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German Pages 767 [768] Year 1997
Reinhard Gasser Nietzsche und Freud
w DE
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon
Band 38
1997 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Nietzsche und Freud
von
Reinhard Gasser
1997 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Gasser, Reinhard: Nietzsche und Freud / von Reinhard Gasser. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 38) ISBN 3-11-014960-5 Gewebe
© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Diskettenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Meine Lehre, daß die Welt des Guten und Bösen nur eine scheinbare und perspektivische Welt ist, ist eine solche Neuerung, daß mir bisweilen Hören und Sehen vergeht. Friedrich Nietzsche1· Ich getraue mich zu sagen, wenn die Psychoanalyse sich keiner anderen Leistung rühmen könnte als der Aufdeckung des verdrängten Ödipuskomplexes, dies allein würde ihr den Anspruch geben, unter die wertvollen Neuerwerbungen der Menschheit eingereiht zu werden. Sigmund Freud 2
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Brief Friedrich Nietzsches an Franz Overbeck vom 23. Juli 1884, in: Nietzsche, F., Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe (KSB), 8 Bände, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, Berlin-New York 1 9 7 5 - 1 9 8 4 , KSB 6, S. 514. Freud, S., Abriss der Psychoanalyse, in: Ders., Gesammelte Werke (GW), 18 Bände, herausgegeben von A. Freud u. a., London 1940 - 52 (Band 18, Frankfurt am Main 1968), G W 17, S. 119 f.
Vorwort Nietzsche und Freud in einem Atemzug zu nennen und ersteren als großen Wegbereiter der psychoanalytischen Gedankenwelt anzusprechen, zählt längst wieder zum guten Ton einer historisch vorbelasteten Diskussion. Das bereits dem Begründer der Psychoanalyse wohlvertraute Wort vom „Vorgänger" Nietzsche war nachhaltig in Verruf geraten, als sich in den 30er Jahren eine verhängnisvolle Symbiose von Politik und Nietzsche-Rezeption abzuzeichnen begann. Unter anderem durch ein Werk Arnold Zweigs1, des bisweilen glühenden Nietzsche-Verehrers und gleichzeitigen Bewunderers der Psychoanalyse, mußte auch Freud erfahren, daß Vordenker des Nationalsozialismus Nietzsches Philosophie der herrschenden Ideologie dienstbar gemacht hatten. Diese Zäsur in der Geschichte der Nietzsche-Deutung blieb nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ohne Folgen. In der ehemaligen DDR wurden die Schriften des gebürtigen Sachsen Nietzsche für tabu erklärt, wobei sich die entsprechende Rechtfertigung nicht zuletzt dem marxistischen Ansatz von G. Lukács entnehmen ließ, Nietzsches Romantik und sein „irrationales" Denken hätten sich als vorweggenommene Philosophie des Imperialismus und eine der Bahnbrechungen des Hitlerfaschismus endgültig desavouiert.2 Die Apodiktik dieser These hallte in der westdeutschen Rezeption nach und war zweifellos nicht dazu angetan, Berührungsängste der postfreudschen Psychoanalyse gegenüber Nietzsche abzubauen. Und dies um so mehr, als die dominante Literatur von 1968 und den Folgejahren vor allem zu einer Renaissance von Marx und in einem gewissen, durchaus politischen Sinn auch zu einer Freuds führte. Damit war ein, wie es schien, ideengeschichtliches Verbindungsnetz geknüpft, das den veränderten ökonomischen und psychologischen Bedingungen des Kapitalismus Rechnung trug und in dem Nietzsche, und mochte er noch sosehr ein Vorläufer der Psychoanalyse gewesen sein, allenfalls distanziertes Interesse zukam. Zugleich ließen die späten 60er Jahre aber bereits Vorboten einer sich anbahnenden Wende in der Nietzsche-Aneignung erkennen, die auch der Psychoanalyse allmählich eine unbefangenere Position erlauben sollte. 1967 erschienen die ersten Bände der bezeichnenderweise von zwei Italienern ins Leben gerufenen kritischen Ausgabe Nietzsches; und um 1968 drangen in Frankreich neostruktu-
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Zweig, Α., Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch, Amsterdam 1934, S. 290 ff.; vgl. unten S. 153 f. Lukács, G., Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962 (Berlin 1954), S. 271 ff.
Vili
Vorwort
ralistische Interpretationen erstmals ins Bewußtsein der Öffentlichkeit.3 In ihren Folgewirkungen haben die beiden Ereignisse die ohnehin höchst vielschichtige und wechselvolle Geschichte der Nietzsche-Rezeption4 entscheidend beeinflußt und zu dem insbesondere seit den 80er Jahren in Deutschland entflammten Interesse an der Vorstellungswelt des Philosophen erheblich beigetragen. Zum einen sind die von G. Colli und M. Montinari begonnenen und von W. MüllerLauter und K. Pestalozzi weitergeführten Arbeiten an einer kritischen Edition des Gesamtschaffens Nietzsches inzwischen weit vorangeschritten.5 Damit ist erstmals die Basis für eine seriöse, d. h. von möglichen Kompilationen und gravierenden Mißverständnissen unbelastete Quellenauseinandersetzung geschaffen. Zum anderen ist die Aktualität Nietzsches sehr stark geprägt durch die Rezeption des französischen Neostrukturalismus, dessen Autoren (Derrida, Foucault, Deleuze u. a.) sich von Anfang an jenseits der in Deutschland üblichen Rechts-links-Lagermentalität an Nietzsche orientierten.6 Für den Wandel des Nietzsche-Bildes und die Aufwertung seiner Philosophie im deutschsprachigen 3
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Vgl. Waite, G., Zarathustra or The Modern Prince: The Problem of Nietzschean Political Philosophy, in: Bauschinger, S. u. a. (Hg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, Bern-Stuttgart 1988, S. 228 f. Als bedeutsamer Aspekt des Jahres 1968 gilt Waite auch, daß marxistische Theoretiker in Zagreb den Versuch unternahmen, gegen das herrschende Verständnis Elemente von Nietzsches Werk für jenes von Marx wiederzugewinnen. Vgl. etwa Salaquarda, J. (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, S. 4 ff.; Bauschinger, S. u. a. (Hg.), Nietzsche heute, a. a. O.; Guzzoni, A. (Hg.), 90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, Königstein/Taunus 1979. Nach einer Information von J. Salaquarda stellt sich bezüglich der KGW und der KGB die Situation gegen Ende 1996 folgendermaßen dar: Von Nietzsches ,,Werke[n]. Kritische Gesamtausgabe" (KGW, Berlin - New York 1967 ff.), hg. von G. Colli und M. Montinari, sind die Textbände der Abteilungen III—VIII ediert, im weiteren die Nachberichtsbände zu den Abteilungen IV und VII sowie der 1. Nachberichtsband zu Abteilung VI (Bd. VI/4: Nachbericht zu „Also sprach Zarathustra"). Die Nachberichtsbände zu den Abteilungen III und V erscheinen voraussichtlich 1997 und 1998. Abteilung I (Jugendschriften) wird seit Jahren unter der Leitung von J. Figi vorbereitet, wobei mindestens 5 Bände vorgesehen sind und die Nachberichtsbände (abweichend von den anderen Abteilungen) zusammen mit den jeweiligen Textbänden herausgegeben werden. Band 1/1 (Nachgelassene Aufzeichnungen 1852-Sommer 1858) ist 1995 erschienen. Von Abt. II (Philologica), hg. von E Bornmann und M. Carpitella, sind bisher 5 Bände von 6 geplanten erschienen, ein oder zwei Nachberichtsbände werden die Ausgabe abrunden. Vom „Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe" (KGB, Berlin—New York 1975 ff.), hg. von C. Colli und M. Montinari, liegen in III Abteilungen sämtliche Textbände, d. h. alle erhaltenen Briefe von und an Nietzsche, vor. Zu Abteilung I ist 1993 der von N. Miller und J. Salaquarda herausgegebene Nachberichtsband 1/4 erschienen, zwei Nachberichtsbände zu Abteilung II sollen folgen. Zur Geschichte der französischen Philosophie und des Neostrukturalismus vgl. etwa Taureck, B., Französische Philosophie im 20. Jahrhundert, Reinbeck bei Hamburg 1988; Frank, M., Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1984; Descombes, V, Das Selbst und das Andere, übersetzt von U. Raulff, Frankfurt am Main 1981; Hamacher, W. (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt am Main 1986. In unserem Zusammenhang bleibt festzuhalten, daß die erste detaillierte und systematische Arbeit zu Nietzsche und Freud ebenfalls aus Frankreich stammt, dem Kern nach aber nicht einer neostrukturalistischen Leseart verpflichtet ist (vgl. Assoun, P.-L., Freud et Nietzsche, Paris 1982).
Vorwort
IX
Raum mag exemplarisch J. Habermas einstehen: Hieß es 1968 im Hinblick auf die frühe Nietzsche-Faszination, der Intellektuelle wie etwa G. Benn, O. Spengler, E. Jünger oder M. Heidegger erlegen sind, noch: „Das alles liegt hinter uns und ist fast schon unverständlich geworden. Nietzsche hat nichts Ansteckendes mehr"7, so avanciert derselbe Nietzsche im Jahre 1985 zur „Drehscheibe" des philosophischen Diskurses der Postmoderne.8 Und A. Schmidt bringt die unübersehbare Breitenwirkung seiner Gedanken und die Mehrdimensionalität der Interpretationen auf die Formel, daß Nietzsche derzeit „an allen Fronten operiert."9 Eine umgekehrte Tendenz scheint sich in der Freud-Rezeption abzuzeichnen. Nicht daß das Interesse an der Psychoanalyse erloschen wäre, die ungebrochene Flut an Publikationen beweist eher das Gegenteil. Unverkennbar ist jedoch, daß Freud zunehmend kritisch gelesen wird. Hintergründe dieses Umschwungs erhellen sich aus einem geistigen Klima der Gegenwart, das Theoretikern der „Meta-Erzählung" und ihrem Rückgriff auf eine große, einheitsstiftende Leitidee, wie sie Freud als Grundszenario der individuellen und kulturellen Entwicklung entworfen hat, immer reservierter gegenübersteht. Sie erhellen sich aber auch aus der Geschichte der Psychoanalyse und namentlich der jüngeren Editionsgeschichte selbst. Zunächst darf man sich vergegenwärtigen, daß Freud das Schicksal des „einsamen" Denkers Nietzsche erspart blieb. Ungeachtet der beschwerlichen Gründerjähre fehlte es ihm nie an Freunden, Mitarbeitern oder auch Gegnern, die für oder wider seine Anschauungen stritten. Mit der sukzessiven Verankerung der Psychoanalyse in einer internationalen Bewegung war schließlich das Fundament für die Verwirklichung zweier großer Zielvorgaben gelegt: der allgemeinen Verbreitung der psychoanalytischen Theorie und Praxis und vor allem der Aufnahme des neuen Forschungszweiges in den etablierten Kreis der Wissenschaft, ein Ziel, dem Freud alles andere unterordnete. Beide Vorhaben sind im wesentlichen gelungen. Retrospektiv betrachtet haben sich Freuds Ideen nicht nur gegenüber den Schulen von A. Adler und C. G. Jung behauptet, sondern auch eine Reputation in Europa und den USA erfahren, die in Ansätzen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, erst recht aber danach eine ungeheure Popularisierung (und nicht selten Trivialisierung) des psychoanalytischen Vokabulars nach sich zog. Und zugleich hat die Psychoanalyse, allen theoretischen Kontroversen zum Trotz, ihren Platz im Wissenschaftsbetrieb de facto eingenommen. Die Genugtuung über die weltweite Anerkennung der umstrittenen Lehre hat sichtlich eine kritische Editionsarbeit nicht begünstigt. Bedenkt 7
8 9
Habermas, J., Zu Nietzsches Erkenntnistheorie (Nachwort von 1968), in: Ders., Kultur und Kritik, Frankfurt am Main 1973, S. 239. Habermas, J., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, S. 104 ff. Schmidt, Α., Uber Wahrheit, Schein und Mythos im frühen und mittleren Werk Nietzsches, in: Bauschinger, S. u. a. (Hg.), Nietzsche heute, a. a. O., S. 12.
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Vorwort
man, daß der Ruhm Freuds bereits zu seinen Lebzeiten eingesetzt hat und unmittelbar mit dem Werk (und nicht, wie bei Nietzsche, auch mit biographischen Umständen) verknüpft war; bedenkt man im weiteren, daß bereits 1924 eine Edition der Werke Freuds, die „Gesammelten Schriften", in die Wege geleitet wurde — der später die „Gesammelten Werke", die englische „Standard Edition" und die unvollständige „Studienausgabe" folgten 10 —, dann erstaunt einigermaßen, daß mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Tode Freuds nicht einmal der Beginn einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke, Briefe und nachgelassenen Dokumente absehbar ist. Statt dessen sind Editionsfragen offenbar zu Glaubensfragen geworden. Nicht nur, daß nach dem Willen der Nachlaßverwalter Teile des Freudschen Briefwechsels sowie andere Dokumente nach wie vor unveröffentlicht bleiben, mittlerweile sind auch editorische Grabenkämpfe zwischen Hütern und Renegaten der Freud-Lehre ausgebrochen, die in Form und Inhalt an die unseligen Zeiten des Weimarer Nietzsche-Atcbivs erinnern. Wie die Arbeit von Masson 11 verdeutlicht, mußte eine solche Editionspolitik zwangsläufig kontraproduktiv ausfallen und eine kritische Stimmung gegenüber der Psychoanalyse forcieren. Während sich die Wogen um die Edition der Werke Nietzsches also geglättet haben, kann nicht ausgeschlossen werden, daß weitere Stürme in der FreudForschung bevorstehen. Damit ist auch die quellengeschichtliche Ausgangslage, vor die sich insbesondere der historische Teil der Untersuchung gestellt sieht, umrissen. In ihm wird zu klären sein, in welchem Ausmaß Freud mit Denken und Wirkung Nietzsches in Berührung kam und wie stimmig sich vor allem seine bisher bekannten Selbstaussagen zur „Causa Nietzsche" ausnehmen, während in einem zweiten theoretischen Teil die oft behauptete, gleichwohl unzureichend erforschte Ähnlichkeit der Gedanken auf dem Prüfstand steht. Da neben den im historischen Teil erwähnten Briefen unter Umständen aber noch unbekannte Briefe oder Dokumente existieren, in denen Freud sich zu Nietzsche äußert, ist in Zukunft womöglich mit weiteren Erkenntnissen zu rechnen. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge zu urteilen, ist freilich nicht zu erwarten, daß solche Quellen am Gesamtbild dieser Arbeit etwas ändern werden.
10
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S. Freud, Gesammelte Schriften, 12 Bände, herausgegeben von A.Freud, O. Rank und A. J. Storfer, unter Mitwirkung von S.Freud, Wien 1924-1934; S.Freud, Gesammelte Werke, 18 Bände, a. a. O.; The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, 24 Bände, übersetzt und herausgegeben von J. Strachey, London 1953 -1974; S. Freud, Studienausgabe, 10 Bände und ein Ergänzungsband, herausgegeben von A. Mitscherlich u. a., Frankfurt am Main 1965-1974. Masson, J. M., Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verfuhrungstheorie, deutsch von B. Brumm, Reinbeck bei Hamburg 1984; vgl. auch Malcolm, J., Vater, lieber Vater ... Aus dem Sigmund-Freud-Archiv, übersetzt von E. Brückner-Pfaffenberger, Frankfurt am Main—Berlin 1986.
Vorwort
XI
Die vorliegende Studie wurde ursprünglich vom österreichischen „Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung" finanziert, dem ich an dieser Stelle ebenso danke wie Prof. Dr. H.-D. Klein, der das Projekt rege befürwortet und unterstützt hat. Dankbar bin ich auch den Mitarbeitern des Archivs der Universität Wien, des Niederösterreichischen Landesarchivs in Wien, des Viktor Adler Archivs und des Sigmund Freud Museums in Wien, die mir bei vielen Fragen Hilfestellung gewährten. Für wertvolle Hinweise möchte ich vor allem Prof. Dr. J. Salaquarda in Wien danken, desgleichen Dr. E. Federn in Wien, Prof. Dr. G. Fichtner in Tübingen und Prof. P. Roazen in Toronto. Im weiteren bedanke ich mich bei J. H. Hutson sowie W Matheson von der Library of Congress in Washington für ihre Auskünfte. Besonderer Dank gebührt S. Neufeld und J. K. Davies vom Freud Museum in Hampstead/London für ihre detaillierten Informationen. Herrn Johannes Neininger gilt mein Dank für seine freundliche Unterstützung bei den technischen Vorarbeiten zur Drucklegung. Im speziellen danken möchte ich Mag. Günter Metzler, der in all den Jahren ein aufmerksamer und kritischer, aber immer wohlwollender Gesprächspartner war. Letztlich, aber nicht zuletzt danke ich Prof. Dr. Josef Shaked, der das Projekt von Beginn an mit besonderem Interesse verfolgt und unterstützt hat. Ihm widme ich dieses Buch. Wien, im Oktober 1996
Reinhard Gasser
Inhalt Vorwort
VII Historischer Teil
Sigmund Freuds Begegnungen mit Denken und Wirkung Nietzsches Kapitel 1 Der Plagiatsverdacht gegen Freud Kapitel 2 Erste Kontakte mit Nietzsche-Verehrern in der Studentenzeit H. Braun, V.Adler, S. Upiner,J. Paneth Kapitel 3 Berichte aus Nizza J. Paneth Kapitel 4 „Habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt" Kapitel 5 Diskussionen über Nietzsche in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Kapitel 6 Der Sexualimmoralist O. Gross Kapitel 7 Libido contra Macht A. Adler Kapitel 8 Freuds Hinweis auf Nietzsches Hymnus „Vor Sonnen-Aufgang" Kapitel 9 Lou Andreas-Salomés Freundschaft mit Freud Kapitel 10 Des Kronprinzen Abschied C. G. Jung Kapitel 11 Freuds Klarstellung zu Nietzsche
3
7
30 37
48
58
62 68 74
87 93
XIV
Inhalt
Kapitel 12 Eine vielsagende Zitierweise
98
Kapitel 13 Zum Rätsel um die Herkunft des „Es" G. Groddeck
107
Kapitel 14 Der „Vorgänger" Nietzsche: Neuerliche Variationen F. Wittels, O.Rank
118
Kapitel 15 Umwege und Abwege: Freud zwischen Naturwissenschaft und Philosophie 128 Kapitel 16 Die „unzugängliche Vornehmheit" Nietzsche A. Zweig
147
Kapitel 17 Reden zu Freuds 80. Geburtstag Tb. Mann, L. Binswanger
157
Kapitel 18 Freuds Nachruf auf Lou Andreas-Salomé
166
Kapitel 19 Resümee
168
Theoretischer Teil Die Konfrontation der Ideen
Teil I Die Kultivierung des Menschen Kapitel 1 Vom Animismus zur Wissenschaft: Wege des anthropomorphen Erkennens 179 1. Am Leitfaden des Lustprinzips: Erkenntnis- und Symptombildung bei Freud 179 1.1. Die „Allmacht der Gedanken" als embryonales Erkenntnisprinzip: Animistisches und infantiles Bemächtigen von Wirklichkeit 179 1.2. Die „Allmacht der Gedanken" als Abwehr des „inneren Feindes": Paranoia, Dämonismus und Zwangsneurose 182
Inhalt
1.3. „Traumarbeit" und gesellschaftliche Analogien zur Traumentstellung 1.4. Lustgewinn als Erkenntnismotiv: Die „sekundäre Bearbeitung" . 1.5. Der Konnex zwischen „Allmacht der Gedanken" und „religiöser Weltanschauung" 1.6. Jenseits des anthropomorphen Wunschdenkens: Die Wahrheit der Wissenschaft 2. Am Leitfaden des Willens zur Macht: Erkenntnis- und Symptombildung bei Nietzsche 2.1. Nach dem Vorbild des Animismus: Die Einverleibung anthropomorphen „Sinns" als Strategie der Leidbewältigung 2.2. Zur Psychologie der Religion: Lust als Kriterium der Wahrheit (Der „Beweis der Kraft") 2.3. Religion, Wissenschaft und Wahrheitsproblematik 2.4. Erkenntnis als Wille zur Macht und zur Verfälschung: Der anthropomorphe „Trieb zur Metaphernbildung" 2.5. Der Wille zur Macht als Triebregulativ und als Interpretationsregulativ (Regulativ der Werte, Perspektiven und Scheinbarkeiten) 2.6. Der Glaube an die Wahrheit als Symptom 2.7. Kritik der Wissenschaft Exkurs Zur Psychologie der Metaphysik
XV
188 193 196 199 202 202 207 211 214 218 223 227 232
1. Psychoanalyse als Instrument der Metaphysikkritik 232 1.1. Zur Psychopathologie der Philosophie 232 1.2. Die Überführung der Metaphysik in die Psychologie des Unbewußten: Der Fall Nietzsche 234 1.3. Freuds Theorie der Projektion 239 2. Zum Projektionscharakter philosophischer Begriffswelten: Nietzsches Metaphysikkritik 2.1. Philosophiehistorische Anmerkungen: Kant, Hegel und Nietzsche 2.2. Der Ausgangspunkt der Projektionstheorie: Nietzsches Kritik am „Täter-Tun"-Glauben und dem Trugbild einer „inneren" Ursachenwelt 2.3. Der Anthropomorphismus als Problem und die Frage nach dem Unbewußten
244 244 247 253
3. Nietzsches Überführung der Metaphysik in die Psychologie des Unbewußten 257 3.1. Die psychologische Wende von „Menschliches, Allzumenschliches" 257
XVI
Inhalt
3.2. Metaphysik, Traum- und Wacherfahrung 3.3. Die Trauminterpretation als Verkennen des „Menschen unter der Haut" 3.4. Die Ignoranz gegenüber dem Unbewußten: Metaphysik als „Mißverständnis des Leibes" 3.5. Anmerkungen zu Nietzsches Kritik an Schopenhauer 3.6. Psychologische Metaphysikkritik als Idee und als Tat: Vergleich mit Freud
259 266 268 272 275
Kapitel 2 Ödipuskomplex und Sittlichkeit der Sitte
277
1. Moral als Problem
277
2.
Freuds Ödipuskomplex
280
3.
Nietzsches Sittlichkeit der Sitte
285
4. Vergleich
291
Kapitel 3 Schuld und schlechtes Gewissen: Die Verinnerlichung
295
1. Die Herkunft des Schuldgefühls bei Freud 295 1.1. Soziale Angst und Gewissensbildung 295 1.2. Verinnerlichung, Reue und Kulmination des Schuldgefühls im Monotheismus 297 2.
Die Herkunft von Schuld und schlechtem Gewissen bei Nietzsche . . 299 2.1. Das Grundverhältnis Gläubiger — Schuldner und das Schuldbewußtsein gegenüber Gott 299 2.2. Die Verinnerlichung 303
3. Die Bedeutung der Verinnerlichung
307
4. Nietzsches Kritik an der „Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe" und Freuds These im „Mann Moses" 310 Kapitel 4 Zwischen Triebverfeinerung und Triebverleugnung: Die Sublimierung . . . 313 1. Der Sublimierungsbegriff als Abgrenzungsproblem
313
2. Die 2.1. 2.2. 2.3.
318 318 323 326
Grundlagen Die Sublimierung der Sexualität Die Sublimierung der Destruktion Die Sublimierung des Willens zur Macht
Inhalt
3. Ausgestaltungen der Sublimierung I: Die intellektuellen Produktionen 3.1. Die Lust am Denken und die infantile Sexualforschung 3.2. Der Wiß- und Erkenntnistrieb 3.3. Wißtrieb und Wissenschaft
XVII 332 332 337 340
4. Ausgestaltungen der Sublimierung II: Ökonomisierung und Veredelung der Triebe als Arbeit an der Kultur 346 4.1. Analoge Metaphern bei Freud und Nietzsche 346 4.2. Apollo und Dionysos 351 5. Ausgestaltungen der Sublimierung III: Die ästhetischen Produktionen 355 6. Sublimierung als Gefahr
361
7. Das Ziel der Sublimierung
364
Kapitel 5 Berechnung, Wiederholung und Steigerung des Lebens
366
1. Die „soziale Zwangsjacke"
366
2. Aspekte einer Theorie des Gedächtnisses 2.1. Die kulturellen Gedächtnisprägungen 2.2. Exkurs: Zur Dialektik von Erinnern und Vergessen
368 368 371
3. Fortschritt in der Geschichte? 3.1. Der „Primat des Intellekts" 3.2. Gegenargumente zur Fortschrittsidee 3.3. Die Wiederkehr der Geschichte
382 382 384 389
4. Not und Überfluß: Die Bewertung des Daseins zwischen Resignation und Affirmation 397
Teil II Die Krankheit des Menschen: Neurose und Nihilismus Kapitel 6 Gesundheit und Krankheit
407
1. Rückschau
407
2. Die quantitative Betrachtungsweise
408
3. Gesundheit und Krankheit als Qualitäten
410
XVIII
Inhalt
Kapitel 7 Zur Ätiologie seelischer Erkrankungen
413
1. Aspekte der Sexualtheorie
413
2. Die Neurosenlehre Freuds 2.1. Heredität und Degeneration 2.2. Aktualneurosen und Verfïihrungstheorie 2.3. Der Kernkomplex der Neurosen 3. Zwischen Psychologie und Physiologie: Krankheit bei Nietzsche . . . . 3.1. Die Verneinung der Leidenschaften 3.2. Die religiöse Neurose und das Hysterische der modernen Kunst 3.3. Décadence, Degeneration und Degenereszenz
417 417 419 421 425 425 426 429
Kapitel 8 Zur Psychologie und Psychopathologie des abendländischen Monotheismus 437 1. Die Kultur als „Patient"
437
2. Die jüdische Umwertung der Werte und der Vaterkomplex 2.1. Der „Sklavenaufstand in der Moral" 2.2. Schuldgefühl und Gottesvorstellung
438 438 441
3.
445 445 446 447 452 456
Die 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Religion der Liebe Schuld, Erlösung und kosmopolitischer Gottesbegriff Zur Entstehung des Christentums Das Jesus-Bild des Apostel Paulus Freuds Verständnis des Christentums Exkurs: Zur Psychologie des Liebesbegriffs
Kapitel 9 Wesen, Formen und Folgen des Nihilismus
465
1. Was heißt Nihilismus?
465
2. „Gott ist tot!" 3. Der Wiederkehrsgedanke und die kulturelle „Depression" 3.1. Ubergang zur zweiten Form des Nihilismus: Der Wille zur Wahrheit und die Frage nach dem „Sinn" des Daseins 3.2. Die „extremste Form" des Nihilismus und der Wiederkehrsgedanke 3.3. „Moderne" Bewegungen gegen den drohenden Nihilismus . . . .
