierung Österreichs gegenüber Ostmitteleuropa, in : Heinz Stingeder (Hg.), Zurück nach Europa – wie geht es weiter ? Wien 2001. Stefan Karner, Die Nachbarn rücken einander näher. Zum österreichisch-slowenischen Kulturabkommen 2001, in : Karl Anderwald – Peter Karpf – Hellwig Valentin (Hg.), Kärntner Jahrbuch für Politik 2001, Klagenfurt 2001, S. 271–276. Stefan Karner, Zur Geschichte der deutschen Minderheit in Slowenien seit dem Ersten Weltkrieg, in : Europa und die Zukunft der deutschen Minderheiten. Schriftenreihe Geschichte, Gegenwart und Zukunft der altösterreichischen deutschen Minderheiten in den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie. Bd. 1. Wien 2001, S. 19–27. Stefan Karner, „… Des Reiches Südmark“. Kärnten und die Steiermark im „Dritten Reich“ 1938–1945, in : Emmerich Tálos – Ernst Hanisch – Wolfgang Neugebauer – Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2000, S. 292–323. Stefan Karner, Im Archipel der Archive, in : Die Presse. Das Millennium – eine Bilanz. Sonderausgabe, 7.12.2000, S. 61. Stefan Karner, Ticket für EU-Ostöffnung, in : Die Brücke, Nr. 11. Klagenfurt 2000, S. 10–12. Stefan Karner, Die untersteirische Frage 1918/19, in : Die Kärntner Landsmannschaft, 9/10/2000, S. 56–63. Stefan Karner, Die Lagergruppe Stalingrad/Volgograd. Ein Überblick über das Lagersystem für ausländische Kriegsgefangene im Bereich Stalingrad/Volgograd, in : Günter Bischof – Rüdiger Overmans (Hg.), Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive. Ternitz-Pottschach 1999, S. 339–364. Stefan Karner, Der Archipel GUPVI. Das sowjetische Lagersystem für Kriegsgefangene und Internierte, in : Dittmar Dahlmann – Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Mülheim 1999, S. 261–265. Stefan Karner, Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager in Deutschland und in der Sowjetunion. Ansätze zu einem Vergleich von Lagern in totalitären Regimen, in : Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Köln – Weimar – Wien 1999, S. 387–411. Stefan Karner, Deutsche Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion 1941–1956, in : Rolf-Dieter Müller – Hans-Erich Volkmann, Die Wehrmacht. Mythos und Realität. München 1999, S.1012–1036. Stefan Karner, Die „Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“, in : Erika Weinzierl – Oliver Rathkolb – Siegfried Mattl (Hg.), Justiz und Fremdenfeindlichkeit. Symposion Justiz und Zeitgeschichte. 23. und 24. Oktober 1997 in Wien. Innsbruck 1999, S. 93–96. Stefan Karner, Integration und Desintegration in Ostmitteleuropa, in : Der Donauraum 1–2/1999. Wien 1999, S. 45–49. Stefan Karner, Die zum Opfer fielen, in : Horst Müller (Hg.), Der rote Holocaust und die Deutschen. Die Debatte um das „Schwarzbuch des Kommunismus“. München 1999, S. 74–79. Stefan Karner, Gefangen in Rußland, in : Öffentliches Stiftsgymnasium der Benediktiner in St. Paul im Lavanttal. Jahresbericht über das Schuljahr 1997/98, St. Paul 1998, S. 41–46. Stefan Karner, Zur Politik der sowjetischen Besatzungs- und Gewahrsamsmacht. Das Fallbeispiel Margarethe Ottillinger, in : Alfred Ableitinger – Siegfried Beer – Eduard G. Staudinger (Hg.) Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Wien 1998, S. 401–430.
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Stefan Karner, Kärnten im 20. Jahrhundert. Verwerfungen, Narben, Hoffnungen. Persönliche Erfahrungen und Wertungen, in : Helmut Rumpler (Hg.), Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945. Kärnten. Von der deutschen Grenzmark zum österreichischen Bundesland. Wien – Köln – Weimar 1998, S. 31–47. Stefan Karner, Die sowjetische Gewahrsamsmacht und ihre Justiz nach 1945 gegenüber Österreichern, in : Claudia Kuretsidis-Haider – Winfried R. Garscha (Hg.), Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945. Leipzig – Wien 1998, S. 102–129. Stefan Karner, Repressionen, Säuberungen, Deportationen, Vertreibungen, Morde. Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien, in : FAZ, 19.2.1998, S. 11. Stefan Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (GUPVI) und ihr Lagersystem 1941 bis 1956, in : Klaus-Dieter Müller – Konstantin Nikischkin – Günther Wagenlehner (Hg.), Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941–1956, Köln –Weimar 1998, S. 129–153. Sabine E. Gollmann – Stefan Karner, Kärntner Kriegsgefangene in der ehemaligen Sowjet union und ihre Rückkehr 1941 bis 1956, in : Carinthia I. Zeitschrift für geschichtliche Landeskunde von Kärnten. Klagenfurt 1998, S. 591–607. Stefan Karner, Verstorbene Kärntner Kriegsgefangene in der ehemaligen Sowjetunion 1941 bis 1956, in : Carinthia I. Zeitschrift für geschichtliche Landeskunde von Kärnten. Klagenfurt 1998, S. 609–632. Stefan Karner, Das Leid war unermesslich. Die Öffnung der russischen Archive erlaubt einen Blick auf das tausendfache Schicksal bei deutschen Kriegsgefangenen, in : FAZ, 3.8.1998, S. 8. Stefan Karner, Schuld und Sühne ? Der Prozeß gegen den Chef der Gendarmerie von Čerginov von 1941–1943 : Karl Ortner, in : Stefan Karner (Hg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945. Graz 1998, S. 159–178. Stefan Karner, Zur Entwicklung der deutschsprachigen Volksgruppe in Slowenien 1939– 1997, in : Andreas Khol – Günther Ofner – Alfred Stirnemann (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 1997. Wien – München 1998, S. 699–728. Stefan Karner, Der „Runde Tisch Kärnten“. Ein Beitrag zur Lösung der nationalen Frage in Kärnten, in : Karl Anderwald – Peter Karpf – Hellwig Valentin (Hg.), Kärntner Jahrbuch für Politik. Klagenfurt 1998, S. 175–182. Stefan Karner, Deutsche Kriegsgefangene und Internierte im Archipel GUPVI, in : Gabriele von Kamphausen (Hg.), Speziallager – Internierungslager. Berlin – Hohenschönhausen 1997, S. 14–35. Stefan Karner, Deutsche Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion 1941–1956, in : E. A. Poromonov u. a. (Hg.), Problemy voennogo plena. Istorija i sovremennost'. Materialy Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii. Bd. 2. Vologda 1997, S. 14–33. Stefan Karner, Das sowjetische Kriegsgefangenenwesen 1941–1956, in : Edmund Nowak (Hg.), Niemiecki i radziecki system jeniecki w latach II. wojny swiatowej. Opole 1997, S. 69–73. Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx, Radzieckie obozy jenieckie w latach 1941–1956 (Streszczenie), in : Niemiecki i radziecki system jeniecki w latach II wojy swiatowej. Podobienstwa i róznice. Opole 1997, S. 75–79. Stefan Karner, Austrian Prisoners of War and Their Work in Soviet Mines 1941 to 1956/ Die österreichischen Kriegsgefangenen und ihre Arbeit in den sowjetischen Bergwerken 1941–1956, in : Tillfried Cernajsek (Hg.), Das kulturelle Erbe in den Montan- und Geowissenschaften. 2. Erbe-Symposion. Leoben 1997, S. 107–118. Stefan Karner, Die deutsche Volksgruppe in Slowenien 1918 bis 1939. Aspekte ihrer Entwicklung, in : Karl Anderwald – Peter Karpf – Vladimir Smrtnik (Hg.), Kärnten–Doku-
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Anhang
mentation. Bd. 15. Sprachenminderheiten : Herausforderung und Chance. Volksgruppenkongress 1996 Egg am Faaker See. Klagenfurt 1997, S. 139–164. Stefan Karner, Österreicher in der Sowjetunion 1941–1956. Unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Kriegsgefangenen, in : Jahrbuch 1997 des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Wien 1997, S. 135–161. Stefan Karner, Lager in totalitären Systemen. Ein Vergleich, in : Arbeitskreis Militärgeschichte. Newsletter 5. Dezember 1997, S. 21f. Stefan Karner, Sovjetska glavna uprava za vojne ujetnike in internirance 1939–1953 in vprašanje Slovencev v ruskem ujetništvu, in : 3. Posvet. O nemški mobilizaciji Slovencev v 2. svetovni vojni. Maribor 1996, S. 8–10. Stefan Karner, Die österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten seit 1941, in : Irina Zielke – Rainer Zielke (Hg.), Ratgeber ’95. Familienforschung Mittel- und Osteuropa. Neustadt an der Aisch 1996, S. 140–144. Stefan Karner, GUPVI – L’Administration Centrale Sovietique pour prisonniers de guerre et internès – et ses functions en 1946, in : Francine-Dominique Liechtenhan (Hg.), Europe 1946. Entre le deuil et l’espoir. Bruxelles 1996, S. 87–107. Stefan Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte als Lagersystem für die österreichischen Kriegsgefangenen 1941 bis 1956, in : ÖGL 4–5a/1996, S. 263–285. Stefan Karner, Zu den ökonomischen Problemen 1945 in Österreich, in : Ernst Bezemek – Willibald Rosner (Hg.), Niederösterreich 1945 – Südmähren 1945. Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde. Bd. 21. Wien 1996, S. 79–85. Stefan Karner, „Stalingrad“ : Die Vergangenheit ausmessen, in : Vier Tage in Stalingrad. Wien 1996, S. 13f. Stefan Karner, Die untersteirische Frage 1918/19, in : Toleranz/Toleranca. Bedenken im Jahr der Toleranz 1920–1945–1955–1995. Arbeitsgemeinschaft Kärnten. Klagenfurt 1996, S. 45–56. Stefan Karner, Der Konflikt Rußland. Tschetschenien ist über 400 Jahre alt, in : Gerald Schöpfer (Hg.), Frieden – eine Utopie ? Alpen-Adria Friedenskonferenz 1995. Schriftenreihe der Arge für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Sdbd. 3/1996, S. 37–43. Stefan Karner, Österreichische Kriegsgefangene und Internierte im Archipel GUPVI, in : Gerhard Jagschitz – Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945– 1955. Wien 1995, S. 19–34. Stefan Karner, Verschleppt in die Sowjetunion. Margarethe Ottillinger, in : Gerhard Jagschitz – Stefan Karner (Hg.), Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945–1955. Wien 1995, S. 35–39. Stefan Karner, Zur Kärntner Bergbaugeschichte des 20. Jahrhunderts, in : Grubenhunt & Ofensau. Vom Reichtum der Erde. Landesausstellung Hüttenberg/Kärnten. Wissenschaftlicher Begleitband. Klagenfurt 1995, S. 193–203. Stefan Karner, Eisenverarbeitende Industriebetriebe Kärntens im 20. Jahrhundert, in : Grubenhunt & Ofensau. Vom Reichtum der Erde. Landesausstellung Hüttenberg/Kärnten. Wissenschaftlicher Begleitband. Klagenfurt 1995, S. 327–333. Stefan Karner, Die metallverarbeitenden Industriebetriebe in Kärnten im 20. Jahrhundert, in : Grubenhunt & Ofensau. Vom Reichtum der Erde. Landesausstellung Hüttenberg/ Kärnten. Wissenschaftlicher Begleitband. Klagenfurt 1995, S. 367–370. Stefan Karner, Strom als Basis für Bergbau und Industrie. Elektrizitätswirtschaft in Kärnten im 20. Jahrhundert, in : Grubenhunt & Ofensau. Vom Reichtum der Erde. Landesausstellung Hüttenberg/Kärnten. Wissenschaftlicher Begleitband. Klagenfurt 1995, S. 445–449. Stefan Karner, 1945. Die Steiermark vor 50 Jahren. Zur Einleitung, in : Dieter Dorner (Hg.),
