Kreativität und Determination: Studien zu Nietzsche, Freud und Adler 9783666462078, 3525462077, 9783525462072


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Kreativität und Determination: Studien zu Nietzsche, Freud und Adler
 9783666462078, 3525462077, 9783525462072

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Almuth Bruder-Bezzel/Klaus-Jürgen Bruder

Kreativität und Determination Studien zu Nietzsche, Freud und Adler

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-46207-7 Umschlagabbildung: Max Ernst (1891–1976): Beim ersten klaren Wort (Au premier mot limpide), 1923. Abbildungsvorlage: Artothek, Weilheim © VG Bild-Kunst, Bonn 2004 © 2004 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Janson Herstellung: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Almuth Bruder-Bezzel Adlers Aggressionstrieb und der Beginn psychoanalytischer Triebkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Almuth Bruder-Bezzel Das schöpferische Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Klaus-Jürgen Bruder Psychoanalytischer Konstruktivismus und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Almuth Bruder-Bezzel Nietzsche, Freud und Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Klaus-Jürgen Bruder Zustimmung zum Diskurs der Macht . . . . . . . . . . . . . . . 170 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Einleitung

Mit dem Titel dieses Buchs sind zwei Paradigmen psychologischer und psychoanalytischer Betrachtungen benannt, die als Grundkonzepte der Individualpsychologie einerseits sowie der Psychoanalyse andererseits gelten können: Trieb und das Schöpferische, Konstruktive, Libido und Macht. Die einstige Trennungslinie zwischen beiden Schulen ist heute zu einer innerhalb der Psychoanalyse geworden, einer Psychoanalyse, von der es heißt, sie habe den Common Ground verloren. Allerdings sind die Trennungslinien innerhalb der Psychoanalyse nicht mehr so unversöhnlich wie die zwischen Freud und Adler, da auch weder die triebpsychologischen Psychoanalytiker um Fragen der Wahl, der Konstruktion und der Intersubjektivität herumkommen noch die Kritiker der Triebpsychologie um Fragen der Determination. Zudem verbindet sie doch noch verschiedene Gemeinsamkeiten – so die Annahme des Unbewussten, die Bedeutung früher Kindheit und Grundlagen der Behandlungstechnik –, Verbindungsstücke innerhalb der Psychoanalyse, die sie mit der heutigen Individualpsychologie gemeinsam hat und die eigentlich nie von Adler und von der Individualpsychologie aufgegeben worden waren. In allen vorliegenden Beiträgen wird das Gemeinsame und Trennende zwischen Adler und Freud und zwischen den verschiedenen psychoanalytischen Richtungen herausgearbeitet, in einigen sind die innertheoretischen Veränderungen und historischen Bezüge hervorgehoben. Adler hatte sich im Kreis von Freud zunächst mit der

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Einleitung

Triebpsychologie identifiziert und in diesem Sinn auch das Unbewusste und seine Bedeutung für die Biografie und für einzelne psychische Phänomene verstanden. Und er hat die Triebpsychologie ergänzt und bereichert durch seinen Aggressionstrieb und die Triebwandlungen. Dann hat er begonnen, sich von der Triebpsychologie abzuwenden, und ist damit von vielen freudianischen Positionen abgewichen. Einer der Hintergründe für diese Entwicklung war gewiss das unterschiedliche Verhältnis Adlers und Freuds zu Nietzsche, dem ein unterschiedliches Verhältnis sowohl zur Philosophie und zur (Natur-)Wissenschaft als auch zum Phänomen der Macht in der Gesellschaft und in ihrer Widerspiegelung in psychischen Prozessen zugrunde lag. In der Zurückweisung des Triebkonzepts als der Grundlage psychischen Geschehens entwickelte Adler sein Gegenkonzept: Nicht Triebe determinieren die Psyche, sondern Ziele und Meinungen. Das Individuum ist auch Handelndes, das sich seine Realität schöpft und gestaltet, seine Gefühle, sein Denken, seine Erinnerungen konstruiert. Es schafft sich auch selbst, was sich in dem manifestiertiert, was Adler »Lebensstil« nennt; aber es ist darin wiederum gebunden. Die spezifische Dynamik in Adlers Theorie ist das Wechselspiel von Wahl und Begrenztheit, schöpferischer Kraft und Fixierung, Bewegung und Erstarrung. In diesem Schöpferischen hat die Macht als Machtstreben und als Verleugnung dieses Machtstrebens ihren Platz – was wiederum von Nietzsche inspiriert ist. Mit der Relativierung der Bedeutung der Triebe ist der Weg zu einer Psychoanalyse ohne Trieb geöffnet worden. Damit konnte die soziale Verflochtenheit, die Intersubjektivität, in den Blick kommen. Das Schöpferische öffnet zugleich die Möglichkeit, das Individuum in seinen individuellen – nicht in allgemeinen – Regeln und Gesetzen aufgehen zu sehen. Damit ist der Bogen von Adler zum modernen Konstruktivismus geschlagen, der in der Psychoanalyse sich bereits einen Platz geschaffen hat, aber insgesamt doch noch am Rand steht. Der Konstruktivismus, der die Wahrnehmung und

Einleitung

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Theoriebildung als Erfindung der Realität begreift, bringt Gewissheiten, auch die der Theorie und Praxis der Psychoanalyse, stark in Bewegung. Mit ihm ist die Intersubjektivität ins Zentrum gerückt, und das hat Folgen für die Praxis der psychoanalytischen Behandlung. Übertragung und Gegenübertragung, Neutralität und Abstinenz werden so neu definiert. Dies wird beispielhaft an den Autoren Gill, Hoffman, Stolorow, Renik und Schafer dargestellt und diskutiert und dem adlerschen Konstruktivismus gegenübergestellt. Der psychoanalytische Konstruktivismus hat sein Schwergewicht auf diese Folgen für die Behandlungstechnik gelegt, während Adlers Konstruktivismus sein Gewicht auf die Metapsychologie legt – an deren zentraler Stelle wiederum die Auseinandersetzung mit der Macht steht –, die dann auch Auswirkungen auf die therapeutische Haltung und Zielsetzung hat. Die Dimension der Macht hatte Adler gegen das Widerstreben Freuds eingebracht, weswegen sie auch in der Psychoanalyse bis heute weitgehend fehlt. Macht, als Machtstreben und als Leiden unter der Macht, durchzieht und bestimmt unser ganzes Leben, ist Quelle unseres Leidens und Kämpfens, Anstoß und Hintergrund unserer Abwehrmechanismen, Boden unserer sozialen Beziehungen. Dass diese Dimension in der Psychoanalyse fehlt, ist ein schwerwiegendes Defizit und hat seine Gründe, die nicht nur dem »Hauszwist« zwischen Freud und Adler geschuldet sind. Für Adler ist diese Ebene zentral, ohne dass er Soziologie betreiben würde. Wo Freud sich zur Macht äußert – in kulturtheoretischen Schriften und politischen Äußerungen (beispielsweise zum Krieg) –, integriert er sie in seine Triebtheorie, womit die Grenze der Triebtheorie als Erklärungsansatz überschritten wird. Der Beitrag zur Macht, zum Umgang mit Macht, versteht sich als erste Annäherung an dieses Thema und wird vorwiegend am Thema Krieg dargelegt, zu dem sich Adler und Freud äußern. Angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation erscheint dieser Zugang angemessener, als der, Macht in anderen Beziehungen aufzuspüren.

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Einleitung

Adler hat das freudsche Paradigma nicht ohne Nietzsche verlassen. Das gilt natürlich vor allem für seinen Machtbegriff, aber auch für Fiktion, für schöpferische Kraft, für das Unbewusste. Mit dem Machtbegriff hat er sich auf Nietzsche bezogen und gerade damit hat er sich von Nietzsche abgestoßen. Adlers Verhältnis zu Nietzsche wird in seiner Entwicklung seinen Texten entlang detailliert nachgezeichnet und auf seine Quellen hin befragt. Diese Untersuchung kann nur auf wenige Sekundärquellen zurückgreifen, während es eine umfangreiche Literatur zum Verhältnis von Freud zu Nietzsche gibt, die Freuds Kenntnisse von Nietzsche und seine Leugnung von Nietzsche unterschiedlich einschätzt. Der je andere Umgang mit Nietzsche erweist sich als mentale Differenz zwischen Freud und Adler und insofern als Grundlage ihres Dissenses. Fiktion und Konstruktion gegenüber Trieb sind konkurrierende Konstrukte; deren Differenz und Verfeinerung und deren Verankerung in der Psychoanalyse werden die weitere Entwicklung der Psychoanalyse prägen. Die fällige Integration und Bearbeitung des bisher ausgeschlossenen Machtbegriffs in die Psychoanalyse, ihre Bearbeitung dahingehend, dass er in seinen verschiedenen Aspekten als psychologischer und psychoanalytischer Begriff tauglich wird, steht noch aus und müsste eine Konsequenz des sozialpsychologischen und intersubjektiven Ansatzes sein, den sie bereits verfolgt. Almuth Bruder-Bezzel Klaus-Jürgen Bruder

Almuth Bruder-Bezzel

Adlers Aggressionstrieb und der Beginn psychoanalytischer Triebkritik

Triebbegriff als Schibboleth Die Geschichte der Psychoanalyse ist eine Geschichte von Spaltungen und Richtungskämpfen, die in der Gegenwart allerdings zu einem Nebeneinander verschiedener Schulrichtungen abgemildert wurden. Der Beginn war der Bruch Freuds mit Adler. Dieser war eigentlich in der Frage nach der Triebpsychologie begründet, durch Adlers Abkehr erst von der Dominanz des Sexualtriebs, dann schließlich vom Triebbegriff überhaupt. Diese Abkehr vom Triebbegriff um 1909/1910 war in der Tat eine prinzipielle Wende, aber »Verrat« war bereits gewittert worden, als Adler dem Sexualtrieb einen Aggressionstrieb zur Seite gestellt hatte. Sexualtheorie und Triebpsychologie waren doch die verbindliche Grundlage der Psychoanalyse, »the heart of his metapsychology« (Bowlby, zit. n. Eagle 1984, S. 6). Bei der Verfasstheit der damaligen Mittwochsgesellschaft ist dann die »autoritäre Lösung« (Modena 2001, S. 17) – Adler harsch zurückzuweisen und schließlich sich von Adler zu trennen – in gewisser Weise nicht überraschend. Diese Umgangsweise mit ihm beförderte Adlers Durchbruch, um seinen bereits begonnenen eigenen Weg (Kompensationstheorie) weiter zu verfolgen und zu erweitern. In Bezug auf Aggression ging er dann zu einem reaktiven und kompensatorischen Verständnis über. Was diese Aufgabe des Triebbegriffs alles an anderen Sichtweisen implizierte – ein anderes Menschenbild, andere Vorstellungen über den Ent-

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wicklungsverlauf, Relativierung eines psychischen Determinismus –, war damit zunächst sicher noch nicht entschieden und den Beteiligten nicht klar. Das Verhältnis zur Triebpsychologie war – und ist es für manche noch heute – innerhalb der Psychoanalyse das Schibboleth, um über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu entscheiden. »Die meisten Abweichungen von der klassischen Psychoanalyse haben ihren Ausgangspunkt in einer Zurückweisung oder Neuformulierung der Triebtheorie, … Akzeptanz oder Zurückweisung der Triebtheorie diente als Hauptkriterium zur Definierung von Abtrünnigkeit« (Eagle 1984, S. 6).1 Daher wurde die Auseinandersetzung um die Triebpsychologie wie ein Glaubenskrieg geführt, der auf der essentialistischen Ebene gar nicht zu entscheiden ist. »Trieb« ist ein Konstrukt und wird bei Freud vielfach mit Unbewusstheit, dem Unbewussten identifiziert. Er ist ein Grenzbegriff zwischen somatisch/biologisch und psychisch/psychologisch, mit stark biologischem Einschlag, der die biologische Basis von Verhalten und das Getriebensein, die Unfreiheit des Individuums ausdrücken soll. Hinter dem Glaubenskrieg verbergen sich weiter reichende Positionen: Für die einen – angefangen bei Freud – stellt »Trieb« den Anschluss an ein naturwissenschaftliches Modell, an die Biologie, Ethologie, an die »exakte« Naturwissenschaft schlechthin her – was Trieb mehr in die Nähe von »Instinkt« rückt. Für die anderen Verteidiger – meist »Geisteswissenschaftler« – steht nicht das Interesse an Naturwissenschaft im Vordergrund, sondern für sie impliziert »Trieb« ein antagonistisches Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, was als gesellschaftskritische Haltung gemeint ist. (Diese) Gesellschaft sei zu kritisieren, sich ihr entgegenzustellen, weil sie das Individuum bis in seine Naturbasis (Sexualtrieb) hin1 Es gab freilich auch andere Gründe für Dissidenz oder Ausschluss, wie die Beispiele Sándor Ferenczi oder Wilhelm Reich zeigen.

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ein unterdrücke, seinem »Wesen« entfremden würde. Ein befreites Individuum sei eines mit einem befreiten Triebleben – wie dies etwa Wilhelm Reich zugespitzt propagiert hatte. Dass diese linke Gesellschaftskritik zu ihrer Legitimation (ausgerechnet) die Biologie heranziehen zu müssen meint, bringt sie in heillose Widersprüche und in seltsame Koalitionen, denn gerade die Triebtheorie hat ja seit und mit Freud für die konservativsten Erklärungsmuster – besonders auffällig in der »Anwendung« des Aggressionstriebs auf die Gesellschaft – herhalten müssen (vgl. den Beitrag »Zustimmung zum Diskurs der Macht«, S. 170ff. in diesem Band). So erinnert sich Stavros Mentzos ironisch einer Situation in den sechziger Jahren, als sich Alexander Mitscherlich und Konrad Lorenz feierlich die Hand gaben – eine Versöhnung von Psychoanalyse und Ethologie (Mentzos 1993, S. 82f.) und eine von links und rechts. Triebkritiker wurden dagegen als »Revisionisten« und Konformisten beschimpft, die ganze Tradition linker Adlerianer der zwanziger Jahre und der mehr oder weniger linken Neopsychoanalytiker wurde ignoriert. In den Haupt- und Nebenlinien der weiteren Entwicklung der Psychoanalyse wurde mit dieser Frage weniger prinzipiell und stürmisch umgegangen. Trieb verschwand nicht aus deren Sprache und Denken, aber er verlor an Bedeutung, geriet mehr oder weniger stillschweigend in den Hintergrund – sodass die Spaltungen auch weniger wurden und milder ausfielen. Bereits der Jahrzehnte herrschende Mainstream der Psychoanalyse, die Ich-Psychologie Heinz Hartmanns, begann die Bedeutung des Triebs insofern einzuschränken, als sie Aspekte psychischer Funktionen anerkannte, die relativ unabhängig vom Trieb seien (vgl. Eagle 1984, S. 16). Weiter zurückgedrängt, relativiert oder ganz zurückgewiesen wurde dann die Triebpsychologie in verschiedenen Objektbeziehungstheorien (Balint, Guntrip, Fairbairn), dann in der Selbstpsychologie (Kohut) und schließlich in der in-

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tersubjektiven Psychoanalyse (Stolorow) – Richtungen, die zwar auch angefeindet wurden, inzwischen aber mehr oder weniger integriert sind. Für diese Triebkritiker gilt im Allgemeinen, dass die Triebtheorie da relativiert wurde, wo die sozialen Beziehungen und die Eigenaktivität des Individuums betont wurden. Stellvertretend Balint: Die Triebtheorie denke in Begriffen der Biologie, »einer Wissenschaft, die nur das Einzelwesen kennt und von keinen Objektbeziehungen weiß« (Balint 1949, S. 229). Dagegen herrschten in den »tiefsten Schichten« »Objektbeziehungen« vor (Balint 1935, S. 58), sodass auch die psychosoziale Entwicklungsreihe nicht biologisch, sondern sozial begründet sei (S. 61). Triebkritik setzt gerade an der Naturalisierung menschlicher Psychologie und der mit ihr verbundenen Ontologisierung des Verhältnisses Natur zu Kultur an. Sie sieht die biologische Natur, den Trieb, allenfalls in interaktiven Prozessen eingebunden und durch gesellschaftliche Beziehungen geformt. Mit dem Triebbegriff, so wenden sie ein, werde der Mensch auf ein Einzelwesen und auf das Lustprinzip reduziert und soziale Faktoren würden ausgeschlossen. »Triebtheorie« sei eine »monadologische Sackgasse« (Altmeyer 2000, S. 107). Auch seien nicht nur Sexual- und Aggressionstrieb, sondern viele Motivationen einzubeziehen (Mentzos 1990, S. 120f., 130; 1993, S. 102). Die mit dem Triebbegriff verbundene Kulturtheorie ist für sie so nicht haltbar. So entsteht Kultur auch nicht nur gegen, sondern mit den Trieben (Mentzos 1993, S. 102). Spätestens seit Foucault (1976) ist überzeugend, dass die »Repressionsthese« so umstandslos nicht stimmt. Die (alte) Debatte gegen die »Revisionisten« war in den frühen achtziger Jahren wieder aufgelebt und wird bei Gelegenheit immer wieder zu neuem Leben erweckt. So im Kampf gegen Kohut durch das »Psychoanalytische Züricher Seminar« (1983) oder in breiter Front (in Übernahme von Russell Jacoby 1975) durch Lilli Gast (1992), bei der die Geschichte der Psychoanalyse als Geschichte der »Abweichun-

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gen«, des »Verrats« erscheint2 (vgl. Bruder-Bezzel u. Bruder 1996; Altmeyer 2000). In jüngster Zeit tauchen im deutschen Sprachraum erneut solche »Begriffsdebatten« auf, um den Triebbegriff dem Vergessen zu entringen (Zepf 2000, S. 70) und ihn in einer neuen, zeitgemäßeren Fassung, legiert und angereichert um soziale Aspekte aus der Objektbeziehungstheorie und der Narzissmustheorie, zu präsentieren (so Zepf 2000; Modena 2001; Hegener 2002) – Ansätze, die schon lange beispielsweise durch Melanie Klein oder Otto Kernberg und anderen de facto vertreten werden. Es ist abzuwarten, was daraus entsteht.

Adlers Nähe zur Triebpsychologie Freuds bis 1908 Adler war, als Mitbegründer, seit 1902 in der Mittwochsgesellschaft und gehörte dort zu den aktivsten, vielleicht auch selbstständigsten Diskutanten. Als er 1908 den Aggressionstrieb postulierte, fühlte er sich ganz auf dem »Mutterboden« der freudschen Psychoanalyse (1908, Protokolle II, S. 385). Woran er dabei alles dachte, was er spezifisch unter »Mutterboden« verstand, ist zwar interpretationsoffen, aber es bedeutet auf jeden Fall zu dieser Zeit eine grundlegende Übereinstimmung mit der Denkweise der Psychoanalyse, mit der Triebpsychologie, dem psychischen Determinismus, der Rolle der kindlichen Sexualität, der Traumanalyse, der analytischen Methode. Selbst 1911 noch – im Jahr des Bruchs – erweist er Freud die Referenz, dass die von ihm angesprochenen Probleme »erst durch die Arbeiten Freuds vorbereitet und überhaupt diskutierbar geworden sind« (1911, Protokolle III, S. 104). 2 »Spurensicherung« ist der Untertitel ihres Buchs. Der Begriff stammt aus der Kriminologie, um ein Verbrechen aufzudecken.

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Mag hierin – angesichts seiner bedrohten Stellung – auch eine Unterwerfungsgeste unter den Älteren und den Gründer liegen oder auch nur Höflichkeit, so zeigen seine bisherigen Beiträge seine Verankerung in der Psychoanalyse und seinen Wunsch, diese weiterzuentwickeln. Auch sein Beitrag zur Triebpsychologie 1908 sollte dies bekräftigen – trotz der Tatsache, dass er seit 1906 mit seiner Theorie der Organminderwertigkeit und Kompensation einen eigenständigen Theorieansatz entwickelt, in diesem Kreis vorgetragen und 1907 veröffentlicht hatte (vgl. Bruder-Bezzel 1999). Die meisten seiner verschiedenen Aufsätze aus dieser Zeit zeigen die allergrößte Nähe zu Freuds (Sexual-)Theorie: In »Hygiene des Geschlechtslebens« (1904b) ist seine Haltung zu sexuellem Verhalten und zur Abstinenz Jugendlicher der von Freud entsprechend, ebenso in »Das sexuelle Problem in der Erziehung« (1905a), wo er im Wesentlichen Freuds Darstellung der kindlichen Sexualität aus Freuds »Drei Abhandlungen« (1905) referiert. Die »Drei PsychoAnalysen von Zahleneinfällen und obsedierenden Zahlen« (1905b) entsprechen in seiner Methodik Freuds »Psychopathologie des Alltagslebens« (1904) mit der dort exemplifizierten These des psychischen Determinismus. Und ähnlich geht er in »Zwei Träume einer Prostituierten« (1908f) mit Träumen und sexuellen Symbolen freudianisch um. In Vorträgen und Diskussionsbeiträgen im Mittwochskreis ist diese Nähe ganz ähnlich zu sehen. 1906 schließt er sich ergänzend den damals in diesem Kreis üblichen sexuellen Symboldeutungen an: Er spricht von der sexuellen Bedeutung des Gürtellösens, des Fingerabbeißens, der Abwehr exhibitionistischer Regungen bei Hautkrankheiten und der symbolischen Bedeutung der Nase als Geschlechtsorgan (1906, Protokolle I, S. 11f.). Ebenfalls 1906 stimmt er, gegen Bleuler gewendet, Freuds Auffassung des psychischen Determinismus zu: Freud habe durch sein Beispiel gelehrt, psychisches Geschehen rein psychisch und in psychologischer Weise zu untersuchen. Bleuler mische physiologische Betrachtungsweisen mit psychologischen (S. 32).

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1907 klagt er bei dem Vortragenden Alfred Meisl (der »den Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb« in Parallele setzte) das Fehlen der Sexualtheorie ein und stellt sich ganz hinter das Lustprinzip: »Er vermißt überhaupt auch den Hinweis auf Freuds Sexualtheorie (besonders auf die erogenen Zonen), wo Meisl die Analogie der beiden Triebe zurückgeführt finde auf einen ursprünglichen Trieb, Lust zu gewinnen (wie er selbst das in seiner Arbeit versucht habe)« (1907, Protokolle I, S. 84).3 Ebenso freudianisch ist sein Vortrag 1907 über einen Fall (»Eine Psychoanalyse«, S. 131ff.). 1907 lässt er sich auch etwas länger über Therapie aus und bezeichnet die »Übertragung« als ein »therapeutisches Agens« (S. 91). Stand somit Adler auf dem Boden der Psychoanalyse und Triebpsychologie, so hatte er allerdings mit seiner Kompensationstheorie ein zweites Bein, das bereits hier schon gewisse Widersprüche zur bisherigen (Trieb-)Theorie erkennen ließ. Denn durch diese Kompensationstheorie wurde das motivationale Zentrum verschoben und sollte die Triebtheorie eher eine Nebenrolle bekommen. Diese Zweigleisigkeit Adlers war ein Übergangsphänomen und wäre auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten gewesen, sodass er sich früher oder später hätte entscheiden müssen. Zu dieser Zeit aber verstand er seinen KompensationsAnsatz als Ergänzung zur Psychoanalyse, und so wurde er im Freudkreis zumindest zunächst auch gesehen und behandelt. Über dessen Bedeutung, die dies als »Abweichung« hatte, waren vermutlich weder er noch Freud sich voll bewusst. Welchen der Wege Adler weiter verfolgen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden. Wenn dagegen Handlbauer (1990) mit Blick auf diese Theorie nun meint, die Zeit bis 1908 sei eine Zeit der »tole3 Adler hatte seine Organminderwertigkeitslehre mit dem Lustprinzip verbunden: Das minderwertige Organ halte am Lustgewinn fest, was den Befund der »›sexuellen Grundlage‹ der Psychoneurosen« erkläre (Adler 1907a, S. 101, ähnl. S. 92, 100).

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rierten Dissidenz« (S. 47), betrachtet er die Geschichte von ihrer späteren Weiterentwicklung her und nur mit den Augen Freuds, wie dieser sie im Nachhinein gesehen hat. Denn in der damaligen Zeit stand auch für Freud vieles noch offen, er ist selbst immer wieder auch von sich abgewichen und es wurden in der Mittwochsgesellschaft viele Meinungen vorgetragen, die von Freud keineswegs immer geteilt wurden (vgl. Bos 2000; Leitner 2001) – auch wenn er dann doch bestimmte, was Psychoanalyse sei. Vielleicht war es vor allem Adler, der öfters widersprach, dezidiert seine eigene Meinung vortrug und auf dieser auch bei Kritik beharrte (was ihm negativ als »Insistieren«, darauf »Herumreiten« zum Teil empört vorgeworfen wurde). Abweichungen, Änderungsvorschläge, Ergänzungen unter diesen Bedingungen als Dissidenz zu bezeichnen, ist sehr eng gesehen, »totalitär« (Haynal 1995, S. 94) gedacht. Zudem müsste beim Ausdruck »Dissidenz« auch die subjektive Ebene zumindest einer der Beteiligten einbezogen werden, aber weder Freud noch Adler sahen das so.

Adlers Triebtheorie und Aggressionstrieb 1908/1909 1908 liefert Adler einen eigenständigen Beitrag zur Triebpsychologie, in dem er einen Aggressionstrieb postuliert und darüber hinaus metapsychologische Überlegungen zu den »Triebschicksalen« vorträgt, die einen hervorragenden und differenzierten Beitrag zur Psychoanalyse, zur Psychologie der Dynamik des Unbewussten darstellen. Dies stellt er am 27. April 1908 auf der Tagung in Salzburg und am 3. Juni 1908 mit dem Titel »Sadismus in Leben und Neurose« vor (vgl. Protokolle I, S. 382ff.) und veröffentlicht dies ebenfalls 1908. Dem Aggressionstrieb stellt er im gleichen Jahr dann ein »Zärtlichkeitsbedürfnis« gegenüber, dem er aber wohl nicht das gleiche Gewicht gibt und im Mittwochskreis darü-

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ber nicht referiert. Zur heftigen Auseinandersetzung kam es vor allem über den Aggressionstrieb, während die metapsychologischen Beiträge wenig beachtet wurden. Das war der Ausgangspunkt des Bruchs mit Freud (vgl. Bruder-Bezzel 1995).

Triebtheoretische Grundlagen Der Stand der Psychoanalyse zur Triebtheorie, auf den sich Adler beziehen konnte, ist vor allem in Freud 1905 (»Drei Abhandlungen«, »Sexuelle Ätiologie«) und 1908 (»Kulturelle Sexualmoral«) niedergelegt und einschlägig. Die Arbeit von 1905 enthält Freuds erste Triebdefinition, der er drei beziehungsweise vier Merkmale des Triebs hinzufügt (Quelle, Ziel, Objekt, Drang). Freuds Triebdefinition heißt: »Unter einem ›Trieb‹ können wir zunächst nichts anderes verstehen, als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle. Trieb ist so einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen … Was die Triebe voneinander unterscheidet und mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, ist deren Beziehung zu ihren somatischen Quellen und ihren Zielen. Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses Organreizes« (Freud 1905, S. 67). Das Merkmal »Objekt« fehlt in dieser allgemeinen Definition, es wird nur beim Sexualtrieb genannt, als »Person, von welcher die geschlechtliche Anziehung ausgeht« (S. 4).4 Zwar liegt »Trieb« im Grenzbereich zwischen Körperlichem und Seelischem, aber doch ist diese allgemeine Definition sehr biologisch formuliert, nahe am Instinkt, wobei nur endogene, innersomatische Vorgänge eine Rolle spielen 4 Bei »infantilen Sexualäußerungen kann dieses auch autoerotisch, der eigene Körper sein« (Freud 1905, S. 81).

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(Hegener 2002, S. 727). Die Merkmale des Triebs haben, wie Hegener dies herausarbeitet, unterschiedliche Nähen zur Biologie. Am weitesten ist das Objekt davon entfernt, vor allem beim Sexualtrieb, dem relativ sozialsten und variabelsten aller Triebe (Hegener 2002, S. 727f.). Adlers allgemeine Triebdefinition ist ähnlich, aber setzt noch andere Akzente. Sie könnte als Ergänzung – nicht als Entgegensetzung – zur freudschen Definition gesehen werden. »›Der Trieb‹ (soll uns) nichts mehr als eine Abstraktion bedeuten, eine Summe von Elementarfunktionen des entsprechenden Organs und seiner zugehörigen Nervenbahnen, deren Entstehung und Entwicklung aus dem Zwang der Außenwelt und ihrer Anforderungen, deren Ziel durch die Befriedigung der Organbedürfnisse und durch den Lusterwerb aus der Umgebung bestimmt ist« (Adler 1908b, S. 577).5 »Trieb« ist also ein Sammelbegriff für Elementarfunktionen eines jeweiligen Organs zur Erreichung einer Befriedigung, enthält die Merkmale (Quelle, Ziel, Objekt) wie in Freuds Definition und gehört einem »Grenzbereich« an. Quelle ist das Organ, Ziel ist die Befriedigung und der Lustgewinn, Objekt die Außenwelt, die Umgebung. Adler verknüpft somit ebenso wie Freud Organisches mit Seelischem, bezieht aber – anders als Freud – bereits in dieser allgemeinen Definition die »Außenwelt« mit ein. Damit ist Adlers Trieb von vornherein interaktiv angelegt. Der Halbsatz: »deren Entstehung und Entwicklung aus dem Zwang der Außenwelt und ihrer Anforderungen« erscheint zunächst evolutionstheoretisch gemeint zu sein – ein Thema, was Adler ja in der Studie 1907 viel beschäftigt hat. Darauf verweist auch eine Bemerkung Adlers: Triebe seien »entwicklungsgeschichtlich« zu verstehen (1909, Protokolle II, S. 234). 5 Es wird aus der Originalfassung von 1908 zitiert, da die späteren Auflagen bedeutsame Änderungen aufweisen.

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Adler führt »jeden der Triebe auf eine primäre Organbetätigung« zurück (Adler 1908b, S. 579), als Quelle, sodass er vom Seh-, Riech-, Hörtrieb et cetera spricht. Das gilt auch für den Sexualtrieb, dem Sexualorgane entsprechen. »Sexuelle Lust« könne zunächst nur dem »Sexualapparat« zugesprochen werden – während bei Freud Sexualerregung »von allen Körperorganen geliefert wird« (Freud 1905, S. 118). Darin steckt, wie Titze richtig anmerkt, bereits eine Opposition zu Freuds »erogenen Zonen« (Titze 1995, S. 508). Allerdings, so Adler, könne »später«, durch Triebverschränkung, »jedes Organgefühl mit Sexualität gepaart erscheinen« (Adler 1908b, S. 579) und spielt der Sexualtrieb bei den »auffälligen Charakterbildern« (über Triebverschränkung) eine »hervorragende Rolle« (S. 578). Die Sexualisierung der Organe sei somit nicht primär, sondern sekundär, durch die Triebverschränkung entstanden (Titze 1995, S. 508). Zu dieser allgemeinen Definition gibt es im Mittwochskreis keine besonderen Anmerkungen, nur von Hitschmann wird die enge Bindung zwischen Trieb und Organ (1908, Protokolle I, S. 383) bemängelt.

Triebdynamik Ganz im Sinn von Freuds Triebenergetik und seinem Ventilmodell rechnet Adler mit einer gegebenen, angeborenen, konstanten Triebstärke6 und spricht er von »unerledigter Erregung«, die »einströmt« und »entladen« wird (Adler 1908b, S. 581). Der Trieb, heißt es weiter, beherrscht die »Bahnen des Bewußtseins«, leitet die Interessen, Empfindung, Wahrnehmung, Erinnerung et cetera (S. 582) – der Trieb als Subjekt. Ins »Bewußtsein« dringen die Triebe »als Einfall, Wunsch, Willensäußerung« oder sind in Worten und Handlungen deutlich (S. 578). 6 Die – im Anschluss an die »Studie« 1907 – größer ist, wenn eine Organminderwertigkeit vorliegt.

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Triebe sind bei Adler immer miteinander verschränkt, »mit einem oder mehreren der übrigen Triebe verknüpft«, so der Sexual- mit dem Aggressionstrieb, der Seh- mit dem Riechtrieb (S. 577). Die Triebverschränkung bilde »die Gesamtphysiognomie« eines »Charakterbildes«, »wobei ein oder mehrere der Triebe die Hauptachse der Psyche konstituieren« (S. 578). Hier zeigt sich bereits Adlers Interesse an einer »Charakterlehre« – in Freuds Terminologie: einer »Psychologie der Ich-Triebe« (was Freud mit »Bewußtseinspsychologie« gleichsetzt) (1909, Protokolle II, S. 240). Er beschreibt dann verschiedene Mechanismen der Triebdynamik, die zu der Zeit – zumindest in der Begrifflichkeit und in ihrer Systematisierung – weit über Freud hinausgehen, der um diese Zeit nur von »Verdrängung« und »Verschiebung« (»Sublimierung«) spricht. Triebe werden (kulturell) umgewandelt, verfeinert und spezialisiert. Dazu gehört neben der Sublimierung auch, was Adler (mit Nietzsche) »Triebhemmung« nennt. Im Einzelnen spricht Adler neben der »Triebverschränkung« von »Triebhemmung«, »Triebverwandlung« in verschiedenen Formen, vor allem als »Verkehrung« und »Verschiebung« des Triebs. »Der Triebhemmung im Unbewußten entsprechen im Bewußtsein ganz charakteristische Erscheinungen …: 1. Verkehrung des Triebes in sein Gegenteil« (beispielsweise unbewusster Esstrieb: im Bewusstsein als Nahrungsverweigerung), »2. Verschiebung des Triebes auf ein anderes Ziel« (zum Beispiel unbewusste Liebe zum Vater: im Bewusstsein als Liebe zum Lehrer), 3. »Richtung des Triebes auf die eigene Person«, wovon als Abart: »Nach innen Schauen, Hören«, »4. Verschiebung des Akzents auf einen zweiten, starken Trieb« (Adler 1908b, S. 578f.). Diese systematischen Darlegungen zur Triebdynamik waren in diesem Kreis sehr neu – und wurden kaum beachtet –, obgleich sie doch einen ganz wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der theoretischen Grundlage der Psychoanalyse, Erweiterung, Ergänzung, Systematisierung der psychoanalytischen Triebtheorie darstellen.

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1909 bereits greift Freud »Triebverschränkung« »als Adlerschen sehr passenden Begriff« (Freud 1909, G. W. Bd. VII, S. 341, auch 1915, G. W. Bd. X, S. 215) auf, und ordnet sie seinen vier »Triebschicksalen« als Verkehrung ins Gegenteil, Wendung gegen die eigene Person (neben Sublimierung und Verdrängung) zu (G. W. Bd. X, S. 219). Daraus werden 1936 Anna Freuds Abwehrmechanismen.7 Wichtig bei der Triebwandlung Adlers ist zudem, dass Triebe eine »kulturelle Umwandlung« erfahren, durch die Kultur gehemmt werden (Adler 1908b, S. 578). Damit zeigt sich, dass der Halbsatz in der obigen allgemeinen Definition, dass die »Entstehung und Entwicklung (der Triebe) aus dem Zwang der Außenwelt und ihrer Anforderungen« nicht nur evolutionstheoretisch gemeint ist, sondern auch kulturtheoretisch. Triebentwicklungen und Trieberscheinungen unterliegen also nicht nur endogenen Prozessen, sind nicht »autonomes« Subjekt, sondern werden kulturell gerichtet. Die Außenwelt (Kultur) ist Motor der Ausformung und der Erscheinungsweise des Triebs, sie bestimmt seine Befriedigung. Die Kultur müsse den Trieb hemmen, Kultur oder ein zweiter Trieb bilde eine Schranke gegen seine »Ausbreitungstendenz, mittels derer er bei stärkerer Ausbildung unumschränkt alle Beziehungsmöglichkeiten zur Umgebung ausschöpft und geradezu weltumfassend auftritt« (Adler 1908b, S. 578; ähnl. auch 1910d, S. 211).8 Mit dieser kulturtheoretischen Position Adlers – Kultur formt, zähmt, veredelt Triebe und Triebe könnten kulturfeindlich wirken – steht er mit Freud in weitgehender Über7 Auf einen Unterschied zwischen Freuds Triebverschränkung, später Triebmischung, zu Adlers Triebverschränkung macht Modena aufmerksam, setzt aber hinzu: »in ihrer praktischen Auswirkung unterscheiden sich beide Konzepte wohl kaum« (Modena 2001, S. 38). 8 In späteren Auflagen heißt es statt »kulturelle Hemmung«: Trieb werde durch »das angeborene Gemeinschaftsgefühl« gehemmt und die »Triebrichtung« »im Interesse seines Machtgefühls« verwendet (1908b/Änd. 1922, S. 54).

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einstimmung, das entspricht Freuds Triebfeindlichkeit der Kultur und Kulturfeindlichkeit der Triebe. Vor allem in der Arbeit von 1908 hat Freud die Anfänge seiner Kulturtheorie formuliert: der »schädigende Einfluß der Kultur«, durch »schädliche Unterdrückung des Sexuallebens der Kulturvölker (oder Schichten) durch die bei ihnen herrschende ›kulturelle‹ Sexualmoral« (Freud 1908, S. 148). »Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut« (S. 149). Über Sublimierung (als Verschiebung, Vertauschung des ursprünglichen Ziels) stellt der Sexualtrieb »der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung« (S. 150), »normale(n), das heißt kulturförderliche(n) Sexualität« (S. 152) – Thesen, die die Bedeutung der Triebpsychologie für die Konstituierung des Individuums und für die Gesellschaft erst unterstreichen. Zwar geht Freud nicht so weit wie Adler, der Kultur einen den Trieb formenden Einfluss zuzubilligen, sondern sieht die Wirkung des kulturellen Einflusses durch Unterdrückung und durch Sublimierung. Der von der Linken immer wieder hervorgehobene (angeblich revolutionäre) freudsche Antagonismus zwischen Trieb und Kultur ist durch die Sublimierungsmöglichkeit, die »kulturförderliche Sexualität«, die der Kultur Schubkraft gibt, einzuschränken. Hans-Jürgen Wirth nennt die Sublimierung eines der »Schlupflöcher« (Wirth 2001, S. 23) gegen die alleinige Vorherrschaft des Triebs. Hier ist nicht nur Antagonismus am Werk, sondern auch ein Ausgleich, ein Zusammenwirken, eine Harmonie beider möglich. Zu bedenken ist zudem, dass Freud 1908 seine Thesen zunächst auf die damals herrschende Sexualmoral (»unsere Kultur«) bezieht und dies mit konkreten Beispielen der Sexualmoral seiner Zeit untermauert. Ob er dies 1908 überhaupt auf Kultur generell verallgemeinert, ist keineswegs eindeutig.

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Aggressionstrieb und Zärtlichkeitsbedürfnis als Ansatz einer dualistischen Triebkonzeption Aggressionstrieb Grundlage von Freud in dieser Zeit ist die Libidotheorie, in der der Sexualtrieb als primum movens der Entwicklung und der Ätiologie der Neurose gilt. Eine eigentliche Triebdualität ist noch nicht entwickelt (eventuell in nuce angelegt, wie Gast 1992, S. 24f., meint). Er geht von kindlicher Sexualität aus, die sich endogen, gesetzmäßig entwickele (psychosexuelle Entwicklungsreihe). Aggression, Aggressivität sieht er als »Neigung zur Überwältigung«, nur in einer »Beimengung« in der Sexualität (Freud 1905, S. 57f.). Diese aggressive Neigung, die »Grausamkeitskomponente des Sexualtriebs«, stamme vom (Partialtrieb) »Bemächtigungstrieb« (S. 93) – ein Konzept, das Freud »nicht weiter verfolgt« hat, nur »flüchtig erwähnt« (Modena 2001, S. 17, 35). Adler dagegen postuliert nun einen eigenständigen Aggressionstrieb neben dem Sexualtrieb. »Die treibende Kraft stammt … aus zwei, ursprünglich gesonderten Trieben … dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb«, der Aggressionstrieb läge »auch den Erscheinungen des Sadismus zugrunde« (Adler 1908b, S. 577). Der Aggressionstrieb ist »Trieb zur Erkämpfung einer Befriedigung«, wenn »einem der Primärtriebe die Befriedigung verwehrt ist« (S. 581) – also bei Frustration. Die Erregung wird »durch das Verhältnis von Triebstärke und Anforderungen der Außenwelt eingeleitet, das Ziel desselben durch die Befriedigung der Primärtriebe und durch Kultur und Anpassung gesteckt« (S. 581). Ziel des Aggressionstriebs ist also, dem Primärtrieb die Befriedigung zu ermöglichen, wenn er darin behindert wird. Dem Aggressionstrieb ist keine somatische Quelle (ein Organ) zugeordnet, vielmehr gehört er dem »Gesamtüberbau« an, er ist »ein übergeordnetes, die Triebe verbindendes psychisches Feld« im Sinne einer Verschränkung (S. 581).

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Der Aggressionstrieb ist stärker, wenn eine Organminderwertigkeit vorliegt, da das nicht voll funktionierende Organ eher in der Befriedigung frustriert wird (S. 581). Die Stärke des Aggressionstriebs ist somit, wie er 1909 sagt, »Ausdruck der Kompensationstendenz« (Adler 1909a, S. 74), womit er sowohl den Anschluss an seine Kompensationstheorie findet als auch seine spätere Position bereits vorformuliert. Das Ziel des Aggressionstriebs ist die Befriedigung des Organs und nicht die Schädigung oder Zerstörung eines Objekts. Gleichwohl aber hat er (als Mittel) einen feindseligen Charakter, er ist der Grund für die »feindselige, kämpferische Stellung des Individuums zur Umgebung« (Adler 1908b, S. 581). Wie andere Triebe macht auch der Aggressionstrieb verschiedene Wandlungen durch und erscheint in verschiedenen Formen, die wiederum kulturell bestimmt sind. Er kann in reiner Form erscheinen, verschränkt mit anderen Trieben oder verfeinert, in sein Gegenteil verkehrt oder gegen die eigene Person gekehrt. Der Sadismus/Masochismus sei, durch Verschränkung, »Ergebnis von zwei Trieben«, dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb – im Unterschied zu Freuds (zur »bisherigen«) Sicht, dass diese selbst »sexuelle Erscheinung« seien, »denen Züge von Grausamkeit beigemischt waren« (S. 577). Hier räumt Adler dann dem Sadismus/Masochismus einen hervorragenden Platz in der Neurosenentwicklung ein: als dem »unmittelbarsten, zur nervösen Erkrankung führenden Faktor« (S. 577), das heißt Aggression, der aggressive Einschlag – nicht (nur) verdrängte Sexualität –, sei direkt krank machend. Es seien zudem die verschiedenen Formen der Neurosen und die Wahl der Neurose auf den Aggressionstrieb, auf seinen Grad an Einschränkungen und seine Verschränkungen mit anderen Trieben zurückzuführen, und der Aggressionstrieb stehe im Zusammenhang mit der »Überempfindlichkeit« des Neurotikers (1909, Protokolle II, S. 235ff.). Für weitere, kulturell verwandelte Erscheinungsformen

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des Aggressionstriebs nennt Adler kursorisch eine Reihe verschiedener Verhaltensweisen, Eigenschaften, Berufe und gesellschaftlicher Ereignisse – eine Aufstellung, die eher mit Vorsicht zu genießen ist, da sie im Einzelnen doch zu pauschal oder einlinig wirkt. Diese Aufzählung der Erscheinungsformen der Aggression verweist allerdings darauf, dass Aggression nicht schlechthin negativ oder destruktiv wirken muss, sondern auch kulturell notwendig und nützlich ist. Das meint die – im gleichen Jahr 1908 an anderer Stelle eingeführte – Unterscheidung von »feindseliger« und »kultureller« Aggression. Feindselige Aggression ist »Angriffsstellung«, »Aggressionsbahnen in Erregung«, nur »die eigene Person als Ziel seiner Sehnsucht«. »Kulturelle Aggressionsstellung« aber ist »Energie« zur »Betätigung, Studium, Kulturbestrebungen« (Adler 1908d, S. 8f.).9 Er erweitert in diesem Zusammenhang die Bedingungen für die Erregung des Aggressionstriebs. Der Aggressionstrieb wird dann nicht nur geweckt, wenn einem Primärtrieb die Befriedigung verwehrt, sondern auch wenn das »Zärtlichkeitsbedürfnis« nicht oder nur teilweise befriedigt wird. Feindselige Aggression entwickelt sich, wenn das Kind »von allen Objekten der Zärtlichkeit abgeschnitten« ist. Es besitzt dann nur noch »die eigene Person als Ziel seiner Sehnsucht, die Sozialgefühle bleiben rudimentär … Die rauhen Charaktere, die zügellosen, unerziehbaren Kinder können uns darüber belehren, wie der dauernd unbefriedigte Zärtlichkeitstrieb die Aggressionsbahnen in Erregung bringt« (S. 9). Das entspricht ziemlich genau dem, was Balint 1935 schreibt: »Erscheinungen des Hasses, der Aggressivität … haben ihre Erklärungen«, »ihre Entstehungsgeschichte. Man wird schlecht durch Leiden«. Säuglinge werden grantig und lästig oder Kinder werden böse und aggressiv, weil zwischen ihnen und ihrer Umgebung der »gute Kontakt«, das »zärtliche Einvernehmen« gestört wurde (Balint 1935, S. 55f., 59).

9 Zitierung nach dem Original.

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»Kulturelle Aggressionsstellung« entwickele sich aufgrund einer – vom Erzieher gewollten – »Teilbefriedigung« des Zärtlichkeitsbedürfnisses (Adler 1908d, S. 8). »Die Entbehrung der Befriedigung« erwecke Energie als Grundlage der Lebensfähigkeit, nötig für Entwicklung und Erziehbarkeit – ähnlich wie Freuds Sublimierung und kulturförderliche Sexualität. Eine solche »kulturelle Aggression«, wo das Individuum von Aggressionshemmung befreit ist und der Aggressionstrieb »im kulturellen Sinn befriedigt« wird, sieht Adler 1909 auch im (marxistischen) Klassenbewusstsein, das sich gegen Degradierung wehre (Adler 1909d, S. 155ff.). Der Unterscheidung zwischen kultureller und feindseliger Aggression entsprechen in der Psychoanalyse und im allgemeinen Sprachgebrauch ganz ähnliche Unterscheidungen wie die von normaler und pathologischer, von konstruktiver und destruktiver, von Aggression als Aktivität und Feindseligkeit, von reifer Aggression und narzisstischer Wut (Blanck u. Blanck, Spitz, Schultz-Hencke, Winnicott, Kohut) (vgl. Mentzos 1993, S. 83). Adler beschäftigt immer wieder die Frage, ob Neurose oder der Neurotiker aggressiv oder aggressionsgehemmt sei. Die Antwort ist nicht eindeutig. 1908 scheint der Neurotiker feindselig-aggressiv (aber nicht kulturell-aggressiv), was durch eine »neurotische Disposition« auf Grund von Organminderwertigkeit bei hohen Frustrationsmöglichkeiten und Kompensationstendenzen nahe liegt oder bei gedemütigten oder von Zärtlichkeit abgeschnittenen Kindern. 1909 aber spricht er an vielen Stellen von neurotischer Aggressionshemmung: »Beim Neurotiker sehen wir den Aggressionstrieb in Hemmung« (Adler 1909d, S. 160) – und hat damit offenbar die kulturelle Aggression im Auge. »Der Mechanismus der Neurose« ist ›Aggressionshemmung‹« (Adler 1909a, S. 69), »Alle Grade der Aggressionshemmung, wie Schüchternheit, Zaghaftigkeit, Angst und Aufregungszustände …« (S. 71). 1909 muss er sich dabei gegen Freuds Unterstellung wehren, er erkläre die Aggressionshemmung »für die nächste Ursa-

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che der Neurose« (statt sexueller Hemmung) (1909, Protokolle II, S. 125), worauf er antwortet: Aggressionshemmung »macht nicht die Krankheit, sondern ist die Form« (S. 130) oder besser die Folge. Die (scheinbare) Uneindeutigkeit Adlers geht auf die nicht durchgehaltene Differenzierung von Formen des Aggressionstriebs (Verwandlungen und feindselig-kulturelle Aggression) zurück. Sie drückt aber auch aus, dass Adler den Neurotiker selbst in seiner »Überempfindlichkeit«, seinem »psychischen Hermaphroditismus« – beides führt er um diese Zeit ein – als schwankend sieht. Der Neurotiker sei aggressiv, feindselig, dies aber führe sofort wieder zum Schuldgefühl, somit zur Hemmung der Aggression (Adler 1909a, S. 77, 82f.).10

Hintergründe für Adlers Aggressionstrieb Adler hat mit dem Aggressionstrieb einen Grundtrieb postuliert, was für die Psychologie und Psychoanalyse eine Neuerung darstellte. Damit hat er die Triebpsychologie auf eine dualistische Grundlage gestellt und den Konflikt mit Freud riskiert. Dafür muss es Gründe oder Anregungen geben. Offenbar schienen ihm aggressive, kämpferische und feindselige Erscheinungen im gesellschaftlichen und individuellen Leben zu verbreitet und zu gewichtig, als dass sie nur als Zusatz, als »Beimengung« mit einem wenig klaren Status zu behandeln wären. Als sozialdemokratisch geschulter Mann, mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt, auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung, der Arbeiter im Besonderen, schien es ihm wohl evident, dass man sich die Bedingungen für Lust, für Befriedigung und fürs Leben erst erkämpfen 10 Ein solches Schwanken zwischen Aggression, Schuldgefühl und Unterwerfung zitiert Kohut (1972, S. 226f.) von Franz Alexander.

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muss und dass Kampf dieses Leben beherrscht. Umgekehrt war für diese Mehrheiten und Schichten Sexualität dagegen nicht wirklich das Problem (vgl. Zweig 1944; Foucault 1976). Diesen Beobachtungen trug die Heraushebung der Aggression als (Grund-)Trieb, später als Wille zur Macht Rechnung (vgl. Bruder-Bezzel 1985). Spezifischer kommt noch die konkrete politische Situation in Deutschland und Österreich hinzu, die hoch »aggressiv« aufgeheizt war: durch Aufrüstung und Kriegspolitik, soziale Spannungen zwischen den Klassen und Nationen. Diese Aktivitäten, Bewegungen und Stimmungen schlugen sich in ideologischen Kämpfen in den Wissenschaften und Künsten und in aggressiven Fantasien und Schreckensvisionen in Literatur und Kunst nieder (vgl. Bruder-Bezzel 1983). Es gab für den Aggressionstrieb in der Wissenschaft natürlich auch Vordenker, die das Aggressive, das Kämpferische auf die eine oder andere Weise im Zentrum ihres Denkens haben. Dazu gehören unmittelbar Darwin, Marx und Nietzsche, drei Namen, die auch für Adler eine besondere Rolle spielten. Auf Darwin verweist Adler immer wieder in der »Studie« 1907, mit ihm ist der aggressive Kampf ums Dasein und die Postulierung der Triebe verbunden. Marx nimmt sich Adler selbst als Gewährsmann des Aggressionstriebs, um damit den Klassenkampf zu erklären (Adler 1909d). Und schließlich ist es Nietzsche, dessen Werk vom Kämpferischen getragen ist. Und Nietzsche hatte um diese Zeit einen großen Einfluss auf Adler (vgl. Beitrag »Nietzsche, Freud und Adler«, S. 122 in diesem Band). Somit hat die von Adler intendierte Ausweitung der psychoanalytischen Theorie eine soziologische Dimension und stellt eine indirekte Stellungnahme zur gesellschaftlichen Situation dar.