468 471 471 474 479
Inhalt
4. Freud und die Entwertung der Werte: Ein „Disput" mit Nietzsche . . 4.1. Die Entwertung des narzißtisch-religiösen Weltbildes durch die Wissenschaft 4.2. Propädeutik zum Wertproblem: Trauer, Melancholie und Überwindung des ödipalen Konflikts 4.3. Nihilismus und vaterlose Gesellschaft
XIX
483 483 489 494
Teil III Die Therapie des Menschen Kapitel 10 Der Übermensch
505
1. Das Überwindungsmotiv
505
2. Geschichtsphilosophische Aspekte: Die Überwindung des Nihilismus und die Bejahung des Wiederkehrsgedankens 508 3. Psychohistorische und psychologische Aspekte: Die übermenschliche Synthese von Gegensätzen 510 Kapitel 11 Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Übermenschen 1. Die Grundargumentation: Der Antagonismus Natur — Kultur 2. Weitere Einwände
517 517 520
Kapitel 12 Stationen, Ziele und Hindernisse der analytischen Psychotherapie
527
1. Kurzer Leitfaden zur Geschichte der psychoanalytischen Technik . . . 527 2. Der exklusive Anspruch der analytischen Therapie
533
3. Hindernisse und pragmatische Ziele der therapeutischen Arbeit . . . . 538 Kapitel 13 Voraussetzungen und Konsequenzen der Therapeutik Nietzsches
543
1. Das ärztliche Interesse
543
2. Zur Bewußtmachung des Unbewußten
546
3. Der Leib als „große Vernunft"
550
XX
Inhalt
4. Therapeutische Konsequenzen 552 4.1. „Amor fati" oder das „Realitätsprinzip" Nietzsches 552 4.2. Die physiotherapeutische Umwertung und die „kleinen Dinge" des Lebens 554 4.3. Nietzsche als „Facharzt" 557 5.
Erkenne dich selbst — ein Mißverständnis? 5.1. Der psychoanalytische Zugang zum „gnothi seauton" 5.2. Der Ausgangspunkt Nietzsches: Leib und Intellekt als Instanzen der Verfälschung 5.3. Problematischer Anspruch und Gefahr der Selbsterkenntnis . . . 5.4. Annäherungsversuche an Nietzsches Methode 5.5. Die „Schelmenkappe" als Therapeutikum
559 559 563 567 571 574
Kapitel 14 Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
576
1. Freud und die „weltliche Seelsorge" 1.1. Die psychoanalytische Gemeinde und ihre Feinde 1.2. Die Inkompatibilität von Psychotherapie und Beichte
576 576 579
2.
Nietzsches „Genealogie der Moral" als Einstieg für die Frage: Ist der Psychoanalytiker ein Priester? 584 2.1. Die „Erbsünde" der Psychoanalyse 584 2.2. Techniken und Zweck der priesterlichen Psychologie 589
3.
Psychoanalyse als Wissenschaft oder: Das unbewußte Erbe des asketischen Ideals 593
4.
Die Psychoanalyse als zeitgemäßes Symptom des theoretischen und praktischen Nihilismus? 601
Teil IV Theoretische Grundlagen und Probleme Kapitel 15 Die Trieblehre
610
1. Meilensteine der Triebkonzepte 1.1. Die frühe Phase 1.2. Auf dem Weg zur definitiven Trieblehre 1.3. Die späte Phase
610 610 614 616
Inhalt
2.
Der 2.1. 2.2. 2.3.
3.
Nietzsches Konzept des Willens zur Macht 3.1. Grundlagen 3.2. Die Dynamik des Machtwillens 3.3. Der quantitative Aspekt 3.4. Wille zur Macht und Interpretation
625 625 630 633 635
4.
Selbst- und Gattungserhaltung 4.1. Psychoanalytische Trieblehre und Biologie 4.2. Von der Zweckmäßigkeitsidee der Elementartriebe zur Teleologiekritik 4.3. Nietzsches Versuch einer Umwertung evolutionstheoretischer Konzepte
641 642
Machtwille, Lust und Tod 5.1. Zur Bedeutung des Todes 5.2. Die Lust zum Tode und die Lust zur Macht
654 655 657
5.
Triebbegriff Freuds Trieb als Abgrenzungsproblem Die ökonomische Betrachtung Ubergang zur dynamischen Betrachtung
XXI
618 618 620 622
647 649
Kapitel 16 Die innere und die äußere Wirklichkeit
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1. Realität bei Freud 1.1. Chaos versus Ordnung: Zur Erkenntnis des Unbewußten 1.2. Phantasie und Wirklichkeit 1.3. Barrieren des Ichs bei der Realitätsprüfung 1.4. Aspekte der Erkenntnis- und Urteilstheorie 1.5. Aporien der psychoanalytischen Konzeption
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Realität bei Nietzsche 2.1. Die veränderte Ausgangslage 2.2. Wer oder was denkt? 2.3. Die Scheinbarkeit der Realität 2.4. Nietzsches Aporie und der Versuch ihrer Auflösung 2.5. Der perspektivische Universalismus
Schlußbetrachtung
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Bibliographie
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Namenregister
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Sachregister
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Historischer Teil Sigmund Freuds Begegnungen mit Denken und Wirkung Nietzsches
Kapitel 1 Der Plagiats-Verdacht gegen Freud1 Im Jahre 1900, als der weithin noch unbekannte 44jährige Sigmund Freud sein Opus magnum „Die Traumdeutung" in Druck gehen läßt, befindet sich Friedrich Nietzsche bereits elf Jahre in einem Zustand infantiler Hilflosigkeit; am 25. August 1900 stirbt er im Alter von 55 Jahren. Zeidebens um Aufmerksamkeit für seine Ideen ringend, mußte sich der schwerleidende und deshalb frühpensionierte Basler Professor immer wieder damit vertrösten, daß seine Zeit noch nicht gekommen sei und die Menschheit, so eine seiner Lieblingsmetaphern, ihrer „Ohren" erst bedürfe. Nun aber, da er zum klinischen Fall geworden war, stand die Lage mit einem Male anders: Zahllose Intellektuelle wandten sich den bislang ungehörten Lehren zu, andere wiederum hielten die Frage für drängender, ob das Werk nicht von Grund auf Züge des Wahnsinns trug, wobei allerlei intime und geheimnisumrankte Episoden entsprechende Belege erbringen sollten, die von anderer Seite sogleich dementiert wurden. Im Rampenlicht dieser in den 90er Jahren einsetzenden NietzscheFaszination standen die ebenso engagierten wie umstrittenen Aktivitäten der Schwester Elisabeth. Beim Bemühen, den Bruder ins rechte Licht zu rücken, waren ihr bekanntermaßen keine Kompilation und kein Prozeß zu schade, um die vermeintlich verlorene Ehre Nietzsches und notabene ihre eigene zu retten. Zugleich sorgten der Aufbau des bald sagenumwobenen Nietzsche-Archivs, die Publikation einer voluminösen Biographie2 und die Herausgabe verschiedener unter ihrer Leitung veranstalteter Werkausgaben3 für eine rapide Verbreitung der 1
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Nietzsche und Freud werden, sofern nicht anders angegeben, nach folgenden Quellen zitiert: F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), 15 Bände, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, München-Berlin/New York 1967-1977; F. Nietzsche, Sämtliche Briefe (KSB), a. a. O. S. Freud, Studienausgabe (STA), 10 Bände und ein Ergänzungsband (STA Egb.), a. a. O. In der STA nicht enthaltene Werke werden nach den Gesammelten Werken (GW), a. a. O., zitiert. Die Briefe Freuds liegen in verschiedenen Editionen vor. Sie werden an gegebener Stelle samt den jeweiligen Herausgebern zitiert. Hinweis: Zeichen, Wörter, Satzteile und Sätze, die innerhalb von Zitaten in Kursiv- oder Fettdruck gesetzt sind, bedeuten Hervorhebungen der jeweiligen Autoren. Kursive Hervorhebungen innerhalb von Zitaten, die vom Verfasser der Untersuchung stammen, sind in den betreffenden Fußnoten durch (H. d. V.) gekennzeichnet. Förster-Nietzsche, E., Das Leben Friedrich Nietzsches, 2 Bände, 2. Band in 2 Halbbänden, Leipzig 1895-1904. Vgl. F. Nietzsche, Werke, hg. von P. Gast, Leipzig 1892 ff. (nach Band V abgebrochen); F. Nietzsche, Werke, 15 bzw. 19 Bände (Großoktav-Ausgabe), ediert von verschiedenen Herausgebern
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Gedanken ihres Bruders. Nietzsches Ideen lieferten nicht nur unerschöpflichen Diskussionsstoff für die philosophische und literarische Avantgarde4 der Jahrhundertwende; sie waren auch zu Gemeinplätzen des Bildungsbürgertums und zu einem unablässigen Thema aller Salongespräche geworden. Europa hatte „Ohren" bekommen. Wien freilich, die Stadt, in der Sigmund Freud lebte, war auf Nietzsche schon vorbereitet, noch ehe sich sein Ruhm herumgesprochen hatte. Hier hallte seine Kritik an der Moderne in einer Art und Weise wider, daß er bereits Mitte der 70er Jahre höchste Verehrung genoß. Zu dieser Zeit hatte sich eine schwere politische Krise des liberalen Bürgertums bemerkbar gemacht, die schließlich einen unvermeidlichen Schrumpfungsprozeß des Liberalismus nach sich zog. Als Folge dieser politischen Frustration war das liberale Bürgertum — so jedenfalls die These von C. Schorske — genötigt, seine Daseinslegitimation in eine Hochkultur zu verlagern und das ehemals rationale Menschenbild in ein im weitesten Sinne psychologisches umzuwandeln, was M. Erdheim dahingehend ergänzt, „daß es ein unter dem Vorzeichen der Ästhetik stehendes psychologisches Menschenbild war." — „Um sich die Handlungsfähigkeit, zumindest die Illusion davon zu bewahren, mußte das Bürgertum den Rückzug in die Ästhetik antreten." 5 Die eigene Ohnmacht in der Realpolitik fand demnach ihre Ventile in psychologisch-ästhetischen Betrachtungen über Wert und Unwert der Kultur: In Schopenhauers Philosophie konnten die eigenen düsteren Selbstwahrnehmungen wiederentdeckt werden, Nietzsche bot im Begriff des „Dionysischen" Aussicht auf ein neues Kulturideal abseits des nun als flach erkannten „Sokratismus", und Wagner schien Perspektiven Nietzsches bereits in seinem „Gesamtkunstwerk" zu verwirklichen. Schon in Nietzsches früher Schaffensperiode traf also jenes erst 1924 geäußerte Wort des Freud-Biographen F. Wittels zu, der meinte, auch Freud könne sich in Wien vor Nietzsches Ideen nicht luftdicht abschließen, denn „was Nietzsche geschrieben hat, ist heute so sehr Gemeingut der Gebildeten, daß seine Gedanken auf der Straße, in Kaffeehäusern [...] durch die Luft fliegen." 6 Von der Studentenzeit in den 70er Jahren bis zu seinem Tod 1939 lag Nietzsches Denken wie ein Schatten über Freud. Mit der Zeit blieben Stimmen nicht aus, die darauf beharrten, er und Nietzsche stünden in ihrer Weltsicht in engster
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unter der Aufsicht von E. Förster-Nietzsche, Leipzig 1894 ff. bzw. 1901 ff.; F. Nietzsche, Werke, 16 Bände (Kleinoktav-Ausgabe), Leipzig 1899 ff. Vgl. Hillebrand, B. (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur, Band 1: Texte zur NietzscheRezeption 1 8 7 3 - 1 9 6 3 , Tübingen 1978. Erdheim, M., Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, Frankfurt am Main 1982, S. 116. Wittels, F., Sigmund Freud. Der Mann. Die Lehre. Die Schule, Leipzig-Wien-Zürich 1924, S. 53.
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gedanklicher Verbindung. Und da Freud eben der Jüngere war, gingen diese Stimmen manchmal mit gewissen Untertönen einher: Wäre der Verdacht so abwegig, Freud habe sich theoretischer Anstrengungen Nietzsches bedient, dies aber gleichwohl unterschlagen? Mit einer bezeichnenden symbolischen Geste hat Otto Rank, einstiger Lieblingsschüler Freuds, auf die Brisanz der Angelegenheit aufmerksam gemacht. Zum 70. Geburtstag von Freud schenkte er dem Begründer der Psychoanalyse, von dem er sich eben getrennt hatte — im Streit der beiden ging es nicht zuletzt um die Originalität der jeweiligen Ideen —, eine repräsentative Nietzsche-Gesamtausgabe, was P. Roazen zum Kommentar veranlaßt: „Es war, als wollte Rank mit seinem Geschenk sagen: Du wirfst mir vor, daß ich Gedanken von Dir entlehne; schau Dir an, was Du selbst von Friedrich Nietzsche entlehnt hast!"1 Oder ein anderes Beispiel: 1908 versichert Freud in einer Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, daß „Nietzsches Gedanken auf seine eigenen Arbeiten gar keinen Einfluß gehabt hätten."8 Diese Aussage sollte zur Bereinigung des leidigen Problems dienen, sie kann allerdings, wie B. Nitschke es sieht, ebensogut als Schutzbehauptung ausgelegt werden: „Mit Versicherungen ist das so eine Sache; man schließt sie gewöhnlich ab, wenn man drohenden Gefahren glimpflich entkommen will. Aus keiner Stelle des Protokolls geht hervor, daß irgendeiner der Anwesenden es gewagt hätte, Freud zu unterstellen, er habe Gedanken bei Nietzsche entlehnt, ohne dies auszuweisen. Dennoch gibt Freud sein unverlangtes Dementi ab. Er versichert uns, daß etwas nicht stattgefunden habe, und läßt dadurch schon wieder etwas stattfinden."9 W. C. Simon kann nicht umhin, folgende Bemerkung fallen zu lassen: „Hat Freud die geistige Brücke zu Nietzsche [...] geleugnet? War er selbst ein Opfer seiner Lehre von der Verdrängung geworden? Die Frage darf gestellt werden."10 Freud selbst hält es 1925 in seiner „Selbstdarstellung" an der Zeit, allen Unkenrufen ein, wie er denkt, klärendes und abschließendes Wort entgegenzuhalten. Er sagt: „Nietzsche, [...] dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit."11 F. Tramer nimmt diese Äußerung allerdings gerade als Symptom für das genaue Gegenteil dessen, was behauptet wird: „[...] wir [wissen], was wir von solchen ausdrücklichen Erklä7
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Roazen, P., Sigmund Freud und sein Kreis. Eine biographische Geschichte der Psychoanalyse, aus dem Amerikanischen von G. H. Müller, Bergisch Gladbach 1976, S. 398. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, hg. von H. Nunberg und E. Federn, 4 Bände, Frankfurt am Main 1976, Band 1, S. 338. Nitschke, B., Zur Herkunft des ,Es': Freud, Groddeck, Nietzsche - Schopenhauer und E. v. Hartmann, in: Psyche, 37. Jahrgang, Heft 9, Stuttgart 1983, S. 786. Simon, W. C , Friedrich Nietzsche, ein geistiger Vorläufer Sigmund Freuds, in: Anthropologische Aspekte der Psychologie, Salzburg 1979, S. 159. ,Selbstdarstellung', G W 14, S. 86.
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rungen großer Geister, ähnlich wie von amtlichen Dementis mancher Regierungen, oft zu halten haben: gerade das, was dementiert wurde, ist n>ahr."X2 Anhand des Werdegangs von Sigmund Freud sollen nun seine offenen, aber auch versteckten Auseinandersetzungen mit Nietzsche chronologisch nachvollzogen werden: insbesondere die eigenen Aussagen zu Nietzsche; aber auch die Art, wie er ihn zitiert oder indirekt auf ihn anspielt; desgleichen die Wortmeldungen seiner Freunde und Kritiker zu diesem Thema — all dies soll zuletzt Aufschluß darüber geben, ob Freuds Beteuerung, er habe Nietzsche der eigenen Unbefangenheit willen gemieden, einer näheren Prüfung standhält oder ob er möglicherweise in Sachen Nietzsche selbst nicht „Herr im eigenen Hause" gewesen ist.
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Tramer, F., Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, in: Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie, 7. Jahrgang, Freiburg und München I960, S. 345.
Kapitel 2 Erste Kontakte mit Nietzsche-Verehrern in der Studentenzeit H. Braun, V.Adler, S. Upiner, J. Paneth Sigmund Freud maturiert 1873. Ein Zufall will, daß er in Griechisch Sophokles' Ödipusdrama zur Übersetzung vorgelegt bekommt, die ihm mit „lobenswertem" Erfolg gelingt.1 Einige Zeit zögert er noch, ehe er sich eine definitive Entscheidung über das bevorstehende Universitätsstudium abringen kann. Zunächst der Rechtswissenschaft zugetan, wählt er schließlich Medizin, wobei er im nachhinein die dafür ausschlaggebenden Gründe nennt: „Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ,Die Natur' in einer populären Vorlesung von Prof. Carl Brühl kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte."2 Zu Beginn des Studiums ist Freud allerdings keineswegs auf Medizin fixiert. Wie es sich für einen jungen Mann mit humanistischer Bildung geziemt, möchte er sich über Angebot und gegenwärtigen Stand der Wissenschaften erst einen Überblick verschaffen. Noch im Jahr seiner Inskription tritt er dem sogenannten Leseverein der deutseben Studenten Wiens bei, dem er bis etwa 1878 zugehört.3 Dieser Leseverein war am 2. Dezember 1871 gegründet worden4, besaß bald eine eigene Bibliothek und sollte dem Bildungshunger der jungen Leute entgegenkommen. Dementsprechend waren die Statuten konzipiert: §1 D e r „Leseverein der deutschen Studenten Wiens" soll den geistigen und geselligen Mittelpunkt der deutschen Studenten an den Wiener Hochschulen mit Ausschluß jedes politischen Charakters bilden.
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Jugendbrief an Emil Fluß, in: Freud, S., Briefe 1873 — 1939, ausgewählt und herausgegeben von E. und L. Freud (3., korrigierte Auflage), Frankfurt am Main 1986, S. 6. ,Selbstdarstellung', G W 14, S. 34. Kritisch-philologisch vgl. dazu Gay, P., Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, aus dem Amerikanischen von J. A. Frank, Frankfurt am Main 1989, S. 34 f. McGrath, W J., Student Radicalism in Vienna, in: The Journal of Contemporary History, Vol. 2, Number 1, London 1967, S. 184. Über den Leseverein informiert ebenfalls Venturelli, Α., Nietzsche in der Berggasse 19. Uber die erste Nietzsche-Rezeption in Wien, in: NietzscheStudien 13, Berlin-New York 1984, S. 449 ff. Vgl. Hiller, Α., Der Leseverein der deutschen Studenten, in: Die Lesevereine der deutschen Hochschüler an der Wiener Universität, Wien 1912, S. 10 ff.
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§2 Mittel zur Erreichung des Zweckes sind: a) Auflegung von Zeitschriften und Broschüren; b) Anschaffung der zur Ausbildung in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaften erforderlichen Werke und Hilfsmittel; c) Abhaltung belehrender Vorträge von Männern der Wissenschaft und von Vereinsmitgliedern; d) materielle Verwertung der geistigen Arbeit seiner Mitglieder.5
Die Mitgliedszahlen waren beträchtlich und nahmen fortlaufend zu. So sind im Vereinsjahr 1873/74 an die 350 ordentliche Mitglieder zu verzeichnen, während es knapp vor der Auflösung des Vereins im Jahre 1878 schon über 800 sind.6 Wenn die Statuten formal auch den „Ausschluß jedes politischen Charakters" forderten, so war doch die Intention nicht gänzlich auf Wissenschaft und „Hochkultur" gerichtet. Als Auffangbecken bot der Leseverein verschiedensten Richtungen Gelegenheit zur politischen Meinungsäußerung, insbesondere zur Kritik an den dazumals offenliegenden Schwachstellen des Liberalismus. In der Tat artikulierte ein Teil der Studenten in diesem Feld universitärer Freiräume eine Palette von Erneuerungsvisionen und bekundete Mißfallen an der gegenwärtigen Entwicklung. Daß der Leseverein, wie der Name schon sagt, von Anfang an mit deutlich deutscher Schlagseite die Prioritäten setzte, empfanden viele Studenten, die etwa umwälzende sozialreformerische und sozialistische Ideen einbrachten, nicht als Widerspruch, war ihnen doch die Gründung des Vereins als unmittelbare Reaktion auf die deutsche Einigung und den Sieg im Krieg mit Frankreich durchaus bewußt und willkommen. Ein nicht eben unbefangener Beobachter, der die Geschichte der deutschen Studentenschaft Wiens kommentiert, schildert die euphorische Stimmung in einem späteren Rückblick folgendermaßen: „Das alle Deutschen einigende Jahr 1870 mußte selbst das geringste Fünkchen nationalen Fühlens entflammen zur hellen Begeisterung [...]: wie muß in solcher Zeit das deutsche Studentenherz hoch geschlagen haben, auch im ,neutralen' Österreich. Neutral? Nicht ganz! Das Herz hat mitgeschlagen, das Herz Deutsch-Österreichs, das deutsche Herz."7 In diesem Gefühlsüberschwang sind schon erste Ansätze einer sich später abzeichnenden nationalistischen Deutschtümelei zu erahnen, die von einem Teil des politisch maßgeblichen Flügels im Verein noch durch antisemitische Bekundungen verstärkt wurde, was innerhalb des Lesevereins zu beträchtlichen Auseinandersetzungen
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Statuten des Lesevereins der deutschen Studenten Wiens, Niederösterreichisches Landesarchiv in Wien. Vgl. den Jahresbericht des Lesevereins für das Jahr 1873/1874, Archiv der Universität Wien, sowie Beuerle, K., Beiträge zur Geschichte der deutschen Studentenschaft Wiens, Wien 1892, S. 42 f. Beuerle, K., Beiträge ..., ebd., S. 23f.
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führte, da eine große Anzahl jüdischer Studenten in eben diesem Verein integriert war. 1875 ereignete sich die sogenannte Billroth-Affäre. Billroth hatte sich in einer Schrift über „die große Menge polnischer und ungarischer Juden" beklagt, denen die geistige und moralische Befähigung zum Arztberuf in jeder Hinsicht fehle8, worauf es zu heftigen Protesten in der Tagespresse und der Studentenschaft kam, die einem Kommentator im Gegenzug Anlaß zu der folgenden Bemerkung gaben: „Die jüdischen Studenten wollten eine tumultarische Demonstration gegen Billroth in dessen Hörsälen veranstalten. Sie begannen auch damit. Die Demonstration endete aber für die Hebräer kläglich, denn die biderben Fäuste ihrer germanischen Collegen beförderten Jung-Israel mit fabelhafter Schnelligkeit zum Hörsaal hinaus und die Treppe hinunter, und es blieb dem Stamme Juda nichts weiter übrig, als seine Genugtuung im Geschimpfe der Zeitungen und auch in einer an den damaligen Unterrichtsminister gerichteten Interpellation im Parlament zu suchen, welche Interpellation natürlich von der ,verfassungstreuen' Partei ausging."9 Die politische Radikalisierung auch des Lesevereins war nicht mehr aufzuhalten. Wiewohl der Zuzug der Studenten anhielt (der als Gegenmaßnahme im Jahre 1876 ins Leben gerufene „deutsch-österreichische Leseverein"10 konnte daran wenig ändern), mieden die Repräsentanten des Vereins zunehmend dessen Veranstaltungen: 1877, anläßlich einer Feier für den ein Jahr zuvor verstorbenen Missionar deutschen Kulturgutes, Anastasius Grün, erschien nur mehr ein Universitätsprofessor.11 Im Dezember 1877 wurde eine Versammlung des Lesevereins nach einer Rede Friedjungs, bei der er sich fragt, ob die Studenten in Zeiten wie diesen nichts Besseres zu tun wüßten, als sich um ihre kleinlichen Angelegenheiten zu kümmern, erstmals aufgelöst.12 Ein Jahr darauf, im Dezember 78, ist der Leseverein behördlicherseits nicht mehr existent. Begründet wird das Auflösungsdekret damit, „daß der Verein seit seiner Gründung konsequent vor allem national-politische Tendenzen verfolgt und einen politischen Charakter angenommen hat. Ich finde sonach den Leseverein der deutschen Studenten Wiens wegen Uberschreitens seines statutenmäßigen Wirkungskreises und weil derselbe wegen Staatsgefährlichkeit den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes nicht mehr entspricht ... aufzulösen."13 In der „Selbstdarstellung" blickt Freud auch auf politische Aspekte seiner Studentenzeit zurück: „Die Universität, die ich 1873 bezog, brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäuschungen. Vor allem traf mich die Zumutung, daß ich 8 9 10 11 12 13
Vgl. ebd., S. 33 f. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 37 f. und Hiller, Α., Der Leseverein der deutschen Studenten, a. a. O., S. 21 f. Beuerle, K., Beiträge ..., a. a. O., S. 40. Ebd., S. 41. Zitiert in: Hiller, Α., Der Leseverein der deutschen Studenten, a. a. O., S. 28.
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mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern. Ich meinte, daß sich für einen eifrigen Mitarbeiter ein Plätzchen innerhalb des Rahmens des Menschtums auch ohne solche Einreihung finden müsse. Aber eine für später wichtige Folge dieser ersten Eindrücke von der Universität war, daß ich so frühzeitig mit dem Lose vertraut wurde, in der Opposition zu stehen und von der ,kompakten Majorität' in Bann getan zu werden." 14 An dieser Aussage, die er gut fünfzig Jahre später tätigt, erstaunt vielleicht weniger, daß er den Leseverein nicht direkt beim Namen nennt; sehr wohl aber der Satz, daß er seiner Erinnerung nach auf die verweigerte Volksgemeinschaft vernichtet habe. Tatsächlich aber war Freud wie viele andere jüdische Studenten auch — und einige dieser jungen Männer sollten alsbald bekannt werden — für 5 Jahre eben eingetragenes Mitglied des Lesevereins. Wieso hat er die Mitgliedschaft stets erneuert? Warum ist er nicht ausgetreten, als sich antisemitische Tendenzen breitmachten? Die genauen Gründe kennen wir heute nicht. McGrath, dem wir die bedeutendsten Beiträge zur studentischen Situation in Wien verdanken, findet es merkwürdig genug, daß auch E. Jones, seines Zeichens erster großer Biograph von Freud, dieses Kapitel und damit eine wesentliche Periode in Freuds intellektueller Entwicklung ignoriert. 15 Wenn die detaillierten Beweggründe für Freuds Vereinsbeitritt sowie seine längjährige Mitgliedschaft also nicht mehr offen liegen, einige Motive lassen sich doch mit erheblicher Plausibilität rekonstruieren. Für seinen Eintritt sprechen wie schon angedeutet recht vordergründige: Da war die neue Situation an der Universität, die dazu animierte, das geistige Terrain auszuloten und einem universalen Bildungsgedanken nachzueifern, der ausschloß, daß man sich zu früh auf ein Spezialgebiet fixierte. Freud selbst spricht von einem „jugendlichen Ubereifer" 16 , mit dem er sich gleich auf mehrere wissenschaftliche Disziplinen stürzte. Im Leseverein schien sich Gelegenheit zu bieten, der eigenen Maxime von der „Förderung des Weltverständnisses" in reichlichem Maße nachzukommen. Daneben war es gewiß nicht uninteressant festzustellen, welche Professoren von Rang und Namen dort aktiv waren, ergab sich doch unter Umständen die Möglichkeit, erste Beziehungen anzuknüpfen. Vergleicht man die im Verein tätigen Professoren mit den Personen, die auf Freuds Jugend Einfluß ausübten, dann stößt man auf Uberraschendes. Denn daß Freud hier mit berühmten Männern und deren Ideen eine erste Bekanntschaft gemacht haben dürfte, trifft 14 15 16
.Selbstdarstellung', G W 14, S. 34. McGrath, W. J., Student Radicalism in Vienna, a. a. O., S. 184. .Selbstdarstellung', G W 14, S. 35.