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50 Jahre danach, 50 Schicksale. Kriegsende in der Steiermark. Graz – Wien – Köln 1995, S. 8–13. Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx, World War II prisoners of war in the Soviet Union economy, in : Bulletin du Comité international d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale. 1945. Consequences and Sequels of the Second World War. Montreal 1995, S. 191–201. Stefan Karner, GUPVI. The Soviet main administration for prisoners of war and interness during World War II, in : Bulletin du Comité international d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale. 1945. Consequences and Sequels of the Second World War. Montreal 1995, S. 177–189. Stefan Karner, Die Steiermark 1945, in : Neues Land 1995. Stefan Karner, Kriegsgefangenschaft, in : Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995. „Österreich – 50 Jahre Zweite Republik“, Linz 1995, Panel 9, S. 1. Stefan Karner, „Ich bekam 10 Jahre Zwangsarbeit“. Zu den Verschleppungen aus der Steiermark durch sowjetische Organe im Jahre 1945, in : Siegfried Beer (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955. Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark. Bd. 38. Graz 1995, S. 249–259. Stefan Karner, Verlorene Jahre. Deutsche Kriegsgefangene und Internierte im Archipel GUPVI, in : Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Kriegsgefangene – Voennoplennye. Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland. Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Düsseldorf 1995, S. 59–65. Stefan Karner, Für Rüstung und Wiederaufbau. Der Arbeitseinsatz der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und ihre Repatriierung, in : Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Kriegsgefangene – Voennoplennye. Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland. Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Düsseldorf 1995, S. 72–76. Stefan Karner, Wirtschaftliche Desintegration und Reintegration im ehemaligen Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, in : Othmar Pickl (Hg.), Zerfall und Integration. Internationale Studienreihe. Wien 1995, S. 204–213. Stefan Karner, 1945. Zusammenbruch und neuer Anfang. Nur ein Thema für die Alten ? in : Blick um Anger. Anger 1995, S. 6–8. Stefan Karner, Die Wirtschaftsminister der Zweiten Republik 1945–1995, in : Festschrift für Wolfgang Schüssel. Wien 1995, S. 20–24. Stefan Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte. Ein Zwischenbericht, in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/1994, S. 447–471. (A&HCI) Stefan Karner, Prisoners of War in the Economy of the Former Soviet Union. 1941–1945, in : University of Economics (Hg.), The System of Centrally Planned Economies in Central-Eastern and South-Eastern Europe after World War II and the Causes of its Decay, Eleventh International Economic History Congress. Prague 1994, S. 175–199. Stefan Karner, Die österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in der ehemaligen Sowjetunion seit 1941, in : Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik, 5/1994, S. 172– 176. Stefan Karner – Gertrude Kerschbaumer, Grazer Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Kriegsende 1945. Ein Zwischenbericht, in : Graz 1945. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 25. Graz 1994, S. 77–89. Stefan Karner, Ökonomische Kriegsfolgen : Abrüstung im Betrieb. Die Rüstungskonversion bei Steyr-Daimler-Puch, Werk Graz, 1945, in : Graz 1945. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 25. Graz 1994, S. 253–264. Stefan Karner, Vorwort, in : Johann L. Bogg, „Geraubt“. Zehn Jahre und ein Monat. Wien 1994, S. 5f.
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Stefan Karner, Zur Auslieferung der Kosaken an die Sowjets 1945 in Judenburg, in : Johann Andritsch (Hg.), Judenburg 1945 in Augenzeugenberichten. Judenburg 1994, S. 243–259. Stefan Karner, Nationalitätenprobleme im Staatsgebiet der ehemaligen Sowjetunion, in : Michael Geistlinger (Hg.), Dissonanzen in Europa. Der neue Nationalismus und seine Folgen. Wien 1994, S. 119–127. Stefan Karner, Die österreichischen Kriegsgefangenen und Internierten in der Sowjetunion seit 1941. Ein Forschungsvorhaben, in : G. Wagenlehner (Hg.), Stalins Willkürjustiz gegen deutsche Kriegsgefangene. Bonn 1993, S. 143–151. Stefan Karner, Kriegsgefangenschaft. Eine Spurensuche, in : Arche 2/1993, S. 20–22. Stefan Karner, Peter Rosegger und die Orientierung der steirischen NS-Kulturpolitik, in : Gerald Schöpfer (Hg.), Peter Rosegger 1843–1918. Graz 1993, S. 371–378. Stefan Karner, Im „Archiv der Tränen“. Ein Forschungsbericht zur Archivarbeit im Sonder archiv des Ministerrates der UdSSR Moskau, in : Steirischer Bauernkalender 1993. Graz 1992, S. 51–54. Stefan Karner, Die Grazer Wirtschaft der letzten 100 Jahre. Nach Ost-Mitteleuropa und zurück, in : Steirische Wirtschaftschronik, Bd. 1. Graz – Wien 1992, S. 165–245. Stefan Karner, Die Steiermark in der österreichischen Wirtschaft des 20. Jahrhunderts, in : Othmar Pickl (Hg.), 800 Jahre Steiermark und Österreich 1192–1992. Der Beitrag der Steiermark zu Österreichs Größe. Graz 1992, S. 527–560. Stefan Karner, Führungskräfte in der österreichischen Wirtschaft des 20. Jahrhunderts. Eine Projektskizze, in : Alois Brusatti (Hg.), Familienunternehmen. Wien 1992, S. 53–60. Stefan Karner, Österreichs Außenhandel im 20. Jahrhundert, in : 11. Internationales Wissenschaftliches Symposium Alpen-Adria (Handel). Graz 1992, S. 118–144. Stefan Karner, Wir sind in die Mitte gerückt. Wirtschaftshistorische Bemerkungen, in : Steirischer Bauernkalender 1992. Graz 1991, S. 49–51. Stefan Karner, Erfahrungen mit betrieblichem Aktenmaterial in sowjetischen und slowenischen Archiven, in : Archiv und Wirtschaft. Stuttgart 1991, S. 151–154. Stefan Karner, From Empire to Republic. Economic problems in a Period of Collaps, Reorientation and Reconstruction, in : John Komlos (Hg.), Economic Development in the Habsburg Monarchy and in the Successor States. Vol. II. East European Monographs. Boulder – New York 1990, S. 251–269. Stefan Karner, Zur NS-Sozialpolitik gegenüber der österreichischen Arbeiterschaft, in : Rudolf Ardelt – Hans Hautmann (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus. Wien – Zürich 1990, S. 255–264. Stefan Karner, Graz 1938, in : Christian Brünner – Helmut Konrad (Hg.), Die Universität und 1938. Wien – Köln 1990. Stefan Karner – Gerald Schöpfer, Einleitung, in : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach. Unserer Zeit Geschichte. Bd. 1. Graz 1990, S. 7–14. Stefan Karner, Problemfelder des wirtschaftlichen Aufbaus in Österreich 1918/19, in : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach. Unserer Zeit Geschichte. Bd. 1. Graz 1990, S. 67–78. Stefan Karner, Die untersteirische Unternehmerschaft 1917–1920. Kontinuitäten und Brüche, in : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach. Unserer Zeit Geschichte. Bd. 1. Graz 1990, S. 171–179. Stefan Karner, From Empire to Republic, in : Georges Castellan (Hg.), Les nationalités de l’Autriche-Hongrie et la paix de 1918–1919. Actes du colloque franco-autrichien. Paris 1990, S. 37–52. Stefan Karner, „Dieses Land ist wieder deutsch zu machen !“ Die Slowenen-Aussiedlung in den 1941 an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten, in : Steirischer Bauernkalender 1991. Graz 1990, S. 52–57.
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Stefan Karner, Österreich und der ehemalige Ostblock. Wirtschaftshistorische Bemerkungen, in : Herwig Ebner – Horst Haselsteiner – Inge Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Geschichtsforschung in Graz. Graz 1990, S. 311–314. Stefan Karner, Wasser für Strom. Zur Elektrifizierung von Graz und der Steiermark, in : Gerhard M. Dienes – Franz Leitgeb (Hg.), Wasser. Ein Versuch. Graz 1990, S. 149–155. Stefan Karner, Österreichs Handel 1913–1945, in : Gerald Schöpfer (Hg.), Menschen & Münzen & Märkte. Beitragsband und Katalog der Steirischen Landesausstellung 1989. Graz 1989, S. 191–206. Stefan Karner, Die Grazer Industrie 1938, in : Graz 1938. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 18/19. Graz 1988, S. 229–248. Stefan Karner, Bevölkerungsentwicklung, Sozialstruktur und Arbeitslosigkeit in Graz in den dreißiger Jahren, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 18/19. Graz 1988, S. 263–288. Stefan Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 1938 in Graz, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 18/19, Graz 1988, S. 381–438. Stefan Karner, „… des Reiches Südmark“. Kärnten und Steiermark im Dritten Reich 1938– 1945, in : Ernst Hanisch – Wolfgang Neugebauer – Emmerich Talos (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945. Wien 1988, S. 457–486. Stefan Karner, Die Schmidhütte Liezen in der deutschen Rüstung 1939–1945, in : Bestände „culturcentrum wolkenstein“, 13/1988, o. S. Stefan Karner, Peter Roseggers „Heimgarten“ nach dem Tode des Dichters (1918–1935), in : Uwe Baur – Gerald Schöpfer – Gerhard Pail (Hg.), „Fremd gemacht“ ? Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Wien 1988, S. 199–206. Stefan Karner, „Nahrung ist Waffe“. Die Steirische Landwirtschaft 1938–1945, in : Steirischer Bauernkalender 1988, S. 53–56. Stefan Karner, Elektrizität und Kohle, in : P. W. Roth (Hg.), Glas und Kohle. Katalog der Steiermärkischen Landesausstellung. Graz 1988, S. 73–82. Stefan Karner, Licht, Kraft und Wärme. Die Geschichte vom Strom, in : Glas und Kohle. Begleitinformation zur Landesausstellung. Graz 1988, S. 16f. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945, in : BlHK 1/1988, S. 21–25. Stefan Karner, Neues aus alter Zeit. Österreichs Stahlindustrie im Dritten Reich, in : Zeitschrift für die Herstellung und Verarbeitung von Eisen und Stahl, 16. Düsseldorf 1988, S. 86. Stefan Karner, Die untersteirische Frage 1918/1919, in : Walter Zitzenbacher (Hg.), Landeschronik Steiermark. Graz – Wien 1988, S. 298f. Stefan Karner, Vor 70 Jahren. Die Untersteiermark und ihre Abtrennung, in : Steirischer Bauernkalender 1989. Graz 1988. Stefan Karner, Das deutsche Element in der slowenischen Wirtschaft am Vorabend der Okkupation (1939–40). Tagungsreferat der österreichisch-jugoslawischen Historikergespräche. Ljubljana 1984, in : Festschrift Othmar Pickl zum 60. Geburtstag. Graz 1987, S. 257–272. Stefan Karner – Ingrid Kubin – Michael Steiner, Wie real war Mitteleuropa ? Zur wirtschaftlichen Verflochtenheit des Donauraumes nach dem Ersten Weltkrieg, in : VSWG 2/1987, S. 153–185. Stefan Karner, Wirtschaftlich-soziale Bedingungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus in Kärnten. Referat im Rahmen des DDR-Österr. Kulturabkommens in Leipzig 1986, in : Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Friedrich Hausmann zum 70. Geburtstag. Graz 1987, S. 299–308. Stefan Karner, Wirtschaft im Mürztal – Gedanken zu und aus ihrer Entwicklung, in : Neuberger Gespräche : Regionale Identität. Wien – Köln – Graz 1987, S. 73–85.