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Zärtlichkeitsbedürfnis Die zweite, kleine Veröffentlichung Adlers im gleichen Jahr 1908 ist ein weiterer Hinweis dafür, dass Adler ein dualistisches Triebkonzept vorschwebte und dass er die (Stellung der) Libidotheorie verändern wollte. »Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes« (Adler 1908d), in einer pädagogischen Zeitschrift veröffentlicht, tritt nicht mit dem Anspruch einer triebtheoretischen Grundlegung auf, sondern hat die pädagogisch-angewandte Seite im Blick – ein Interesse, das er in den Jahren vorher schon mehrfach gezeigt hatte (Adler 1904a, 1904b, 1905a) und das sich später bei Adler durchzieht. Bemerkenswerterweise stellt Adler – vielleicht deshalb – das »Zärtlichkeitsbedürfnis« im Mittwochskreis nicht vor, erwähnt es nicht einmal. Er hat es wohl auch nicht – streitbar – als Gegenkonzept zur Libidotheorie verstanden; aber man kann es so verstehen. Er verweist einleitend mehrfach auf die Bedeutung der »Ergebnisse der Psychoanalyse«, des »Trieblebens«, des Unbewussten, der Träume, des Sexuallebens des Kindes (Adler 1908d, S. 7f.). »Wir nehmen« im Zärtlichkeitsbedürfnis, so definiert er, »den Abglanz von mehrfachen Regungen, von offenen und unbewußten Wünschen wahr, Äußerungen von Instinkten, die sich stellenweise zu Bewußtseinsintensitäten verdichten. Abgespaltene Komponenten des Tasttriebs, des Schautriebs, des Hörtriebs liefern in eigenartiger Verschränkung die treibende Kraft« (S. 8). Es gehorcht den Mechanismen des Trieblebens mit Triebverschränkung und Sublimierung, über Umwege und Ersatzbildungen. Aber es ist kein (eigenständiger) Trieb, sondern ein (erotischer) »Triebkomplex«, der sich als Wunsch nach Liebkosung, nach Lob, nach Nähe äußert (S. 8). Seine Befriedigung ist zwar mit Organbedürfnissen verknüpft, aber es zielt weitgreifender auf ein »Objekt«, auf dessen Nähe, Liebe. Das Zärtlichkeitsbedürfnis ist somit – wie die beteiligten Triebe des Tastens, Schauens, Hörens – nach außen, sozial gerichtet, im Unterschied zu Freuds pri-

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märem, autoerotischem Narzissmus. »Das Ziel liegt in der Befriedigung dieser nach einem Objekt ringenden Regungen« (S. 8). Das geht weit über die sexuelle Erregung und Befriedigung durch Reizung erogener Zonen hinaus und ist insofern nicht identisch mit Libido. In dieser auf ein Objekt gerichteten Regung liegt für Adler der erzieherische Anknüpfungspunkt, soll es über Teilbefriedigung und Ersatzbildung »zum kulturellen Nutzeffekt befriedigt werden« (S. 8). Aus dem Zärtlichkeitsbedürfnis leiten sich »geläuterte Gemeinschaftsgefühle« ab, es ist »somit ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Gefühle geworden« (S. 8). Seine sofortige, volle Befriedigung (»verhätscheln«) oder Nichtbefriedigung und Kälte stünden dieser »Läuterung« entgegen. Die Stärke und Ausformung des Aggressionstriebs (als feindlich oder kulturell) hänge von der Art der Befriedigung des Zärtlichkeitsbedürfnisses ab. Auch wenn das Zärtlichkeitsbedürfnis nicht als eigenständiger Trieb begriffen wird, so ist doch in ihm ein Ersatz für Libido und Sexualtrieb angelegt und in dualistischer Konzeption neben den Aggressionstrieb gestellt. Mit der Unabhängigkeit des Zärtlichkeitsbedürfnisses vom Organbedürfnis und der sozialen Wende (»Suche nach dem Objekt«) macht Adler den Weg frei zur Ablösung von den Primärtrieben und somit frei zu einem psychologischen Verständnis von Sexualität und Aggression, somit zu einem psychologischen und interaktiven Verständnis von Entwicklung. Damit erweist sich Adler als Vorläufer der frühen Objektbeziehungstheorie, die ebenso von der primären Hinwendung zum Objekt im umfassenden Sinn statt von biologischendogenen Prozessen und erogenen Zonen ausgehen. So formuliert Fairbairn ganz ähnlich wie Adler: Libido strebe »primär nach dem Objekt« und nicht nach Lustgewinn (Fairbairn 1944, S. 115). Zärtlichkeitsbedürfnis ist wie bei Balint zu verstehen als eine passive, umfassende Liebe: »mich soll man lieben … meinen ganzen Körper, mein ganzes Ich« (Balint 1935, S. 60). Sie wenden sich damit zugleich

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gegen die Konzeptualisierung des Menschen als Einzelwesen (vgl. Balint 1949, S. 29), wodurch auch der frühe Narzissmus allenfalls als sekundär begriffen wird.

Freuds Kritik und der Status des Aggressionstriebs bei Adler Adlers Vortrag im Juni 1908 wurde zunächst – will man dem Protokoll glauben, das sehr knapp ausfällt und teilweise unverständlich ist – wenig aufgeregt, eher im Tenor von »nichts Neues« aufgenommen (so explizit von Stekel). Die Neuerungen, die Adler mit dem Aggressionstrieb vorlegt, machten offenbar zunächst eher sprachlos – Modena schreibt, Freud sei »überrascht« worden (Modena 2001, S. 17). Das hat sich bald geändert, sodass Adler mindestens ab 1909 der geharnischte Widerstand des Kreises entgegenschlug, der schließlich den Bruch einleitete. Freud polemisierte gegen den Aggressionstrieb, gegen die »trostlose Weltanschauung« (Freud 1914, G. W. Bd. X, S. 102) und gelobt 1911, »die Rache der beleidigten Göttin Libido an ihm zu vollziehen« (zit. n. Handlbauer 1990, S. 149). In dieser Diskussion wurden im Wesentlichen zwei Hauptvorwürfe vorgetragen: Erstens, Freud setzte den Aggressionstrieb mit Libido gleich. Er sei mit Adler einverstanden, denn: »was Adler den Aggressionstrieb heiße, das sei unsere Libido« (1908, Protokolle I, S. 383). Mit »Libido« meint er hier das »Aktive« jedes Triebs, die mit »Lustmöglichkeit« (Lustgewinn) verbunden sei (S. 383). Eine ähnliche Auffassung vertritt Edwin Hollerung: Aggressionstrieb sei ein Pleonasmus: Trieb sei schon Aggression (S. 383), oder Adolf Deutsch: Aggression sei das, was jeden Trieb ausmacht, »sie wäre ein Plus zur Libido« (S. 385). In diesem Sinn ist auch Freuds späterer Vorwurf zu verstehen: Adler habe »einen allgemeinen und unerläßlichen Charakter aller Triebe, eben das ›Triebhafte‹,

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Drängende in ihnen zu einem besonderen Triebe mit Unrecht hypostasiert« (Freud 1909, G. W. Bd. VII, S. 371). Ebenso in der Diskussion am 2. Juni 1909: Er habe Widerspruch dagegen erhoben, »daß man den triebhaften Charakter aller Triebe hypostasiere als eigenen Trieb« (1909, Protokolle II, S. 240; entsprechend auch Reitler, S. 245). Bemerkenswert ist, dass der Begriff »Libido«, obgleich er von Freud 1905 in spezifischer sexueller Bedeutung verwendet worden war, hier eher vage, als »Schubkraft« gebraucht wird. Paul Federn verbindet »Libido« – mit Rank – als etwas »Mystisches«, und auch Adler verweist in seinem Schlusswort auf Ranks Libido. Dieser Punkt, Aggression/Libido, ist offenbar so bedeutsam, dass sich darüber, über »Identität oder Verschiedenheit von Adlers Aggressionstrieb und unserer Libido«, »eine längere Debatte« entspinnt (S. 385) – die leider nicht aufgezeichnet ist. Zweitens, entscheidend ist der Vorwurf des Abweichens vom Sexualtrieb. Paul Federn widerspricht der Gleichsetzung von Aggressionstrieb und sexueller Libido und sagt: »Adler habe unrecht getan, so schnell die ursprüngliche Bedeutung der sexuellen Triebe aufzugeben« (1908, Protokolle I, S. 384). Diese federnsche Interpretation wurde dann zum Stichwort – vielleicht auf Grund der »längeren Debatte« – und zum entscheidenden und vorherrschenden Vorwurf. 1909 heißt es bei Freud: Adler habe »fast wie absichtlich das Sexuelle eliminiert« (1909 Protokolle II, S. 240) – wogegen sich Adler wehrt (S. 242) –, er gebe dem Aggressionstrieb die Hauptrolle (Freud 1909, G. W. Bd. VII, S. 371). Noch 1911 schreibt Freud an Karl Abraham, »er leugnet die Bedeutung der Libido und führt alles auf Aggression zurück« (zit. n. Handlbauer 1990, S. 152). Und mit »Verleugnung der Libido« meint Freud zugleich »Verleugnung des Unbewußten«, indem Adler nur die »Ichmotivierung« sehe (1911, Protokolle III, S. 146f.). Freud unterschiebt Adler eine »anti-sexuelle Tendenz« (S. 144), er leugne die kindliche Sexualität, er spreche sogar von »a-sexueller Vorzeit« – was Lilli Gast unkritisch als Tatsache, nicht als Freuds Interpretation über-

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nimmt: »Adler besteht ja auf der frühkindlichen Asexualität und negiert damit die Bedeutung der Libido als Gestalterin infantiler Wünsche« (Gast 1992, S. 38).11 Allerdings taucht bei Freud 1909 auch der Gedanke auf, dass der Aggressionstrieb neben dem Sexualtrieb stehen könnte – was er aber verneint: »Ich kann mich nicht entschließen, einen besonderen Aggressionstrieb neben und gleichberechtigt mit den uns vertrauten Selbsterhaltungsund Sexualtrieben anzunehmen« (Freud 1909, G. W. Bd. VII, S. 371). Bekanntermaßen hat er dies revidiert. Adlers Aggressionsbegriff hatte ihn im »Kleinen Hans« 1909 und in »Totem und Tabu« 1912/13 umgetrieben, bis er schließlich 1920 im »Jenseits des Lustprinzips« den Todestrieb postulierte und 1923 in »Das Ich und das Es« diesen mit dem Aggressionstrieb verband. Freuds Kritik kann uns dazu dienen, uns noch einmal klar zu machen, welchen Rang Adlers Aggressionstrieb 1908/09 in (seinem) psychoanalytischen System hat. Weder Freuds noch Federns Interpretationen werden Adlers Auffassung gerecht. Freuds Gleichsetzung von Aggressionstrieb mit Libido erscheint als Versuch, Adlers Neuerung herunterzuspielen, eventuell, um ihn damit zu integrieren. Einigermaßen verständlich ist sie nur, wenn man Libido mit Aktivität/Energie, Drang gleichsetzt – wie man Adlers Aggressionstrieb (als Trieb zur Erkämpfung einer Befriedigung) ja sogar sehen könnte. Aber dies meint Adler ja nicht generell (»die primitive Organbetätigung sei nicht aggressiv«, sagt er in seinem Schlusswort, 1908, Protokolle I, S. 385), sondern nur bei Behinderung oder Zurückweisung. Aggressionstrieb kommt dem (Organ-)Trieb quasi zu Hilfe, springt ein. Das Aktive 11 Das ist eines der vielen Beispiele, wie Lilli Gast Adler stets nur mit der Brille Freuds darstellt und so zu falschen Schlüssen kommt. Sie beschäftigt sich ausführlich mit Adler, aber ihre Kenntnisse über ihn sind wohl kaum durch eigene Adler-Lektüre angereichert.

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hat er damit nicht von den Trieben und von der Libido abgezogen, er versteht den Aggressionstrieb nicht als Merkmal aller Triebe, sondern als eigenständigen Trieb. Dies übersieht auch der Individualpsychologe Ansbacher, wenn er den Aggressionstrieb als »höheres Motivationsprinzip« interpretiert, wodurch die Primärtriebe an Autonomie verlören (1982, S. 54). Er legt damit ebenfalls nahe, den Aggressionstrieb als allgemeine Anschubkraft zu sehen, und nimmt der Aggression seinen Charakter als Trieb. Fasst man Libido aber als sexuelle Energie, im Rang eines primum movens, dann kommt das der federnschen Interpretation gleich, er habe diese ersetzt, das Sexuelle (in diesem Rang) gar eliminiert – und das ist die schärfste Kritik, war der »Verrat«. Das ist natürlich falsch. Richtig allerdings ist, dass Adler mit dem Aggressionstrieb tatsächlich den »Eros von seinem Thron« (Wittels 1924, zit. n. Gast 1992, S. 31), als primum movens, gestoßen, damit auch die rein sexuelle Ätiologie der Neurose in Frage gestellt hat – zweifellos eine Zumutung für Freud. Der Aggressionstrieb ist, selbstredend, nicht Libido, sexuelle Energie, und ist nicht, in Ersetzung der Libido, primum movens, nicht Hauptfaktor. Vielmehr steht der Aggressionstrieb mehr oder weniger gleichrangig der Libido gegenüber oder an ihrer Seite, tritt vielfach verschränkt mit ihr auf. Auch der bereits zitierte Satz von 1908, in dem Adler im Sadismus/Masochismus »den unmittelbarsten zur nervösen Erkrankung führenden Faktor« sieht (Adler 1908b, S. 577), ist kein Beleg dafür. Lilli Gast aber glaubt, Adler hier »überführen« zu können, indem sie »unmittelbarsten Faktor« – der sich bei Adler auf Neurose bezieht – mit primum movens gleichsetzt, »als konzeptionelle Alternative zur Freudschen Libido« (Gast 1992, S. 29) – womit sie wieder gänzlich Freuds (Fehl-)Meinung übernimmt. Ebenso wenig hat er »das Sexuelle«, die Sexualität, geleugnet oder eliminiert – sie spielt neben dem Aggressionstrieb eine nach wie vor bedeutsame Rolle. Es drängen sich dagegen zwei andere Interpretationen des Aggressionstriebs auf: Als Trieb zur Erkämpfung einer Be-

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friedigung, der dem Organtrieb zu Hilfe kommt, »bemächtigt« er sich eines Objekts oder überwältigt ein Objekt. Damit käme er ganz in die Nähe von Freuds Bemächtigungstrieb/ -drang, wo Freud – zumindest später– das Kämpferische, aber nicht das Zerstörerische betont.12 Was bei Freud (1905) den Rang eines Partialtriebs hat, wäre dann bei Adler ein Primärtrieb. Seltsam, dass Freud diese Nähe nicht angesprochen hat. Noch näher liegend aber ist es, den Aggressionstrieb als Instrument zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts, ja als Instrument zum Überleben (durch Triebbefriedigung) zu sehen. Dann aber würde er dem Selbsterhaltungstrieb oder Ich-Trieb entsprechen. Interessanterweise verwendet Federn 1909, in der »Marxismus-Diskussion«, den Aggressionstrieb einmal in diesem Sinn zustimmend: Marx hätte »den ursprünglichen Trieb der Selbsterhaltung wieder befreit … Auf diesem Weg sei der Aggressionstrieb ins Klassenbewußtsein übergegangen« (1909 Protokolle II, S. 158). In neuerer Zeit interpretiert auch Modena den Aggressionstrieb als »Trieb der Selbst-Erhaltung und Selbst-Entfaltung« (Modena 2001, S. 41) – und besteht dabei ausdrücklich auf dem Triebcharakter der Aggression. Adler hätte also damit den Selbsterhaltungs- und IchTrieb – der durch Darwin oder Nietzsche durchaus gängig war und so auch gelegentlich bei Freud vorkommt (z. B. 1909, G. W. Bd. VII, S. 371) – in die Psychoanalyse hereingeholt und ihm einen eigenständigen Platz zugewiesen. Freud hat ihn selbst kurze Zeit darauf konzipiert und damit seinen Triebdualismus begründet. In diese Reihe stellt ihn auch Lilli Gast. Freud habe 1911 einen »streng antagonistischen Dualismus von Sexualtrieben und Ichtrieben« aufgestellt (Gast 1992, S. 24) und diese Einführung der Ich-Trie12 1905 stammen die »grausame(n) Regungen« des Sexualtriebs vom Bemächtigungstrieb (G. W. Bd. V, S. 93), 1915 sei der »Bemächtigungsdrang« eine Form des »Strebens nach dem Objekt«, dem »die Schädigung oder Vernichtung des Objekts gleichgültig« sei (G. W. Bd. X, S. 231).

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be gehe auf Adler zurück, wie sie zustimmend Wittels zitiert: Die Ich-Triebe Freuds seien ein »Notbau«, ein »unglücklicher Schutzbau gegen Alfred Adler« – allerdings, so Gast gegen Wittels, sei der Dualismus in nuce bereits 1905 angelegt gewesen (S. 24f.). So hätte Adler mit dem Aggressionstrieb neben dem Sexualtrieb Freuds Triebdualismus den Weg gebahnt. Ihm selbst aber wurde die »Entthronung der Göttin Libido« und die Einführung eines Triebdualismus nicht zugestanden. Freud hat Adlers Beitrag nicht als konstruktiven verstanden, auch den nicht, den Adler zur Triebpsychologie allgemein, zu den »Triebschicksalen« geleistet hat. Adler war zu früh gekommen. Der Aggressionstrieb hätte sich, als Erweiterung und Ergänzung, mit Freuds frühem Triebkonzept verbinden können. Aber das war eben gerade Freuds Projekt, den Sexualtrieb zum Erklärungsprinzip zu erheben, was sich für Freud, aus dem Brücke-Labor kommend, keineswegs folgerichtig »ergeben« hatte. Vielmehr hat er damit den Anschluss an den noch laufenden Sexualdiskurs seiner Zeit gefunden. Und dieser Diskurs war im Bürgertum, besonders in Wien, bedeutsam. Die »Wiener Moderne« war sexualisiert (Eder 1993). Sexualität als psychopathia sexualis war allgegenwärtig, Sexualität wurde hier naturalisiert und pathologisiert, als Schicksal, Verhängnis der Natur, das bezwungen werden muss. Sexualität, die anarchisch ist und befreiend und durch Kultur reprimiert werden muss (vgl. Eder 1993, S. 165ff.). Freud hat diesen Diskurs aufgegriffen und im Weiteren selbst stark mitgeprägt. »Libido« konnte er sich somit nicht aus der Hand nehmen lassen. Daher musste er die »autoritäre« Lösung (Modena 2001, S. 17) des Rausschmisses wählen – nach Modena aus »Rechthaberei und Intoleranz« (S. 30). Adler, so scheint es, hat diese heftige Reaktion nicht erwartet. Der harsche Umgang mit Adler darüber hat zum Bruch wohl auch deshalb geführt, weil Adler dadurch seinen Weg von 1907 wieder aufgenommen hat, was bis dahin noch nicht entschieden war. Gekränkt durch diese Auseinander-

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setzung, wurde er in diese Entscheidung gedrängt. Freud hat ihn in die Dissidenz gestoßen, zum Häretiker gemacht. Als Freud den Todes- und Aggressionstrieb einführte, hat er ihn mit verschiedenen biologischen und naturphilosophischen Spekulationen über Leben und Tod befrachtet – als solcher nicht mit Adlers Aggressionstrieb gleichzusetzen. Vor allem hat er nun seine dualistische Triebkonzeption von 1911 (Sexual- und Selbsterhaltungstrieb) als Dualismus von Lebens- und Todestrieb, Eros und Thanatos, neu konzipiert. Die Selbsterhaltungstriebe gehören dann dem Eros an, die Destruktions- und Bemächtigungstriebe dem Todestrieb (vgl. Gasser 1997, S. 643). Diese dualistische Triebtheorie geht dann auch in seine Kulturtheorie ein, die einen Antagonismus beider Triebe zur Kultur behauptet – und womit Freud zu sehr konservativen Schlussfolgerungen oder Begründungen kommt (über Kulturaufgaben oder über den Krieg – vgl. Beitrag »Zustimmung zum Diskurs der Macht«, S. 170 in diesem Band). In der modernen Psychoanalyse wird in großen Teilen die Dualität Sexual- und Selbsterhaltungstrieb und Aggressionstrieb akzeptiert, allerdings ohne den Todestrieb und seine philosophischen Implikationen und kulturtheoretischen Schlussfolgerungen. In eine solche Fassung ist Adlers Aggressionstrieb integrierbar.

Adlers Triebkritik Adler begann nach den Diskussionen um den Aggressionstrieb 1908/09 immer mehr, neue Konzepte einzuführen – Überempfindlichkeit des Neurotikers, psychischer Hermaphroditismus, männlicher Protest – und hat damit seine Theorie vom Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation ausgebaut. Dadurch bewegte er sich zunehmend weg von der Triebpsychologie. Das wurde Freud nun zu viel und er verlangte eine umfassende Darlegung von Adlers Theorie.

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In zwei Vorträgen nutzte Adler dies zum Frontalangriff gegen den Kern der Psychoanalyse, der Trieb- und Sexualtheorie. Adlers Angriff richtet sich gegen die Vorherrschaft, den Primat des Triebs: Triebe werden gerichtet, variiert, bearbeitet durch das »psychische Leben«, durch das Ziel. Ziel ist nicht Lustgewinnung, sondern die Herstellung und Erhaltung der Sicherheit und Macht, besonders in der Form des männlichen Protestes. Dem Wirken des Triebs gehen Orientierungen nach außen und Objektbeziehungen voraus. Treibend sei nicht die Triebverdrängung, sondern die zielgerichtete Psyche, die unter anderem auch verdrängt (Adler 1911a, S. 103, 109). Adler polemisiert gegen das Konstanzprinzip der psychischen Energie, gegen ihre Messbarkeit. Er ersetzt die biologische Dynamik der Triebe durch die Dynamik der zielgerichteten Kompensation. Im Einzelnen heißt es: 1. »Bevor der Sexualtrieb eine nennenswerte Größe erreicht …, ist das psychische Leben des Kindes bereits reich entwickelt« (S. 95). Das »psychische Leben« mit »Gefühlswerten«, Anspannungen durch Vorempfindlichkeit, Unterwerfung und Selbstständigkeit (also Gehorsam und Trotz) und Anpassungen, all dies wirkt verändernd, hemmend oder erregend auf das Triebleben ein (S. 104f.). 2. Triebleben oder Triebmanifestationen sind einem Zweck untergeordnet, sodass Sexualregungen nicht »grundlegender Faktor«, »niemals Ursachen« sind, sondern – durch den Zweck – »bearbeitetes Material« (S. 101), so »daß das, was wir sehen, niemals etwas Ursprüngliches, Unbeeinflußtes darstellt« (S. 104). Die so genannte »sexuelle Konstitution« (Stärke, Konstanz des Triebs) ist »nicht echt«, sondern kann »gezüchtet« werden (S. 95), und zwar im Dienst des Geltungsstrebens, des männlichen Protestes. Unter der Maßgabe des männlichen Protestes wird das Triebbegehren aufgepeitscht (S. 106) und dies äußert sich zum Beispiel in einem »sexuellen Jargon«.

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3. Darüber hinaus sind die »Triebbefriedigung« – die Qualität und Stärke des Triebs und die kompensatorischen Tendenzen – »unmeßbar, »variabel«, da sie in ihrer Art und ihrem Tempo abhängig sind von »gesellschaftlichen Einrichtungen und von der Ökonomie« (S. 104). 4. Ödipale Inzestfantasien sind nicht das Kernproblem der Neurose, sondern stehen im Dienst der neurotischen Fiktion (S. 97, ähnl. S. 101). Der Ödipuskomplex ist ein »kleiner Teil der überstarken neurotischen Dynamik, ein belangloses Stadium des männlichen Protests, eine symbolisch aufzufassende Situation« (S. 113; vgl. Adler 1912a, S. 73). 5. Auch Verdrängung als »treibende Kraft« in der Neurose wird in Frage gestellt. Der Zusammenhang zwischen Verdrängung und Neurose arbeite in der Freud-Schule mit »unbeweisbaren« »Hilfsvorstellungen«, »(in plattester Weise) eine Analogie aus der Physik oder Chemie zu Hilfe nehmen« (Adler 1911a, S. 102), mit »dogmatischen Klischees« (S. 103). Die Rede von verdrängten Trieben und Komplexen verdingliche und verräumliche das Dynamische der Psyche, bringe es in starre Form und bringe erst nachträglich das energetische Prinzip, das tapanta rei, hinein (S. 103). Triebverdrängungen seien daher sekundär, »Begleiterscheinungen unter dem erhöhten Zwang des männlichen Protests« (S. 109). Diese Kritik fasst Adler 1912 im »Nervösen Charakter« noch einmal zusammen und spitzt sie gegen die Grundlagen der Libidotheorie zu: 1. Gegen »Libido als treibender Kraft«: »durch die Zwecksetzung wird das Empfinden der Lust, die Auswahl derselben und ihre Stärke in die Richtung dieses Zweckes gezwungen« (1912a, S. 32). 2. Gegen die sexuelle Ätiologie der Neurose: Der sexuelle Inhalt stammt aus dem ideellen Gegensatz männlichweiblich, der sexuelle Antrieb richtet sich nach der männlichen Zwecksetzung und ist kein Trieb (S. 32).

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3. Gegen den Zwang infantiler Wünsche: Die infantilen Wünsche stehen selbst schon unter den Zwang des fiktiven Endziels (S. 33). 4. Gegen das Lustprinzip (als Endzweck): Es gibt kein Maß für lustvolles Empfinden, es variiert bei den verschiedenen Menschen, bei verschiedenem Sättigungsgrad und verschiedenen kulturellen Leitlinien. Stattdessen ist die Psyche genötigt, Orientierung und Sicherheit zu finden (S. 75f.). 5. Gegen den Selbsterhaltungstrieb spreche, dass wir häufig dagegen verstoßen (S. 76). Adlers Position, dass die Biologie des Triebs nicht »grundlegender Faktor« sei, verbindet alle Triebkritiker nach ihm. So heißt es bei Fromm: »Der Triebapparat selbst ist – in gewissen Grundlagen – biologisch gegeben, aber weitgehend modifizierbar«, er müsse aus der sozial-ökonomischen Struktur heraus zu verstehen sein, er erscheine nie in »biologischer Urform, sondern in einer gesellschaftlich veränderten Form« (Fromm 1932, S. 23, 16, 30). Die menschlichen Neigungen »sind kein festgelegter, biologisch gegebener Bestandteil seiner Natur, sondern das Resultat des gesellschaftlichen Prozesses, der den Menschen erzeugt« (Fromm 1941, S. 16). Innerhalb seines Selbst-Systems drückt sich Kohut so aus: Triebe sind dem Selbst genetisch und dynamisch/strukturell untergeordnet und aus ihm abgeleitet (Kohut 1977, S. 80), das Kern-Selbst als komplexe psychische Konfiguration hat die »entwicklungsmäßige Priorität« (S. 109), es ist Produkt einer sozialen Erfahrung, der »Erfahrung der Beziehung zwischen dem Selbst und dem empathischen Selbstobjekt« (S. 112). Was Adler hier vorgetragen hat, musste Freud auf die Palme bringen, denn in der Tat dreht er die Verhältnisse um. Freud scheint die ganze – moderne und heute leichter zugängliche – Denkweise Adlers, die vom Ziel und von Fiktion ausgeht, keineswegs zu verstehen, kann ihr nicht folgen und flüchtet sich in Missverstehen.

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Adler ent-naturalisiert, indem er »Natur«-Trieb selbst als psychologisch und gesellschaftlich geformt sieht. Er trennt sich damit von der Vorstellung des Individuums als passivem Subjekt, das als Spielball endogenen Prozessen nur ausgeliefert sei. Das »Triebleben« selbst und Wahrnehmungen, Erinnerungen et cetera sind für ihn vielmehr gefiltert, interpretiert. Keineswegs aber behauptet er damit diesen Prozess als bewusst, absichtlich, dass das Subjekt Herr im eigenen Haus sei. Das wiederum kann sich Freud nicht vorstellen, dagegen läuft er Sturm. Freud leugnet soziale Prozesse, die bis in die Triebformung wirken: Adlers »wissenschaftliche Irrtümer« seien »durch die falsche Methodik (durch das Hereinziehen von sozialen und biologischen Gesichtspunkten) hervorgerufen« (1911, Protokolle III, S. 167). Freuds Irrtum ist, dass er sich »zielgerichtet« nur bewusst vorstellen kann, dass er Unbewusstes mit dem Wirken des Triebs gleichsetzt. Daher meint er, Adler leugne das Unbewusste (S. 147), indem er die Libido »leugne«. »Es sei nicht die Psychoanalyse« (S. 144). Er sehe »die Dinge vom Standpunkt des Ich« (S. 168). Adlers Psychologie sei »Charakterlehre« (S. 147), sei »Oberflächen, Ichpsychologie« (S. 145) – Vorwürfe, die in der nachfolgenden psychoanalytischen Literatur endlos wiederholt werden. Schließlich kommt es zu dem berühmten freudschen Verdikt: »Die ganze Lehre (hat) einen reaktionären und retrograden Charakter und gibt damit eine höhere Anzahl von Lustprämien« (S. 145), während die Psychoanalyse der Welt eine tiefe narzisstische Kränkung zugefügt habe. Dieses Verdikt Freuds wird geradezu lustvoll aus dem Umkreis der kritischen Theorie, seit Adorno (1952), dann Marcuse (1955), der Reihe von »Revisionisten« von Adler bis Kohut über Fromm, Ferenczi und Balint, immer wieder vorgehalten. Der »Revisionismus« gebe den revolutionären Kern affirmativ auf, nämlich das antagonistische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft beziehungsweise zwischen Natur und Kultur. »Zurück ins Paradies« lautet der Generalvorwurf des Züricher psychoanalytischen Seminars

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(1981), der besonders gegen Kohut gerichtet ist. Mit der Infragestellung der Triebpsychologie, besonders des Sexualtriebs, gehe der Verlust des Unbewussten einher, damit würde die Desexualisierung und Soziologisierung der Psychoanalyse betrieben, was Konformismus, Harmonisierung, Ideologie der Ganzheit, Versprechen auf Heilung und Glück bedeute (vgl. Gast 1992). In den späteren Jahren greift Adler dieses Thema so prinzipiell nicht sehr häufig mehr auf, nur bei Gelegenheit der Abgrenzung von Freud. Die Linie der Kritik ist die gleiche geblieben, manches wird nur etwas verständlicher. Dabei bestreitet er nicht, dass es »Triebe« und »Instinkte«, eine biologische Ausstattung (als »amorphe Kräfte«, Titze 1995, S. 509) »gäbe«. Er geht damit aber nicht essentialistisch um, weder in der einen noch der anderen Richtung. Indem der Trieb seinen Inhalt, seine Gestalt und Richtung erst durch eine andere, sozial vermittelte Dynamik bekommt, verliert er seine determinierende Wirkung. Adler schreibt beispielsweise, er habe die »Trieblehre« verlassen, aber das sei nicht der »maßgebende Grundunterschied« zwischen Individualpsychologie und Psychoanalyse, sondern dieser liege in der Bedeutung, die Freud dem Trieb gebe, nämlich dem Lustprinzip, womit (bei Freud) »vom Standpunkt der Kultur aus« der Mensch von Natur aus »als böse anzusehen« sei (Adler 1931n, S. 200, auch S. 204). Und er wirft Freud wieder vor, Naturwissenschaft zu sein und mechanistischen Prinzipien zu folgen (S. 202). Die Triebpsychologie (Freuds) unterlege dem Trieb Eigenschaften, Fähigkeiten, Ziele, die alle nur dem Ich zukommen. »Der ›Trieb‹, eine theoretische Konstruktion«, friste »sein Dasein damit, daß man ihm heimlich ein Ziel, Wahlfähigkeit, List, Tücke, und vor allem dämonischen Egoismus einflößt, Charaktere, die sichtlich soziale Bezogenheiten aufweisen, die wir vom Ich her kennen, die nur dem Ich zukommen« (Adler 1933c, S. 79). Oder ähnlich: Trieb wird »von den Triebpsychologen anthropomorphistisch zu einem fertigen Dämon gestaltet, der Klugheit, auswählende Tendenzen, Richtung,

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ein Eigenleben besitzt, kurz ein vollkommenes Ich darstellt, mit List und Tricks ausgestattet« (S. 94). Triebe aber haben nicht diese »Ichgestalt« (Adler 1931n, S. 207f.), sie sind »richtungslos«. Erst durch das Ziel, den Lebensstil, das Ich, bekommen sie ihre Richtung. »Man kann aus dem Triebleben den seelischen Aufbau eines Menschen nicht verstehen, weil der Trieb ›richtungslos‹ ist« (S. 207).

Implikationen für Adlers Theorie Das Abschütteln des Triebbegriffs war die Geburtsstunde der eigentlichen adlerschen Theorie und seines damit verbundenen Menschenbilds. Der Weg war nun frei, seine Theorie der Kompensation als rein psychologische Theorie zu entwickeln. Diese im Zentrum stehende Zielgerichtetheit verträgt ebenso wenig wie die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Persönlichkeit die Unterordnung des psychischen Lebens unter das Triebleben. Damit gibt es keinen psychischen Determinismus im freudschen Sinn mehr, damit auch keinen zwangsläufigen Prozess der Entwicklung in Stufen. Die Interaktion von äußeren Einwirkungen und unbewusster psychischer Eigenaktivität – was er später »schöpferische Kraft« nennt – sind entscheidend. Mit der Befreiung von der Biologie (der Triebe) ist vor allem auch der Raum für seine sozialpsychologische Betrachtungsweise geschaffen, wie sie für Adler kennzeichnend ist. Zwar waren kulturelle soziale Einflüsse und Orientierungen schon vorher durchaus wichtig – beim Aggressionstrieb, den Triebschicksalen, dem Zärtlichkeitsbedürfnis (»das nach dem Objekt ringt«). Aber erst jetzt gehen soziale Einflüsse und Objektbeziehungen konstituierend dem Triebleben voraus. Der Mensch ist für Adler ein soziales Wesen. Durch die »soziale Beschaffenheit des Seelenlebens« werden alle psychischen Funktionen wie Bedürfnisse, Denken, Empfinden, Sprache, auch die biologische Ausstattung, der »Trieb«,

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von der Kultur oder Gesellschaft durchdrungen (vgl. Adler 1927a). Auch für die Art und Stärke des Minderwertigkeitsgefühls und der Kompensation spielt die soziale, gesellschaftliche Verwobenheit über Vergleich und Vorbildwirkung eine wichtige Rolle. Das Individuum unterliegt nicht nur gesellschaftlichen Einwirkungen, sondern verfügt über ein (angeborenes) Gemeinschaftsgefühl. »Gemeinschaftsgefühl« meint sowohl eine Abhängigkeit von der Gesellschaft als auch eine Bedürftigkeit nach Gesellschaft. Der Mensch ist auf das Zusammenleben angewiesen, als »Ausgleich« für seine Schwäche. Das angeborene Gemeinschaftsgefühl gehört also für Adler somit zum Wesen des Menschen, ja an manchen Stellen bekommt es quasi den Charakter eines Triebs: Furtmüller und Wexberg (1922, S. 38) sprechen vom triebhaften Gemeinschaftsgefühl als biologischer Gegebenheit. In diesem Konzept also ist Gesellschaft nichts dem Individuum Äußeres, von außen Aufgezwungenes oder Hemmendes – daher ist Adlers Denken auch nicht nur »milieutheoretisch«. Wenn es 1922 heißt, Regulator des Aggressionstriebs ist das Gemeinschaftsgefühl (1908b / Erg. 1922, S. 62), dann reguliert nicht eine äußere Kraft (Kultur), sondern »innerpsychisch« durch eine Notwendigkeit, durch ein Bedürfnis, mit und nach sozialen Zusammenhängen. Gesellschaftliche Strukturen spiegeln sich in der psychischen Struktur – von einem antagonistischen Gegensatz kann da keine Rede sein.

Aggression und Kompensation bei Adler nach 1908 Adlers Vortrag zum Aggressionstrieb erscheint wie ein letzter Versuch, in der Sprache der Triebpsychologie seine eigenen Gedanken auszudrücken. Der »Aggressionstrieb« wurde aber bereits reaktiv konzipiert, sodass die Aufgabe der Triebpsychologie nicht mehr schwierig war,

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sofern man darin nicht eigentlich einen Widerspruch sehen muss. In den Aufsätzen 1909–1910 spricht Adler abwechselnd noch von Aggressionstrieb und der Triebstärke oder (deskriptiv) von Aggressionstendenz, Aggressionsneigung – meint also Aggressivität, aggressives Verhalten, aggressiven Affekt. Im Allgemeinen hat Aggression hier die Bedeutung von Aggressivität, von feindseligem Charakter, das ist aber nicht eindeutig. Es kann auch nur Aktivität, treibende Kraft, meinen (was später als »schöpferische Kraft« erscheint, vgl. Schmidt 1987, S. 152). Er integriert Aggressivität zunehmend mehr in sein Denkmodell der Kompensation. Ab 1912, also im »Nervösen Charakter«, ist Aggression seiner Kompensationstheorie untergeordnet, später auch seiner Gemeinschaftstheorie. Aggression wird zum Antrieb für Kompensation, »primum movens des männlichen Protests« (1911, Protokolle III, S. 111), Antwort auf Destabilisierung, Mittel zur Überwindung von Zurückweisung, Kränkung, Demütigung, also reaktiv und kompensatorisch, im Sinne von sich überwinden, sich bemächtigen, sich erhalten, sich weiterentwickeln eingesetzt. Adler steht damit in weitgehender Übereinstimmung psychoanalytischer Vorstellungen, die sich der Miller-Dollard’schen Frustrations-Aggressions-These anschließen. Aggression als Reaktion auf Behinderung, Kränkung, Liebesentzug, als Ersatz für fehlende Befriedigung, zur Herstellung der narzisstischen Homöostase (vgl. Mentzos 1993). So schreibt Guntrip: »sämtliche Formen aggressiver Reaktionen haben sich mir als Abwehrreaktionen auf Befürchtungen, Ängste, Unsicherheiten, auf das Gefühl grundlegender Schwäche und insbesondere auf elementare Isolationsgefühle erwiesen … Die Frustrations-AggressionsTheorie ist die einzige, die durch klinische Beobachtung gestützt wird« (1971, zit. n. Bacal u. Newman 1994, S. 209). Oder es heißt bei Balint: »Erscheinungen des Hasses, der Aggressivität … sind nie unhistorisch, sondern haben ihre Erklärungen«, »ihre Entstehungsgeschichte. Man

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wird schlecht durch Leiden« (Balint 1935, S. 55, 59). Die Reihe ähnlicher Äußerungen ließe sich sehr lang fortsetzen. Die Kompensation und ihre jeweilige Form ist an soziale Erfahrung gebunden und ist Antwort auf soziale Frustration, hat also einen »sozialen Einschlag« (Adler 1931f, S. 87). Auf der geschlechtsspezifischen Dimension wird Aggression als männlich (bei Freud gilt Libido als männlich), Aggressionshemmung als weiblich erlebt oder behauptet (vgl. Adler 1910c, S. 86f.), von Adler als »männliche« und »weibliche« Linie apostrophiert. In gewisser Weise kann man also sagen, Adler ersetze den Aggressionsbegriff durch Kompensation, als eine (aktive) Form der Kompensation (Wexberg 1926, S. 437). Kompensation übernimmt die Funktion, die der Aggressionstrieb hatte, als Mittel zur Erkämpfung einer Befriedigung, einer liebevollen Zuwendung oder der Überwindung von Demütigung, Kränkung. Was aber im »männlichen Protest« als Kompensationsform noch anklingt, geht mit dem Kompensationsbegriff als erklärendem und funktionalem Begriff verloren: die Gefühlsqualität, das affektive Moment. Dies legt es nahe, Aggression nicht durch Kompensation zu ersetzen. Männlicher Protest als »Endziel« ist nicht mit (feindseliger) Aggression identisch. Adler selbst ist darin nicht eindeutig, mal spricht er von der aggressiven Beimischung des männlichen Protests (Adler 1912a, S. 70), mal geht er weiter und spricht davon, dass das Ziel selbst aggressiv sei (S. 47, 130). Zu dieser Auffassung kommt er, weil für ihn das kompensatorische Ziel nicht nur die Überwindung eines Minderwertigkeitsgefühls oder eines Schwächegefühls ist, sondern auch – hypertroph – das der Überlegenheit, Vollkommenheit, Gottähnlichkeit – und zwar, wie Adler 1914 ganz ausdrücklich sagt, als »allgemeines Ziel der Menschen« (Adler 1914h, S. 24). Dieses »Ziel der Allüberlegenheit« und Gottähnlichkeit »bringt eine feindliche, kämpferische Tendenz in unser Leben« (S. 25). Dieser »Werdegang der Aggression« reicht in die Kindheit zurück, zum »Gefühl der Minderwertigkeit in seinem Ver-

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hältnis zu den Eltern und zur Welt« (S. 30f.). Adler kommt dazu, dass Aggression, wie auch das Minderwertigkeitsgefühl, allgegenwärtig, unüberwindbar sei. Aggression bekommt bei Adler später die Bedeutung von »Stellungnahme« (den Aufgaben des) dem Leben gegenüber, etwas »anzupacken«. »Diese Haltung hat immer etwas Angreifendes«, ist der »Versuch einer Bemächtigung, einer Auseinandersetzung« (Adler 1908b/ Erg. 1922, S. 53). Mit Rückblick auf seinen Aggressionstrieb 1908 heißt es 1931: »Bald erkannte ich jedoch, daß es sich dabei gar nicht um einen Trieb handelt, sondern um eine teils bewußte, teils unverstandene Stellungnahme den Aufgaben des Lebens gegenüber und ich gelangte auf diese Weise zum Verständnis des sozialen Einschlags in der Persönlichkeit.« In dieser Stellungnahme zeige sich, »was ein Individuum von den Forderungen der Außenwelt ›meint‹«, so kam die Individualpsychologie zum »sozialen Gehalt im Lebensstil« (Adler 1931f, S. 87). In dieser »Stellungnahme« verbindet sich Aggression mit dem Gemeinschaftsgefühl, das diese in »nützliche« Richtung lenkt oder mäßigend als »Regulator des Aggressionstriebs« wirkt (Adler 1908b/ Erg. 1922, S. 62). Aggression und das Zärtlichkeitsbedürfnis stehen damit beide »in einer dynamischen Beziehung zum Gemeinschaftsgefühl« (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1994, S. 52). Aggression und Gemeinschaftsgefühl zusammen machen die Stellungnahme, »also eigentlich das Seelenleben« aus (Adler 1908b/ Erg. 1922, S. 62) – damit ist etwas ausgedrückt, was später der »Lebensstil« heißt. Im Unterschied zu den Jahren vorher wird 1912 der Neurotiker als grundlegend und durchweg feindselig, gereizt, aufgepeitscht, kämpferisch dargestellt (Adler 1912a, z. B. S. 36, 45, 47, 59, 69, 90). »Das Persönlichkeitsideal des Nervösen« zwingt zur Aggression (S. 130). Aggressiv ist sein Festhalten am Symptom, seine Ängstlichkeit, seine Anschuldigungen, sein Hass, Ekel, seine Lust an Grausamkeit. Hier findet der Kampf statt, Kriegsschauplätze, Nebenkriegs-

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schauplätze. Aggressionshemmung ist nun nur ein Stadium oder ein Ausweichen auf die weibliche Linie, auf »Gegenfiktion«. Eine Entscheidung darüber, was »neurotischer« sei, ist nicht so leicht zu treffen, denn weder Aggressionshemmung noch der ständige Kampf sind funktional, beide Ausdrucksweisen sind – in adlerscher Terminologie ausgedrückt – Erstarrung, »ans Kreuz seiner Fiktion geschlagen« (S. 74). In dem einen Fall kann das Mittel der Selbstverteidigung oder Selbsterhaltung nicht eingesetzt werden, im anderen wurde aus dem Mittel ein Zweck (vgl. auch Mentzos 1993, S. 87). Als Begriff spielt »Aggression« in Adlers späterer Sprache keine große Rolle. Vor allem verwendet er ihn – im Unterschied zu Freud – nicht als Erklärungsbegriff für »aggressive« gesellschaftliche Erscheinungen (wie Krieg, Gewalt, Bolschewismus, Massenbewegungen), hier spricht er von (Wille zur) Macht, Machtrausch, Protest, Gewalt. Aber der Gedanke an eine feindselige, kämpferische, konkurrenzhafte »Natur« des Menschen – historisch gewordene Natur – ist in seinem Denken hervorstechend. Das menschliche Leben ist Kampf, ist Kriegsschauplatz, allenthalben – freilich gemildert und reguliert durch das Gemeinschaftsgefühl. Adler glaubt nicht an das Böse im Menschen, und doch ist es für ihn allgegenwärtig.

Schluss Adler war der erste innerhalb der Psychoanalyse, der die Bedeutung des Triebs relativierte beziehungsweise Trieb zurückwies. Ihm folgten viele. War die »Saat« Adlers aufgegangen, wie Lilli Gast (1992, S. 120) meint, oder war die Zeit reif? Ich denke, Letzteres ist eher zutreffend, auch ohne Adler war die Grundlegung der Psychologie im Trieb nicht mehr aktuell (Einfluss der akademischen Psychologie, der Soziologie, der Betonung der Subjekthaftigkeit). Auch wenn

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heute die offiziöse Psychoanalyse am biologischen »Triebgrund« festhält, wird das Triebkonzept offen oder versteckt kritisiert oder beiseite gelassen, was wiederum zu innertheoretischen Widersprüchen führt. Modena beklagt die »Verflüchtigung des Triebbegriffs« (Modena 2001, S. 30), er gehöre nicht mehr zum »common ground« der Psychoanalyse (Zepf 2000, S. 71). Während die einen gegenüber dem Trieb eher das Ich betonen, stellen andere vor allem soziale Beziehungen ins Zentrum, was einer Kritik an der Naturalisierung, an der Reduktion des Individuums als Einzelwesen und an der antagonistischen Kulturtheorie gleichkommt. Der Umgang mit dem Trieb in der Psychoanalyse ist vielfach ganz ähnlich wie der von Adler. Er verliert seine primäre, determinierende Bedeutung und/oder wird integriert in einen objektbeziehungs- oder narzissmustheoretischen oder interaktiven Ansatz. Ob nun der Trieb verteidigt (z. B. Zepf 2000; Modena 2001) oder ob er mehr oder weniger aufgegeben wird, vorwiegend bekommt er seine Gestalt, seine Wirkkraft, sein Ziel durch Vermischungen verschiedener Motivationen, durch soziale Beziehungen und durch organisierende Kräfte. Der Hauptstrom der Psychoanalyse steht darin in – unausgesprochener – Übereinstimmung mit Adler. Adler hat aber mit der Kompensationstheorie ein ganz anderes Konzept, auch andere Begriffe eingeführt. Dagegen waren die genannten – und viele hier nicht genannte – Psychoanalytiker (vielleicht die Neopsychoanalytiker ausgenommen) trotz Triebkritik ansonsten im psychoanalytischen Sprachgebrauch und Denksystem mehr oder weniger geblieben oder wurden, zumindest nach einigen Anläufen und auch Kämpfen (z. B. Balint, Kohut), doch in die Psychoanalyse integriert. Da sich die Psychoanalyse insgesamt, gerade und vor allem unter deren Einfluss gewandelt hat, mussten sie nicht dissident werden. An der Frage der Triebpsychologie entscheidet sich weder die Frage nach dem Unbewussten noch die Frage nach dem affirmativen Gehalt der Psychoanalyse. Ob die moderne

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Psychoanalyse affirmativ ist oder nicht, hängt von ihrer inhaltlichen Vorstellung über Gesellschaft und deren Machtbeziehungen ab. Die Befreiung vom biologischen Denken ist die Voraussetzung zu einer Psychologie, die den Menschen in ihrer gesellschaftlichen Beziehung erst angemessen sehen kann.

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Das schöpferische Unbewusste

In der modernen Psychoanalyse ist in den letzten Jahrzehnten und Jahren so einiges in Bewegung gekommen, was verschiedene Grundpostulate der klassischen Psychoanalyse auflöst und von manchen als Verlust des Common Ground beklagt wird. Infrage steht die ätiologische Determination und Kausalität psychischer Entwicklung, damit auch die Zwangsläufigkeit rein triebpsychologisch bestimmter Entwicklungsabläufe (bereits bei Balint 1935). Betont wird die gestaltende, organisierende Aktivität des Individuums. Die neuere Säuglingsforschung hat hierfür wieder die Augen geöffnet – dies war in der Psychoanalyse ausgeblendet gewesen. Mit diesem Blick wurde auch die Interaktivität und Intersubjektivität, die primäre Umweltbezogenheit gegenüber einem primären Narzissmus, und damit die Abkehr von einer rein intrapsychischen Betrachtung erleichtert. Diese intersubjektive und die Gestaltung betonende Sicht psychischer Prozesse bezieht sich dann auch auf den therapeutischen Prozess, der als dialogisch, als gemeinsames Geschehen, als Wechselspiel gesehen wird. Therapie wird als ein kreativer, schöpferischer Prozess verstanden, jenseits von Neutralität und Technik (Stolorow). Dass diese Positionen inzwischen nicht mehr nur solche am Rand der Psychoanalyse sind, zeigen bereits das Sonderheft der Psyche: »Therapeutischer Prozeß als schöpferische Beziehung« (1999, H. 9/ 10) und der DGPT-Kongress 2000 »Kreativität und Scheitern« (vgl. Schlösser u. Gerlach 2001). Adler, frühester Kritiker am damaligen Zentrum der Psy-

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choanalyse, der Triebtheorie und Triebdetermination, hat mit seinem Konzept der Kompensation und des Schöpferischen diese Entwicklung vorweggenommen oder diesen Weg eröffnet. Adler wurde immer wieder vorgeworfen, die rationalistische und kognitive Seite (der Psychoanalyse) weiter geführt zu haben, er habe, wie Fromm sagt, »die fruchtbare Synthese von Rationalismus und Romantik« Freuds gesprengt und »eine einseitige rationalistisch-optimistische Theorie« konstruiert (Fromm 1970/77, S. 236). »Schöpferische Kraft« ist eines der Gegenargumente gegen eine solche Kennzeichnung, vielmehr hat er mit ihr die »romantische« Seite verfolgt, die Freud bei sich selbst verleugnet hatte (vgl. Wirth 2001, S. 17). »Die Zentralbegriffe Adlers (Finalität, Fiktion, Lebensstil) werden immer wieder als kognitive, bewußtseinsnahe, sozial gerichtete Konzepte mißverstanden« (Witte 1991, S. 73). Adlers »schöpferische Kraft« hat innerhalb der Individualpsychologie nicht allzu häufig Beachtung gefunden, doch wird sie in ihrem theoretischen Stellenwert von Hellgardt (1995), Witte (1991, 1996) und Bruder-Bezzel (2001) diskutiert. Sie findet sich als Haltung in der Therapie in vielen Beiträgen, besonders bei Heisterkamp (2002) und Schmidt (2000). Sie ist für die Individualpsychologie gleichwohl ein zentraler Begriff, der vor allem dem späteren Adler entstammt. Mit dem Ausdruck »schöpferische Kraft« ist sehr viel von Adler ausgedrückt, und andere Begriffe sind mit einbegriffen: Es zeigt sich in ihm sein Menschenbild, seine Haltung zu Finalität/Kausalität, seine Auffassung von der Dynamik der Persönlichkeit, verknüpft sind mit ihm direkt einzelne Begriffe wie Lebensstil, Finalität, Einzigartigkeit, Einheit. Adlers approximativer Denkstil, sein heuristisches Vorgehen, gehören hier dazu.