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nicht nur, wie McGrath17 vermutet, auf Meynert, sondern eine ganze Reihe weiterer Koryphäen zu. Zunächst zu Th. Meynert. Der „geniale Mann" 18 , der „große Meynert"19, wie Freud sich trotz späterer Enttäuschungen über ihn zu äußern pflegte, war Psychiater und Gehirnanatom von Weltruf. Als späterer Sympathisant der sozialistischen Bewegung und persönlich tief beeindruckt von Schopenhauers Mitleidsbegriff 20 , ist er schon 1872 Ehrenmitglied des Lesevereins, ab 74/75 zugleich ordentliches Mitglied und danach in der Vereinsleitung tätig.21 Freud absolviert bei ihm im Wintersemester 1877/78 die „Psychiatrische Klinik"22, wird ab 1. Mai 1883 für fünf Monate sein Sekundararzt und sammelt dabei seine „wichtigste rein psychiatrische Erfahrung"23. Neben dem bereits erwähnten Th. Billroth, der ab 1874/75 als Ehrenmitglied und ordentliches Mitglied der Vereinsleitung zugehört — Freud macht bei dieser Kapazität seine „Chirurgische Klinik" und arbeitet 1882 zwei Monate unter ihm 24 —, stoßen wir auf den von Freud so bewunderten Physiologieprofessor E. Brücke sowie seinen Assistenten S. Exner. Die Vorlesungen und Übungen des ersteren besucht er vom Sommersemester 1874 bis Wintersemester 1875/76, um danach 6 Jahre lang in dessen Laboratorium als „famulus" zu arbeiten25, die von Exner ab dem Sommersemester 76. Sowohl Brücke wie Exner sind ordentliche Mitglieder des Lesevereins seit dem Jahre 1874. Gleiches gilt für den Zoologen und Vorstand des Instituts für Vergleichende Anatomie, C. Claus, der ab 1873 eingetragen ist. Freud interessiert sich für seine Vorlesungen ein Jahr lang und absolviert danach bis Sommersemester 76 die zoologischen Praktika. Zu eben dieser Zeit erhält er von ihm zum ersten Mal ein wissenschaftliches Stipendium zur „Untersuchung des Geschlechtslebens der Aale", deren Ergebnis von Claus publiziert wird. 26 In den Mitgliedslisten des Lesevereins entdeckt man des weiteren Freuds späteren Weggefahrten J. Breuer, unterstützendes Mitglied seit 1873 und ordentliches seit 1874, sowie den Philosophen F. v. Brentano, dessen Hausarzt wiederum Breuer war. 27 17 18 19 20 21
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McGrath, W. J., Student Radicalism in Vienna, a. a. O., S. 199. ,Selbstdarstellung', GW 14, S. 36. Die Traumdeutung, STA 2, S. 423. Vgl. Erdheim, M., Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, a. a. O., S. 57. Diese und die folgenden Daten sind den im Archiv der Universität Wien befindlichen Jahresberichten 1873/74 und 1874/75 entnommen. Die vollständige Liste der Lehrveranstaltungen, die Freud belegt und für die er Gebühren bezahlt hat, ist abgedruckt in: Bernfeld, S. / Cassirer Bernfeld, S., Bausteine der Freud-Biographik, Frankfurt am Main 1981, S. 178-180. Jones, E., Sigmund Freud. Leben und Werk, 3 Bände, übersetzt von K. Jones, München 1984 (Bern 1962), Band 1, S. 87. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 60 ff. und Bernfeld, S. / Cassirer Bernfeld, S., Bausteine der Freud-Biographik, a. a. O., S. 62 ff. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 58 f. Bernfeld, S./Cassirer Bernfeld, S., Bausteine der Freud-Biographik, a. a. O., S. 146.
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Brentano war infolge seiner Vortragstätigkeit einer der regsten Männer im Verein und ab 1874 ordentliches Mitglied. Er lädt seinen Vorlesungsgast Freud (Wintersemester 74 bis Sommersemester 76) dann zweimal zu Diskussionen zu sich nach Hause ein und empfiehlt ihn auch an ein anderes hochangesehenes Mitglied des Lesevereins weiter, an den Historiker und Philosophen Th. Gomperç Gomperz war schon seit 1872 Ehrenmitglied und suchte einen Ubersetzer für J. St. Mills Werke. Auf Vermittlung von Brentano übernimmt Freud diese Aufgabe 1879 und beendet sie im Dezember desselben Jahres. Die Ubersetzung erscheint 1880 als 12. und letzter Band der Gesammelten Werke von Mill. 28 Der Leseverein bot also hinreichend Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit namhaften Autoritäten. Es besteht aller Grund zur Annahme, daß Freud sich solcher Vorteile durchaus bewußt war und die einmal hergestellte Verbindung zum Verein eben deswegen so lange aufrechterhielt, womit ein Motiv für seine fünfjährige Mitgliedschaft gegeben wäre. Der aktuelle Anlaß für den Beitrittsentschluß dürfte freilich in seiner unmittelbaren persönlichen Umgebung zu suchen sein. Heinrich Braun, ein Freund aus der Gymnasialzeit, unter dessen ,,mächtige[m] Einfluß" Freud, wie er sagt29, zu Beginn des Studiums stand, löste in ihm die besagten Zweifel aus, ob er nun wie jener Jus oder doch lieber Medizin studieren sollte, und der etwas ältere Schulkollege war es vermutlich auch, der Freud denselben Leseverein schmackhaft machte, dem auch er selbst angehörte. Braun wurde später ein bekannter Sozialdemokrat und Publizist, gründete mit Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die „Neue Zeit", und war dann Herausgeber verschiedener Periodika, wie etwa des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik" in Berlin, des „Sozialpolitischen Zentralblattes" und der „Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung". Aus einem Brief von Freud an Brauns dritte Frau, Julie Braun-Vogelstein, wissen wir Näheres über seine Beziehung zu Heinrich Braun.30 Demnach waren die beiden schon im Gymnasium „unzertrennliche Freunde" und besprachen alles nur Erdenkliche immer gemeinsam. Braun förderte gewisse „revolutionäre Regungen" in Freud, empfahl ihm spezielle Bücher zur Lektüre und war alles in allem eine stark wirkende „Persönlichkeit", wenngleich mit überwiegend „negativen Zielen". Da Braun das Gymnasium kurzfristig und unfreiwillig verlassen mußte, kamen die Freunde erst auf der Universität wieder zusammen. Ihre Wege trennten sich langsam und in den späten Studentenjahren — Freud promovierte 1881 — verloren sie sich ganz aus den Augen. 28 29
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Ebd., S. 142. Dies ist ein von Freud 1935 eingefugter Nachtrag zur .Selbstdarstellung', der nicht in den G W aufscheint. Vgl. daher die im Fischer-Taschenbuchverlag publizierte .Selbstdarstellung', Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 6 1981, S. 40. Freud, S., Briefe 1 8 7 3 - 1 9 3 9 , a. a. O., S. 392 ff.
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Unter seinen insgesamt 6 Geschwistern hatte Heinrich eine jüngere und außerordentlich schöne Schwester namens Emma, die er abgöttisch liebte31 und allein einem Mann seiner Wahl zugestehen wollte. Dieser fand sich in Gestalt von Viktor Adler ein, der zur selben Zeit wie Freud Medizin studierte, übrigens ebenfalls bei Meynert. Emma wurde Adlers Lebensgefährtin und Frau, was eine lange Freundschaft zwischen Heinrich Braun und Adler stiftete. Sigmund Freud war bei den beiden Anfang der 80er Jahre noch einmal zum Essen eingeladen32, danach war der Kontakt zu Heinrich Braun endgültig abgerissen. Dieses Essen gelangte insofern zu einer gewissen historischen Bedeutung, als es in der heute legendären Berggasse 19, dem damaligen Wohnsitz von Adler, stattfand. Freud sollte dann 1891 die Wohnung von Adler übernehmen und darin bis zu seiner Emigration wohnen, ordinieren und schreiben. Heinrich Braun war nun jener junge Mann, der 1874 Friedrieb Nietzsche und sein Frühwerk „Die Geburt der Tragödie" für Wien „entdeckte]" 33 . In dieser Schrift unternimmt Nietzsche nicht zuletzt den Versuch, in der griechischen Antike ein grundsätzliches Paradigma einer Lebenshaltung nachzuzeichnen und zu belegen, daß gerade die naturhafte Gewalt menschlicher Triebe eine Kultur zu ihren höchsten ästhetischen Formen anzustiften vermöge. Weil eine solche Kultur die Dialektik zwischen „dionysischem" Begehren und „apollinischer" Triebzähmung nicht verharmlose oder durch einen übervernünftigen „Sokratismus" zu eliminieren trachte, sondern sie in artistischer Manier als eine „Tragik" des menschlichen Lebens begreife und zu versöhnen wisse, stelle sie das historische Vorbild für eine tiefe Einsicht in die elementaren Strukturen des Daseins dar.34 Die Thematisierung einer solchen kulturellen Gegenrationalität war nicht nur aufgrund der Brüchigkeit des Liberalismus, sondern auch wegen des im Mai 1873 erfolgten „Börsenkraches" wie geeignet, das Interesse der Wiener Studenten zu wecken und bot hinreichend Anlaß, sich näher mit Nietzsche zu beschäftigen. Das Café „Griensteidl" am Michaelerplatz stand damals im Ruf, eines der aktuellsten Diskussionszentren von Wien zu sein. Hier unterhielt sich Heinrich Braun des öfteren mit dem Lyriker Siegfried Upiner über Nietzsche, als eines Tages Viktor Adler, von den geistreichen Tischgesprächen seiner Nachbarn angeregt, sich dazugesellte und damit zum ersten Mal mit den Ideen des Philosophen bekannt wurde.35 Alle drei — Braun, Adler und Lipiner — wurden in der Folge glühende Verehrer von Nietzsche. Heinrich Braun war ursprünglich sogar 31
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Braunthal, J., Viktor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien 1965, S. 29. Freud, S., Briefe 1 8 7 3 - 1 9 3 9 , a. a. O., S. 392. Braunthal, J., Viktor und Friedrich Adler, a. a. O., S. 28. Vgl. Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 9 ff. Braunthal, J., Viktor und Friedrich Adler, a. a. O., S. 27 f.
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davon überzeugt, daß einzig und allein Friedrich Nietzsche seiner schönen Schwester Emma gemäß sein könnte. Wie vorauszusehen, wurde aus dieser Liaison nichts und V. Adler wie gesagt ihr späterer Angetrauter. Adler wiederum bezeugte seine Verehrung Nietzsche gegenüber dadurch, daß er seinen ersten Sohn, vermutlich eben nach dem Vornamen des Philosophen, Friedrich hieß. 36 Und Lipiner entwickelte sich schließlich zur Hauptfigur unter den Wiener Nietzsche-Begeisterten. Mit ihm war Freud ebenfalls bekannt, auch deshalb, weil dieser des öfteren bei der Familie seines Freundes Heinrich Braun eingeladen war. 37 Das „Griensteidl" war aber durchaus nicht der einzige Treffpunkt der intellektuellen Avantgarde Wiens, welche sich, sosehr die Lokale auch wechseln sollten, allmählich um denselben Personenkreis zentrierte. Schon im Schottengymnasium hatte Viktor Adler einen Kreis von Freunden fur hitzige Diskussionen über Literatur, die Französische Revolution, den Verrat am Deutschtum und die entstehende Arbeiterbewegung gewonnen. 38 Im „Adlerhorst", so sollte sich die Runde nennen, debattierten neben Adler noch E. Pernerstorfer.; später einer der Führer der Sozialdemokratie und langjähriges Mitglied des Reichsrates, der schon erwähnte H. Friedjung, bald ein bekannter Historiker, M. Gruber, der einen wissenschaftlichen Ruf als Hygieniker erwerben sollte, Braun, Lipiner u. a. Aus diesem Kreis sollte sich alsbald ein sogenannter „Pernerstorfer-Zirkel" absondern, in dem Pernerstorfer, Adler, Gruber und Friedjung ihre Sympathie für die deutschnationale Politik mit einem heftigen Engagement für die Arbeiterbewegung und die „soziale Frage" zu verbinden wußten. So lautete der erste Paragraph des Zirkels: „Klärung und Feststellung unserer Ansichten über die soziale Frage." 39 Die ersten drei traten kurzfristig auch noch der deutschnationalen Burschenschaft „Arminia" 40 bei, um dann nach Gründung des Lesevereins in diesen überzuwechseln, wo besonders Adler und Pernerstorfer mit Feuereifer zur Sache gingen: 1873 waren die beiden bereits als führende Funktionäre in der Vereinsleitung tätig, Adler als 1. Bibliothekar und Pernerstorfer als 1. Schriftführer.41 In der Nähe des „Griensteidl" gab es noch ein weiteres einschlägiges Lokal: das „Ramhartersche" vegetarische Restaurant, in dem die Gäste, dem Bekenntnis des Bayreuther Meisters Richard Wagner folgend, eine Symbiose von Sozialismus und Vegetarismus, Politik und Kunst anstrebten. Braun, der bereits zum 36 37 38
39 40 41
Vgl. Ermers, M., Viktor Adler, Wien-Leipzig 1932, S. 104. Braunthal, J., Viktor und Friedrich Adler, a. a. O., S. 29. Zu diesem und dem folgenden vgl. Braunthal, J., Viktor und Friedrich Adler, a. a. O., S. 20 ff.; Ermers, M., Viktor Adler, a.a.O., S. 86ff.; McGrath, W.J., Student Radicalism in Vienna, a. a. O., S. 185 ff.; McGrath, W. J., Dionysian Art und Populist Politics in Austria, New Haven and London 1974, S. 32 ff. Ermers, M., Viktor Adler, a. a. O., S. 56. McGrath, W. J., Dionysian Art ..., a. a. O., S. 35. Vgl. den Jahresbericht 1873/74, S. 9.
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Vegetarier geworden war, sowie Adler, der davon weniger hielt, nichtsdestotrotz aber 1876 zu den Bayreuther Festspielen gepilgert war, die sogenannten „politischen" Köpfe also, trafen hier auf die „unpolitischen" Ästheten wie Lipiner, Hugo Wolf und Gustav Mahler. Dieselbe Runde, um Pernerstorfer erweitert, fand sich zudem jeden Donnerstag im akademischen „Wagner-Verein" wieder und weniger gesittet auch in der Hinterstube eines anderen Wirtshauses. Dort hielt „Bier-Zeus" Pernerstorfer seine Reden, man diskutierte die üblichen Themen, angefangen von Schopenhauers und Nietzsches Philosophie über Wagners Kunst bis zur deutschnationalen Politik, und da mochte es in feuchtfröhlicher Stimmung schon passieren, daß Adler und Friedjung „Deutschland, Deutschland über alles" anstimmten, während Mahler auf dem Wirtshausklavier seine improvisierten Akkorde anschlug.42 Es ist nichts davon bekannt, daß Freud sich je unter diese Wirtshausphilosophen gemischt hätte. De facto war es freilich unmöglich, sich von den Zirkeln und deren Diskussionsthemen abzuschütten. Immerhin war Heinrich Braun sein Freund, er kannte Viktor Adler und Siegfried Lipiner, und Josef Paneth, ein weiterer enger Jugendfreund, engagiertes Lesevereinsmitglied und Nietzsche-Verehrer, war ebenfalls mit Adler und Lipiner gut bekannt. Wenn Freud auch nicht als Zecher verschrieen war, eine gemeinsame Begeisterung jedenfalls teilte er die ersten Studentenjahre hindurch mit den genannten Idealisten, politischen Querköpfen und Künstlernaturen: das euphorische Interesse an der Philosophie. Im Sommer 1873, also kurz nachdem er sich für das Medizinstudium entschieden hatte, schreibt er seinem Jugendfreund Eduard Silberstein, mit dem er viele Jahre das Leopoldstädter Real- und Obergymnasium besuchte: „Vom nächsten ersten Universitätsjahr kann ich Dir die Nachricht geben, daß ich es ganz und gar auf rein humanistische Studien verwenden werde, die mit meinem Fach noch nichts zu tun haben, mir aber gar nicht unnützlich sein sollen. [...] Zu dem bezeichneten Zwecke besuche ich im ersten Jahre die philosoph. Fakultät. Wenn mich also ein fragt / oder Dich für mich fragt /, was ich werden will, so enthalte Dich jeder bestimmten Antwort und erwidre etwa: Ein Gelehrter, ein Professor oder d. e. — " 4 3 Bereits 1874 wird von Freud ein philosophisches „Journal" ins Leben gerufen, dem auch Paneth und Lipiner angehören.44 Am 8. 11. desselben Jahres teilt er Silberstein mit, er und sein Freund Josef Paneth hätten sich in die Philosophie bereits eingearbeitet: „Leid täte es mir ζ. B., wenn Du, der Jurist, die Philosophie gänzlich vernachlässigen würdest, während ich gottloser Mediziner und Empiri42 43
44
Vgl. Ermers, M., Viktor Adler, a. a. O., S. 96 ff. Freud, S., Jugendbriefe an E. Silberstein 1871 — 1881, herausgegeben von W Boehlich, Frankfurt am Main 1989, S. 30. Vgl. ebd., S. 85 und 100. Im übrigen ist Freud sich noch 1877 unschlüssig, was er von Lipiner eigentlich halten soll (vgl. Jugendbriefe, ebd., S. 190).
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ker 2 philosophische Kollegien höre und in Gemeinschaft mit Paneth den Feuerbach lese." Die Lektüre hinterläßt einen nachhaltigen Eindruck. Am 7. März 1875 schreibt er Silberstein zur Bedeutung Feuerbachs, er sei jener Denker gewesen, „den ich unter allen Philosophen am höchsten verehre und bewundere" 45 . Die angesprochenen Kollegien beziehen sich auf Fran% v. Brentano, bei dem er zwischen Wintersemester 1874 und Sommersemester 1876, also volle zwei Jahre, aufmerksamer Hörer war. Freud muß von Brentano sehr beeindruckt gewesen sein, und da Paneths Familie mit Brentano persönlichen Umgang pflegte 46 , dürften er und Paneth den Mut aufgebracht haben, den Philosophen direkt auf ihre Anliegen hin anzusprechen. Emphatisch setzt Freud am 7. März Silberstein in Kenntnis: „[...] wir überschickten ihm einen Brief mit Einwänden, er lud uns in seine Wohnung, widerlegte uns, schien ein Interesse an uns zu finden [...] und hat uns jetzt, nachdem wir ihm einen zweiten Brief mit Einwänden überreicht, von neuem zu sich beschieden. Von diesem merkwürdigen (er ist Gottesgläubiger, Theolog (!) und Darwinianer, und ein verdammt gescheiter, ja genialer Kerl) und in vielen Hinsichten idealen Menschen wirst Du mündlich Mehreres hören." Gleich anschließend wird die eigentliche Sensation preisgegeben: „Für jetzt die Neuigkeit, daß zumal unter dem zeitigenden Einfluß Brentano's in mir der Entschluß gereift ist, das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben; weitere Verhandlungen sind im Zuge, um entweder vom nächsten Semester oder vom nächsten Jahr an meinen Eintritt in die philosophische Fakultät zu bewerkstelligen." 47 Unmittelbaren Anlaß für die Diskussion bot Brentanos eben erschienenes Hauptwerk „Psychologie vom empirischen Standpunkte". Brentano, der als Ordinarius von Würzburg nach Wien übersiedelt war, fühlte sich dem Weltbild des Empirismus verpflichtet, wenngleich er als Aristoteliker zeit seines Lebens nach einer wissenschaftlichen Begründung des Gottesgedankens suchte. 48 Seine „Psy-
45
Ebd., S. 82 und 111. Im nachhinein läßt sich nicht mehr feststellen, welche Schrift von Feuerbach gemeint war. Unter den Büchern, die Freud 1938 in die Emigration mitnahm, befand sich zwar „Das Wesen des Christentums", allerdings mit dem Erscheinungsdatum 1923 (vgl. Trosman, H. / Simmons, R. D., The Freud Library, Journal of the American Psychoanalytic Association, Volume 21/1, New York 1973, S. 661.). Neben vielen Möglichkeiten (Verlust, Schenkung, Verkauf u. dgl.) ist auch denkbar, daß Freud Feuerbach, wie viele andere Werke auch, später durch eine neuere Ausgabe ersetzt hat. Im Nachwort zu den Jugendbriefen an E. Silberstein merkt der Herausgeber Boehlich an, es sei „fraglos" Das Wesen des Christentums gewesen, in das Freud sich vertieft habe - freilich ohne einen diesbezüglichen Beleg zu erbringen (vgl. a. a. O., S. 242). Die Frage, ob Freud mit Feuerbachs populärster Schrift schon recht früh vertraut war, wäre auch deswegen von Interesse, weil sich dessen Religionskritik in einigen Ansätzen bei Freud wiederfindet, so vor allem in der „Zukunft einer Illusion" (STA 9, S. 135 ff.).
46
Bernfeld, S./Cassirer Bernfeld, S., Bausteine der Freud-Biographik, a. a. O., S. 146. Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 109 (H. d. V.). Vgl. Mayer-Hillebrand, F., Franz Brentano: Der Werdegang seines philosophischen Denkens, in: Wissenschaft und Weltbild 21, Wien 1968, S. 17 ff.
47 48
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chologie" ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie der Frage nach der Existenz des Unbewußten besonders breiten Raum widmet und 50 Seiten lang Gründe wie Gegengründe für eine solche Annahme erwägt. Obgleich Brentano letztlich zum Schluß kommt: „Die Frage: gibt es ein unbewusstes Bewusstsein, [...] ist demnach mit entschiedenem Nein zu beantworten"49, so fuhrt er doch die Argumente all jener Gegner, welche die Existenz eines solchen behaupten, bis ins Detail an. Insbesondere setzt er sich mit seinem Kontrahenten Eduard v. Hartmann und dessen 1869 erschienenen Schrift „Die Philosophie des Unbewussten" auseinander und versucht ihm in seinem Werk mit wissenschaftlicher Akribie, ein anderes Mal freilich etwas polemischer zu antworten: In einem Vortrag über Plotin, im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Lesevereins unter dem Titel „Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht" gehalten, bringt er diesen „Philosophen des Unbewußten, der jetzt vor anderen der Held des Tages ist" in Verbindung mit einer „Philosophie der Willkür", deren „Krankheit" selbst durch den Einfluß der Naturwissenschaften nicht so schnell gestoppt werden könne und wohl noch einige Zeit fortdauere.50 Freud ist also schon recht früh in seinem Leben mit dem Problemkreis „Unbewußtes: ja oder nein?" konfrontiert worden. Nicht nur das. Einige Details jener Verfechter des Unbewußten, die Brentano in seiner „Psychologie" mit der ihm gebotenen Seriosität referiert, nehmen sich im Rückblick wie kleine Fingerzeige auf Freuds spätere Gedanken aus. So ist die Rede von „unbewußten Assimilationen während des Tages", die sich im Traumleben niederschlagen, von unbewußten Einflüssen auf das Versprechen und Verschreiben, besonders „günstigen Umständen der Association", welche gestatten, daß bislang nicht Erinnertes wieder in die Erinnerung zurückkehrt, unbewußten Zuständen der Liebe, einer „unbewussten Seelenthätigkeit in Folge der Einwirkung innerer Organe, ζ. B. der Sexualorgane auf das Gehirn" und von Brentanos eigener Klassifikation psychischer Phänomene in „Liebe und Haß".51 Am 15. und 27. März 1875 schildert Freud Silberstein seinen neuerlichen Besuch bei Brentano. Dabei habe ihm dieser angeraten, das Doktorat der Philosophie neben dem der Medizin weiterhin im Auge zu behalten und als grundlegende Lektüre v. a. Schriften von Descartes, Locke, Leibniz, Hume, Kant und Comte empfohlen. Kant sei im Gegensatz zu Hume in der Beurteilung schlecht weggekommen, Schelling, Fichte und Hegel müßten gar als „Schwindler" etiket49 50 51
Brentano, F. v., Psychologie vom empirischen Standpunkte, Leipzig 1874, S. 180. Deutsche Zeitung vom 6. 4. 1876. Brentano, F. v., Psychologie vom empirischen Standpunkte, a. a. O., S. 147—150 und S. 261 ff. Zu weiteren Ähnlichkeiten zwischen v. Brentano und Freud vgl. Wucherer-Huldenfeld, Α., Sigmund Freud als Philosoph, in: Wissenschaft und Weltbild 21, Wien 1968, S. 174 sowie Kerz, J. Ph., Das wiedergefundene ,Es', in: Psyche, 39. Jahrgang, Heft 2, Stuttgart 1985, S. 125 ff. Kerz gibt auch bibliographische Hinweise bezüglich der Literatur zu v. Brentano — Freud.
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tiert werden. Hauptgegenstand des Disputes ist Brentanos Gottesbegriff, der Freud einmal auf „lächerlich leichte Weise" erschlossen scheint, dann wieder als logisches Prinzip akzeptiert werden könne, jedenfalls aber ein „höchst merkwürdiger" sei. Das Gottesproblem wird Freud wenig später nochmals zum Anlaß einer ausfuhrlichen, wenngleich äußerst freizügigen Erörterung des Kantschen Kritizismus. 52 In einem Brief vom 13. März bringt Freud auch Nietzsche ins Spiel. Silberstein, der zu dieser Zeit in Leipzig Jura studiert, erfahrt zunächst, was sein Freund im Sommersemester 75 zu studieren gedenkt: Anatomie, Optik, Physiologie, Zoologie, Organische Chemie sowie zweimal die Woche Brentanos Logik und einmal seine philosophische Vorlesung. Indes sei der durch die Vielfalt der Interessen vollgestopfte Stundenplan noch lange kein Grund zur Beunruhigung, denn er, Freud, denke nicht daran, seine Zeit den Universitätsverpflichtungen über Gebühr zu opfern: Es fehlt auch nicht an Zeit, sich eine Stunde im Wasser zu wälzen und dann ein Nachtmahl beim Hirschen einzunehmen, denn studiert wird nachts nichts außer den Vorlesungen, freilich mancherlei Philosophisches) und Naturhistorisches gelesen. „So leben wir, so wandeln wir berückt", obwohl erst 1873 Fried. Nietzsche in Straßburg dies Zitat dem David Strauß beanständet hat.53
Wenngleich es Basel statt Straßburg heißen sollte, ist das bei Nietzsche auffindliche Strauss-Zitat von Freud — freilich ohne jeden Quellenvermerk — rieh*
tig wiedergegeben. Es findet sich im vierten Abschnitt der „1. Unzeitgemäßen Betrachtung" 54 , wobei sich die „Unzeitgemäße" als polemische Abrechnving mit der 1872 erschienenen Strauss-Schrift „Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß" versteht. Nietzsche legt dabei Strauss drei Fragen vor: „Erstens: wie denkt sich der Neugläubige seinen Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens: wie schreibt er seine Bücher?" Nietzsches nicht eben zurückhaltende Antworten lauten: Dessen „Himmel auf Erden" verdanke sich keinem einzigen tiefen und eigenständigen Gedanken, sondern „der Straussische Philister haust in den Werken unserer grossen Dichter und Musiker wie ein Gewürm, welches lebt, indem es zerstört, bewundert, indem es frisst, anbetet, indem es verdaut"; er sei ein bloßer „Held der Worte", in Wirklichkeit aber feige, weil er sich nur dem Philisterdenken anbiedern und keine „Zufriedenheit irgend welcher Art stören" wolle; und schließlich ein unsagbar schlechter Schriftsteller mit einem über alle Maßen erbärmlichen Stil. 55
52 53 54 55
Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 116 —121. Ebd., S. 115 f. (H. d. V). David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, KSA 1, S. 179. Vgl. ebd., KSA 1, S. 177, 188, 194, 216 ff.