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Anhang
Stefan Karner, Zum Außenhandel zwischen Österreich und Ungarn in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Linz (1987). Linz 1987, S. 71–82. Stefan Karner, Der Luftkrieg gegen Graz 1944 im Drahtfunk, in : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz. Bd. 16/17. Graz 1986, S. 239–256. Stefan Karner, Zur Ausgabenstruktur einer österreichischen Kleinstadt am Beginn der Neuzeit (Bad St. Leonhard in Kärnten). Möglichkeiten beim Einsatz der EDV, in : Veröffentlichungen des Österreichischen Historikertages in Krems 1984. Wien 1986, S. 599–608. Stefan Karner, Erfahrungen mit Quantifizierung und EDV in der Lehre, in : Veröffentlichungen des Österr. Historikertages in Krems 1984. Wien 1986, S. 684–686. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich, in : Steirische Eb-Informationen 4/86, S. 2–7. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945, in : ÖGL 2/3 1986, S. 109–119. Stefan Karner, „Abrüstung“ im Betrieb. Eine Fallstudie : Die Umstellung von Rüstungs- auf Friedensproduktion bei der Steyr-Daimler-Puch AG, Werk Thondorf, 1945, in : Tagungsband des Syposiums der Interfakultären Kommission für Friedens- und Konfliktforschung. Graz 1986. Stefan Karner, Zur Entfernung deutschen Kapitals aus der österreichischen Industrie nach 1945. Das Fallbeispiel Leykam, in : Sebastian Meissl – Klaus-Dieter Mulley – Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945– 1955. Wien 1986, S. 129–136. Stefan Karner, Reflexionen zu 1945, in : Burgenländisches Landesmuseum (Hg.), Symposion im Rahmen der „Schlaininger Gespräche“. Eisenstadt 1986, S. 13–18. Stefan Karner, Grenzziehungsfragen der Republik Österreich nach den beiden Weltkriegen in ihrer ökonomisch-politischen Relevanz, in : Erich Zöllner (Hg.), Österreichs Erste und Zweite Republik. Schriften des Instituts für Österreichkunde, 47. Wien 1985, S. 17–42. Stefan Karner, Das Burgenland im Jahr 1945, in : Burgenländisches Leben, 1–2/1985, S. 20– 21. Stefan Karner, Das Burgenland im Jahr 1945. Gedenken zur Einführung, in : Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahr 1945. Beiträge zur Landes-Sonderausstellung. Eisenstadt 1985, S. 15–17. Stefan Karner, Burgenland 1945. Eine Bibliographie in Auswahl, in : Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahr 1945. Beiträge zur Landes-Sonderausstellung. Eisenstadt 1985, S. 308–320. Stefan Karner, Die Steiermark im Jahre 1945, in : steirische berichte, 3/1985, S. 4–6. Stefan Karner, Österreichische Marine- und Schiffahrts-Bibliographie 1975–1980, in : Festschrift Georg Zwanowetz. Innsbruck 1984, S. 198–235. Stefan Karner, Zur Ausgabenstruktur einer frühneuzeitlichen Kleinstadt in Österreich, Möglichkeiten beim Einsatz der EDV, in : VSWG, 3/1984, S. 357–376. Stefan Karner, Steirisches Eisen zwischen Wirtschaftskrise und Kriegskonjunktur (1914– 1945), in : Paul W. Roth (Hg.), Erz und Eisen in der Grünen Mark. Landesausstellung Eisenerz 1984. Graz 1984, S. 367–381. Stefan Karner, Erfahrungen mit der Quantifizierung und EDV in der Lehre, in : Manfred Thaller (Hg.), Die Praxis der Quantifizierung in der österreichischen Geschichtswissenschaft. Göttingen – Salzburg 1984, S. 24f. Stefan Karner, Die Integration des österreichisch-jugoslawischen Handels in den Welthandel 1929 und 1980, in : Tagungsband der österreichisch-jugoslawischen Historikergespräche, Ljubljana 1984. Stefan Karner, Quantifizierung und EDV-Einsatz in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Möglichkeiten und Grenzen. Referat auf dem 3. Symposium : Der Computer als Instrument der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Graz 1983, Kurzfassung im Symposium-Begleitband. Graz 1983, S. 16f.
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Stefan Karner, Gewerbe und Industrie in Graz-Jakomini zur Jahrhundertwende im Spiegel von Firmenmarken, in : 200 Jahre Pfarre Münzgraben. Festschrift. Graz 1983, S. 77–81. Stefan Karner, Naturwissenschafter und Techniker im Umfeld Erzherzog Johanns. Ansätze zu einer Lehrkörper-Struktur des Joanneums, in : Erzherzog Johann von Österreich. Beiträge zur Geschichte seiner Zeit. Graz 1982, S. 231–245. Stefan Karner, Die Eingliederung der österreichischen Montanindustrie in die deutsche Kriegsrüstung. Die Alpine Montan 1938–1945, in : Der Anschnitt, 33/1/1981, S. 17–30. Stefan Karner, Zur sozialen Lage der österreichischen Arbeiterschaft unter dem Nationalsozialismus, in : Aufrisse. Zeitschrift für politische Bildung, 2/3/1981, S. 27–35. Stefan Karner, Die Gußstahlwerke im Spiegel des Kriegstagebuches des Rüstungskommandos Graz. Zur Geschichte der Steirischen Gußstahlwerke AG von 1938–1945, in : Berichte des Museumsvereines Judenburg, H. 14. Judenburg 1981, S. 3–19. Stefan Karner, Josef Priebsch, in : Österreichisches Biographisches Lexikon, 38. Lieferung, 1981. Stefan Karner, Zwei elektrizitätswirtschaftliche Sonderabkommen von 1925/26. Ein Beitrag zu den österreichisch-jugoslawischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit, in : ZHVSt 1981, S. 175–190. Stefan Karner, Die Alpine Montan 1938–1945, in : Österreichischer Kalender für Berg Hütte Energie, 27. Jg. Wien 1981, S. 112–121. Stefan Karner, Arbeitsvertragsbrüche als Verletzung der Arbeitspflicht im „Dritten Reich“. Darstellung und EDV-Analyse am Beispiel des untersteirischen VDM-Luftfahrtwerkes Marburg/Maribor 1944, in : Archiv für Sozialgeschichte, 21. Bd. Bonn 1981, S. 269–328. Stefan Karner, Die Abtrennung der Untersteiermark von Österreich 1918/19. Ökonomische Aspekte und Relevanz für Kärnten und die Steiermark, in : Helmut Rumpler (Hg.), Kärntens Volksabstimmung 1920. Klagenfurt 1981, S. 254–296. Stefan Karner, 15 Jahre Žasopis za zgodovino in narodopisje 1965–1980, Neue Reihe, ein Literaturbericht, in : ZHVSt 1980, S. 151–161. Stefan Karner, Marine-Rüstung in Österreich 1938–1945, in : Blätter für Technikgeschichte. H. 39/40. Wien 1980, S. 81–135. Stefan Karner, Österreichs Rüstungsindustrie 1944. Ansätze zu einer Strukturanalyse, in : Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 25/3/1980, S. 179–206. Stefan Karner, Die Kohle und die Anfänge der steirischen Stromversorgung, in : Mitteilungen des Montanhistorischen Vereins für Österreich, 2/1980, S. 18–28. Stefan Karner, Die österreichische Alpine Montangesellschaft. Ihre Eingliederung in die Reichswerke Hermann Göring und in die deutsche Kriegsrüstung, in : Geschichte des Erzberggebietes. Leoben 1979, S. 105–131. Stefan Karner, Die Steuerung der V2. Zum Anteil der Firma Siemens an der Entwicklung der ersten selbstgesteuerten Großrakete, in : Technikgeschichte, Bd. 46. 1/1979, S. 45–66. Stefan Karner, Bemühungen zur Ausweitung der Luftrüstung im Dritten Reich 1940–1941. Die Flugmotorenwerke Ostmark und ihr Marburger Zweigwerk 1941–45, in : Zeitgeschichte, 6/9–10/1979, S. 318–345. Stefan Karner, Steirische Landwirtschaft vor und nach 1918, in : Neues Land v. 19.11.1978, S. 5 und vom 26.11.1978, S. 6f. Stefan Karner, Das Jahr 1918 als Wendepunkt für die Energiewirtschaft der Steiermark und Sloweniens, in : BlHk, 52/4/1978, S. 107–121. Stefan Karner, Der Plan einer geschlossenen Umsiedlung der Grödner in die Steiermark 1941, in : ZHVSt 1978, S. 113–123. Stefan Karner, Die Aussiedlung der Slowenen in die Untersteiermark. Ein Beispiel nationalsozialistischer Volkstumspolitik, in : ÖGL, 22/3/1978, S. 154–174.
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Anhang
Stefan Karner, Zur Industrialisierungsgeschichte Pannoniens, in : Südosteuropa-Mitteilungen, 18/4/1978. Stefan Karner, Das Draukraftwerk Faal/Fala und die Anfänge der modernen Industrialisierung Sloweniens ; Hidrocentrala Fala na Dravi i počeci moderne industrijalizycije Slovenije, in : Mogersdorf 78, S. 239–248. Stefan Karner, Gespräch mit Kurt Schuschnigg : „Ja, ja und nochmals ja“, in : Profil, Das unabhängige Nachrichtenmagazin, Nr. 47 v. 22.11.1977, S. 14f. Stefan Karner, Bibliographie Ferdinand Tremel. 1931–1976, Zusammengestellt von Stefan Karner, in : ZHVSt 1977, S. 14–24. Stefan Karner, Der Kampf zwischen „weißer“ und schwarzer Kohle. Zu den Anfängen einer gesamtsteirischen Elektrizitätswirtschaft, in : BlHk, 51/4/1977, S. 122–135. Stefan Karner, Freizeitproblematik heute am Beispiel Österreichs, in : Mensch und Freizeit. Wien 1977, S. 91–102.
Herausgegebene Reihen
1. Kriegsfolgen-Forschung. Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Graz – Wien – Klagenfurt (ab 2015 Graz – Wien – Raabs) (Hg. Stefan Karner) Bd. 8: Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943. „Österreich wieder herstellen“. Unter Mitarbeit von Dieter Bacher und Peter Ruggenthaler. Wien – Köln – Weimar 2015. Bd. 7 : Barbara Stelzl-Marx – Silke Satjukow (Hg.), Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland. Wien – Köln – Weimar 2015. Bd. 6 : Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innenansicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955. Wien – München 2012. Bd. 5 : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953. Unter Mitarbeit von Daniela Almer, Dieter Bacher und Harald Knoll. Wien – München 2009. Bd. 4 : Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Wien – München 2005. Bd. 3 : Hubert Speckner, In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“ 1939 bis 1945. Wien – München 2003. Bd. 2 : Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung. Wien – München 2001. Bd. 1 : Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Wien – München 1995.