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Begriff des Schöpferischen Was bei Adler »schöpferisch« heißt, ist bei anderen Autoren meist nicht mit einem spezifischeren Begriff belegt, sondern wird mit »psychisch aktiv« – im Wahrnehmen, Empfinden, Handeln – oder »organisierende Aktivität« (Stolorow et al. 1996) bezeichnet. Dies wird meist interaktiv gesehen. Der, zugegeben, emphatische Ausdruck »schöpferisch« oder »schöpferische Kraft« bezieht sich auf die Fähigkeit, unbewusst aktiv, gestaltend zu sein. Diese Fähigkeit weist Adler jedem Menschen zu. Mit künstlerischer Produktion im engen Sinn, der Produktion des Künstlers, beschäftigt Adler sich nicht.1 Schöpferisch erscheint bei Adler adjektivisch und – vor allem später – substantivisch, als schöpferische Kraft oder Schöpferkraft. In früheren Schriften spricht er adjektivisch von »schöpferisch« oder »spielerisch«, um das Aktive, Subjektive, Apperzipierende, auch »Freie« zu kennzeichnen – das insoweit ein Gegenbegriff gegen Determination darstellt. In der reifizierten Form von »schöpferische Kraft« oder »Schöpferkraft« bekommt das Schöpferische eine andere Note. Schöpferische Kraft ist eine Antriebs-Kraft, die hinter der schöpferischen Leistung steht. Als »Kraft« rückt sie in die Nähe von (angeborener) Triebkraft, wodurch das Individuum intrapsychisch abgegrenzt erscheint. Das Interaktive ist von ihm dabei nicht direkt angesprochen, aber im Gesamtdenken Adlers durchaus als soziale Dimension mitzudenken. Die Vorstellung eines Subjekts als säkularisiertem Schöpfergott oder Vorstellungen von Schöpfungsmythen wie Fruchtbarkeit oder Gebären drängen sich auf. Das Subjekt erscheint darin als souverän und autonom. Adler selbst nennt die schöpferische Kraft auch »Lebenskraft«, »die identisch 1 Dies war innerhalb der Psychoanalyse das Thema von Otto Rank: das Schöpferische und die Psychologie des Künstlers (vgl. Lieberman 1997; vgl. Wirth 2001).

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ist mit dem Ich« (Adler 1932g, S. 82). Er sieht das »Ich als eine Gebundenheit … die sich selbstschöpferisch bildet, unter Gebrauch aller Möglichkeiten« (Adler 1932h, S. 249). Der Status von »Schöpferkraft« als Grundkraft oder organisierender Instanz wird damit noch einmal deutlich unterstrichen. Als solche ist sie vergleichbar mit dem »Selbst«, das Kohut auch ein »Antriebszentrum« nennt (Kohut 1977, S. 249) oder mit Stolorows Kennzeichnung des Menschen als »Organisator« seines Erlebens (Stolorow et al. 1996, S. 47).

Historische Quellen Adlers »schöpferisch« ist in verschiedene philosophische Bezüge einzuordnen, der Diskussion über Willen(-sfreiheit) und Determination seit Kant, der romantischen Naturphilosophie (Lebenskraft) und dem »romantischen Individualismus«. Unmittelbarer Bezugspunkt allerdings dürfte Nietzsche und die expressionistische Lebenshaltung sein. Die Vorstellung des Schöpferischen als Gegenbegriff zu Determination schließt an eine in der Physik und Philosophie schon lange geführte Diskussion über Determination an, im Zusammenhang mit Willensvorgängen und der Möglichkeit von Willens-Freiheit. Willenshandlungen, die (seit dem 17. Jahrhundert) als gebunden an die Naturgesetze betrachtet wurden, galten als durch Motive determiniert, durch aktuelle oder solche von der Vergangenheit geformte. Um die Jahrhundertwende galt die Determinierung durch Motive (gegenüber einem Indeterminismus) nicht als fraglich, nur ob die Determinierung einem naturwissenschaftlichen Kausalitätsgesetz gehorche, ob Handeln in den Ursachen/Bedingungen aufgehe.2 2 So plädierte z. B. Wilhelm Wundt für ein über die Determination hinausgehendes »Plus« durch eine »schöpferische Energie«, zu einer »schöpferischen Synthese« (vgl. Wimmenauer 1904).

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In diesem Kontext steht der auch von Adler verwendete Begriff »Lebenskraft«. Das Lebenskraft-Konzept hatte seit Ende des 18. Jahrhunderts verschiedene Bedeutungen durchlaufen, war schon mit romantischer Naturphilosophie assoziiert und bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch die Naturwissenschaftler (um Helmholtz, Brücke) polemisch zurückgewiesen worden. Zunächst bedeutete sie eine eigene Kraft des lebenden organischen Körpers, als Erklärung des Organischen (»Grundquell«, Hufeland 1795, zit. n. Gödde 1999, S. 45; vgl. Engels 1980, S. 122ff.; Sonntag 1991, S. 304). Durch die romantische Naturphilosophie wurde »Lebenskraft« dann in einen metaphysischen und teleologischen Kontext gestellt und dann durch den unbewussten »Willen« (Schelling, Schopenhauer) oder durch das »Unbewußte« (Carus) abgelöst (vgl. Gödde 1999, S. 46f.). »An Schellings Neubestimmung des Willens« als »irrationale Kraft« der Natur »haben seine Nachfolger Schopenhauer und Nietzsche angeknüpft. Die Natur wird … als ›Wille zum Leben‹ bzw. als ›Wille zur Macht‹ postuliert« (S. 58f.). Schopenhauer verteidigt »Lebenskraft« als das, was organisches Leben zusammenhält, als »primum mobile« (S. 60), sie ist für ihn »eine unbewußt wirkende, das Leben organisierende und regulierende Urkraft« (S. 61). Der Mensch ist bei Schopenhauer »gelenkt von inneren Kräften, die er nicht kennt und von denen er kaum etwas weiß« (Ellenberger 1973, S. 295). Wir können sehr wohl davon ausgehen, dass für Adler diese Bedeutungen von »Lebenskraft« über seine Kenntnisse von Schopenhauer und Nietzsche in etwa zumindest bekannt waren und er diesen Begriff bewusst gewählt hatte. Bei Nietzsche und den Nietzscheanern sind die »Triebe« das Unbewusste, die schöpferischen Kräfte des Seelenlebens (vgl. Gasser 1997, S. 612f.). Das Schöpferische wird aber auch als experimentelle Freiheit, als Über-sich-Hinausgehen, Überschreiten der Normen, als »Wille zur Macht« verstanden und geradezu verherrlicht. Doch ist das Schöpferische bei Nietzsche, im Unterschied zu Adlers, »aristokratisch« ge-

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dacht, als besondere Fähigkeit des Genies und des Übermenschen (vgl. Kaufmann 1988, S. 291, 481; Aschheim 2000, S. 8). Nietzsches Schöpfertum findet in gewisser Weise seine Fortsetzung in der Aufbruchsstimmung des Expressionismus zur Zeit des Ersten Weltkriegs, mit dem Adler zumindest in Teilen verbunden war: Der Mensch hat sich in einem »ungestümen Befreiungsakt« der »deterministischen Abhängigkeit« entledigt, »der Mensch erkennt sich heute als Schöpfer«, schreibt Ludwig Rubiner, der Adler zu seiner »neuen Welt des Geistigen« hinzurechnet (Rubiner 1916, S. 235ff.). Die Bedeutung von Adlers »Schöpferkraft« als Fähigkeit jedes Individuums, Schöpfer seiner Selbst und somit einzigartig zu sein, steht in einer bis heute immer wieder vertretenen, nicht-deterministischen philosophischen und soziologischen Denktradition, die Undine Eberlein (2000) als »romantischen Individualismus« (gegenüber dem »moralischen Individualismus«) bezeichnet, was sie, mit einer ganzen Reihe von Namen bis heute, ausgehend von Georg Simmel, verbindet und in Beziehung zu gewissen Alternativbewegungen und Ausprägungen des Feminismus setzt. Auch zum Konstruktivismus und Narrativismus lassen sich Verbindungen herstellen. Eberlein umschreibt mit dem »romantischen Individualismus« Positionen, die die »Gestaltung des eigenen Lebens und die Entfaltung des privaten Lebensstils, die Sehnsucht nach ›Selbstverwirklichung und gelingender Identität‹, das Ideal des ›authentischen‹, ›eigentlichen‹, ›wahren‹ oder aber ›originell entworfenen‹, ›erfundenen‹ bzw. ›gebastelten‹ Selbst, die Insistenz auf die unverwechselbare ›Besonderheit‹ und ›Einzigartigkeit‹ der Person hervorheben« (Eberlein 2000, S. 7). Eberlein unterscheidet als zwei Varianten »Selbstfindung« und »Selbstproduktion«, beide mit »Einzigartigkeit« verbunden. Adlers »schöpferische Kraft« wäre dann der Variante »Selbstproduktion« zuzurechnen. Möglicherweise wurde Adler in diesem Denken in Amerika, also in den späten Jahren, bekräftigt. Zumindest Henry Jacoby sieht diesen Einfluss durch »self-realization« (was aber der »Selbstfindung« ent-

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spricht), einem der »typisch amerikanischen Konzepte«, wie er meint ( Jacoby 1983, S. 34).

Schöpferische Fähigkeit und Determination Schöpferisch zu sein ist für Adler eine basale Fähigkeit, gehört für ihn zur Grundausstattung des Menschen. Darin ist er Otto Rank oder Winnicott ähnlich: Kreativität als grundlegende Möglichkeit des Menschen (Rank, vgl. Wirth 2001, S. 23) oder »Kreativität« »gehört zur Grundeinstellung des Individuums … Sie gehört zum Lebendigsein« (Winnicott 1979, S. 80f.). »Schon die einfache Wahrnehmung ist nicht objektiver Eindruck oder nur Erlebnis, sondern eine schöpferische Leistung von Vor- und Hintergedanken, bei der die ganze Persönlichkeit in Schwingung ist« (Adler 1912e, S. 68). Das Individuum ist (inter-)aktiv, gestaltend, nicht nur passiv erlebend, es »macht«, »arrangiert«, »holt herbei« – seine Erinnerungen, Erfahrungen, Perspektiven, Gefühle, auf dem Hintergrund seiner unbewussten Ziele. Die psychischen Funktionen folgen keinem Abbild einer »objektiv« gegebenen Umwelt. Mit diesem Schöpferischen kommt etwas ins Spiel, was Züge von Freiheit, Unbestimmtheit, nicht Vorhersagbarem hat. Es bleibt ein Rest, der sich nicht deduzieren lässt. Damit wendet sich Adler gegen Freuds Triebtheorie und gegen den »psychischen Determinismus«, wie Freud ihn geradezu rigoros in der »Traumdeutung« und in der »Psychopathologie des Alltagslebens« exemplifiziert hat. Auf der vollständigen Ableitbarkeit des Seelischen durch die Triebe hat er immer bestanden – aber wir werden noch sehen, dass auch er, bei komplexeren Prozessen, einen Grad an Indeterminiertheit oder Unaufdeckbarkeit einräumen muss. Kritisch wendet sich Kohut dagegen: In Freuds Modell fand er »keinen Platz für die psychologischen Aktivitäten,

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die als Wahl, Entscheidung und freier Wille bezeichnet werden – obwohl ich wußte, daß dies empirisch beobachtbare Phänomene waren« (Kohut 1977, S. 248). Freud beschreibt in der »Psychopathologie des Alltagslebens« »psychischen Determinismus« so: »gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert« (1904, G. W. Bd. IV, S. 267), es gibt »nichts Willkürliches, Undeterminiertes im Psychischen« (S. 270f.), alles ist dort »streng determiniert«. Es lasse sich zeigen, dass »der Einfall« »jedesmal strenge determiniert wird durch wichtige innere Einstellungen, die im Moment, da sie wirken, uns nicht bekannt sind« (1917, G. W. Bd. XI, S. 105). Freud hebt dies vom Zufall und gegen den freien Willen ab. Der Glaube »an psychische Freiheit und Willkürlichkeit« sei »ganz unwissenschaftlich« und müsse »vor der Anforderung eines auch das Seelenleben beherrschenden Determinismus die Segel streichen« (S. 104). An einer noch späteren Stelle bestreitet er sogar auch bei der Traumarbeit jeden »schöpferischen« Charakter des Vorgangs (1923, G. W. Bd. XIII, S. 217). Freud exemplifiziert diese unbewusste psychische Determinierung meisterhaft an unendlich vielen Beispielen. Allerdings fällt auf, dass diese Beispiele stets sehr einfache Einfälle sind und dass sie außerhalb interaktioneller Prozesse stehen. Einfall folgt auf Einfall, wie in einer automatisch ablaufenden Maschine. Dabei würde eine genauere Analyse dieser Analyseketten vielfach versteckte Zusatzannahmen des Analytikers selbst oder Einfälle, die durch gelenktes Nachfragen zustande kommen, entdecken lassen. Viele dieser Analysen erscheinen wie eine ziselierte, intellektuelle Spielerei – zum Zweck des »Beweises« des Postulats. Die »Entdeckung« der psychischen Determination ist für Freud von zentraler Bedeutung gewesen und erfüllte ihn mit der größten Genugtuung: Sie sei geradezu ein »Triumph für die Deutungskunst« (1923, G. W. Bd. XIII, S. 216). Denn auf diesem Postulat gründet Freud seine Technik der »freien« Assoziation. »Ein starkes Zutrauen zur Strenge der Determinierung im Seelischen war

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sicherlich an der Wendung zu dieser Technik, welche die Hypnose ersetzen sollte, beteiligt« (S. 214). Das für ihn Faszinierende ist, nachgewiesen zu haben, dass auch das »Seelenleben« determiniert sei, das heißt, dass auch das Seelenleben den (Natur-)Gesetzen gehorcht. Das »Seelenleben« ist für ihn weder nur äußeren Stimulantien ausgesetzt – womit er sich gegen die damals gängige Interpretation der »Nervosität« durch »Zivilisation«, durch die Hektik und den Lärm der Großstadt und dem Nachtleben wendet (vgl. Freud 1908) – noch ist das »Seelenleben« impressionistisch, gesetzlos, flüchtig, nicht: »Wir besitzen unser Selbst nicht, von außen weht es uns an … Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag« (Hofmannsthal 1903, S. 83) – womit er sich gegen das »Junge Wien« wendet. Freud hat mit dem »psychischen Determinismus« vielmehr für die Psychologie den Anschluss an die Naturwissenschaft gefunden, was damals erst überhaupt hieß, diese der Wissenschaft zugänglich zu machen. Im Prinzip allerdings ist die Bindung der Psychologie an die Naturwissenschaft nicht wirklich eine »Entdeckung« von Freud, sondern es ist in dieser Zeit, oder schon länger vor Freud, das Anliegen der Philosophie, Physiologie und Psychologie, gegen die romantische Medizin. Freud kann sich mit seinem psychischen Determinismus in die Tradition der damaligen Psychophysik und »Neuen Psychologie« von Helmholtz, Fechner, Weber, Brücke, Wundt und anderen einreihen (vgl. Bruder 1991), einen weiteren »Beleg« für (natur-)gesetzlich ablaufende psychische Prozesse bringen. Mit dieser Tradition der naturgesetzlichen Psychologie hängt auch die Einfachheit seiner Beispiele zusammen. Die Suche nach dem Elementaren (Wahrnehmung, Empfindung) gehörte zum methodischen Rüstzeug. Gerade im Elementaren wurden in der Psychologie die Erklärungsmodelle für das Komplexe gesucht. Adler hatte kurzfristig diesen psychischen Determinismus selbst vertreten, wie seine »Drei Psycho-Analysen von Zahleneinfällen und obsedierenden Zahlen« (Adler 1905b) zeigt, die als Bestätigung und Verteidigung von Freuds »Psychopathologie« angelegt ist und ganz in ihrem Stil vorgeht. Diese

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Schrift wird von Freud auch entsprechend ausführlich positiv zitiert (1904, G. W. Bd. IV, S. 272ff.). Adlers weitere Entwicklung führt ihn aber immer mehr davon weg. 1911 bezieht sich Adlers Kritik vornehmlich gegen diesen triebbestimmten psychischen Determinismus. Er wirft Freud vor, dass er Erklärungen heranziehe, »die (in plattester Weise) eine Analogie aus der Physik oder Chemie zu Hilfe nehmen …«, dass über allem (aller Verdrängung) »die Lust« als »Deus ex machina schwebt« (Adler 1911a, S. 102f.). An späterer Stelle spricht er von Dogmen, Mechanismen von Vergleichen mit Pumpwerk, Magnet, bedrängtem Tier (Adler 1933b, S. 23). Noch bevor Adler den Begriff »schöpferisch« verwendet hat, ist sein Widerstand gegen den Triebdeterminismus deutlich in seinem Konzept der Kompensation. Dieses bedeutete bereits ein Abgehen von endogenen Triebprozessen, es kommt ein Moment der gestalterischen Aktivität, ein Über-sich-Hinausgehen hinzu – was nicht Indeterminismus meint. Dieses kompensatorische Überwinden, der fiktive Größenwunsch, läuft zwar unbewusst, aber nicht automatisch ab, kennt Varianten und bewirkt selbst Neues. In einem umfassenderen Sinn verstanden schreibt so auch Erdheim: »Größen- und Allmachtsphantasien« trugen »wesentlich zur Entfaltung des kreativen Potentials des Menschen« bei (Erdheim 1982, S. 411). Die Differenz Adler–Freud liegt nicht darin, dass Adler ohne unbewusste Prozesse, ohne ein »dahinterliegendes Motiv« auskäme. Die Differenz könnte man vielmehr auf zwei Ebenen beschreiben: – Adler erklärt die unbewusste Motivierung nicht mit dem Trieb, sondern mit dem Ziel (der Überwindung). Durch Finalität, durch die finale Brauchbarkeit wird gewählt. Sie ist es, die den Prozessen, auch den Trieben, ihre Richtung gibt. »Die Richtung und die gerichtete Ausnützung von ›Instinkten‹, ›Trieben‹ … ist das künstlerische Werk des Kindes« (Adler 1933b, S. 30). – Das Ziel als Motor ist bedingt (durch das Gefühl der Un-

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terlegenheit), aber ist einem bloßen Automatismus entzogen. Psychisches ist bei Adler bedingt, aber nicht kausal. Über die Determinierung hinaus lässt er noch einen nicht vorhersagbaren Freiraum, der zumindest dem Beobachter keine lückenlose, restlose Aufklärung zulässt. Adler lässt Wahrscheinlichkeiten zu, einen spielerischen Umgang auch im Unbewussten: »Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten … Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums« (S. 119). Verhalten ist durch mehrere mögliche unbewusste Motive bedingt, das Individuum wählt eines davon aus – damit ist eine strikte Kausalkette nicht möglich, für umfassende Prozesse schon gar nicht. Das Unbewusste ist komplex, und diese »Komplexität des Unbewußten« bedingt »die Vielfalt der Lösungsversuche mit« (Erdheim 1982, S. 275). Adler wehrt sich also nicht gegen die Determinierung des Bewusstseins durch das Unbewusste, er wehrt sich gegen Freuds Striktheit oder strenge Kausalität, in der unbewusste Prozesse ablaufen sollen, und gegen die Vorstellung – er würde Illusion oder Fiktion sagen –, dass es möglich sei, lückenlos zu analysieren – selbstverständlich vor allem dann, wenn es um umfassendere Prozesse geht. Wie soll auch die unbewusste Dynamik beispielsweise der Abwehrmechanismen, der Triebschicksale, der Kompromissbildung ohne diese Freiheitsgrade auskommen? In Freuds Begriff »Sublimierung« sieht Wirth ein »Schlupfloch« zum Eingeständnis des kreativen Potenzials, ebenso wie in Freuds Ziel der »Kur«, den Patienten aus seinen Wiederholungszwängen zu befreien (Wirth 2001, S. 23) Freud selbst hat dann auf dem »psychischen Determinismus« bei komplexeren Prozessen nicht bestanden. Bei den Kindheits- und Deckerinnerungen spricht er von »Wahl«: Es sei bekannt, »daß das Gedächtnis unter den ihm dargebotenen Eindrücken eine Auswahl trifft«, das Erinnern habe eine »tendenziöse Natur« (1904, G. W. Bd. IV, S. 51). Auch

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wenn es um eine ganze Lebensgeschichte geht, ist er mit dem ätiologischen Determinismus vorsichtig: Eine psychoanalytisch orientierte Biografie dürfe nicht vorschnell deterministisch ableiten, sie würde an wichtigen Punkten nicht nachweisen können, »daß das Individuum nur so und nicht anders werden konnte«. »Wir müssen hier einen Grad von Freiheit anerkennen, der psychoanalytisch nicht mehr aufzulösen ist« (1910, G. W. Bd. VIII, S. 208f.). Ähnlich konstatiert er Künstlern (und Philosophen) »Intuition« – verengt damit allerdings wieder den Geltungsbereich auf besondere Personen – sodass, durch den Zusammenhang mit der Sublimierung, »auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist« (S. 209). Mit den beiden Konzepten, psychischer Determinismus und schöpferische Kraft, prallen offenbar zwei unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge mit unterschiedlichen Paradigmen aufeinander, die damals als unversöhnliche Gegensätze erschienen. In (dialektischer) Spannung zwischen Determination und Freiheit, zwischen Gesetzmäßigkeit und schöpferischer Kraft kann wohl beides miteinander verbunden, aber nicht aufgehoben werden. Vielleicht könnte man sagen, schöpferische Kraft sei eine angenehmere Fiktion – was Freud polemisch als »Lustprämie« bezeichnen würde –, die zumindest der Beobachtung und dem Erleben näher kommt.

Persönlichkeit als Kunstwerk und Künstler Indem Adler in den späteren Jahren von der schöpferischen Leistung zur »Schöpferkraft« übergeht, erweitert er den Blick auf das Ganze der Persönlichkeit, erweitert er den Geltungsbereich. Hier kommt Adler dem romantischen Selbstschöpfungsprozess am nächsten. Adler entwickelt ein Menschenbild, in dem dem Subjekt in seiner Subjekthaftigkeit, in seiner relativen Freiheit und Einzigartigkeit gehuldigt wird.

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»Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit« (Adler 1930a, S. 7). Die Persönlichkeit ist also »Bild«, das heißt Kunstwerk. Sie ist »gemacht«, kunstvoll aufgebaut und als solches ein Unikat. Und die Persönlichkeit ist zugleich selbst der Künstler oder Handwerker dieses Produkts. Die Person schafft sich selbst, erfindet seine Person, erzählt sich seine Geschichte, ist Subjekt seiner Geschichte. Das Subjekt scheint souverän, autonom, ganz so, wie dies im Mythos der »Selbstproduktion« des romantischen Individualismus aufscheint. Ähnlich heißt es bei Otto Rank, Kreativität gehöre zu den grundlegenden Möglichkeiten des Menschen, er stelle seine schöpferischen Kräfte in den Dienst der Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Wirth 2001, S. 23). Auch innerhalb des modernen Konstruktivismus wird von der Notwendigkeit eines sich ständigen Neu-Produzierens gesprochen. Diese Souveränität des Subjekts ist für Adler aber auch scheinbar oder eingeschränkt. »Doch als Künstler ist es weder ein vollkommener Handwerker noch ein Mensch mit untrüglichem Verständnis für Seele und Körper« (Adler 1930a, S. 7). Das Künstler-Individuum unterliegt Irrtümern, das Kunstwerk ist nicht vollkommen. Der Künstler weiß nicht sicher, was er tut, versteht sich nicht selbst, ist nicht Herr über sich – was an Freuds »dummen August« erinnert. Wir werden noch weitere Einschränkungen der Selbstproduktion sehen. Dieses Verständnis von »Kunstwerk« gilt auch für die Neurose und Psychose und deren Symptomwahl. »Die Neurose und die Psychose sind Kompensationsversuche, konstruktive Leistungen der Psyche« (Adler 1912a, S. 370). »Es steckt noch etwas Persönliches, Einmaliges darin« (Adler 1936k, S. 65f.). »Wir werden die Symptomwahl nur verstehen, wenn wir sie als ein Kunstwerk betrachten. Wir müssen uns unseres richterlichen Urteils entschlagen und nur bewundernd betrachten, wie jeder Mensch ein Künstler ist auf seinem Lebenswege, wohl aus seinen Irrtümern heraus, aus Beeinflussungen, die sicherlich nicht die richti-

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gen waren, die der Betreffende auch nicht richtig beantwortet hat« (S. 65f.). Neurose ist somit zwar eine Kreation, aber sie ist auf Irrtümern oder auf falschen oder starren Fiktionen aufgebaut. »Der Neurotiker hängt in den Maschen der Fiktion« (Adler 1912a, S. 64) oder »er ist ans Kreuz seiner Fiktion geschlagen« (S. 105). Daraus könnte man versucht sein zu schließen, dass die Kreativität »des Neurotikers« gebremst oder eingeengt wäre, dass der Grad seiner Freiheit begrenzt sei. Für bestimmte Bereiche mag das stimmen, in dieser Allgemeinheit ist das aber ganz sicher nicht richtig. Neurose und Kreativität lassen sich sehr wohl verbinden, sodass auch Rank nicht Recht hat zu sagen, dem Neurotiker gelänge es nicht, schöpferisch im Sinn von künstlerisch zu sein (vgl. Wirth 2001, S. 35).

Einschränkungen der schöpferischen Kraft »Schöpferische Kraft« und Anlage und Umwelt Mit Blick auf die gesamte Entwicklung einer Biografie bringt Adler die schöpferische Leistung oder Kraft ins Verhältnis zu Anlage und Umwelt. Er wendet sich somit nicht nur gegen die psychische Determination, sondern auch gegen die Determination durch Biologie und Erziehungseinflüsse, gegen Biologismus und Milieupsychologie. Diese Überlegungen hat er wohl erst in seiner Amerika-Zeit vorgetragen. Es lassen sich »die Einflüsse der angeborenen Fähigkeiten … sowie die Einflüsse der Umgebung und Erziehung als Bausteine betrachten, aus denen das Kind in spielerischer Kunst seinen Lebensstil aufbaut« (Adler 1933b, S. 22). Bei Freud heißt es entsprechend, dass jeder Mensch durch das Zusammenwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen auf ihn während seiner Kinderjahre eine be-

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stimmte Eigenart erworben … hat (1912, G. W. Bd. VIII, S. 364). Anlage und Umwelt sind für Adler also »Material«, »Bausteine« für die Persönlichkeitsgestaltung. Die »spielerische Kunst« ist in ihrer Gestaltung und Wirkung durch Anlage und soziale Einflüsse oder Interaktionen gebunden, ist »kontextabhängig« (Stolorow) und somit eingeschränkt. Umgekehrt wirken Anlage/Umwelt nicht »objektiv«, sondern bekommen ihre Bedeutung nur durch die schöpferische Verarbeitung, durch die subjektive Sicht. »Wichtiger als Anlage, objektives Erlebnis und Milieu ist deren subjektive Einschätzung, und ferner: diese Einschätzung steht in einem gewissen, freilich oft wunderlichen Verhältnis zu den Realien« (Adler 1914h, S. 23). Daher können ähnliche körperliche und umweltliche Einflüsse, selbst traumatische Einwirkungen, zu ganz unterschiedlichen psychologischen Ergebnissen führen. Das »Schöpferische« manifestiert sich also in der »subjektiven Einschätzung«, »Meinung«, »persönlichen Auffassung«. »Jeder Mensch formt sich gemäß seiner persönlichen Auffassung von den Dingen aus« (Adler 1930a, S. 7). »Das Individuum sieht alle seine Probleme aus einer Perspektive, die seine eigene Schöpfung ist …« (Adler 1935, zit. n. Ansbacher u. Ansbacher 1982, S. 208). Adler braucht das »Schöpferische« in der Argumentation gegen einen ätiologischen Determinismus, der die individuellen Spielarten und Differenzen nicht mehr verallgemeinernd erklären kann, gegen eine kausale Zuweisung bestimmter klinischer Bilder oder Psychodynamiken zu bestimmten allgemeinen Bedingungen. Deren Rekonstruktionen müssen höchst individuell sein, sie gehen nie ganz auf, alternative Verläufe scheinen möglich gewesen zu sein. Adler gibt dem Schöpferischen ein starkes Gewicht, auch wenn er versucht, ein Gleichgewicht zwischen Anlage, Umwelt und schöpferische Kraft herzustellen. Es wirkt bei Adler allerdings so, als würde die schöpferische Kraft wie eine dritte Komponente, additiv zu Anlage und Umwelt hinzukom-

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men und nur als Vorgang im Inneren, als innerpsychisch verstanden werden. In Wirklichkeit muss man sich das Zusammenspiel natürlich komplexer vorstellen und interaktiv – und diese interaktive, intersubjektive Sicht scheint bei Adler noch zu wenig vorhanden. Schöpferische Kraft, die subjektive Sicht, das Selbst oder mein Bild von mir selbst, ist nicht etwas Zusätzliches, sondern ist selbst aus der Beziehung, zwischen mir und der »Umwelt« entstanden. »Das Selbst enthält das Objekt … Das Selbst ist in seinem Kern … bereits intersubjektiv konstituiert« (Altmeyer 2000, S. 213). Außen (Einfluss) – Innen (Kraft) sind nicht getrennt, Intrapsychisches ist »kontextabhängig«, Intrapsychisches ist intersubjektiv. »Diese Perspektive schließt die Kluft zwischen dem intrapsychischen und dem interpersonalen Bereich – sie macht die alte Dichotomie obsolet« (Orange et al. 2001, S. 98). Solche Gedanken hatte bereits Winnicott nachdrücklich vertreten: Der Säugling ist ohne Mutter nicht denkbar, die »Einheit ist nicht das Individuum, die Einheit ist ein Gefüge aus Umwelt und Individuum« (zit. n. Altmeyer 2000, S. 212). Auch Winnicotts »Spiegelmetapher« drückte dies aus (Winnicott 1979, S. 128, vgl. Altmeyer 2000, S. 222). Da bei Adler das Interaktive nicht deutlich genug ist, erscheint bei ihm die subjektive Seite, damit das Pathos der Selbstproduktion, an manchen Stellen, wie »im Reich der Freiheit« oder »Persönlichkeit formt sich nach seinem Bilde«, vielleicht überzogen. In der Zurückweisung der Determination entsteht die Gefahr, die Zwänge durch Anlage und Umwelt aus dem Auge zu verlieren. Denn natürlich sind wir, in unterschiedlichem Ausmaß zwar, auch Objekt, Opfer, Produkt der physischen, psychologischen und kulturellen Verhältnisse. Die marxistischen Individualpsychologen Anfang der dreißiger Jahre haben Adler immer wieder vorgeworfen, dies übersehen zu haben, und haben deshalb gegen die schöpferische Kraft polemisiert. Wortführer dieser Kritik war Manès Sperber. Adler sei mit der »eingeborenen Schöpferkraft« zur

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»irrationalen Willkür der Persönlichkeit« geflüchtet. »Er ist damit restlos vom Kausalitätsprinzip abgewichen und ist Teleologist geworden« (Sperber 1932, S. 18, 20). Mit diesem »Indeterminismus« (S. 15) verzichte Adler darauf, die gesellschaftlichen Wurzeln und Grenzen zu berücksichtigen. »Die Rolle der Erziehung und die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung der Persönlichkeit« falle »zu einem Nichts zusammen« (S. 15ff.). In ähnlicher Weise kritisierte auch Henry Jacoby (1983, S. 34f.) Adlers schöpferische Kraft. Diese Kritik überspannt den Bogen, übergeht die Einschränkungen, die Adler der schöpferischen Kraft selbst gibt. Sie ist vielleicht dem Pathos Adlers geschuldet, das bereits mit der Reifizierung als »schöpferischer Kraft« beginnt. Diese Kritik entstammt zugleich einem eingeengten Marxismus-Begriff dieser Zeit – wo doch Marx selbst die aktive, planende Seite des Menschen betont, den Menschen als Produkt und als Produzenten seiner selbst sieht. Alle subjektzentrierten Ansätze, so auch Adlers – sofern sie nicht radikal intersubjektiv sind –, stehen in dieser Gefahr, die Sozialisationsbedingungen zu gering zu veranschlagen und dem Einzelnen die volle Verantwortung zuzuweisen oder aufzubürden. Das aber führt entweder zu einer Heroisierung und Idealisierung des Individuums, seiner Leistungen und Fähigkeiten, oder umgekehrt zu Verurteilungen und moralischen Vorwürfen. Adler ist, mit seinem häufigen moralischen Ton, davon nicht frei. Die derzeit beliebte Polemik gegen die »Opferhaltung« von Patienten (z. B. bei Bräutigam 1990; Hohage 1997, S. 112ff.) ist dafür ein Beispiel. Therapie kann dann zu einer moralischen Veranstaltung und Erziehung führen.

Lebensstil und schöpferische Kraft Aus dem wiederholten interaktiven Zusammenspiel von äußeren Einwirkungen (als »Bausteine«) und den Antworten darauf bilden sich Meinungen, Vorstellungen, Erfahrungen.

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Die werden habituell und gehen in die Wahrnehmung neuer Erlebnisse ein. Das ist die Vorstellung von der (Bildung einer) »Struktur« einer Person oder der Bildung einer »Eigenart« oder eines »Klischees« (Freud 1912, G. W. Bd. VIII, S. 364) oder eines »unbewußten Schemas« »durch Verinnerlichung typischer Interaktionsmuster« (Thomä 1999, S. 829). Adler nennt das »Lebensstil«, ein »Schema«, ein »Bewegungsgesetz« des Lebens. Er setzt »Lebensstil« sowohl mit dem »Ich« (Adler 1935e, S. 72) als auch mit dem »Unbewußten« gleich (Adler 1930j, S. 51). Aus verschiedenen Adler-Zitaten kommt Witte dann zu »Gleichsetzungen«, die »eine Sprengkraft enthalten«: »Das Ich = das Unbewußte = der Lebensstil = die schöpferische Kraft« (Witte 1991, S. 73). Lebensstil ist Produkt der schöpferischen Kraft, ist das Werk des »Künstlers«. Der Lebensstil hat die Einflüsse und Erfahrungen in schöpferischer Weise verarbeitet, er ist die Antwort, die Stellungnahme auf die – physische oder psychologische – Realität. Damit aber ist der schöpferischen Kraft eine Grenze gesetzt, nun durch den Lebensstil. Der »schöpferische Geist« wird »in die Bahn des kindlichen Lebensstils gezwängt« (Adler 1933b, S. 23). Das geschieht im Lauf der Entwicklung, Adlers Meinung nach bereits im Alter von etwa drei bis fünf Jahren – was Freuds Vorstellung vom Entwicklungsabschluss etwa entspricht. Die »freie« schöpferische Kraft »in der ersten Kindheit« wird zur »gebundenen Kraft«, »sobald das Kind sich ein festes Bewegungsgesetz für sein Leben gegeben hat« (S. 22). Sperber sieht darin eine gewisse Tragik der Einengung im Verlauf des Erwachsenenwerdens: »Anfangs sind die Möglichkeiten praktisch … unendlich. Zahllose Türen öffnen sich vor uns. Mit jedem Schritt durch eine Tür vermindert sich die Zahl der Türen, … so vernichten wir mit jedem Schritt zahllose Möglichkeiten … und realisieren eine einzige, …« (Sperber 1970, S. 145). Adler ist mit dem Lebensstil weit davon entfernt, die Subjekthaftigkeit nur auf die je aktuelle Gegenwart zu beziehen

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oder eine grenzenlose Flexibilität und Beliebigkeit zu behaupten. Als Sediment der Vergangenheit wirkt der Lebensstil fort, prägt neue Erfahrungen, vermittelt ein Gefühl von Identität und Sicherheit. Er bringt Kontinuitäten, Wiederholungen hervor oder ist die Kontinuität. Lebensstil wird damit zur Quelle der Determination. Neue Erfahrungen werden nicht mehr als neu wahrgenommen, der Lebensstil kann nicht oder kaum mehr korrigiert werden durch neue Erfahrungen. Wir kommen nicht heraus aus unseren Wiederholungen, auch wenn wir möchten – das ist die Tragik der Determination. Dass aber in Wahrheit diese Kontinuitätsdarstellungen auch wieder nicht so ganz stimmen, immer auch Konstruktionen sind, die wir von außen oder wir selbst im Nachhinein, in der Erzählung unserer Geschichte, herstellen, wird heute – auch in der Psychoanalyse – durchaus eingeräumt, unter dem Einfluss empirischer Forschung (vgl. Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1991) und dem Einfluss des postmodernen Konstruktivismus. Die Biografie ist nicht nur die Entfaltung und Wiederholung früherer Erfahrung. Das hatte – wie bereits gesehen – auch Freud zuerkannt. Wir sind nun mit dem Lebensstil an einem Punkt angelangt, wo man sich die Augen reiben könnte: bei Kontinuitäten (nicht Brüchen), Wiederholungen, Struktur, psychischem Determinismus, ätiologischer Determination – Sichtweisen, die dem psychoanalytischen Denken ja entsprechen, von denen sich Adler scheinbar hatte verabschieden wollen. Ja, Erwin Wexberg – der dem naturwissenschaftlichen Flügel innerhalb der Individualpsychologie angehörte – stellt sich nachdrücklich hinter die »Lehre vom psychischen Determinismus« Freuds, nach der »alle seelischen Äußerungen des Menschen eindeutig durch seelische Motive bestimmt« sind, die aber mit der Libidotheorie, die er »als Irrweg« ablehnt, nichts zu tun habe (Wexberg 1927, S. 298f.). Ätiologischer Determinismus im biografischen Ablauf, das Verhältnis von »Freiheit« und »Determination«, sind bei Adler und Freud so verschieden nicht. Aber die

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Konstrukte und Begründungen sind andere: Trieb und das dynamische Unbewusste in den Triebschicksalen, Abwehrmechanismen, psychosoziale Entwicklungsreihe bei Freud, schöpferische Kraft und Lebensstil bei Adler. Schöpferische Kraft ist ein anderes Konstrukt – ein durchaus vernünftiges –, um Freiheit auszudrücken und zugleich Kontinuität zu erklären. Sperber hat in seinen späteren Jahren seine Kritik an der schöpferischen Kraft abgemildert: »Zwar glaube ich auch heute noch nicht, daß Adler darin durchaus recht hatte, aber noch viel weniger als seinerzeit weiß ich eine andere Erklärung, die überzeugender und beweiskräftiger wäre« (Sperber 1970, S. 74f.).

Das Schöpferische in der wissenschaftlichtherapeutischen Praxis Wenn wir nun schon konstatieren mussten, dass Adler mit »schöpferisch« und »Lebensstil« Konstrukte einführte, die dann doch zu ähnlichen Schlüssen (Determination etc.) führten, gegen die er angetreten zu sein schien, müssen wir uns fragen, ob unsere Überlegungen und Abgrenzungen nicht ein überflüssiger Umweg oder gar ein Irrweg waren oder ob diese anderen Konstrukte nicht doch Auswirkungen auf die wissenschaftliche Haltung und therapeutische Praxis haben. Die Antwort auf Letzteres ist Ja, und dies auf verschiedenen Ebenen.

Wissenschaft vom (einzigartigen und einheitlichen) Individuum Mit der Vorstellung des Schöpferischen ist Psychologie als Wissenschaft vom Individuum, vom Individuellen, von der Individualität zu begründen, die das Individuum als Subjekt

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in seiner Einheit und Einzigartigkeit begreift. Witte definiert daher die Individualpsychologie als »heuristische Theorie … wie das Individuum … erfaßt werden kann … Adler fragt nach dem Einzelnen in seiner Einmaligkeit« (Witte 1991, S. 70). Das wird von Adler und seinen Anhängern immer wiederholt: »Unsere Wissenschaft erfordert ein streng individualisierendes Vorgehen und ist deshalb Verallgemeinerungen nicht geneigt«, was auch Vorhersagen erschwere (Adler 1914h, S. 23). »Allgemeine Regeln … sollen nicht mehr sein als Hilfsmittel« (1933b, S. 22). Deshalb verweigerte sich Adler der Schemata und der Typologien; er stellte keine Entwicklungsphasen auf. Rank geht da noch weiter, wenn er sagt: Jedes Individuum hat seine eigene Psychologie. Es gibt keine wissenschaftlichen Verallgemeinerungen. Das Leben ist immer neu (Lieberman 1997, S. 367). Dieses »individualisierende Vorgehen« – das den individuellen Bewegungen, der je spezifischen »psychischen Realität«, dem Aufbau und weiteren Wirken des Lebensstils nachgeht – ist als wissenschaftliche Haltung natürlich nicht ganz unproblematisch und vielleicht gar nicht strikt durchzuhalten. Dies wurde schon zu Adlers Lebzeiten von seinen Anhängern problematisiert. Zwar müsse man »das psychische Geschehen aus dem individuellen Zusammenhang« verstehen, aber man solle auch zu »allgemeinen Bewegungsgesetzen« kommen, um »nicht im Einzelfall steckenzubleiben«, forderte bereits 1914 Carl Furtmüller (1914, S. 1). Ebenso unterstützt Arthur Kronfeld (1926, S. 16) »die Wissenschaft vom Individuellen«, aber es bleibe »die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Ausrichtung auf das Allgemeine und der Einzigartigkeit und Irrationalität alles Individuellen … als unvollendbare Aufgabe« bestehen (vgl. Bruder-Bezzel 1991, S. 165f.). Witte hebt darüber hinaus eindringlich den Zusammenhang zwischen schöpferischer Kraft, die sich im Lebensstil spiegelt, und Adlers Konzept der Einheit der Persönlichkeit, dem »Fundament der individualpsychologischen Methode«

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(Witte 1996, S. 193) hervor. In der »Konstitutionsweise« des Individuums als Kunst und Künstler liege der »ontologische Grund der Einheit der Persönlichkeit« (S. 189). Die »transzendentale Dimension des ›Schöpferischen‹ in der Selbstgestaltung« sei der »Ursprung der Einheitsthese« (S. 198). Witte verweist dabei auf prägnante Stellen bei Adler selbst: »In diesem Sinn ist jeder Mensch ein Künstler, denn er hat … etwas geschaffen. Sein seelisches Bild ist daher eine Einheit« (Adler 1926k, S. 135). Die (Herstellung der) Einheit der Persönlichkeit, die der frühe Adler mit der Finalität, mit der Dynamik von Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation begründet hatte (die beide somit kein Konflikt, keine zwei Seelen in einer Brust sind), sieht er nun im Schöpferischen, im Lebensstil begründet. Mit der schöpferischen (Lebens-)Kraft ist die »Entstehung dieser Einheit« hergestellt (Adler 1926k, S. 136). Das verweist noch einmal darauf, dass in dieser Dynamik bereits das Schöpferische enthalten ist – auch wenn es Adler da noch nicht so formuliert hatte.

Verstehen als Zugang zum Psychischen Wenn psychische Phänomene und die Entwicklung des Individuums nicht nach verallgemeinerbaren und strengen Gesetzen abläuft, dann ist »Verstehen«, »intuitive Einfühlung«, »Intuition«, gar die »künstlerische Versenkung« (Adler 1913a, S. 58) in das »individuelle Material«, den Lebensstil, die Selbsteinschätzung, dem Psychischen angemessen. Davon spricht Adler häufig: Psychische Prozesse können »nicht kausal begriffen«, sondern nur »verstanden« werden (Adler 1933b, S. 23), »Die menschliche Seele kann nur ein Querkopf ganz in ein wissenschaftliches Lehrgebäude einfangen wollen …« (Adler 1912a/1922, S. 369). Dieses Verstehen sei »intuitiv«, erfordere selbst eine »schöpferische Gestaltungskraft« (Adler 1913f, S. 123f.), das wissenschaftliche Erfassen sei selbst eine Kunst. Die Individualpsychologie wurde daher mehrheitlich als ei-

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ne »verstehende«, idiografische (versus erklärende, nomothetische) Wissenschaft gesehen, damit auch den »Geisteswissenschaften« zugeordnet. Auch das blieb aber unter Adlers Anhängern nicht unwidersprochen, gerade darüber, über den Begriff des Verstehens (als Intuition oder als teleologischsinndeutendes Verstehen) und über die Zuordnung der Individualpsychologie zur Geistes- oder Naturwissenschaft, hatte sich in den zwanziger Jahren eine Debatte entsponnen, mit der auch die Fragen Kausalität/Finalität/Dialektik oder Monismus/Dualismus, Verhältnis Leib–Seele verbunden waren (vgl. Bruder-Bezzel 1991, S. 166f.).

Therapie als schöpferisches Wechselspiel Therapie erfordert so vom Therapeuten eine »künstlerische Versenkung«, ein »Nachspüren«, um die »psychische Realität«, vor allem die unbewusste Ebene, die nicht gesagten Bedeutungen, die Nebentöne erfassen zu können – also was »Empathie« (Kohut) oder »Mit-bewegung« heißt, um zu einem »basalen Verstehen« (Heisterkamp 2002) zu kommen. Therapie ist aber durch beide Seiten, Analytiker und Analysand, ein »dialogischer« Prozess, ein »assoziatives Nachgehen aller zwischen Analysand und Analytiker aufscheinenden Gedanken, Bildern und Gefühlen« (Schmidt 2000, S. 2). Für Winnicott, für den Kreativität und Spiel engstens zusammengehören und so bedeutsam sind, geschieht Psychotherapie »dort, wo zwei Bereiche des Spielens sich überschneiden« (Winnicott 1979, S. 49). Es entsteht dadurch ein »dritter Bereich«, ein »potentieller Raum« (S. 65). Ganz ähnlich formulieren Orange et al. (2001, S. 11), dass durch das »Überschneiden zweier Subjektivitäten« ein »spezifisches psychisches Feld konstituiert« wird. Darin wird etwas Neues, Gemeinsames geschaffen. Im schöpferischen Hin und Her tragen beide zur Übertragung und Gegenübertragung bei, wie Gill, Stolorow, Thomä und viele andere dies inzwischen sehen (vgl. Thomä 1999, S. 833, 845).

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»Aus der Wechselwirkung von Übertragung und Gegenübertragung …, der organisierenden Aktivität von Patient und Analytiker in der analytischen Erfahrung, geht das intersubjektive Feld der Analyse hervor« (Orange et al. 2001, S. 18). Damit dieser Prozess ein fruchtbarer »dialogischer«, intersubjektiver Prozess wird, in dem »neue, flexiblere Organisationsprinzipien« auftauchen können, »die nun der Reflexion zugänglich sind und das Erfahrungsrepertoire des Patienten erweitern, bereichern und komplexer gestalten« (S. 18), muss es allerdings erst »ermöglicht« werden, durch frei schwebende Aufmerksamkeit, durch Bereitstellung des Raums und durch »emotionale Verfügbarkeit«. Therapie ist »jenseits der Technik« (S. 33), Therapie ist »Praxis«, die nicht vollständig kontrollierbar ist, die »auf das Besondere zielt« und ihren »Ausdruck in einer forschenden Haltung, in Besonnenheit und Entdeckerfreude« findet (S. 44). Diese Freude im Entdecken, das Herausarbeiten des Besonderen, hat mehr Chancen, wenn das Individuum nicht als Spielball von Trieben, mit denen er im Kampf steht, oder als vergifteter Behälter oder als Mensch voller »Defizite« und »Defekte« gesehen wird. Adler sprach vielmehr vom »bewundernden« Kunstwerk, auch der Neurose.

Schluss Das Konzept Schöpferische Kraft passt in eine Zeit, in der Plastizität und Flexibilität des Menschen propagiert und benötigt werden, in Zeiten, da neue Antworten auf neue Situationen gefragt sind. Es lässt Perspektiven auf den flexiblen Menschen zu, der eine Freisetzung oder Befreiung aus vorgefertigten Lebensentwürfen bedeutet – durchaus mit einschneidenden und schmerzlichen Nachteilen verbunden. Dem entsprechen die postmodernen Theorieentwürfe wie dem Konstruktivismus und der Narration. Sie leben von

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dem Gedanken des Sich-selbst-Schaffens, Sich-Erfindens, der Bedeutung der Realität durch die subjektive Bedeutungszuschreibung. Für die Möglichkeit dafür wäre die schöpferische Kraft der Erklärungsbegriff. Soweit ist Adlers Ansatz konstruktivistisch oder mit dem Konstruktivismus kompatibel. Bei Adler ist schöpferische Kraft nicht autonom, sie hat die physische und psychische Wirklichkeit als ihre Bausteine. Sie ist nicht nur Gegenwart, sondern bewahrt in dem von ihr geprägten Lebensstil die Vergangenheit und variiert schöpferisch ihre Antworten auf neue Erfahrungen. Adler ist nicht Indeterminist; er rechnet mit einem »festen Kern«, der durch die schöpferische Kraft zwar aufgeweicht wird, aber nicht in Widerspruch tritt. Schöpferische Kraft ist das Unbewusste, aber es gehorcht nicht Naturgesetzen.