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In der Polemik gegen Straussens „Himmel auf Erden" zitiert Nietzsche nun jene Passage aus dem „Bekenntnisbuch", auf die Freud anspielt und mit seiner eigenen Lebenseinstellung in Beziehung setzt. Neben den Interessen, die der jeweilige Beruf als Gelehrter, Künstler, Beamter usw. mit sich bringe, gelte es, so Strauss, den Sinn für die „höheren Interessen der Menschheit" möglichst wach zu halten und über geschichtliche und naturwissenschaftliche Studien ein Verständnis für die politische Situation zu erwerben; aber auch die Lektüre großer Dichter und der Genuß an den Aufführungen musikalischer Werke seien dazu angetan, Geist, Gemüt, Phantasie und Humor anzuregen: „So leben wir, so wandeln wir beglückt." Darauf Nietzsche: „Das ist unser Mann, jauchzt der Philister, der dies liest: denn so leben wir wirklich, so leben wir alle Tage. Und wie schön er die Dinge zu umschreiben weiss! Was kann er zum Beispiel unter den geschichtlichen Studien, mit denen wir dem Verständnisse der politischen Lage nachhelfen, mehr verstehen, als die Zeitungslectüre, was unter dem lebendigen Antheil an der Aufrichtung des deutschen Staates, als unsere täglichen Besuche im Bierhaus? und sollte nicht ein Spaziergang im zoologischen Garten das gemeinte .gemeinverständliche Hülfsmittel' sein, durch das wir unsere Naturerkenntnis erweitern? Und zum Schluss — Theater und Concert, von denen wir .Anregungen für Phantasie und Humor' nach Hause bringen, die ,nichts zu wünschen übrig lassen' — wie würdig und witzig er das Bedenkliche sagt! Das ist unser Mann; denn sein Himmel ist unser Himmel!"56 Man sieht, der inhaltliche Kontext, der zur „Beanstandung" Straussens durch Nietzsche führte, ist von Freud durchaus richtig verstanden worden. Zwei miteinander verwobene Möglichkeiten lassen sich diskutieren, auf welchem Wege Freud zu dieser Zitierung gelangt ist. Realistisch scheint, daß das Strauss-Wort „So leben wir, so wandeln wir beglückt" im Wiener Nietzsche-Kreis geradezu als geflügeltes Unwort und als verächtliches Beispiel für alles bloß Zeitgemäße gehandelt wurde und Nietzsches Polemik daher Freud über seine Freunde zwangsläufig zu Ohren kam, ohne daß er sich selbst genauer in Nietzsche einlesen mußte. Möglich aber auch, daß sich Freud zunächst die Schrift von Strauss und dann jene von Nietzsche angeeignet hat. Wie er in einer späteren Antwort auf eine Frage des Philosophen L. Binswanger nach seiner philosophischen Lektüre mitteilt, zählte Strauss schon früh zu seinen Lieblingsbüchern: „David Friedrich Strauß und Feuerbach habe ich in jungen Jahren allerdings mit Genuß und Eifer gelesen."57 Die Vertiefung in Feuerbach ist nun aus dem Jahre 1874 bezeugt. Geht man davon aus, daß das Studium des Werkes von Strauss, das auch eine Hommage an den von Freud damals geradezu bewunderten Darwin beinhaltet, 56 57
Ebd., S. 179. Zitiert im Nachwort zu den Jugendbriefen an E. Silberstein, a. a. O., S. 242.
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ebenfalls in diese Zeit fallt, dann hätte sich zwangsläufig angeboten, das eigene, sehr positive Urteil über Strauss anschließend mit dem Urteil eines Denkers zu vergleichen, über den sein Freundeskreis geradezu ins Schwärmen geriet. 58 Wie auch immer, entscheidender wird die Beantwortung der Frage sein, ob die „1. Unzeitgemäße" eine größere Bedeutung in Nietzsches Gesamtschaffen einnimmt bzw. ob ihr möglicherweise ein Einfluß auf Freuds spätere Psychologie zukommt. Beides darf verneint werden: Weder ist sie inhaltlich dazu angetan, eine nachhaltigere Wirkung über jenen von Freud selbst angesprochenen Kontext hinaus zu hinterlassen, noch kann ihr konstitutiver Rang in Nietzsches Denkentwicklung zugemessen werden. Die Literatur ist sich über die marginale Bedeutung der „1. Unzeitgemäßen" weitgehend einig, vergleicht man sie beispielsweise mit der ebenfalls 1873 verfaßten Nachlaßschrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoraüschen Sinne" 59 . In eben dasselbe Jahr 1875, in dem Freud sich also überschwenglich auf die Philosophie stürzt und nebenbei auch auf Nietzsche anspielt, fällt im Leseverein gewissermaßen ein philosophisches Großereignis für Freuds Freunde an: Es findet die erste offizielle Diskussion über Nietzsche statt 60 , und zwar über die 1874 veröffentlichte 2. Unzeitgemäße Betrachtung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" 61 . In dieser Schrift stellt Nietzsche die Frage, inwieweit die Geschichtsbetrachtung Sinn und Wert für das Leben habe, wobei er zum Resultat kommt, daß das Interesse an Geschichte gleichermaßen von Nutzen wie von Nachteil für Individuum und Kultur sein könne. Die oft hämische Kritik richtet sich freilich insbesondere gegen die neuzeitliche Mode jener „historischen Krankheit", die dem schöpferischen Augenblick nicht mehr gerecht werden könne, weil sie im Vergangenen versunken und darin aufgegangen sei, ja mehr noch, für die, weil sie alles Historische gleich wichtig nehme, alles gleich nichtig sei. Insofern es gelte, das rechte Maß zwischen Geschichtserinnerung und Vergessen zu finden und dem Prozeßgeschehen der Welt einen künsderischen Anspruch zuzubilligen, ohne sich in traditionsbefangener Manier Wissen darüber anzumaßen, welche Richtung der Strom der Zeit zuguterletzt doch einschlagen werde, ist das Buch eine Abrechnung mit allen Spekulationen über die Zielgerichtetheit von Geschichte, und sei es selbst v. Hartmanns teleologischer
58
59 60 61
Wie im Falle Feuerbach ist auch hinsichtlich Strauss nicht mehr zu eruieren, ob Freud ein diesbezügliches Exemplar besessen hat. Weder in London noch in Washington noch in Wien, wo die noch existierenden Bestände der Freudschen Bibliothek einsehbar sind, findet sich ein Exemplar von „Der alte und der neue Glaube", was freilich nicht allzuviel zu bedeuten hat. Vgl. obige Anmerkung 45 und die unten auf S. 39 f. referierte Geschichte, welchen Weg Freuds Bücher während seiner Emigration gegangen sind. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 875 ff. McGrath, W J., Student Radicalism in Vienna, a. a. O., S. 62. Vgl. KSA 1, S. 243 ff.
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Pessimismus von einer „Philosophie des Unbewußten", auf die auch Nietzsche ausfuhrlich und sehr ironisch eingeht. Vortragender der genannten Veranstaltung ist Josef Paneth, Koreferent Viktor Adler, dabei sind auch Pernerstorfer und Siegfried Lipiner, der mit einem eindrucksvollen Diskussionsbeitrag die Aufmerksamkeit des Auditoriums auf sich zu lenken versteht.62 Wir wissen nicht, ob Freud bei dieser Nietzsche-Debatte zugegen war, aber daß er von seinem engsten Mitstreiter Paneth über die Thematik der „2. Unzeitgemäßen" (vielleicht auch über Nietzsches v. Hartmann-Kritik) informiert worden ist, erscheint angesichts seiner damaligen Philosophiebegeisterung geradezu evident. Im nächsten Jahr, also 1876, konzentrieren sich die Bestrebungen im Leseverein dahingehend, zusätzliche Gelegenheiten zur Diskussion zu schaffen. Es beginnt der Aufbau eines sogenannten Rede-Klubs, dessen formale Organisation im März 1877 beendet ist, wobei sich Viktor Adler und Max Gruber als leitende Funktionäre zur Verfugung stellen. Eine der drei Hauptzielsetzungen des Klubs sollte der Vertiefung der Philosophie dienen, allerdings nicht im Sinne purer akademischer Gelehrtheit, sondern vielmehr nach einem Motto Nietzsches, Philosophie müsse zuvorderst im Dienste des Lebens stehen. Während die Vorbereitungen zur Organisation des Rede-Klubs noch im Gange sind, macht ein bislang noch unerwähnt gebliebener Mann gewissermaßen durch eine Pioniertat von sich reden: der Student der Philosophie, Schriftsteller und spätere Feuilletonist Josef R. Ehrlich. Durch seine Bekanntschaft mit Viktor Adler mit den Aktivisten des Nietzsche-Kreises in Verbindung, beschließt er nach Lektüre der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", Nietzsche für diese Schriften persönlich zu danken, aber auch die Ungeduld zu betonen, mit der er und seine Freunde auf ein neues Werk hofften: Nun erlaube ich mir noch einem besondern Wunsche, der uns Alle angeht, Ausdruck zu geben. Ich spreche nämlich im Namen Ihrer begeisterten Verehrer an der hiesigen Universität: Mit jeder literarischen Notiz, die uns das Ausland bringt, suchen wir mit Sehnsucht nach Ihrem werthen Namen, nach einem neuen Buche, das Ihren Namen trägt. Ihre Muse ist selten, zwar bringt sie darum auch Seltenes [,] aber die Zeit dünkt uns zu lange und unsere Ungeduld macht uns doppelt ungenießbar jede andere, neuzubereitete philosophische Kost.
Gleichzeitig trägt er in diesem Brief vom 21. April 1876 die Bitte vor, Nietzsche möge doch seine eben erschienenen, dem Brief beigelegten „Fabeln und Aphorismen" prüfen und ihm darüber ein „unbestechliches Urtheil" zukommen
62
Vgl. Pernerstorfer, E., Nekrolog auf Siegfried Lipiner, in: Zeitschrift des österreichischen Vereins für Bibliothekswesen, 3. Jahrgang 1912, Wien und Leipzig 1913, S. 122. Zu Paneths Bekanntschaft mit V Adler, S. Lipiner, E. Pernerstorfer u. a. vgl. auch Venturelli, Α., Nietzsche in der Berggasse 19, a. a. O., S. 448 ff.
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lassen. 63 Anzumerken ist, daß dieses kleinformatige Bändchen vor allem eines war: gut gemeint. Ehrlichs Fabeln wie „Die Eidechse und die Grasmücke", „Die Frösche und die Bachstelze", „Der Esel und der Hund", „Die Welschnuß und die Roßkastanie" sind darauf angelegt, die Neugier auf einen dahinter sich verbergenden tieferen „Sinn" zunächst einmal zu wecken. Um das Publikum aber nicht im ungewissen darüber zu lassen, was mit den Fabeln zuletzt gemeint ist, erfolgt regelmäßig die Ausdeutung des Textes, sodaß der Leser die Intention der jeweiligen Fabel schließlich auch „versteht". Für den Erkenntnisgehalt der Aphorismen wiederum mögen zwei beliebige Beispiele stehen: „Zielen kann jeder, nur treffen nicht, daß [sie] ist die Liebe ohne Menschenkenntniß." — „Im Winter blitzt's und donnert's nicht: Wenn dein Herz frostig ist, kann dein Geist nicht zünden." 64 Nietzsches Antwort ist zwar nicht mehr überliefert, doch aus Ehrlichs neuerlichem Schreiben an ihn können wir folgendes entnehmen: „Ihr Urtheil über meine Fabeln hat mich ebenso sehr befriedigt als Ihre Ansicht über diese Dichtungsart." 65 Nietzsche hatte sich also nicht abwertend geäußert, und sei es, was anzunehmen ist, aus Gründen reiner Höflichkeit. Und so mußten seine Zeilen wie ein Stimulans gewirkt haben, denn Ehrlich schließt seinen Brief mit dem Postskriptum: „Meine Freunde tranken gestern auf Ihr Wohl und werden immer die erste Blume zu Ihrem Besten darbringen." 66 Wenn auch Ehrlichs Kontakt mit Nietzsche ein kurzes Zwischenspiel und auf diesen Briefwechsel beschränkt blieb, so galt derselbe doch als Zeichen, daß Nietzsche sich einer Annäherung seiner Anhänger nicht von vornherein verschloß und zugleich als die Ermunterung, den Philosophen weiterhin hochleben zu lassen. Das folgende Jahr 1877 geriet denn auch zum Höhepunkt — es darf sozusagen das „Nietzsche-Jahr von Wien" genannt werden. Gleich nach der offiziellen Gründungsversammlung des „Rede-Klubs" im März stellt Siegfried Upiner Nietzsches 3. Unzeitgemäße Betrachtung „Schopenhauer als Erzieher" dem Publikum vor. 67 Diese Schrift hat mit Schopenhauers Theorie nur am Rande zu tun. Nietzsche zeichnet darin ein Portrait vom Menschen Schopenhauer, wie er sich ihn vorstellt: als unnachgiebigen und unerbittlichen Geist, der lieber Gefahr, Einsamkeit und Verzweiflung der Denkanstrengung auf sich nimmt, als auf Karriere und Universitätslaufbahn zu schielen. „Schopenhauer als Erzieher" ist eine Art existenzphilosophische Programmatik, die der Vermassung, den öffentlichen Scheinmenschen und durchschnittlichen Denkern, der Staatsgläubigkeit und Wissenschaftshörigkeit, welche allem Leben ignorant sich entgegenstellt, den 63
64 65 66 67
F. Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe (KGB), herausgegeben von C. Colli und M. Montinari, Berlin-New York 1975 ff., Abt. II, 6,1, S. 313 ff. Ehrlich, J. R., Fabeln und Aphorismen, Wien 1876, S. 151 f. KGB Abt. II, 6,1, S. 342. KGB Abt. II, 6,1, S. 344. McGrath, W J., Dionysian Art ..., a. a. O., S. 63 f.
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Kampf ansagt. Um nicht dieser Verflachung der Kultur zu verfallen, müsse der Einzelne ein außerordentliches Maß an Selbsterziehung und Härte sich gegenüber auferlegen, denn nur so könne er sein wahres Selbst und die darin schlummernden Keime eines schöpferischen Genius entdecken. Die Aufgabe des Individuums treffe sich dergestalt mit der eigentlichen Aufgabe der Kultur: „Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns fordern und dadurch an der Vollendung der Natur arbeiten."68 Solche Worte mußten in den Ohren der aufbegehrenden und kulturverachtenden Wiener Studenten wie Musik klingen. Dem Beispiel Ehrlichs folgend, versucht auch Lipiner, den direkten Briefkontakt mit Nietzsche herzustellen und ihn auf seinen Lyrikband „Der entfesselte Prometheus" aufmerksam zu machen. Da er aber vergeblich auf eine Antwort wartet — das Exemplar scheint bei der Ubersendung verloren gegangen zu sein —, entschließt er sich, zu Nietzsches Freunden Paul Rèe und Erwin Rohde zu pilgern, um hier in Erfahrung zu bringen, ob Nietzsche das Exemplar des „Prometheus" überhaupt erhalten habe. Am 29. Juni 1877 schreibt Rée an Nietzsche: „Neulich war ein Herr Siegfried Lipiner hier [...] Er ist ein großer Verehrer deiner Schriften, Mitglied eines Wiener ,Niet%schevereins', schwärmte förmlich von dir, und behauptet, dir sein Buch ,der entfesselte Prometheus' zugeschickt zu haben. Ich soll anfragen, ob du es bekommen habest: wenn nicht, wolle er dir alsbald ein 2 tes Exemplar zuschicken."69 Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit geben Rèe und Rohde allerdings keine Auskunft über Nietzsches damaligen Aufenthaltsort, worauf Lipiner kurzerhand zu Nietzsches Mutter nach Naumburg fährt. Diese Reise sollte sich als Erfolg herausstellen: Er erhält nicht nur die gewünschte Adresse, sondern darf auch eine Fotografie von Nietzsche mit nach Hause nehmen. Am 3. August schickt Lipiner ein zweites Exemplar ab, das jetzt sein Ziel erreicht. Nietzsche ist tief beeindruckt, noch im gleichen Monat schreibt er an Rohde: „Ganz neuerdings erst erlebte ich durch den .entfesselten Prometheus' einen wahren Weihetag: wenn der Dichter nicht ein veritables ,Genie' ist, so weiss ich nicht mehr, was eins ist: alles ist wunderbar, und mir ist als ob ich meinem erhöhten und verhimmlischten Selbst darin begegnete. Ich beuge mich tief vor einem, der so etwas in sich erleben und herausstellen kann." 70 Und an Lipiner selbst: „Also: Von jetzt an glaube ich, dass es einen Dichtergiebt. [...] sagen Sie mir sodann ganz unbefangen, ob Sie in Hinsicht auf Herkunft in irgend einer Bezie68 69
70
Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 382. KGB Abt. II, 6,1, S. 595 (H. d. V.); vgl. auch Janz, C. P., Friedrich Nietzsche, Biographie in 3 Bänden, München 1981 (München-Wien 1978), Band 1, S. 782. KSB 5, S. 278; Die Beziehung Nietzsche - Lipiner analysiert ausführlich Venturelli, Α., Nietzsche in der Berggasse 19, a. a. O., S. 455 ff.
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hung zu den Juden stehen. Ich habe nämlich neuerdings so manche Erfahrungen gemacht, die mir eine sehr grosse Erwartung gerade von Jünglingen dieser Herkunft erregt hat." 71 Lipiner beantwortet daraufhin die Frage mit „ja", was sich allerdings ändern und, wie wir noch hören werden, einen Grund für Nietzsches späteren Bruch mit ihm bilden sollte. 1877 jedoch, als Lipiner „Schopenhauer als Erzieher" referiert, dann die Pilgerreise zu Nietzsches Mutter antritt, den „Prometheus" abschickt und die Korrespondenz mit Nietzsche in die Wege leitet, scheint es, als ob eine gegenseitige, respektvolle Freundschaft ihren Anfang genommen habe und der Vertiefung harre. Ganz im Banne Lipiners beschließt der harte Kern des „Nietzschevereins", dem Philosophen anläßlich seines Geburtstages die absolute Gefolgschaft der Wiener Anhänger zu versichern. In dem am 15. Oktober abgeschickten pathetischen Brief heißt es, die Unterzeichneten fühlten sich von seinen Schriften zutiefst berührt und wollten auch in Hinkunft alles daran setzen, für die Verwirklichung jenes Ideals einzutreten, das er in „Schopenhauer als Erzieher" so trefflich beschrieben habe. Unterschrieben ist der Brief von den Protagonisten der Gruppe: Lipiner, Gruber, V. Adler, S. Adler, Braun und Pernerstorfer. Im Begleitschreiben zu diesem Kollektivbrief meint Lipiner, er hätte noch weit mehr Unterschriften sammeln können, hätte er nicht so „strenge" Maßstäbe angelegt.72 Dies dürfte der Grund gewesen sein, wieso beispielsweise der Fabeldichter Josef Ehrlich nicht aufscheint und insgleichen auch nicht jener Josef Paneth, der noch lange die Begeisterung zu Nietzsche aufrechterhalten und seinen Sohn dann, wie Viktor Adler auch, (vermutlich eben nach dem Vornamen des Philosophen) Friedrich nennen sollte. Wohl nahm Nietzsche die Glückwünsche seiner Jünger nach den Geboten des Taktes entgegen und schrieb in diesem Sinne zurück, worauf sich Lipiner im Namen der Freunde für die „schönen Worte, die uns alle gerührt und gestärkt haben" 73 , herzlich bedankte; aber trotz der Begeisterung über den „Prometheus" dürfte seine Einstellung zu Lipiner bereits im September zumindest ambivalent geworden sein. Durch einen im Viktor Adler Archiv in Wien sich befindlichen Brief von Josef Ehrlich an Adler wissen wir, daß Nietzsche einen (nicht mehr überlieferten) Brief an Lipiner geschrieben haben mußte. Ehrlich wendet sich dabei wie folgt an Adler: „Haben Sie Nietzsches Brief an Lippiner [sie] gelesen? Ein merkwürdiger Brief! Ich wage es nicht[,] Ihnen mein Urtheil über denselben zu äußern und erwähne Ihnen nur, daß der Philosoph Nietzsche dem Dichter Lippiner den Rath ertheilt, er solle sich erstens wie ,das Murmelthier' einen langen Winterschlaf gönnen u. zweitens nicht ,als Dichter leben', da 71 72 73
KSB 5, S. 274. Vgl. KGB Abt. II, 6,2, S. 737 ff. KGB Abt. II, 6,2, S. 753.
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das Große ,zum Entgelt' den zu Grunde richte, der sich [...] damit beschäftigt."74 Vor allem konnte sich Nietzsche mit dem nun immer zudringlicher werdenden Verhalten Lipiners nicht anfreunden, das so weit ging, daß das „Genie" — wie Nietzsche ihn einmal nannte — gemeinsame Zukunftspläne ausheckte, sich als Korrektor aufdrängte und überhaupt sein Leben „uneigennützig" in den Dienst von Nietzsche zu stellen beabsichtigte.75 An den Freiherrn von Seydlitz schreibt Nietzsche am 13. Mai 1878: „— Gerne hätte ich von Ihnen etwas über Lipiners Eindruck auf Sie gehört. Bei mir hat er sich eigentlich durch seine wiederholten Versuche aus der Ferne her über mein Leben zu disponiren und durch Rath und That in dasselbe einzugreifen unmöglich gemacht. So etwas verabscheue ich: keiner meiner ältesten Freunde würde wagen, mir solche dreiste Dinge zu proponiren. Mangel an Scham — das ist es. Von so Einem muß ich ganz ferne sein, dann gelingt es mir ganz gut, selbst sein Freund zu werden — aber in partibus."76 Etwas später, am 13. August, berichtet er seiner Schwester bereits: „Von Lipiner ein Brief, lang, bedeutend für ihn sprechend, aber von unglaublicher Impertinenz gegen mich. Den .Verehrer' und seinen Kreis bin ich nun los — ich athme dabei auf." 77 Jahre danach wurde Nietzsche von Freuds Freund Josef Paneth ein letztes Mal über Lipiners wechselhaften Werdegang — er war inzwischen zum Direktor der Bibliothek des Osterreichischen Reichsrates aufgestiegen — informiert. Wenngleich er den „Prometheus" nach wie vor schätzte, über die Person Lipiners war er maßlos empört. Nicht nur, daß er sich durch ihn lange genug persönlich belästigt gefühlt hatte, aus den Schilderungen Paneths mußte er nunmehr entnehmen, daß Lipiner seine jüdische Herkunft offenbar aus reinen Opportunitätsgründen verleugnet hatte und zum Christentum konvertiert war. Am 7. April 1884 äußert sich Nietzsche endgültig zum Fall Lipiner: „Uber Lipiner hörte ich jüngst noch sehr Genaues: äußerlich ein .gemachter Mann' — Sonst aber die typische Form des jetzigen .Obscurantismo', hat sich taufen lassen, ist Antisemit, fromm (er hat kürzlich Gottfried Keller auf das Feindseligste angegriffen und ihm .Mangel an wahrem Christenthum und Glauben' vorgeworfen!) Lipiner soll alle jungen Leute, auf die er Einfluß hat, ruiniren — er treibt sie zum .Mystischen' und läßt sie das wissenschaftliche Denken verachten. Ein Mensch mit lauter sehr .praktischen' Nebenabsichten, der die .Zeichen der Zeit' sich zu Nutze macht. Meine Nachrichten stammen von einem Wiener Naturforscher, der ihn von Kindheit an kennt."78
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75 76 77 78
Brief von J. Ehrlich an V. Adler vom 9. September 1877, Viktor Adler Archiv im „Verein fur die Geschichte der Arbeiterbewegung" in Wien. Vgl. KSB 5, S. 291 sowie KGB Abt. II, 6,2, S. 738 ff., 752 ff., 778 ff., 836 ff. KSB 5, S. 327. KSB 5, S. 346. KSB 6, S. 494.
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Ziehen wir an dieser Stelle ein Resümee. Wir versuchten den Spuren von Freuds Bekannten und Freunden rund um den „Leseverein" zu folgen und schließen jetzt, daß eine Vermutung der Art, Freud hätte von der Wiener Nietzsche-Euphorie nichts wahrgenommen, schlechterdings denkunmöglich ist. Allerdings ist noch immer nichts von einem tatsächlichen Engagement Freuds im Leseverein belegt. Stellt man seine biographische „Selbstdarstellung" in Rechnung, wo über den Verein keine einzige Silbe verloren wird, dann wäre immerhin denkbar, daß die Mutmaßung sich als überzeichnet herausstellen könnte, weil er etwa nur der Form halber eingetragenes Scheinmitglied gewesen ist. Auch das Viktor Adler Archiv in Wien scheint dies zu bestätigen. Dort lassen sich die Notizen V. Adlers aus der Studentenzeit einsehen, es finden sich Korrespondenzen mit dem Leseverein, Briefe an und von Pernerstorfer und H. Braun, auch die Namen Nietzsche, Lipiner, Paneth und Ehrlich scheinen vereinzelt auf, aber nirgends ist die Rede von einem Studenten und Vereinsmitglied namens Sigmund Freud. Die mögliche Konklusion, Freud könne deshalb nicht im Leseverein engagiert gewesen sein, ist allerdings verfrüht. Immerhin besagt das zunächst nur, daß er keine führende Rolle im Verein spielte und von den etablierten Funktionären wie etwa Adler und Pernerstorfer nicht dementsprechend beachtet wurde. Erwägt man schließlich, daß die Vereinsveranstaltungen sehr stark frequentiert waren — manche Vortragsabende zogen bis zu 40% aller Studenten an —, dann dürfte es nicht leicht gefallen sein, sich in einem solchen Forum überhaupt zu profilieren. Dennoch wissen wir, daß Freud dies einmal gelungen ist. Die Überlegung, er könnte womöglich nur als Scheinmitglied in den jährlichen Vereinslisten eingetragen sein, geht ins Leere. Nicht nur das. Offenbar hat er sich an einer Debatte mit einer Hitzköpfigkeit beteiligt, über die sich sein diskussionserfahrenes Gegenüber Viktor Adler sehr gewundert haben mußte. In der „Traumdeutung" beschreibt Freud die Szene folgendermaßen: In einem deutseben Studentenverein gab es eine Diskussion über das Verhältnis der Philosophie zu den Naturwissenschaften. Ich grüner Junge, der materialistischen Lehre voll, drängte mich vor, um einen höchst einseitigen Standpunkt zu vertreten. Da erhob sich ein überlegener älterer Kollege, der seitdem seine Fähigkeit erwiesen hat, Menschen zu lenken und Massen zu organisieren, der übrigens auch einen Namen aus dem Tierreich trägt, und machte uns tüchtig herunter; auch er habe in seiner Jugend die Schweine gehütet und sei dann reuig ins Vaterhaus zurückgekehrt. Ich fuhr auf (wie im Traum), wurde saugrob und antwortete, seitdem ich wüßte, daß er die Schweine gehütet, wunderte ich mich nicht mehr über den Ton seiner Reden (Im Traum wundere ich mich über meine deutschnationale Gesinnung.) Großer Aufruhr; ich wurde von vielen Seiten aufgefordert, meine Worte zurückzunehmen, blieb aber standhaft. Der Beleidigte war zu verständig, um das Ansinnen einer Herausforderung, das man an ihn richtete, anzunehmen, und ließ die Sache auf sich beruhen.79 79
Die Traumdeutung, STA 2, S. 222.