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2. Unserer Zeit Geschichte. arlVeröffentlichungen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der K Franzens-Universität Graz (Hg. Stefan Karner – Gerald Schöpfer) Bd. 11 : Stefan Karner (Hg.), Festschrift in memoriam Karl W. Hardach unter Mitarbeit von Walter M. Iber. Graz 2016. Bd. 10 : Walter M. Iber, unter Mitarbeit von Harald Knoll, Erst der Verein, dann die Partei. Der steirische Fußball und seine Traditionsklubs im Nationalsozialismus. Graz 2016 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 29). Bd. 9 : Gerald Schöpfer – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Wirtschaft. Macht. Geschichte. Brüche und Kontinuitätsbruch im 20. Jahrhundert. Festschrift Stefan Karner. Graz – Wien 2012 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 23). Bd. 8 : Stefan Karner (Hg.), Wirtschaft & Geschichte & Politik. FS Gerald Schöpfer. Graz 2012. Bd. 7 : Stefan Karner – Heide Gsell – Philipp Lesiak (Hg.), Schloss Lannach 1938–1949. Graz 2008. Bd. 6 : Stefan Karner (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Gerald Schöpfer zum 60. Geburtstag. Graz 2004. Bd. 5 : Stefan Karner – Erich Reiter – Gerald Schöpfer (Hg.), Kalter Krieg. Beiträge zur Ost-West-Konfrontation 1945 bis 1990. Graz 2002. Bd. 4 : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945. Die Beiträge des Symposiums an der Universität Graz 1997. Graz 1998. Bd. 3 : Stefan Karner (Hg.), Die Stabsbesprechungen der NS-Zivilverwaltung in der Untersteiermark 1941–1944. Graz 1996. Bd. 2 : Gerald Schöpfer – Peter Teibenbacher, Graz seit 1945, Daten, Fakten, Kommentare. Graz 1995. Bd. 1 : Stefan Karner – Gerald Schöpfer (Hg.), Als Mitteleuropa zerbrach. Zu den Folgen des Umbruchs in Österreich und Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg. Graz – Wien 1990.
3. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung (Hg. Stefan Karner) Bd. 30 : Stefan Karner – Philipp Lesiak (Hg.), Der erste Stein aus der Berliner Mauer. Das paneuropäische Picknick 1989. Graz – Wien 2016. Bd. 29 : Walter M. Iber, Erst der Verein, dann die Partei. Der steirische Fußball und seine Traditionsklubs im Nationalsozialismus. Graz 2016 (= Unsere Zeit Geschichte Bd. 10). Bd. 28 : Stefan Karner (Hg.), Auf den Spuren Wallenbergs. Innsbruck – Wien – Bozen 2015. Bd. 27 : Stefan Karner – Philipp Lesiak (Hg.), Erster Weltkrieg. Globaler Konflikt – lokale Folgen. Neue Perspektiven. Innsbruck – Wien – Bozen 2014. Bd. 26 : Martin Eichtinger – Stefan Karner – Mark Krämer – Peter Ruggenthaler (Hg.), Reassessing History from two Continents. Festschrift Günter Bischof. Innsbruck 2013. Bd. 25 : Wolfram Dornik, Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf. Innsbruck – Wien – Bozen 2013. Bd. 24 : Stefan Karner – Walter M. Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“. Restitution und Entschädigung in Österreich. Die Bilanz der Regierung Schüssel. Innsbruck – Wien – Bozen 2015.
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Bd. 23 : Gerald Schöpfer – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Wirtschaft. Macht. Geschichte. Brüche und Kontinuitätsbruch im 20. Jahrhundert. Festschrift Stefan Karner. Graz – Wien 2012 (= Unserer Zeit Geschichte Bd. 9). Bd. 22 : Johannes Gießauf – Walter M. Iber – Harald Knoll (Hg.), Fußball, Macht und Diktatur Streiflichter auf den Stand der historischen Forschung. Innsbruck – Wien – Bozen 2013. Bd. 21 : Dieter Bacher – Stefan Karner (Hg.), Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihr Nachkriegsschicksal. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Ein Zwischenbericht. Innsbruck – Wien – Bozen 2013. Bd. 20 : Barbara Stelzl-Marx, Das Lager Graz-Liebenau in der NS-Zeit. Zwangsarbeiter – Todesmärsche – Nachkriegsjustiz. Graz 2012. Bd. 19 : Walter M. Iber – Peter Ruggenthaler (Hg.), Stalins Wirtschaftspolitik an der sowjetischen Peripherie. Ein Überblick auf der Basis sowjetischer und osteuropäischer Quellen. Innsbruck – Wien – Bozen 2011. Bd. 18 : Kriegsopfer- und Behindertenverband Österreich (Hg.), Redaktion : Maria Brandl, Verminte Kindheit. Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Graz – Wien 2015. Bd. 17 : Christoph H. Benedikter, Brennpunkt Berg-Karabach. Ein Konflikt gefriert. Hintergründe – Folgen – Auswege. Innsbruck – Wien – Bozen 2011. Bd. 16 : Stefan Karner – Philipp Lesiak – Heinrichs Strods (Hg.), Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck – Wien – Bozen 2010. Bd. 15 : Walter M. Iber, Die Sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich. Zur Vorgeschichte der OMV 1945–1955. Innsbruck – Wien – Bozen 2011. Bd. 14 : Peter Ruggenthaler – Walter M. Iber (Hg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Innsbruck – Wien – Bozen 2010. Bd. 13 : Stefan Karner – Armin Lausegger – Philipp Lesiak – Michal Stehlík (Hg.), Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint. Nachlese zur Niederösterreichischen Landesausstellung 2009. Graz – Wien – Klagenfurt 2009. Bd. 12 : Armin Laussegger – Reinhard Linke – Niklas Perzi (Hg.), Österreich. Tschechien. Unser 20. Jahrhundert. Begleitband zum wissenschaftlichen Rahmenprogramm der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009 „Österreich. Tschechien, geteilt – getrennt – vereint“. Graz – Wien 2009. Bd. 11 : Wolfram Dornik – Stefan Karner (Hg.), Die Besatzung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungsstand – wirtschaftliche und soziale Folgen. Graz – Wien– Klagenfurt 2008. Bd. 10 : Stefan Karner – Vjačeslav Selemenev (Hg.), Österreicher und Sudetendeutsche vor sowjetischen Militär- und Strafgerichten in Weißrussland 1945–1950. Avstrijskie i sudetskie nemcy pered sovetskimi voennymi tribunalami v Belarusi 1945–1950. gg. Graz – Minsk 2007. Bd. 9 : Barbara Hoffmann, Kriegsblinde in Österreich 1914–1934. Graz 2006. Bd. 8 : Stefan Karner – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), NS-Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Die Lapp-Finze AG in Kalsdorf bei Graz 1939 bis 1945. Graz 2004. Bd. 7 : Edith Petschnigg, Von der Front aufs Feld. Britische Kriegsgefangene in der Steiermark 1941–1945. Graz 2003. Bd. 6 : Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung – Weißrussisches Nationalarchiv u. a., Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges in den Staatsarchiven der Republik Belarus. Ein Nachschlagewerk. Graz 2001. Bd. 5 : Peter Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“. Sowjetische Zwangsarbeiter in Kärnten und der Steiermark. Graz 2001.
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Bd. 4 : Irina V. Bezborodova, Die Generäle des Zweiten Weltkrieges in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Graz – Moskau 1998. Bd. 3a : Edda Engelke, Niederösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Graz 1998. Bd. 3b : Sabine Elisabeth Gollmann, Kärntner in sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Graz 1999. Bd. 3c : Felix Schneider, Oberösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1941 bis 1956. Graz 2004. Bd. 3d : Wolfram Dornik – Michael Hess – Harald Knoll, Burgenländische Kriegsgefangene und Zivilverurteilte in der Sowjetunion 1941–1956. Eisenstadt 2007. Bd. 2 : Gerhard Jagschitz – Stefan Karner, „Beuteakten aus Österreich. Der Österreichbestand im russischen „Sonderarchiv“ Moskau. Graz 1996. Bd. 1 : Stefan Karner (Hg.), „Gefangen in Rußland“. Die Beiträge des Symposions auf der Schallaburg 1995. Redaktion : Renate Schönfeldinger. Graz 1995. Sdbd. 17 : Stefan Karner, Im Kalten Krieg der Spionage. Margarethe Ottillinger in sowjetischer Haft 1948–1955. Innsbruck – Wien – Bozen 2016. Sdbd. 16 : Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung. Interne sowjetische Analysen. Berlin 2015. Sdbd. 15 : Stefan Karner – Mark Kramer – Peter Ruggenthaler – Manfred Wilke et al. (Hg.), Der Kreml und die „Wende“ 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente. Innsbruck – Wien – Bozen 2014. Sdbd. 14 : Bernhard Bachinger – Wolfram Dornik (Hg.), Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten. Erfahrungen – Wahrnehmung – Kontext. Innsbruck – Wien – Bozen 2013. Sdbd. 13 : Wolfram Dornik – Georgiy Kasianov – Hannes Leidinger – Peter Lieb – Alexey Miller – Bogdan Musial – Vasyl’ Rasevyč, Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917–1922. Graz 2011. Sdbd. 12 : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Natalja Tomilina – Alexander Tschubarjan (Hg.), Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow. Innsbruck – Wien – Bozen 2011. Sdbd. 11 : Peter Sixl (Hg.), Sowjetische Tote des Zweiten Weltkrieges in Österreich. Namensund Grablagenverzeichnis. Ein Gedenkbuch. Unter Mitarbeit von Veronika Bacher und Grigorij Sidko. Graz – Wien 2010. Peter Siksl, Sovetskie graždane, pogibšie v Avstrii v gody Vtoroj mirovoj vojny, i mesta ich zachoronenija. Kniga pamjati. (2. erweiterte Auflage 2015). Sdbd. 10 : Peter Sixl (Hg.), Gedenkbuch der kasachischen Kriegstoten in Österreich. Astana – Graz – Wien 2010. Sdbd. 9/1 : Stefan Karner – Natalja Tomilina – Alexander Tschubarjan – Viktor Iščenko – Michail Prozumenščikov – Peter Ruggenthaler – Oldřich Tůma – Manfred Wilke (Hg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Beiträge. Köln – Weimar – Wien 2008. Sdbd. 9/2 : Stefan Karner – Natalja Tomilina – Alexander Tschubarjan – Viktor Iščenko – Michail Prozumenščikov – Peter Ruggenthaler – Oldřich Tůma – Manfred Wilke (Hg.). Unter Mitarbeit von Irina Kazarina, Silke Stern, Günter Bischof, Aleksej Filitov und Harald Knoll, Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Dokumente. Pražskaja vesna. Meždunarodnyj krizisnyj 1968g. 2. Dokumenty. Köln – Weimar – Wien 2008. Sdbd. 8 : Stefan Karner – Othmar Pickl (Hg.), Die Rote Armee in der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945. Graz 2008.
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Sdbd. 7 : Stefan Karner – Karl Duffek (Hg.), Widerstand in Österreich 1938–1945. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005. Graz – Wien 2007. Sdbd. 6 : Peter Sixl, Sowjetische Kriegsgräber in Österreich. Graz – Wien – Klagenfurt 2005. Sdbd. 5 : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Graz – Wien – München 2005. Sdbd. 4 : Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005. Sdbd. 3 : Harald Knoll – Peter Ruggenthaler – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Konflikte und Kriege im 20. Jahrhundert. Aspekte ihrer Folgen. Graz 2002. Sdbd. 2 : Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung – Weißrussisches Nationalarchiv u. a. (Hg.), „Ostarbeiter“. Weißrussische Zwangsarbeiter in Österreich. Dokumente und Materialien. Graz – Minsk 2003. Sdbd. 1 : Graz in der NS-Zeit 1938–1945. 2 Auflagen, Graz 1998/1999.
4. Österreichisches Jahrbuch für Politik (Hg. Günther Burkert-Dottolo – Stefan Karner – Andreas Khol – Günther Ofner, seit 2007 : Dietmar Halper – Stefan Karner – Andreas Khol – Günther Ofner) Österreichisches Jahrbuch für Politik, Wien. Seit 1999.