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Adlers Überzeugung: »es könnte alles auch ganz anders (gewesen) sein«, wurde immer schon als Provokation empfunden – Provokation nicht so sehr hinsichtlich des Analysanden, denn die Verkennung, die Selbsttäuschung des Analysanden war der Psychoanalyse selbstverständlich. Nein, die Provokation Adlers bestand darin, dass er diese Skepsis auf die psychoanalytischen Erklärungen selber ausgedehnt hatte, dass er annahm, dass auch der Psychoanalytiker sich selbst täuschen könnte, dass auch die Psychoanalyse nicht prinzipiell von dieser Grundstruktur unserer Erkenntnis befreit sei: Die Wahrnehmung liefert uns nicht Abbilder der Realität, sondern Bilder, unsere Bilder, Bilder, die wir selbst entworfen haben. In diesen Bildern steckt deshalb etwas von uns, unseren Wünschen, Absichten – vielleicht mehr, als dass sie die Beschaffenheit der Realität, ihre Tatsächlichkeit widerspiegeln. Indem und wenn wir unsere Bilder nicht nur als unsere Abbilder der Realität verstehen, sondern als die Realität selbst, »schaffen« wir diese Realität, »erfinden« wir sie – wo wir doch davon überzeugt sind, sie gefunden, »entdeckt« zu haben. Auf jeden Fall bewegen wir uns in diesen Bildern, so als bewegten wir uns in »der Realität«. Insofern stellen wir unsere Welt und Wirklichkeit selbst her, ist unsere Realität unsere Konstruktion (Varela 1979; Maturana u. Varela 1980, 1987; Maturana 1982; v. Foerster 1985; v. Glasersfeld 1985). Adler hat als einer der Ersten innerhalb der Psychoanalyse diese »konstruktivistische« Position vertreten (s. Bruder 1996, 1998). Sie zeigt sich in seiner Wahrnehmungstheorie,

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in den Begriffen der »tendenziösen Apperzeption«, der »Fiktion«, in seinen Vorstellungen davon, dass wir unsere Gefühle und Erinnerungen »machen«, in seiner Entwicklungsund Persönlichkeitstheorie, in seinen Vorstellungen über Erziehung und Therapie. Im »Sinn des Lebens« schreibt Adler: »wir [sind] nicht imstande …, durch unsere Sinne Tatsachen, sondern nur ein subjektives Bild, einen Abglanz der Außenwelt zu empfangen« (Adler 1933b, S. 25f.). Unser Verhalten kann also gar nicht durch die »objektive Realität« bestimmt sein, sondern durch die »subjektive Ansicht« des Individuums von den »Lebenstatsachen« (Adler 1930a, S. 7f.). Auf dieser subjektiven Ansicht bauen die gesamte Persönlichkeitsstruktur, ihr besonderer Lebensstil und ihr Ziel auf (S. 7f.). »Alle seelischen Phänomene« sind eine »schöpferische Anwort«, »schöpferisch antwortende Stellungnahmen« des Individuums (Adler 1926, S. 399f.). Diese von Adler vertretene konstruktivistische Position ist durchaus nicht unvereinbar mit der Psychoanalyse, hat es die Psychoanalyse doch mit »psychischer Realität« zu tun – »im Gegensatz zur materiellen«. Die »psychische Realität« sei für die Psychoanalyse »die maßgebende« (Freud 1917, S. 383). Doch hat Adler ein anderes Bild von dieser psychischen Realität gezeichnet als Freud und war damit in Widerspruch zu Freud geraten und in Widerstreit zu ihm getreten: Das Streben nach »Macht« und Überlegenheit sei das »Ziel der Psyche«, motiviert durch das Streben nach Überwindung der Beschränkungen, der Benachteiligung, der »Minderwertigkeit«. Dieses Streben nach (fiktiver) Überwindung ist es, was die Wahrnehmung, das Erinnern, Fühlen lenkt und die »Triebe« richtet, womit Informationen aus der Umwelt aktiv konstruiert, zur psychischen Realität werden. Die konstruktivistische Epistemologie schreibt keine bestimmte Konstruktion der Welt, der psychischen Realität vor und privilegiert keine bestimmte – im Gegenteil, sie legitimiert die Vielfalt unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Modelle, Skizzen und Entwürfe. Die adlersche Konstruktion steht deshalb, unter konstruktivistischen Ge-

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sichtspunkten betrachtet, gleichberechtigt neben der freudschen. Der adlersche Entwurf hält die konstruktivistische Haltung konsequent durch, indem er davon ausgeht, dass der Psychoanalytiker keine Ausnahme von der allgemeinen – konstruktivistischen – Regel macht, dass wir uns Bilder von der Realität machen, nicht die Realität selbst sehen (können) und dass wir aber diese Bilder für die Realität selbst halten. Adler hat also den Konstruktivismus auf die Psychoanalyse selbst angewendet, auf ihre Theorie der »psychischen Realität« – innerhalb der konstruktivistischen Epistemologie durchaus folgerichtig. Aber damit hat Adler natürlich gegen die Grundüberzeugungen der Psychoanalyse verstoßen. Er hat sich gegen Freuds Wahrheitsanspruch und vor allem gegen die Triebtheorie gerichtet, gegen ihre »Göttin Libido«, sich damit außerhalb der psychoanalytischen »Glaubensgemeinschaft« gestellt und damit den Konstruktivismus innerhalb der Psychoanalyse »unmöglich« gemacht. Die weitere Geschichte der Psychoanalyse verlief – deshalb – in essentialistischen Bahnen, als der einzigen Möglichkeit, die freudschen Konstruktionen als allein gültige gegen die relativistische Skepsis des Konstruktivismus zu verteidigen, statt die Vielfalt möglicher Konstruktionen zu fördern – was der konstruktivistischen Auffassung entsprochen hätte –, mit der Folge der »Orthodoxie«, des Ausschlusses und der »Dissidenz« – als bestätigte die Psychoanalyse selbst, in dem sie zur Sekte geworden war, dass sie vorher bereits eine Glaubensgemeinschaft gewesen war. In der Psychoanalyse wurde sehr schnell vergessen, dass noch Freud die Metapsychologie als »unsere Mythologie« bezeichnet hatte, dass die Psychoanalyse im Grunde »nichts anderes sei, als daß zwei miteinander reden« (Freud 1926, S. 213), dass die Art und Weise, wie der Analytiker dieses Reden »deutet«, und wie er darüber in seinen Veröffentlichungen berichtet, welche »theoretische« Erklärung er für das Berichtete liefert, in den Bereich ihrer »Mythologie« fällt. Und noch heute gilt – vor allem außerhalb der Gemeinschaft der Analytiker, unter den Philosophen, Soziologen,

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Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaftlern – die Mythologie als die eigentliche Psychoanalyse oder zumindest als ihr »Kern«, den sie von ihrer Empirie lösen wie von ihrem »Fleisch«: der Empirie des »Miteinanderredens von Zweien« – in der »besonderen Beziehung« der »Übertragung«. Psychoanalyse aber kann sich nicht als »allgemeine Theorie vom Menschen« entfalten, wie Foucault bemerkt hat. Sie zielt nicht auf »positives Wissen«. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, »durch das Bewußtsein den Diskurs des Unbewußten sprechen zu lassen«. Sie kann deshalb »nur innerhalb einer Praxis vollzogen werden, in die nicht nur die Kenntnis vom Menschen einbezogen ist, sondern der Mensch selbst«. Sie kann sich nur »in der ruhigen Heftigkeit einer besonderen Beziehung« entfalten, der besonderen Beziehung der »Übertragung« – deren Besonderheit darin besteht, »daß das eine Subjekt die Sprache des anderen hört, in nichts anderem« (Foucault 1966, S. 450). Aber Freud ist daran nicht unschuldig gewesen, dass seine Metapsychologie als »allgemeine Theorie vom Menschen« verstanden wird, hat er doch seine Mythologie gegen jede andere mit Zähnen und Klauen verteidigt, vor allem Adlers alternative Deutung, die er als »Oberflächenbetrachtung« abgewertet hat. Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass auch innerhalb der freudschen Psychoanalyse alternative Entwürfe der Konstruktion der »psychischen Realität« vorgeschlagen wurden, andere Deutungsvorschläge im Lauf der Geschichte der Psychoanalyse entwickelt wurden. Aber immer mit der Konsequenz (oder der Drohung) des Ausschlusses aus dem Kreis der zugelassenen Diskussion, wie bereits bei Adler. Das ist auch ein – berechtigter – Grund,1 weshalb Psychoanalyse 1 Der andere Grund ist, dass Psychoanalyse – selbst wenn sie in Übereinstimmung mit der konstruktivistischen Epistemologie voranschreitet – sich dadurch außerhalb der »positiven« Wissenschaften stellt, dass diese ihrerseits »mit dem Rücken zum Unbewußten voranschreiten« (Foucault 1966, S. 447).

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immer noch oder über lange Zeit nicht als »Wissenschaft« akzeptiert werden konnte, denn: »Wissenschaft ist Konstruktivismus« (Deleuze u. Guattari 1991)2. Die – interne – Folge dieses Ausschlusses alternativer Konstruktionen war die des Ausschlusses der konstruktivistischen Epistemologie überhaupt und damit der Essentialismus nicht nur in der Metapsychologie, sondern auch in der Behandlungstechnik: Die Vorstellungen vom Psychoanalytiker als Wissendem, »Weisen«, als demjenigen, der das »Unbewußte« – des anderen, des Analysanden – erkennen könne, die Stilisierung der »Vorurteile des Analytikers« (seine »Gegenübertragung«: Lacan 1953–54, S. 33) zum Zugang zur Übertragung des Analysanden, die Einnahme einer Position des »neutralen« (und nicht neurotischen) unbeteiligten »Beobachters«. Merton Gill (1982) bezeichnet dies als den »Positivismus« des psychoanalytischen Blicks. Es hat lange gedauert, bis sich nach Adler die konstruktivistische Haltung wieder zeigen konnte. Ihr Auftreten innerhalb der Psychoanalyse steht in der Nachfolge der konstruktivistischen Wende in den Sozialwissenschaften außerhalb der Psychoanalyse in den sechziger und siebziger Jahren. Strukturalismus, Poststrukturalismus, Kritik der Meta-Erzählungen ermöglichten, die freudsche als eine unter anderen Erzählungen zu verstehen. Allerdings hatte bereits Lacan seit den fünfziger Jahren den freudschen Begriffen konstruktivistische Bedeutung und Kontexte gegeben und damit die Psychoanalyse vollkommen umgeschrieben. Aber dies wurde – zunächst – nicht aufgegriffen, im Gegenteil: Lacan wurde aus der Internationalen Vereinigung ausgeschlossen. Die konstruktivistische Position trat danach zunächst auf der Ebene der Behandlungstechnik, der »Haltung« auf (s. Gill) – ohne noch die Metapsychologie selbst, die unum2 Das unterscheidet sie von »höherer Weisheit« oder »Religion« – nicht von »Philosophie« oder »Kunst«, bei denen es, Deleuze und Guattari zufolge, ebenfalls um Konstruktionen geht.

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schränkte Gültigkeit der freudschen Konstruktion, der »Mythologie« anzutasten oder gar in Frage zu stellen (s. Kohut). Noch Lacans Kritik an der Metapsychologie der »Ich-Psychologie« hatte die eigene »Orthodoxie« der »Rückkehr zu Freud« betont. Auch Lacan war von der Behandlungstechnik ausgegangen. In ihr, im »psychoanalytischen Experiment«, hatte er die Metapsychologie fundiert (s. Bruder 1998, 2003b). Aber dann hat Kohut in seinen späteren Schriften die Metapsychologie zu kritisieren gewagt (indem er sie historisch relativierte). In seinem Gefolge haben dann Stolorow und sein Kreis die freudsche Metapsychologie endgültig zu einer Metapher unter anderen möglichen erklärt – oder, wie Roy Schafer, als »Narration«. Ich stelle die konstruktivistischen Positionen innerhalb der zeitgenössischen Psychoanalyse beispielhaft an den Entwürfen von Merton Gill, Irwin Hoffman und Owen Renik, der Gruppe um Robert Stolorow sowie Roy Schafer dar. Danach folgt ein Blick auf die Kritik an den konstruktivistischen Positionen am Beispiel Werner Bohlebers. Ich schließe meine Darstellung ab mit der Rückkehr zum Anfang des psychoanalytischen Konstruktivismus Alfred Adlers, der diesen, im Unterschied zu den späteren psychoanalytischen Konstruktivismen, mit dem Begriff der Macht verbindet.

Konstruktivismus in (der Psychoanalyse) der Übertragung: Merton Gill Merton Gill versteht seinen konstruktivistischen Beitrag als den Vorschlag einer anderen Epistemologie, anstelle der freudschen »positivistischen« (Gill 1982, S. 213). Damit wendet er sich gegen die Konzeption der Übertragung als »Entstellung« – der Gegenwart durch die Vergangenheit. Im Gegensatz dazu versteht Gill die Übertragung als »Amalgam aus Vergangenheit und Gegenwart«. Die Abbildung der Gegenwart in der Übertragung sei als Reaktion auf die un-

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mittelbare analytische Situation zu verstehen, die sich der Analysand so plausibel wie möglich zu erklären versuche (S. 232). Gill schreibt die theoretische Ausarbeitung der konstruktivistischen Perspektive seinem Ko-Autor Irwin Hoffman zu, der zugleich den Begriff »Sozialkonstruktivismus« für einen auf die Psychoanalyse angewandten Konstruktivismus vorgeschlagen habe. Hoffman (1983) habe dem traditionellen Bild vom Analytiker als »leerer Leinwand« jegliche Grundlage entzogen (Gill 1982, S. 215), indem er festgestellt habe: 1. »die Art und Weise, wie der Patient den Analytiker wahrnimmt, [ist] grundsätzlich glaubwürdig und kompetent und bildet einen Bestandteil seines Erlebens«, 2. der Patient nimmt relativ unverkennbare Äußerungen der neurotischen und antitherapeutischen Gegenübertragung des Analytikers wahr und reagiert auf sie (Hoffman 1983, S. 392). Mit dieser Konzeption der Übertragung werde die Dichotomie zwischen »realistischen« und »unrealistischen« Aspekten der Erlebnisweise des Analysanden überwunden (S. 232). In der Analyse werde sowohl das, was jeder Beteiligte in die Begegnung einbringe (das »Intrapsychische«), als auch die gegenwärtige Begegnung (»Interaktion«) wechselseitig von beiden Teilnehmern geprägt (Gill 1982, S. 217). Der Analytiker sei nicht als »neutraler«, »unbeteiligter, distanzierter Interpret«, sondern als »Beteiligter an der analytischen Situation« zu betrachten (S. 213). Er sei nicht nur Beobachter, sondern teilnehmender Beobachter (S. 232). Mit dieser Betrachtung des Analytikers als Beteiligtem werde die Dichotomie zwischen Intrapsychischem und Interpersonalem überwunden, indem sowohl dem interpersonalen als auch dem intrapsychischen Charakter der analytischen Situation Rechnung getragen werde (S. 214), die »Ein-Personen-Psychologie« der klassischen Psychoanalyse werde um eine »Zwei-Personen-Psychologie« ergänzt (Gill 1993).3 3 Dieser Begriff stammt bereits von Balint (1949, S. 235), den Gill allerdings nicht erwähnt.

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Die Grundannahme des Konstruktivismus gelte also auch für den Analytiker, nämlich dass »alle menschliche Wahrnehmung und Denken eher eine Konstruktion ist als eine direkte Widerspiegelung der äußeren Realität als solcher« (Gill 1994, S. 1). Auch der Psychoanalytiker »beobachtet« keine von seiner Beobachtung unabhängige »Tatsachen«, sondern »konstruiert« diese aus der »besonderen Perspektive seiner Beobachtung« heraus. Deshalb könne der Analytiker sich »unmöglich in einen Zustand völliger Unvoreingenommenheit (›Neutralität‹) versetzen. Jeder Analytiker wird immer dazu neigen, eine bestimmte Art von Material besonders stark zu gewichten. Solche Vorlieben beruhen sowohl auf dem theoretischen System, an dem er sich orientiert, als auch auf seiner persönlichen Psychologie« (Gill 1982, S. 222). Auch für ihn gelte (was für den Patienten gelte), dass alles, was er in die analytische Begegnung einbringt – seine intrapsychische Struktur –, eine Kompromissbildung zwischen Wunsch und Abwehr darstellt (Sandler u. Sandler 1984). Deshalb werde auch die Übertragung »von beiden Beteiligten beeinflußt« (Gill 1982, S. 222). Obwohl Gill davon ausgeht, dass der Analytiker die analytische Beziehung ständig mitgestaltet, hält er daran fest, dass dies gleichwohl »nicht in gleichem Maße« der Fall sei (S. 223f.) – wie dies Natterson (1991) behauptet. »Zwei-Personen-Psychologie« heißt für Gill nicht, dass die »Asymmetrie« der analytischen Situation aufgehoben sei. Die analytische Situation sei vielmehr sowohl eine Zwei-Personen- als auch eine Ein-Personen-Situation (Gill 1982, S. 225). Renik (1995) hat hier eine nützliche Unterscheidung eingeführt: die zwischen »vollständiger epistemologischer Symmetrie« und »funktionaler Asymmetrie« zwischen Analytiker und Analysand in der analytischen Situation. Mit »vollständiger epistemologischer Symmetrie« meint Renik, Analytiker und Analysand sind gleichermaßen subjektiv und beide sind für die vorbehaltlose Offenlegung ihrer Gedanken verantwortlich, insofern diese ihnen für die Realität der psychoanalytischen Bemühungen relevant zu sein scheinen.

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Symmetrie bedeute jedoch nicht Identität. Die Gedanken des Analytikers und die des Analysanden seien unterschiedlich organisiert, weil Analytiker und Analysand im klinischen Setting unterschiedliche Funktionen haben; jeder nähert sich dem gemeinsamen Unternehmen von einem anderen Standpunkt aus. Ein Analysand vermittle seine Realität, um seine eigene Selbstbewusstheit zu erhöhen, der Analytiker teile seine Realität mit, um die Selbstbewusstheit der anderen Person zu erhöhen. Deshalb bestehe die Selbstenthüllung des Analysanden in dem Versuch, frei zu assoziieren, während die Selbstenthüllung des Analytikers absichtlich selektiv bleibe (Renik 1995, S. 948). Mit dieser Unterscheidung zwischen »vollständiger epistemologischer Symmetrie« von Analytiker und Analysand bei gleichzeitiger »Asymmetrie« der »Funktionen« im klinischen Setting gelingt es erst eigentlich, den »Positivismus« (der klassischen Psychoanalyse Freuds) tatsächlich zu überwinden, »die Annahme, daß Tatsachen unabhängig vom Beobachter seien« (Gill 1994, S. 4). Diese Annahme der Unabhängigkeit der »Tatsachen« vom Beobachter war durch die Unterscheidung zwischen »psychischen« (»psychoanalytischen«) und »materiellen« Tatsachen noch nicht überwunden. Wie Freud bereits geltend gemacht hatte, habe Psychoanalyse es mit »psychischer Realität« zu tun – im Unterschied zu »materieller Realität« (S. 8). Damit ist aber die Frage der Abhängigkeit dieser »psychischen Realität« vom Beobachter noch keineswegs bejaht. Sie wird dies auch nicht dadurch, dass Gill eine Tatsache nur dann als eine »psychoanalytische Tatsache« gelten lässt, »wenn sie in einem Kontext der psychischen Realität beschrieben wird« (S. 4), »in Termini [ihrer] psychologischen Bedeutung« (S. 9). Die Abhängigkeit der Beschreibung von der Perspektive des Beschreibenden wird durch diese Formulierung eher verschoben und verdeckt. Dies wird vielleicht noch deutlicher, wenn Gill die Psychoanalyse als eine »hermeneutische«, interpretierende Wissenschaft qualifiziert, mit dem Argument, sie habe es mit

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»Bedeutungen« zu tun (S. 9). Eine hermeneutische Wissenschaft ist, wie Gill selbst schreibt, eine, die es mit Texten zu tun hat, Texte interpretiert. Selbst wenn man das Sprechen des Analysanden als Textproduktion bezeichnet, bleibt noch – wie Gill selbst einwendet – der Unterschied, dass der Text auf die Interpretation (durch den Hermeneuten) »nicht antwortet«, während die Interpretation des Analytikers von einer Antwort (des Analysanden) beantwortet wird (S. 4). Ordnete man die Psychoanalyse in die Reihe der Texte interpretierenden Wissenschaften ein, so ließe man also das, was die Psychoanalyse gerade vor jeder hermeneutischen Wissenschaft auszeichnet, unter den Tisch fallen: dass eben nicht ein Interpret vor einem Text sitzt, sondern vor oder hinter einem Produzenten von »Texten« – der sich gegen die Interpretation zur Wehr setzen oder ihr zustimmen kann. Diese Differenz zu übergehen heißt, die Interpretation (des »Textes«) gegenüber seiner Produktion zu privilegieren. Damit wird klar, dass der Psychoanalytiker als derjenige ins Auge gefasst war, der die »Beschreibung« »im Kontext der psychischen Realität« vornimmt, der die »psychologische Bedeutung« erfasst. Dass diese damit aus seiner Perspektive erfasst wird und nicht aus der Perspektive des anderen, gerät dabei aus dem Blick. Die »epistemologische Symmetrie« ist zugleich auch auf die Interpretation, auf die »Deutung« auszudehnen. Es ist nicht der Analytiker allein, der deutet, sondern ebenso der Analysand. Das, was er sagt, enthält bereits eine Interpretation – der berichteten Erfahrung, seiner »psychischen Realität«, der analytischen Situation und des Verhaltens des Analytikers. Wie Laplanche festgehalten hat, verkenne die Psychoanalyse seit Freud, dass »vor der Deutung Freuds bereits eine Erstdeutung durch das Subjekt selbst stattgefunden hat, so daß die psychoanalytische Deutung immer nur als zweite erfolgen kann« (Laplanche 1991, S. 485). Für beider Deutungen gilt die Abhängigkeit vom Deutenden, hierin besteht »epistemologische Symmetrie« zwischen Analytiker und Analysand, sie unterscheiden sich lediglich in

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ihrer Funktion, die sie im psychoanalytischen Setting erfüllen (sollen), allein in der Differenz ihrer Funktion ist ihre »Asymmetrie« begründet. Der Unterschied liegt nicht darin, dass der Analytiker den Analysanden »versteht«, während der Analysand sich selbst versteht – oder eher: nicht versteht. Das Verstehen des anderen ist immer durch die Grenze der eigenen psychischen Realität beschränkt, an diese gebunden – das ist die Grenze der Empathie. Das Missverständnis ist die Grundstruktur des »Verstehens« des anderen (Lacan). »Wovor wir uns hüten müssen«, sei, »zu viel zu verstehen, mehr zu verstehen, als im Diskurs des Subjekts gesagt ist« (Lacan 1953–54, S. 98). Das »Verstehen«, um das es in der Psychoanalyse geht, ist ein »Sich-selbst-Verstehen«. Dieses Sich-selbst-Verstehen wird in der Psychoanalyse über den Weg des Verstehens des eigenen Sprechens (und Handelns, Denkens und Fühlens) erreicht. Das Verstehen dessen, was das eigene Sprechen zutage fördert, das »Mühlrad des Sprechens«, durch das sich »das menschliche Begehren unablässig vermittelt, indem es ins System der Sprache zurückkehrt« (S. 228) und sich »dem Subjekt vergegenwärtigt« (S. 203). Jedoch, das Sich-selbst-Verstehen des Analytikers dient zugleich einem anderen Ziel: dem Sich-selbst-Verstehen des Analysanden. Die Differenz liegt auf der funktionalen Ebene. Beide vermitteln ihre eigene (psychische) Realität – aber mit unterschiedlichem Ziel. »Ein Analysand [vermittelt] seine Realität, um seine eigene Selbstbewußtheit zu erhöhen, der Analytiker [teilt] seine Realität mit, um die Selbstbewußtheit der anderen Person zu erhöhen« (Renik 1995, S. 948). Indem der Analytiker sich selbst versteht, »in Kontakt zu sich bleibt«, kann er »seinen Analysanden erreichen« (Ermann 1999, S. 877). Das meint auch Kohut, wenn er sagt, die Psychoanalyse heile durch Empathie. Der Beitrag des Analytikers zur Heilung des Analysanden besteht darin, ihn zu »erreichen«, was nicht gleichbedeutend ist mit: ihn zu »verstehen«. Gleichzeitig ist (für Kohut) Heilung Verstehen; und zwar sich selbst zu verstehen oder psychoanalytisch

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ausgedrückt: zu verstehen, was im eigenen Diskurs gesagt ist – gegen den eigenen Willen und ohne Bewusstsein. Diesen Diskurs des Subjekts »sprechen zu lassen«, darin besteht die Aufgabe des Psychoanalytikers, »das Mühlrad des Sprechens« in Gang zu halten: die funktionale Asymmetrie zwischen Analysand und Analytiker (vor dem Hintergrund ihrer epistemologischen Symmetrie).

Psychoanalyse der Intersubjektivität: Robert Stolorow et al. Diese Unterscheidung zwischen epistemologischer Symmetrie und funktionaler Asymmetrie erscheint notwendig, um die Postulate einer »Zwei-Personen-Psychologie« aufrechterhalten zu können, die fordern, den Analytiker als »Beteiligten« am Geschehen in der analytischen Situation zu betrachten, statt als »neutralen, unbeteiligten, distanzierten Interpreten« der Äußerungen und des Verhaltens des Analysanden. Gleichzeitig haben Analytiker und Analysand unterschiedliche Aufgaben im analytischen Setting. Diese Unterschiedlichkeit der Aufgaben zwingt aber nicht, die »ZweiPersonen-Psychologie« aufzugeben, denn sie gründet nicht auf einer epistemologischen Differenz, sondern auf einer funktionalen. Für die Gruppe um Stolorow (Stolorow et al. 1983, 1987; Atwood u. Stolorow 1984; Stolorow u. Atwood 1992; Stolorow et al. 1994; Orange et al. 1997) erscheint auch die »ZweiPersonen-Psychologie« noch keine ausreichende Theorie für das Verständnis des psychoanalytischen Prozesses, denn auch diese sei noch dem Mythos des »isolierten Geistes« verhaftet. Sie schlagen stattdessen eine Theorie der Intersubjektivität vor, die an die Stelle der Interaktion zweier Personen das »intersubjektive Feld« selbst als »grundlegende Einheit der Untersuchung« ins Zentrum rücke (Stolorow u. Atwood 1992, S. 21).

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Sie definieren dieses intersubjektive Feld als einen »Kontext von Bezogenheit«, in ihm trete das Individuum auf, suche Kontakt und artikuliere sich selbst. Dieser intersubjektive Kontext definiere die Bedeutung der individuellen Wünsche und Begierden (S. 21). Das Individuum bringe nicht eine vorgegebene Subjektivität in dieses Feld ein, sondern diese Subjektivität entstehe in diesem Feld aus dem Aufeinandertreffen mit der subjektiven Welt des anderen. Man könne also psychologische Phänomene nicht getrennt von diesem intersubjektiven Kontext verstehen, in dem sie entstehen ( Jaenicke 2002, S. 177). Die Psychoanalyse befasse sich »dementsprechend nicht mit der isolierten individuellen Psyche, sondern mit dem gesamten Feld, das aus dem reziproken Wechselspiel zwischen dem Analysanden und dem Analytiker … entsteht« (S. 177). Das Konzept des intersubjektiven Systems ersetze nicht die traditionelle psychoanalytische Konzentration auf das Intrapsychische, sondern kontextualisiere das Intrapsychische (Orange et al. 1997, S. 97f.). Es schließe »die Kluft zwischen dem intrapsychischen und dem interpersonalen Bereich« – es mache »die alte Dichotomie obsolet« (Stolorow u. Atwood 1992, S. 18). Bereits die Unterscheidung zwischen Ein-Personen- und Zwei-Personen-Psychologien sei »obsolet«, »weil das Individuum und seine intrapsychische Welt … als Subsystem in das umfassendere Beziehungs- oder intersubjektive Suprasystem integriert sind« (Orange et al. 1997, S. 98). Die Konzeption der Zwei-Personen-Psychologie lasse, ebenso wie die der Ein-Personen-Psychologie, »die konstitutive Rolle der Bezogenheit für die Entstehung jeglicher Erfahrung«, die »grundlegende Kontextabhängigkeit« der »intrapsychischen Welt«, die sich »im Nexus lebender Systeme entwickelt und entfaltet«, unberücksichtigt. »Wir sollten statt dessen [statt von einer Zwei-PersonenPsychologie] von einer kontextuellen Psychologie sprechen« (S. 98). Intersubjektive Kontexte seien sowohl Entwicklungs- wie Beziehungskontexte (S. 97), sie konstituieren die intrapsy-

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chischen ebenso wie die interpersonellen Phänomene von Anfang an und andauernd, und sie halten sie lebendig. Der erste intersubjektive Kontext, das System von Kind und Bezugsperson (»child-caregiver-system«), sei bereits ein Kontext wechselseitiger Regulation (Stolorow u. Atwood 1992, S. 23). In ihm finden bereits die ersten Prozesse intersubjektiven Austauschs (»intersubjective sharings«) und wechselseitiger affektiver Abstimmung (»mutual affect attunement«) statt, die bestätigende Qualität habe (S. 24). »Das sich entwickelnde psychologische Feld ergibt sich durch das Wechselspiel zweier unterschiedlich organisierter Subjektivitäten von Kind und Eltern« (Atwood u. Stolorow 1984, S. 65). Die dort entstehenden »Muster intersubjektiver Transaktion führen zur Errichtung invarianter Prinzipien, die unbewußt die Erfahrung des Kindes organisieren« (Stolorow u. Atwood 1992, S. 24): »präreflexives Unbewußtes«. Dieses wird von zwei anderen Formen des Unbewussten unterschieden, dem »dynamischen Unbewußten«, sowie dem »unvalidierten Unbewußten«, die sich aus Situationen entwickeln, in denen die bestätigende Responsivität der Bezugspersonen nicht vorhanden ist (S. 32), in denen also die Erfahrungen des Kindes nicht beantwortet oder zurückgewiesen werden, seine Affektzustände nicht integriert werden können. Werden diese unterdrückt, bildet sich »dynamisches Unbewußtes«, wohingegen sich »unvalidiertes Unbewußtes« bildet, wenn sie nicht artikuliert werden können. Störungen dieses Entwicklungsprozesses (»Entgleisungen«) können in jeder Phase auftreten, und zwar dann, wenn die validierende affektive Abstimmung beider Subjekte, zwischen Erwachsenem und Kind, grundlegend fehlt, nicht vorhanden ist. Unter diesen Umständen muss das Kind, um die Bindungen zum anderen aufrechtzuerhalten, die lebensnotwendig für sein Wohlbefinden sind, die Organisation seiner Erfahrung der des Erwachsenen anpassen. Diese Anpassung kann zu einer fremden, von außen auferlegten subjektiven Realität des Kindes führen. Die Formen der Bewältigung dieser Störungen bezeich-

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nen Stolorow et al. als »Konstruktionen«. Es sind (sekundäre) Verarbeitungen der Erfahrung, die diese zugleich aus ihrem Kontext herauslösen (durch Objektivierung, durch die die Konstruktion selbst verleugnet wird). Diese Konstruktionen tauchen in der Analyse wieder auf. Konstruktionen, die natürlich nicht im luftleeren Raum schweben, sondern an die Erfahrung gebunden sind – der Nicht-Übereinstimmung zwischen Individuum und dem Anderen sowie der Bewältigungsversuche des Individuums. In diesem Sinne handelt es sich also um »Re-Konstruktionen«. Deshalb geht es Stolorow et al. zufolge in der Analyse um die »empathische Untersuchung der subjektiven Welt des Patienten« (Stolorow u. Atwood 1992, S. 102). Deshalb auch betonen sie die Notwendigkeit der »Akzeptierung der Gültigkeit der Wahrnehmung der Übertragungserfahrung durch des Subjekts« (S. 94). Es gebe dabei keine »objektive Sicht« des Analytikers, der eine »gestörte« Sicht des Patienten gegenüberstehe (S. 91). Zugleich sei »disjunction« (»disruption«) die »unvermeidbare Folge der Tatsache, daß zwei subjektive Welten einander begegnen« (S. 93). Deshalb sei die Reflexion der eigenen Beteiligung des Analytikers (an der »disruption«) unumgänglich. Es stellen sich hier zwei Fragen: Geht das Konzept der intersubjektiven Psychoanalyse tatsächlich über die Zwei-Personen-Psychologie hinaus, und wenn ja, in welcher Hinsicht, sowie: Wird damit die Unterscheidung von Renik hinfällig, die ja entwickelt wurde, um die Zwei-Personen-Psychologie gegen den Einwand der unbestreitbaren Asymmetrie zwischen Analytiker und Analysand behaupten (verteidigen) zu können? Ist dieser Einwand (der Asymmetrie zwischen Analytiker und Analysand) mit der Theorie der Intersubjektivität obsolet geworden? Stolorow et al. kritisieren die Zwei-Personen-Psychologie als immer noch der Metaphysik des »isolated mind« verhaftet, die sie ursprünglich an der Ein-Personen-Psychologie festgemacht haben. Eine Psychologie des »isolierten Geistes« ignoriere »die konstitutive Rolle, die der Beziehung

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zum anderen in jeder subjektiven Erfahrung zukommt« (Stolorow u. Atwood 1992, S. 9). Diese Kritik der Ein-Personen-Psychologie erweitern sie nun auf die Zwei-Personen-Psychologie, mit dem Argument: »Das Konzept einer Zwei-Personen-Psychologie repräsentiert schon an sich insofern eine atomistische Philosophie des isolierten Geistes, als es den Zusammenprall zweier getrennter Psychen … postuliert« (Orange et al. 1997, S. 98). Dieser »Mythos des isolierten Geistes« – eine zentrale Konstruktion der Moderne (Stolorow u. Atwood 1992, S. 7) – schreibe dem Menschen eine Seinsweise zu, »in der das Individuum unabhängig von der Welt der physischen Natur und von Engagement mit anderen existiert« (S. 7). Er verneine »die wesentliche Immaterialität der menschlichen Erfahrung«, indem er »das subjektive Leben in reifizierten, substantialisierten Termini« darstelle. Diese Substantialisierungen lösen die psychischen Prozesse aus ihrem »intersubjektiven Kontext«, dem Kontext der interpersonalen Transaktionen, in dem sie entstehen. Sie verleugnen diesen Kontext ihrer Entstehung (S. 21). Die Funktion dieses Mythos, die Funktion der Verdinglichung, Substantialisierung und Objektivierung psychischer Prozesse sehen Stolorow et al. in der Bewältigung (und zugleich Verleugnung) von Angst: Angst, die aus der »Entfremdung des modernen Menschen« resultiere, seiner Entfremdung von der Natur, von den sozialen Beziehungen, von seiner Subjektivität. In gleichem Sinn erklären Deleuze und Guattari (1991) die Konstruktionen der drei großen Formen des Denkens: Kunst, Wissenschaft und Philosophie, aus der Angst (vor dem Chaos). Sie sehen in der Schaffung von Begriffen und Begriffsebenen die Anstrengung, die »Bedrohung durch das Chaos abzuwehren«, indem sie Ordnung in das Chaos und damit Sicherheit bringen. Diese Abwehr der Bedrohung, diese Abwehr der Angst scheint verbessert, wenn wir den Konstruktionen essentialistische Bedeutung zuschreiben, die Erfindungen für Fundstücke halten. Wir lösen sie damit aus dem Prozess der Kon-

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struktion, »objektivieren« sie: der Mythos der »objektiven Wissenschaft« – unabhängig vom Erfinder. Die Form der Angstbewältigung mittels Angst verleugnenden Konstruktionen ist natürlich selbst eine Verleugnung. Verleugnung nicht nur der Angst, sondern Verleugnung der Funktion der Konstruktion: der Bewältigung, Verleugnung des – intersubjektiven – Kontextes ihrer Bildung. Verleugnet wird ihre Entstehung aus den interpersonalen Transaktionen. Auch die psychoanalytischen Konstruktionen verleugnen diesen interpersonalen Kontext. Die Liste von Stolorow et al. umfasst: – die Konstruktion des »psychischen Apparats« als einer Maschine, die Triebenergien kanalisiere, welche innerhalb des Organismus entstehen, – das Konstrukt der »autonomen Selbstregulation«, welches in der Ich-Psychologie (1939) die Regulation durch die Umwelt (»Internalisierung«) ersetze, – das Konzept der »Überich-Bildung«, mit der das Subjekt unabhängig von den Beziehungen zu anderen gemacht werde, – Schafers (1976) Konzept der »Person-als-Agent«, – die kleinianische »projektive Identifikation«, nach Kernberg (1975) ein eindimensionaler Einflussprozess, – das »Selbst« Kohuts, das als unabhängige Entität das »Ich« ebenso in ein »Es« transformiere (Stolorow u. Atwood 1992, S. 21ff.). An dieser Aufzählung fällt einerseits auf, dass sehr unterschiedliche Ansätze in einen Topf gesteckt werden: Die Kritik der Fiktion der Unabhängigkeit wird sowohl gegenüber Freuds Modell des »psychischen Apparats« als auch gegenüber Kohuts Konzept des »(kohärenten) Selbst« als auch Schafers Konzeption der »Person als Erzähler der Geschichte seiner selbst« erhoben. Aber weder Kohuts Konzept des »Selbst-Objekts«, noch Schafers Konzeption der »Erzählung«, die mit der Anwesenheit eines Zuhörers rechnet, und

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sei diese auch fiktiv, hängen noch an der Fiktion der Unabhängigkeit der Person gegenüber ihrer sozialen Umwelt, gegenüber dem intersubjektiven Feld. Auf der anderen Seite ist der Wechsel der Perspektive von der Interaktion zweier Personen als Subjekte (in einem Feld) zum Feld – als Subjekt, in dem die Personen sozusagen die Ausdrucksform der Kräfte und Prozesse des Felds wären – unübersehbar. Analytiker und Analysand bilden »ein unauflösbares psychisches System«, derart, »daß man keinen der Beteiligten isoliert erforschen kann, ohne der analytischen Erfahrung als Ganzer Gewalt anzutun« (Orange et al. 1997, S. 109). Unter diesem »intersubjektiven Blickwinkel« werden persönliche Erfahrungen »als fließend, multidimensional und in höchstem Grade kontextsensibel verstanden, was bedeutet, daß vielfältige Erfahrungsdimensionen innerhalb eines stetig operierenden intersubjektiven Systems der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Gestalt und Hintergrund oszillieren« (S. 109). Es sieht so aus, als seien es nicht mehr »zwei, die miteinander reden« – Freuds Definition der Psychoanalyse –, sondern als konstituiere das »intersubjektive Feld« die redenden Subjekte, als sei dieses sozusagen das Subjekt. Das ist sehr viel näher an Lacan, am (Post-)Strukturalismus, an Foucault, Deleuze und Guattari, an Derrida und Lyotard, als die »Zwei-Personen-Psychologie«. Es fragt sich allerdings, ob Stolorow et al. dies durchhalten oder überhaupt so weit gehen wie die postmodernen Philosophen. Stolorow et al. sprechen ja auch immer wieder von »Individuen«, die »interagieren«, die »den psychoanalytischen Prozeß gestalten« (Orange et al. 1997, S. 109), die also insofern (noch) die »Subjekte« des Prozesses sind, den sie gestalten. Stolorow et al. bringen dann auch eine andere Perspektive ins Spiel, wenn sie die Intersubjektivitätstheorie von anderen psychoanalytischen Theorien dahingehend unterscheiden, dass diese »keine spezifischen psychischen Inhalte postuliert, die in der Persönlichkeitsentwicklung und der Pathogenese universal dominieren«. Es handle sich vielmehr um »eine

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Prozeßtheorie, die breite methodologische und epistemologische Prinzipien für die Untersuchung und Erfassung der intersubjektiven Kontexte anbietet, in denen psychologische Phänomene einschließlich psychoanalytischer Theorien auftauchen«. »Unter einem intersubjektiven Blickwinkel betrachtet, können die inhaltlichen Themen verschiedenartiger metapsychologischer Konzepte – Freuds Ödipuskomplex, Kleins paranoid-schizoide und depressive Position oder das von Kohut beschriebene Bedürfnis nach Spiegelung, Idealisierung und Zwillingsschaft usw. – relativiert, entuniversalisiert und als eindrückliche Metaphern und Bilder verstanden werden, die in der subjektiven Welt mancher Menschen unter spezifischen intersubjektiven Bedingungen eine besondere Bedeutung erlangen« (S. 98f.). Die Intersubjektivitätstheorie wäre also als eine Metatheorie (»Systemtheorie« ist der Ausdruck von Stolorow et al.), die allerdings eine Annahme macht, die zugleich innerhalb des psychoanalytischen Diskurses selbstverständlich ist: Der »erste intersubjektive Kontext« der Mutter-Kind-Dyade wird als das Modell jedes anderen (folgenden) intersubjektiven Felds betrachtet (auch der psychoanalytischen Sitzung). Das Hauptaugenmerk wird deshalb auf die »Prozesse intersubjektiven Austauschs und wechselseitiger affektiver Abstimmung« im »child-caregiver-system« gerichtet (Stolorow u. Atwood 1992, S. 23f.). Im psychoanalytischen Setting spielt aber das Sprechen die entscheidende Rolle. »Das Sprechen nicht nur der Wörter, sondern aller Äußerungen des Subjekts, selbst seines Körpers.« Dieses Sprechen, das immer »mehr sagt, als das Subjekt sagen will, als es davon zu sagen weiß, das sich durch das Subjekt hindurch, und sogar trotz des Subjekts, im Diskurs des Subjekts äußert« (Lacan 1953–54, S. 334). Dieses Sprechen ist – für Lacan – jene Dimension, die tatsächlich die Ebene der »Zwei-Personen-Psychologie« überschreitet, der »dritte Term«, das »Register des Symbolischen«, das die »imaginäre Verstrickung von Ego zum anderen Ego durchbricht«. In ihm konstituiert sich das Subjekt.

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Diese grundlegende Rolle wird dem Sprechen in der Theorie der Intersubjektivität von Stolorow et al. nicht eingeräumt, sondern nur eine sekundäre. Zwar werden »mit dem Auftreten der verbalen und symbolischen Kommunikation« »neue Formen der Validierung« der Erfahrung des Kindes als möglich angenommen (Stolorow u. Atwood 1992, S. 28), aber dieser Möglichkeit geht die Bildung der »invarianten Prinzipien« des Unbewussten voraus. Sie sind für Stolorow et al. zum Zeitpunkt des Auftretens der Sprache und des Sprechens bereits festgelegt. Sie werden vorher in der Interaktion zwischen Mutter und Kind gebildet, in der affektiven Abstimmung in der »child-caregiver«-Dyade. Insofern könnte man die Theorie der Intersubjektivität weiterhin als eine »Zwei-Personen-Psychologie« charakterisieren. Wenn aber die »intersubjektive Theorie« immer noch als eine »Zwei-Personen-Psychologie« zu betrachten ist, eine – gewiss sehr differenzierte – Fortführung, die den Blick für die Abhängigkeit der beiden Akteure voneinander schärft und weiter vertieft, so stellt sich die Frage, inwieweit die »funktionale Asymmetrie« dort Berücksichtigung findet, die ja von Renik als notwendige Ergänzung der Zwei-PersonenPsychologie eingeführt wird, durch die sie erst zu einer realistischen Version des Geschehens im psychoanalytischen Setting wird. Stolorow et al. halten durchaus an der Differenz zwischen dem Verhalten des Analytikers (seine Interventionen) und dem des Analysanden fest, wenn sie schreiben: »Die organisierenden Aktivitäten, durch die beide Teilnehmer den psychoanalytischen Prozeß gestalten, sind entscheidend für das Verständnis der Sackgassen und Bedeutungen, die innerhalb eines spezifischen intersubjektiven Feldes auftauchen. Wenn der Prozeß ins Stocken gerät, denken wir nicht: ›Der Patient leistet Widerstand‹. Vielmehr fragen wir uns, wie Analytiker und Patient gemeinsam diese Blockade konstruiert haben. Wir fragen nicht nur nach der Geschichte des Patienten und seinen organisierenden emotionalen Überzeugungen, sondern auch nach unseren eigenen sowie danach, welche theo-

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retischen Bindungen uns möglicherweise in die Falle der ›Aspektblindheit‹ (Wittgenstein 1953) gelockt haben« (Orange et al. 1997, S. 109f.). Es bleibt, dass es der Analytiker ist, der sich diese Frage stellt und diese Frage einbringt, es bleibt also die (funktionale) Asymmetrie. Diese wird aber bei Stolorow et al. nicht explizit begrifflich thematisiert.

Erzähltes Leben – Psychoanalyse als Narration: Roy Schafer Dass Psychoanalyse »nichts anderes, sei, als daß zwei miteinander reden« stammt noch von Freud (1926, S. 213). Um so erstaunlicher, wie wenig von diesem Reden im psychoanalytischen Diskurs die Rede ist. Auch die konstruktivistischen Ansätze in der Psychoanalyse sprechen erstaunlich wenig davon, sondern mehr von Wahrnehmung und Denken (und Fühlen), obwohl doch das Reden, die Sprache das ist, womit wir »unsere Welt« konstruieren, nicht nur die Welt der Dinge, sondern ebenso unsere »innere« (psychische) Welt – indem wir »über« diese reden. »Wir schaffen unsere Welt durch unsere Aussagen, die wir über sie machen.« Goodman (1978) bezeichnet sie deshalb als »Weisen der Welterzeugung«. Und wo anders als im »Miteinander-Reden« entfaltet sich unser »intersubjektiver Kontext«, stellen wir ihn her? Lacan hat bereits in den fünfziger Jahren die Psychoanalyse damit in ein völlig neues Licht gestellt, dass er das Sprechen ins Zentrum seiner Analyse des »psychoanalytischen Experiments« gestellt hat: »Das Sprechen, das die Welt der Dinge erschafft« (Lacan 1953, S. 117). Er hat damit eine Lektüre von Freuds Schriften aus einer Perspektive vorgenommen, die man als konstruktivistische bezeichnen könnte – 40 Jahre nach Adlers konstruktivistischer Auffassung der Psychoanalyse. Nach Lacan war es vor allem Roy Schafer, der »dem Konstruktivismus … einen grundlegenden Platz in

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der Psychoanalyse einzuräumen« vorschlug, indem er den »neueren Kontext des kritischen Denkens« (der siebziger und achtziger Jahre) aufgreift, in dem »die Sprache als das gesehen wird, was die Welt erschafft, von der sie erzählt« (Schafer 1992, S. 216; s. a. 1976, 1978, 1983). Konstruktivismus ist für Schafer mit der Ansicht verbunden, die Welt, die »Realität« sei nach Regeln konstruiert (Schafer 1992, S. 257). Er stellte damit den traditionellen psychoanalytischen Anspruch auf den Status einer empirischen, induktiven, objektiv beobachtenden Wissenschaft in Frage. Roy Schafer wendet sich gegen Freuds Metapsychologie, gegen dessen »mechanistische Sprache« (S. 9). Als »Kind der Aufklärung« habe Freud die Sprache unreflektiert behandelt wie ein transparentes Medium zur Kommunikation, nicht als etwas, das an Person, Zeit, Ort, Kultur, Konventionen gebunden ist (S. 215), die sich entwickelt hatte, um hauptsächlich die Interessen der weißen, männlichen Bourgeoisie der westlichen Welt zu dienen und diese auszudrücken (S. 216). »Wir haben es immer (nur) mit erzählerischen Darstellungen der Realität zu tun« (S. 86). »Es gibt keine nichterzählerischen Tatsachen« (S. 309). »Ereignisse existieren nur unter der einen oder anderen Versprachlichung, d. h. in Gestalt von Erzählungen« (S. 10). Jedoch seien »einige Versionen … so hochkonventionalisiert …, daß der Analytiker sie routinemäßig als Kriterien dafür benutzt, was ›wirklich‹ oder ›tatsächlich‹ ist« (S. 309f.). Auch die »subjektive Erfahrung« sei eine Konstruktion, nicht etwas, was durch die Erzählung nur dargestellt wird, was vor der Erzählung »da« sei, »um entdeckt zu werden und ins Gedächtnis gerufen zu werden« (S. 9). »Wir organisieren unsere vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen auf erzählerische Weise« (S. 62). Wie Freud (1899) in Bezug auf unsere Kindheitserinnerungen festgestellt hat, zeigen uns diese die ersten Lebensjahre, »nicht wie sie waren, sondern wie sie späteren Erweckungszeiten erschienen sind. Zu diesen Zeiten der Erweckung sind sie gebildet worden« (Freud 1899, S. 553f.).