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Diese nachträgliche Schilderung aus dem Jahre 1900 ist aus mehreren Gründen instruktiv. Zunächst hat die für den Leseverein verbindliche deutschnationale Haltung ganz offensichtlich auch auf Freud abgefärbt, eine Haltung, die an anderer Stelle der „Traumdeutung" ausdrücklich bekräftigt wird: „In einem meiner Romträume heißt der Ort, an dem ich mich befinde, Rom; ich erstaune aber über die Menge von deutschen Plakaten an einer Straßenecke. Letzteres ist eine Wunscherfüllung, zu der mir sofort Prag einfallt; der Wunsch selbst mag aus einer heute überwundenen deutschnationalen Periode der Jugendzeit stammen." 80 Für unseren Zusammenhang am bedeutendsten ist freilich der Nachweis eines persönlichen Engagements Freuds im Leseverein. Auch aus den erst 1989 publizierten Jugendbriefen an Silberstein geht eindeutig hervor, daß Freud über die Interna des Lesevereins informiert war 81 , mehrmals Vorträgen und Versammlungen beiwohnte82 und die Bibliothek des Vereins eifrig benutzte83. Inhaltlich aufschlußreich ist aber vor allem jene Charakterisierung in der „Traumdeutung", in der Freud den Hinweis gibt, er sei dazumals in der materialistischen hehre aufgegangen, was er im nachhinein als „höchst einseitig" qualifiziert und insofern verständlich ist, als die Erforschung der menschlichen Psyche in der „Traumdeutung" durchaus nicht auf materialistische Letztbegründungen abzielt. Mit Freuds Rückblick gewinnen wir einen Anhaltspunkt für die Frage, wann die Diskussion stattgefunden haben mochte. Das Problem besteht freilich darin, daß Freud sich bereits in der Blütezeit seiner philosophischen Neigung durch das Studium von Darwin und Haeckel und die Bekanntschaft mit dem englischen Empirismus, durch den Einfluß des Zootomen C. B. Brühl, des Zoologen C. Claus, des Physiologen E. Brücke, des Materialisten K. Grün, aber auch durch den v. Brentanos als Empirist bzw. Materialist verstand.84 Dies würde bedeuten, daß die Diskussion zwischen 1874 und 1875 erfolgt ist. Da sich dieser Materialismus indes 1876 in Richtung eines streng „einseitigen", durch die Einzelwissenschaften beglaubigten Physikalismus noch radikalisieren sollte, dürfte der Disput eher in einem Zeitraum anzusetzen sein, der nicht vor 1876 gelegen ist. Eine solche Richtung deutet sich schon 1875 an: Freud überlegt, ob es nicht angeraten wäre, das Wintersemester 75/76 in Berlin zu verbringen, um dort die Ideen zweier berühmter Physiologen und eines Pathologen — Du Bois-Reymond, Helmholtz und Virchow — kennenzulernen. Im 80 81 82 83 84
Ebd., S. 321. Vgl. Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 95 und 126 f. Ebd., S. 110 f., 127, 187. Ebd., S. 121. Uber die Einflüsse des Darwinismus, des englischen Empirismus, der physikalistischen Physiologie und des anthropologischen Materialismus auf den jungen Freud vgl. die instruktive Arbeit von G. Gödde, Freuds philosophische Diskussionskreise in der Studentenzeit, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 27, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 78 ff. Vgl. auch Freud, S., Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 75, 82, 92, 100, llOf., 116ff., 125.
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Zuge einer Englandreise im Sommer 75 reift freilich der Entschluß, in Wien zu bleiben und nunmehr das Medizinstudium aufzunehmen85, was insofern den Rang einer gewichtigen Entscheidung einnimmt, wollte er im März dieses Jahres doch noch Philosophie im Hauptfach belegen. Kurz nachdem er von England zurückgekehrt ist, gesteht er bereits: „Gegen Philosophie bin ich mißtrauischer als Je"86. Später wird er eine entsprechende Rechtfertigung finden und meinen, daß die Philosophie aufgrund „ihrer abstraktefn] Art ihm so unsympathisch sei, daß er auf das Studium der Philosophie schließlich verzichtet habe."87 Brentanos Vorlesungen im Wintersemester 1875/76 werden zwar weiterhin besucht, aber die Prioritäten verlagern sich doch zunehmend auf die Einzelwissenschaften, und Freud tut in dieser Hinsicht sogar mehr, als es der Studienplan erfordert hätte.88 Als er im Mär\ 1876 einen Forschungsauftrag vom Zoologieprofessor Claus erhält und noch im selben Jahr ins physiologische Labor von E. Brücke eintritt, ist die Sache endgültig entschieden. Wie Freud im nachhinein sagt, habe er, der zeitweilig Rastlose, erst bei Brücke „endlich Ruhe und volle Befriedigung" 89 gefunden und seine „glücklichsten Stunden als Schüler verbracht, sonst ganz bedürfnislos"90. K. R. Eissler führt im Detail an, wie Freud streng asketisch in dem, wie der Autor meint, relativ langweiligen physiologischen Institut geradezu aufgegangen und erst durch die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau Martha gleichsam wieder zum Leben erwacht sei. Besonders markant hört sich dabei ein von Eissler aufgefundener Bericht über die Geschichte der Physiologie in Wien an, in dem steht, es könne kein Zweifel daran bestehen, daß zwischen der Person Freud und einem Mikroskop eine unmittelbare Verwandtschaft bestehe.91 Spätestens seit dem Jahre 1876 fühlt sich Freud also nur mehr den Naturwissenschaften verpflichtet, ja mehr noch: Im Glauben an die Allmacht des Physikalismus, welcher auch die Ableitung des „Seelischen" aus rein physikalischchemischen Prozessen miteinschließt, erweist er sich als getreuer Lehrling seines Vorbildes Du Bois-Reymond und des eigenen „Meisters" Brücke. Ersterer schreibt: „Brücke und ich, wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese bislang nicht zur Erklärung ausreichen, mittels der physikalisch-mathematischen Methode entweder nach ihrer Art 85
86 87 88 89 90 91
Vgl. Clark, R. W, Sigmund Freud, übersetzt von J. A. Frank, Frankfurt am Main 1981, S. 51 sowie Freud, S., Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 98. Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 145 (H. d. V.). Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 338. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 58. .Selbstdarstellung', G W 14, S. 35. Die Traumdeutung, STA 2, S. 216. Eissler, K. R., Creativity and Adolescence. The Effect of Trauma in Freud's Adolescence, in: The Psychoanalytic Study of the Child, Volume 33, New Haven 1978, S. 487.
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und Weise der Wirksamkeit im konkreten Fall gesucht werden muß, oder daß neue Kräfte angenommen werden müssen, welche, von gleicher Diginität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent, stets auf nur abstoßende oder anziehende Componenten zurückzufuhren sind."92 Was bedeutet dies nun für Freuds „Umgang" mit Nietzsche? Offensichtlich nimmt sein bedürfnisloses Aufgehen im Forschungslaboratorium den Stellenwert einer entscheidenden Lebenszäsur ein, welche eine erhebliche Differenzierung hinsichtlich der gestellten Frage erforderlich macht. Wir müssen annehmen, daß Freud einem „idealistischen" Kulturtheoretiker ab diesem Zeitpunkt wohl recht wenig Augenmerk entgegengebracht hat. Auch wenn wahrscheinlich ist, daß er, da er nun einmal dem Leseverein aktiv zugehörte, von seinen Kollegen um das sensationelle „Nietzsche-Jahr" 1877, mithin auch um die Bedeutung der 3. Unzeitgemäßen „Schopenhauer als Erzieher", wußte, allzuviel dürften diese beim eingeschworenen Naturwissenschafter Freud nicht ausgerichtet haben, höchstens vielleicht, daß er, wie er es selbst nennt, „saugrob" werden konnte. Anders steht die Sache bis zu diesem Einschnitt, denn unzweifelhaft ist Freud den Schilderungen seiner Freunde bis dahin mit kritischer93 Aufmerksamkeit gefolgt, und über Themenstellungen aus Nietzsches Frühwerk („Die Geburt der Tragödie", „2. Unzeitgemäße") mußte er zumindest aus zweiter Hand erfahren haben. Die freilich eher unbedeutende „1. Unzeitgemäße" über David Strauss hatte Freud möglicherweise selbst gelesen.
92 93
Zitiert in: Bernfeld, S. / Cassirer Bernfeld, S., Bausteine der Freud-Biographik, a. a. O., S. 121 f. Kritisch heißt, daß Freuds Materialismus hinsichtlich des pathetisch-,.idealistischen" Überschwanges seiner Kollegen und „zukünftigen Weltenlenker" (Jugendbriefe an E. Silberstein, a. a. O., S. 111) von vornherein Skepsis anraten ließ.
Kapitel 3 Berichte aus Nizza J. Paneth Die vertraute Anrede „Mein Freund Josef" gilt dem bereits bekannten Nietzsche-Verehrer Josef Paneth. In der „Traumdeutung" macht Freud aus seiner ambivalenten Haltung ihm gegenüber allerdings kein Hehl, denn in Assoziationen zum „Non-vixit-Traum" tritt Freund Josef dermaßen unverhohlen als Rivale um eine Anstellung bei Brücke auf, daß Freud über Paneths frühen Tod im Jahre 1890 eine gewisse unbewußte Befriedigung, ihn in diesem Kampf überlebt zu haben, nicht verheimlichen will. 1 Gleichwohl war die Freundschaft während der gemeinsam verbrachten Jahre eine ungetrübte und herzliche. Freud hatte auch allen Grund, die liebenswürdige Seite des Freundes in einem Punkte besonders zu betonen: seine ihm zugutekommende finanzielle Großzügigkeit. Zwar konnte Freud 1881 den Doktordtel vorweisen und vielleicht auch der Illusion nachhängen, nun unter verschiedenen gewichtigen Leuten wie Nothnagel und Meynert im Krankenhaus arbeiten zu dürfen, seine Einkünfte aber waren unbeständig und entsprachen eher einem Almosen denn einem gutdotierten Arztgehalt. Am meisten bedrückte ihn, seit Juni 1882 mit Martha Bernays verlobt zu sein, aber nicht zu wissen, ob er jemals in der glücklichen Lage sein werde, seiner Braut ein Leben in finanzieller Sicherheit bieten und damit um ihre Hand anhalten zu können, schien doch alles darauf hinzudeuten, daß der Fortgang seiner wissenschaftlichen Laufbahn sich auch weiterhin im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Schuldenberg bewegen werde. Kurz nach seinem Eintritt ins Krankenhaus schreibt er seiner Verlobten: „O mein teures Marthchen, wie arm sind wir! Wenn wir mitteilen sollten, wir wollen miteinander leben und sie fragen uns: Was bringt ihr dazu mit? Nichts als daß wir einander liebhaben. Und sonst nichts? Wir brauchen doch zwei oder drei Zimmerchen, um darin zu wohnen und zu essen und einen Gast zu empfangen und einen Herd, auf dem das Feuer für die Mahlzeiten nicht ausgeht. [...] Dies alles, eine kleine Welt von Glück, [...] es muß alles erst kommen, es ist noch das Fundament des Hauses nicht gelegt, nur zwei arme Menschenkinder sind da, die sich so unsagbar liebhaben." 2 In dieser Situation erweist sich Paneth als umsichtiger Gönner.
1 2
Die Traumdeutung, STA 2, S. 409 ff. und 466 f. Freud, S., Brautbriefe, ausgewählt und herausgegeben von E. Freud, Frankfurt am Main 1971, S. 23.
Kapitel 3: Berichte aus Nizza
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1884 legt er zu Freuds Gunsten die beträchtliche Summe von 1500 Gulden als beruhigende Reserve für den Fall an, sollten Karriere und Heirat auf Schwierigkeiten stoßen. 3 J. Paneth war nun einer der wenigen, denen die Ehre zuteil wurde, mit dem scheuen und zurückgezogenen Friedrich Nietzsche persönlich bekannt zu werden. Von Freud selbst wissen wir, daß Freund Josef ihm über diese Begegnung ausführlich berichtet hat. Als Arnold Zweig in den 30er Jahren ein Buch über Nietzsche schreiben will und dabei Freuds Mitarbeit erbittet, teilt ihm Freud bezüglich Nietzsche mit: In meinerJugend bedeutete er mir eine mir unzugängliche Vornehmheit. Ein Freund von mir, Dr. Paneth, hatte im Engadin seine Bekanntschaft gemacht und mir viel von ihm geschrieben.4 Jones 5 fugt in einer Fußnote hinzu, daß besagtes Treffen vermutlich 1885 stattgefunden habe, was allerdings ebensowenig stimmt wie Freuds Erinnerung, Paneth habe Nietzsche im Engadin getroffen. Tatsächlich kommen die beiden im Winter 1883/84 mehrere Male in Nizza und Umgebung zusammen. Davon abgesehen ist die Stelle noch aus einem anderen Grunde interpretationsbedürftig, denn: Was kann mit ,Jugend" gemeint sein? Möglich, daß Freud damit auf seine gesamten Jugenderfahrungen bis inclusive jener Nietzsche-Paneth-Begegnung anspielt, bei der er gut 27 Jahre, also durchaus in einem Alter war, das man in späteren Jahren noch als jugendlich bezeichnen kann. Dies würde bedeuten, daß er Nietzsche bis dahin unterschiedslos als „unzugängliche Vornehmheit" empfunden hat und die Studentenzeit daher gar nicht eigens erwähnt zu werden brauchte, da sich diese in der Retrospektive nicht qualitativ von den Empfindungen gegenüber den Paneth-Berichten abhob. Oder aber: Freud will mit den zwei Sätzen auf zwei voneinander unabhängige Sachverhalte hinweisen, d. h. die Zeit, in der er von Paneth über Nietzsche hörte, nicht mehr der Rubrik „Jugend" zuordnen, etwa weil er sein Studium mit der Promotion zum Dr. med. beendet und die Arbeit als „Erwachsener" in verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses bereits aufgenommen hatte. In diesem Fall würde Freud auf seine studentischen Erfahrungen mit der „unzugänglichen Vornehmheit" Nietzsche anspielen, wobei wir — und dies gilt auch für vorige Möglichkeit — den Anlaß zur Betonung „unzugänglich" insbesondere in seiner Identifikation mit dem Physikalismus Brückes zu suchen haben; der Hinweis auf Paneths Briefe dagegen würde als eine nicht näher bewertete sachliche Auskunft für Arnold Zweig im Räume stehen bleiben. 6 3 4 5 6
Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 196. Zitiert in: Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 3, S. 531 (H. d. V.). Ebd. Da in dem von E. Freud herausgegebenen Briefwechsel von S. Freud mit Arnold Zweig (Frankfurt am Main, 1968, S. 89) diese beiden Sätze mit den von Jones abgedruckten zwar wortwörtlich übereinstimmen, aber als ein einiger Satz aufscheinen — „[...] unzugängliche Vornehmheit, ein Freund von mir [...]" —, darf erste Möglichkeit größere Plausibilität für sich beanspruchen.
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Kapitel 3: Berichte aus Nizza
Paneth arbeitete im Winter 1883 in einem Labor in Villefranche bei Nizza und suchte von sich aus den Kontakt zu Nietzsche, als er in Erfahrung gebracht hatte, daß der von ihm verehrte Philosoph sich in derselben Gegend aufhielt. Zunächst verfehlen sich die beiden, erst beim dritten Male klappt die Verabredung. Paneth ist außer sich vor Freude. Seine Braut Sophie Schwab erhält umgehend Nachricht von diesem Ereignis, Sigmund Freud wird ebenfalls unterrichtet. Da Paneths Briefe an Freud nicht bekannt sind, ist man in der Hauptsache auf jene an Sophie Schwab angewiesen. Auszüge derselben hat zunächst Elisabeth Nietzsche in der Biographie über ihren Bruder publiziert. 7 Inzwischen liegt eine von R. F. Krümmel herausgegebene, philologisch zuverlässigere Dokumentation jener Briefe Paneths vor, die Nietzsche betreffen. 8 Vom Inhalt her dürften sich diese Briefe an Sophie Schwab (bzw. an weitere ihm nahestehende Personen) nicht prinzipiell von denen an Freud unterscheiden, da selbst die Berichte an die Braut eher unpersönlich gehalten, also ganz der „Sache" gewidmet sind und offenbar von vornherein als Information für einen größeren Freundeskreis in Wien gedacht waren. 9 In den zum Teil recht umfangreichen Schilderungen Paneths sind mehrere Zusammenkünfte mit Nietzsche in der Zeit zwischen Dezember 1883 und März 1884 festgehalten. Im Gegensatz zu Lipiner hat Nietzsche die Besuche Paneths niemals als Einmischung in seine privaten Angelegenheiten verstanden, im Gegenteil. Zu dieser Zeit war er gerade mit der Abfassung des dritten Teils von „Also sprach Zarathustra" und damit dem Zentralgedanken von einer „Ewigen Wiederkehr des Gleichen" beschäftigt, den er, um allen Spekulationen ein Ende zu bereiten, durch intensive naturwissenschaftliche Studien zu erhärten suchte. Paneth — darin unterschied er sich grundlegend vom „Dichter" und „Mystiker" Lipiner 10 — war Physiologe und somit willkommen, ihn über den Stand der Naturwissenschaften auf dem laufenden zu halten. Daß in den Briefen nur am Rande von einer derartigen Diskussion zu hören ist, mag zum einen damit zusammenhängen, daß Paneth Nietzsches naturwissenschaftliche Kompetenz sichtlich nicht sehr hoch einschätzte 11 , zum anderen wiederum, daß er den eigenen Ausführungen verständlicherweise weniger Raum zugestehen wollte als denen Nietzsches.
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Förster-Nietzsche, E., Das Leben Friedrich Nietzsches, Band 2/2, a. a. O., S. 481 ff. Über J. Paneths Nachlaß und die Begegnung Paneth - Nietzsche vgl. auch Venterelli, Α., Nietzsche in der Berggasse 19, a. a. O., S. 449 f. und 470 ff. Vgl. Krümmel, R. F., Dokumentation. Joseph Paneth über seine Begegnung mit Nietzsche in der Zarathustra-Zeit, in: Nietzsche-Studien 17, 1988, S. 4 7 8 - 4 9 5 . Diskussionsbemerkung von M. Montinari, in: Nietzsche-Studien 10/11, 1982, S. 501. Zu diesen zwei verschiedenen Nietzsche-,.Lagern" in Wien vgl. Venturelli, Α., Nietzsche in der Berggasse 19, a. a. O., S. 470 ff. Vgl. Krümmel, R. F., Dokumentation ..., a. a. O., S. 481 und 495.
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Wie wenig Paneth seine Sympathie für Nietzsche verhehlen konnte, geht schon aus einem Eindruck über des Philosophen Zimmer hervor, von dessen Zustand er sich, vergeblich auf Nietzsche wartend, tief betroffen zeigt: „Sein Zimmerchen ist kahl und unfreundlich und gewiß nicht mit Rücksicht auf Bequemlichkeit, sondern auf Billigkeit gewählt worden; es hat nicht einmal einen Ofen (!), keinen Teppich und sieht gar nicht hübsch aus und es war eine eisige Kälte dort, während ich darin war. Mir fiel das wieder schwer aufs Herz; er ist auch leidend, wie mir seine Hausfrau sagte. Ein so vorzüglicher, ganz ungewöhnlicher Mensch und so schlecht aufgehoben!"12 Nach der ersten Begegnung dürfte ihm dann ein Stein vom Herzen gefallen sein, als er zu seiner Zufriedenheit feststellen konnte, daß Nietzsche „ungemein freundlich [war], es ist auch nicht eine Spur von falschem Pathos oder Profetenthum in ihm, wie ich nach dem letzten Werke wohl befürchtet hatte"13. Die Gespräche konnten also beginnen, ohne daß für Paneth Grund bestanden hätte, über alle Maßen eingeschüchtert zu sein. Nietzsche war zu dieser Zeit, was immer der Diskussionsstoff sein mochte, in einer Hinsicht besonders empfindlich: daß er etliche Erfahrungen mit dem wachsenden Antisemitismus seiner nächsten Umgebung hatte machen müssen, die ihm, wie er einmal beklagt, das „Leben schrecklich verbittert"14 hatten. Die Schwester besiegelte 1883 ihre Liaison mit B. Förster durch eine Verlobung und „maltraitirte"15 ihn in der Folge mit impertinenten antisemitischen Ausbrüchen, worauf er die Verbindung zu Elisabeth einige Monate abreißen läßt. An Overbeck schreibt er: „Die verfluchte Antisemiterei [...] ist die Ursache eines radikalen Bruchs zwischen mir und meiner Schwester"16. Zudem war sein Verleger Schmeitzner ins antisemitische Lager gewechselt, und Paneth berichtete von Vorwürfen, die man ihm eines solchen Verlegers wegen in Wien gemacht hatte.17 Von ihm erfuhr Nietzsche auch Näheres über die antisemitische Karriere seines ehemaligen Jüngers Lipiner. Paneth nun, so dachte Nietzsche, mußte sich als Jude von diesen Vorgängen direkt angesprochen fühlen, und darin ist neben der Qualifikation als Naturwissenschafder der zweite wesentliche Grund zu sehen, wieso Nietzsche auf dessen Meinung durchaus Wert legte. Doch anders als vielleicht erhofft, stieß er bei diesem nicht auf einen Philosemitismus, da Paneth dazumals das Weltbild seiner Herkunft bereits durch ein streng wissenschaftliches ersetzt hatte, welches Overbeck, der Freund Nietzsches, folgendermaßen skizziert: „Nach dem, was er selbst über sich zu erkennen gibt, ist 12 13 14 15 16 17
Ebd., S. 479 f. Ebd., S. 480. Ebd., S. 484. KSB 6, S. 472. KSB 6, S. 493. Ebd.
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Kapitel 3: Berichte aus Nizza
Paneth ein sehr merkwürdiger Jude, einer von der Art Spinozas, nämlich diesem Weltweisen verwandt vor allem durch den unter seinen Stammesgenossen ganz seltenen Grad von Emanzipation von aller Tradition seines Stammes, religiöser sowohl wie nationaler. [...] Paneth läßt eine andere .Schule' an sich in der Tat nicht wahrnehmen, als die wissenschaftliche, durch die er gegangen, nämlich das physiologische Laboratorium des Prof. Brücke in Wien." 18 Wie gesagt vermitteln die publizierten Briefe Paneths nicht den Eindruck eines übermäßigen Physiologismus; zu sehr sind die protokollartigen Aufzeichnungen vom Interesse durchsetzt, die Aufmerksamkeit ganz auf Nietzsche und seine Gedankengänge zu konzentrieren, um authentische Informationen nach Wien zu liefern. Die Gespräche selbst zeigen, wie die beiden in ihren Ansichten, von gelegentlichen Einwänden Paneths unterbrochen, regelmäßig konform gehen, wie die Themen ziemlich rasch fluktuieren, sich relativ wenig im Detail aufhalten, und wie Paneth Nietzsches Meinungen über „Gott und die Welt" zu horten sucht. Neben allerlei Persönlichem aus Nietzsches Leben erfahren wir u. a. von seiner Einstellung zu Moral, Religion und Philosophie, zu Wagner, Schopenhauer und dem Pessimismus, von seinem psychologischen Einfühlungsvermögen, der Wertschätzung der griechischen Kultur, dem Verhältnis zwischen Wahnsinn und Genie und einige Male von „Zarathustra" bzw. dem „Ubermenschen" (dessen Idee Paneth zunehmend reserviert gegenübersteht). Freud hat also vom Leitmotiv des „Zarathustra" bereits Kunde vernommen, noch ehe das vollständige Werk an die Öffentlichkeit gelangte. Ein weiteres Thema, über das sich Nietzsche und der Physiologe Paneth erstaunlicherweise einig sind, betrifft die Kritik an der sogenannten „naturalistischen" Wissenschaftshaltung, die, weil sie den Uberhang des Subjektiven über das Objektive mißachte, das wirkliche Leben verfehlen müsse. In dieser Überzeugung spiegelt sich auch ihre gemeinsame Haltung zur Bedeutung des Unbewußten wider: „Wir [...] stimmten [überein], daß das unbewußte Leben jedes Menschen so viel, unendlich viel reicher und wichtiger sei als das bewußte."19 McGrath20 erwähnt, daß Paneth sogar einen Entwurf einer „Geschichte des Unbewußten" niedergeschrieben hatte, den er Nietzsche 1884 zukommen ließ. Ersichtlich ist somit, daß Freud mit seinen 27 Jahren — und sei es auch nicht „werkgetreu", sondern in Form von Informationen aus zweiter Hand — abermals mit Gedanken Nietzsches in Berührung kam. Paneth kehrte bald nach dem 26. März 1884 nach Wien zurück und heiratete im Mai Sophie Schwab. Nietzsche nahm den Anlaß wahr, um ihm einerseits zu
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Bernoulli, C. Α., Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena 1908, Band 1, S. 360; vgl. auch Krümmel, R. F., Dokumentation ..., a. a. O., S. 485. Vgl. Krümmel, R. F., Dokumentation ..., a. a. O., S. 481 und 491 f. McGrath, W J., Dionysian Art ..., a. a. O., S. 201.