5. Voennoplennye vtoroj mirovoj vojny (Hg. Juri Afanasjev – Stefan Karner) Bd. 1 : Irina V. Bezborodova, Generaly Vermachta v plenu. Moskau 1998. Bd. 2 : Stefan Karner, Archipelag GUPVI. Plen i internirovanie v sovetskom sojuze 1941– 1956. Moskva 2002.
6. Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft (Hg. Gerhard Botz – Stefan Karner – Helmut Konrad – Siegfried Mattl) Bd. 1 : Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft. Wien 2008. Bd. 2 : Terror und Geschichte. Wien 2012. Bd. 3 : Räume der Gewalt (in Vorbereitung). Bd. 4 : Epochenbrüche im 20. Jahrhundert. Wien 2017.
Gutachten, Expertisen, Drehbücher u. Ä. (teilweise unveröffentlicht) Stefan Karner – Walter M. Iber, 111 Jahre Hasslacher. Geschichte eines Kärntner Unternehmens. Studie Graz 2012. Günter Düriegl – Stefan Karner, Das Haus der Geschichte der Republik Österreich. Abschlussbericht der Arbeitsgruppe des Hauses der Republik Österreich. Wien 2006. Walter M. Iber – Stefan Karner, Regionalzentrum Zeitgeschichte Österreich – Ungarn
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(Hochwolkersdorf). Ein wissenschaftlich-organisatorisches Vorkonzept. Unveröffentlichte Studie. Graz 2006. Peter Fritz – Stefan Karner, Die Stollenanlage Höhkogel. Zu den Luftschutzmaßnahmen von Böhler Kapfenberg 1943–1945. Graz 2003. Stefan Karner, Zur Beweislage der Kollektivschuldthese in den Wiedergutmachungsverfahren in Slowenien seit 1991. Die Mitgliedslisten des „Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes“. Gutachten im Auftrag des BMaA. Graz 2002 (intern). Stefan Karner, AVNOJ aus historischer Sicht. Gutachten im Auftrag des BMaA. Graz 2001. Stefan Karner – Harald Knoll, Österreicher in alliierter Hand 1945–1965. Zum Problemkreis einer zusätzlichen Entschädigungsleistung. Briefing book für Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer. Mitarbeit : Harald Knoll. Graz 2000. Stefan Karner – Harald Knoll, Der „Feliferhof“. Forschungsprojekt des BMLV/Büro für Wehrpolitik, durchgeführt vom Ludwig-Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung. Wien 2001. Stefan Karner – Manfried Rauchensteiner, Das Haus der Geschichte der Republik Österreich (HGÖ). Machbarkeitsstudie im Auftrag des BMUK. Graz – Wien – Klagenfurt 2000. Stefan Karner, Ausländische Arbeitskräfte im Werk Zeltweg der Alpine Montan. Graz 1999. Stefan Karner – Oliver Rathkolb, Wiedergutmachung und Restitution. Briefing book für Bundeskanzler Viktor Klima und Vizekanzler Wolfgang Schüssel. Graz – Wien 1998. Stefan Karner – Barbara Stelzl, Strafrechtssystem und Gerichtspraxis in der Sowjetunion 1941–1956. Teilstudie des Projektes „Die Nachkriegsgerichtsbarkeit als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung : Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich“. Unveröffentlichtes Manuskript. Graz 1998. Stefan Karner, Lager in totalitären Systemen. Ein Vergleich im Auftrag des österreichischen Bundesministeriums des Inneren. Graz – Wien 1996 (Manuskript). Stefan Karner, Der Österreichische Unternehmer im 20. Jahrhundert. Endbericht des Projektes der Österreichischen Nationalbank. Graz 1995 (Manuskript). Stefan Karner, „Verlorene Jahre“. Gefangen in der Sowjetunion. Drehbuch zur ORF/3-satFernseh-Dokumentation 1995. Stefan Karner, Österreichische Kriegsgefangene und Internierte in der Sowjetunion nach 1941. Endbericht des Pilot-Projektes des BMfWuF. Graz – Wien 1992 (Manuskript).
Festschriften Gerald Schöpfer – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Wirtschaft. Macht. Geschichte. Brüche und Kontinuitätsbruch im 20. Jahrhundert. Festschrift Stefan Karner. Graz – Wien 2012.
Abkürzungsverzeichnis ABÖK Antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener Abt. Abteilung a. D. außer Dienst AdBIK Archiv des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung AdR Archiv der Republik AEG Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft AG Aktiengesellschaft ALCO Allied Commission All. Alliierten Anm. Anmerkung Antifa Antifaschistische Bewegung außerordentlich a. o. Art. Artikel Auf. Auflage Antifašističko v(ij)eće narodnog oslobođenja Jugoslavije (AntifaschistiAVNOJ scher Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens) AVP RF Archiv Vnešnej Politiki Rossijskoj Federacii (Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation) BA Bundesarchiv BAM Bajkal-Amur-Magistrale Bd./Bde. Band/Bände bearb. bearbeitet BdO Bund deutscher Offiziere bes. besonders BGBI. Bundesgesetzblatt BIK Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung BKA Bundeskanzleramt Bl. Blatt Burgenländisches Landesarchiv BLA Blätter für Heimatkunde BlHk BMaA Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten BMfVuW Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung BNP Bruttonationalprodukt BRD Bundesrepublik Deutschland BTR Bronetransporter (gepanzerter Transporter) BZÖ Bündnis Zukunft Österreich bzw. beziehungsweise CA-BV Creditanstalt-Bankverein CA FSB Central'nyj Archiv Federal'noj Služby Bezopasnosti (Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes) CAMO Cental'nyj Archiv Ministerstva Oborony (Zentrales Militärarchiv) CChIDK Centr Chranenija Istoričeskoj Dokumental'noj Kollekcii (Zentrum für die Aufbewahrung historischer Sammlungen) CdZ Chef der Zivilverwaltung
Abkürzungsverzeichnis CGASA
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Central'nyj Gosudarstvennyj Archiv Sovetskoj Armii (Staatliches Zentralarchiv der sowjetischen Armee) ČGK Črezvyčajnaja Gosudarstvennaja Komissija (vollständiger Titel : Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden, die vom deutsch-faschistischen Okkupator und seinen Mittätern den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, Staatsunternehmen und Einrichtungen der UdSSR zugefügt wurden) Central'naja Gruppa Vojsk (Zentrale Gruppe der Streitkräfte) CGV CIA Central Intelligence Agency CIC Counter Intelligence Corps Central'nyj Komitet (Zentralkomitee) CK CO KG Compagnie Kommanditgesellschaft COMECON Council für Mutual Economic Assistance (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) Cold War International History Project CWIHP d. delo (Akt) DA / Dipl. Arb. Diplomarbeit dav. davon DDR Deutsche Demokratische Republik DDSG Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft DEF Disarmed Enemy Forces Ders. Derselbe dgl. dergleichen DGLR Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt d. h. das heißt Diplom Ingenieur Dipl.-Ing. Dir. Direktor ; Direktorin Diss. Dissertation Dok. Dokument DÖW Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes DP Displaced Person Dr. Doktor EAC European Advisory Commission (Europäische Beratende Kommission) ebd. ebenda ECRI European Commission against Racism and Intolerance em. ehemalig ERP European Recovery Program et alii/et aliae/et alia (und andere) et al. etc. et cetera (und so weiter) EUMC European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia EW Elektromechanische Werke GmbH EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft f. folgend F. Fond (Bestand) Fa. Firma FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FHQu Führerhauptquartier FO Foreign Office FPK Freiheitliche Partei Kärnten FPÖ Freiheitliche Partei Österreich
418 FPPL
Anhang
Frontovoj Priemno-Peresylnyj Lager' (Frontaufnahme- und Verteilungslager) FSB Federal'naja Služba Bezopasnosti (Föderaler Sicherheitsdienst) Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der RussiGARF schen Föderation) GEKADOS Geheime Kommandosache Gen. General Gen.-Obst. Generaloberst Gestapo Geheime Staatspolizei gez. gezeichnet gody (Jahre) gg. GKB Graz-Köflacher Bahn GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GnLt. Generalleutnant GOKO Gosudarstvennyj Komitet Oborony (Staatliches Verteidigungskomitee) Gossnab Gosudarstvennyj Komitet po materialno-techničeskomu snabženiju (Komitee für die materiell-technische Versorgung) Glavnoe Političeskoe Upravlenie (Politische Hauptverwaltung) GPU GRU Gosudarstvennoe Razvedyvatel'noe Upravlenie (Hauptverwaltung für Aufklärung) Glavnoe Upravlenie Lagerej (Hauptverwaltung für Lager) GULAG GUMZ Glavnoe Upravlenije Mest Zaključenija (Hauptverwaltung für Haftanstalten) Ob“edinennoe Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie (Vereinigte GUP staatliche politische Verwaltung) Glavnoe Upravlenie po delam Voennoplennych i Internirovannych GUPVI (Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten) GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUVD Gosudarstvennoe Upravlenie Vnutrennich Del (Hauptabteilung für innere Angelegenheiten) H. Heft HAP Heimat-Artillerie-Park Hg./hg. Herausgeber/herausgegeben HK Handelskammer Hptm. Hauptmann HVA Heeresversuchsanstalt HWA Heereswaffenamt Hz Hertz IMT International Military Tribunal ITK Ispravitel'no-trudovaja Kolonija (Besserungsarbeitskolonien) ITL Ispravitel'no-trudovoj Lager' (Besserungsarbeitslager) Jg. Jahrgang KAB Kärntner Abwehrkämpferbund KAN Klub angažovaných nestraníků (Klub engagierter Parteiloser) KGB Komitet Gosudarstvennoj Bezopasnosti (Komitee für Staatssicherheit) Kgf. Kriegsgefangene Kgr. Königreich KHD Kärntner Heimatdienst KIG Krainische-Industrie-Gesellschaft
Abkürzungsverzeichnis KONR
419
Komitet k osvoboždeniju narodov Rossii (Komitee zur Befreiung der Völker Russlands) KP Kommunistische Partei Kommunistische Partei der Tschechoslowakei KPČ KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPÖ Kommunistische Partei Österreichs Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KSZE Ktn. LReg Kärntner Landesregierung KTZ Kärntner Tageszeitung KW Kilowatt KZ Konzentrationslager LAbg. Landtagsabgeordneter Lg. Lager LGW Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde GmbH LH Landeshauptmann/frau LH-Stv. Landeshauptmann/fraustellvertreter Lit. Literatur Lkw Lastkraftwagen MA Militärarchiv Mag. Magister Masch. Habil. Maschinschriftliche Habilitationsschrift Mech. Mechanisierte MfS Ministerium für Staatssicherheit MGB Ministerstvo Gosudarstvennoj Bezopasnosti (Ministerium für Staatssicherheit) Ministerialrat Min. Rat MIÖG Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung MÖStA Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs MP Maschinenpistole MT Militärtribunal MVD Ministerstvo Vnutrennich Del (Ministerium für innere Angelegenheiten) NAbg. Nationalratsabgeordneter NATO North Atlantic Treaty Organization (Nordatlantikpakt) NE-Metalle Nichteisenmetalle NEP Novaja Ekonomičeskaja Politika (Neue Ökonomische Politik) NKFD Nationalkomitee Freies Deutschland Narodnyj Komissariat Gosudarstvennoj Bezopasnosti (VolkskommissaNKGB riat für Staatssicherheit) NKID Narodnyj Komissariat Inostrannych Del (Volkskommissariat für Verteidigung) NKO Narodnyj Kommissariat Oborony (Volkskommissariat für Verteidigung) NKOJ Nationalkomitees der Befreiung Jugoslawiens NKVD Narodnyj Kommissariat Vnutrennich Del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) nö. nordöstlich Nr. Nummer NS nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nw. nordwestlich