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Die Erzählungen seien »keine Alternative zur Wahrheit oder Realität«, vielmehr seien Erzählungen der »Modus, in dem subjektive Wahrheit und Realität zwangsläufig dargestellt werden«. »Wir verfügen nur über Versionen des Wahren und Realen und jeder Erzähler muß seine Erzählung oder Version wählen. Jede Erzählung setzt einen Kontext voraus oder errichtet diesen« (Schafer 1992, S. 11). Auch die Psychoanalyse verfüge mit ihren Konstruktionen und Theorien über nichts anderes als Erzählungen. Als eine der wichtigsten Versionen der gegenwärtigen psychoanalytischen Erzählung über subjektive Erfahrung betrachtet Schafer die des »Selbst«. Er versteht das »Selbst« als »eine Reihe erzählerischer Strategien oder Handlungsstränge, denen jeder Mensch folgt in dem Versuch, eine emotional zusammenhängende Darstellung seines Lebens unter andern Menschen zu entwickeln« (S. 62). Der Erzähler dieser Formen des Selbst sei die Person, nicht das »Selbst« (S. 50). Eine Person (nicht das Selbst) erzählt zahlreiche Selbstformen; sowohl um wünschenswerte Versionen ihrer Handlungen und der Handlungen anderer zu entwickeln als auch um in Einklang mit diesen Selbstformen zu handeln (S. 86). Aber »wir gewinnen durch die kulturell oder sprachlich fest begründete Möglichkeit der Erzählung, die uns das Selbst als Handelnden verfügbar macht, die scheinbar empirische Überzeugung, wir besäßen ein einheitliches und dauerhaftes Selbst, das direkt, ohne die Vermittlung durch Sprache und Geschichte erfahrbar wäre« (S. 53). Doch »das ›Selbstempfinden‹ entkommt dem Netz des Erzählens nicht« (S. 54). Die Sprache erschaffe diese Welt »sowohl durch den impliziten als auch den expliziten Dialog« (S. 216). Freuds Neuerung bestehe darin, dass er »eine völlig neue Form des Dialogs entwickelt« habe (S. 227), die Form eines »transformationellen Dialogs«. Dessen Bedeutung liege darin, dass er die bewusst erzählte Darstellung des Analysanden von seinem Selbst und dessen Geschichte auf entscheidende Weise verändere, indem er sie »destabilisiert, dekonstruiert und seine Gewöhnung rückgängig macht« (S. 227). Dies erreiche er

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dadurch, dass er dem Erzählten »einen (neuen) Kontext« gebe. Der Psychoanalytiker trage dazu bei, indem er diesen neuen Kontext von dem ableite, was er »aus dem vergangenen und gegenwärtigen Leben des Patienten und der Behandlungs-Beziehung bereits definiert und analytisch verstanden« habe (S. 274). Die psychoanalytische »Dekonstruktion« mache eine »neue und bessere Konstruktion möglich« (S. 227). In identischer Formulierung beschreibt Laplanche die Deutung in der Analyse als »eine Methode der Dekonstruktion (der alten Konstruktionen) mit dem Ziel, neuen Konstruktionen Raum zu schaffen, die das Werk des Analysanden sind« (Laplanche 1991, S. 493, 496). Schafer sieht »in diesem Aspekt der analytischen Methode – dem Gestalten, Zerstören und Neugestalten von Kontexten – eine gemeinsame Grundlage der verschiedenen Schulen der Psychoanalyse«. Eine Gemeinsamkeit jedoch, die »Merkmal aller interpretativen Disziplinen« sei (Schafer 1992, S. 274). Über diese – methodologische – Gemeinsamkeit hinaus hält Schafer »die Suche nach einer ›gemeinsamen Grundlage‹« für den Ausdruck eines »generell konservativen Wertesystems«. Diese Suche lenke die Aufmerksamkeit von den kreativen und progressiven Aspekten ab, die ein Streit zwischen verschiedenen Gedanken- und Praxissystemen habe (S. 277). Er lädt stattdessen dazu ein, »den Gedanken an einen einzigen psychoanalytischen Haupttext aufzugeben« und vielmehr »die Unterschiede zu feiern« (S. 277). Analytiker sollten mit dem Gefühl arbeiten, dass ihre Differenzen all das enthüllen, was die Psychoanalyse sein kann, auch wenn sie nicht zur gleichen Zeit oder für jede einzelne Person alles sein kann. Die Alternative dazu wäre die Blindheit des Konformismus (S. 278). Die Praxis der Psychoanalyse ist verwurzelt im Dialog zwischen Analytiker und Analysand. Die Psychoanalyse wird durch den Dialog erschaffen (S. 216f.). Der Analytiker ist »Mit-Urheber« (S. 259) der Geschichte des Analysanden, die dieser neu schreibt (S. 429). Wenn Analytiker analytische Daten miterzeugen, wenn analytische Beobachtungen nur

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innerhalb einer Perspektive Sinn und Bedeutung erhalten und wenn Analytiker, jeder auf seine Art, nur einer mehr oder weniger systematisierten und kohärenten Reihe von grundlegenden Handlungssträngen folgen (S. 260), könne analytisches Verständnis in der klinischen Situation nur das Ergebnis eines Dialogs zwischen Analytiker und Analysand sein (S. 274). Dann aber könne es auch »keine erfolgreiche Verteidigung« des traditionellen freudschen Bildes »des Analytikers« mehr geben (S. 260), wie es dem Anspruch auf den Status einer empirischen, induktiven, objektiv beobachtenden Wissenschaft für die Psychoanalyse entsprochen habe (S. 257). Das Ziel der Analyse sieht Schafer darin, »das Interesse des Analysanden an der kohärenten, psychoanalytisch bedeutungsvollen Geschichte seiner konfliktreichen Konstruktion der psychischen Realität in der Vergangenheit zu stärken – jedoch um ihn zu einem besseren Verständnis der Gegenwart zu führen« (S. 383). Identisch wieder Laplanche: »Alles das geschieht nicht mit dem Ziel der Wiederherstellung einer intakteren Vergangenheit, nicht durch das Mittel der Aufhebung der Amnesie, sondern um nun die Dekonstruktion der alten Konstruktion zu ermöglichen, der ungenügenden, bruchstückhaften, fehlerhaften, die einer teilweisen Aufhebung der Verdrängungen entspricht, um also das Feld zu eröffnen für eine umfassendere Selbst-Konstruktion des Menschen« (Laplanche 1991, S. 493, 496). Bei diesem Prozess werde, so Schafer, der Analysand »mehr oder weniger heftige, komplexe, primitivierte und wiederholte Übertragungsreaktionen auf den Analytiker entwickeln, die die Bezeichnung Übertragungsneurose rechtfertigen, so lang sie nicht durch die Gegenübertragungen des Analytikers ernstlich vergiftet und rigide verstärkt werden und somit interpretierbar bleiben als auf Phantasien basierend, die die eigene Persönlichkeit des Analysanden ausdrücken« (Schafer 1992, S. 383). Jede Beziehung setze Übertragung voraus – darin schließt Schafer auch die Übertragung des Analytikers auf den Patienten ein. »Unser Ob-

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jekt … ist der andere in uns selbst, sind wir selbst im anderen.« Damit schließt Schafer an Loewald (1970, S. 297f.) an, von dem er die Formulierung übernimmt. »Die Wahrheit über den Patienten herauszufinden bedeutet stets, daß wir sie mit ihm und für ihn ebenso entdecken, wie für uns selbst und über uns selbst« (Schafer 1992, S. 437f.). Dieser »Andere in uns«, er ist der Andere, mit dem wir ständig »Selbst«-Gespräche führen: unsere »Gespenster« (Derrida 1993, S. 26) – auch wenn wir mit einem anwesenden Anderen sprechen, zum Beispiel dem Analytiker (oder der Analytiker mit dem Analysanden). Dass wir das nicht »wissen«, dass wir vielmehr denken, wir sprächen mit dem Anwesenden, wir antworteten dem Anwesenden, wir stellten unsere Fragen an diesen, das macht die »Übertragung« aus. Insofern »Übertragung« einer der »Grundbegriffe« der Psychoanalyse ist, ist die Psychoanalyse immer schon »intersubjektiv«, die »Intersubjektivitätstheorie« bringt diese Grundtatsache nur wieder in Erinnerung, betont sie, arbeitet sie stärker heraus. Oder: Sieht sie nur den anwesenden Anderen? Vergisst sie den Anderen in uns? Laplanche (1991) scheint das zu behaupten, und zwar für die Psychoanalyse von Anfang an. Die Psychoanalyse vergesse seit Freud, dass das Subjekt immer jemanden anredet, auf Botschaften anderer antwortet. Sie vergesse neben der »Wahrnehmungsrealität« und der »psychologischen Realität«4 »jene dritte Realität der Botschaft«. Diese Kategorie fehle im freudschen Denken, das heißt für Laplanche, »darin fehlt der andere, der andere Mensch als Absender von Botschaften, der elterliche Andere im speziellen (außer als abstrakter Protagonist einer Szene oder als Hilfsmittel für Projektionen)« (S. 490f.). Freud verkenne, dass die »infantilen Szenen«, mit denen sich die Psychoanalyse beschäftigt, »in erster Linie Botschaften« seien (S. 486) – »rätselhafte Botschaften«. Rätselhaft in dem Sinne, dass der Absender der rätselhaften Botschaft (der Erwachsene) selbst den größten 4 – »deren Hauptsektor die bewußt-vorbewußte Phantasie« ist –

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Teil dessen, was er sagen will, nicht kennt, und zweitens in dem Sinne, dass das Kind, das diese Botschaft »übersetzen« muss, nur über inadäquate und unvollkommene Mittel verfügt, das was ihm mitgeteilt wird, in eine Form zu bringen, zu theoretisieren (S. 492). Der Vater, der das kleine Geschwister schlägt,5 sage mehr, als er sagen wolle. Konfrontiert mit diesen rätselhaften Botschaften, übersetze das Kind »vorzugsweise mit der ›Sprache‹, über die es verfügt: ›Mein Vater liebt dieses andere Kind nicht, er liebt nur mich.‹« Was in dieser Übersetzung fallen gelassen wird, sei »der dunkle Aspekt der Botschaft, gemäß dem man, sexuell gesprochen, liebt, indem man schlägt und vergewaltigt. Es ist dieses Überlebsel, das die unbewußte Phantasie darstellt, jene starre, nicht modifizierbare Phantasie, die nicht historisiert und von jeder Bedeutung entblößt ist, nicht direkt zugänglich, außer in den perversen Abkömmlingen«. »Die Psychoanalyse vergißt also seit Freud dieser Tatsache Rechnung zu tragen, daß es einen vorexistierenden Sinn gibt, der dem Subjekt angeboten wird und dessen es nicht Herr ist, dessen es auch nicht anders Herr werden kann als dadurch, daß es sich ihm unterwirft, daß die Verdrängung und das Unbewußte also beim Anderen da sind, bevor sie es beim Kind sind: bei den Eltern« (Laplanche 1991, S. 491). Mit dem Begriff der »Übersetzung« bindet Laplanche die »Konstruktion« an die – »rätselhafte« – »Botschaft« des anderen: »intersubjektiv«, führt er jene »dritte Realität« – des »Signifikanten« – ein, das heißt der Botschaft, insofern durch diesen Signifikanten »jemand von jemandem angeredet wird« (S. 489). Im Unterschied zu Lacans Theorie des Signifikanten, in der das Unbewusste als »Diskurs des Anderen« gefasst wird, betont Laplanche den Bruch, die tief greifende Umarbeitung, die durch die »Übersetzung« stattfinde, welche von Lacan verkannt werde. Mit dem Begriff der 5 Freud, S. (1919): Ein Kind wird geschlagen. G. W. Bd. XII, S. 197–226.

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Übersetzung werde »jede lineare Kausalität zwischen dem elterlichen Unbewußten und dem elterlichen Diskurs und dem, was das Kind daraus macht, außer Kraft gesetzt« (S. 492). Mit dem Begriff der »rätselhaften Botschaft des anderen« werde der »starre Determinismus aufgebrochen«, in dem sich die »Deutung« seit Freud gefangen finde: in einem Dualismus von rein Tatsächlichem und schöpferischer Einbildung. »Im einen Fall rekonstruiert sie ›Tatsachen‹ von denen sie hofft, aus ihnen einen Determinismus zu gewinnen, der die Gegenwart durch die Vergangenheit erklären soll. Im anderen Fall zieht sie die Konsequenz daraus, daß die menschlichen Tatsachen immer einen Sinn haben, aber sie fügt schnell hinzu, daß dieser Sinn immer durch Ego verliehen wird: einer unbelebten Gegebenheit« (S. 492). Ego, das menschliche Individuum, »übersetzt seit der frühesten Jugend. [Es] hört sein ganzes Leben nicht auf zu übersetzen. Aber meistens tut der Erwachsene im Gegensatz zum Kind nichts anderes, als seine alten Übersetzungen zu übersetzen, wärmt kalten Kohl wieder auf« (S. 492). Und diese Übersetzungen tauchen dann in der Analyse wieder auf.

Verteidigung des bürgerlichen Subjekts in der Kritik am Konstruktivismus Die heutigen Entwicklungen des Konstruktivismus in der Psychoanalyse nehmen ihren Ausgang von der Behandlungstechnik (statt von der »Metapsychologie«). Die Metapsychologie – von Freud bereits als »unsere Mythologie« bezeichnet, wird als »Narration« behandelt, ihre Begriffe als Metaphern. Es wird die Vielfalt der Metaphern befürwortet, der Abschied von der einen »Haupterzählung«. Viel hat zu dieser Hinwendung zum Konstruktivismus – die genau genommen als eine Rückkehr bezeichnet werden

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müsste, wenn man die frühen Positionen des Konstruktivismus Adlers und dann auch Lacans berücksichtigte – tatsächlich die epistemologische Diskussion außerhalb der Psychoanalyse beigetragen, die Kritik der Metaerzählungen (Lyotard), die es ermöglichte, die freudsche Metaerzählung auch als eine unter anderen Erzählungen zu verstehen. Der Eingang der konstruktivistischen Epistemologie in die Psychoanalyse bleibt nicht unwidersprochen. An der Kritik Werner Bohlebers (1999), des Herausgebers einer der Diskurs führenden Zeitschriften der Psychoanalyse, der »Psyche«, lässt sich wohl exemplarisch eine Linie der Kritik zeigen. Bohleber setzt (zunächst) weniger an der Behandlungstechnik an – obgleich der Konstruktivismus in der Psychoanalyse seinen Schwerpunkt in der Behandlungstechnik hat – als an der Metapsychologie oder an der Offenheit für die Vielfalt der Begriffe und Metaphern, an dem Abschied von der »Haupterzählung«. Seine Kritik tritt als Verteidigung der Moderne gegen die – pauschal verstandene – »Postmoderne« schlechthin auf, als Verteidigung des bürgerlichen Individuums, der bürgerlichen Subjektivität (»Identität«), die der Psychoanalyse nicht äußerlich zu sein scheint. Der Konstruktivismus »drohe Essentials einer genuinen Psychoanalyse preiszugeben«, indem er »als ›postmodern‹ eingestufte soziokulturelle Entwicklungen« reflektiere, die »zu einer sogen. ›Dezentrierung‹ des Subjekts und einer Auflösung der Einheitlichkeit von Selbst und Identität geführt haben« (Bohleber 1999, S. 507).6 Voller Empörung sieht er bei Strenger (1997) »die Idee, daß es eine biologisch vorbestimmte reife Persönlichkeit« gebe, durch die »kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte« »unterminiert« und »die psychoanalytische Kon6 Siehe auch Dornes (1999), sowie das Doppelheft der »Psyche« (September/Oktober 1999) mit Beiträgen von Vertretern und Kritikern konstruktivistischer Ansätze in der Psychoanalyse.

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zeption von Entwicklungsphasen, die bis zur Reife zu durchlaufen sind«, »fragwürdig geworden«. Es werde »ein neuartiges Ideal eines Individuums, das nicht mehr einem traditionellen Modell von Geschlechtsrollen und persönlicher Identität verhaftet« sei, »propagiert« (S. 507f.). Diese »kulturellen Veränderungen« wiederum spiegelten sich auch »im Pluralismus psychotherapeutischer Schulen und vor allem im Aufkommen konstruktivistischer und intersubjektiver Theorien, die den psychoanalytischen Prozeß als Konstruktion von Bedeutungen verstehen«. Habe sich »in der klassischen Auffassung der Analytiker in der Position eines neutralen Beobachters« befunden, »vor dessen Augen sich eine von ihm unabhängige psychische Realität« entfaltet habe, so kreise »der analytische Prozeß bei den intersubjektiven Behandlungstheorien um die Begegnung zweier Subjektivitäten« (S. 507). Das Individuum bleibe »nicht länger ein autonomes Zentrum seiner Welt«, sondern werde »in ein intersubjektives Feld eingebunden«. Eine »Bezogenheit« bestehe »nicht mehr zwischen Selbst und Objekt«, sondern sie werde »als Begegnung zwischen zwei ›subjektiven Welten‹ (Stolorow & Atwood 1992) konzeptualisiert, die sich wechselseitig beeinflussen (Hoffman 1991)« (S. 509f.). Diese Entwicklung habe »auch die Vorstellung vom Streben der Psyche nach Integration nicht unberührt« gelassen. So »dekonstruieren« heute »manche psychoanalytische Theoretiker (z. B. Bollas 1992, Mitchell 1991, Schafer 1992) diese Einheit des Selbst mehr und mehr und verstehen sie … als Illusion, die das Selbstgefühl brauche, um als einheitliches Zentrum der Erfahrung wirken zu können« (S. 510). Hier ordnet Bohleber auch Jean Laplanche (1991) ein, für den, ebenso wie für Strenger, »die dezentrierende und dekonstruktive Potenz der analytischen Methode ein kongeniales Verfahren« bilde, »um das moderne Selbst zu verstehen, das sich gegenüber einer als Illusion erkannten Einheitlichkeit als dezentriert, ständig im Fluß und offen für Revisionen erlebt« (Bohleber S. 509). Auch Roy Schafer (1992) wird hier eingeordnet, insofern für diesen die Arbeit des Analyti-

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kers darin bestehe, »die bewußt erzählte Darstellung des Patienten von seinem Selbst zu destabilisieren, zu dekonstruieren und in seiner Gewöhnung rückgängig zu machen, so daß bessere Erzählungen an die Stelle treten können« (Bohleber S. 516). Die narrative Konstruktion sei für Roy Schafer »kein reflexiver Vorgang, der sich erst nachträglich vollzieht, sondern die Erfahrung des Menschen werde von vornherein sprachlich und narrativ konstruiert«. Es existiere für Schafer »kein einheitliches dauerhaftes Selbst«, das Selbst sei für ihn »eine von Beobachtern gestaltete Konstruktion in Form einer Narration« (S. 515). Er lehne »den Begriff der Identität ab«. An ihre Stelle sei »das Narrativ getreten«. »Selbst-Narrative übernehmen die Funktion der seelischen Integration, führen aber nicht zu einer einheitlichen Vorstellung des Selbst« (S. 515f.). Die »Bedeutung der Vergangenheit« werde »auf den aktuellen Erzählkontext beschränkt« (S. 515). Zusammenfassend meint Bohleber: »Die referierten Theorien reflektieren auf ihre Weise die Veränderungen der Menschen in der Spätmoderne. Aufgrund dieser Entwicklungen können wir heute nicht mehr ungebrochen von der Vorstellung einer autonomen integrierten Persönlichkeit als Ziel der Entwicklung sprechen.« Trotzdem werde »die Psychoanalyse nicht in die postmoderne Subjektkritik einstimmen können, die von der Auflösung der Identität und dem Tod des Subjektes« spreche. »Solche Formulierungen … beschreiben … doch eher soziale und seelische Oberflächenphänomene« (S. 516f.). Dagegen betone die Psychoanalyse »immer auch die Beharrung im Psychischen«. »In allem Wandel« gebe es doch immer »einen festen Kern«, der durch die »Verankerung des Seelischen in der Leiblichkeit des Menschen« gebildet werde. »Daß wir stets sicher« seien, »in allem Wandel dieselben zu bleiben«, sei »einem Identitätsgefühl zu verdanken«, das »mit seinem Kern in affektiven Erfahrungen … verankert« sei, und in einem »von Geburt aus gleichbleibenden körperlichen Affektausdruck«. »Gegenüber aller modernen Diskursivierung der Sexualität« werde es »doch immer bestimmte Erfahrun-

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gen geben, die untrennbar mit dem Körpergeschlecht verbunden« seien, »wie Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, und die sich in Körper und Seele niederschlagen« (S. 526). Die »Ausblendung« dieser »psychobiologischen Verankerung des Menschen« ende »in einer auf einen kulturellen Lebensstil reduzierten Version von Psychoanalyse« (S. 507f.). Erstaunlich ist diese Kritik Bohlebers, wenn man bedenkt, dass die von ihm kritisierten psychoanalytischen Ansätze Diskurse aufgreifen – die sich außerhalb der Psychoanalyse entwickelt haben –, in denen die Psychoanalyse eine hohe Wertschätzung erfährt, ja mit denen die Psychoanalyse erst eigentlich in Philosophie und Humanwissenschaft angekommen ist (s. Bruder 1993a, 1993b, 1999, 2003b). Allerdings prallen in Bohlebers ex cathedra vorgetragener Kritik zwei Lesarten der Essenz von Psychoanalyse aufeinander, die beide sich auf Freud berufen können: der »Positivismus« des Wissens, der Gewissheit der Identität, die – nie oder nur ausnahmsweise realisierte – Stärke des bürgerlichen Ich einerseits, andererseits die Relativierung dieser Gewissheiten im Bekenntnis zur »Mythologie« und zum Wirken des Unbewussten, wodurch »das Ich nicht Herr im Haus« ist. Indem Bohleber dafür »die Idee, daß es eine biologisch vorbestimmte reife Persönlichkeit gebe« gegen ihre »postmoderne« »Unterminierung« in Schutz nimmt (S. 507), macht er die Psychoanalyse zur – letzten – Festung der Verteidigung der Phantasmen der Moderne – mit Rekurs auf die neue Rückkehr der Naturwissenschaft in die Humanwissenschaft (in Gestalt unter anderem von Neuropsychologie und Psychobiologie). Bohlebers Kritik am Konstruktivismus blieb nicht unwidersprochen – weder innerhalb der »Psyche« selbst, die der Diskussion ein eigenes Doppelheft (1999) widmete (mit Beiträgen von Thomä, Ermann und anderen), noch außerhalb (z. B. Altmeyer 2000). Thomä, Ermann, Altmeyer und andere verteidigen die konstruktivistische Epistemologie – zumindest in ihrem Grundanliegen. Ermann betrachtet die »divergierenden« psychoanalytischen Theorien »vor allem

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unter dem Aspekt von Konstruktionen, die so weit tragen, wie sie nützlich sind«, »die psychoanalytische Situation zu bewältigen«. Damit wird die »Vielfalt« der Theorien verteidigt als »Potential an Freiheit, das einer Authentizität des Analytikers zugute kommt«, das ihm ermögliche, »in der konkreten Situation mit sich selbst im Kontakt und lebendig zu bleiben und seinen Analysanden zu erreichen« (Ermann 1999, S. 877). Unabhängig davon haben die psychoanalytischen Theorien »nur einen begrenzten Wirklichkeitsgehalt« (S. 877). Foucault, einer derer, die der Psychoanalyse einen privilegierten Platz in der postmodernen Philosophie und Sozialwissenschaft eingeräumt hatten, schrieb ähnlich schon vor langem, Psychoanalyse habe nicht deshalb »einen privilegierten Platz« innerhalb der Humanwissenschaften inne, »weil sie ihre Positivität gesichert hätte« (Foucault 1966, S. 447), nicht deshalb also, weil sie als »allgemeine Theorie vom Menschen ›positives‹ Wissen« erworben hätte, sondern eher, weil sie »an den Grenzen aller Erkenntnisse über den Menschen einen unerschöpflichen Schatz von Erfahrungen und Begriffen, aber vor allem ein ständiges Prinzip der Unruhe, des Infragestellens, der Kritik, des Bestreitens dessen, bildet, was sonst hat als erworben gelten können« (Foucault 1966, S. 447). Sie arbeite also »den Humanwissenschaften vielmehr entgegen«, und zwar dadurch, dass sie diese »auf ihr epistemologisches Fundament zurückführe«, sie löse »den Menschen« auf, »der in den Humanwissenschaften seine Positivität bildet« (1966, S. 454). Sie beunruhigt die – »positiven« – Wissenschaften vom Menschen: Darin ist die Psychoanalyse »nichtpositivistisch«, weil sie ihnen zeigt, dass sie »den Menschen« nicht zu fassen kriegen: Das Scheitern dieses Projekts der Moderne – von dem die Postmoderne handelt. Von dieser Beunruhigung ist auch die Kritik Bohlebers an den konstruktivistischen Ansätzen innerhalb der Psychoanalyse erfasst. Die »Auflösung des Subjekts«, die »Verkürzung« von »Identität« und »Subjektivität« »auf eine intersubjektive

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Konstruktion bzw. den Fluchtpunkt einer Narration«, von der Bohleber die Psychoanalyse bedroht sieht, ist nichts weiter als die Auflösung dieser Phantome der Moderne. Nicht das Subjekt löst sich auf, sondern das, was die Wissenschaften des Subjekts unter diesem Begriff zu fassen bekommen wollen, löst sich unter ihrer Hand auf. Das Subjekt, das sich ihnen entzieht, löst sich dadurch nicht auf, sondern konstituiert sich, vergewissert sich seiner – im Sprechen, in der Narration. Es löst sich auf, wenn man es von seinem Sprechen trennt, wenn man es nicht als Subjekt ernst nimmt, wenn man die epistemologische Symmetrie verletzt.

Der frühe Konstruktivismus in der Metatheorie: Alfred Adler Adlers Konstruktivismus ist engstens mit dem »Primat« verbunden, den er dem »Willen zur Macht« zuschreibt. Diese Verbindung ist für die beiden zentralen konstruktivistischen Begriffe Adlers konstitutiv, dem Begriff der »Fiktion« und dem des »Ziels«. Die Fiktionen, die die Wahrnehmung und die Erinnerungen, das Denken und Fühlen leiten, sind »gemacht«, »arrangiert«, »der Neurotiker leidet nicht an seinen Reminiszenzen sondern macht sie«, entsprechend einem Ziel: dem Ziel der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls, des Strebens nach Überwindung der »minderwertigen« Position, des »kompensatorischen« Machtstrebens. Diese Bezugnahme auf die Macht fehlt im zeitgenössichen Konstruktivismus innerhalb der Psychoanalyse. Betrachtet man die Vielfalt der konstruktivistischen Ansätze in der Psychoanalyse heute, so fällt das beredte Schweigen über die Macht auf, das diese mit der traditionellen Psychoanalyse verbindet. Ethel Person sieht den Grund für dieses Schweigen der Psychoanalyse über die Macht im Ausschluss von Adler, der (das Streben nach) Macht ins Zentrum seiner Theorie gestellt hatte (Person 2000, 2001). Folgte man aber

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Foucaults Analyse (1976), so würde man Adlers Ausschluss eher umgekehrt als Konsequenz der Verleugnung der Macht im Diskurs der Psychoanalyse sehen.7 Die Verleugnung der Macht in der Psychoanalyse liegt für Foucault darin, dass sie die Sexualität vor die Macht schiebt und damit den Blick davon abwendet, dass diese nur ein »besonders dichter Durchgangspunkt der Macht« ist. Freuds »Entdeckung« der Sexualität als »primum movens« allen Verhaltens und Denkens sei Teil des Sexualitätsdiskurses des Bürgertums Ende des 19. Jahrhunderts. In ihm sei das Subjekt als begehrendes geschaffen und die Kontrolle des – sexuellen – Begehrens als Weise der Subjektivierung erfunden worden. Die »Sexualisierung der Wiener Moderne« (Eder 1993) war von dem Interesse des Bürgertums an der Verbreitung seines Diskurses über Sexualität und damit seiner Weise der Subjektivierung in den subalternen Klassen bestimmt, vom Interesse an der Herstellung seiner kulturellen und politischen Hegemonie, von seinem Streben nach Verbreiterung und Sicherung seiner Macht. Zugleich konnte durch diesen Diskurs über »Sexualität« dieses Machtinteresse verleugnet werden. Insofern die Psychoanalyse diesen Diskurs aufnahm und fortführte, affirmierte sie diese Ablenkung, diese Verleugnung der Macht, des Machtstrebens des Bürgertums. Damit bringt Foucault auf der Ebene der Metapsychologie den konkurrierenden metapsychologischen Entwurf Adlers wieder in den Vordergrund – freilich ohne Adler zu nennen – und damit die Erklärung des Sieges der Psychoanalyse Freuds über die Psychologie Adlers: Die Psychoanalyse verleugnete die Macht, ist Teil der Verleugnung der Macht. 7 Mit dem Ausschluss Adlers wiederum verbunden kann man zugleich auch die Schwierigkeit sehen, die die konstruktivistische Epistemologie innerhalb der Psychoanalyse hat, das Fehlen eines Orientierungspunkts, eines Ziels bei der Formung psychischer Realität.

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Diese Verleugnung der Macht (und des Machtstrebens) ist die Ideologie des bürgerlichen Subjekts. Bürgerliche Subjektivität ist in ihrem Kern: die Fiktion der eigenen Souveränität und Macht, die Verleugnung der eigenen Ohnmacht – angesichts der (gesellschaftlichen) Macht – und des »kompensatorischen« Strebens nach Teilhabe an der Macht. Die Fiktion der eigenen Souveränität und Macht ist zwar heute »lächerlich geworden« (Baudrillard 1983, S. 140), denn: »heute ist niemand mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen«. Trotzdem aber streben wir weiterhin nach »Macht«, nach Überlegenheit über die anderen – um unsere tatsächliche eigene Machtlosigkeit zu verleugnen, um das mit der Erfahrung der eigenen Ohnmacht verbundene Gefühl der Demütigung los zu werden. Adler hat diese Dynamik ins Zentrum seiner Psychologie (des »Nervösen Charakters«) gestellt. Darin formuliert Adler zugleich die Kritik am bürgerlichen Subjekt, an der Fiktion seiner Souveränität und Macht. Adler unterscheidet drei Ebenen oder Gestalten dieser Fiktion, die in ihrer Beziehung zu- und gegeneinander die psychische Dynamik ausmachen und die selbst soziale Erfahrungen widerspiegeln und von diesen gespeist werden: die »leitende Fiktion« des »männlichen Protests«, sodann die Fiktion des »Minderwertigkeitsgefühls«, das mithilfe des männlichen Protests überwunden werden soll, schließlich die »Gegenfiktion«, die Vorstellung und Behauptung, man verfolge mit dem nach Macht und Überlegenheit strebenden männlichen Protest ganz andere, »höhere« Ziele, man nütze anderen, statt sich selbst. 1. Die »Fiktion« des männlichen Protestes, des Willens zur Macht leitet die Wahrnehmung, das Verhalten, Denken und Fühlen in der Neurose. Der »Zweck« dieser »leitenden Fiktion« ist die »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls«, die »Sicherung« des »Persönlichkeitsideals«. »Ich muß so handeln, daß ich letzten Endes Herr der Situation bin.« Dieser »Formel« entspricht nach Adler die »Zwecksetzung in der

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neurotischen Psyche«: nämlich: dem »Willen zur Macht« »die dauernde Führung zu überweisen« (Adler 1912a, S. 123f.). Die »leitenden Fiktionen« sind nach Adler vom besonderen »Bewegungsgesetz« des individuellen »Lebensstils« bestimmt. Allgemein ziele dieses »nach Überwindung« der zu engen Grenzen der Befriedigung (Adler 1912, S. 66; Adler 1933, S. 24). Wolfgang Iser rechnet solches Überschreiten von Beschränkungen, das ständige Sich-selbst-Überschreiten zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen. »Fiktionen« sind dabei für ihn Extensionen, die es dem Menschen gestatten, über seine jeweilige Situation hinauszugreifen. Die Fiktion ist bald eine Hypothese, wenn es zu explorieren gilt, bald ein Vorgriff, wenn gehandelt werden muss, bald eine Prämisse, wenn erkannt werden soll, und bald ein Dogma, wenn es um das Erstellen von Weltbildern geht. Deshalb spielen die Fiktionen auch in der Lebenswelt eine bedeutsame Rolle (Iser 1992). In der Formulierung: »Ich muß … Herr der Situation« sein, ist das Persönlichkeitsideal als ein männliches Ideal zu erkennen: »Ich will ein ganzer Mann sein!«, eine »männliche« Fiktion. Deshalb spricht Adler auch vom »männlichen Protest«. Damit ordnet Adler das Streben nach Vollkommenheit, Überlegenheit, den Drang, Sieger sein, oben sein zu wollen, als ein männliches ein. Es ist aus der »männlichen Vorherrschaft« abgeleitet, Ergebnis der Einwirkung der – männlichen – Kultur. Neurotisch daran sei »lediglich« der »übertriebene« männliche Protest, der »hypnotische Zwang« zur »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls«. Zugleich aber sieht Adler auch, dass diese »Übertreibung« durch die »männliche« Gesellschaft und Kultur »hochgepeitscht« wird. 2. Dieser leitenden Fiktion des männlichen Protests geht bereits eine andere Fiktion voraus: die Fiktion des Minderwertigkeitsgefühls, das der männliche Protest zu überwinden, zu »kompensieren« sucht. Es sind unsere Minderwertigkeitsgefühle, die uns »zur Konstruktion von Denkgebäuden ver-

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anlassen, die uns vor dem Überhandnehmen dieser Gefühle schützen sollen« (Hillman 1986, S. 139). Der neurotische Charakter »ist ein Produkt und Mittel der vorbauenden Psyche, die seine Leitlinie verstärkt, um sich eines Minderwertigkeitsgefühls zu entledigen …« (Adler 1912a, S. 54). »Der nervöse Mensch … baut sich sein Wollen und Denken über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf« (S. 63). »Dieses Gefühl ist stets als relativ zu verstehen, ist aus den Beziehungen zu seiner Umgebung erwachsen … Stets ist ein Messen, ein Vergleichen mit anderen vorausgegangen« (S. 63). Dieses Gefühl der Minderwertigkeit ist aus den Beziehungen zur Umgebung erwachsen: und zwar – das ist entscheidend – »aus dem Vergleich(en) mit anderen«, der »Beziehung zum Rivalen«. Adler fasst damit in grundlegender Weise die gesellschaftlichen Bedingungen ins Auge; also die subjektive Verarbeitung einer sozialen, gesellschaftlichen Erfahrung, deren Ergebnis das Minderwertigkeitsgefühl ist. Die Minderwertigkeit, das Zukurzgekommensein, das Verkürztsein, die Demütigung: Ergebnis eines Messens an einem – sozialen – Maßstab. Dies setzt also bereits einen oder mehrere andere voraus, an dem ich mich messe und mich als unten erlebe: Reflex der gesellschaftlichen Hierarchie, der Ungleichheit, der Macht-Differenz. Aber: Das Gefühl der Minderwertigkeit entsteht dadurch, dass das Individuum sich selbst als minderwertig einschätzt, einordnet. Es ist also das Ergebnis einer – subjektiven – Konstruktion, eine »Fiktion« des Subjekts. Das »zur Neurose disponierte Kind« »sucht eifriger als ein gesundes Kind den vielen Übeln seiner Tage zu entkommen. Dazu braucht es ein Hilfsmittel, um im Schwanken der Tage, in der Unorientiertheit seines Seins ein festes Bild vor Augen zu haben. Es greift zu einer Hilfskonstruktion. In seiner Selbsteinschätzung zieht es die Summe aller Übel, stellt sich selbst als unfähig, minderwertig, herabgesetzt, unsicher in Rechnung. Und um eine Leitlinie zu finden, nimmt es als zweiten fixen

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Punkt Vater oder Mutter, die es nun mit allen Kräften dieser Welt ausstattet. Und indem es für sein Denken und Handeln diese Leitlinie normiert, sich aus seiner Unsicherheit zu dem Range des allmächtigen Vaters zu erheben, diesen zu übertreffen sucht, hat es sich bereits vom realen Boden mit einem großen Schritt entfernt und hängt in den Maschen der Fiktion« (S. 64). Dieser Fiktion liegt die von Adler (1912a, S. 73) als »antithetische« bezeichnete, »nach dem Prinzip des Gegensatzes arbeitende Apperzeptionsweise« zugrunde. Unser Denken errichtet polare Gegensätze: stark/schwach, oben/unten, männlich/weiblich, ein Denken des Entweder-oder (»binäres Denken«: Derrida 1991), wobei zugleich der eine Pol zugunsten des anderen abgewertet wird, der Weibliche, dem die untere Position zugewiesen und die als die des Schwachen aufgefasst wird. Bereits Adler sieht hierin ein – wie nach ihm Derrida – Denken der Macht: »Wir ermöglichen uns so eine scharfe Auftrennung der Welt und schaffen damit Möglichkeiten zur Machtausübung, … was uns davor bewahrt, uns unfähig und ohnmächtig zu fühlen, fördert einen magischen Glauben an die Macht über die Wirklichkeit … neurotisch, aus dem Verlangen nach Selbstschutz (›Sicherungstendenz‹) motiviert« (Dolliver 1974, zit. n. Hillman 1986, S. 139f.). In dieser Apperzeptionsweise ist der gesellschaftlich vorgegebene Maßstab (der Macht) ins Denken des Individuums übernommen. Bereits damit hat sich das Individuum »in den Maschen der Fiktion« verfangen. Das Gefühl der Minderwertigkeit entsteht aus der Anwendung dieses Maßstabs (auf sich selbst). Insofern eine Fiktion. Und zwar eine »Hilfskonstruktion«, mit der das Kind seiner Unsicherheit Herr zu werden versucht, dass es sich selbst als Ursache seiner Übel ansieht, sich selbst als unfähig einschätzt, also als minderwertig verdächtigt. Dieses Gefühl der Minderwertigkeit konnotiert eine grundlegende – gesellschaftliche – Erfahrung bereits negativ: die Erfahrung der Ambivalenz. Die »antithetische Apper-

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zeptionsweise«, die »scharfe Auftrennung der Welt« in oben und unten ist eine – gesellschaftlich angebotene – Weise, die Erfahrung der Unsicherheit, die diese Ambivalenz so bedrohlich macht, zu bewältigen – durch Vereindeutigung, durch Ausschaltung der Ambivalenz: nach Bauman (1991) das Projekt der Moderne. Diese Erfahrung der Ambivalenz bezeichnet Adler, auf die psychische Domäne übertragen, als »psychischen Hermaphroditismus«: Die Psyche trägt weibliche und männliche Züge (Adler 1930, S. 37; vgl. Bruder-Bezzel 1996). Ihr begegnet das »antithetische Denken« der »polaren Gegensätze« mit der Abwertung des Weiblichen, mit ihrer Konnotierung als »minderwertig«. Daher kann man den »männlichen Protest« als Verleugnung der »Doppelnatur der Seele« auffassen (Hillman 1986, S. 144). Damit wäre auch das Ursache-Wirkungsverhältnis zwischen Minderwertigkeitsgefühl und kompensatorischem Streben nach Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls lediglich eine Konstruktion, eine Möglichkeit, zu der auch die umgekehrte Möglichkeit denkbar ist: »Nicht nur die Minderwertigkeit läßt uns nach Selbsterhöhung streben, sondern ein Drang zur Selbsterhöhung ist verantwortlich für unsere Minderwertigkeitsgefühle« (Hillman 1986, S. 145f.). »Unzufrieden durch die übergroße Distanz zu seinem Persönlichkeitsideal … voll des Gefühls der Verkürzung, und ihr ganzes Leben verläuft in der Suche nach einer Erweiterung ihrer Einflußsphäre. Um dies zu anzustreben … bedarf es bei ihnen einer ständigen Unterhaltung ihrer Unzufriedenheit, so daß sie … aus jeder Situation … Nahrung für ihre Unzufriedenheit und Beweise für ihre Zurückgesetztheit gewinnen wollen« (Adler 1912a, S. 138f.). Minderwertigkeitsgefühl und Streben nach Erhöhung des Selbstwertgefühls sind fiktionale polare Gegensätze, die die grundlegende Ambivalenz aufzuheben versuchen, indem sie diese antagonistisch strukturieren und diese Struktur festhalten.

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3. Schließlich geht der leitenden Fiktion nicht nur eine andere Fiktion (»Minderwertigkeitsgefühl«) voraus, sondern ihr folgt eine dritte Fiktion, die »Gegen-Fiktion«, wiederum erzwungen aus der Perspektive auf den anderen: Ich kann meinen Willen zur Macht, zur Beherrschung (der Situation) nicht offen zeigen, muss ihn kaschieren, maskieren. Wiederum geht es darum, so zu tun, »als ob«. Die Fiktionen sind also – wie im Zwiebel-Modell des Ich bei Freud (1923) – übereinander geschichtet. »Das Ich ist aus der Folge seiner Identifizierungen gemacht« (Freud 1923). Alle drei Fiktionen sind sozial bestimmt, geformt, erzwungen: Alle drei verfestigen meine Sichtweisen, Wahrnehmungen, mein Verhalten, schlagen mich »ans Kreuz«. An der dritten Fiktion erkennen wir den Charakter der Fiktion als Lüge, Maskerade – der auch die anderen Fiktionen charakterisiert. »Es gibt … nichts, was mit solcher Heimlichkeit ins Werk gesetzt wird wie die Errichtung des Persönlichkeitsideals … so muß sie frühzeitig unkenntlich gemacht werden, sich maskieren … Diese Verschleierung geschieht durch Aufstellung einer Gegenfiktion, die vor allem das sichtbare Handeln leitet« (Adler 1912a, S. 114f.). Diese Gegenfiktion8 ist der »Sicherungskoeffizient der Leitlinie zur Macht«, »indem sie ihr Rücksichten aufzwingt, … und so die Vernünftigkeit [Erg. von 1922: das heißt: Allgemeingültigkeit] des Denkens und Handelns sichert« (S. 115). Und: »die Harmonie beider Fiktionen … sind das Zeichen psychischer Gesundheit« (S. 114ff.). Erst »die Widersprüche [dieser Leitlinie] mit der Realität …, die daraus erwachsenden Konflikte, und die Nötigung, soziale Geltung und Macht zu erlangen, fördern die Symptome zutage« (S. 111). Adler hat den Begriff der Fiktion, der fiktiven Wahrnehmungsbilder und Ziele zwar am »Nervösen Charakter« entwickelt, aber die Differenz zwischen neurotisch und gesund 8 1919 fügt Adler hier das »Gemeinschaftsgefühl« ein: »stets gegenwärtige korrigierende Instanzen.

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ist für ihn graduell. Der Neurotiker unterscheidet sich vom Nicht-Neurotiker nicht dadurch, dass er Fiktionen hat, sondern bloß durch stärkeres Haften an ihnen (S. 80), er kann sie prinzipieller und schematischer zum Ausdruck bringen, er steht unter der »hypnotischen Wirkung« eines fiktiven Lebensplans (S. 75). Darin liegt der »Fehler«, der »Irrtum« des Neurotikers. Die Neurose besteht nicht darin, dass wir Fiktionen folgen, sondern dass wir »ans Kreuz der Fiktionen geschlagen sind« (S. 74), dass wir aus dem Kunstgriff, dem Mittel einen (Selbst-)Zweck machen (S. 71), dass wir Fiktionen »essentialistisch« missverstehen. Der fiktive Charakter der Wahrnehmungen, Erinnerungen et cetera hat Folgen für die therapeutische Haltung und Zielsetzung. In der fiktiven Grundlage der Wahrnehmungen, der (Minderwertigkeits-)Gefühle sieht Adler zugleich »die Hauptchancen einer Heilungsmöglichkeit« (S. 71). In der Therapie geht es für Adler nicht um die Aufhebung von Fiktionen, sondern um die Auflösung der Fixierungen an sie, um die Auflösung der Fesseln der Fiktionen. Das können wir die Dekonstruktion der Fiktionen nennen. Sie geschieht auf dem Weg ihrer Rekontextualisierung. Die bisherigen Annahmen über Wirklichkeiten und Gewohnheiten waren zu »Wahrheiten« geworden, indem sie von den Bedingungen und Kontexten ihrer Produktion abgespalten worden waren. Diese »Wahrheiten« werden als konstruiertes Wissen erkennbar. Der Aufbau neuer Fiktionen (Rekonstruktion), neuer Sichtweisen, ermöglicht den Zugang zu bisher versperrtem, verdrängtem Wissen. Die Fesseln der Fiktionen zu lösen heißt, sie ihres Zwangs zum Wörtlichnehmen, zum Entweder-oder-Denken zu berauben, den fiktionalen Jargon metaphorisch relativieren. Der Beitrag des Therapeuten liegt darin, einen Raum zur Verfügung zu stellen für das therapeutische Gespräch, an dem er selbst teilnimmt – aus der therapeutischen Haltung der Akzeptierung, der Position des Nicht-Wissens. Therapeutische Fragen finden ihre Antwort in der erneuten Konstruktion der Vergangenheit in der Gegenwart.

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Schluss Adlers Konstruktivismus ist zugleich eine Kritik der Macht – auf der Ebene der Metapsychologie. Deshalb wurde er aus der Psychoanalyse ausgeschlossen. Der zeitgenössische Konstruktivismus in der Psychoanalyse konzentriert sich auf die Beziehung von Übertragung und Gegenübertragung – also auf die Behandlungstechnik. Dabei greift auch er Machtphänomene an: diejenigen zwischen Analytiker und Patient in der analytischen Beziehung. Die Behandlungstechnik hat auch »metapsychologische« Konsequenzen, greift auch die Theorie Freuds an, ihre Alleinherrschaft – auch insofern ein Machtphänomen. In den behandlungstechnischen Überlegungen hat der heutige Konstruktivismus sehr differenzierte Sichtweisen hervorgebracht: eine veränderte Sichtweise der Realität der analytischen Situation, ein verändertes Verständnis der Faktoren, die in der Analyse Veränderung bewirken, die Betonung der Bedeutung der neuen Erfahrung – gegenüber der (freudschen) Wiedergewinnung der Erinnerung, Aufhebung der Verdrängung, Einsicht. Gemessen an den Überlegungen der heutigen Konstruktivisten wirkt Adler viel holzschnittartiger, diese dagegen viel sensibler, aber zugleich flacher: Es wird die »Beziehung« thematisiert, die Beteiligung des Analytikers an der Erzählung, das intersubjektive Feld. Nicht thematisiert werden jedoch Macht und Ungleichheit außerhalb der analytischen Beziehung, außerhalb des analytischen Felds, nicht das Leiden an der Macht, an der (freiwillig-erzwungenen) beschämenden Unterwerfung unter die Macht. Die Ausblendung der – gesellschaftlichen – Macht hält den Konstruktivismus (zugleich) in den Fesseln der freudschen Psychoanalyse gefangen, indem sie seine Perspektive auf das »psychoanalytische Feld« verengt. Auf das »psychoanalytische Feld« verengt, ist aber die »intersubjektive Konstruktion der Gegenwart« die an die Stelle von Freuds »Wiederholung der Vergangenheit« tritt, fatal. Die »Wie-

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derholung« brachte – in Gestalt der Vergangenheit – immerhin noch das »Außen« in das psychoanalytische Feld und in Gestalt des »Determinismus«, der das Subjekt zur Wiederholung zwingt, den Zwang, die Gewalt, die Macht. Gegen diesen Determinismus und gegen die »Unschuld« des »neutralen« Analytikers setzt der Konstruktivismus dessen Beteiligung und Verantwortung am analytischen Geschehen und auf der anderen Seite die konstruktive Potenz des Patienten – und vergisst dabei die dadurch nicht aufgehobene, nicht aufzuhebende Macht oder blendet sie aus der Betrachtung des analytischen Felds aus. Zwar betont der Konstruktivismus die Bedeutung der neuen Erfahrung gegenüber von »Erinnerung, Wiederholung usw.«, sieht den Primat der Konstruktion, der Interpretation auf der Seite des Patienten, statt in der Hand des Analytikers, seiner – dekonstruktiven – Interventionen, aber das Entscheidende bleibt damit (wieder) ausgeblendet: der Wunsch nach Überwindung der zu engen Grenzen – der Gegenwart (Adler). Dieser ist an die Stelle des »Zwangs zur Wiederholung der Vergangenheit« zu setzen. Es ist der Patient, der seine Biografie (ständig) neu schreibt – und dabei immer wieder an Grenzen stößt, die nicht nur die alten sind. Der »Wille zur Macht« ist eine pervertierte Form dieses Wunsches, pervertiert durch gesellschaftliche Vorgänge und Bedingungen, durch die Erfahrung der gesellschaftlichen Macht. Die Wiederholung (der Vergangenheit) hält das Subjekt in diesen Grenzen – und blendet sie (die Grenzen der Gegenwart, welche Machtgrenzen sind) aus, vor allem die gesellschaftlichen. Der Wunsch nach Überwindung der zu engen Grenzen – der Gegenwart behält diese im Blick. Die Beachtung dieses Wunsches bedeutet zugleich, diese Grenzen als die Einschränkungen des Subjekts zu beachten sowie den Widerstand des Subjekts gegen diese Einschränkungen zu respektieren (s. Bruder 2003a).

Almuth Bruder-Bezzel

Nietzsche, Freud und Adler

Für die Rezeption von Adler gehört es zu einer Selbstverständlichkeit, Adler zu Nietzsche in einen mehr oder weniger engen Zusammenhang zu bringen. Adler galt wohl bereits zu seinen Lebzeiten, trotz seines »Gemeinschaftsgefühls«, als »Verkünder« des »Willens zur Macht«, »wie ein 2. Nietzsche«, wie Furtmüller (1946, S. 264) bedauernd schreibt. Dagegen stehen in Bezug auf Freud eher zwei Linien im Widerstreit: solche, die die Ähnlichkeit bis Vorgängerschaft Nietzsches betonen, und solche, die die Differenzen hervorheben. Die Argumente gehen da hin und her und wurden immer weiter verfeinert, vor allem wenn die Differenz nachgewiesen und Freud damit von einem angeblichen Plagiatsvorwurf entlastet werden soll (wie dies bei der sehr umfangreichen Studie von Gasser 1997 geschieht). Und natürlich schwankt die Einschätzung je nach dem Nietzsche-Bild und der Haltung zu Freud. Da das Nietzsche-Bild über das Jahrhundert hinweg sehr unterschiedlich war und es zu Nietzsche kaum je eine neutrale Haltung gab, war mit der Frage der Beziehung Freuds oder Adlers zu Nietzsche immer auch eine Wertung verbunden. Beide gaben zu diesen Zuschreibungen Veranlassung. Adler, indem er Nietzsche verschiedentlich zitierte, ja Nietzsche einmal als eine »ragende Säule« seiner Theorie nannte und vor allem der Dimension der »Macht« in seiner Theorie einen zentralen Stellenwert einräumte – und dafür zeitenweise Nietzsches Ausdruck »Wille zur Macht« übernahm. Adler schien daher Nietzsche-Anhänger zu sein, auch

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wenn er sich später dagegen gewehrt hatte. Den Geist, den er gerufen hatte, bekam er nicht wieder los. Freud dagegen zitierte Nietzsche nicht, oder wenn, dann randständig. Vor allem aber bestritt er selbst, Kenntnisse über Nietzsche zu haben oder von ihm beeinflusst zu sein. Die Frage stellt sich bei beiden, ob der Einfluss Nietzsches auf Freud nicht eher unterschätzt und der Einfluss Nietzsches auf Adler nicht eher überschätzt wird. In der Freudforschung kann man inzwischen von Freuds – nicht geringen – Kenntnissen von Nietzsche und von Ähnlichkeiten zwischen beiden ausgehen, auch wenn Freud letztlich Nietzsche ablehnte. Die Entstehung der Psychoanalyse ohne Nietzsche scheint wegen dieser Ähnlichkeiten und angesichts der massenhaft verbreiteten Nietzsche-Rezeption kaum denkbar. Indem Adler über die Gemeinsamkeit der Grundlagen der Psychoanalyse hinaus den Aggressionstrieb, dann das Machtstreben, ins Zentrum gestellt hat, hat er einen Graben zu Freud aufgebaut, der ihn, in den Augen Freuds zumindest, mit Nietzsche verband. Ungeachtet dessen wurde Adler in seiner Machtkritik ein grundlegender, scharfer Nietzsche-Kritiker, was er auch in späteren Jahren ausdrückt. Angesichts des unterschiedlichen Umgangs Adlers mit Nietzsche in seiner Freud-Zeit und seines positiveren Verhältnisses zur Philosophie drängt sich der Gedanke auf, dass Adlers Dissens oder Freuds Rausschmiss von Adler (und auch die von C. G. Jung) (auch) im Zusammenhang mit Nietzsche steht. So schrieb Venturelli, dass in der Polemik »zwischen Freud und Alfred Adler oder zwischen Freud und Jung« »eine unterschiedliche Einschätzung sowohl Nietzsches als auch der Beziehung zwischen Wissenschaft und Philosophie in Erscheinung tritt« (Venturelli 1984, S. 477). Einen ganz ähnlichen Gedanken hatte bereits C. G. Jung (1962). Während es zum Verhältnis Freud–Nietzsche inzwischen eine sehr umfangreiche Literatur gibt, fällt die zu Adler–Nietzsche recht spärlich aus. Von einigen seiner da-

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maligen Anhänger gibt es nur ein paar Nebenbemerkungen, die allerdings eine enge Beziehung Adler–Nietzsche konstatieren, ohne dies wirklich auszuführen. So sieht Ada Beil Schopenhauer und Nietzsche »als Vorläufer unserer Anschauung« (Beil 1926, S. 28) oder bezeichnet Hedwig Schulhof Nietzsche als »intuitiven Individualpsychologen« (Schulhof 1926, S. 149) oder fordert Arthur Kronfeld dazu auf: »Die Schüler Adlers sollten sich als Schüler Nietzsches bekennen« (Kronfeld 1926, S. 12). Nur Robert Freschl (1912, 1914, 1936)1 und der Engländer Francis Crookshank (1933)2 – beide Nietzsche-Verehrer – behandelten die Beziehung etwas ausführlicher. Adler sei eine von Nietzsches »Philosophie kongruente Psychologie« (Freschl 1914, S. 111) und zeige »weitgehende Übereinstimmung« und »wesentliche Differenzen« (Freschl 1936, S. 50f.), Crookshank zeigt in einer über 70-seitigen Broschüre anhand einer chronologischen Darstellung Nietzsches an verschiedenen einzelnen Punkten ein »Kontinuum Individualpsychologie und Nietzsche« auf. Diesem – etwas pauschalen Muster – folgen auch Ansbacher (1972) und Kaufmann (1972) und mit ihnen neuere Autoren, die in dieser Frage und speziell mit dem Begriff »Willen zur Macht« zurückhaltend sind und die Divergenzen betonen. Eine wichtige Anregung für diese Untersuchung waren die sorgfältig den Quellen entlanggehenden Arbeiten von Rolf Kühn (1996, 1997). Weitere Anstöße waren nicht nur Publikationen zu Nietzsche anlässlich seines 100. Todestags, sondern auch die Thematisierung von »Macht in der Psychoanalyse« in der »Zeitschrift für Individualpsychologie« 1 Freschl war frühes Mitglied der Adler-Gruppe und soll sich nach der Einführung des Gemeinschaftsbegriffs von Adler distanziert haben. 2 Psychiater in London, seit 1926 Leiter der Medical Society of Individual Psychology, London, Herausgeber der Individual Psychology Pamphlets. 1931 wurde ihm die Gesamtleitung der Individual Psychology in England übertragen (Hoffman 1997, S. 323).