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gratulieren, zum anderen aber dringend von seiner Absicht abzuraten, schon jetzt über ihn und seine Schöpfung, seinen „Sohn" — wie er „Also sprach Zarathustra" des öfteren nennt — zu publizieren: Werther Herr Doctor, Meinen Glückwunsch voran! Aber vielleicht geht es Ihnen gerade jetzt so gut, daß Nichts mehr „zu wünschen übrig bleibt" — : dann um so besser! Und um so mehr wird es meinen Wünschen für Sie gemäß sein! Mein Verleger hat seit lange den Auftrag, Ihnen den letzten Theil meines Zarathustra zuzustellen. Betrachten Sie mich nunmehr wie Jemanden, der seine Fahne entrollt hat und keinen Zweifel über sich mehr übrig läßt. — Bemerken Sie aber wohl: mein Werk hat Zeit —, und mit dem, was diese Gegenwart als ihre Aufgabe zu lösen hat, will ich durchaus nicht verwechselt sein. Fünfzig Jahre später werden vielleicht Einigen (oder Einem: — es bedürfte eines Genie's dasgì) die Augen dafiir aufgehn, was durch mich gethan ist. Augenblicklich aber ist es nicht nur schwer, sondern durchaus unmöglich (nach den Gesetzen der „Perspektive"), von mir öffentlich zu reden, ohne nicht grenzenlos hinter der Wahrheit zurückzubleiben. — Also! — mein werther Herr Dr. Paneth, ich will nicht, daß jetzt schon über mich „geschrieben wird". 21
Als enger Freund war Sigmund Freud zu Paneths Hochzeit natürlich eingeladen und daher sicher über Nietzsches Gratulation und sein Anliegen informiert. Die Festlichkeit selbst wurde in pompösem Stil und ungeachtet Paneths „Emanzipation" nach streng jüdischem Zeremoniell abgehalten, was Freud, dem solche Feierlichkeit nicht geheuer war, zu einem 16 Seiten langen, ätzenden Brief an Martha Bernays inspirierte.22 An dieser Stelle mag zumindest angemerkt werden, daß ein Mitglied der Familie Bernays Nietzsche durchaus bekannt war, nämlich Jakob Bernays, der klassische Philologie in Breslau und Bonn unterrichtete und jener Onkel war, auf den Freud etwa in der Korrespondenz mit seiner Braut23 und in der mit A. Zweig24 Bezug nimmt. J. Bernays hatte sich über Nietzsches 1872 erschienene Einstandsschrift „Die Geburt der Tragödie" enthusiastisch geäußert und gemeint, es seien „seine" Anschauungen, was Nietzsche in einem Brief an Rohde als „göttlich frech", zugleich aber als Zeichen für die feine „Witterung" des „gebildeten und klugen" J. Bernays empfand.25 Den jüngeren Sigmund Freud selbst lernte Nietzsche nie kennen, sieht man von der Anekdote ab, daß er den
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KSB 6, S. 503. Vgl. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 172. Freud, S., Brautbriefe, a. a. O., S. 20. Vgl. dazu Lehrer, R., Nietzsche's Presence in Freud's Life and Thought. On the Origins of a Psychology of Dynamic Unconscious Mental Functioning, New York 1995, S. 42 f. KSB 4, S. 97.
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12. Band von J. St. Mills Gesammelten Werken gelesen hatte 26 , auf dessen Titelblatt der Name Freud gut ersichtlich als Ubersetzer angegeben ist. Abschließend wird man fragen müssen, wie Freud Paneths Berichte aus Nizza aufgenommen haben mag. Damit ist man freilich wieder auf die schon zitierte Selbstaussage Freuds zurückverwiesen. Möglich, daß er Nietzsche immer schon als „unzugängliche Vornehmheit" empfand, obwohl ihm Paneth „viel geschrieben" hatte. 27 Möglich aber auch, daß diese seine Empfindung der Zeit der Studentenjahre galt, die Erwähnung von Paneths ausfuhrlichen Berichten dagegen als neutrale Information für Arnold Zweig gedacht war, welche sich jedes weiteren Kommentars enthielt.
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Vgl. Nachlaß Sommer 1880, 4 [304], KSA 9, S. 176 und KSA 14, S. 633. Wie gesagt ist dies die wahrscheinlichere Variante; vgl. weitere Ausführungen unten S. 153 — 155.
Kapitel 4 .Habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt" Im bislang erörterten Lebensabschnitt kann von einer definitiven Entscheidung Freuds füir diese oder jene Aufgabe noch keine Rede sein. Zunächst experimentiert er mit den Eigenschaften des Kokains1 und ist nahe daran, dessen Wirkung für die Lokalanästhesie zu entdecken. 1885 wird er Dozent für Neuropathologie, noch im gleichen Jahr studiert er beim weltberühmten Charcot und gewinnt damit zum ersten Mal ein Sensorium für die Macht der Psychologie. 1886 eröffnet er seine eigene Praxis, die mehr schlecht als recht geht, aber doch Voraussetzung für die Heirat mit Martha ist. Das Interesse an Hypnose, über deren Mechanismen er bei Charcot gelernt hat, bleibt weiterhin aufrecht, er wendet sie bei einigen seiner Fälle auch an, stößt aber allmählich an die Grenzen der Suggestion, was ihm den eigentlichen Schritt zur Entdeckung der psychoanalytischen Methode ermöglichen sollte. Als er mit seinem Kollegen in Sachen Hysterieforschung, Josef Breuer, bricht und die These einer sexuellen Ursache der Hysterie öffentlich an der Universität vertritt und sie 1896 zum Gegenstand einer eigenen Vorlesung macht, gerät die etablierte akademische Gelehrtenwelt nicht eben in helle Begeisterung. Nicht daß ihm das gleichgültig gewesen wäre, aber Freud erahnt doch Wegmarkierungen des Denkens, denen er beharrlich zu folgen gewillt ist. 1897 beginnt er eine „Selbstanalyse", als deren gewichtigstes Resultat die 1900 publizierte „Traumdeutung" hervorgeht. Dem Buch ist freilich alles andere denn ein Erfolg beschieden. In all den Jahren, jedenfalls bis 1897, ist von einer Beschäftigung mit Nietzsche nichts zu bemerken. Erst in der Korrespondenz mit dem Berliner Hals- und Nasenspezialisten W. Fließ finden sich einige Anspielungen auf den Philosophen. Freud und Fließ lernen sich 1887 kennen.2 Seit 1893 tauschen sie regelmäßig Gedanken mit der Absicht aus, den jeweiligen Ideenfortgang eventuell für eine gemeinsame Publikation zu nutzen. Freud nimmt an Fließens Theorie über die Beziehung zwischen Genitalapparat und Nase sowie an seinen mystischen
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Vgl. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 102 ff.; Gay, P., Freud, a. a. O., S. 55 ff. Vgl. Freud, S., Aus den Anfangen der Psychoanalyse. Briefe an W Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902, herausgegeben von M. Bonaparte, A. Freud und E. Kris, Frankfurt am Main 1975 (korrigierter Nachdruck der Paperbackausgabe von 1962), S. 14. Die erweiterte Ausgabe der Briefe Freuds an Fließ erfolgte 1986: vgl. J. M. Masson (Hg.), Sigmund Freud. Briefe an W.Fließ 1887-1904, Frankfurt am Main 1986 (deutsche Fassung von M. Schröter).
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Kapitel 4: „Habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt"
„Perioditätsgeset2en" ebenso lebhaft Anteil wie umgekehrt Fließ an Freuds Wiener Forschungen, was diesem nach dem Abfall Breuers besonders wohltut. Das Klima zwischen beiden ist bestimmt von gegenseitigen Anfeuerungsrufen, in den revolutionär anmutenden Entdeckungen nicht locker zu lassen und Gegengewichte zu den etablierten Wissenschaften zu schaffen, sei es nun durch Untersuchungen zur Entstehung sogenannter „nasaler Reflexneurosen", sei es durch eine wissenschaftliche Neubegründung der Psychologie. Angesteckt wie von einem Fieber, daß in theoretischer Hinsicht die Hauptsache erst noch zu tun sei, schreibt Freud, kurz nachdem er Fließ seinen ersten großen und ganz in physiologischer Diktion gehaltenen „Entwurf einer Psychologie" zukommen ließ, am 2. April 1896: „Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke. Therapeut bin ich wider Willen geworden"3. In den ausfuhrlichen Korrespondenzen über den allerletzten Stand ihrer Forschungen halten die beiden sich nicht nur bei der einschlägigen Fachliteratur auf, auch Politik, Archäologie, Kunst, Philosophie usw., mit einem Wort alles, womit zwei Männer von Bildung sich gegenseitig anzuregen verstehen, ist als Hinweis willkommen, die eigenen Gedanken mit bereits Gedachtem zu verketten oder zu verwerfen. Auch Nietzsche darf ein paar Schlagworte liefern: 1897 ist es der „Ubermensch"4 und noch im gleichen Jahr ein „Sturz aller Werte"5. Etwas später, an drei Stellen der „Traumdeutung", wird die „Umwertung aller psychischen Werte"6 angesprochen und dabei einmal in Anführungszeichen gesetzt; im Essay „Uber den Traum", in welchem Freud den Mechanismus der Traumverschiebung mit einer Umwertung der psychischen Wertigkeiten vergleicht, fehlen dieselben wieder.7 Man muß sich in Erinnerung rufen, daß der Nietzsche-Kult zu dieser Zeit in vollem Gange war. Wenn Freud nun einige Male auf Nietzsche anspielt, so heißt dies keineswegs, er habe sich deswegen schon eingehend mit ihm befaßt, sondern viel eher, daß er an der Person Nietzsches nicht vorbeikommen konnte, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, als hoffnungslos veraltet zu gelten. Wohl auch deswegen schreibt er am 1. Februar 1900 an Fließ: Ich habe mirjet^t den Nietzsche beigelegt, in dem ich die Worte fir vieles, was in mir stumm bleibt, finden hoffe, aber ihn noch nicht aufgeschlagen. Vorläufig träge.9
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Freud, S., Briefe an W. Fließ 1 8 8 7 - 1 9 0 4 , a. a. O., S. 190. Ebd., S. 269; vgl. auch Die Traumdeutung, STA 2, S. 452. Freud, S., Briefe an W. Fließ 1 8 8 7 - 1 9 0 4 , a. a. O., S. 286. Die Traumdeutung, STA 2, S. 327, 486 und 494. Über den Traum, G W 2/3, S. 667. Freud, S., Briefe an W Fließ 1 8 8 7 - 1 9 0 4 , a. a. O., S. 438 (H. d. V.).
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Diese Stelle würde nicht allzusehr zu denken geben, hätte der spätere Leibarzt und Biograph von Freud, Max Schur.; nicht folgenden Kommentar angefugt: „Freuds Äußerung in diesem Brief beweist, daß er vor dieser Zeit mit Nietzsche nicht, jedenfalls nicht gründlich, vertraut war, aber damals hatte Freud seine Vorstellungen über das Funktionieren des Unbewußten bereits formuliert und in Die Traumdeutung veröffentlicht."9 Schur will also sagen: Da Freud Nietzsche bis dahin nicht gründlich kannte, bestehe auch kein Anlaß, ihn eines möglichen Plagiats zu bezichtigen. Was aber heißt „gründlich"? Hinterfragende Stimmen haben in der Zwischenzeit auf Schur repliziert, so etwa Nitschke10 und Wehr, der alsgleich einen Verdacht hegt: „Doch ist gerade die Formulierung .jedenfalls nicht gründlich' verräterisch genug [...]" 11 Wehr ist der Meinung, Schur habe sich damit allzuschnell und unkritisch Freuds späterer Rechtfertigung angeschlossen, er habe Nietzsche der eigenen Unbefangenheit willen „lange gemieden" 12 , und nur als direkte Bestätigung dafür habe Schur diese Briefstelle überhaupt zitiert. Tatsächlich erwähnt Schur in seiner Biographie weder die zuvorliegenden Nietzsche-Erlebnisse Freuds in der Studentenzeit noch die an ihn gerichteten Briefe Paneths über dessen Treffen mit Nietzsche in Nizza, was aber auch nur bedeuten mag, daß Max Schur, der Arzt, darüber nicht oder aber zuwenig informiert war. Daraus zu schließen, daß Freud, nachdem seine frühen Erfahrungen mit Nietzsche nunmehr bekannt sind, dessen Philosophie intensiv studiert habe und die Beweisführung von Schur damit hinfällig sei, würde den bisherigen Stand der Dinge bei weitem überzeichnen. In dieser Hinsicht ist Schurs Wortwahl „jedenfalls nicht gründlich" in der Tat sehr geschickt gewählt, und nicht zuletzt sagt ja Freud, er h o f f e in Nietzsche vieles zu finden und nicht etwa, er habe in Nietzsche bereits vieles gefunden. Eine ganz andere Frage wird indirekt an Freud selbst zu richten sein: Welches Werk bzw. welche Werke konnten gemeint sein, als der 43jährige seinem Freund Fließ zu verstehen gab, er habe sich „den Nietzsche beigelegt"? Eine eindeutige Antwort wäre insofern von erheblichem Interesse, als Freud noch 39 Jahre lang Wissen schaffen und mit etlichen bahnbrechenden Arbeiten, darunter solchen, die dem Geist Nietzsches möglicherweise nahe stehen, seine Berühmtheit erst erlangen sollte. Als Freud 1938 vor seiner Emigration stand, mußte er notgedrungen seine riesige Bibliothek durchsehen und sich von den eher bedeutungslosen Büchern trennen. Er nahm daher nur einen Teil der Literatur mit nach London, und 9
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Schur, M., Sigmund Freud. Leben und Sterben, übersetzt von G. Müller, Frankfurt am Main 1973, S. 244 (beweist; vor dieser Z e i t - Η . d. V.). Nitschke, B., Zur Herkunft des ,Es', a. a. O., S. 787. Wehr, G., Friedrich Nietzsche. Der Seelen-Errater als Wegbereiter der Tiefenpsychologie, Freiburg im Breisgau 1982, S. 39. .Selbstdarstellung', GW 14, S. 86.
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diese Bücher befinden sich noch immer, wenn auch nicht mehr ganz vollständig, in Hampstead. Trosman und Simmons haben sie aufgeschlüsselt und in einer Liste im „Journal of the American Psychoanalytic Association" veröffentlicht. 13 Darin scheint zwar die voluminöse „Musarionausgabe" von Nietzsche, ein Geschenk Otto Ranks, auf, nur ist dieselbe erst ab 1920 herausgegeben worden. Gleiches gilt für zwei Monographien über Nietzsche, die das Datum 1913 und 1933 tragen, sowie für eine englische Ubersetzung vom „Antichrist" aus dem Jahre 1928. 14 Eine Ausgabe von bzw. über Nietzsche aus der Zeit bis 1900 ist dagegen nicht enthalten. Den anderen Teil seiner Bücher hinterließ Freud einem gewissen Paul Sonnenfeld, der sie wiederum dem Inhaber des angesehenen Wiener Antiquariats, Heinrich Hinterberger, verkaufte. 15 Hinterberger stellte daraus einen, in der Zwischenzeit allerdings in Teilen angezweifelten Katalog von gut 800 Büchern Freuds zusammen, die J. Shatzky für das New York State Psychiatric Institute erwarb. Sonnenfeld selbst behielt einige Bücher, die mit Widmungen an Freud versehen waren, für sich, welche schließlich von der Library of Congress in Washington erworben werden konnten. Ein Nietzsche bis 1900 findet sich aber weder hier noch dort. Schließlich sind noch einige wenige Werke aus Freuds Privatbibliothek, die sich im Wiener Sigmund Freud Haus befinden, aufgelistet worden. 16 Auch hier verläuft die Suche nach Nietzsche ergebnislos. Bekannt ist darüber hinaus, daß Freud zwischen 1935 und 1938 zweimal eine größere Anzahl von Büchern in Wäschekörben der Vereinsbibliothek der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung übergeben ließ, da er sie offenbar nicht mehr zu benutzen gedachte. 17 Plausibel scheint immerhin, sollte Freud den fraglichen Nietzsche nicht sowieso schon früher abgestoßen haben, daß er das Buch bzw. die Bücher schon aus dem Grunde ausgelagert hat, da er ja durch Otto Rank 1926 in den Besitz der „Musarionausgabe" gelangt war, ein zusätzlicher Nietzsche also nur Platz versperrte. Definitives läßt sich somit nicht feststellen. Aus der Wortwahl seines Briefes an Fließ soll dennoch versucht werden, einige Anhaltspunkte dafür zu finden, „welcher" Nietzsche gemeint gewesen sein könnte. Freud sagt, er habe sich „den Nietzsche beigelegt". Daraus wird man schließen dürfen, daß es sich jedenfalls um ein Originalwerk, also um eine
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Trosman, H. / Simmons, R. D., The Freud Library, a. a. O., S. 646 ff. Ebd., S. 655. Vgl. Eissler, K. R., Bericht über die sich in den Vereinigten Staaten befindenden Bücher aus S.Freuds Bibliothek, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 11, Bern-Stuttgart-Wien 1979, S. 10 ff. Vgl. Lobner, H., Some additional Remarks on Freuds Library, in: Sigmund Freud House Bulletin, Vol. 1, Wien 1975, S. 18 ff. Vgl. Eissler, Κ. R., Bericht ..., a. a. O., S. 48.
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Schrift bzw. um Schriften von Nietzsche selbst handeln mußte. Möglich also, daß er ein bestimmtes Werk erworben hat. Indes, warum heißt es dann nicht: Ich habe mir jet2t Nietzsches .Jenseits von Gut und Böse", Nietzsches „Menschliches, Allzumenschliches" etc. angeschafft? Der Ausdruck „den Nietzsche" läßt daher die begründete Vermutung zu, daß mehrere Schriften, ja wahrscheinlich eine Gesamtausgabe gemeint waren. Folglich wird die Frage unumgänglich, welche Werkausgaben bis 1900 ediert worden sind. Schon 1892 wurde zwar eine erste Gesamtausgabe begonnen, die aber kurz darauf und als direkte Folge der Endassung des Herausgebers Peter Gast mit dem 5. Bande wieder eingestellt wurde, womit sie aus dem Kontext weiterer Überlegungen wohl ausscheidet. Unter der Aufsicht von Elisabeth FörsterNietzsche entstand sodann 1894 die „Großoktavausgabe" in 15 Bänden, wobei bis 1900 alle von Nietzsche selbst veröffentlichten bzw. zur Veröffentlichung bestimmten Werke (mit Ausnahme von „Ecce homo") sowie Teile des Nachlasses erschienen waren. Daß Freud sich diese repräsentativen Bände „beigelegt" hat, ist denkbar, wird aus dem folgenden Grunde aber eher unwahrscheinlich: Denn 1899, also kur\ vor Freuds Mitteilung an Fließ, war gerade ein Gutteil der sogenannten Kleinoktavausgabe herausgekommen. Mit der Großoktavausgabe stimmte diese in Band und Seiten überein, nur daß sie durch das Kleinformat preisgünstiger war und auch in Einzeldrucken erworben werden konnte. Der kurze Zeitraum zwischen dem Erscheinen der Kleinoktavausgabe und Freuds Anschaffung macht es am wahrscheinlichsten, daß Freud sich diese „brandneue" und ungleich billigere Kleinoktavausgabe besorgt hat. Trifft diese Annahme zu, dann jedenfalls hätte Freud ab dem Zeitpunkt die Möglichkeit besessen, bei Nietzsche ausführlich nachzuschlagen, was er aber offenbar nicht getan hat, schreibt er doch, er sei vorläufig noch zu „träge". Die Frage bleibt, ob sich das in den nächsten Jahren ändern sollte. Möglicherweise lassen sich aus der Art und Weise von Freuds Nietzsche-Zitierungen in den Schriften ab 1900 eindeutige Belege darüber finden, ob, und wenn ja, welche Gesamtausgabe er besessen bzw. wie reichlich er davon Gebrauch gemacht hat. Man erfährt Erstaunliches. Der in aller Munde stehende Philosoph gelangt im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ganze zweimal zur Ehre, von Freud wörtlich zitiert zu werden, und sowohl in der „Psychopathologie des Alltagslebens" wie auch in den „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose", bekannter als die Geschichte vom „Rattenmann", ist es ein und derselbe Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse". Die Publikation dieser beiden Schriften liegt einige Jahre auseinander: Die „Psychopathologie" erschien als Vorabdruck bereits im Jahre 1901 und in Buchform 190418, die „Rattenmann"-Analyse dagegen begann im Oktober 190719 18
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Freud, S., Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: Monatsschrift fiir Psychiatrie und Neurologie, Band 10, Berlin 1901, S. 1 ff. und S. 95 ff. sowie Berlin 1904. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. Ο., Band 2, S. 313.
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und wurde als Fallstudie 1909 im „Jahrbuch" 20 zum ersten Mal in der ganzen Länge publiziert. Freud berichtet nun, daß der „Rattenmann" besagten Nietzsche·Aphorismus im Verlauf seiner Analyse bei ihm zitiert hat. 21 Vom „Rattenmann" aber wissen wir, daß ihm die Jahre zuvor erschienene „Psychopathologie des Alltagslebens", also jene Schrift, in der sich derselbe Aphorismus Nietzsches findet, bekannt war. 22 Man könnte sich also eine wahrhaft merkwürdige Episode der Art vorstellen, daß der „Rattenmann" das Zitat Nietzsches in Freuds „Psychopathologie" selbst aufgefunden hat, es dann Freud mitteilt, der es, ohne zu ahnen, daß selbiger Aphorismus schon einmal in einem seiner Bücher erwähnt sein könnte, ein weiteres Mal für die Drucklegung würdig befindet, was in der Veröffentlichung der „Rattenmann"-Studie dann auch geschieht. Eine solche Verwicklung ist in der Tat konstruiert und als „unbewußte Ironie" 23 der Geschichte von Freud und dem „Rattenmann" ausgelegt worden. Sie hat freilich den Fehler, daß sie schlechthin nicht stimmt. 24 In Wirklichkeit kommt man der Lösung des Rätsels auf die Spur, wenn man die Zeitfolge der jeweiligen Veröffentlichungen des Nietzsche-Aphorismus bei Freud genauer unter die Lupe nimmt. Da die Psychopathologie in den „Gesammelten Werken" nur unkommentiert vorliegt, andererseits aber in die kommentierte „Studienausgabe" nicht aufgenommen wurde und eine wiederum bloß unkommentierte Taschenbuchversion diese Lücke ersetzt, ist diesen Ausgaben naturgemäß nicht zu entnehmen, wann der Passus mit dem Nietzsche-Zitat eingefügt wurde, sodaß man auf den irrigen Schluß verfallen kann, er sei bereits im Vorabdruck 1901 bzw. in der Erstausgabe 1904 enthalten. Wie aus der kommentierten englischen „Standard Edition" 25 hervorgeht, ist die Stelle aber, wie leicht zu überprüfen, weder im Vorabdruck noch in der Erstauflage der „Psychopathologie" enthalten, sondern als Fußnote der dritten Auflage von 1910 beigefügt worden. 26 Dies bedeutet: Freud dürfte den Nietzsche-Aphorismus tatsächlich während der „Rattenmann"-Analyse von diesem zugespielt bekommen haben, und offenbar hielt er ihn für so eindrucksvoll, daß er ihn nur kurze Zeit nach der Publikation der Fallgeschichte nochmals in die dritte Auflage der „Psychopa20
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Freud, S., Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, in: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Band 1, 2. Hälfte, Leipzig und Wien 1909, S. 357 ff. Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, STA 7, S. 56. Ebd., S. 38. Assoun, P.-L., Freud et Nietzsche, a. a. O., S. 65. Auch Seidmann, P., Die perspektivische Psychologie Nietzsches, in: Balmer, H. (Hg.), Die europäische Tradition; Band 1 des 15bändigen Werkes „Die Psychologie des 20. Jahrhunderts", München 1976, S. 433, unterliegt demselben Irrtum wie Assoun. The Standard Edition, a. a. O., Band 6, S. 146 f. Es ist daher unhaltbar, wenn M. Kaiser-El-Safti (Der Nachdenker. Die Entstehung der Metapsychologie Freuds in ihrer Abhängigkeit von Schopenhauer und Nietzsche, Bonn 1987, S. 45) meint, daß „Freud 1901 nicht nur das Zitat [Nietzsches] übernahm, sondern sich grundsätzlich mit Nietzsches Erörterungen zu diesem Phänomen auseinandergesetzt hatte."
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thologie" mitübernahm. In der nun richtiggestellten zeitlichen Reihenfolge lautet das Nietzsche-Zitat im Originaltext des „Rattenmannes" von 1909 folgendermaßen: „Das habe ich getan", sagt mein Gedächtnis, „das kann ich nicht getan haben" — sag mein Stol^ und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das Gedächtnis nach. Als Quellennachweis ist vermerkt: „Jenseits von Gut und Böse, IV, 68." 27 In der Fußnote zur dritten Auflage der „Psychopathologie des Alltagslebens" 28 von 1910 heißt es dann: A. Pick hat kürzlich (Zur Psychologie des Vergessens bei Geistes- und Nervenkranken, Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik von H. Gross) eine Reihe von Autoren zusammengestellt, die den Einfluß affektiver Faktoren auf das Gedächtnis würdigen und — mehr oder minder deutlich — den Beitrag anerkennen, den das Abwehrstreben gegen Unlust zum Vergessen leistet. Keiner von uns allen hat aber das Phänomen und seine psychologische Begründung so erschöpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche in einem seiner Aphorismen (Jenseits von Gut und Böse, II. Hauptstück 68): ,JDas habe ich getan, sagt mein „Gedächtnis ". Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolti und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das Gedächtnis nach. " Auch hier wurde der ursprüngliche Text dieser dritten Auflage beibehalten, und offensichtlich ist, daß sich die beiden Zitate sowohl hinsichtlich der Anführungszeichen als auch insbesondere in der Angabe des Hauptstückes aus „Jenseits von Gut und Böse" wesentlich unterscheiden. Man sieht, das verwirrende Spiel ist keineswegs zu Ende, es scheint seinen Lauf erst zu nehmen. Zunächst: Die Angabe des Hauptstückes im „Rattenmann" ist die korrekte. Es handelt sich um das vierte und nicht, wie in der „Psychopathologie" irrtümlich vermerkt, um das zweite Hauptstück aus „Jenseits von Gut und Böse" 29 . Darüber hinaus ist die Zeichensetzung im „Rattenmann" in etwa übereinstimmend mit den damals sich im Handel befindlichen Nietzsche-Ausgaben, namentlich der Großund der Kleinoktavausgabe sowie der „Taschenausgabe".30 Ein Aphorismus da27 28 29 30
Freud, S., Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, in: Jahrbuch ..., a. a. O., S. 377; vgl. auch Bemerkungen ..., STA 7, S. 56 und GW 7, S. 407. Freud, S., Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 3., vermehrte Auflage, Berlin 1910, S. 77 f. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 86. Die Unterschiede betreffen zum einen den Punkt, daß Freud den Aphorismus einem neueren Stand der Orthographie angepaßt hat, andererseits sind Satzzeichen (Beistriche, Anführungszeichen) von den jeweiligen Herausgebern der Nietzsche-Ausgaben selbst leicht verändert worden - man vergleiche etwa die erste Auflage der Groß- bzw. Kleinoktavausgabe (jeweils Band 7, S. 94, Leipzig 1895 bzw. 1899) mit der ersten Auflage der Taschenausgabe (Band 8, S. 94, Leipzig 1906). Die Herausgeber der kritischen Nietzsche-Ausgabe, G. Colli und M. Montinari, haben sich dagegen wieder an Nietzsches Originaltexte, in diesem Fall an die Ausgabe von 1886 gehalten und den Text unverändert, also ohne jede Korrektur, übernommen. Differierend zu den vorhin erwähnten Ausgaben, welche wie gesagt in ungefähr die Freudsche Zitierung widerspiegeln, sind Orthographie und Interpunktion die folgende:
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gegen, in dem das Wort Gedächtnis in Anführungszeichen gesetzt ist, geschweige denn im 2. Hauptstück aufscheint, läßt sich diesen Ausgaben nicht entnehmen. Das heißt: Freud hat 1909 bei der erstmaligen Anführung des NietzscheZitats den Autor annähernd korrekt zitiert, während nur kurze Zeit später, nämlich 1910, derselbe Aphorismus verändert und in der Angabe des Hauptstückes zudem falsch wiedergegeben ist. Nicht nur das: Alle weiteren 11 Auflagen der „Psychopathologie" bis zum Jahre 1929 übernehmen diese Zitierung und den unrichtigen Quellenverweis auf das 2. Hauptstück, desgleichen die schon zu Freuds Lebzeiten herausgegebenen „Gesammelten Schriften" 31 sowie auch die „Gesammelten Werke". Erst die Herausgeber der „Standard Edition" 32 korrigieren den Irrtum, freilich in der Weise, daß sie Freud eigenmächtig verbessern und nicht hinzufügen, daß die betreffende Stelle der dritten Auflage sowie der weiteren Auflagen der „Psychopathologie" anders gelautet haben. Wie läßt sich die vom „Rattenmann" abweichende Zitierung in der „Psychopathologie" erklären? Verschiedene Möglichkeiten lassen sich diskutieren. Zunächst könnte man auf die naheliegende Idee kommen, Freud habe den Aphorismus bei dem inhaltlich in diesem Zusammenhang genannten A. Pick einfach übernommen und abgeschrieben, ohne die Richtigkeit der Quelle noch einmal zu überprüfen. Dies bewahrheitet sich indes nicht, da Pick in seiner Auflistung der Autoren Nietzsche gar nicht erwähnt. 33 Einen ersten Hinweis erhalten wir dagegen durch ein unveröffentlichtes Zitatenbuch Freuds, in dem er verschiedenste Zitate gesammelt hat und das nun im Freud Museum in Hampstead aufbewahrt ist. In dieses Zitatenbuch ist auch der Aphorismus Nietzsches handschriftlich eingetragen, und zwar folgendermaßen: „Das babe ich gethan" sagt mein Gedächtniß. „Das kann ich nicht gethan haben" mein Stol\ und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Gedächtniß nach.