420
Anhang
NZZ Neue Züricher Zeitung o. D. ohne Datum o. g. oben genannt ohne Jahr o. J. o. O. ohne Ort o. S. ohne Seite OA Osobyj Archiv (Sonderarchiv) Österreichische Bundesbahn ÖBB ÖBM Österreichische Botschaft Moskau Obst. Oberst Osvobodilna Fronta (Befreiungsfront) OF ÖGL Österreich in Geschichte und Literatur OGPU Ob"edinennoe gosudarstvennoe političeskie upravlenie (Vereinigte Staatliche Politische Abteilung) Oral-History-Archiv des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und UnterOHA-WISOG nehmensgeschichte Graz OHI Oral-History-Interview ÖJbfPol Österreichisches Jahrbuch für Politik OKH Oberkommando des Heeres Oberkommando der Wehrmacht OKW ÖMZ Österreichische Militärische Zeitschrift OMV Österreichische Mineralölverwaltung op. opis' (Verzeichnis) Osobyj Rabočij Batal'on (Arbeitssonderbataillone) ORB ORF Österreichischer Rundfunk OROP Handels-Aktiengesellschaft für Erdölprodukte österreichischer und russischer Provenienz Otdel Rozičnoj Torgovli (Abteilung für Einzelhandel) ORT OSO Osoboe Soveščanie (Sonderkollegium) Office of Strategic Services OSS ÖStA /AdR Österreichisches Staatsarchiv /Archiv der Republik ÖVP Österreichische Volkspartei Odjeljenje za zaštitu naroda (Abteilung zum Schutz des Volkes) OZNA Phil. Philosophiae POEN Provisorisches Österreichisches Nationalkomitee PPV Priemnyj Punkt Voennoplennych (Kriegsgefangenenaufnahmelager) PRO Public Record Office Prof. Professor RAD Reichsarbeitsdienst RAVAG Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft RF Rossijskaja Federacija (Russische Föderation) RGAE Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ekonomiki (Russisches Staatliches Wirtschaftsarchiv) RGANI Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii (Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte) RGASPI Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social' no—Političeskoj Istorii (Russisches Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte) RGGU Rossijskij Gosudarstvennyj Gumanitarnyj Universitet (Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität)
Abkürzungsverzeichnis RGVA
421
Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv (Russisches Staatliches Militärarchiv) RKFDV Reichskommissar für die Festlegung deutschen Volkstums RLM Reichsluftfahrtministerium RM Reichsmark ROA Russkaja Osvoboditel'naja Armija (Russische Befreiungsarmee) RSFSR Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) RüIn Rüstungsinspektion russ. russisch S. Seite SA Sturmabteilung SAM Siemens Apparate- und Maschinenbau GmbH SANAPHTA/Sanafta Sowjetisch-österreichische Erdölverwaltung SBZ Sowjetische Besatzungszone SD Sicherheitsdienst Sdbd. Sonderband SDI Strategic Defence Initiative SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Surrended Enemy Personnel SEP SHAEF Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force SHS (Königreich) der Serben, Kroaten und Slowenen slow. slowenisch SMERSCH/Smerš Smert' špionam (Spionageabwehr ; wörtlich : „Tod den Spionen“) SMV Sowjetische Mineralölverwaltung Sbor národní bezpečnosti (Korps der Nationalen Sicherheit) SNB SNU Sovetskoe Neftjanoe Upravlenie v Avstrii (Sowjetische Erdölverwaltung in Österreich) sö. südöstlich Sowi-DA Sozialwissenschaftliche Diplomarbeit sowj. sowjetisch SPÖ Sozialistische Partei Österreichs SS Schutzstaffel SSR Sozialistische Sowjetrepublik SSSR Sojus Sovetskich Socialističeskich Respublik (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) St. Sankt ; Stück Stapo Staatspolizei Stasi Staatsicherheitsdienst Steweag Steirische Wasserkraft- und Elektrizitäts-AG StGB Strafgesetzbuch Stv. Stellvertreter SU Sowjetunion SVAG Sovetskaja Voennaja Administracija v Germanii (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) sw. südwestlich TH Technische Hochschule u. und u. a. unter anderem / und andere UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
422
Anhang
Uk unabkömmlich Univ. Universität UNO United Nations Organisation Food and Agriculture Organization of the United Nations UNO-FAO UNRRA United Nations Relief and Rehabilitation Administration UPVI Upravlenie po delam Voennoplennych i Internirovannych (Verwaltung für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Internierten) United States US USA United States of America USIA Upravlenie Sovetskim Imuščestvom v Avstrii (Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich) Upravlenie Vnutrennich Del (Abteilung für innere Angelegenheiten) UVD v. vom v. a. vor allem V2 Vergeltungswaffe 2 VD veneral disease VDI Verein Deutscher Ingenieure VDM Vereinigte Deutsche Metallwerke VdU Verband der Unabhängigen Veröff. Veröffentlichung VfGH Verfassungsgerichtshof VfZ Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte vgl. vergleiche VKP(b) Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (bolševikov) (Kommunistische Allunionspartei [der Bolschewiken]) Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte VSWG Wifo. Institut für Wirtschaftsforschung wiss. wissenschaftlich ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZHVSt Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark Zit./zit. Zitat/zitiert ZK Zentralkomitee
Personenregister Abakumov, Viktor S. 36, 59, 126, 163, 171 Achmatova, Anna 91 Adamovich, Ludwig 293 Adenauer, Konrad 186, 189 Ahrer, Jakob 327 Aksjonov 179 Altmann, Karl 147 Altvater, Karl Otto 355f., 366 Andrian, Leopold von 320 Andropov, Jurij V. 201, 203f., 219, 227f. Antonov, Aleksej 101f. Apold, Anton 328f. Auernheimer, Raoul 320 Augustin, Karl 61, 153 Ausserwinkler, Hans 289 Bacque, James 19 Bajkov, Ivan I. 111f. Baron, Hans 260f. Bartoszewski, Władysław 271 Batista, Fulgenico 193 Behrens, Christl 184 Belousov, Boris M. 234 Beneš, Edvard 271, 276 Berger, Susanne 173 Berghaus, Bernhard 139 Berija, Lavrentij P. 20f., 91, 114, 153 Bieber, Robert 343 Biľak, Vasil' 206 Binder, Ludwig 328, 343 Birjuzov, Sergej S. 111 Birštein, Vadim 173 Bischof, Günter 81f., 187 Bismarck, Otto von 49 Böhmer, Josef 63 Boykow, Josef Maria 351–356 Brauchitsch, Walther von 365 Braun, Wernher von 349, 351, 356, 358, 363–365 Brenner, Inge 131 Brežnev/Breschnew, Leonid I. 92, 197, 199–203, 205–207, 210, 218–221, 227f., 233
Broch, Hermann 320 Bührlen, Hermann 329 Bulganin, Nikolaj A. 138 Bürckel, Joseph 304, 306f. Burlackij, Fedor 194 Burz, Ulfried 254 Bush, George H. W. 239, 241 Čajkovskij, Anatolij St. 82 Castro, Fidel 189, 193 Ceauşescu, Nicolae 206, 239 Černyšev, Vasilij V. 21 Černík, Oldřich 198 Chabarov, Oberstleutnant 149 Christoforov, Vasilij 173 Churchill, Winston 85, 98, 105, 165 Chruschtschow/Chruščev, Nikita S. 17f., 36, 59, 77, 91f., 94, 126, 187f., 190–195, 197, 210, 217f. Chruščev, Sergej 210 Cox, Arthur 74 Culk, Raimund 344 Čurbanov, Jurij 221 Daimer, Irmgard 184 Dadieu, Armin 261, 329 Danneberg, Robert 308 Dement'ev, Petr V. 222 Didenko, Andrej I. 74 Dimitrov, Georgi 102f. Dobernig, Harald 297 Dollfuß, Engelbert 329 Domanov, Timofej I. 103, 163 Domej, Theodor 251 Dörfler, Gerhard 285, 297f. Dornberger, Walter 351, 353f., 356, 364f., 369 Dostert, Paul 81 Dottolo, Reinhold 296 Drews, Karl 315 Drobesch, Werner 252 Dubček, Alexander 197–202, 204–207 Duka, Michail I. 111
424 Dundovich, Elena 82 Dürmayer, Heinrich 128f. Eden, Anthony 98 Efisov, General 74 Eichholzer, Herbert 315 Eichinger, Hans 57 Eichmann, Adolf 312 Einsiedel, Heinrich von 49 Einspinner, August 327 Eisenhower, Dwight D. 369 Elste, Alfred 255 Erbida, Franz 344 Esch, Arno 179 Falasi, Lajos 57 Falin, Valentin 224 Faymann, Werner 297f. Fechner, Franz 183 Fedorčuk, Vitalij V. 111 Fedorov, Michail F. 112 Feldner, Josef 292–294, 296f. Feltl, Peter 74 Ferrero-Waldner, Benita 272, 282 Fieber, Karl Wilfried 349, 351, 353, 355– 357, 359–367 Figl, Leopold 127, 134, 146–148, 154 Filipič, Johann 255 Fillipov, Taras F. 41 Fischel, Eduard 354–356 Fischer, Alexander 81 Fischer, Ernst 49f., 103, 320 Fischer, Heinz 297 Florin, Peter 201 Forman, Milos 200 Fräss-Ehrfeld, Claudia 246, 251, 292 Franz, Albrecht 139 Franz, Viktor 326, 329 Frick, Karl 52, 261 Friediger, Charles (Karl) B. B. 74 Funk, Walther 330, 341 Gagarin, Jurij Alekseevič 188 Gaidar, Egor 219 Galickij, Vladimir P. 21, 25, 36 Gauck, Wilhelm Joachim 175–182, 184–186 Gaulle, Charles de 189f.
Anhang Gföllner, Johannes Maria 307 Gievers, Johannes G. 352f. Gigler, Karl 326 Ginzburg, Semen Z. 138 Ginzkey, Karl 306 Girej-Kłucz, Sultan 113 Giusti, Maria T. 82 Grünszpan, Herschel 312 Geschwinder, Alois 314 Glagolev 104 Glöckel, Walther 377 Goglidze, S. 75 Gomułka, Władysław 198, 200f., 203–206 Gorelow, Evgenij P. 177 Gori, Francesca 82 Göring, Hermann 312 Gorbach, Alfons 192 Gorbatschow, Michail S. 92, 170, 172, 198, 209, 212, 220, 224, 226–230, 232–241 Goldstücker, Eduard 200, 202 Graf, Ferdinand 129, 146 Graham, Patrick L. 161 Grečko, Andrej 203–205 Grišin, Viktor 219 Gromov, Boris 104, 226 Gromyko, Andrej A. 192, 201 Gruber, Franz 123 Grünberg, Martin 55, 57 Gspandl, Michael 329 Gusenbauer, Alfred 295, 297 Gutschy, Georg 52 Haar, Rudolf 139 Haas, Hanns 251 Haas, Karl 68 Haase, Otto 344 Habelsberger, Wilhelm 329 Hadermann, Ernst 48 Haider, Jörg 292–298 Hainisch, Michael 307 Hänisch, Dirk 255 Hartl, Susanne 255 Havel, Václav 197 Hefters, Adam 253 Heinl, Eduard 141 Hejzlar, Zdenek 206 Helmer, Oskar 128f. Herzl, Theodor 320
Personenregister Herzog, David 303, 312 Hess, Viktor Franz 322 Hierl, Konrad 318 Hilger, Andreas 81 Hitler, Adolf 48, 63, 225, 257–259, 262, 303–306, 308, 310, 313f., 318, 321, 350f., 365, 367 Himmler, Heinrich 261, 263 Höfler, Ludwig 344 Honecker, Erich 240 Honner, Franz 57 Hunger, Johann 52 Hüter, Hans 356 Hütter 57 Iber, Walter M. 156 Innitzer, Karl Theodor 307 Inzko, Valentin 292, 298 Ivanova, Sveta 91 Ivašutin, Petr I. 75 Jachs, Josef 52 Jakubovskij, Ivan I. 199 Jager, Friedrich 184 Jaindl, Alois 344 Jakovlev, Aleksandr N. 172, 234 Janko, Vladimir 198, 251 Jaruzelski, Wojciech 228 Jaskulski, Karl 183 Jaus, Hermann 52 Jausz, Fritz 255 Jelzin, Boris 234 Jiras, Erich 52 Jobst, Vinzenz 255 Johann, Erzherzog 268, 326 Johannes Paul II. 241 Jost, Johann 329 Kádár, János 203, 205f. Kafka, Helene 314 Kaus, Gina 320 Karbe, Willy 181–184 Kassar, Albin 320 Kassar, Albin 344 Kattnig, Hannes 255 Kautsky, Karl 101 Kavan, Jan 282 Kazakov, Konstantin P. 111f.