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2001 (H. 1), angeregt durch einen entsprechenden, dort veröffentlichten Beitrag von Ethel Person. Im Zentrum dieser Studie steht das Verhältnis Adlers zu Nietzsche, während die Konfrontation Freuds mit Nietzsche und der mögliche Einfluss Nietzsches auf Freud eher umrissen und in seiner Beziehung zum Bruch mit Adler betrachtet werden soll. Dies vor dem skizzierten Hintergrund der Nietzsche-Rezeption der Zeit. Denn die Frage ist hier nicht, wie Nietzsche (»richtig«) zu verstehen sei, nach heutiger Sicht – und die wiederum ist alles andere als einheitlich –, sondern wie Nietzsche damals gesehen, propagiert wurde und als wer er Freud und Adler erschien.

Nietzsche-Rezeption und Nietzsche-Kult Die Aufgabenstellung dieser Untersuchung – Einfluss von Nietzsche auf Freud und Adler und die Bedeutung Nietzsches für das Verhältnis von Freud und Adler – muss die damalige herausragende Bedeutung von Nietzsche vor allem nach seinem Tod 1900 für den deutschsprachigen Kulturraum im Blick haben und zumindest ansatzweise die damalige Nietzsche-Rezeption einbeziehen. Für diese Frage kann ich mich im Wesentlichen auf die hoch spannende und umfassende Untersuchung von Aschheim (2000) beziehen (vgl. auch Krummel 1974). Nietzsche war ohne Zweifel der bedeutendste Philosoph des 19. und 20. Jahrhunderts, »bedeutend« gemessen an seinem Verbreitungsgrad, an dem Kult um ihn und dem Streit um ihn. Nietzsche galt als »Prophet« und wurde »verehrt als ein Gott« (Wittels, zit. n. Lehrer 1995, S. 189). Er schien Tendenzen und Bedürfnisse der Zeit ausdrücken, zuspitzen, unterstützen zu können. Dabei kann man im breiteren Maßstab von einer um circa 20 Jahre verzögerten Rezeption sprechen, denn erst in neunziger Jahren entstand ein Kult um

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ihn, als Nietzsche selbst schon durch seine Krankheit aus dem Gesichtsfeld verschwunden war – was den Kult eher angetrieben hat. Er war heftigst umstritten, wurde kultisch verehrt oder zutiefst verdammt. Er wurde nicht nur als Philosoph, sondern auch als (nichtakademischer) Psychologe gesehen, als »entlarvender« Psychologe (Klages) bezeichnet – wodurch sich die Affinität zur Psychoanalyse aufdrängt –, mit Anteilen der »Nachtseiten« der Seele, der »romantischen« Seite, der »Irrationalismen« und Hintergründigkeit, wozu die Anerkennung der Bedeutsamkeit des Unbewussten, der Affekte und Triebe gehören. In den siebziger Jahren bereits von der akademischen Jugend in Wien (um Victor Adler herum) begeistert gelesen, begann der Kult um Nietzsche in Deutschland in den neunziger Jahren, in einer Zeit, die man als Revolte gegen Positivismus und Materialismus bezeichnen kann, einer Zeit des Antiliberalismus, der Bedeutung des Irrationalismus, der Neoromantik. Bekämpft oder ignoriert wurde Nietzsche allerdings von der traditionellen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Elite. »Nietzsche schnitt in den wichtigsten Handbüchern der deutschen Universitätsphilosophie ziemlich schlecht ab«, er »fand kein nachhaltiges Echo« (Ringer 1983, S. 275f.) oder wurde einfach »nicht oft erwähnt« (S. 8). C. G. Jung schreibt aus seiner Baseler Studienzeit 1896/97, »Nietzsche wurde damals viel diskutiert, aber meistens abgelehnt, am heftigsten von den ›kompetenten‹ Philosophiestudenten« ( Jung 1962, S. 108). Der Kult entbrannte vor allem in den Reihen von Dissidenten und Radikalen jeglicher Couleur, in der Philosophie, Psychologie, vor allem in der Kunst und bei Künstlern (Musik, Architektur, Malerei, Literatur), bei Theologen, Feministinnen, bei der Avantgarde jeglicher Spielart. Nietzsche wurde vor dem Ersten Weltkrieg als Kritiker der Zeit gesehen, als Befreier von bürgerlichen Zwängen und bürgerlicher Moral gefeiert. Er wurde zur Leitfigur für verschiedene Strömungen, so für die Propagierung freier Sexualität,

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galt als Prophet des Schöpferischen, der Selbsterschaffung, als Vertreter des Vitalismus, der Feier von Stärke und Gesundheit. So wurde er zur Symbolfigur der Lebensreformbewegung, des Feminismus, des Expressionismus. Es gab, jeweils gegen die offiziellen institutionalisierten Vertreter, den nietzscheanischen Sozialismus, Anarchismus und eine nietzscheanische Religion. Vor allem für den literarischen Expressionismus lag Nietzsche »in der Luft« (unter anderen neben Freud), die Atmosphäre der Literaturcafés der Bohème war die des nietzscheanischen Übermenschen – und Geniekults (»Café Größenwahn«), individueller Selbstverwirklichung und sozialer Erlösungssehnsucht. Nietzsche war, so drückt es ein expressionistischer Zeitgenosse aus, »Der Mut zum eigenen Selbst und eigenem Erlebnis« (während Freud für »Die Tiefe und Problematik des eigenen Selbst« stand) (Ernst Blass, zit. n. Kneubühler 1978, S. 152). Im Ersten Weltkrieg wurde Nietzsche propagandistisch für die Kriegsseite eingesetzt, »Zarathustra« war (neben Goethe und der Bibel) im Tornister jedes Soldaten (»Feldausgabe«), Nietzsche wurde »verdeutscht«, wie es in der »Aktion« bei Franz Pfemfert empört heißt (»Die Deutschsprechung Nietzsches ist ein ungeheuerlicher Vorgang«, Pfemfert 1915, S. 461). In dieser Richtung ging der Nietzsche-Kult auch nach Ende des Kriegs weiter, er schwappte förmlich über, er geriet vornehmlich in die Hand der radikalen Rechten (Nationalisten, Rassisten, Antisemiten). Nietzsche wurde im Kult popularisiert, war überall und in allen Schichten mit geflügelten Worten, Schlagwörtern, Bonmots – und mit Souvenirs – präsent, jeder hat sich auf ihn bezogen. Es war daher ganz unmöglich, ihn nicht zu kennen und nicht auf die eine oder andere Weise davon beeinflusst zu sein. Die Aneignung Nietzsches war vielfältig – wie sein Werk selbst auch, das schillernd und zum Teil in seinen verschiedenen Äußerungen und »Phasen« widersprüchlich war, selektiv, fragmentarisch, »schöpferisch«, stets emotional, er wurde aus dem Kontext gerissen oder auch verdreht. Er wurde als »Projektionsfläche« für eigene

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ideologische Muster verwendet (Aschheim 2000, S. 9). Die Wirkung auf Einzelne war häufig vorübergehend, aus (meist jugendlichen) Nietzsche-Enthusiasten wurden NietzscheGegner – teilweise hing das auch mit der veränderten Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg zusammen. Im Wiener intellektuellen Milieu standen die verschiedenen Zirkel – die sich untereinander überschneiden –, alle in einem mehr oder weniger engen und spezifischen Verhältnis zu Nietzsche, so unter anderem der Pernerstorfer Kreis, das literarische Junge Wien, der Freudkreis. Wegen Adlers Verbindung zu den Sozialdemokraten und seiner Nähe zur Frauenbewegung ist deren Position zu Nietzsche von besonderem Interesse: Während die partei-offizielle Haltung der deutschen Sozialdemokratie unter Führung von Franz Mehring seit 1892/97 eine klar ablehnend-kämpferische war (Nietzsche als »Philosoph des Kapitalismus«) – Mehring gab damit den Anstoß zur Politisierung der Nietzsche-Rezeption, die später von Lukacs weitergeführt wurde (Vivarelli 1984) –, hatte Nietzsche einen durchaus großen Einfluss auf die sozialdemokratische Arbeiterelite, in der Nietzsche viel gelesen wurde (Aschheim, S. 172ff.). Die Austromarxisten schlossen sich nicht Mehrings Verdikt an, was mit der Herkunft von Victor Adler und Heinrich Braun aus dem Pernerstorfer Kreis zusammenhängt. Victor Adler blieb in Distanz zu Mehring (Venturelli 1984, S. 469f.) und Heinrich Braun griff Franz Mehrings Haltung zu Nietzsche an. Auch Max Adler sah noch im Jahr 1921 in Nietzsche und im Sozialismus nur zwei verschiedene Wege: »Die Wege sind verschieden – das Ziel ist dasselbe: Erhöhung der Persönlichkeit über das Massenniveau« (Adler 1921, S. 430). Die kulturelle Konzeption des Sozialismus als Voraussetzung für eine kulturelle Gemeinschaft, die Aufmerksamkeit für Massenpsychologie, für Gefühlsmomente und für politischen Symbolismus sind »Elemente einer Kontinuität« zwischen dem nietzscheanischen Pernerstorfer Kreis und dem Austromarxismus (Venturelli 1984, S. 469f.). Speziell die österreichi-

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schen Revisionisten, unter Führung von Heinrich Braun, waren Nietzsche-Anhänger. Es wurde die schöpferische Kreativität, die heroische Selbstüberschreitung durch die revolutionäre Praxis, die Bedeutung des Individuums und der Voluntarismus, das heißt des Willens als Triebrad der Geschichte propagiert. Die »Taktik des Starken« im Sinne Nietzsches, den Kampf bejahend mit Tugenden wie Mut, Ausdauer, Kraft, (im Zusammenhang mit der Taktik der Gewerkschaft) wurden beispielsweise in der Zeitschrift »Die Neue Gesellschaft« 1906 propagiert (Laufkötter 1906; vgl. Aschheim 2000, S. 178ff.). »Die Neue Gesellschaft«, 1903 von Heinrich und Lily Braun herausgegeben, war eine sozialistische Wochenschrift der revisionistischen Sozialdemokraten – heftig umstritten und bekämpft von der offiziellen Partei, die sich ganz einem nietzscheanischen Sozialismus verpflichtet hatten. Heinrich Braun, Schulkamerad von Freud, entstammte dem Umkreis Pernerstorfer Kreis, er war der Schwager von Victor Adler. Auch die deutschen und österreichischen Feministinnen griffen Nietzsches Ideen auf – trotz seiner Stellungnahmen gegen die weibliche Emanzipation. Nietzsche stand für ihren Kampf um Selbstverwirklichung, für die »Befreiung der Frau von historischen und institutionellen Repressionen«, für »eine kritische Diagnose ihrer eigenen Zeit«, für eine Neue Moral, Neue Sexualethik, als Ausdruck der Dissidenz, zur individuellen Emanzipation und allgemeinen Befreiung der Menschen (Aschheim 2000, S. 87ff.). Lily Braun und Helene Stöcker gelten als prominenteste, glühende Nietzsche-Verehrerinnen. Lily Braun verband dies mit (revisionistischem) Sozialismus. Für sie war die »Befreiung der Frau … ein heroischer nietzscheanischer Akt der Selbsterschaffung«, den sie, als Sozialistin, kollektivierte (S. 89). »Der Wille zur Macht, – die höchstmögliche Entwicklung der Persönlichkeit als Ziel des einzelnen, – der Übermensch als Ziel der Menschheit« (Lily Braun 1911, zit. n. Aschheim S. 89). Helene Stöcker verband Nietzsche mit der Reform der Sexualethik (im »Bund für Mutterschutz«), die »Neue Moral«

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als Kritik an der Ehe und der Verleugnung des Sexuallebens berief sich ausdrücklich auf Nietzsche (S. 86ff.).

Nietzsche, Freud und die psychoanalytische Mittwochsgesellschaft Freud hatte sein Leben lang behauptet, dass er von Nietzsche nicht beeinflusst sei, ja dass er Nietzsche nie gelesen habe. Die Meinung über den Einfluss Nietzsches auf Freud ist seit Beginn der Psychoanalyse geteilt, die einen sehen Nietzsche als Antizipation von Freud, während die anderen – unter anderem mit Hinweis auf andere Einflussquellen – diesen Einfluss bestreiten oder als gering einschätzen. Übernommen aber wurde für lange Zeit, dass Freud über Nietzsche wenig oder keine Kenntnis hatte. Abgesehen davon, dass es zu Freuds Zeiten nicht möglich war, Nietzsche gar nicht zu kennen, ist es inzwischen durch einige Untersuchungen (u.a. Venturelli 1984; Gödde 1991; Lehrer 1995; Gasser 1997; Gödde 1999) unumstritten erwiesen, dass das nicht stimmt. Ob er ihn gründlich »studiert« hat – was immer das heißt –, ist damit nicht gesagt; Gasser (1997) neigt dazu, aus einer möglichen Verneinung dieser Frage eine relative Unkenntnis Freuds zu konstruieren. Freud hatte Nietzsche seit seiner Studentenzeit gekannt, war an Diskussionen über Nietzsche direkt oder indirekt beteiligt und muss um diese Zeit oder auch noch später Nietzsche gelesen haben. Freud war von 1873–1878 Mitglied im »Leseverein der deutschen Studenten Wiens« und kannte in diesem Umfeld auch die Mitglieder des »Pernerstorfer Kreises« – zwei miteinander verbundene Kreise, in denen Nietzsche (neben Schopenhauer und Wagner) hoch verehrt, die frühen Werke Nietzsches diskutiert wurden und die selbst Kontakt zu Nietzsche aufgenommen haben. Zu diesen Kreisen gehörten unter anderen Sigfried Lipiner, Max Gruber, Victor Adler, Heinrich Braun, Engelbert Pernerstorf und Jo-

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seph Paneth (vgl. Venturelli 1984, S. 448; Gödde 1991, S. 76f.). Freud kannte sie alle, war mit Heinrich Braun in der Schulzeit befreundet, dann mit Lipiner und hatte um diese Zeit eine enge Beziehung mit Paneth, der wie Freud im Brücke-Labor arbeitete. Lipiner und Paneth hatten persönliche Kontakte zu Nietzsche aufgenommen. Während der Pernerstorfer Kreis und Lipiner sich mit Nietzsches Wende 1878 (»Menschliches, Allzumenschliches«) hin zur Wissenschaft von diesem abwandten, verstärkte sich das Interesse von Paneth. Paneth korrespondierte mit Nietzsche und besuchte ihn 1883/84, worüber er Freud ausführliche Briefe schrieb. Paneth verstand sich als »Freigeist« (Venturelli 1984, S. 471), für Paneth und Freud konnte sich der »freie Geist« nur durch (Natur-)Wissenschaft (nicht durch Philosophie) verwirklichen (S. 472). Mit Nietzsche verband sie die Überzeugung, dass das unbewusste Leben reicher als das bewusste war (S. 473). Paneth (und sicher auch Freud) wandte sich dann mit dem Zarathustra und dem Übermenschen von Nietzsche ab (Gödde 1991, S. 102ff.). Freuds Weigerung, sich mit Nietzsche weiter auseinander zu setzen, liegt also weit vor seiner Konfrontation mit Adler, sodass die Behauptung zum Beispiel von Marquard (1987, zit. n. Gödde 1999, S. 496) – der sich Wiegand (2001, S. 599) vorsichtig anschließt –, der Bruch mit Adler habe auf das Freud-Nietzsche-Verhältnis »blockierenden Einfluß gehabt«, so nicht zutrifft. 1908 ist es das erste Mal, dass Nietzsche Gegenstand der Diskussion in der Mittwochsgesellschaft wird, und zwar einmal am 1. April mit einem Vortrag von Eduard Hitschmann über die »Genealogie der Moral« (Protokolle I, S. 334ff.), dann am 23. Oktober mit einem Vortrag von Adolf Häutler über »Ecce homo« (Protokolle II, S. 22ff.). In den Diskussionen – die sich viel um Nietzsches Person und seine Krankheit drehen – ist es zuerst Adler, der in Nietzsche einen Philosophen sieht, der »unserer Denkweise am allernächsten stehe« (Protokolle I, S. 336). Es wirkt so,

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als ob ihm das jetzt erst aufgefallen sei, denn er sagt, er habe bisher die »Verbindungslinie zu Schopenhauer, Marx und Mach gezogen und Nietzsche da ausgelassen« (Protokolle I, S. 336). Andere Diskutanten stimmen Adler zu, so sagt Paul Federn, Nietzsche habe »Funde Freuds intuitiv erkannt«, er habe »die Bedeutung des Abreagierens, der Verdrängung, der Flucht in die Krankheit, der Triebe, als erster entdeckt« (Protokolle I, S. 337) oder Friedmann und Frey: Nietzsche habe vieles »vorausgeahnt. So den Wert des Vergessens« (Protokolle II, S. 25). Für Adler scheint die Ähnlichkeit in zweierlei zu bestehen: Nietzsche könne die »Unterströmungen seiner Seele analysieren« (wie ein Patient der in der Kur weit fortgeschritten sei) und er habe »den Urtrieb« entdeckt, »der in der Kultur eine Umwandlung erfahren hat« (Protokolle I, S. 337). Er meint damit den »Willen zur Macht« und spricht zugleich das Thema »Triebschicksal« an, dem sich Adler im gleichen Jahr im »Aggressionstrieb« (Adler 1908b) widmet. Freud sagte in diesen Diskussionen die berühmten Sätze, in denen er den Einfluss, ja seine Kenntnis von Nietzsche sowohl verleugnet als auch bereits angibt, weshalb er ihn ablehnt: Er kenne Nietzsche nicht, »ein gelegentlicher Versuch ihn zu lesen sei an einem Übermaß von Interesse erstickt«. Nietzsches Gedanken hätten auf ihn gar keinen Einfluss gehabt (Protokolle I, S. 338). Ähnlich sagt er am 23. Oktober, dass er Nietzsche »nie zu studieren vermochte: zum Teil wegen der Ähnlichkeit, die seine intuitiven Erkenntnisse mit unsern mühseligen Untersuchungen haben, und zum anderen Teil wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften« (Protokolle II, S. 28). Doch habe Nietzsche »richtige Resultate« und »eine Introspektion wie sonst bei keinem Menschen«. Und Freud sagt dann auch, was ihn bei Nietzsche so stört – was ihn von Nietzsche wohl tief trennt: Wissenschaft (Freud) gegenüber Philosophie, deren abstrakte Art sei ihm unsympathisch (Protokolle I, S. 338) und »daß er das ›ist‹ in ein sein ›soll‹ verwandelt hat. Der Wissenschaft ist aber

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ein Soll fremd, er ist da doch noch Moralist« (Protokolle II, S. 28).3 Dass ihm das zuwider ist, zeigen auch ein paar weitere Bemerkungen: »das Lehrhafte, Pastorale«, auch: »etwas Nichtdeutsches« in ihm und schließlich, den Nietzsche-Kult ansprechend, »Modegötze« (Protokolle II, S. 27f.). In späteren Jahren schreibt er ähnlich. 1914 heißt es, dass er sich den »Genuß der Werke Nietzsches« »in späterer Zeit« »mit der bewußten Motivierung versagt« habe, dass er »durch keinerlei Erwartungsvorstellung behindert sein wolle« (1914, G. W. Bd. X, S. 53). 1925: »Nietzsche … dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken …« habe er wegen dem »Erhalt meiner Unbefangenheit« lange gemieden (1925, G. W. Bd. XIV, S. 86). 1931 schreibt er in einem Brief, bei Philosophen wäre es »unvermeidlich, daß man sich mit seinen Ideen durchtränke … So habe ich ja auch das Studium von Nietzsche von mir gewiesen, obwohl – nein, weil es klar war, daß bei ihm Einsichten sehr ähnlich den psychoanalytischen zu finden sein würden« (zit. n. Gay 1989, S. 58). Die Einwendungen Freuds gegen Nietzsche sind einigermaßen auffällig, emotional und hoch ambivalent – was allerdings in Bezug auf Nietzsche bei Intellektuellen eher die Regel war und ist. Er konstatiert einerseits großes Interesse (»Übermaß«) und auch Ähnlichkeit – ohne diese zu spezifizieren –, leugnet andererseits, dass er ihn kenne und dass er Einfluss hatte. Er will seine autonome Entwicklung darstellen und bewahren, fühlt sich durch Konkurrenz bedrängt. Man spürt eine ambivalente Faszination und zugleich eine Furcht vor einem Sog, durch Nietzsche und durch Philosophie insgesamt. Nietzsche ist ihm unsympathisch, vielleicht unheimlich, noch mehr der Kult um ihn, aber er will sich nicht wirklich mit ihm auseinander setzen und kann dies 3 Moralist, Moralbesessener, nannte ihn auch Thomas Mann 1914 (vgl. Aschheim 2000, S. 55f.).

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nicht recht begründen. Die paradoxe Aussage, er habe an einem »Übermaß an Interesse« ihn nicht gelesen, verrät eine kaum verhohlene Abwehrleistung, die man üblicherweise Gebildeten nicht durchgehen ließe. Immer wieder attestiert er Nietzsche bloße »Intuition« – wie auch Dichtern (Schnitzler) – im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, die er betreibt: die Arroganz der traditionellen Elite, der Freud zugehört.4 Freud hat sich nach eher kurzfristigem Interesse an Philosophie ganz der physiologischen, medizinischen Wissenschaft im Physiologischen Labor zugewandt. Freud entschied sich für (Natur-)Wissenschaft gegen Philosophie und Moral – und doch war er mit Nietzsche durch dessen »irrationale« Seiten verbunden, von ihm beeinflusst. In dieser Haltung gegen Philosophie scheint der entscheidende Unterschied auch zu Adler zu liegen. Nicht nur durch die öffentliche Präsenz, sondern auch durch seinen engsten Kreis, die Mittwochsgesellschaft, wurde also Freud immer wieder mit Nietzsche und mit der Behauptung der Ähnlichkeit mit der Psychoanalyse konfrontiert, erstmals wie wir gesehen haben 1908. In diesen Jahren (1911/12) war auch Lou Andreas-Salomé in den Kreis gekommen, deren Interesse an Psychoanalyse sicher durch Nietzsche geprägt war (Lehrer 1995, S. 121ff.). 1911 suchten anlässlich des Weimarer Psychoanalytischen Kongresses Ernest Jones und Hanns Sachs Elisabeth Förster-Nietzsche auf, um mit ihr über Parallelen zwischen Nietzsche und der Psychoanalyse zu sprechen (Lehrer 1995, S. 121). Wittels stellte immer wieder einen Zusammenhang zu Nietzsche her (S. 173ff.), wie auch Otto Rank, der 1926 Freud eine Edition der Werke Nietzsches schenkte (S. 175). Rank gilt als der beste Nietzsche-Kenner in diesem Kreis. Zudem hatte C. G. Jung Freud immer wieder mit Nietz4 Nietzsches Intuition gegenüber Freuds Wissenschaftlichkeit wurde immer auch von anderen wieder betont, so z. B. von Arnold Zweig.

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sche und mit Nietzsches »Zarathustra« konfrontiert (S. 119f.). Jung ist ohnehin wohl der, der das engste Verhältnis zu Nietzsche hatte und diesen auch häufig zitiert – schließlich gab es ja auch mit Jung den großen Bruch. In seinen Studienjahren sei er von Nietzsches »Unzeitgemäßen Betrachtungen« »restlos begeistert« gewesen »und bald las ich auch ›Also sprach Zarathustra‹. Das war, wie Goethes ›Faust‹, mein stärkstes Erlebnis. Zarathustra war der Faust Nietzsches …« ( Jung 1962, S. 109). Er stand später mit Elisabeth Förster-Nietzsche in Korrespondenz. In den Jahren 1934– 39 (!) hielt er Seminare über »Zarathustra«, die zu den ausführlichsten Kommentaren zu »Zarathustra« gehören (Ellenberger 1973, S. 971). Jung sieht Nietzsche als Prophet des kollektiven Unbewussten, Zarathustra als Beispiel des dämonischen kollektiven Unbewussten (Aschheim 2000, S. 9, 22, 278). Freud bestritt im Lauf seines Lebens immer weniger die Ähnlichkeiten zu Nietzsche. Lehrer arbeitet anhand von verschiedenen Äußerungen heraus, dass Freud in der Mitte der zwanziger Jahre seine rein verleugnende Haltung gegenüber Nietzsche geändert habe (was Wittels bereits meinte, Lehrer 1995, S. 174). Es seien Verweise auf Nietzsche deutlicher und häufiger geworden. Vor allem sei das endliche Zulassen eines Aggressionstriebs ein Beleg. Sehr viele der frühen und späteren Analytiker und eine ganze Reihe von Intellektuellen aus anderen Bereichen waren von der Ähnlichkeit überzeugt. Thomas Mann schrieb 1929, Nietzsche habe Freud in vielen Punkten antizipiert (vgl. Lehrer 1995, S. 1). Die Ähnlichkeiten beziehen sich auf die Grundlagen der Psychoanalyse und auf wesentliche einzelne Konzepte. Ellenberger (1973, S. 373–383) hatte eher pauschal solche Ähnlichkeiten herausgestellt, während Lehrer solche Ähnlichkeiten und »Antizipationen« in einer umfangreichen Studie chronologisch an den Werken Nietzsches und Freuds herausarbeitete. Die Übereinstimmungen sind geradezu überwältigend. Stichwortartig und unvollständig seien genannt:

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Annahme unbewusster Motive, Abwehrmechanismen und Triebschicksale wie Verdrängung (Hemmung), »Vergessen«, Wendung gegen das Selbst, Sublimierung; Bedeutung der Träume, Arbeiten mit Instanzen Es, Ich, Über-Ich (Gewissen),5 Inzest als zentrale Rolle des Ödipus-Mythos, Konflikt zwischen gegensätzlichen Kräften, Antagonismus zwischen Trieb und Gesellschaft. Der Einfluss Nietzsches scheint unbestreitbar. Auch wenn das Wort »Antizipation« vielleicht etwas weit geht, meint es immer noch nicht »Identität«. Denn natürlich gibt es bedeutsame Unterschiede, keines der Konzepte ist bei beiden identisch aufgefasst. Hier scheiden sich nun die Geister. Sind die Ähnlichkeiten auffälliger, bedeutsamer als die Differenzen? In seiner überaus umfangreichen und sorgfältigen Studie hebt Gasser (1997) besonders die mangelnde NietzscheKenntnis von Freud und die Differenzen zwischen beiden hervor – während Gödde (1999) eher zu vermitteln versucht. Gasser will damit den Einfluss Nietzsches bestreiten, so als müsste er heute noch, wie Freud selbst, Freud vor einem Plagiatsvorwurf schützen und seine Originalität verteidigen. Alle Autoren, ob sie nun die Differenzen betonen oder nicht, sehen freilich auch andere Einflüsse (z. B. Schopenhauer, Darwin, Goethe) oder ähnliche, in der Zeit liegende Interessen, die die Ähnlichkeiten beider erklären, wie das Interesse für die Antike, die antike Tragödie, Ödipus, Goethe, Darwin, Tier im Mensch, Instinkt versus Vernunft, bewusst versus unbewusst et cetera (vgl. Lehrer 1995, S. 7; ähnl. Gasser 1997). Zwischen Freud und Nietzsche besteht freilich eine entscheidende Differenz, und diese ist auch die zu Adler. Nämlich die Zurückweisung der primären Rolle der Sexualität (Lustprinzip) durch Nietzsche und das Ausblenden der aggressiven Seite, der Aggression und der Macht durch Freud. 5 Jones sah in Freuds »Überich« und Nietzsches »schlechtem Gewissen« eine bemerkenswerte Übereinstimmung (vgl. Lehrer 1995, S. 2, 129).

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Bei Aggression gab er nach, beim Machtbegriff im Wesentlichen nicht. Das Zögern Freuds, einen Aggressionstrieb anzuerkennen, wird nicht selten damit begründet, dass dieser von Adler eingeführt wurde und Freud ihn deswegen vermieden hat (vgl. Gay 1989, S. 446). Ebenso oder in Ergänzung dazu ist sicher richtig, dass Freud ihn ebenso wegen Nietzsche vermieden hat, so Lehrer (1995, S. 254). Den Machtbegriff hat Freud ausgeblendet. Zwar kommt bei Freud »Bemächtigungstrieb/drang« (G. W. Bd. V, S. 93; G. W. Bd. X, S. 231) vor, was man mit den psychologischen Aspekten von Nietzsches Willen zur Macht, den expansiven, wachstumsorientierten, aggressiven Seiten verbinden kann, aber ihm wird von Freud kein großer Stellenwert eingeräumt. Die Begriffe »Macht« oder »Wille zur Macht« hat er vermieden.6 Zu sehr haben diese Begriffe an Nietzsche, dann an Adler erinnert und hätten diesen ihn in den Geruch der Nietzsche-Anhängerschaft gebracht. Diese Zusammenhänge hatte bereits C. G. Jung in seinen »Erinnerungen« vermutet: Angesichts von Adlers »Machthypothese« habe er Freuds (Sexual-)Psychologie »als einen Schachzug der Geistesgeschichte« gesehen, »der Nietzsches Vergötterung des Machtprinzips kompensierte. Das Problem lautete offenbar nicht ›Freud versus Adler‹ sondern ›Freud versus Nietzsche‹. Es schien mir viel mehr zu bedeuten als ein Hausstreit in der Psychopathologie« ( Jung 1962, S. 157). Das Nietzscheanische an Adler also ist es, was Freud unerträglich fand und somit den Hintergrund des Bruchs mit Adler bildet.

6 Freud spricht ohnehin nicht von »Wille«, der alltagssprachlich mit Bewusstheit, bewusstem Wollen verbunden wurde. In der Philosophie war das anders. Schon bei Kant oder Schopenhauer, dann bei Nietzsche war »Wille« keineswegs als bewusst angenommen, sondern als unbewusste, blinde Antriebskraft.

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Adler und Nietzsche Adler hatte die Diskussion über Nietzsche in der Mittwochsgesellschaft 1908 und auch später nicht selbst angeregt, er hatte 1908 lediglich die Verbindung Nietzsche–Freud benannt oder »entdeckt«. In seinen eigenen Beiträgen wird Nietzsche auch erstmalig 1908 (Aggressionstrieb) genannt, aber nur ganz beiläufig. An zentraler Stelle kommt Nietzsche erst – und nur da – nach dem Bruch mit Freud 1912 im »Nervösen Charakter« vor. Das bedeutet natürlich nicht, dass er ihn vor 1908 noch nicht beachtet habe, aber möglicherweise doch, dass Nietzsche zu dieser Zeit kein Bezugspunkt für ihn war. Vielleicht auch wollte er Nietzsche im Freud-Kreis – taktvoll oder ängstlich – nicht nennen, angesichts von Freuds aversiver Haltung zu Nietzsche. Adler nennt oder zitiert Nietzsche in allen seinen Schriften bei folgenden Begriffen: Wille zur Macht/zum Schein, Sublimierung, Gewissen, Lustprinzip, Übermensch. Nietzsche-Einflüsse sind gleichwohl zu erwägen, auch wo er ihn nicht nennt: Sein Grundkonzept der Kompensation, Überwindung von Schwäche, Überlegenheitsstreben könnte vom Willen zur Macht bestimmt sein; auch Irrtum oder Fiktion, schöpferische Kraft, Triebschicksale, Haltung zur Kausalitätsfrage sowie die Begriffe »Distanz« und »Hemmung«. Zumindest gibt es darin Übereinstimmungen, wie es auch Freschl (1936, S. 51f.) und Crookshank (1933, S. 29, 39f.) sehen. Adler bringt selten wörtliche Zitate, verwendet Nietzsche oft in Schlagwörtern, verweist sinngemäß. Seine Lesart ist sicher selektiv und natürlich geht darin die Rezeption seiner Zeit und seine spezifischen Quellen ein. Ob es so »evident« ist, wie Gasser behauptet, dass Adler mit Nietzsche »im Detail nicht vertraut« gewesen sei, ist fraglich, sicher aber ist wohl, dass er »ihn als ideengeschichtlichen Mentor für einige seiner Überlegungen wohl beanspruchte, für eingehendere Begründungen aber nicht heranziehen mochte …« (Gas-

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ser 1997, S. 64). Ohnehin gehen in Adlers Werk viele andere Einflüsse auch ein, die ebenso gewichtig sind, vor allem Darwin, Neukantianismus, Lebensphilosophie, Marxismus – und, als Grundlage aktueller, natürlich Freud.

Adlers Quellen für Nietzsche Es war in dieser Zeit gewiss möglich, Nietzsche zu kennen oder von ihm beeinflusst zu sein, ohne ihn wirklich gelesen zu haben. Nietzsche war ja in aller Munde und Gespräche und Diskussionen über ihn waren für seine Verbreitung mindestens ebenso wichtig. Doch deuten die verschiedenen Bezüge, die Adler zu Nietzsche herstellt, auf genauere Kenntnis, sodass wir auch von einer Lektüre ausgehen können. Adler bezieht sich auf Gedanken, die aus verschiedenen Nietzsche-Werken stammen, so auf »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, »Zur Genealogie der Moral«, »Menschliches, Allzumenschliches«, »Ecce homo«. Auch »Der Wille zur Macht« in der Ausgabe von 1901 könnte er, wie Kühn (1996, S. 242) vermutet, gelesen haben – aber eben keineswegs nur dies. Möglich ist auch, dass es eine besondere Nietzsche-Lektüre in seiner Freudzeit 1902– 11 gab, wie Rattner (2000, S. 273) behauptet, wahrscheinlicher aber erst (wieder) ab 1908. Nietzsche gehört aber ganz sicher zu Adlers »Jugenderlebnis«. Er muss ihn im Kreis des linksorientierten »Österreichischen Studentenverbandes« – in dem er schon als Gymnasiast Mitglied war (Schiferer 1995, S. 35) –, dann im Diskutierclub »Veritas« diskutiert haben. Franz Blei (geb. 1871), der spätere literarische Revolutionär, Avantgardist, Lebemann, Zentralfigur des »Café Größenwahn«, könnte hier eine wichtige Vermittlungsfigur gewesen sein. Blei war um diese Schülerzeit herum bereits rebellisch, marxistisch (in Kontakt zu Victor Adler stehend) und »Lehrling von Schopenhauer und Nietzsche« (Eisenhauer 1993, S. 14). In seinen Lebenserinnerungen schreibt er: »Nietzsche war das

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zweite aufregende Erlebnis unserer achtzehnjährigen Jugend«, Schopenhauer und Nietzsche »hatten hier spirituelle Welten von größter Eindringlichkeit gebaut« (Blei 1930, S. 123). Franz Blei war zwischen 1888 und 1890 in diesen Kreisen die »zentrale Leitfigur« (Schiferer 1995, S. 35), um den sich auch Adler scharte. Blei nennt Adler als einen der »sozialistischen Akademiker«, der zu ihm (und Joseph Strasser) gestoßen sei, um aus dem »Österreichischen Studentenverein« einen »sozialistischen Studentenverband« zu machen (Blei 1930, S. 144). Dass daraus eine länger währende Verbindung wurde – Blei nennt ihn an einem etwas polemischen Zusammenhang »Jugendgefährte« (S. 222) –, belegt nicht nur ein Foto um 1891 (Adler, Blei und Joseph Strasser, wie es Schiferer identifiziert), sondern belegen auch Briefe von Adler an Blei 1902/03 und 1912 (vgl. Schiferer 1995, S. 44, 69; Archiv DGIP). Über Blei ist wahrscheinlich die Verbindung Adlers zu Gina Kaus entstanden – die eine von Bleis Kaffeehausgeliebten war – und die Kontakte zu den Züricher Expressionisten. Wenn also Adler schon in seiner Jugend mit Nietzsche konfrontiert war, könnte es auch sein, dass Adlers Interesse an Freud um 1902 über Nietzsche vermittelt war, dass er in Freud Nietzsches Spuren (als »Entlarvungspsychologe«) sah und gesucht hat. Eine andere, immer wieder, auch von Kühn (1996) genannte Quelle, ist Hans Vaihinger (1911). Zwar gibt es Bezüge Vaihinger zu Nietzsche und Adler zu Vaihinger, aber gleichwohl kann die Behauptung beispielsweise von Gasser, Adlers Nietzsche-Verweise zeigten mehr, »daß die Lektüre des 1911 erschienenen Buches von H. Vaihinger, ›Die Philosophie des Als Ob‹ Spuren hinterlassen hatte«, als dass sie »Indiz für eine Beschäftigung mit Nietzsche« seien (Gasser 1997, S. 64), aus verschiedenen Gründen so nicht stimmen. Allenfalls ist Vaihingers Einfluss auf Adler darin »eine Verstärkung«, wie Kühn (1996, S. 244) vorsichtiger meint. Der hier behauptete Strang Nietzsche – Vaihinger (1911) – Adler kann sich zwar auf der Seite Adler bekanntlich darauf stützen,

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dass Adler sich im »Nervösen Charakter« 1912 mit dem Konzept der Fiktion entscheidend auf Vaihinger und gleichzeitig auf Nietzsches »Willen zur Macht« bezogen hat.7 Aber er lässt Adlers Nietzsche-Kenntnisse vor 1911 außer Acht. Aufseiten von Vaihinger kann er sich darauf beziehen, dass er für sein, über Jahrzehnte hinweg entstandenem Werk, »Philosophie des Als Ob« (1911, erste Konzeption 1876/77) 1889 durch Kenntnis von Nietzsche (Nietzsches »Perspektivismus«) Impulse für seine Vollendung erfahren hat. Vaihinger, in Straßburg lehrend, war lange vor 1911 bekannt, auch in Wien (Heinrich Braun, Lipiner; vgl. Venturelli 1984, S. 464). Daher ist zu vermuten, dass Adler mit Vaihinger schon vor 1911 vertraut war. Dies würde die scheinbare Ungereimtheit erklären, dass Adler sich bereits im Erscheinungsjahr des »Nervösen Charakters« 1912 so intensiv auf ein so umfassendes Werk von 1911 hat beziehen können. Adlers Selbstaussage: »Ein günstiger Zufall machte mich mit Vaihingers genialer Philosophie des Als Ob (Berlin 1911) bekannt …« (Adler 1912a, S. 77), gehört dann eher in den Bereich einer Legende. Auch inhaltlich kann wohl Vaihingers Buch von 1911 als Quelle Adlers zu Nietzsche nicht so bedeutsam sein, denn Vaihinger stellt in diesem umfangreichen Werk vor allem einen Bezugspunkt zu Kant her, während er Nietzsche nur im Anhang8 mit Zitaten zum »Willen zum Schein« nahezu unkommentiert zusammenstellt – ohne sonstige NietzscheKenntnisse ist damit nicht viel anzufangen. Dagegen wäre denkbar, dass Adler Vaihingers NietzscheBuch, »Nietzsche als Philosoph« von 1902 (4. Aufl. 1916, 7 Womit sich Adler doppelt von Freud abhebt, der Vaihinger gegenüber polemisch reagierte (vgl. Freud G. W. Bd. XIV 1927, S. 351, auch Bd. XV 1932, S. 190). 8 Das sind ca. 20 Seiten aus einem etwa 800-seitigen Werk. Ansbachers, von Kühn (1996, S. 243f.) zitierter Verweis: »Ein Viertel des Vaihingerschen Buches ist der Darlegung der fiktiven Methode des ›Als Ob‹ bei Kant und Nietzsche gewidmet« (Ansbacher 1982, S. 100), ist daher ungenau und erweckt einen anderen Eindruck.

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Feldausgabe) gelesen hat. Aber auch hierüber schiene der Einfluss nicht bedeutsam auf Grund des Inhalts und Interesses, das Vaihinger verfolgt. In neukantianischer Manier liest Vaihinger Nietzsche streng wissenschaftlich, ihn in Philosophie und Geisteswissenschaft einordnend, in sieben »Charakterzügen« kategorisierend. Er zitiert Nietzsche selbst wenig und stellt keine Bezüge zur Psychologie her. Das wird Adlers Interesse an Nietzsche nicht gewesen sein. Kommt somit Vaihinger als Quelle für Adlers NietzscheRezeption kaum infrage, so kann er gleichwohl eine Funktion gehabt haben. Denn Vaihinger hatte Nietzsche für das akademische Leben in den Rang eines ernst zu nehmenden Philosophen gehoben – was bereits der Titel, »Nietzsche als Philosoph« ausdrückt. Das könnte Adler ermutigt haben, Nietzsche in seiner Habilitationsschrift (Nervöser Charakter) nennen zu dürfen. Vaihinger könnte damit Adler als seriöse Abstützung seiner nietzscheschen Gedanken gedient haben, sodass auch Adler mit Vaihingers Fiktionsbegriff nur eigentlich Nietzsches Willen zum Schein einführen wollte. Insoweit ist Wittes Einschätzung, »Individualpsychologie wurzelt vor seiner Rezeption Vaihingers in Nietzsches Denken« (Witte 1996, S. 193) richtiger als Gassers Position. Kontakt zu nietzscheanischem Denken hatte Adler im Weiteren über seine sozialdemokratischen Beziehungen. 1905 schrieb er einen Aufsatz (»Das sexuelle Problem in der Erziehung«, Adler 1905a) in der revisionistischen, von Heinrich und Lily Braun herausgegebenen Zeitschrift »Die Neue Gesellschaft«, die, wie oben bereits genannt, ausdrücklich nietzscheanisch war. Wenn Adler in dieser umstrittenen Zeitschrift schrieb, muss das zwar kein Bekenntnis zum »Nietzscheanischen Sozialismus« bedeuten, aber das setzt doch persönliche Kontakte zu dieser Gruppe voraus.9 9 Einzelheiten darüber sind bisher nicht bekannt. Auch ob Adler doch dem revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie angehörte oder mit ihm sympathisierte, wäre erst noch zu überprüfen. Aufschluss könnte sein »Marxismus-Vortrag« im März 1909d geben.

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Schließlich haben ihn auch seine Kontakte zu den Züricher und Wiener Expressionisten-Zirkeln sicher mit Nietzsche konfrontiert. In Zürich stand er, vermittelt über Charlot Strasser – vielleicht schon vorher über Blei, der in Zürich lebte – in Beziehung zu den Expressionisten Alfred Ehrenstein und Ludwig Rubiner, die dann auch in der Kriegsausgabe der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie« schreiben (vgl. Heinrich 1986). In Wien war Adler 1918/19 zudem Genossenschaftler der expressionistischen Zeitschrift »Daimon« (um Moreno herum) (vgl. Schiferer 1995, S.117ff.).

Spuren von Nietzsche in Adlers Werk Ich würde im Umgang Adlers mit Nietzsche vier Zeitabschnitte unterscheiden: 1. Mögliche, meist ungenannte Einflüsse Nietzsches auf Adlers Grundlegung seiner Theorie 1908–1911 2. Bekenntnisse zu Nietzsche, besonders im »Willen zur Macht« 1912/13 3. Zitierpause und ihre Ausnahmen mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls 1918–1928 4. Explizite Abgrenzung von Nietzsche 1928–1933 Wir sehen an dieser Aufstellung sogleich, dass Adler nur 1912/13 sich selbst in ein (positives) Verhältnis zu Nietzsche gesetzt hatte und ihn daher hier an zentralen Stellen in relevantem Ausmaß zitiert. Vorher wird Nietzsche nicht oder nur wenig genannt – was nicht heißt, dass Nietzsche keinen Einfluss gehabt hätte. Danach, mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls, hat er sich gänzlich von Nietzsche abgewandt, was sich erst im nicht mehr Zitieren, dann in expliziter Zurückweisung ausdrückt. Ich habe im Folgenden versucht, möglichst alle Stellen zu erfassen, in denen Nietzsche genannt wird. Nietzsche-Zitate oder Nietzsche-Interpretationen werde ich den adlerschen

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Zitaten gegenüberstellen, um sie mit Adler vergleichbar zu machen und ein Licht darauf zu richten, wie weit Adler Nietzsche wirklich kannte, ihn verstand und akzeptierte.

1. Einfluss Nietzsches auf Adlers theoretische Grundlegung 1908–1911 Die Diskussionen über Nietzsche in der Mittwochsgesellschaft 1908 haben Adler möglicherweise dazu angeregt, sich erneut mit Nietzsche zu beschäftigen (was er bisher »ausgelassen« habe, 1908, Protokolle I, S. 336) und nicht nur die Verbindung zu Freud, sondern auch zu seinem eigenen Denken herzustellen. So könnten bereits in seinen frühen Konzeptionen Einflüsse Nietzsches zu vermuten oder auch nachweisbar sein. a) Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation Es liegt geradezu auf der Hand, in der Essenz der adlerschen Theorie, in der Theorie der Kompensation eines Minderwertigkeitsgefühls und darin allgemeiner in der Überwindung (eines Gefühls) von Schwäche, Selbstüberwindung und – pädagogisch oder als Aufforderung gewendet – in der Ermutigung, der Stärkung des Willens, einen tragenden Einfluss von Nietzsche, von Nietzsches Willen zur Macht, zur Selbstüberwindung, zum Über-sich-Hinauswachsen zu sehen. Dies wird auch allgemein so gesehen. Allerdings geht es bei Nietzsche im Unterschied zu Adler nie um Überwindung eines Gefühls und nie um Überwindung von Schwäche – Nietzsche »verkannte den unlöslichen Zusammenhang zwischen der Schwäche und der Macht«, schrieb Sperber (1937, S. 23). Daher spielt auch Adlers Gedanken des Hin- und Herschwankens zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation, wodurch beide zu einer Einheit werden, bei Nietzsche keine Rolle. Vorwiegend geht es auch bei Adlers Kompensation um das Streben nach Überlegenheit, nicht nach Macht, und

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schließlich ging es Nietzsche nie um die Dimension des Neurotischen. Fragwürdig ist es, eine Beziehung zwischen Nietzsche und Adlers »männlichem Protest« – also dem kompensatorischen und fiktionalen Wunsch, durch Männlichkeit überlegen zu sein – herzustellen, wie es Kühn tut: »Dieses Frauenbild Nietzsches dürfte … Adlers Beschreibung von der Ablehnung ›weiblicher Züge‹ durch den Neurotiker mit beeinflußt haben« (Kühn 1996, S. 246). Dass beider Stellung zur Frau different ist, darf wohl als gesichert gelten – bereits der Nietzsche-Verehrer Freschl weist hier auf eine »unüberbrückbare« »Gegensätzlichkeit« hin (Freschl 1936, S. 61). Adlers »männlicher Protest« ist vielmehr einer Kritik an der gesellschaftlichen Ungleichheit der Geschlechter entsprungen, somit eher »feministisch«, und nicht nietzscheanisch gedacht. Adler verweist 1910 darin selbst auf eine Differenz zu Nietzsche. Er kritisiert die einer »falschen Wertung« entsprungene »Analogie«, nämlich »die Gleichstellung von Zügen der Unterwerfung mit Weiblichkeit, der Bewältigung mit Männlichkeit«, »die eine ganze Anzahl der feinsten Köpfe, – ich nenne nur Schopenhauer, Nietzsche, Moebius, Weininger – mit geistreichen Sophismen zu stützen gesucht haben« (Adler 1910b, S. 348). Ein unmittelbarer Einfluss Nietzsches auf die Grundlagen von Adler muss zumindest noch in zweierlei Hinsichten prinzipiell relativiert werden: Die Vorstellung der Überwindung von Schwäche, dem Streben nach Überlegenheit als zentralem Antrieb, hat neben oder vor Nietzsche vielerlei Quellen, so Hobbes, Helvetius (vgl. Ellenberger 1973, S. 854), und verweist natürlich auch auf Darwin, auf Struggle for Life, Selektionstheorie. Auch Darwin war sowohl hochaktuell als auch umstritten, wobei Darwin in naturwissenschaftlichen, medizinischen Kreisen (denen Adler entstammt) der Anerkanntere war. Darwin und Nietzsche ist allerdings kein Gegensatz oder Bruch, denn Nietzsche ist – trotz seiner Kritik an Darwin – ohne Darwin(ismus) nicht denkbar. Adler bezieht sich um 1907 (»Studie«) auf Darwin

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und stützt sich auf Lamarck – und Nietzsche war zeitlebens Anhänger von Lamarck (Kaufmann 1988, S. 344). Mit Adlers allmählicher Abwendung von den Naturwissenschaften hin zur Psychologie ab 1908 scheint allerdings der Einfluss Darwins rückläufig, der von Nietzsche stärker geworden sein. Adlers Denkfigur der Überwindung findet sich zudem um diese Zeit im breiten Maß ebenso in der Debatte um »Nervosität« und deren Überwindung – durch Willen, durch Tat, durch Aktion und Aktivität. Das lässt sich in der gesamten medizinischen/psychiatrischen und pädagogischen Literatur der Zeit (vgl. Radkau 1998) wie auch in der Literatur und Kunst aufzeigen (vgl. Bruder-Bezzel 1983). In diesen Umkreis gehören die psychohygienischen, sozialpädagogischen Forderungen der körperlichen und seelischen Stärkung des Kindes durch Ermutigung und Erziehung zur Selbstständigkeit, was zu der Leitidee »Arzt als Erzieher« seit den neunziger Jahren führte (vgl. Schröder 1995, S. 61). Adler hat 1904 einen Aufsatz mit diesem Titel veröffentlicht. Dass allerdings in diesen Bewegungen auch ein Nietzsche-Einfluss mitgespielt hat, soll damit nicht ausgeschlossen werden.10 b) Adlers Triebpsychologie und Triebkritik Adlers Triebpsychologie wurzelt natürlich in Freud. Adler hat diese 1908 zunächst ergänzt durch den Aggressionstrieb und durch weitere Erscheinungsformen der Triebwandlungen neben Verdrängung und Sublimierung. Es folgte mit der Zurückweisung der Libidotheorie die Zurückweisung des Lust- und Selbsterhaltungstriebs als primum mobile und schließlich die Aufgabe der Triebpsychologie im Sinn eines selbstständigen Wirkens des Triebs, da dieser gerichtet, gelenkt sei durch das Ziel (s. Beitrag »Adlers Aggressionstrieb 10 Die Formel »Arzt als Erzieher« kann sogar an Nietzsches »Schopenhauer als Erzieher« erinnern. Ähnliche Anleihen finden sich auch anderswo, z. B. bei »Rembrandt als Erzieher«, wofür Nietzsche Vorbild war.