— sagt
Als Quelle ist vermerkt: „Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, IV Hauptstück 68" 34 .
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„Das habe ich gethan" sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das Gedächtniss nach. (Jenseits von Gut und Böse, Leipzig 1886, S. 87 bzw. KSA 5, S. 86) Negativ kann also nur geschlossen werden, daß Freud bei seiner Zitierung die Originalausgabe jedenfalls nicht verwendet hat, da insbesondere die Anführungszeichen analog zur Großoktav-, Kleinoktav- und Taschenausgabe erweitert wurden. Freud, S., Gesammelte Schriften, a. a. O., Band 4, Wien 1924, S. 122. In einer englischen Übersetzung der „Psychopathologie" (Psychopathologie of Everyday Life, authorizized Englisch Edition, with Introduction by Α. Α. Brill, London 91922, S. 153) ist die Quelle gar folgendermaßen wiedergegeben: „Jenseits von Gut und Bosen, iL, Haupstuck 68". Standard Edition, a. a. O., Band 6, S. Höf. Pick, Α., Zur Psychologie des Vergessens bei Geistes- und Nervenkranken, in: Archiv fur Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, Band 18, Leipzig 1905, S. 251 ff. Kursive Hervorhebung des gesamten Zitats durch den Verfasser der Untersuchung. Ich danke Herrn J. K. Davies vom Freud Museum in Hampstead für die Bereitstellung der betreffenden Kopie aus Freuds Zitatenbuch sowie für die damit zusammenhängenden Auskünfte.
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Freud erwähnt, der „Rattenmann" habe während seiner gut 11 Monate dauernden Analyse den Nietzsche-Aphorismus in der 7. Sitzung zitiert35; es muß sich also um die Anfange der Behandlung gegen Ende des Jahres 1907 gehandelt haben. Die Vermutung liegt nahe, daß Freud daraufhin in einer Nietzsche-Ausgabe blätterte (möglicherweise hat der „Rattenmann" den Quellenhinweis selbst gegeben) und den Aphorismus von dort in sein Zitatenbuch eingetragen hat, um bei späteren Veröffentlichungen auf diesen zurückgreifen zu können. Auf derselben Seite des Zitatenbuches, in dem die Sätze Nietzsches aufscheinen, findet sich nun eine für unseren Zusammenhang nicht inhaltlich, aber zeitlich aufschlußreiche Eintragung Freuds: Sie ist einem Journal entnommen, das am 1. 5.1907 erschienen ist und steht unmittelbar über dem Nietzsche-Zitat. Geht man davon aus, daß die beiden Eintragungen in einem zeitlichen Konnex stehen und jeweils relativ bald nach Auffindung der Quelle niedergeschrieben wurden, so läßt sich Freuds Selbstaussage erhärten, er habe von dem Nietzsche-Zitat während der Zeit der „Rattenmann"-Analyse Kenntnis erhalten. Daß Freud tatsächlich bei Nietzsche nachgeschlagen hat, folgt daraus, daß er — und zwar im Gegensatz zu den veröffentlichten Zitierungen — im Zitatenbuch die dazumals bereits veraltete Orthographie Nietzsches („gethan", „giebt") beibehalten hat. Es bleibt also wiederum die Frage, um welche Ausgaben es sich dabei gehandelt haben könnte (denn Freud selbst gibt nirgendwo einen Hinweis auf Verlag und Erscheinungsdatum von „Jenseits von Gut und Böse"). Sämtliche erwähnten Ausgaben der Werke Nietzsches — Großoktavausgabe, Kleinoktavausgabe, Taschenausgabe — verwenden die alte Orthographie; der auffallende Unterschied besteht darin, daß allein in der Taschenausgabe das Wort „Gedächtnis" wie in Freuds Zitatenbuch wiedergegeben ist, während es in Groß- und Kleinoktavausgabe „Gedächtnis" heißt.36 Möglich also, daß Freud die Taschenausgabe für seine Eintragung in das Zitatenbuch benutzt hat. Was dagegen spricht, ist unsere Vermutung, es könnte sich bei der fraglichen Nietzsche-Ausgabe um dieselbe Ausgabe gehandelt haben, die sich Freud im Jahre 1900 beigelegt hat — die Taschenausgabe dagegen wurde erst 1906 herausgegeben. Was außerdem gegen die Taschenausgabe spricht, ist, daß hier im Gegensatz zu Groß- und Kleinoktavausgabe nach dem Satz „Das habe ich gethan" ein Beistrich gesetzt ist, was im Zitatenbuch Freuds ebenfalls nicht der Fall ist. Um auf die von Freud veröffentlichten Zitate Nietzsches zurückzukommen, so läßt sich nun sagen: Im „Rattenmann" hat Freud also sein eigenes Zitatenbuch geringfügig korrigiert und dem neueren Stand der Orthographie angepaßt. Vor allem ist der Hinweis auf das IV. Hauptstück von .Jenseits von Gut und Böse" 35 36
Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, STA 7, S. 55 f. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, Taschenausgabe, a. a. O., Band 8, S. 94; Groß- und Kleinoktavausgabe, a. a. O., jeweils Band 7, S. 94.
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Kapitel 4: „Habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt"
korrekt. Wie aber läßt sich, neuerlich gefragt, der Umstand erklären, daß Freud in der dritten Auflage der „Psychopathologie" ein falsches Hauptstück angibt, zudem die Zitierung im „Rattenmann" abändert und das Wort „Gedächtnis" in Anführungszeichen setzt? Denkbar wäre, daß es sich bei der Wiedergabe des Hauptstückes in der „Psychopathologie" nur um einen Druckfehler handelt, der sich dann hartnäckig durch die weiteren Auflagen am Leben erhält. Demgegenüber steht der Einwand, daß in dem Zitatenbuch der Vermerk auf das IV. Hauptstück in einer Weise niedergeschrieben wurde, die bei flüchtiger Betrachtung ebensogut auf ein II. Hauptstück schließen läßt. 37 Es ist daher möglich, daß Freud sich anläßlich seiner zweiten Zitierung schlicht und einfach verlesen hat. Warum er das Wort „Gedächtnis" in Anführungszeichen setzte, ist dagegen sehr plausibel zu erklären. Alles spricht dafür, daß der kurz zuvor im „Rattenmann" angeführte Aphorismus Nietzsches sich im Kapitel der „Psychopathologie" über das Gedächtnis bzw. dessen Abwehrmechanismen aus inhaltlichen Gründen abermals aufdrängte, d. h.: Freud selbst hat den Aphorismus verändert und das Wort „Gedächtnis" genau darum in Anfuhrungszeichen gesetzt, weil es ihm thematisch eben um den „Einfluß affektiver Faktoren auf das Gedächtnis" ging. Ein Aufschluß darüber, ob Freud schon 1900 die Kleinoktavausgabe besessen und bei der ersten in etwa stimmigen Zitierung in Anspruch genommen hat, läßt sich also nicht eindeutig erbringen. Weit ergiebiger als die vollständige Entwirrung dieses Knotens wird jedenfalls die Beantwortung der Frage ausfallen, ob er hinsichtlich seiner Nietzsche-Lektüre nach 1900 weiterhin „träge" geblieben ist. Von einem Mann, der in zehn Jahren zweimal Nietzsche und dabei noch denselben Aphorismus zitiert, wird man wohl nicht behaupten können, er habe sich besonders intensiv mit den Schriften des Philosophen befaßt; und einem Mann, der bei der Wiederholung desselben Zitats sichtlich zu bequem ist, die Richtigkeit der Quellenangabe jemals in seinem Leben zu überprüfen — und dazu hätte er nicht einmal bei Nietzsche selbst, sondern nur genau in seinem Zitatenbuch bzw. in seiner eigenen Schrift über den „Rattenmann" nachsehen müssen —, wird man wohl ebensowenig konzedieren können, er sei mit Nietzsches psychologisch „erschöpfendem" und „eindrucksvollem" Aphorismus besonders sorgfältig umgegangen. Mit einem Wort: Nietzsche war reine Nebensache! Insofern überrascht auch kaum, daß Nietzsche in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nicht zur ausgesprochen bevorzugten Lektüre Freuds zählte. 1906 bat ihn sein Verleger Heller, für die „Neuen Blätter für Literatur und
37
Indirekt bestätigt dies auch J. K. Davies, wenn er auf die Anfrage, ob es sich bei Freuds Niederschrift des Quellenvermerks wirklich um das IV. Hauptstück handle, antwortet: „It appears from other examples that he has indeed written the correct numeral IV in this instance, (not II as if may appear)"
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Kunst" eine Liste von zehn „guten" Büchern zusammenzustellen. Freud kann zwar mit dem Ausdruck „gutes Buch" recht wenig anfangen, antwortet aber trotzdem und nennt als die „großartigsten" Werke der Weltliteratur solche von Homer, Sophokles, Goethe, Shakespeare u. a., als die wissenschaftlich „bedeutsamsten" jene von Kopernikus und Darwin, als „Lieblingsbücher" ζ. B. Werke von J. Milton und H. Heine, und schließlich „gute Bücher" von Multatuli, R. Kipling, A. France, E. Zola, D. Mereschkowsky, G. Keller, C. F. Meyer, Th. Macaulay, Th. Gomperz und Mark Twain.38 Von Friedrich Nietzsche hingegen findet sich keine Spur.39 Nach dem jetzigen Stand der Dinge wird man sich also vor dem Schluß hüten müssen, Freuds „Stummheit", von ihm selbst bedauert, sei in den Jahren ab 1900 durch Nietzsche behoben worden.
38 39
Freud, S., Briefe 1873-1939, a. a. O., S. 267f. und 508. Soweit rekonstruierbar, dürfte dasselbe auch für Freuds Lieblingslektüre der 80er und 90er Jahre gegolten haben (vgl. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 208 ff. und 402). Wie oben S. 18—20 erwähnt, ist es durchaus möglich, daß Freud zwischen 1873 und 1875 Nietzsches „1. Unzeitgemäße" über David Strauss gelesen hat. Aus dem betreffenden Kontext seines Briefes an E. Silberstein (vgl. Jugendbriefe ..., a. a. O., S. 115 f.) ist freilich auszuschließen, daß Nietzsche im Gegensatz zu Strauss und Feuerbach (vgl. Jugendbriefe ..., a. a. O., S. 242) zu Freuds Lieblingslektüre gezählt hat. Dazu stimmig ist auch sein Wort, Nietzsche habe ihm in der Jugend eine „unzugängliche Vornehmheit" bedeutet (vgl. oben S. 31 und unten S. 153).
Kapitel 5 Diskussionen über Nietzsche in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Seit 1902 finden sich einige an Lehre und Praxis der Psychoanalyse Interessierte regelmäßig zu einer sogenannten „Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft" ein, aus der allmählich eine feste Institution wird und die 1908 als „Wiener Psychoanalytische Vereinigung" ausgerufen wird. In diesem Rahmen fallen nicht nur Diskussionen über Theorie und Klinik der neuen Wissenschaft sowie angrenzender Fachgebiete an, auch Vorträge und Debatten über Philosophie, Religion, Mythologie und Literatur sind als Bestandteile der wöchentlichen Abende eingeplant. Otto Rank, übrigens schon länger mit Nietzsches Philosophie vertraut, wird als bezahlter Schriftführer angestellt und zeichnet die Gespräche auf. Sie sind inzwischen als „Protokolle"1 veröffentlicht worden. Einen Eindruck von der Atmosphäre dieser Abende vermittelt die Schilderung eines Teilnehmers: „Man versammelte sich im Warteraum von Freuds Ordinationszimmer. Wir saßen um einen langen Tisch, die Tür in das Studio war offen und von drinnen blinkte eine große Bibliothek. Im Warteraum stand eine große etruskische Vase, auf seinem Schreibtisch zahlreiche kleine Figürchen, vornehmlich ägyptischer Herkunft. In dieser Wohnung schien uns alles bedeutungsvoll. Das Sofa und der Armsessel dahinter bildeten den Schauplatz von Freuds Nibelungenarbeit. Alle Gegenstände der Umgebung waren beladen mit Symbolik aus neurotischen Gehirnen, die ihre Gespinste auf sie übertragen hatten. [...] Freud saß am oberen schmalen Ende, ein Notizblatt vor sich und präsidierte. Man kam nach dem Nachtmahl zu schwarzem Kaffee und Zigarren. Gewöhnlich leitete ein Vortrag den Abend ein, der nicht strenge zur Psychoanalyse gehörig sein mußte. In einer kleinen Vase lagen Lose und Rank [...] zog sie und bestimmte so die Reihenfolge der Diskutanten."2 1908 taucht zweimal der Vorschlag auf, über Nietzsche zu diskutieren. Eduard Hitschmann, ein Internist mit Vorlieben für Nietzsche und Schopenhauer, teilt im März der Runde mit, er sei in Nietzsches Schrift „Zur Genealogie der Moral" auf dessen „tiefe psychologische Erkenntnis"3 gestoßen und wolle ein eigenes Referat an einem der nächsten Mittwoch-Abende zum besten geben. Am 1 2 3
Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 4 Bände, a. a. O. Wittels, F., Sigmund Freud, a. a. O., S. 117. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 319.
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1. April hält er den Vortrag, und zwar über die dritte Abhandlung der „Genealogie" mit dem Titel: „Was bedeuten asketische Ideale?"4 Detaillierte Auskunft über den tatsächlich referierten Inhalt der dritten Abhandlung gibt das Protokoll nicht. Hitschmann scheint es insbesondere darum zu gehen, die theoretische Verwerfung des „asketischen Ideals" in der „Genealogie" mit Nietzsches tatsächlicher Lebenspraxis zu vergleichen: Philosophie wird dergestalt zum Objekt der Psychoanalyse, mittels derer der Philosoph selbst „untersucht" werden kann. Damit ist die Richtung der Diskussion vorgegeben: In ihr entbrennt der Streit darüber, welche Krankheitskategorien psychiatrischer und/oder psychoanalytischer Natur dem Philosophen am ehesten gemäß seien. Da keine definitive Einigung erzielt wird, erfahrt man schließlich eine ganze Palette an Diagnosen: Nietzsche sei demnach zwangsneurotisch, hysterisch, homosexuell, sadistisch, luetisch infiziert bzw. paralytisch gewesen. Der Diskussionsverlauf spiegelt in dieser Form das herrschende Klima der Zeit wider. Nietzsche tritt als mystische Figur ins Rampenlicht, man nimmt Anteil an Leben und Vorgängen rund um seine Person, aber vieles bleibt dunkel und der Gerüchtebörse überlassen. Eine sich gerade etablierende Wissenschaft von der menschlichen Psyche mußte sich deshalb im speziellen herausgefordert fühlen, ihr eben erworbenes Instrumentarium an einer so rätselhaften Person wie Nietzsche zu erproben.5 Trotz des vorrangigen Interesses, Nietzsches Ideen als Ausfluß einer komplizierten pathologischen Seele zu deuten, kommen die Diskutanten nicht daran vorbei, die Frage einer möglichen Verwandtschaft zwischen den Gedanken Nietzsches und denen der Freudschen Psychoanalyse zu stellen. So meint Alfred Adler etwa, „daß von allen bedeutenden Philosophen, die uns etwas hinterlassen haben, Nietzsche unserer Denkweise am allernächsten stehe"6, und Freud selbst erklärt sich nur kurz darauf, indem er die abstrakte Art der Philosophie als dermaßen „unsympathisch" schildert, „daß er auf das Studium der Philosophie schließlich verzichtet habe." Und weiters: Auch Nietzsche kenne er nicht; ein gelegentlicher Versuch, ihn lesen, sei an einem Übermaß von Interesse erstickt. Trot% der von vielen Seiten hervorgehobenen Ähnlichkeiten könne er versichern, daß Nietzsches Gedanken auf seine eigenen Arbeiten gar keinen Einfluß gehabt hätten.7
Diese Versicherung hat Skeptiker auf den Plan gerufen: „Mit Versicherungen ist das so eine Sache; man schließt sie gewöhnlich ab, wenn man drohenden Gefahren glimpflich entkommen will. Aus keiner Stelle des Protokolls geht her4 5
6 7
Ebd., S. 334 ff. Anzumerken ist, daß es bis dato noch immer keine fundierte psychoanalytische Gesamtstudie zu Nietzsche gibt; vgl. auch unten S. 236—238. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 336. Ebd., S. 338 (H. d. V.).
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vor, daß irgendeiner der Anwesenden es gewagt hätte, Freud zu unterstellen, er habe Gedanken bei Nietzsche entlehnt, ohne dies auszuweisen. Dennoch gibt Freud sein unverlangtes Dementi ab. Er versichert uns, daß etwas nicht stattgefunden habe, und läßt dadurch schon wieder etwas stattfinden."8 Durchleuchtet man das Protokoll, zeigt sich zwar, daß eine solche Unterstellung in der Tat niemand ausgesprochen hat, aber man darf annehmen, daß eine Aussage wie die folgende für den Begründer der Psychoanalyse jedenfalls nicht gerade beruhigend wirkte. Paul Federn tut nämlich kund, daß „Nietzsche [...] uns so nahe [stehe], daß man nur fragen müsse, wie weit er «¿VA/gekommen sei. Er habe eine Reihe der Funde Freuds intuitiv erkannt; er habe die Bedeutung des Abreagierens, der Verdrängung, der Flucht in die Krankheit, der Triebe als erster entdeckt; sowohl die normalsexuellen als auch die sadistischen Triebe."9 Und auf eine solche Aussage hin sollte Freud nicht reagieren? Immerhin stellt Federn ja die Frage, ob es etwas gebe, was Nietzsche noch nicht aufgespürt habe, oder umgekehrt: was die Psychoanalyse zu bieten habe, das auf ihrem Boden gewachsen sei. Darauf sagt Freud, zwar sei er von vielen Seiten auf die Ähnlichkeiten zu Nietzsche hingewiesen worden, da er aber Nietzsche aus eigener Lektüre nicht kenne, könne er auch guten Gewissens jeden Einfluß auf sich von der Hand weisen. Dies mußte ihm wohl selbst noch zu unverbindlich und als Antwort auf die unmittelbaren Belege Federns hinsichtlich Nietzsches „psychoanalytischer" Pioniertaten zu wenig konkret vorgekommen sein. Um dem abzuhelfen, meint er schließlich: „Außer dem Infantilismus finde sich bei Nietzsche auch der Mechanismus der Verschiebung nicht erkannt."10 Ohne den Inhalt der Aussage hier zu beurteilen, stimmt es doch merkwürdig, daß ein Mensch, der seinen eigenen Bekundungen zufolge Nietzsche gar nicht kennen dürfte, gerade diesem vorhält, was er nicht erkannt habe.11 Nach den bisherigen „Ermittlungen" gibt es eigentlich keinen stichhaltigen Grund, die Äußerung Freuds, er sei mit der Lektüre Nietzsches nicht näher befaßt gewesen, grundsätzlich in Frage zu stellen. Umso verwunderlicher wirkt nun diese Kehre. Offenbar mußte er sich von Federns Bemerkung tief gekränkt fühlen, wie anders ist sonst zu erklären, daß er, der deklarierte Nietzsche-Laie, die bisher an den Tag gelegte Zurückhaltung aufgibt und in Nietzsches Gedanken plötzlich schwere Lücken entdeckt?
8 9 10 11
Nitschke, B., Zur Herkunft des ,Es', a. a. O., S. 786. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 337 (H. d. V.). Ebd., S. 338. Im übrigen hat Freud beim Mechanismus der „Verschiebung" im Traum einige Jahre zuvor ausgerechnet Nietzsches Terminus „Umwertung der Werte" zum besseren Verständnis fur seine Theorie herangezogen (vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 327 sowie Über den Traum, G W 2/ 3, S. 667).
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Der zweite Vereinsabend über Nietzsche trägt das Datum vom 28. Oktober 1908, und Adolf Häuder, ein philosophisch ambitionierter Anhänger der Psychoanalyse, stellt dabei Nietzsches „Ecce homo" vor.12 Eine Debatte über die Schrift bot sich insofern an, als sie erst kurz zuvor veröffentlicht wurde. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte die Befürchtung gehegt, diese unmittelbar vor dem Zusammenbruch geschriebene Autobiographie ihres Bruders könnte das von ihr in die Welt gesetzte Bild Nietzsches verunstalten, das Buch folglich lange zurückgehalten und erst in diesem Jahr 1908 zum Druck freigegeben. Häuder referiert nun den Inhalt von „Ecce homo", in dem Nietzsche sein Leben wie seine Schriften, sein philosophisches Bekenntnis wie seine Forderungen an die „Menschheit" in überschwenglichem Stil Revue passieren läßt. Als sehr eigenartig empfindet der Vortragende Kapitel wie „Warum ich so weise bin", „Warum ich so klug bin", „Warum ich so gute Bücher schreibe", sodaß der erste Diskussionsabend bruchlos mit der gleichen Frage fortgesetzt werden kann, was es mit Nietzsches Krankheit auf sich habe. Diesmal entspinnt sich der Disput darüber, ob er nun als Psychotiker und/oder Neurotiker apostrophiert werden müsse. Federn, der die Neurose-These vertritt, wird daraufhin von Freud, Sadger, Rank und teilweise von Adler aus jeweils verschiedenen Gründen widersprochen, und schließlich bieten die Klassifikationskriterien ein fast getreues Spiegelbild der ersten Debatte (neurotisch, homosexuell, sadistisch bis psychotisch, luetisch infiziert bzw. paralytisch). Freud selbst wirkt in der Diskussion sehr vorsichtig und bemüht sich um ein Bild, das übereilten pathologischen Einordnungen zuvorkommen soll. Gemäß seiner in der „Psychopathologie"13 formulierten Maxime, „die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen", sieht er in der Person Nietzsches zuletzt einen genialen Sonderfall des allgemeinen und durch die Länge der Kulturentwicklung verfolgbaren Phänomens, daß sich „die ganze Menschheit eine moralische Schattenwelt geschaffen [habe], durch Projektion der endopsychischen Substanzen."14 Nietzsche habe seine (nach Informationen von C. G.Jung und P. Federn homosexuellen) Neigungen auf die Erforschung des „Ichs" verwandt und dann „mit großem Scharfsinn, gleichsam in endopsychischer Wahrnehmung, die Schichten seines Selbst" abgetragen, sich aber nicht damit begnügt, sondern diese im Zusammenwirken mit seiner Erkrankung nach außen hin „projiziert". Der lehrhafte und pastorale Zug seines Wesens habe diesen Mechanismus noch verstärkt, und daraus seien die „verwirrenden, im Grunde aber richtigen Resultate der Nietzscheschen Anschauungen" entstanden: „Diese Formel habe er sich
12 13 14
Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 22 ff. Zur Psychopathologie des Alltagslebens, G W 4, S. 287 f. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28.
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für Nietzsche zurechtgemacht."15 Vor einer undifferenzierten Einschätzung der Krankheit möchte Freud warnen: Von einem „neurotischen Leiden" sei nichts zu bemerken, die Paralyse zwar gewiß, aber: „Das hieße sich [...] das Problem gar zu leicht machen." Und nun die entscheidende Äußerung: „Es ist sehr fraglich, ob wir die Paralyse für den Inhalt des Buches [„Ecce homo"] verantwortlich machen dürfen. — Wo die Paralyse große Geister befallen hat, sind außerordentliche Leistungen bis kurz vor der Krankheit zustande gekommen (Maupassant). Das Kennzeichen dafür, daß diese Arbeit Nietzsches als eine vollwertige und ernste aufzufassen ist, bietet uns die Erhaltung der Meisterschaft in der Form."16 Damit widerspricht Freud der zu dieser Zeit populärsten Krankheitsstudie von P. J. Möbius.11 Die Vorgeschichte zu diesem Buch ist bekannt. Da die detaillierten Anamnesen von Nietzsches Aufenthalt in den Krankenanstalten von Basel und Jena erst viel später allgemein zugänglich gemacht wurden18, standen zu Anfang des Jahrhunderts Spekulationen über Nietzsches Krankheit Tür und Tor offen, was Elisabeth Förster-Nietzsche nicht recht sein konnte, hatte sie sich doch ihre eigene Version zurechtgelegt: Demnach würden die Gerüchte, wonach Nietzsche erblich belastet gewesen sei, nicht stimmen, da die Ursache des Gehirntumors, an dem sein Vater gestorben war, ein Sturz von der Treppe gewesen sei; der Sohn selbst sei daran erkrankt, daß er lange Zeit unter Arbeitsüberlastung und permanenter Schlaflosigkeit gelitten und zur Bekämpfung derselben Überdosen von „Chloral" zu sich genommen habe.19 Damit sei der eigentliche Grund der Erkrankung gegeben. Möbius sollte diese Hypothese erhärten, und zu dem Zweck erhielt er auch Einsicht in die Krankengeschichten von Basel und Jena. Indes sah er sich außerstande, dem Anliegen zu entsprechen; nach intensivem Studium Schloß er auf eine „Progressive Paralyse", wenn auch mit atypischem Verlauf. Da nun das Wort „Syphilis" nicht mehr vermieden werden konnte, war die Schwester in eine ihr peinliche Situation geraten. Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen ging sie deshalb zu weiteren Erklärungen über: Demnach sei die Ursache der Erkrankung in einem „javanischen Beruhigungsmittel" bzw. in einer Haschischvergiftung zu suchen, wodurch man — ein Kuriosum — von einer „Haschisch-Paralyse" sprechen dürfe.20 Der Bericht von Möbius selbst hat allerdings eine Kehrseite. Denn sosehr er in medizinischen Belangen um Gewissenhaftigkeit bemüht ist, sosehr ver15 16 17
18 19
20
Ebd.; vgl. unten S. 236 f. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 27. Möbius, P. J., Über das Pathologische bei Nietzsche, in: Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, Band 17, Wiesbaden 1902. Vgl. Podach, E. F., Nietzsches Zusammenbruch, Heidelberg 1930. Vgl. Peters, H. F., Zarathustras Schwester. Fritz und Lieschen Nietzsche - ein deutsches Trauerspiel, deutsche Ubersetzung durch den Autor, München 1983, S. 250. Vgl. Podach, E. F., Nietzsches Zusammenbruch, a. a. O., S. 27 ff.