Kennedy, Jackie 192 Kennedy, John F. 187–195 Kennedy, Rose 192 Keynes, John M. 152 Kidrič, Boris 269, 274 Kinikowski, Benno 184 Kinikowski, Eva 183 Kiridus, Franz 127–130 Kirsanov, Petr S. 111 Kirschhofer, Andreas 52 Kiselev, Evgenij D. 104, 121, 141, 145f. Klavdiev, Viktor V. 166 Klein 356 Kloepfer, Hans 268, 306 Knausmüller, Erwin 48f. Knotz, Alois 344, 346 Kobulov, Amjak S. 41, 56 Kočetkov, M. A. 112 Kohl, Helmut 241 Kohout, Pavel 197, 202 Konasov, Wladimir B. 82 Konev, Ivan S. 111f., 117, 140, 145, 154 Koplenig, Johann 49, 103, 147, 154 Koptelov, Michail E. 145 Koretko, Hauptmann 74 Koršunov 112 Koschat, Michael 255 Kostylev, Vladimir I. 112 Kosygin, Aleksej N. 202 Kotel'nikov 112 Krasnov, Petr N. 113, 164 Krauland, Peter 73f., 125 Kreisky, Bruno 289f., 298 Kretzmann, Edwin M. J. 74 Kreuz, Rudolf Jeremias 320 Kriebernik, Leo 64–70 Kriegel, Frantisek 198 Krjučkov, Vladimir A. 240 Kroll, Hans 193 Krüger, Anatol 170 Krüger, Otto 181f. Kruglov, Sergej N. 21, 29, 57 Krupp, Arthur 139, 142 Kührer, Rudolf 52 Kulagin, Georgij A. 74 Kummer, Franz 315 Kunio, Saito 82 Kurasov, Vladimir V. 111, 141
425
426
Anhang
Kutschera, Franz 258f., 262 Kuz'minych, Aleksandr L. 82 Larsson-Naucke, Lars 181f., 184 Lebahn, Axel 233f. Lebau 184 Leifhelm, Hans 320 Lemberger, Ernst 101 Lemmer 181, 183 Lerpscher, Michael 315 Ley, Robert 261 Liberman, E. G. 217f. Lipp, Carl 329 Ljusov, Hauptmann 74 Lobisser, Suitbert 268 Loewi, Otto 303f., 322 Lorenz, Konrad 50, 315 Lukesch, Anna 320 Lumumba, Patrice 188 Lun'kov, Nikolaj 145 Lurker, Otto 261 Luschin, Berta 255 Machold, Reinhard 161, 377 Macmillan, Harold 189, 195 Malenkov, Georgij M. 138, 143 Malinovskij, Rodion Ja. 105, 169 Malle, Avguštin 252 Marek, Anton 63, 127–130 Maslennikov, Ivan 21 Masljukov, Jurij D. 224 Mayenburg, Ruth von 50f. Mazowiecki, Tadeusz 240 Mazurov, Kirill 202, 204 McCreery, Richard 160 Medunov, Sergej 221 Menglini, Fritz 52 Merkulov, Oberstleutnant 144 Metzger, Maximilian J. 315 Miklós, Béla 102 Mindszenty, József 77 Mironov 179 Molden, Fritz 101 Möller, Waldemar 365 Molterer, Wilhelm 296f. Molotov, Vjačeslav M. 121, 140f., 146, 171 Moore, Bob 82 Moritsch, Andreas 249, 251
Morré, Jörg 81 Mörth, Rudolf 344 Motrevič, Vladimir 82 Müller, Klaus-Dieter 81 Müller-Haccius, Otto 258 Naftali, Tim 195 Nećak, Dušan 251 Németh, Miklós 240 Neuhold, Josef 315 Neumann, Robert 320 Neumann, Wilhelm 25, 295 Nikičenko, Oberleutnant 108 Novotný, Antonin 197f., 201, 203 Ochman, N. P. 111 Ogris, Alfred 251, 295 Opier, Oberst 181, 183 Ostermayer, Josef 285, 298 Ottillinger, Margarethe 63, 73–75, 91, 125–127, 130, 132, 383 Overmans, Rüdiger 81 Paar, Anton 344 Pacher, Franz 297 Pammer, Maximilian 128 Pannwitz, Hellmuth von 62, 113, 163f. Papesch, Josef 257, 305 Pavel, Josef 198 Pawlikowski, Ferdinand 303, 307 Pelikán, Jiří 202, 206 Perkonig, Josef Friedrich 264, 306 Peter II. 272 Peterlunger, Oswald 128 Petrov, Ivan A. 29, 41, 58 Petrov, Nikita 82 Pfeiler, Johann 315 Picej, Leopold 315 Pichler, Christian 256 Pieck, Wilhelm 49 Piller, Kapistran 315 Pirchegger, Hans 257 Piterskij, Oberst 144 Pius XI. 307 Plassnik, Ursula 297 Pleterski, Janko 251 Poketz, Lorenz 315 Pohl, Heinz-Dieter 254
Personenregister Polinskij, Hauptmann 74 Polišenská, Milada 82 Poljan, Pavel 82 Polland, Rudolf 257 Popelka, Gottfried 52 Portschy, Tobias 305 Powers, Garry 128, 188 Prangl, Karl 329 Prichodko, Major 125 Primosch, Walter 291 Pseiner, Thomas 256 Pumpernig, Eduard 315 Putin, Vladimir V. 172 Raab, Julius 141, 146 Rachow, Otto-Heinz 184 Radley, Arthur 161 Rainer, Friedrich 261, 263, 265 Rajk, László 77 Rakowski, Mieczysław 240 Raming, Walter 291 Rasdorskij, Oberst 58 Rathleitner, Jakob 343 Rattek, Robert 329 Reagan, Ronald 225, 229 Renner, Karl 101–106, 108, 117, 144f., 148, 154, 161, 306–308 Restituta, Schwester 314 Ribar, Ivan 272 Rieckh, Franz 342f. Riedel, Klaus 356 Rohracher, Andreas 264 Rösche, Wilhelm 377f. Rosenberg, Karl 184 Rösener, Erwin 263 Rosegger, Peter 268 Rossijanov, Generalleutnant 138 Rossner, Karl 377 Ruf, Josef 315 Rumpler, Helmut 246, 251 Rupel, Dmitrij 297 Rusk, Dean 192 Ryžkov, Nikolaj I. 229f., 232 Ryznar, Richard 377 Sacharov, Andrej 41, 228 Sadovnik, Bernard 224 Šatalin, Stanislav S. 233
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Sattler, August 342f. Sauer, Manfred 296 Sauerbaum, Georg 184 Sauerwein, Johann 52 Ščelbanin, G. A. 112 Ščelokov, Nikolaj 221 Schärf, Adolf 154 Schaunig, Gaby 195 Scheuch, Harald 298 Scheuch, Uwe 297 Schewardnadse/Ševardnadze, Eduard 241 Schick, Wilhelm 261 Schimmer, Adalbert 177, 183f. Schleich, Josef 312 Schnitzer, Johannes 297 Schlögl, Anton 57 Schmid-Schmidsfelden, August 329 Scholz, Roman 314 Schrödinger, Erwin 303, 322 Schubert, Willi 267 Schumy, Vinzenz 146 Schuschnigg, Kurt 303, 328 Schüssel, Wolfgang 11, 272, 293–295, 298f. Schwarz, Alois 296 Schwarz, Karl–Peter 277 Schweizer, Carl 64 Schweizer, Hans 64 Schwitz, Gerda 184 Schwitz, Ludwig 184 Sedlak, Hugo 52 Seidel, Hans 153, 156 Seidler, Franz 329 Šelest, Petro 204 Setscheny, Alfred 315 Seydlitz-Kurzbach, Walther von 49 Seyß-Inquart, Richard 79, 303f. Šik, Ota 202 Sima, Hans 289 Sittenberger, Hans 268 Skorikov, Grigorij P. 112 Škuro, Andrej G. 164 Slánský, Rudolf 77 Šlemin, Ivan T. 111f. Sljunkov, Nikolaj N. 234 Slobočan, D. Ja. 112 Smrkovský, Jozef 198 Smirnov, Andrej 145 Smolle, Karel 298
428
Anhang
Sokolov, Viktor 219 Soprunenko, Petr K. 21 Sorensen, Theodore 192 Sosnov, Hauptmann 177, 179 Speer, Albert 159, 267, 325, 341, 369, 374 Spindelegger, Michael 297f. Stadler, Albert 52 Stalin, Josef 17f., 23, 36, 41f., 45, 51f., 59, 70, 81, 83, 86, 91, 97f., 100–106, 111, 114, 126, 138, 143–145, 155, 158f., 161, 171, 175, 183, 186, 191, 197, 217 Stark, Hans 329 Stark, Tamás 82 Stecker, Willi 184 Steininger, Rolf 81 Steindl, Franz 261 Štemenko, Sergej 101f. Stepan, Karl Maria 327 Stergar, Janez 248 Stern, Leopold 57 Strafella, Franz G. 329 Streicher, Julius 310 Stritzl, Heinz 291, 294 Stockinger, Fritz 329 Strohmeier 53 Strutz, Herbert 268 Stuckart, Wilhelm 258 Stuhlpfarrer, Karl 251 Sturm, Marjan 289, 292, 294, 296 Šubin, Aleksandr V. 235 Suchanov 180 Suržikova, Natalja V. 82 Suslov, Michail A. 203f. Sviridov, Vladimir Petrovič 111 Sviták, Ivan 206 Svoboda, Ludvík 198, 207 Thompson, Llewellyn E 191, 193 Tichonov, Nikolaj A. 229 Tito, Josip Broz 206, 269, 272, 285 Todt, Fritz 267, 341 Tolbuchin, Fedor I. 103–106, 145, 154 Torberg, Friedrich 320 Trebugov, Nikolaj 221 Treiber, Josef 344 Trojanovskij, Oleg 195 Tropper, Peter 255 Trümmer, Ernst 17
Trümmer, Rolph 327 Tschernjajew/Černjaev, Anatolij 239 Tschinkel, Otto 184 Tse-Tung, Mao 190, 199 U Thant, Sithu 206 Ude, Johannes 306, 312 Ude, Lojze 251 Uiberreither, Sigfried 258f., 261–263, 265, 306, 312 Ulbricht, Walter 49, 198, 203–206 Unterberger, Hans 52 Ušakov, Ivan 177, 179 Van der Bellen, Alexander 297 Vaculík, Ludvík 200 Valentin, Hellwig 251 Vartanov, Valerij 82 Vilhar, Nada 255 Vlasov, Andrej A. 62, 163 Vogler, Arthur 75 Wadl, Wilhelm 251 Wagenlehner, Günther 81 Waggerl, Karl-Heinrich 306 Waldinger, Ernst 320 Wall, Alfred 344, 346 Wallenberg, Raoul 169–173 Wallner, Stefan 63 Walzl, August 251 Wastian, Heinrich 327 Weinert, Wilhelm 49 Weir, C. E. 160 Weiss, Franz 315 Wilkinson, Alexander C. 161 Wilscher, Heide 255 Wirsing, Giselher 97 Wlattnig, Robert 255 Wutte, Martin 251 Wutte, Viktor 327f. Wylie, Neville 82 Zach, Richard 314f., 320 Žadov, Alexej S. 111 Zagorul'ko, Maksim 82 Zagovec, Rafael 82 Žbogar, Samuel 298 Ždanov, Vladimir I. 112