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und der Beginn psychoanalytischer Triebkritik«, S. 11 in diesem Band). In allen diesen Schritten ist Nietzsches Einfluss zu erwägen, wenn er auch Nietzsche nicht erwähnt und Nietzsche den Trieb nie ganz aufgegeben hat. Aggressionstrieb An erster Stelle wird häufig Nietzsches Einfluss auf Adlers Aggressionstrieb genannt (z. B. Ellenberger 1973; Gasser 1997; Rattner 2000). »Für die Optik seiner Aggressions-Abhandlung konnte Adler bei Nietzsche Belege in Hülle und Fülle finden«, weswegen Rattner in Adlers Aggressionstrieb direkt »den Geist Nietzsches« sieht (Rattner 2000, S. 276f.). Gemeint ist wohl das Vorherrschen aggressiver, böser Triebtendenzen bei Nietzsche (Gödde 1999, S. 542) oder »Lust an Grausamkeit« (Gasser 1997, S. 326) oder »Die Bedeutung, die er nicht nur dem Aggressionstrieb, sondern auch den selbstzerstörerischen Trieben zuschreibt« als »ein auffallender Zug der Psychologie Nietzsches« (Ellenberger 1973, S. 380). Das alles trifft zwar Adlers Aggressionstrieb – als Trieb zur Erkämpfung einer Befriedigung – nicht wirklich, auch ist Adlers Aggressionstrieb (noch) nicht mit dem Willen zur Macht gleichzusetzen, wie das unter anderen Gasser meint (»Libido contra Macht«, 1997, S. 62ff.), und kommt natürlich der Begriff »Aggressionstrieb« bei Nietzsche nicht vor. Aber doch können Nietzsches aggressive Tendenzen, vor allem zusammen mit seiner kämpferischen Sprache (die in der aggressiven Vorkriegszeit besonders rezipiert wurde), zu Adlers eigener Betonung des aggressiven, gereizten Neurotikers und zu seinem Aggressionstrieb, als Hintergrund, beigetragen haben. Triebwandlungen Meist unter Auslassung von Adlers Beitrag (1908b) wird für Freuds Triebschicksale (1915) häufig auf Nietzsches Vorläuferschaft verwiesen. Freuds »›Triebschicksale‹: die Verdrängung, die Sublimierung, die Verkehrung ins Gegenteil und

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die Wendung gegen die eigene Person sind schon in Nietzsches Schriften vorgeprägt« (Gödde 1999, S. 531; ähnl. Ellenberger 1973, S. 378ff.). Man findet bei Nietzsche sechs Methoden der »Triebbeherrschung« (Kaufmann 1988, S. 256; Gödde 1999, S. 519): Umgestaltung der Triebe durch moralische Urteile, durch den Intellekt, sinngemäß Verdrängung, Nach-innen-Wenden, »Verkleidung«, »Legierung«, »Metamorphose« (Gasser 1997, S. 326f., 630ff.; Gödde 1999, S. 519ff.). »Sublimierung« (als Triebbeherrschung des Geschlechtstriebs) spielt dabei eine herausragende Rolle und ist ein Gegensatz zu Verleugnung, Verwerfung, Ausrottung der Leidenschaften (Kaufmann 1988, S. 245ff., 255ff.). Adler hatte bereits im April 1908 – vor seinem Aggressionstrieb-Vortrag – auf die »Umwandlung« des Urtriebs »in der Kultur« auf Nietzsche verwiesen (Protokolle I, S. 337). In seinem Vortrag vom Juni 1908 aber nennt er Nietzsche nur bei »Sublimierung«. Gleichwohl können wir, mit gleichem Recht wie bei Freud, auch bei Adlers Triebwandlungen (Verkehrung, Verschiebung, Hemmung, kulturelle Verfeinerung etc.) wohl von einem relativ direkten Einfluss Nietzsches sprechen, auch wenn sich bei Nietzsche nicht wörtlich identische Formulierungen finden. Lust/Selbsterhaltungstrieb Schließlich lehnt Adler mit Nietzsche das Lustprinzip ebenso wie das Selbsterhaltungsprinzip als primum mobile ab. Die Ablehnung des Lustprinzips ist in seinem Theorieansatz seit 1909 impliziert: Nicht die Erreichung von Lust, sondern die Überwindung eines Minderwertigkeitsgefühls sei das Ziel. Auch die Konzeption des Aggressionstriebs (neben Libido) hat die Bedeutung der Libido relativiert (nicht eliminiert). 1911 macht sich Adler in seiner Freud-Kritik über das Lustprinzip lustig und bezieht dafür Nietzsche ein: »Und über allem schwebt als Deus ex machina eine Zauberformel: die Lust, von der Nietzsche so schön sagt: ›Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit‹« (Adler 1911a, S. 103). Dieser Nietzsche-Satz aus dem »Zarathustra«

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(Trunkene Lied) bezieht sich allerdings auf das »Glück« (des Übermenschen) über die ewige Wiederkunft (vgl. Kaufmann 1988, S. 374f.) – das will an dieser Stelle der Freud-Kritik nicht so recht passen. Adlers Position und seine Übereinstimmung mit Nietzsche darin wird aber 1912, unter dem Zeichen der Übernahme des Willens zur Macht klarer. Diese Übereinstimmung hebt besonders Freschl (1912, ähnl. 1936) hervor: Es falle »der Gegensatz zu den gerade auf das Lustprinzip gestellten Befunde Freuds auf« (Adler 1912, S. 518; vgl. Gasser 1997, S. 64).

2. Bekenntnisse zu Nietzsche um 1912/13 Nach dem Bruch mit Freud nun bezieht sich Adler 1912 an zentralen Stellen explizit auf Nietzsche – womit er seine Diskrepanz zu und zugleich seine Befreiung von Freud unterstreicht. Das Jahr 1912 ist das entscheidende Jahr, in dem er sich auf Nietzsche stützt, ihn zustimmend zitiert und Begriffe von ihm übernimmt, vor allem aber den »Willen zur Macht«. An zwei Stellen drückt er sogar bekenntnishaft eine Identifizierung mit Nietzsche aus. Einmal gegen Freuds »Libido als treibender Kraft«: Nietzsches »Wille zur Macht« und »›Wille zum Schein‹ umfassen vieles von unserer Auffassung« (Adler 1912a, S. 47f.). Das andere Mal bezieht er sich auf Nietzsches »Intuition«, auf das »starke intuitive Erfassen«, das »Seelenkunde« verlange: »Wenn ich den Namen Nietzsche nenne, so ist eine der ragenden Säulen unserer Kunst enthüllt« (Adler 1913f, S. 123). a) »Entlarvung« einzelner psychischer Erscheinungen Wie kaum ein anderer wird Nietzsche (seit Klages 1926) mit dem Etikett »Entlarver«/Entlarvungspsychologie belegt, als einer, der das Bewusste, die Erscheinungen, als Fassade enttarnt, die »wahren« Motive hinter einer Maske ans Licht bringt. »Entlarvung« ist da möglich, wo es ein »Dahinter«

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oder »Darunter« gibt, ein Unbewusstes und die Möglichkeit des Unbewusstmachens (durch Verdrängung, Vergessen, Verleugnen etc.) – die Entzifferung des Unbewussten. Unbewusst (zuweilen als ungewusst) und die Mechanismen des Unbewusstmachens kennt Nietzsche beim Trieb, Wille, Denken, Handeln, Einsicht, Einfluss (vgl. Gödde 2002). Das Unbewusste sichtbar zu machen trifft natürlich ebenso auf Freud und Adler, auf alle (tiefen-)psychologischen Richtungen zu und insofern sind sie »Entlarver«.11 Die Frage, ob Freud und Adler darin von Nietzsche beeinflusst sind oder ob sie lediglich an der Tradition »entlarvenden Denkens«, beginnend bei der »europäischen Moralistik« (Gödde 1999, S. 538), teilhaben, ist nicht (leicht) zu beantworten – auch bezüglich Adler nicht. Gödde ist auf Freud bezogen hier uneindeutig: Freud stehe nicht in »Abhängigkeit« von Nietzsche (S. 538), aber er stehe in Nietzsches »Nachfolge« (S. 540). Dieses Etikett »Entlarvung« hat allerdings eine negativistische und überhebliche Konnotation, und darin unterscheide sich Nietzsche von Freud, meint Gödde (S. 542), nicht zu Unrecht. Adler könnte hier näher an Nietzsche sein, auch er hat diese negativen Tendenzen im Blick – denen aber Schwäche zugrunde liegt. Adler spricht nicht nur vom Unbewussten und – wie Nietzsche – von Fiktionen, Konstruktionen, sondern auch von unbewussten Arrangements, Tricks, Finten, Kunstgriffen, von der Aggressivität der Symptome und des Gewissens – zur Aufrechterhaltung des Scheins. Sperber nannte Adler einmal einen »Nachfahre des Entlarvungspsychologen Nietzsche«, aber er habe »sich fast in der genau entgegengesetzten Richtung bewegt« (Sperber 1970, S. 78). Zur Entzifferung einiger psychischer Phänomene gibt es nun ab 1912 einige positive Bezugnahmen Adlers zu Nietzsche: 11 Freud und Adler haben miteinander konkurriert, wer der »tiefere« sei: Adler sei Oberflächenpsychologie, sagt Freud, Freud nehme alles wörtlich, für bare Münze, sagt Adler (1911a).

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Verdrängung durch »Stolz« Je nachdem, ob es der »Stolz«, das heißt die kompensatorische »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls« zulässt, bleibt für Adler das Gefühl der Minderwertigkeit bewusst oder unbewusst: »Dabei spielt die Frage, ob das Gefühl der Minderwertigkeit bewußt oder unbewußt ist, eine untergeordnete Rolle. Zuweilen bringt es der Stolz so weit, ›daß das Gedächtnis nachgibt‹ (Nietzsche)« (Adler 1912a, S. 100). Adler bezieht sich hier auf die häufig – auch von Freud – zitierte Stelle aus »Jenseits von Gut und Böse«, nämlich: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis, ›das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.« Lüge Lüge kommt bei Adler neben der Kinderlüge in Form von »Ausflüchten«, »Vorwänden«, »Kunstgriff« häufig vor. 1914 schreibt er in diesem Sinn einen Aufsatz »Lebenslüge und Verantwortlichkeit in der Neurose und Psychose«. Er meint mit »Lebenslüge«, sich der Verantwortung durch Ausflüchte zu entheben und fremde Schuld zuzuweisen (Adler 1914m, S. 256). Er nennt Nietzsche nicht, aber Lüge, auch »Lüge im außermoralischen Sinn« oder Täuschung oder Schein sind bei Nietzsche so wichtig, sodass »Lebenslüge« als Selbsttäuschung direkt wie ein nietzscheser Begriff erscheint. In den allgemeinen Sprachgebrauch kam er wohl über Henrik Ibsen, der begeisterter Hörer des Literaturhistorikers Georg Brandes war, dem frühen Verbreiter von Nietzsches Gedanken in Deutschland und Wien. Frauenbild-Mutter-Inzest Das ist ein Beispiel eines einzelnen psychischen Phänomens, in dem Adler recht zwiespältig Nietzsche gegenüber ist: In seiner Kritik am freudschen »Inzestkomplex«12 spricht Ad12 – den Adler in den Zusammenhang mit Machtwillen stellt: Die Sexualwünsche des Kindes auf die Mutter seien vom Willen zur Macht geleitet (Adler 1912a, S. 138) –

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ler an zwei Stellen (Adler 1912a, S. 114, 138) den Zusammenhang von Mutter- und Frauenbild so an, wie er ihn bei Nietzsche findet: dass »jedermann ein Bildnis des Weibes von der Mutter her in sich trägt, von dem er bestimmt wird, die Frau überhaupt zu verehren oder sie gering zu schätzen oder gegen sie im allgemeinen gleichgültig zu sein«. Aber er relativiert diese Position: »Nur von dieser neurotischen Starre des Unsicheren gilt Nietzsches Behauptung«, um noch hinzuzufügen: »Doch müssen wir zugeben, daß diese in der Mehrheit sind« (S. 114). Adler spielt hier mit einer Offenheit in der Frage, ob häufig Vorfindbares zugleich auch neurotisch sein kann, ob die beschriebene Bedeutung der Mutter notwendiger- oder neurotischerweise so ist. Wiederkehr des Gleichen Hier ist Adler ebenso zwiespältig, aber er benutzt Nietzsche auch nur sehr schlagwortartig. Adler verwendet 1912 die »Wiederkehr des Gleichen« – bei Nietzsche »ewige Wiederkehr« – im psychologischen Sinn, als Ausdruck sich wiederholender ähnlicher Verhaltensmuster, was dann später als »Lebensstil« erscheint. »Alle späteren Gedankengänge und Handlungen des Neurotikers zeigen sich im gleichen Aufbau wie seine kindlichen Begehrungsvorstellungen. Die ›Wiederkehr des Gleichen‹ (Nietzsche) ist nirgends so gut wie beim Nervösen zu verstehen« (Adler 1912a, S. 66, ähnl. S. 333) (weil Neurotiker starrer an ihren Fiktionen festhalten). Kühn sieht darin, dass Adler die »Wiederkehr« »psychopathologisch auf den neurotischen Wiederholungszwang eingeschränkt« hat, bereits eine Distanzierung von Nietzsche, die durch das Weglassen von »Nietzsche« 1919 an dieser Stelle noch unterstrichen würde (Kühn 1997, S. 409). Ich sehe darin eher ein Beispiel dafür, wie Adler – und mit ihm viele andere auch – Nietzsches Begriffe psychologisch wendet und nur als Wörter für eigene Überlegungen benutzt. Nietzsches »ewige Wiederkunft« ist aber tatsächlich etwas anderes und steht im Zusammenhang mit dem Über-

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menschen. Es ist »die Lehre von der ›ewigen Wiederkunft‹, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge«. Die ewige Wiederkunft ist mit der überwältigenden Freude, dem höchsten Glück eines reichen Lebens verbunden. »Wer die Selbstvervollkommnung erreicht und sein eigenes Sein und alle Ewigkeit nach rückwärts und nach vorwärts bejaht, der denkt nicht an morgen. Aus der Fülle ihres Entzückens im Augenblick heraus wünschen solche Menschen die ewige Wiederkunft« (Kaufmann 1988, S. 377). 1913 spricht Adler von der »Fiktion … der Wiederkehr des Gleichen«. Die fiktive Erwartung, dass »prinzipiell und wörtlich« alles wiederkehre sei ein Sicherungsmechanismus, »um die dunkle Zukunft zu erhellen«. Diese Bedeutung als Fiktion des Denkens unterstreicht er noch einmal in einer Fußnote: diese »Fiktion des Gleichen«, eine der wichtigsten Voraussetzungen des Denkens überhaupt und des Kausalitätsprinzips (Adler 1913j, S. 226). Darin steckt zwar Übereinstimmung mit Nietzsches Fiktion und Ablehnung des Kausalitätsprinzips, allerdings – nun doch – auch eine Distanzierung von Nietzsches »Ewiger Wiederkehr«.13 b) Macht, Wille zur Macht/Wille zum Schein Adler hat 1912 den Begriff des Willens zur Macht eingeführt und damit dem Kompensationsstreben, dem Streben nach Überwindung, nach Geltung und nach Erhöhung einen Namen, ein Ziel gegeben. Natürlich hat er diesen Begriff von Nietzsche übernommen und verweist er auch auf Nietzsche. Auch hat er mit Nietzsche den Willen zur Macht mit dem Willen zum Schein auf eine Ebene gesetzt. Davon zu unter13 Für die Kenntnis dieser Fiktion des Gleichen dankt er in einer Fußnote »meinem Freunde und Mitarbeiter A. Häutler« – Häutler hielt 1908 in der Mittwochsgesellschaft den Vortrag über Nietzsches »Ecce homo«. Häutler sei mit Adler seit 1891 bekannt gewesen und sei durch ihn in die Mittwochsgesellschaft gekommen und mit ihm ausgeschieden. 1931 trat er bei den Individualpsychologen auf (Mühlleitner 1992, S. 129).

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scheiden ist bei Adler die Verwendung der Dimension von Macht in der Psychologie als Machtstreben. Auch dies findet sich bei Nietzsche, aber es ist sehr die Frage, ob Adler dazu Nietzsche bedurft hatte – als politischem Menschen war ihm Macht und Machtkritik präsent. Was nun verstand Nietzsche unter (Willen zur) Macht, was Adler? Hat Adler Nietzsche übernommen, war er Anhänger? Macht oder Wille zur Macht tritt im Gesamtwerk Nietzsches in vielerlei Facetten und Bewertungen auf: als einer von verschiedenen Trieben, als aggressives Machtstreben, als kompensatorischer und verleugnender Trieb des Ohnmächtigen – hier als Wille zum Schein, und wird da eher negativ bewertet. Erst im »Zarathustra« ist Wille zur Macht der »Grundtrieb«, im Sinn von Selbstüberwindung zu verstehen und mit dem »Übermenschen« verbunden (vgl. Kaufmann 1988, S. 207–241). Diese Bedeutungen sind nicht immer scharf voneinander zu trennen und Nietzsche wurde besonders in diesem Zusammenhang unterschiedlich interpretiert und auch missbraucht. Im »Willen zur Macht« die Verherrlichung von Macht und Gewalt zu sehen, wird bis heute unterschiedlich eingeschätzt. Wille zur Macht als Machtstreben Bei Nietzsche ist das kämpferische, aggressive Moment von Macht und Willen zur Macht ständig präsent. Es ist der »Instinkt des Mächtig-sein-wollens, des Machtausübens«, die Machtsphäre erweitern (Vaihinger 1902, S. 38), »ein Wille zum Angriff auf andere« und ein »Wille zur Selbstverwirklichung« (Kaufmann 1988, S. 288f.). Vor allem in Nietzsches früheren Schriften ist (Wille zur) Macht »weltliche Macht«, gesellschaftlicher Erfolg, hemmungsloser Ehrgeiz (S. 210). Als solcher ist der Wille zur Macht Quelle alles Bösen (S. 215), »Macht, die immer böse ist«. Das ist Nietzsches Machtkritik. Später ist Wille zur Macht positiv als Kraft, mit Angriff, Dominanz und Unterwerfung verbunden. Adlers gesamtes Werk ist beherrscht von der Beschrei-

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bung und zugleich Kritik des Machtstrebens. Machtstreben des Einzelnen und in der Gesellschaft ist für ihn aggressiv, zerstörerisch, ein Gift, das »hervorstechendste Übel in der Kultur« (Adler 1927, S. 75). Wille zur Macht erscheint in diesem Sinn von Machtstreben als »Herrschaft und Überlegenheit erstreben« (Adler 1912a, S. 79), »Verlangen nach ausschließlicher Macht« (S. 148), »Herrschaft gewinnen«, »sichert sich ein Übergewicht«, »Kampfbereitschaft« (S. 249), als Neigung zur Despotie, Machtbegehren, Machtfantasie, Machtgier. Auch die »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls« oder der »männliche Protest« sind nicht nur ein Über-sichHinauswachsen, sondern bedeuten auch, Macht über andere zu haben, andere zu dominieren und zu erniedrigen. Das Machtstreben und seine jeweiligen Formen sind – wie auch die Gefühle der Inferiorität – bei Adler eng mit sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft, aus diesen abgeleitet. Es hat eine hierarchische Achse von Oben und Unten, einen sozialen Vergleich (vgl. Bruder-Bezzel u. Bruder 2001, S. 30f.). Dieses Machtstreben kann in allen psychischen Phänomenen verborgen sein, vor allem auch in verwandelter, kaschierter Form (»Gegenfiktion«). Spätestens ab 1912 wird diese aggressive Ausprägung der Kompensation hervorgehoben. Mit Adlers Machtbegriff ist somit immer auch Kritik am Machtstreben verbunden, und zwar noch bevor Adler das Gemeinschaftsgefühl eingeführt hat. In übersteigerter Form wird es als krankhaft und krank machend gesehen und kritisiert. Darin wird Adler als schärfster Kritiker Nietzsches gesehen – sofern Nietzsche nur als Verherrlicher, nicht aber auch als Kritiker der Macht wahrgenommen wird. »Man könnte sich im Grunde kaum einen härteren Kritiker Nietzsches als Alfred Adler denken: Er verkörpert die Gegenposition zur Machtphilosophie im Sinn Nietzsches« (Seidmann 1976, S. 437). Ähnlich schreibt Sperber: »Jedenfalls ist der Wille zur Macht, wie Nietzsche ihn auffaßte, durchaus verschieden von jenem Machtstreben, dem Adler besonders in seiner

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Neurosenlehre einen großen Platz einräumt … Man kann sich nichts Gegensätzlicheres denken« (Sperber 1970, S. 75f.). Diese Kritik am Machtstreben wird bei Adler seit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls 1918/19 verschärft. Die Verurteilung des Machtstrebens steht nun unter der Wertung des Gemeinschaftsgefühls, das zum Gegengewicht gegen das Machtstreben wird. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft wird zu einem Grundbedürfnis und einer Grundfähigkeit, zum Wesen des Menschen gehörig. Wille zum Schein Bei Nietzsche ist »Wille zum Schein« – (Selbst-)Täuschung, Lüge – mit dem Willen zur Macht verbunden; Wille zur Macht ist zugleich Wille zum Schein. Er wird bei Vaihinger im Sinn von Fiktion und Als-ob (des Denkens, der Sprache) gesehen. Wille zum Schein erscheint in früheren Schriften auch als scheinbare Verneinung des Willens zur Macht (Kaufmann 1988, S. 215). Er sei ein »psychischer Trieb«, der verschiedene Phänomene wie Dankbarkeit, Mitleid, Selbsterniedrigung erklären kann, zum Beispiel »die Macht, wehe zu tun« (durch Mitleid) oder »Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden«. Es ist der Trieb der Ohnmächtigen (S. 215). Bei Adler kommt der Begriff »Wille zum Schein« nicht sehr häufig und nur 1912 vor. Ähnlich wie bei Nietzsche drückt hier Wille zum Schein die kompensatorische und fiktionale Funktion des Willens zur Macht aus. Er kann bei Adler manchmal auch die neurotische Übersteigerung des »Willens zur Macht« bedeuten: »daß der fiktive, leitende Zweck des Neurotikers eine grenzenlose Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ist«, »der geradezu ausartet in den ›Willen zum Schein‹ (Nietzsche)« (Adler 1912a, S. 77). Der Neurotiker geht »Umwege« oder strebt »Teil- und Scheinerfolge« an. »Und immer wieder steigert sich … bei Mißerfolgen dieser ›Wille zum Schein‹« (S. 261), als »ausweichende Linie«, weil ihm »der Glaube an sich selbst« fehlt.

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»Letzter Linie erheben sie sich nicht mehr zum Willen zur Macht, sondern wollen nur mehr den Schein für sich gewinnen« (Adler 1913f, S. 130). Die Verleugnung des Willens zur Macht wird als »Gegenfiktion« bezeichnet: »Aber die Fiktion der Überwältigung anderer« muss »frühzeitig unkenntlich gemacht werden, sich maskieren … Diese Verschleierung geschieht durch die Aufstellung einer Gegenfiktion, die vor allem das sichtbare Handeln leitet … Die Gegenfiktion bewerkstelligt den Formenwandel der leitenden Fiktion, indem sie ihr Rücksichten aufzwingt, soziale, ethische Zukunftsforderungen … durch Bescheidenheit zu glänzen, durch Demut und Unterwerfung zu siegen …« (Adler 1912a, S. 114f.). »Was den Patienten wirklich treibt, ist das eindeutigste Verlangen nach ausschließlicher Macht, und da sein Persönlichkeitsgefühl an vielen seiner Mittel Anstoß nimmt, … verbirgt er die verwehrten Charakterzüge vor sich und den anderen … läßt er sich im Tageslicht, in seinen ›bewußten Regungen‹ von dem Ideal der Tugend leiten« (S. 148). Wille zur Macht als Grundkraft Im »Zarathustra«, in Nietzsches »endgültiger Philosophie« (Kaufmann 1988, S. 207), wird erstmals der Wille zur Macht als »Grundkraft des Universums«, »Grundtrieb« des Menschen und alles Lebendigen, die allen menschlichen Tätigkeiten zugrunde liegt, beschrieben: »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht« (Kaufmann S. 224, 240f.). Wille zur Macht ist die monistische zentrale Kraft, der alle anderen Triebe, auch die Sexual- und Selbsterhaltungstriebe, unterworfen sind. »Nicht nach Glück strebt der Mensch! sondern nach Macht!«, »Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung«, Wille zur Macht ist nicht Wille zum Leben (gegen Schopenhauer gerichtet), sondern Wille, sich zu vergrößern, zu wachsen, zu mehr Leben (Kaufmann 1988, S. 286), Wille zu Mehr an Macht, »was der Mensch will, … das ist ein plus von Macht«.

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Wesentlich ist Wille zur Macht das Streben, sich selbst zu übersteigen und zu vervollkommnen (Kaufmann 1988 S. 288f.), der »Wille zur Selbstüberwindung« (S. 233), »Leben«, »das, was sich immer selber überwinden muß«. Oder: »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.« Wille zur Macht ist somit auch als Imperativ gemeint, sich selbst zu gestalten, Macht über sich zu gewinnen (vgl. Safranksi 2000, S. 274). Er ist nicht nur ein Trieb, sondern der »Generalschlüssel für die Deutung aller Lebensprozesse« (S. 292) oder ein »Interpretationsregulativ«, ein »Regulativ der Werte, Perspektiven und Scheinbarkeiten« (Gasser 1997, S. 218). »Diese Werthschätzungen aber sind eingegeben und reguliert von unserem Willen zur Macht.« Adler hat den »Willen zur Macht« durchaus sowohl als einen »Generalschlüssel« als auch als einen »Grundtrieb« verstanden. Ein spätes Zitat zeigt die allgemeine Bedeutung als »Gesetz alles Geschehens«: »… die unergründliche, unbekannte lenkende Kraft wurde von Kant, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Hartmann, Nietzsche und anderen in einer unbewußten Triebkraft gesucht, die bald Sittengesetz, bald Wille, bald Wille zur Macht oder das Unbewußte genannt wurde« (Adler 1933b, S. 34). Als unbewusste psychologische Kraft, als »Grundtrieb«, einem »Streben«, das »tief begründet« ist, als »Endzweck«, übernimmt er im »Nervösen Charakter« (1912) selbst den »Willen zur Macht«. Bereits 1908 (Protokolle I, S. 337) sprach er vom »Urtrieb« bei Nietzsche. Dazu wieder einige Zitate: – »die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls … (ist) Ausdrucksform eines Strebens und Begehrens, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind. Die Ausdrucksform selbst und die Vertiefung dieses Leitgedankens, den man auch als Wille zur Macht (Nietzsche) bezeichnen könnte, belehrt uns, daß sich eine besondere Kraft kompensatorisch im Spiel befindet, die der inneren Unsicherheit ein Ende machen will« (Adler 1912a, S. 72).

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– »Daß aber in dem männlichen Protest des Neurotikers der ältere kompensatorische Wille zur Macht steckt …« (S. 79). – »Alle diese Versuche des Höherstrebens, des Willens zur Macht müssen naturgemäß als eine Form des männlichen Strebens aufgefaßt, mit dem männlichen Protest identifiziert werden, da dieser eine Urform psychischen Geltungsdranges darstellt, nach welchem alle Erfahrungen, Wahrnehmungen und Willensrichtungen gruppiert werden« (S. 87). In einer Änderung von 1928 heißt es statt »männlichem Streben« »Streben nach Überlegenheit … von dem der männliche Protest einen häufigen Spezialfall darstellt« (S. 87). – Gegen Freuds »Auffassung der Libido als treibender Kraft« steht die »neurotische Zwecksetzung«, »die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls«, »dessen einfachste Formel im übertriebenen männlichen Protest zu erkennen ist … Nietzsches ›Wille zur Macht‹ und ›Wille zum Schein‹ umfassen vieles von unserer Auffassung« (S. 47f.). – Die »Endzwecke« des Handelns sind weder Lust- oder Unlustempfindungen noch das Streben (Primat) nach Selbsterhaltung (S. 106f.), sondern »der unbedingte Primat des Willens zur Macht, einer leitenden Fiktion« (S. 108). In diesen Stellen spricht also Adler den Willen zur Macht im Sinn von Nietzsche als »Grundtrieb« an, als das, was Leben in Bewegung bringt – und es sind die einzigen. Doch bleibt Adler auch hier – und immer – dabei, Willen zur Macht kompensatorisch zu fassen. Adler vermeidet natürlich auch den Begriff »Trieb«, den er ja als zu biologistisch ablehnt. Entscheidender aber ist die inhaltliche Frage: Was soll überwunden werden? Bei Nietzsche das »Selbst«, »der Mensch« (als Gattung), bei Adler das Gefühl der Minderwertigkeit zu einem höheren Selbstwertgefühl, »Persönlichkeitsgefühl«. Der »Nervöse Charakter«, der, dessen Willen zur Macht am stärksten ausgeprägt ist, ist der, dessen Unsicherheit oder

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Angst am meisten beunruhigen. In seiner Überwindung wird er gewiss nicht zum »Übermenschen« – es sei denn in seiner Fiktion.

3. Zitierpause 1918 bis 1928 und die Ausnahmen Nach dem Krieg, als Adler wieder verstärkt zu schreiben beginnt und als er mit dem »Gemeinschaftsgefühl« seiner Theorie neue Impulse und eine neue Richtung gegeben hat, finden wir Nietzsche kaum mehr zitiert. »Wille zur Macht« (als »Grundtrieb«) verschwindet in seiner Sprache. »Gemeinschaftsgefühl« wird zum Gegenspieler von Machtstreben, das als Bedürfnis und als Fähigkeit den Menschen als soziales Wesen lenkt, ein Motor – nicht »Grundtrieb« –, der für Adler oft genug versagt und von Adler moralisch eingefordert wird. Hiermit verabschiedet Adler sich endgültig von einer »Machtpsychologie«, sofern wir vorher davon sprechen können. Dieses Gemeinschaftsgefühl passt nicht mehr zu Nietzsche, zur Feier des Individuums im Übermenschen, zu Nietzsches Polemik gegen »Herdentrieb« und »Sklavenmoral« – worauf sich allerdings Adler auch vorher nie (positiv) bezogen hatte – und ebenso »würde Nietzsche … gegen Adler votieren« (Gasser 1997, S. 67). Und Nietzsche war während und nach diesem Krieg zunehmend mehr von der chauvinistischen Rechten als Machtverherrlicher ge- oder missbraucht, sodass sich für Adler wohl eine Bezugnahme auf ihn verbot. Adlers Psychologie propagiert nun einen positiven Wert, sie ist auch eine Abkehr vom Bösen im Menschen, hin zum Guten. Damit kehrt sich Adler in gewisser Weise auch von einer Psychologie ab, die auf Entlarvung im negativistischen Sinn allein aus ist. Im schweigenden NichtZitieren kündigt sich die spätere offene Abkehr von Nietzsche an. Doch gibt es ein paar Ausnahmen – zur Machtkritik, zum Gewissen: 1918 reklamiert Adler für seine Kritik an Macht und Despotie Nietzsche als ebensolchen Machtkritiker:

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»Wer gesehen hat, wie Dostojewski … alle Phantasien ausströmen läßt in dem einen Begriff: Macht! … wer in der menschlichen Seele die Neigung zur Despotie so erkannt hat wie Dostojewski, der darf heute noch als unser Lehrer gelten, als den ihn auch Nietzsche gefeiert hat« (Adler 1918c, S. 290). Ab 1912 bereits hatte Adler häufig Bemerkungen zum »Gewissen« gemacht und dabei Nietzsche noch im »Entlarvungsgestus« übertroffen, aber erst ab 1922 nennt er Nietzsche, obgleich ihm schon lange bekannt sein musste, dass sich Nietzsche dazu häufig und an wichtigen Stellen geäußert hatte. Adler demaskiert das Gewissen und Schuldgefühl im Rahmen seiner »Machttheorie«, in dessen Funktion, das Persönlichkeitsideal abzusichern, die Selbsteinschätzung hoch zu halten (Adler 1912a, S. 245). »Das Gewissen … wird mit den Zeichen der Macht ausgestattet und zur Gottheit erhoben« (S. 286). Gewissensbisse zielten auf den trügerischen Schein der Überlegenheit und seien darüber hinaus deshalb »unanständig« und »unfruchtbar«, weil sie »der Lösung der Lebensprobleme enthöben« (Adler 1912a/Erg. 1919, S. 286, ähnl. Erg. 1922, S. 71). »Sie sind die Fortsetzung einer nutzlosen Tätigkeit«, weil sie nicht »von einer Änderung des Verhaltens gefolgt sind« (Adler 1928a, S. 26, ähnl. S. 85). Erst 1922, dann 1928 und 1929 führt er also Nietzsche an, stets positiv ziterend. Dabei bringt er viermal den nietzschesen oder nur sinngemäß Nietzsche zutreffenden (Kühn 1996, S. 246) Satz: »Gewissensbisse sind unanständig« (zweimal in Adler 1912/Erg. 1922, S. 71, 286; zweimal in 1928a, S. 26, 85), dann: Nietzsche habe »das Schuldgefühl einmal als reine Böswilligkeit beschrieben« (Adler 1929c, S. 43). An einer Stelle fügt er dem »›Gewissensbisse sind unanständig‹ urteilt Nietzsche« polemisch hinzu: »Ihm mag dieser Sachverhalt bekannt gewesen sein« (1912a/Erg. 1922, S. 71). Adler benutzt Nietzsche hier als Schlagwort, zur Verstärkung seiner rein finalistischen Sicht (zur Selbsterhö-

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hung), Nietzsches Intention teilweise wiedergebend. Denn bei Nietzsche (»Menschliches, Allzumenschliches«, »Zur Genealogie der Moral«, »Ecce homo«) ist (schlechtes) Gewissen eine nach innen gerichtete Aggression, Grausamkeit gegen sich selbst, »Selbst-Vergewaltigung«, erzwungen durch die lebensverneinende (Sklaven-)Moral. Gewissensbiss ist eine Art »böser Blick«, nach rückwärts gewandt, ist eine »Krankheit«. Er ist »nichts Achtbares«. Kaufmann hebt darüber hinaus noch Nietzsches Dialektik hervor, »die Bejahung des Werts von scheinbar Negativem« (Kaufmann 1988, S. 294f.). Das schlechte Gewissen bringt auch »Schönheit« ans Licht, Zivilisatorisches, nötig zur Unterscheidung von Gut und Böse. Adlers »Gewissen« enthält zwar den aggressiven, den rückwärts gewandten und nutzlosen Charakter wie das von Nietzsche, er geht aber weder »auf die ›Genealogie‹ des Gewissens ein« (Kühn 1997, S. 410), das heißt, auf die verinnerlichte Aggression gegen sich, die »Selbst-Vergewaltigung«, noch auf seine »zivilisatorische« Funktion.

4. Abgrenzung von Nietzsche 1928–1933 Mit Adlers Blickveränderung vom Bösen zum Guten im Menschen, vom Neurotischen zum Gesunden, führte er, ziemlich spät allerdings, das »Streben nach Vollkommenheit« ein und betonte die »schöpferische Kraft« im Menschen. Nie hat er damit den Namen Nietzsche verbunden, obgleich er beides mühelos hätte verbinden können. Wille zur Macht als Selbstüberwindung ist »wesenhaft schöpferische Kraft … Wer mächtig ist, ist auch schöpferisch« (Kaufmann 1988, S. 291) und Selbstüberwindung ist immer auch ein »Streben nach Vollkommenheit«, die im »Übermenschen« vollendet ist. Aber Adler ist in dieser Zeit im Gegenteil damit beschäftigt, sich aggressiv von Nietzsche loszusagen, sich dagegen zu wehren, als »Machtpsychologe« bezeichnet zu wer-

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den und als solcher im Umkreis von Nietzsche zu stehen. Adlers Faszination von Nietzsche ist in Gereiztheit umgeschlagen. – Es sei ein »Mißverständnis«, dass man die Individualpsychologie »in die Nähe Nietzsches versetzt hat« (Adler 1931o, S. 200). – »Mißverständnis« sei auch, »als ob die Individualpsychologie das Seelenleben nicht nur auffaßt als ein Streben nach Macht, als ob sie es auch propagieren würde. Dieses Streben nach Macht ist nicht unser Wahnsinn, es ist der, den wir bei den anderen finden« (Adler 1932g, S. 82). Positiv bleiben Verweise auf Nietzsche – wie wir bereits gesehen haben – nur im Zusammenhang mit Gewissensbissen oder Schuldgefühlen (vgl. Adler 1929c) und mit dem Lustund Selbsterhaltungsprinzip (Adler 1931, 1933). Lustprinzip Hier heißt es, gegen Freud gerichtet: Der »Mitmensch« (also der Mensch mit Gemeinschaftsgefühl) strebt »in seinem Ziel nicht nach Lust, sondern nach Glück«. Da die Individualpsychologen »die Einheit des menschlichen Seelenlebens betonen, so ist es keine Frage, daß die Lustempfindung parallel laufen muß entsprechend dem Ziel. Nietzsche sagt ungefähr: ›Die Lust stellt sich ein, wenn es kraft der Gangart eines Menschen am Platze ist‹« (Adler 1931o, S. 204). An einer weiteren Stelle: Eine unerledigte Aufgabe bewirke Gefühle der Minderwertigkeit und Spannung. Die Lösung daraus »muß durchaus nicht lustvoll sein, wie etwa Freud annimmt, kann aber von Lustgefühlen begleitet sein, was der Auffassung Nietzsches entsprechen würde« (Adler 1933b, S. 67). Der Generalvorwurf gegen Nietzsche ist das Fehlen eines Gemeinschaftsbegriffs. Seine Angriffe gegen Nietzsche beziehen sich in diesem Zusammenhang auf Sublimierung und Wiederkehr des Gleichen, vor allem aber auf das »persönliche Machtstreben« im Übermenschen.

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Sublimierung Adler stellt einen Zusammenhang zwischen Sublimierung und Gemeinschaftsgefühl dergestalt her, dass Sublimierung, das heißt, »abträgliche Neigungen verbessern«, »zum Nutzen der Gemeinschaft« (Adler 1933c, S. 79, 83) nur gelingen könne, »wenn das Gemeinschaftsgefühl wächst« (S. 83; ähnl. 1929f, S. 241). Diesen Zusammenhang aber sähen Fourier, Nietzsche und Freud nicht, weil sie »die Steigerung des Gemeinschaftsgefühls« nicht für nötig halten (Adler 1933c, S. 83). Zwar hätte Nietzsche Sublimierung nicht »zum Nutzen der Gemeinschaft« genannt, aber doch übergeht Adler den Moralisten Nietzsche, der gerade in der Sublimierung und dem Willen zur Macht steckt. Denn Sublimierung, die (Selbst-)Überwindung und (Selbst-)Beherrschung der Triebe und Begierden (im Willen zur Macht), ist Moral, ist Moralischsein, denn »diese Begierden richten oft großes Unheil an, – folglich sind sie böse, verwerflich. Der Mensch muß los von ihnen kommen: eher kann er nicht ein guter Mensch sein«. Wiederkehr Diese Seite blitzt aber in der gleichwohl polemischen Bemerkung Adlers auf, in einer Ergänzung eines Aufsatzes von 1911: »wie Nietzsche dem Gemeinschaftsgefühl in der ›Wiederkehr des Gleichen‹ seinen ethischen Tribut zollte« (Adler 1911f/Erg. 1920/1930, S. 166). Damit spielt er wohl auf die Lebensbejahung, auf die Verantwortung für die Ewigkeit des Lebens, auf das moralische Gesetz der »Ewigen Wiederkunft«, an: »Dieses Leben – dein ewiges Leben«. In diesem Sinn schreibt Ellenberger: »Der Übermensch richtet sein Leben nach dem Prinzip der Ewigen Wiederkunft ein und lebt so sub specie aeternitatis« (Ellenberger 1973, S. 381). Die Formel »sub specie aeternitatis« (bei Nietzsche: »sub specie aeternis«) benutzt Adler später gern, wo es ihm um die Richtschnur des Handelns, bezogen auf »kosmische Forderungen«, »aktive Anpassung an die äu-

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ßerste Zukunft« im Strom der Evolution geht (Adler 1933b, S. 35, 164). Streben nach Vollkommenheit und Übermensch Der Begriff »Übermensch« tritt bei Adler erst in den dreißiger Jahren auf. Adler weist dieses Konzept scharf bis polemisch zurück, ja er sieht in ihm die Krankheit Nietzsches gespiegelt: »und es ist erhellend – ich sage nur soviel –, daß Nietzsche, als er geisteskrank wurde, einen Brief an Strindberg mit der ›Gekreuzigte‹ unterschrieb« (1931b, S. 56). Damit wird er Nietzsche natürlich nicht gerecht und antwortet vielleicht mehr auf die Nietzsche-Rezeption als auf Nietzsche selbst. Nietzsches Übermensch hat viele Facetten und wurde in der Rezeption für vielerlei verwendet. Der »Übermensch« bei Nietzsche ist – in der Darstellung von Kaufmann – die Erfüllung des Willens zur Macht, des Herrseins über sich, der Selbststeigerung. »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.« Wer sich selbst überwunden hat, ist zum Übermenschen geworden. Er ist die Höherbildung des Menschen, der das Animalische, Äffische des Menschen überwunden hat; »nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf« (Kaufmann 1988, S. 359ff.). Vaihinger unterscheidet den »historischen« und den »idealen« Übermenschen. Der historische Übermensch sei der Vertreter höherer Menschlichkeit der Vergangenheit, mit brutalen Zügen des »Herrenmenschen«, der ideale Übermensch stelle »das gemeinschaftliche Ideal der Menschheit« dar, das »in der Zukunft erreicht werden soll«, durch Höherbildung und Auslese (Vaihinger 1902, S. 62). Die Art als Ganzes soll gehoben werden, vornehm, selbstbewusst, autonom, aufeinander Rücksicht nehmen (S. 63f.). Das elitäre Konzept des Genialen, des Auserwählten, als das der Übermensch meist gesehen wird, ist in ihm impliziert, aber trifft nur eine Seite. Adler hat den Übermenschen vor Augen, der das Überspannte, Despotische, Elitäre impliziert. Streben nach dem

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Übermenschentum ist für ihn das gesteigerte egoistische Machtstreben, Streben nach persönlicher Überlegenheit. Es ist identisch mit dem Streben nach Gottähnlichkeit. Entscheidend für Adlers Verurteilung ist, dass der Übermensch im Widerstreit zu Bedürfnissen der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Zusammenarbeit stehe: Das Ziel der »persönlichen Überlegenheit« ist das »Streben zum ›Übermenschentum‹«, als »Gegensatz zur Mitarbeit« (Adler 1933b, S. 80). Im Übermenschen stecke das Ziel der Gottähnlichkeit: »In bescheidenerer Form erscheint das Ziel der Gottähnlichkeit in dem Gedanken vom ›Übermenschen‹« (Adler 1931c, S. 56). In einem Seitenhieb gegen Freud setzt er auch einmal das Über-Ich damit in Verbindung, das in seiner Strenge auch das Sich-über-andere-Erheben enthalte, wie im schlechten Gewissen und den Gewissensbissen: Das freudsche Über-Ich sei »die spätere Konzeption dessen, was wir als das fiktive Ziel der Überlegenheit kennengelernt haben«. Das Wort Über-Ich sei dem Wort »Übermensch« »nachgebildet«, darin stecke Gottähnlichkeitstreben (Adler 1931o, S. 200).14 Im Gegensatz zum Streben nach dem Übermenschen stehe das Streben nach Vollkommenheit. Dieses ist positive Überkompensation, die im Einklang mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft stehe. Insofern sei das Streben nach Vollkommenheit Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls, was Adler beides als ein wesenhaftes, natürliches Bedürfnis sieht. Er betont, »daß jedes Individuum von diesem Streben nach Vollkommenheit erfaßt ist … daß es gar nicht notwendig ist, wie der kühne Versuch Nietzsches gezeigt hat, es erst den Menschen einzuimpfen, daß sie sich zum Übermenschen entwickeln sollen« (Adler 1933j1, S. 22). In diesem Zitat sind die Grenzen der Begriffe (Vollkommenheit/Übermensch) verwischt, wie mir scheint ironisch, wie auch die Grenzen zwischen normal und neurotisch fließend sind und niemand ganz normal oder ganz neurotisch 14 Auch Jones hatte Über-Ich und Übermensch in Analogie gesetzt (vgl. auch Gödde 1999, S. 535).

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ist. Wie immer man es nennen will: Das Streben nach oben sei allen Menschen eigen, Selbstüberwindung wird bei Adler demokratisiert. Adlers Aversionen gegen Nietzsche in dieser Zeit finden sich noch an zwei weiteren Stellen: An einer Stelle nennt Adler zwar Nietzsche nicht, aber meint ihn wohl: »Selbst Autoren, die in wissenschaftlicher Verblendung, gelegentlich mit genialen Zügen ausgestattet, den künstlich gezüchteten Willen zur persönlichen Macht in einer Verkleidung sehen, als bösen Urtrieb, als Übermenschentum, als sadistischen Urtrieb betrachten, sehen sich gezwungen, dem Gemeinschaftsgefühl in seiner idealen Zuspitzung ihre Reverenz zu machen« (Adler 1933b, S. 81). An anderer Stelle ist die Distanzierung von Nietzsche für die Individualpsychologie überhaupt direkt angesprochen: »Wenn man gelegentlich Exkurse über die Individualpsychologie liest, so findet man, daß einer, wenn er ›Geltungsstreben‹ sagt, glaubt, daß er die Individualpsychologie verstanden hat, oder ›Minderwertigkeitsgefühl‹ oder ›Streben nach Macht‹, wobei man nie vergißt, daß das Nietzsche gesagt hat … In der letzten Zeit macht sich eine Strömung breit, die sich die charakterologische nennt, die in wüster Art Charakterologie treibt. Ununterbrochen werden Sie die Berufung auf Nietzsche finden. Wir werden uns nicht bluffen lassen, deswegen sind wir nicht verpflichtet, ihnen psychologische Feinheit zuzutrauen. Wenn einer heute den Namen Nietzsche eitel nennt, dann ist er schon faul« (Adler 1930e, S. 167). Er will nicht mit Nietzsche in eins gesetzt werden, aber schon gar nicht mit dieser »charakterologischen Strömung«, mit Nietzscheanern, besonders dieser gilt geradezu eine Abscheu, während er indirekt Nietzsche »psychologische Feinheit« zuerkennt. Mit den »Charakterologen« meint er vermutlich Ludwig Klages oder dessen Umfeld bei den Psychologen. Klages, dem nietzscheanischen Umfeld Stefan Georges entstammend, radikaler Irrationalist und »bösartiger Antisemit« (Aschheim 2000, S. 81), konzipierte eine nietzscheanische Psychologie. 1926 schrieb er sowohl sein

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bekanntes Buch »Der Geist als Widersacher der Seele« als auch das Buch »Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches«. Er feierte Nietzsche als »Herold der kosmischen Seele«, als Begründer einer vitalistischen, dionysischen Seelenforschung. Er lehnt allerdings Nietzsches Willen zur Macht, seine Betonung der Selbstüberwindung als aggressiv, zerstörerisch, abstrakt-rationalistisch ab (Aschheim 2000, S. 81ff.).

Resumee Adler war sicher von Nietzsche fasziniert und er war von seiner Zeit, die von Nietzsche durchdrungen war, beeinflusst. Er verband Nietzsche zunächst mit den triebpsychologischen Grundlagen der Psychoanalyse und dem Unbewussten, und er wurde darüber hinaus für seine eigenen Ideen angeregt. Adlers Grundgedanke der Kompensation hat in der Vorstellung des Überwindens als Motor zweifellos in Nietzsche eine seiner Quellen – aber eben nur eine. Zum großen Teil hat er dies recht assoziativ verwendet. Die Differenzen zwischen Adler und Nietzsche sind im Einzelnen doch beträchtlich. Daher würde ich weder mit Witte sagen, die Individualpsychologie »wurzelt« in Nietzsche (Witte 1996, S. 193), noch ist Rattner zuzustimmen, wenn er meint, »Adlers Theorie der Neurose … ist buchstäblich die Anwendung der Machtpsychologie Nietzsches« (Rattner 2000, S. 278). »Kompensation« bei Adler ist treibende Kraft, der alle anderen »Triebe« untergeordnet sind. So konnte sich Adler auch auf Nietzsches Willen zur Macht als »Primärtrieb« gegenüber Lust- und Selbsterhaltungstrieb einlassen. Er übernahm diese Terminologie nur sehr kurzfristig und sprach dann wieder von Kompensation oder allgemein von Ziel, Finalität, Streben nach Vollkommenheit et cetera. Kompensation ist die Überwindung von Mangel, Schwäche, was auch Steigerung, ein Über-sich-Hinausgehen bedeuten

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kann – darin Nietzsche ähnlich. Aber es geht bei Adlers »Überwinden«, im Unterschied zu Nietzsches »Überwinden«, nie um ein Überwinden zu einem Höheren schlechthin und nie um ein Überwinden des Menschen als Gattung. Auch ist Überwinden keine Leistung besonderer Menschen, keine Auszeichnung, sondern die Fähigkeit eines jeden Menschen und sogar eher dann erzwungen, je weiter unten sich einer wähnt. Von daher würde ich auch Ellenberger so nicht Recht geben, wenn er Nietzsches »Mensch ist etwas, was überwunden werden muß« – was den Übermenschen meint – gleichsetzt mit Adlers »Minderwertigkeit muß überwunden werden« (Ellenberger 1973, S. 384; auch Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2001, S. 55). Machtstreben – bei Nietzsche ein Aspekt des Willens zur Macht –, als eine Form der Kompensation bei Adler, ist, zumindest im fließenden Übergang, neurotisch, krankhaft. Der »Übermensch« oder das Ziel der Gottgleichheit ist für Adler dessen manifeste Form, Inbegriff des kranken, übersteigerten Machtstrebens (vgl. Ansbacher 1972, S. 20f.), für den es Gemeinschaft, die Rücksicht auf und das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nicht gibt. Durch diese Wertung wird Adler zum Kritiker Nietzsches.