Personenregister Želtov, Aleksej S. 104, 134, 154 Zernatto, Christof 245, 291f. Zimin, Georgij V. 111f. Žirinovskij,Vladimir W. 222 Živkov, Todor 200–206
Žmačenko, Filipp F. 112 Zolotarev, Vladimir 83 Zorn, Tone 251 Žukov, Georgij K. 111
429
Ortsregister Admont 65 Aflenz 373 Agram, siehe Zagreb Aleksandrovsk 69, 79 Amsterdam 252 Amstetten 123 Arnfels 149 Babynino 22 Baden 73, 107, 110–113, 129, 131 Bad Radkersburg 329 Belgrad 110, 154, 199 Berg 139 Berlin 10, 35, 39, 41, 73, 109, 111, 126, 181, 183, 187–195, 199, 225, 240, 261, 267f., 304f., 330, 340, 351 Berlin-Brietz 351 Berlin-Spandau 356, 366 Berlin-Zehlendorf 352 Berndorf 139 Bihać 272 Bilčovs, siehe Ludmannsdorf Bled 260 Bleiberg 267 Bonn 186 Bonn-Bad Godesberg 81 Bratislava/Preßburg 170, 189, 201, 205f. Bratsk 185 Bregenz 107 Breitenfeld 139, 159 Brest 185 Brežice/Rann 258, 260, 264, 266 Brno/Brünn 279, 282 Bruck an der Mur 115, 140 Brückl 250 Brünn, siehe Brno Budapest 71, 110, 154, 169, 171f., 199, 204 Bukarest 154, 170, 199 Chabarovsk 32 Char'kov/Charkow 22, 39, 68, 84f., 139 Čeljabinsk 68 Celje/Cilli 260, 263, 265, 267, 274
Čierna nad Tisou/Schwarzau a. d. Theiß 201, 205f. Debrecen 169 Den Haag 114 Dnepropetrovsk 80, 227 Donawitz 65, 139f., 373 Dravograd/Unterdrauburg 259 Dresden 10, 182, 201–203 Dubovka 25 Eibiswald 149 Eisenkappel/Železna Kapla 250, 299, 307 Ekaterinburg 21, 80, 82, 229 Elabuga 28, 48 Ennsdorf 73 Enzesfeld 372 Feldbach 331f. Frankfurt a. d. Oder 32, 186 Focşani 32, 165 Freistadt 107f. Frohnleiten 64 Frunze/Biškek 140 Fürstenfeld 125 Fürstenwalde 32 Gänserndorf 107 Genf 28, 114, 193, 229 Gloggnitz 103f. Gnas 60 Gor'ki, siehe Nižnij Novgorod Graz 10–13, 17, 40, 49, 59, 61, 65f., 82, 89, 107, 109, 113, 115, 117, 127, 139, 149f., 160f., 165, 258–260, 267, 305, 308, 311, 315, 320f., 325–328, 330, 333, 335, 340–346, 356, 371–374, 377f. Graz-Gries 332f. Graz-Lend 332f. Graz-Puntigam 344 Graz-Thondorf 333, 345, 376 Grjazovec 23 Großpetersdorf 65f. Groß-Wien 109, 321 Gurk 255
Ortsregister
Hamburg 180, 182–184, 305, 307 Hieflau 107 Hochwolkersdorf 104 Hornwald, siehe Kočevski rog Hyannis Port 190 Iași 170 Iglau, siehe Jihlava Innsbruck 170 Irkutsk 32, 69, 185 Istanbul 315 Jajce 272 Jalta 112 Jarše 267 Javas 79 Jesenice 262, 265f. Jezersko 286 Jihlava/Iglau 278 Judenburg 61, 108, 112f., 140, 149, 160, 163–166 Kainbach 327 Kaisersteinbruch 130 Kaliningrad/Königsberg 52, 139 Kaluga 22 Kamnik/Stein 260, 266f. Kapfenberg 63, 107, 139, 373 Karaganda 34, 68, 79 Katyn 45, 92 Kazan' 22 Kidričevo 274 Kiew 22, 27, 68, 139, 189 Kindberg 64, 66 Klagenfurt 9, 115, 129, 246, 248, 260, 262f., 267f., 287, 289f., 294, 297, 299 Klostermarienberg 106 Klosterneuburg 107 Kočevski rog/Hornwald 274 Köflach 107, 149, 331 Komárno/Komárom 206 Königsberg, siehe Kaliningrad Köttlach 104 Kozel'sk 22 Kranj/Krainburg 266f., 366 Krasnodarsk 221 Krasnogorsk 29, 32, 48f., 56f.
431
Kremenčuk 68 Krems 107 Kummersdorf 349, 351 Kursk 48, 111 Lackenbach 313 Laibach, siehe Ljubljana Lanškroun/Landskron 282 Leibnitz 149, 373 Lendava 259 Leningrad, siehe St. Petersburg Leoben 63, 149, 160, 326 Liezen 107, 149 Leše/Liescha 296 Linz 107, 305, 317, 321 Litija 267 Ljubercy 138 Ljubljana/Laibach 245, 248, 253, 258f., 291 Ljubno 296 Ljutomer/Luttenberg 260 London 98, 108, 189, 195, 272, 276, 368 Ludmannsdorf 295f. Lugansk/Vorošilovgrad 22f., 80 L'viv/Lemberg 67 Malyj Trostenec 312 Sighetu Marmației/Máramarossziget 32 Marburg, siehe Maribor Mariazell 139, 159 Maribor/Marburg 253, 260–263, 266f., 274, 296, 373 Mariupol' 39 Minsk 88 Mitterdorf 139, 159 Moskau 9, 12, 17, 22–24, 27f., 34f., 37, 40, 42, 45, 48–51, 55, 61, 70, 73, 80, 82f., 89, 93, 98, 100f., 103f., 108, 113, 127, 129, 144–147, 150, 158, 163f., 170–173, 181f., 184, 186, 188f., 197–201, 203–207, 221, 224, 226, 233, 238, 240, 315 München 280, 305, 340 Mureck 149 Murska Sobota 259 Mürzzuschlag 159, 161 Neunkirchen 137 New Orleans 81 Nižnij Novgorod/Gor'ki 22, 47
432 Nordt 32 Noril'sk 79 Nürnberg 85, 305, 369 Obersdorf 107 Oberwart 66f. Oranki 47 Oransk 22, 28 Ostaškov 23 Ost-Berlin 200 Peenemünde 349f., 353, 358f., 362–266, 368 Peggau 373 Petrovski 140 Pirna 32 Pot'ma 34, 42, 75 Prag 49, 110f., 197, 199, 201f., 204–207, 240, 277f. Pressburg, siehe Bratislava Ptuj/Pettau 260, 274 Radovljica/Radmannsdorf 260 Ravne/Streiteben 265, 267, 286 Rjazan' 55 Rostock 175, 177f., 180–184, 186 Rostov 80 Rudersdorf 125, 336 Rybinsk 70
Anhang St. Petersburg/Leningrad 23, 27, 40, 45, 79, 88f., 93, 139, 181 St. Pölten 10, 68, 107, 131, 139, 354 St. Stefan 63 St. Valentin 73, 112, 125, 373 St. Veit/Glan 107, 261 Stalingrad, siehe Wolgograd Stalino/Donec'k 80 Starobel'sk 22f. Steyr 107, 345, 372, 376f. Streiteben, siehe Ravne Suzdal' 23, 28, 40 Sverdlovsk, siehe Ekaterinburg Szeged 32 Szombathely/Steinamanger 67 Tajšet 185 Talicy 54–57 Tambov 28, 51 Teharje/Tüchern 274 Temitz 139 Tetkino 22 Tiflis 240 Tomsk 165 Trbovlje/Trifail 260, 266f. Tržič 267 Tuva 236 Tulln 107 Ulan Bator 170
Salzburg 261, 263, 267, 317, 320 Scheifling 107 Schesqasghan/Žeskazgane 69 Schwabegg/Žvabek 250, 295, 297 Schwechat 142, 153, 372 Schweinfurt 267 Schwerin 177, 180, 182 Seefeld 107 Selzthal 107 Sittersdorf/Zitara vas 299 Škofja Loka/Bischoflack 260, 267 Smolensk 71, 88 Sofia 199 Sopron 32 St. Dionysen 59, 139 St. James 84 St. Kanzian 293 St. Marein 59, 139, 159
Velenje 267 Verchneural'sk 279 Villach 107, 297 Vjazniki 22 Vladimir 79, 123, 170 Voitsberg 149, 160 Vologda 82 Vorkuta 70, 79, 170 Voronež 24f., 166 Vorošilovgrad, siehe Lugansk Waidhofen 139 Warnemünde 182, 184 Wartberg 139, 159 Warth 107 Washington 101, 189 Weiz 59, 139, 372f.
Ortsregister West-Berlin 183, 188, 191f., 194f. Wien 10, 52, 55, 57, 61, 63, 73, 79, 101, 105–114, 116f., 119, 121, 123, 126–129, 131, 133–135, 137–139, 143, 145f., 154, 158, 165, 173, 188–193, 195, 245–248, 257, 262, 279, 281, 290, 303–305, 310, 312, 316f., 320f. Wien-Simmering 305 Wien-Steinhof 314 Wiener Neudorf 345, 372 Wiener Neustadt 71, 107, 317, 372 Windisch Bleiberg/Slovenji Plajberg 295
Wolgograd/Stalingrad 25, 29, 48f., 80, 91, 111f. Wustrow 177f. Ybbs-Persenbeug 143 Zagreb/Agram 312 Zimenkij 22 Zistersdorf 141f. Zitara vas, siehe Sittersdorf Zöbern 311
433
STEFAN KARNER, ALEXANDER O. TSCHUBARJAN (HG.)
DIE MOSKAUER DEKLARATION 1943 »ÖSTERREICH WIEDER HERSTELLEN« (KRIEGSFOLGEN-FORSCHUNG, BAND 8)
Am 30. Oktober 1943 brachten die Alliierten des Zweiten Weltkrieges auf der ersten gemeinsamen Außenministerkonferenz in Moskau ihren Willen zum Ausdruck, nach einem Sieg über NS-Deutschland, Österreich wieder zu errichten. Die »Moskauer Deklaration« bezeichnete Österreich einerseits als das »erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer« fiel, andererseits wurde Österreich darauf hingewiesen, dass es für die »Beteiligung am Kriege auf Seiten Hitlerdeutschlands die Verantwortung trägt, der es nicht entgehen kann«. Jahrzehntelang prägte die »Opferthese« die Geschichtspolitik Österreichs. Das Buch basiert auf zwei in Moskau und Wien durchgeführten Tagungen der Österreichisch-Russischen Historikerkommission und spannt einen weiten Bogen von der Rolle der Alliierten bei der Gründung der Zweiten Republik bis hin zum Umgang mit der »Opferthese« und deren Überwindung. 2015. 296 S. 30 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-205-79689-3
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