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Zustimmung zum Diskurs der Macht

Die Psychoanalyse habe keinen Begriff der Macht, erklärte jüngst Ethel Person (2000). Sie stellt einen Zusammenhang zum Ausschluss Adlers her und zur Verleugnung des eigenen Machtstrebens Freuds. Damit steuert sie sofort auf den zentralen Punkt zu: die Verleugnung der Macht. Der Verleugnung des eigenen Machtstrebens begegnen wir in allen Bereichen des Alltags, sowohl bei denen, die Macht haben (und ihre Macht vergrößern wollen), als auch bei denen, die keine Macht haben und ihre Machtlosigkeit durch das Streben nach Macht verleugnen. Im Streben nach Macht, und sei diese nur geborgt, fiktiv, affirmieren wir die Macht, übernehmen wir ihr Handeln und Reden, ihre Praxis und die Argumente ihres Diskurses für unser eigenes Handeln und Denken. In der Verleugnung dieses Strebens nach (eigener) Macht machen wir diese Affirmation jedoch nicht rückgängig, heben wir sie nicht auf, im Gegenteil: Die Affirmation liegt im Streben, das durch die Verleugnung nur negiert wird. Die Verleugnung steht also der Affirmation nicht entgegen, sie ist vielmehr eine der Strategien der Affirmation: verleugnete Affirmation neben offener Affirmation. Affirmation der Macht tritt nicht nur in der Gestalt der Verleugnung des Machtstrebens auf, sondern in der Verleugnung der Macht selbst – neben ihrer offenen Affirmation. Auch hier wieder sowohl bei denen, die Macht haben, als auch bei denen, die der Macht unterworfen sind. Ethel Person selbst liefert eine Variante dieser Verleugnung, wenn sie »Macht an und für sich« reduziert auf »nur

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mehr eine Kraft oder Energie«, »uns angeboren«, durch die wir einerseits zur Selbstkontrolle gelangen – »Selbstdisziplin sowie die Fähigkeit oder Unfähigkeit, eigenständiges Handeln hervorzubringen, was wir im Allgemeinen als Selbstbestimmtheit oder Autonomie bezeichnen« (Person 2000/ 2001, S. 2) »und andererseits zwischenmenschliche Macht entwickeln« (S. 18). Im Streben nach »Selbstbestimmtheit« sieht sie »die elementarste Form von Macht« (S. 18). Die Strategie der Verleugnung besteht hier darin, dem Machtstreben, der Macht eine andere Begründung zu unterlegen: »Selbstbestimmtheit«, »Selbstkontrolle«, »Selbstdisziplin«: »Macht« »über sich selbst« – der Solipsismus der bürgerlichen Robinsonade, des »autonomen Ich« – Freud hätte sich darüber lustig gemacht: »der dumme August«. Verleugnet wird hier der relationale Charakter der Macht. »Macht« ist definiert durch das Verhältnis auf weniger Macht. Macht ist immer Macht über andere, ein dichotomes Verhältnis von »Oben« und »Unten«, ein Verhältnis, das durch Ungleichheit bestimmt ist. Macht als »Selbstbestimmtheit«, als Macht über sich selbst, negiert diesen relationalen Charakter, die Bezogenheit, Angewiesenheit auf andere, die Abhängigkeit, die Relation des Mächtigen zum weniger Mächtigen. Macht als »Selbstbestimmtheit« verleugnet, dass der »Herr« den »Knecht« braucht. Wenn Macht verleugnet wird, so auch die Ungleichheit. Deshalb besteht die zweite Strategie der Verleugnung der Macht in der Verleugnung der Ungleichheit. Diese Verleugnung der Ungleichheit ist der Kern des bürgerlichen Phantasmas, die Ideologie der Gleichheit – auf dem Markt, die Gleichheit der Warenbesitzer, Warentauschenden. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«: die Parole der bürgerlichen Revolution, die Leugnung der Klassen(-Gesellschaft), die Ideologie der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, die Phrase von »alle sitzen in einem Boot«. Sicher ist diese Verleugnung auch in der Psychoanalyse endemisch, in jeder »allgemeinen« Theorie: in der Psychoanalyse als die »Gleichheit der uns allen gleichen Triebgrund-

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lage«, »begründet« im »tiefste(n) Wesen des Menschen«, in seinen »Triebregungen«, die »elementarer Natur« und »bei allen Menschen gleichartig« seien (Freud 1932, G. W. Bd. XVI, S. 21). Natürlich hat die Verleugnung der Macht etwas zu tun mit der Klassenlage und mit der ökonomischen Situation. Je besser diese ökonomische Situation ist, je weniger wir direkten oder sichtbaren Kontakt mit der Macht haben, desto eher können wir die Macht verleugnen, »vergessen«. Verleugnung der Macht als Spiegel der ökonomischen Prosperität und der klassenmäßigen Privilegierung. Umgekehrt tritt auch die Macht nicht so gern offen als Macht auf, sondern lieber als »Kultur«, in Prachtbauten und Prachtinszenierungen. Vor allem das Fernsehen mit seinen »Talkshows«, aber auch mit den »Nachrichten«-Sendungen, ist heute das bevorzugte Medium der Repräsentation der Macht, ihrer Inszenierung. Das hat sich mit dem 11. September 2001 wieder einmal geändert – auch in dieser Hinsicht ist dieser Tag ein Einschnitt, ein Wendepunkt: Die Macht zeigt sich offen. »Eigenartigerweise« begann die Inszenierung der Macht, die Darstellung, die Selbstenthüllung der ersten Macht der Welt, der »freien« Welt, mit der wieder und wieder gezeigten Zerstörung ihrer Symbole, der Twin Towers – die für viele erst durch diese Zerstörung (und die Darstellung der Zerstörung) zu diesen Symbolen geworden waren. Die Rolle des Fernsehens dabei ist unübersehbar. Die Botschaft war: Das war ein Angriff auf die Weltmacht, eine unerhörte Provokation, und: Die Macht »musste« »zurückschlagen« – ihr gehört die »unverbrüchliche Solidarität«. Die »Macht des Guten« musste den Krieg gegen die »Achse des Bösen« endlich aufnehmen. Das war die Botschaft nicht der »Terroristen«, sondern der Angegriffenen. Als solche sollten sich nicht nur die Mächtigen der USA, nicht nur »die Bevölkerung« der USA fühlen. Und die Macht des Guten ließ sich nicht lange bitten. Wir wurden aufgefordert, »unsere Herzen für Österreich-

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Ungarn« schlagen zu lassen, wie Freud im Juli 1914 sich in einem Brief an Karl Abraham ausgedrückt hatte.1 »Ich fühle mich aber vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher« (Freud 1914/1965, S. 180). Uns ist das bald vergangen. Es wurde uns durch diesen Krieg, den die »Macht des Guten« gegen die »Achse des Bösen« in Afghanistan begann, eher ausgetrieben, uns als »Amerikaner« zu fühlen. Sie, die Macht des Guten, hat in ihrer »infinite justice« zumindest die Zahl der »unschuldigen Opfer« verdoppelt, ja, wie wir inzwischen lesen können, vervielfacht. Dass sie, die »Macht des Guten« der »Macht des Bösen« schon lange vorausgegangen war, nicht zu vergessen. Sie fühlte sich in ihrer Kriegsführung durch kaum eine internationale Menschenrechtsvereinbarung eingeschränkt. Diese beeindruckte nur durch das Ausmaß ihrer Zerstörung. Sie erreichte das erklärte (behauptete) Ziel nicht. Und je weiter es sich im Unerreichbaren auflöste, desto mehr Zerstörung hinterließ sie, verlängerte dessen Fortführung in die Vorbereitung des nächsten Kriegs im Irak, mit Erpressungen, Täuschungen, Lügen, mit der Androhung von Völkerrechtsverletzungen (und -brüchen), die selbst die Gestalt eines Kriegs annahmen – gegen die Bevölkerung, auch die der »verbündeten« Länder. Dass diese Lügen bereits aufflogen, bevor sie ihre Wirkung tun konnten, dass die Drohungen so anmaßend waren, dass viele Regierungen sich lieber hinter die kriegsunwillige Bevölkerung stellten, als gegen diese aufzutreten – aus unterschiedlichen Gründen freilich –, ist wohl ein wichtiger Unterschied zu anderen, vorangegangenen Kriegen, anders als im Fall des Ersten Weltkriegs, anders als im Juli 1914, als Freud seine Libido auf der Seite von Österreich-Ungarn entdeckt hatte. Die »Kriegsbegeisterung« ist trotz gigantischer Irreführung der Medien und deren eigener Beteiligung an der Desinformation der Bevölkerung nicht herzustellen oder zu behaupten, selbst unter der Bevölkerung der 1 Brief an Karl Abraham vom 26. Juli 1914.

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kriegsentschlossenen Länder ist die Akzeptanz immer mehr geschwunden. 1914 wurde die Kriegerklärung Franz Josephs geglaubt, nicht obwohl, sondern gerade weil darin in erster Linie die »Ehre« verteidigt wurde, weil darin der Krieg zum Zweikampf erklärt wurde zwischen den Guten und den Bösen. Auch Freud war damals in diese Position verfallen ( Jones 1962, Bd. II, S. 207). Wie Erdheim (1982, S. 381) erklärt, hatte er »aus der Regression heraus die Weltpolitik als Variation seiner Familiengeschichte erlebt«. So war es ihm erschienen, als ob der Kaiser das nachgeholt hätte, was sein eigener Vater versäumt hatte: sich für die erlittene Demütigung zu rächen ( Jones 1962, Bd. I, S. 43). Kaiser Franz Joseph, der mächtige Vater, der seine Pflicht tut und zu den schwersten Opfern aufrief. Solch einen Vater zu haben, musste die Söhne mit Stolz erfüllen und sie danach streben lassen, wie er zu werden und die Dinge so zu sehen wie er (Erdheim 1982, S. 381). Freud habe allerdings immerhin ein Jahr danach, noch bevor sich die Kritik am Krieg zu regen begonnen hatte, erkannt, dass er einem Phantasma aufgesessen war, dem »Phantasma der Herrschaft«, wie Erdheim dies beschreibt: Das Phantasma (des guten Herrschers) schaffe die Illusion, man könne sich auf die Herrschaft verlassen, sie werde das Gute tun, sie werde einen, wie einst vom Vater erhofft – und enttäuscht, beschützen (S. 384). Als Phantasmen der Herrschaft bezeichnet Erdheim »die legitimationsstiftenden Bilder, in welchen Herrschaft bewußtseinsfähig wird« (S. 372). Sie werden durch die Größen- und Allmachtsfantasien produziert, »die sich im Phänomen der Herrschaft kristallisieren«, durch die Faszination, die sie ausübt (S. 373). Sie ermöglichen eine »magische Partizipation an der Macht«, die aggressionshemmend wirkt (S. 372). Durch sie werden jene Aggressionen (der Beherrschten) gehemmt, die aus den kränkenden und erniedrigenden Aspekten des Lebens der Beherrschten herrühren (S. 376). Sie stehen also »im Dienste der Unbewußtmachung

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der Voraussetzungen der Herrschaft« (S. 373). Es müssen diejenigen Wahrnehmungen ins Unbewusste verdrängt werden, die – würden sie Teil des Bewusstseins bilden – die Individuen zu einer Veränderung ihrer Situation veranlassen könnten (S. 377). Auf dieser »Unbewußtmachung der Voraussetzungen der Herrschaft« beruhe der »Legitimationsglaube, aus dem der Konsens zwischen Herrscher und Beherrschten in Klassengesellschaften erwächst« (S. 376). »An sich völlig unglaubhaft erscheinende Rechtfertigungsversuche einer herrschenden Klasse werden geglaubt, weil sie die unannehmbare Realität verdrängen helfen, die Flucht in die Illusion erlauben und die Größen- und Allmachtsphantasien der Unterworfenen ›erlösen‹« (S. 377). Adler allerdings hatte 1919 eine etwas andere Erklärung des Verhaltens des »Volkes« im Ersten Weltkrieg vorgeschlagen, nicht mit einem »Phantasma der guten Macht«, sondern sozusagen mit einem »Phantasma« (Adler: »Fiktion«) der eigenen Macht, indem es die Parolen der Macht als eigene ausgab: Das Volk, das sich »aller Freiheit und Menschenrechte beraubt« gesehen habe (Adler 1919a, S. 5), habe versucht, »aus der Schande seiner Entehrung sich unter die Fahne seines Bedrückers zu retten« (S. 16) »und tat so, als ob« es »die Parole zum Krieg ausgegeben hätte« (S. 15). Für Adler scheint es nicht so sehr darum zu gehen, die Macht als Vater zu fantasieren, dem man vertrauen könne, auf den man stolz sein könnte, sondern vielmehr darum, sich selbst als Herr seines Tuns zu fühlen. »Unbewußt gemacht« werden soll nach Adler nicht in erster Linie die Bedrückung durch die Macht, sondern – »die Schande der Entehrung« – eine »falsche Scham«, wie Adler festhält (S. 13). Die Möglichkeit dazu (sich aus der Schande der Entehrung zu retten) lag 1914 darin, so zu tun, als habe man die Parole zum Krieg, die Parole der entehrenden Macht, selbst ausgegeben, »als ob« man Herr seines Tuns sei. »Nun waren es nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, – nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre!« (S. 14). Denn sie sind ja ih-

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rer eigenen Parole gefolgt. Ihr Folgen konnten sie sich als »selbstbestimmtes« umdeuten. Und da sie »hohe Ziele« verfolgten, »Ehre« und »Vaterland«, wurden sie zu »Helden«. »In dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung, in diesem krampfhaften Versuch, sich selbst wieder zu finden, wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein, und träumten lieber von selbstgewollten und selbstgesuchten Heldentaten« (S. 14). Nicht träumten sie von eigenen Heldentaten, statt sie zu vollbringen, sie träumten, während sie sie vollbrachten, was – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – Heldentaten genannt wurde. »Traum« und »Wirklichkeit« stimmten überein. Der Traum, das Denken der Subjekte hat den Diskurs der Macht »geschluckt«, den »Gott des Generalstabs«, und der »spricht nun aus ihm« (S. 14). »Nun hatte er [der Träumer] wenigstens einen Halt und war der Schande und des Gefühls seiner Erbärmlichkeit ledig« (S. 15). Das Gefühl der Ohnmacht, die beschämende Erkenntnis, nur armseliges Opfer fremder Machtgelüste zu sein, nur den Willen der Macht auszuführen, wird durch das Gefühl von eigener Macht abzuwehren versucht, die die Zustimmung zur Parole der Macht verschafft – Macht über sich selbst, über die eigene Entscheidung. Macht, die aus der Position kommt, von der aus die Parole zum Krieg ausgegeben wird, die man illusorisch einnimmt. Gleichzeitig bieten die Parolen der Macht, die »Gründe« für die Zustimmung zum Krieg, die Möglichkeit, das eigene Streben nach (illusorischer) Macht, das aus der Verleugnung der Schande kommt, als Streben nach Vollkommenheit, für Ehre, Recht und Vaterland darzustellen; durch diese »Gegenfiktionen« das Streben nach Macht zu verleugnen. Dieser Wunsch (nach eigener Macht, der Fiktion eigener Macht, Souveränität und Selbstbestimmung) ist es, der durch die Kriegsrhetorik ausgebeutet wird. Insofern stimmt es auch wieder, dass die Kriegsrhetorik geglaubt wird, weil sie die Möglichkeit gibt, die elenden Be-

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dingungen des eigenen Lebens zu vergessen, »unbewußt zu machen«. Aber es ist hier nicht »die Verleugnung der Realität der Macht durch die Beherrschten« (Erdheim 1982, S. 433), im Gegenteil, diese wird affirmiert. Es ist vielmehr die Verleugnung der eigenen Ohnmacht, der Demütigung durch die Macht. Mit der Übernahme der Parole der Macht wird diese selbst nicht verleugnet – ebenso wenig wie mit dem Phantasma der »guten« Macht. Verleugnet wird die Unterordnung unter die Macht. Diese Unterordnung unter die Macht wird im Phantasma der (»guten«) Macht nicht verleugnet. Aber diese Unterordnung ist nur »in der Regression« möglich: im Kinderglauben an den »Altruismus der Macht«, das Gute – für die Untergebenen, die Unterworfenen, für die Machtlosen – zu wollen. Was passiert, wenn die Regression aufgehoben ist, wenn wir aus dem Phantasma der guten Macht aufgewacht sind, desillusioniert? Können wir die Unterordnung dann noch ertragen, unsere Zustimmung dann noch vertreten, oder »müssen« wir sie dann nicht verleugnen? Und: »Müssen« wir dann nicht der Parole der Macht zustimmen – und unsere Zustimmung verleugnen? In dem Maß, wie für Freud das Phantasma zerfiel, schreibt Erdheim, sei auch für ihn die Heuchelei der Macht wieder sichtbar geworden, mit deren Hilfe die Gewalt legitimiert worden war (Erdheim 1982, S. 383): »einseitig unterrichtet … werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen und an dem Werte der Urteile, die wir bilden« (Freud 1915, G. W. Bd. X, S. 324). Nachdem dieser Mechanismus der Verdrängung dessen, was man tatsächlich erfährt, zugunsten dessen, was im Dienst der Legitimation der Herrschaft erfahren werden sollte, außer Kraft gesetzt war, war Freuds Kritik an der Macht, am Staat unerbittlich: »Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege (1914) mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht

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weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten List, sondern auch der bewußten Lüge und des absichtlichen Betrugs gegen den Feind … Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Übermaß an Verheimlichung und eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche die Stimmung der so intellektuell Unterdrückten wehrlos macht gegen jede ungünstige Situation und jedes wüste Gerücht. Er löst sich los von Zusicherungen und Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll« (Freud 1915, G. W. Bd. X, S. 329f.). Trotz dieser eindeutigen Kritik am Verhalten des Staates im Krieg hat sich Freud keineswegs vom Phantasma der Macht befreit. Zunächst: Im »Unbehagen in der Kultur« (1930), das nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit der Frage gewidmet ist, »in welcher Weise die Beziehungen der Menschen zueinander, die sozialen Beziehungen, geregelt sind« (S. 454), wird die Kritik am Verhalten des Staates im Krieg nicht mehr aufgegriffen. Fast müsste man sagen, der Staat sei völlig aus Freuds Blick verschwunden, wenn er nicht als eine unter anderen Formen der »sozialen Beziehungen« mitgenannt würde (S. 454). Stattdessen wird jetzt die »Gemeinschaft« dem »Einzelnen« entgegengestellt. »Macht« erscheint nun in Gestalt der »Macht der Gemeinschaft«, die als »Recht« der »Macht des Einzelnen« entgegengesetzt wird, die »als ›rohe Gewalt‹ verurteilt wird«. »Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft« sei »der entscheidende kulturelle Schritt« (S. 455). Durch sie (durch diese Ersetzung) werde die »rohe Gewalt« (der Macht) des Einzelnen in Schranken gewiesen. 1915 hatte Freud noch festgehalten: »Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege gemacht: die geringe

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Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat« (Freud 1915, G. W. Bd. X, S. 331). 1930, als der Krieg vorbei war und die »geringe Sittlichkeit der Staaten« nicht mehr vor Augen führen konnte, hat Freud offenbar nur noch »die Brutalität im Benehmen der Einzelnen« im Blick. Diese steht jetzt nur noch dem »Recht« der Gemeinschaft gegenüber, die »Befriedigungsmöglichkeiten« des Einzelnen einzuschränken, den »Triebverzicht« vom Einzelnen zu fordern, auf dem die Kultur »aufgebaut« ist, die »Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben« (S. 457). »Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem« sei, »daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, … sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf« (S. 470). Diese ist begründet, nicht in der »geringen Sittlichkeit des Staates«, sondern im »tiefste(n) Wesen des Menschen«, in seinen – destruktiven – Triebregungen, die »elementarer Natur« und »bei allen Menschen gleichartig« sind (Freud 1932, G. W. Bd. XVI, S. 21). In dieser Gleichheit der Triebgrundlage, die verantwortlich gemacht wird für das »Benehmen des Einzelnen«, wird nicht nur das »Benehmen« des Staates als Grundlage (der Aggressivität des Einzelnen) aus dem Blick geschafft und der Verantwortung entzogen (und damit legitimiert), sondern die tatsächliche Ungleichheit, wenn nicht der »Triebgrundlage«, sondern der »erreichbaren Befriedigungsmittel« dieser »Triebe« (Erdheim 1982, S. 390) verleugnet. So übergeht Freud, dass die Art der Triebbefriedigung und Triebbewältigung nicht nur abhängig ist von der Stärke der Triebregung, sondern auch von den erreichbaren Befriedigungsmitteln – wie Erdheim einwendet (S. 390). Diese »erreichbaren Befriedigungsmittel« sind gesellschaftlich reglementiert und unterscheiden sich je nach sozialem Ort,

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kurz, sie sind ungleich verteilt zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft. Angesichts der angeblichen Gleichheit der »in jedem von uns« vorhandenen Triebgrundlage verschwindet diese Ungleichheit, diese Differenz des »sozialen Orts«, ebenso wie die Differenz zwischen dem Handeln des Staates, der »das Unrecht monopolisiert und dem Handeln des Einzelnen, von dem der Staat Gehorsam fordert«, der ihn »entmündigt«, und »wehrlos macht« (Freud 1915, G. W. Bd. X, S. 329). Das heißt aber: Der Rekurs Freuds auf die allen Menschen gleichartigen elementaren destruktiven Triebregungen kann gerade diese Differenz nicht erklären, die ihr zugrunde liegende Ungleichheit, die Ungleichheit zwischen Staat und Bürger, Obrigkeit und Untertan, die politische und gesellschaftliche Macht. Das Auslöschen der Differenz zwischen Staat und Einzelnem, zwischen herrschenden und beherrschten Klassen, das Auslöschen von Ungleichheit und Macht: Liegt darin der Sinn des Verweises auf die allen gemeinsame Triebgrundlage, der Sinn jeder allgemeinen Psychologie, damit auch der Triebtheorie, der sich »hinter dem Rücken« des Theoretikers (Freuds) Geltung und Funktion verschafft? Freuds Enttäuschung über »die Grausamkeiten und Rechtsverletzungen, deren sich die zivilisiertesten Nationen schuldig machen, die verschiedene Art, wie sie die eigenen Lügen, das eigene Unrecht und das der Feinde beurteilen«, führt ihn also nicht dazu, sondern bestätigt ihn in seiner Annahme, »in welchem Maße die Psychoanalyse Recht hat« (Brief Freuds an Frederik Eeden, 1914, einige Monate nach Kriegsbeginn; zit. n. Jones 1962, Bd. II, S. 434). Und: Recht hat sie nach Freuds Überzeugung nicht nur in der Annahme der uns allen gemeinsamen Triebausstattung als Grundlage unseres Verhaltens wie das der Staaten, sondern darüber hinaus darin, »daß in jedem von uns die ursprünglichsten Antriebe des Menschen niemals beseitigt sein werden« (S. 434). Und deshalb auch nicht die Kriege, wie Freud im Brief an Einstein 1932 schlussfolgert.

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In diesem Brief an Einstein benützt Freud dieses Argument, dass etwas »niemals beseitigt sein« werde, weil »im tiefsten Wesen des Menschen« begründet, nicht nur für die »menschliche Aggression«, sondern zugleich auch für die gesellschaftliche Ungleichheit. Auch diese sei »nicht zu beseitigen«, weil »angeboren«. Freud behauptet tatsächlich, es sei angeboren, »daß sie in Führer und Abhängige zerfallen«. »Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen« (Freud 1932, G. W. Bd. XVI, S. 24). Wieder haben wir die Behauptung, dies sei »nicht zu beseitigen«. Mit dieser Behauptung kommt Freud dem immanenten Zusammenhang zwischen Grausamkeit und Ungleichheit gefährlich nahe; man könnte wohl sagen: Solange die Ungleichheit nicht beseitigt sein wird, wird auch die Grausamkeit nicht zu beseitigen sein. Und auch: Gegen die Versuche der Beseitigung der Ungleichheit tritt die Grausamkeit auf den Plan (Niederschlagung der Revolten). Nur: So ist das bei Freud nicht gemeint. Er sagt im Gegenteil ausdrücklich, es sei eine »Illusion«, zu glauben, »die menschliche Aggression zum Verschwinden bringen [zu] können« durch »die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse« und Herstellung der »Gleichheit unter den Teilnehmern an der Gemeinschaft« (S. 23). Natürlich hat sich Freud damit in heillose Widersprüche verwickelt, wenn er behauptet, dass sowohl die Ungleichheit zwischen »Autorität« und »Abhängigen« nicht aufzuheben sei, weil ebenso »angeboren« wie die Gleichheit der Triebgrundlage – »unter den Teilnehmern an der Gemeinschaft«, die der Grund der Gewalttätigkeit sowohl von »Autorität« wie von »Abhängigen«, des Staates wie der Einzelnen sein soll. Aber diesen Widerspruch nimmt er wohl in Kauf, weil er sich des Arguments der »Unaufhebbarkeit« versichert hat. Es gehört zum Diskurs der Macht, dass sie als »unaufhebbar« dargestellt wird. Freud trägt seine Argumente zu diesem Diskurs bei: das Argument der »Unaufhebbarkeit« der

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»Triebtheorie«. Indem die Aggression als »unaufhebbar« erklärt wird, wird dies auch die Macht, das fundamentum in re der Triebtheorie und zugleich ihre »Agenda«: die Bedingungen der Entstehung von Aggression von der Macht auf die (Triebgrundlage der) Subjekte zu verschieben. Das ist die Unbewusstmachung der Entstehung von Aggression: durch die Unbewusstmachung ihrer Gründe, der Macht und Herrschaft, der Aggression der Herrschenden gegen die Beherrschten. Also ist Freud doch wieder beim Phantasma der Macht gelandet, hat Freud uns doch wieder zum Phantasma der Macht zurückgeführt. Allerdings mit einem Unterschied: Es ist nicht mehr nur das Phantasma der »guten Macht«, das er uns zeigt, sondern der Macht schlechthin, ihrer Unaufhebbarkeit. Und dieser Macht, die nicht mehr als »gute« Macht von der »schlechten« Macht unterschieden wird, wird die »zivilisatorische« Aufgabe der Zähmung der aggressiven Triebe zugewiesen – was »eines der Hauptprobleme der Kultur« (Freud 1930, G. W. Bd. XIV) sei. Wie der Krieg aber in aller Destruktivität vor Augen geführt hat, ist es umgekehrt die Macht, die erst das »Hauptproblem der Kultur« produziert, das sie zu bewältigen sie sich als berufen darstellt. Sie schafft die Aggressivität, die Gewalttätigkeit der Unterdrückten, indem sie Unterdrückte produziert – Abhängigkeit, Armut, Hunger, Elend und Not –, man muss nur einen Blick auf die gegenwärtigen Herde von Unterdrückung und Krieg werfen. Und wenn sich die Unterdrückten dagegen wehren, wird man das »Aggression und Gewalt« nennen, und das, obwohl ihre Unterdrückung selbst die Gestalt von Aggression und Gewalttätigkeit angenommen hatte: in Gestalt der Zerstörung durch Krieg oder in Gestalt »struktureller Gewalt«, in der Durchsetzung der Programme des »Neoliberalismus« und der »Globalisierung«. Derrida (1993, S. 131) schreckt nicht davor zurück, in diesem Zusammenhang von »Bürgerkrieg« zu sprechen, einem »internationalen Bürgerkrieg«, in dem die »neue Weltordnung« heute ihren Neo-Kapitalis-

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mus zu installieren versucht (S. 67). In einem »Zehn-Punkte-Telegramm« hält er das Gedächtnis über die »Wunden« dieses Bürgerkriegs wach: 1. »Die Arbeitslosigkeit, die ›neue Armut‹«: Diese »reguläre Störung eines neuen Marktes, neuer Technologien, einer neuen weltweiten Wettbewerbsfähigkeit« werde »größtenteils verleugnet«, 2. »Der massive Ausschluß obdachloser Bürger von jeder Teilnahme am demokratischen Leben der Staaten, die Ausweisung oder Abschiebung so vieler Exilanten, Staatenlosen und Immigranten«, 3. »Der gnadenlose Wirtschaftskrieg«, der »alles beherrscht«, 4. »Die Unfähigkeit, die Widersprüche im Begriff, in den Normen und in der Realität des liberalen Marktes zu meistern«, 5. »Die Vergrößerung der Auslandsschulden« treibt »einen großen Teil der Menschheit in Hunger und Verzweiflung«, 6. »Rüstungsindustrie und Waffenhandel … sind in die normale Steuerung der wissenschaftlichen Forschung, der Wirtschaft und der Kollektivierung der Arbeit in den abendländischen Demokratien eingeschrieben«, 7. »Die Ausweitung … der atomaren Bewaffnung«, 8. »Die interethnischen Kriege«, 9. »Kapitalistische ›Phantom-Staaten‹ der Mafia und des Drogenkonsortiums überwuchern nicht nur das sozioökonomische Gewebe, die allgemeine Zirkulation des Kapitals, sondern auch die staatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen«, 10. »Der Zustand des internationalen Rechts; die Ungleichheit der Staaten vor dem Gesetz«; »die Hegemonie bestimmter Staaten über die militärische Macht im Dienst des internationalen Rechts« (Derrida 1993, S. 133ff.). Aber gerade weil die Macht nicht nur das »Hauptproblem der Kultur« erst produziert, sondern zugleich auch alle anderen Probleme (die »Ursachen« des von Freud als »Haupt-

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problem« bezeichneten), gerade deshalb scheint es auch zu stimmen, dass Macht »notwendig« ist: »die übergroße Mehrheit« bedürfe »einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt« (Freud 1932, G. W. Bd. XVI, S. 24) – nachdem sie diesen zunächst die Mittel und dann auch die Fähigkeit dazu genommen hat (was Freud schweigend übergeht). Die »Mehrheit« bedarf der »Autorität« (der Macht) wegen jener von der Macht erst produzierten Folgen, um die Aggressivität der Unterdrückten wiederum zu unterdrücken, die Zerstörung (der Kultur) wieder zu »reparieren«, zu kompensieren. In diesem Sinn ist Macht »notwendig« – nachdem sie auf den Plan getreten ist, nachdem sie zerstört hat, was sie vorfand, nachdem sie die Subjekte ihrer eigenen Macht enteignet hat. Dann erfüllt die Macht auch Funktionen für die Unterlegenen – anders würde sie sich nicht auf Dauer halten können. Gewiss bringt sie dabei Kulturleistungen hervor (aber wer bringt sie tatsächlich hervor – »Wer baute das siebentorige Theben?«, fragt Brechts lesender Arbeiter), die sogar noch die vorher zerstörten übertreffen mögen. Und indem sie »neu« aufbaut, was sie vorher zerstört hatte – wie das in den letzten Kriegen bereits von vornherein und offen geplant wird, und wozu wir dann auch gleich zu Spenden aufgerufen werden –, indem sie den Subjekten »zurückgibt«, was sie ihnen vorher genommen, ist sie »notwendig«, erbringt sie »notwendige« »Kulturleistungen«. Aber die Macht gibt den Beherrschten nicht alles zurück, was sie ihnen genommen hatte. Ihre »Gaben« sind nicht der bloßen Notwendigkeit der Kompensation vorheriger Zerstörung von Kulturleistungen geschuldet, sondern immer zugleich dem eigenen Interesse an einem »Surplus«. Die Macht behält von dem, was sie den Beherrschten gibt, ihren Tribut ein: an Reichtum und Freiheit, den die Macht für den weiteren Ausbau ihrer Macht verbraucht. Indem sie damit ihre Macht vergrößert, vergrößert sie zugleich auch die Ohnmacht der Unterworfenen. Macht produziert (weitere) Macht, Vergrößerung der

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Macht (und damit Ohnmacht der Beherrschten). Das ist zugleich ihr »Sinn«, der »Sinn« der Macht, darin liegt ihre »Notwendigkeit«, ihr »Gesetz«, ihr »Telos«. Ihr Ziel ist, »sich als Allmacht zu realisieren«. »Die Macht beschränkt sich nicht von selbst« (Lipowatz 1982, S. 145ff.). Die »souveräne« Macht ist souverän gegenüber den ihr Unterworfenen, unabhängig von ihnen, von ihrem »Willen«: die Definition von Max Weber: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (Weber 1922). Sie ist ungebunden durch ihre Gesetze und Organe, »Zusicherungen und Verträge«. Diese »Emanzipation der Macht« (Brückner 1978) ist aber zugleich ein nie erreichtes Ziel, sie muss den »Willen« der Bevölkerung »berücksichtigen«, was nicht heißt, ihm zu folgen, sondern ihn »interpretieren«, ihre (eigenen) Handlungen als die Erfüllung des Willens der Bevölkerung darstellen, »verständlich machen«, und damit letztlich: den Willen der Bevölkerung »mit« gestalten, formen, allererst herstellen. Die Herstellung der – zustimmenden – »Mehrheit«, des »Willens« der »Bevölkerung« (und damit zugleich die Herstellung von »Bevölkerung« selbst: Brückner 1978) durch dessen gleichzeitige Berücksichtigung dessen, was die Macht vorher hergestellt hatte, ist die Funktion des politischen Diskurses, des Diskurses der Macht, seine »performative« Funktion. In diesem Diskurs spricht die Macht nicht nur mit einer Stimme, denn die »Bevölkerung« besteht nicht aus nur einem Ohr (Klassen). Es geht darum, sie alle anzusprechen, sich allen verständlich zu machen, ihren Willen formend zu berücksichtigen. Wenn auch die Vielfalt der Stimmen zugleich auch die Rivalität der Machtgruppen zum Ausdruck bringt, die natürlich auch miteinander um die Gunst des Wählers buhlen, verlassen sie jedoch nie die »Gemeinsamkeit der Demokraten«, den »Grundkonsens« der Macht – und wenn sich einer anbietet, dem man den Vorwurf, diesen

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Grundkonsens der Macht verlassen zu haben, machen könnte, wird an ihm vorgeführt, wie es denen geht, die dies wagen sollten. Es geht darum, die Bevölkerung einzuschüchtern, indem man der Opposition eins aufs Dach gibt (Agnoli 1968). In dieser Inszenierung von Differenz und Opposition wird die »fundamentale« Differenz zwischen Macht und Unterworfenen »versteckt«: Eines der Grundprinzipien des Diskurses der Macht ist das »Verstecken durch Zeigen« (Bourdieu 1996, S. 24ff.). »Verstecken durch Zeigen«: Ist das auch das Prinzip des freudschen Diskurses? Er zeigt uns: unsere Aggressivität als triebbestimmt, er versteckt damit: ihre Machtbestimmtheit. Das ist auch die Funktion des Phantasmas der Macht: die Realität der Herrschaft unbewusst zu machen, zu verstecken. »Verstecken durch Zeigen« ist das Prinzip des Diskurses der Macht, und zwar seiner performativen Funktion. Der performative Akt stellt das her, was er behauptet, indem er es behauptet. Dass die Macht behauptet, sie übe ihre Macht aus, ist bereits ihre Ausübung, ihre »Performanz«, das Prinzip der Macht selbst, ihrer Erweiterung. Die Macht stellt sich dadurch her. Diese Behauptung der Macht wird aber nicht durch sich selbst realisiert, sondern dadurch, dass die von ihr auf diese Weise Angesprochenen sich entsprechend verhalten, die Behauptung realisieren, indem sie sich der Macht unterwerfen. Sie unterwerfen sich der Macht, indem sie deren Behauptung Folge leisten, und darin entsteht die Abhängigkeit der Macht vom Willen ihrer Bevölkerung. Nicht »Macht« und »Ohnmacht« sind die beiden Positionen oder Haltungen im (Sprach-)Spiel der Performanz der Macht, sondern Macht und Unterwerfung, Behauptung der Macht und Akzeptierung der Behauptung, die Zustimmung zur Behauptung der Macht, zu ihrem Diskurs. Die Zustimmung zum Diskurs der Macht ist eine Entscheidung – Macht kommt von unten, sagt Foucault –, denn es gibt im Sprachspiel der Behauptung ja immer auch die andere Möglichkeit: die der Verweigerung der Zustimmung.

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Für die Entscheidung zur Zustimmung muss es Gründe geben. Diese Gründe zu liefern ist die Aufgabe des Diskurses der Macht. Damit bleibt der Sich-Entscheidende im Sprachspiel dieses Diskurses, aber zugleich ist es »nur« ein Spiel: das Spiel mit Begründungen, nicht von Gründen. Diese Entscheidung zur Zustimmung zum Diskurs der Macht ist aber – meist – anderen Gründen zu verdanken, jenseits des Sprachspiels, nämlich der »Lebenswelt«. In unseren (westlichen, kapitalistischen) Gesellschaften liefert der Markt, die Teilhabe am Konsum samt den damit verbundenen »kulturellen« Bedeutungen, die Gründe für die Zustimmung zu den Behauptungen der Macht: »die materiellen Gratifikationen für die Zustimmung zum System« (Brückner 1978, S. 120ff.). Bleiben diese aus, in Zeiten der Krise oder wenn die Krise sichtbar wird, wenn Anteile der Bevölkerung »überflüssig«, existenzlos geworden sind, dann bildet sich auch der Konsens, die Zustimmung zum System zurück (Brückner) – und muss erneut hergestellt werden. Die Begründungen, die der Diskurs der Macht anbietet, sind also Rationalisierungen für die durch die Teilhabe am Konsum und mit dieser gegebenen Zustimmung der Bevölkerung zum Diskurs der Macht. Die Funktion dieser Begründungen ist es, diese tatsächlichen Gründe »unbewusst« zu machen – die Funktion des Phantasmas der Macht. Wir können also zwei Ebenen unterscheiden: die »offiziellen« (»öffentlichen«) Begründungen des Verhaltens (die der Diskurs der Macht anbietet), »was man so sagt« und die inoffiziellen, »privaten« (nicht veröffentlichten, nicht diskutierten, »unbewussten« oder verleugneten) Gründe, individuellen Motive, »was man nicht sagt, nicht sagen darf«. Im vorliegenden Kontext liegt es nahe, diese zwei Ebenen mit (dem Diskurs) der Macht in Verbindung zu bringen. Die Macht »zwingt« zum Verschweigen, zur Täuschung, zur Lüge, zur Verleugnung, zur »Unbewusstmachung« oder andersherum: so zu tun, »als ob« man dem Diskurs der Macht zustimmte, als ob dessen Begründungen die Motive für das eigene Verhalten seien, ist der Versuch der Beherrschten, im

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Angesicht der Macht zu leben, sich als Subjekt des eigenen Handelns zu behaupten. Diese »Doppelbödigkeit« (»Doppelzüngigkeit«) von Sprechen und Handeln, von Begründung und Grund wird oft als Charakteristikum des »erwachsenen« Verhaltens betrachtet. Dieser »Dualismus« durchzieht das gesamte begriffliche Denken, wenngleich die Notwendigkeit der Verdopplung angesichts der Macht nicht immer so explizit ist. Auch Freuds Denken thematisiert diesen Doppelcharakter in seinen Gegenüberstellungen von »Lustprinzip« – »Realitätsprinzip«, »Lebenstrieb« – »Todestrieb«, »bewußt« – »unbewußt«. Warum hat er im Fall der Macht diesen Dualismus preisgegeben? Den Dualismus von gesellschaftlicher Macht (Verhältnis) und persönlicher Macht (Beziehung). Man könnte einwenden: Freud habe das »Entwederoder« des »binären« Denkens ersetzt durch das »Sowohlals-auch« der »Ambivalenz«: Das Lustprinzip setzt sich nicht gegen das Realitätsprinzip, sondern nur mit seiner Hilfe durch; wie sich gesellschaftliche Macht auf der Ebene der persönlichen Macht durchsetzt, mittels Personen exekutiert wird (wie umgekehrt persönliche Macht innerhalb der Strukturen der gesellschaftlichen agiert). Aber deshalb hat Freud nie Lustprinzip und Realitätsprinzip gleichgesetzt, nie bringt er ihre Differenz zum Verschwinden – wie im Fall der Macht. Das Phantasma der Macht besteht ja gerade in der Negierung dieser Differenz. Es reduziert gesellschaftliche Verhältnisse auf die eine Dimension der persönlichen Beziehung. Die – persönliche – Macht des Vaters wird in das gesellschaftliche Machtverhältnis des Kaisers »übertragen«. Warum hat Freud, nachdem er dieses Phantasma durchschaut hatte, den Mechanismus des Phantasmas, sein »Argument« beibehalten: die Leugnung dieser Differenz zwischen persönlicher Macht-Beziehung und gesellschaftlichem MachtVerhältnis? Er hat diese Differenz zum Verschwinden gebracht in der »uns allen gemeinsamen« Triebgrundlage und hat die Rolle der Macht verkehrt, indem er die an ihr festge-

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stellte »Monopolisierung des Unrechts« zu ihrer »zivilisatorischen« Funktion (v)erklärt, sie müsse diesen Trieb zähmen, was nichts anderes ist als die Legitimation der Macht, ihres Gewalt-Monopols. Eine Erklärung wäre in der Macht selbst zu suchen, dass sie selbst den Doppelcharakter des Diskurses, die Differenz von Begründung und Grund zum Verschwinden bringt. Die – persönlichen – Beziehungen nehmen den Charakter, die Qualität von – abstrakten – Verhältnissen an (Marx), den Charakter von Macht-Verhältnissen. Die Vergrößerung der Macht bedeutet zugleich ihr Eindringen in bisher »machtferne« Bereiche (Brückner), in die Bereiche des Sozialen (»civil society«), der Familie, des Privaten, der »Beziehungen«. Und die Vergrößerung der Macht geschieht zugleich durch dieses Eindringen. Sie pfropft sich sozusagen auf auf die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Prozesse. Sie prägt ihnen ihre Macht-Form auf, bringt sie als Macht-Prozesse hervor, als durch die Macht hervorgebrachte Prozesse und ihre Produkte als Produkte der Macht. Damit verändert sie deren Charakter. Sie macht aus dem Mittel zur Reproduktion des Lebens ein Mittel zur Reproduktion der Macht, sie macht aus den Leistungen der Kultur einen Ausdruck (der Darstellung, Repräsentation) der Macht (»Ästhetik der Macht«). Macht zieht nicht nur den »Mehrwert« ab, den sie für die Erweiterung ihrer Macht verbraucht. Sie geht bereits in die Form der von ihr geschaffenen Kulturleistungen und Beziehungen selbst ein, bestimmt diese, verändert ihre Gestalt, ihre Bedeutung. Diese nehmen die Aufgabe, den Geist der Macht in sich auf. Es verschwindet die Differenz von persönlicher (Macht-)Beziehung und abstraktem (Macht-)Verhältnis in der einen Dimension der Macht(-Verhältnisse). Die gesellschaftlichen Prozesse, die persönlichen Beziehungen selbst werden in ihrer Eigenständigkeit zum Verschwinden gebracht. Der »Inhalt« der Beziehungen verschwindet hinter der »Form« der Macht-Verhältnisse. Die »Form« macht sich selbstständig, »emanzipiert« sich: »Emanzipation der Macht«.

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Macht scheint es danach »überall« zu geben, auch in den persönlichen Beziehungen. Macht scheint es »schon immer« gegeben zu haben. Und was es »überall« und »immer« schon gegeben zu haben scheint, erscheint als »notwendig«, und was als »notwendig« erscheint, von dem sagt (nicht nur) Hegel, es sei auch »gut«, »vernünftig«. Damit hätten wir den Zirkelschluss der Affirmation der Macht durchlaufen, den das Denken vollführt, das Denken der Macht, der Emanzipation der Macht. Auch das freudsche Denken zeigt sich von dem Sog dieses Zirkels nicht unberührt. Gleichzeitig ist diese »Emanzipation der Macht« bloßer »Schein«, der Schein, der sich selbstständig gemacht hat: Simulakrum (Baudrillard 1976, S 77ff.), weil Macht auf die Zustimmung der Subjekte angewiesen ist und deshalb immer auch mit Ablehnung, Verweigerung und Widerstand rechnen muss. Und deshalb ist es bereits eine Zustimmung zum Diskurs der Macht, die Emanzipation der Macht zu denken, handelt es sich tatsächlich um Affirmation. Die Macht »zwingt« die Subjekte zur Zustimmung, will sie zwingen, aber die Subjekte müssen trotzdem ihre Zustimmung geben, zu den Argumenten des Diskurses der Macht. Indem sie diesen zustimmen, sie übernehmen, »unterwerfen« sie sich ihnen – »freiwillig«, »wider besseres Wissen« – welches sie »verdrängen«, »unbewusst machen«. Sie »subjektivieren« sich (Foucault 1982, S. 209), machen sich zu »Subjekten« der Macht, der Macht »unterworfene« (assujettierte). Insofern stellt sich im Diskurs der Macht Subjektivität der Subjekte erst her (Foucault). Aber es ist das Ergebnis der Zustimmung der Subjekte, die ihre Subjektivität bildet, und des »Vergessens« dieser Zustimmung. Sie vergessen, dass sie es selbst waren, die zugestimmt haben. Und: Sie »vergessen« die Gründe, aus denen heraus sie zugestimmt haben, machen sie »unbewusst«, die Gründe hinter den Begründungen. Zustimmung zum Diskurs der Macht ist das Thema Adlers. Wir haben bei Adler die Theorie des – kompensatorischen – Machtstrebens aus Ohnmachts-(»Minderwertig-

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keits-«)Gefühlen. Dieses Streben nach Macht und Überlegenheit ist insofern eine Zustimmung zum Diskurs der Macht, als dieses mein Verhalten, Denken und Fühlen orientiert, als ich seine Vorgaben für mich übernehme. Ich tue das aus einem Gefühl der Ohnmacht, das ich dadurch zu überwinden hoffe, aber ich »vergesse« in diesem selben Moment, dass ich die Strategie der Überwindung der Ohnmacht von der Macht übernehme. Adler zeigt die vielfältigen Strategien, mit denen wir versuchen, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, indem wir selbst nach Macht streben. Die Kniffe der Selbsttäuschung, Verkennung, Tarnung, der Lüge, das So-Tun-als-ob, der Selbstdarstellung, Verstellung, des Sich-über-andere-Erhebens, des Andere-Entwertens, geben uns zwar das Gefühl, ihnen überlegen zu sein, das Gefühl, stärker, mächtiger als sie zu sein, Macht über sie zu haben. Aber damit übernehmen wir die Orientierung an der Struktur von Unterlegenheit und Überlegenheit, die die Macht uns vorgibt. Wir affirmieren diese damit. Und damit erreichen wir nichts anderes, als uns unsere Unterlegenheit und Ohnmacht zu verbergen. Dieses Streben nach Macht, mit dem die Verletzung des anderen verbunden ist, seine Kränkung, Demütigung, diese Aggression ist für Adler nicht in einem Aggressionstrieb verankert, sondern gerade im Diskurs der Macht, der das Streben nach Macht anstachelt, und damit die Aggression, im Gefühl der Ohnmacht, »Minderwertigkeit«, das die Macht bei den ihr Unterlegenen hervorruft und dem sie die Perspektive ihrer Überwindung durch dieses Streben nach Macht weist; »die Züge von Herrschsucht, Ehrgeiz und Machtstreben über den anderen samt ihrer Fülle von häßlichen Begleiterscheinungen [sind] nicht angeboren und unabänderlich … Sie werden vielmehr dem Kinde frühzeitig eingeimpft, das Kind empfängt sie willenlos aus einer Atmosphäre, die vom Machtkitzel getränkt ist« (Adler 1919b, S. 27). »In die Enge der Kinderstube brechen die Wellen des Machtstrebens der Gesellschaft ein« (S. 31).

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Adler hat (also) nicht nur das persönliche Machtstreben im Blick, sondern auch das gesellschaftliche, das Machtstreben gesellschaftlicher Gruppen. Von daher wendet er sich auch gegen den Versuch, »positive« Ziele und Ideale mit Gewalt durchsetzen zu wollen, gegen die »gute Macht«. »Das Streben nach Herrschaft … vergiftet das Zusammenleben der Menschen!« (Adler 1919b, S. 23). »Die Menschheitsgeschichte mit ihrem Grauen und Jammer [war] bisher nichts anderes … als eine fortlaufende Kette gescheiterten Strebens nach Macht« (S. 24). 1919 kritisiert er »die Herrschaft der Bolschewiki«, weil sie »wie die aller bisherigen Regierungen auf den Besitz der Macht gegründet« sei (S. 27f.). »Für viele Sozialisten scheint nun der Bolschewismus in seinem wichtigsten Punkte, gewaltsame Durchsetzung des Sozialismus, ein selbstverständlicher Gedanke« (S. 25). »Wo Machtfragen ins Treffen kommen, stoßen sie, unbekümmert um die Vortrefflichkeit ihrer Absichten und Ziele, auf den Willen zur Macht des einzelnen« (S. 26). Damit sei »ihr Schicksal gesprochen« (S. 28). Aber Adler vergisst dabei nicht, dass es »die Jahre des Kapitalismus mit seiner entfesselten Gier nach Überwältigung des anderen« waren, die »die Raublust in der menschlichen Seele maßlos angefacht« haben. »Kein Wunder, daß unser seelischer Apparat ganz im Banne des Strebens nach Macht steht« (S. 25). Aber Adler »vergisst«, dass nicht das Streben der Bolschewiki nach Macht die Erklärung für ihre Politik abgeben kann, sondern dass deren Politik, erzwungen durch die Politik ihrer Gegner, ihnen – vielleicht – nur die Möglichkeit ließ, die Oktoberrevolution (mit Gewalt) zu verteidigen oder unter Verzicht auf ihre Macht preiszugeben. Dass sich für diese Politik das »persönliche Machtstreben« der Bolschewiki eignete, mag offen bleiben. Die »Hauptaufgabe der Kultur« wäre danach also nicht »die Zähmung der aggressiven Triebe« (wie bei Freud 1930), sondern die Entwertung der auf Aggression ausgesetzten »Lust«-Prämien, wie die »Trockenlegung der trasi-

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menischen Sümpfe«, der Unterdrückung, Enteignung, Entrechtung, Entwürdigung und Demütigung. Diese »Hauptaufgabe der Kultur« steht immer noch aus, sie ist noch immer »an der Zeit« – und gleichzeitig »nicht zeitgemäß«. Darauf hinzuweisen, hat im Diskurs der Macht keine Stimme. Ungeachtet der Tatsache, dass »noch nie in der Geschichte … Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen« haben (Derrida 1993, S. 139), »feiert« der Diskurs der Macht das »Überleben« der »alten Modelle der kapitalistischen und liberalen Welt« (S. 89). Er »organisiert und beherrscht überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum« (S. 90). In ihm werden die Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur und der akademischen Kultur verschmolzen, dank der Vermittlung der Medien. »Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern« (S. 91). Dieser »herrschsüchtige Diskurs« (Derrida) rechnet nicht mehr mit unserer Zustimmung – er erpresst sie: mit dem »Krieg gegen den Terrorismus«. Nur: Die Bevölkerung lässt sich dieses Mal nicht erpressen: Mit den Demonstrationen gegen den Krieg im Februar 2003 hat die Bevölkerung die Zustimmung zu den Parolen der Macht verweigert.

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Individualpsychologie bei V&R Rainer Schmidt

Almuth Bruder-Bezzel

Träume und Tagträume

Geschichte der Individualpsychologie

Eine individualpsychologische Analyse

2., neu bearbeitete Auflage 1999. 284 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-45834-7

3., überarbeitete Auflage 2004. 240 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-46221-2

Rainer Schmidt berücksichtigt neuere Entwicklungen der Traumforschung in der Psychoanalyse und den Nachbarwissenschaften der Neurobiolgie.

Ulrike Lehmkuhl (Hg.)

Wie arbeiten Individualpsychologen heute? Beiträge zur Individualpsychologie, Band 29. 2003. 324 Seiten mit 4 Abbildungen und 9 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-45010-9

Die Arbeiten des Bandes zeigen, dass vieles neu durchdacht werden sollte, dass es aber auch Bewährtes in Therapie und Beratung in der Individualpsychologie gibt, das weiter zum Wohl der Patienten und Klienten genutzt werden kann und sollte.

Es werden die Begriffe der theoretischen Ansätze, die Praxis und Organisation der Individualpsychologie in ihrer Entwicklung und in ihrem historischen Kontext verfolgt.

Gerd Lehmkuhl (Hg.)

Theorie und Praxis individualpsychologischer Gruppenpsychotherapie 2002. 439 Seiten mit 1 Abbildung und 2 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-46158-5

Das Buch bietet mit mehr als 20 Beiträgen eine umfassende Zusammenschau zu den theoretischen Grundlagen und den vielfältigen Anwendungs- und Indikationsbereichen der individualpsychologischen Gruppenpsychotherapie.

Individualpsychologie im Zeitschriftenformat Zeitschrift für Individualpsychologie Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von etwa 400 Seiten ISSN 0342-393-X

Vom 28. Jahrgang (2003) an erscheint die „Zeitschrift für Individualpsychologie“ bei Vandenhoeck & Ruprecht als neues Mitglied der Familie wissenschaftlicher Periodika im Verlagsbereich Psychologie. Die Individualpsychologie ist seit 1911 aus der Auseinandersetzung Alfred Adlers mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds hervorgegangen. Sie bildet heute einen wichtigen Teil der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Individualpsychologie geht von einem ganzheitlichen Verständnis der bewussten und unbewussten Handlungsund Erlebnisweisen aus. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt der Beziehungsgestaltung durch den Einzelnen im sozialen Feld unter besonderer Berücksichtigung von Affekten, intra-

psychischen Konflikten und Strukturen. Seit ihren Anfängen findet Individualpsychologie Eingang in Psychotherapie, Erziehung, Beratung und andere Bereiche, in denen ein tiefenpsychologisches Verstehen mitmenschlicher Beziehungen wichtig ist.

Herausgegeben von

Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Individualpsychologie und dem Österreichischen Verein für Individualpsychologie.