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nachlässigt er diese, wenn es darum geht, unter dem Mantel des Arztes Nietzsches Philosophie mitzudiagnostizieren und seine ganz persönlichen Einstellungen mit medizinischen Beurteilungen zu vertauschen. So schreibt er etwa, man müsse beim „Wiederkehrsgedanken" an eine „Gehirnkrankheit denken. Die ganze Lehre von der ewigen Wiederkehr ist das Schwachsinnigste, was Nietzsche vorgebracht hat, sie war wirklich sein Abgrund, seine letzte Tiefe". Oder: „Gewiß kann man ein Gegner des Christentums sein, aber niemand wird das, was seinen Eltern und der Mehrzahl der ehrenhaften Leute heilig war, mit Kot bewerfen, wenn er nicht ein Lump oder ein Gehirnkranker ist." Oder: „Ein Mensch, der nicht gehirnkrank ist, kann in Paulus nicht einen bewußten Betrüger sehen". Nietzsches „Ecce homo" findet Möbius im Stil ausgezeichnet und in der Darstellung geistreich, aber die „eigentümliche Grandezza und der Größenwahn des Paralytischen sind da". 21 Während die Diagnose einer Progressiven Paralyse als Folge einer Lues nach wie vor an erster Stelle der Diskussion steht22 — das Problem liegt darin, daß die Medizin wohl heute, nicht aber zu Nietzsches Zeiten, über effiziente Testmethoden zur Ursachenabklärung verfügt —, ist hingegen Möbius' Behauptung, die vor 1882 verfaßten Schriften müßten Nietzsche noch zugerechnet werden, die danach geschriebenen, also auch „Ecce homo", nicht mehr23, in keiner Weise mehr aufrechtzuerhalten und wird von der Nietzsche-Forschung unisono verworfen. Karl Jaspers, Philosoph und Psychiater in einer Person, veröffentlichte bereits 1936 eine eingehende Untersuchung zu Nietzsches Krankheitsverlauf. Sein sehr vorsichtiges Ergebnis lautet, daß alle jene Krankheitssymptome, an denen Nietzsche seit Mitte der 60er Jahre litt und die in Summe für seinen späteren Zusammenbruch verantwortlich gemacht werden könnten, zusammen immer noch keine eindeutigen Diagnosen erlaubten. Was allein gesagt werden könne, sei, „daß die abschließende Geisteskrankheit fast gewiß eine Paralyse war" und daß „schlechthin keine Andeutung solchen Wahns vor dem 27. 12. 88"24 festzustellen sei. Wie P. D. Volz in einer neuen, umfangreichen medizinischbiographischen Studie ausführt, läßt sich eine derart scharfe Grenzziehung zwar nicht mehr vertreten, aber auch diese Autorin findet zu einem zurückhaltenden, unspektakulären Resümee in Hinsicht auf Ausbruch und Ursache der Krankheit: „Die weitgehende Einbuße aller physischen und psychischen Kräfte im Verlauf 21 22
23 24
Möbius, P. J., Über das Pathologische bei Nietzsche, a. a. O., S. 58, 68, 86, 89. Vgl. etwa Podach, E. F., Nietzsches Zusammenbrach, a. a. O., S. 30 ff.; Janz, C. P., Nietzsche, a. a. O., Band 3, S. 9 ff.; Kaufmann, W, Nietzsche. Philosoph — Psychologe — Antichrist, aus dem Amerikanischen übersetzt von J. Salaquarda, Darmstadt 1982, S. 77 ff.; Ross, W, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980, S. 749 ff.; vgl. auch die von äußerst prätentiösen Wertungen durchsetzte „Gegen"-Biographie von A. Verrecchia, Zarathustras Ende. Die Katastrophe Nietzsches in Turin, W i e n - K ö l n - G r a z 1986. Möbius, P. J., Über das Pathologische bei Nietzsche, a. a. O., S. 104. Jaspers, K , Nietzsche, Berlin-New York 1981 (Nachdruck der 4. Auflage), S. 92.
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von 11 Jahren entspricht dem Bild eines hirnorganischen Psychosyndroms. Die globale Schädigung aller höheren zerebralen Funktionen läßt sich m. E. am ehesten [...] durch eine progressive Paralyse [erklären], die [...] in jedem Fall direkte Folge einer syphilitischen Infektion ist. Andere diagnostische Hypothesen wie etwa zerebrovaskuläre Demenz nach Apoplex, Schizophrenie, Epilepsie, Borrelieninfektion (Lyme disease) oder chronischer Medikamentenmißbrauch sind dagegen mit der Symptomatik [...] nicht oder nur zum Teil in Einklang zu bringen. Nietzsches Zusammenbruch, der ihn 1889 mitten aus seinem Schaffen herausriß, war demnach Folge eines organischen Nervenleidens, einer exogenen (zufällig erworbenen) Psychose und nicht etwa die Kulmination eines (psychologisch erklärbaren) mit innerer Schicksalhafügkeit ablaufenden Prozesses der Selbstzerstörung."25 Letztlich kann, so läßt sich der Tenor der gegenwärtigen Forschung skizzieren, nur eine sorgfältige Prüfung seiner Schriften den Rang Nietzsches in der Geistesgeschichte bestimmen; und folglich gilt dies auch für jenes vor dem Zusammenbruch konzipierte Werk „Ecce homo", welches zum Diskussionsgegenstand der Wiener Vereinigung erkoren wurde. Wenn sich Referent Häutler also über die seltsamen Titel „Warum ich so klug bin" usw. wundert und Sadger meint, daß „die Titel ganz an Lobsprüche [erinnern], die man einem kleinen Kind, wenn es brav ist, erteilt"26, so wäre trotz der psychoanalytischen Euphorie Zurückhaltung am Platze gewesen. W Kaufmann27 hat etwa gezeigt, daß Nietzsches Titel wie auch verschiedene in den Kapiteln getroffene Aussagen subtile Anspielungen auf die Hauptfigur der „Apologie", auf Sokrates, sind — und folglich nicht blindlings über einen psychoanalytischen Leisten geschlagen werden können. Freud war in diesem Punkt jedenfalls reservierter und, wie sich herausstellt, zu Recht, wenn er, ohne sich auf übermäßige Spekulationen einzulassen, „Ecce homo" als vollwertig und ernst nahm. Kurz nachdem Freud in dieser zweiten Diskussion auf Nietzsches scharfsinnige „endopsychische Wahrnehmung" hingewiesen hatte, wird dem Philosophen noch ein Kompliment besonderer Art zuteil: Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden.28
Wie zur Unterstützung kann E.Jones dies bestätigen und auf seine Erfahrungen mit Freud verweisen, denen zufolge dieser Nietzsche nicht nur für einen
25
26 27 28
Volz, P. D., Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990, S. 298; vgl. auch S. 255 ff. und 306 ff. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28. Kaufmann, W., Nietzsche, a. a. O., S. 475 f. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28 (H. d. V.).
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„großen Mann" 29 gehalten, sondern auch „mehrere Male (gesagt habe], Nietzsche habe eine tiefere Selbsterkenntnis gehabt als je ein Mensch vor ihm oder nach ihm. Von selten des ersten Erforschers des Unbewußten ist das ein schönes Kompliment."30 Freuds Charakterisierung greift W. Kaufmann gerne auf: „Ein ganz erstaunliches Kompliment! Man würde doch erwarten, daß Freud meinte, die Psychoanalyse ermögliche Tiefen des Selbstverständnisses, die ohne Psychoanalyse einfach nicht zugänglich waren. Und doch sagte Freud, [...] Nietzsche habe sich besser gekannt als Freud und sein Kreis sich selbst kannten. Ob das nun ganz richtig war oder nicht, von welchem anderen Philosophen hätte er das wohl behaupten können? Gewiß nicht von Kierkegaard oder Schopenhauer, Bentham oder Hume, von Kant und Hegel gar nicht zu reden."31 Nach seiner Hommage an Nietzsche sieht sich Freud veranlaßt, abermals eine Klarstellung zu treffen. Im Protokoll ist sie folgendermaßen wiedergegeben: Bemerken mochte Prof. Freud noch, daß er Nietzsche nie studieren vermochte: ^um Teil wegen der Ähnlichkeit, die sène intuitiven Erkenntnisse mit unsern mühseligen Untersuchungen haben, und rçum anderen Teil wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften, der ihn bei Versuchen %ur Lektüre nie über Ά Seite hinauskommen ließ.32
Dieselbe Situation wie bei der ersten Nietzsche-Diskussion hat sich also eingestellt, nur daß nirgendwo ersichtlich ist, daß einer der Diskutanten Freud zu dieser „Bemerkung" angehalten hätte. Wieso die neuerliche Rechtfertigung? Wieso die Betonung, er habe Nietzsche de facto nicht gelesen? Es mußte ihm doch selbst aufgefallen sein, daß diese Äußerung in einer eigentümlichen Diskrepanz zur abgeklärten Feststellung stehen mußte, Nietzsches Introspektion sei von keinem Menschen erreicht worden. Man würde annehmen, eine derartige, nicht eben alltägliche Behauptung setze ein beträchtliches Maß an Kenntnis ebenso voraus wie die Beurteilung der Denkergebnisse als „im Grunde richtige" und mit denen der Psychoanalyse verbunden durch ihre Ähnlichkeit. Doch Freud beharrt darauf, er sei bei seinen Versuchen über halbe Seiten nicht hinausgekommen, was offenbar als Präzisierung seiner Monate zuvor gemachten Aussage verstanden werden sollte. Dort hieß es noch ziemlich vage, sein „gelegentlicher Versuch", Nietzsche zu lesen, sei gescheitert bzw. an einem „Übermaß von Interesse erstickt". Nun weiß man, daß mit „Versuchen" maximal halbe Seiten gemeint waren. Noch ein anderes fällt auf: der unterschwellige Klageton, mit dem die psychoanalytischen Untersuchungen als mühselig bedauert werden, während Nietzsches Erkenntnisse hingegen als „intuitiv" gewonnen gelten, was suggerieren 29 30 31 32
Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 2, S. 485. Ebd., S. 405 f. Kaufmann, W, Nietzsche als der erste große Psychologe, in: Nietzsche-Studien 7, 1978, S. 262. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28 (H. d. V.).
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will, Nietzsches Funde seien mehr oder weniger mühelos dessen Feder entsprungen. Daß dieses Ärgernis, und als solches wird man es zu bezeichnen haben, kein Einzelfall bleibt, zeigt eine weitere, 1925 gemachte Bemerkung: „Nietzsche, [...] dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden" 33 . Bereits 1906, also noch vor den Vereinsdiskussionen über Nietzsche, gehen A. Schnitzler die folgenden Zeilen zu: „Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objekts erworben, und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert." 34 1922 noch einmal an Schnitzler: „So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition — eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung — alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe." 35 Und 1932 in Hinsicht auf die Affinität seines Konstrukts vom Todestrieb zu Schopenhauer: „Sie werden vielleicht achselzuckend sagen: Das ist nicht Naturwissenschaft, das ist Schopenhauersche Philosophie. Aber warum, meine Damen und Herren, sollte nicht ein kühner Denker erraten haben, was dann nüchterne und mühselige Detailforschung bestätigt?" 36 Offenbar hatte sich Freud mit der Zeit ein Standard-Repertoire an Erklärungen zurechtgelegt, das jedesmal abgerufen werden konnte, sobald es um die Abweisung des Verdachts ging, er könnte seine Forschungsresultate auf anderen als den eigenen, mühseligen Wegen erworben haben. Noch einmal: Bislang gibt es keinerlei Anhaltspunkte, er habe Nietzsche eingehend studiert und dies dann unterschlagen. Dennoch ist nicht nur bemerkenswert, daß Freud diesbezüglichen Mutmaßungen in einer bis auf die Wortwahl hin programmierten Weise vorbeugt, sondern auch, daß ein Kompliment wie beispielsweise jenes über Nietzsches unerreichte Introspektionsgabe den Eindruck vermittelt, als ob es aus dem Munde eines Mannes stammt, der zur kompetenten Aussage befähigt ist. Gleichzeitig stellt sich aber heraus, daß die Beurteilungen und Würdigungen von Nietzsches Schaffen eingestandenermaßen auf eigener Unkenntnis fußen. Wahrscheinlich lassen sich derartige Reaktionen allein aus dem spezifischen Klima verstehen, in das Freuds nicht geringer Ehrgeiz zu dieser Zeit verstrickt war. Immerhin hatte er eine neue epochale Wissenschaft begründet und zunehmend mehr Anhänger sollten sich um ihn scharen. Und gerade da passiert es, daß „viele Seiten" die Ähnlichkeit zwischen seinen und den Gedanken Nietzsches hervorkehren, wobei naheliegt, daß es sich dabei nicht immer nur um
33 34 35 36
.Selbstdarstellung', G W 14, S. 86. Freud, S., Briefe 1 8 7 3 - 1 9 3 9 , a. a. O., S. 266 f. Ebd., S. 357. 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 540.
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„objektive" Informationen handelte. Möglicherweise glaubte Freud, die Vorläuferproblematik abschwächen zu können, indem er sich den Unkenrufen nicht halsstarrig verschloß, sondern die Ähnlichkeit offiziell bestätigte und darüber hinaus noch Komplimente außergewöhnlicher Natur verteilte (allerdings nicht ohne hinzuzufügen, er kenne Nietzsche eigentlich nicht). War diese Strategie nicht erheblich erfolgversprechender als dem Philosophen in einer Art Selbstverteidigung Theoriemängel vorzuhalten?37 So gesehen ist jedenfalls nicht auszuschließen, daß Freud in den beiden nächsten Jahren den erwähnten Aphorismus über „Gedächtnis und Stolz" nicht nur deswegen zitierte, weil er sich inhaltlich stimmig anbot, sondern auch, weil damit ein Alibi gegeben war, daß er sich vor Nietzsche keineswegs abschotten wolle.
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Vgl. die erste Nietzsche-Diskussion in der Wiener Vereinigung. Wir werden sehen, daß Freud diesem Weg insofern treu bleibt, als er sich vor der Öffentlichkeit weitgehend einer direkten Kritik an Nietzsche enthält und eine solche in den privaten Rahmen (interne Diskussionen, Briefe), und das zumeist auch nur in Ansätzen, verlegt.
Kapitel 6 Der Sexualimmoralist O. Gross In den jungen Tagen der psychoanalytischen Bewegung macht ein Mann namens Otto Gross mit unorthodoxen Ideen von sich reden. Als „Paradies"Sucher 1 , Anarchist, Freud-Schüler und Nietzscheaner in einer Person ist er der erste, der in systematischer Absicht eine gedankliche Brücke von Nietzsche zu Freud schlägt. Freud meinte einmal, neben C. G. Jung sei unter seinen Anhängern nur ein einziger, der das Prädikat „origineller Denker" 2 verdiente — eben Otto Gross. Diese Einschätzung erfuhr mit der Zeit allerdings eine gewisse Ernüchterung, wofür in erster Linie Biographie und spätere Vorstellungswelt des Otto Gross maßgeblich waren. 1877 als Sohn des weithin bekannten Kriminalisten und Strafrechtswissenschaftlers Hans Gross in der Steiermark geboren, verbringt Otto Gross eine äußerst behütete Kindheit, und schon mit 22 Jahren promoviert er zum Dr. med. 3 Freud gibt ihm den Rat, sich so schnell wie möglich um eine Dozentur zu bewerben, und 1906 kann Gross tatsächlich mit dem Titel eines Privatdozenten für Psychopathologie an der Universität Graz aufwarten. Sosehr die Karriere des jungen Mannes also voran zu gehen schien, mit einer Leidenschaft hatte er zu kämpfen, die ihm zeitlebens Schwierigkeiten bereiten, aber auch zu ungeahnten Denkleistungen verhelfen sollte: seiner Drogensucht, der er ab 1900 verfallen war, wobei eine erste Entziehungskur ohne jeden Erfolg blieb. Freud wußte um die Probleme von Gross Bescheid und empfahl ihm, er solle sich ein weiteres Mal einer Entziehungskur in der berühmten Schweizer Klinik „Burghölzli" unterziehen, er selbst wolle sich beim Oberarzt C. G. Jung dafür verwenden, daß er eine eingehende „Analyse" erhalte. Im Sommer 1908 begibt sich Otto Gross ins „Burghölzli" zu Jung, der ein außerordentliches Interesse an dem von Meister Freud persönlich überwiesenen Patienten bekundet und alsgleich mit der Analyse beginnt. Schon bald erfährt Freud: „Die Analyse hat allerhand wissenschaftlich schöne Resultate ergeben, die wir bald zu formulieren trachten." 4 Freud indes blieb skeptisch, und wie sich herausstellen sollte, zu Recht, denn 1
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Vgl. Hurwitz, E., Otto Gross. ,Paradies'-Sucher zwischen Freud und Jung, Zürich und Frankfurt 1979. Vgl. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 2, S. 50. Zu diesem und dem folgenden vgl. die Biographie von Hurwitz, E., a. a. O. Ebd., S. 158.
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Gross war nur kurze Zeit später über die Anstaltsmauer entflohen. Die Skepsis hatte allerdings noch einen anderen Grund: Jungs Diagnose, zunächst auf „Zwangsneurose" lautend, wurde von ihm selbst bald verworfen und durch „Dementia praecox" ersetzt, womit Freud wiederum nichts anzufangen wußte, „weil Dementia praecox ja oft: keine rechte Diagnose ist."5 Unversehens war der Patient damit zum Spielball eines akademischen Streites geworden, bei dem weniger sein persönliches Schicksal als vielmehr die diagnostische Auseinandersetzung zwischen Freud und seinem Kronprinzen Jung auf dem Spiele stand. Für Otto Gross war in diesem Spiel, das für ihn nur allzu ernst war, nicht mehr viel Platz übrig, und sein weiteres Leben hatte auch nichts mehr damit zu tun. Er war geflohen und blieb auf der Flucht. Auf Betreiben seines Vaters wird er 1913 als „gefährlicher Anarchist" in Berlin verhaftet, ausgewiesen, zwangsinterniert und als „wahnsinnig" im Sinne des Gesetzes entmündigt. Mit Unterstützung etlicher bekannter Künstler und Sympathisanten kämpft er in einigen Prozessen um die Aufhebung seiner Entmündigung, aber erst 1917 wird die volle Entmündigung in eine beschränkte Kuratel „wegen gewohnheitsmäßigem Mißbrauch von Nervengiften" umgewandelt. 1920 wird Otto Gross halb erfroren und verhungert in einem Berliner Lagerhaus aufgefunden; wenig später stirbt er an den Folgen.6 Die Entwicklung von Otto Gross' Gedankenwelt ist entscheidend von den anarchistischen Zirkeln in Schwabing mitbestimmt. Dort war er auf Fragestellungen gestoßen, die das Bild, das er sich bis dato von der Psychoanalyse gemacht hatte, als korrekturbedürftig erscheinen ließ: Deren theoretische Ausrichtung wird grundsätzlich nicht bestritten, aber doch als zu einseitig erachtet, da die Methode zu sehr an individualistischen Überlegungen orientiert sei, die sozialpolitische und kulturell-biologische Dimension dagegen vernachlässige. Nietzsches Ideen, mit denen Gross 1906/07 über Erich Mühsam und den Stefan George-Kreis in dem gleichermaßen erotisierenden wie „repressionsfreien" Klima Münchens näher vertraut wurde7, sollten diese Freudsche Lücke ausfüllen. Schon das 1907 erschienene „Freud'sche Ideogenitätsmoment"8, eine durch biologistische Erwägungen gestützte psychoanalytische Schrift, zeigt erste Spuren eines Nietzsche-Einflusses, aber erst die zwei Jahre später publizierte Abhandlung „Über psychopathische Minderwertigkeiten"9 zieht die direkte argumentative Verbindungslinie von Nietzsche zu Freud. Dort heißt es, Nietzsche
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Ebd., S. 161. Ebd., S. 306. Vgl. ebd., S. 114 ff. sowie Kaufmann, W., Nietzsche, a. a. O., S. 9 - 1 8 und 161-165. Gross, O., Das Freud'sche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-depressiven Irresein Kraeplins, Leipzig 1907. Gross, O., Über psychopathische Minderwertigkeiten, Wien und Leipzig 1909.
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habe den Mechanismus der „Hemmung" 10 , insbesondere aber die pathogenen Kulturschädigungen auf das Individuum entdeckt, die sich im Konflikt zwischen den biologischen und den kulturellen Anforderungen dahingehend äußerten, daß eine Gesellschaft mit der Etikette „Allgemeinheit" gerade die biologisch stärksten, wohlgeratensten und gesündesten Individuen der Gattung Mensch unter soziale Strafe stelle und damit den Typus von nunmehr individuell unzweckmäßigen, dafür aber sozial erwünschten und zweckmäßigen Persönlichkeiten heranziehe. 11 Damit sei Nietzsche als der Begründer einer „biologischen Soziologie" 12 in die Geschichte eingegangen, währenddessen Freud das in der Theorie pathogener Kultureinwirkungen fehlende Bindeglied einer individuellen Schädigung durch psychisch-traumatisierende und zurückgedrängte Affekte so bruchlos angefügt habe, daß ein Schluß der folgenden Art sich aufdränge: „Ich möchte deshalb wagen, auf diesen Gebieten die Forschung Freuds als die geradlinige Fortsetzung der Forschungen Nietzsches anzusprechen." 13 Freud hatte das Buch von Ottos Vater Hans Gross mit der Bitte um wohlwollende Stellungnahme zugesandt bekommen, sich einer definitiven Beurteilung aber entzogen, weil er hinter der Intervention vermutete, der Vater wolle ihn nur wegen seiner wissenschaftlichen Reputation für den „kranken" Sohn einspannen. Gewiß ist somit nur, daß Freud das Buch kannte, ungewiß jedoch, wie er darauf reagierte. Ziemlich einig dürften sich die etablierten Psychoanalytiker bei der Beurteilung einer anderen von Otto Gross gelebten und verfochtenen Maxime gewesen sein, denn wohl nur naive Gemüter konnten annehmen, daß die Ausrufung eines universellen Sexualimmoralismus dem Vorankommen der psychoanalytischen Bewegung dienlich sein könnte. Die mit diesem Ausdruck intendierte Anspielung auf Freud und Nietzsche hat C. G. Jung sehr erbost: „Dr. Gross hat mir gesagt, er habe die Übertragung auf den Arzt gleich wieder weg, da er die Leute zu Sexualimmoralisten mache. [...] Damit assoziiert er sie an Nietzsche. Mir scheint, daß Sexualverdrängung als Kulturfaktor sehr wichtig und unentbehrlich ist, wenn schon pathogen für viele Minderwertige. Ein paar Schädlichkeiten muß es immerhin geben in der Welt. Die Kultur vollends ist nur die Frucht von Widrigkeiten. Mir scheint, Gross gerate mit den Modernen zu weit in die Lehre des sexuellen Kurzschlusses, der weder geistreich, noch geschmackvoll, sondern nur bequem und darum alles andere, nur kein Kultur erzeugendes Moment ist." 14 E.Jones bekommt Ahnliches zu hören: „Wir täten gut daran, nicht gleich 10 11 12 13 14
Ebd., S. l l l f . Ebd., S. 116 ff. Ebd., S. 48. Ebd. S. Freud — C. G. Jung, Briefwechsel, herausgegeben von W McGuire und W Sauerländer, Frankfurt am Main 1974, S. 99 f.
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mit der Sexualtheorie herauszuplatzen. Im Zusammenhang damit habe ich allerlei Ideen, besonders hinsichtlich der ethischen Aspekte der Frage. Ich glaube, wenn man gewisse Dinge in aller Öffentlichkeit verkündet, untergräbt man die Zivilisation und damit den Antrieb zur Sublimierung. [...] Eine extreme Haltung, wie sie Gross vertritt, ist entschieden falsch und für die ganze Bewegung gefährlich." 15 Wie zur Antwort resümiert Otto Gross 1913 in der anarchistischen Zeitschrift „Die Aktion" noch einmal seine Auffassung, indem er mit Nietzsche und Freud nicht davon abgeht, daß eine neue Moral in einer neuen revolutionären Gesellschaft alles andere denn auf eine ethische Verrohung und Verwilderung der Kultur hinauslaufe, sondern als begriffener Immoralismus eine wahrhafte und wirkliche Moral zuallererst begründen könne: „Die unvergleichliche Umwertung aller Werte, von der die kommende Zeit erfüllt sein wird, beginnt in dieser Gegenwart mit dem Gedanken Nietzsches über die Hintergründe der Seele und mit der Entdeckung der sogenannten psychoanalytischen Methode durch S. Freud. Es ist dies die praktische Methode, die es zum ersten Mal möglich macht, das Unbewußte für empirische Erkenntnis freizumachen, d. h. für uns, es ist jetzt möglich geworden, sich selbst zu erkennen. Damit ist eine neue Ethik geboren, die auf dem sittlichen Imperativ zum wirklichen Wissen um sich und um den Nächsten beruhen wird." 16
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Zitiert in: Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 2, S. 171 f. Zitiert in: Hurwitz, E., Otto Gross, a. a. O., S. 90.
Kapitel 7 Libido contra Macht A. Adler Alfred Adler und Sigmund Freud wurden 1902 näher miteinander bekannt und freundeten sich bald an. Wie aus den „Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung" hervorgeht, war Adler einer der eifrigsten und kreativsten Diskutanten, und Freud hielt ihn für prädestiniert, Erbe und Zukunft der Psychoanalyse auf längere Zeit hinaus zu sichern. 1910 vertraute er ihm den Vorsitz der Vereinigung an, dies allerdings aus eher schon taktischen Gründen und zu einer Zeit, als erhebliche Meinungsunterschiede nicht mehr zu verheimlichen waren. Freud erhoffte sich mit seiner Geste, Adler könnte seine Auffassungen vielleicht doch noch überdenken, ein Trugschluß, wie sich herausstellte. Denn die Streitigkeiten nahmen allmählich derart persönliche Formen an, daß der in solchen Dingen ansonsten eher zurückhaltende Freud nach der 1911 erfolgten Trennung keinerlei Skrupel hatte, Adlers Motive auf „unbändige Prioritätssucht" 1 zurückzufuhren. Der Verlauf der inhaltlichen Auseinandersetzungen läßt sich in den „Protokollen" verfolgen. Am 3. Juni 1908 referiert Adler in der Vereinigung über „Sadismus in Leben und Neurose" 2 , wobei er im Anschluß an die von Freud geachtete „Theorie der Organminderwertigkeit" 3 den Terminus Aggressionstrieb als fundamentalen Trieb einführt, der durch ein „angeborenes Gemeinschaftsgefühl" seine wichtigste Hemmung und Regulierung erfahre. Freud macht ein paar detaillierte Einwände, aber zur Überraschung der Anwesenden glaubt er einen Kompromiß mit der Feststellung zu finden, „was Adler den Aggressionstrieb heiße, das sei unsere Libido", worauf sich Federn zum Widerspruch herausgefordert fühlt und Freud dahingehend korrigiert wird, „daß es Adlers Intention nicht entspreche, Aggressionstrieb' durch .Libido' zu ersetzen." 4 Fast genau ein Jahr später wird Freud seine Meinung in der Tat revidieren. Adlers Thema lautet
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Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, G W 10, S. 95. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 382 ff., veröffentlicht in: Adler, Α., Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose, in: Ders., Heilen und Bilden, Frankfurt am Main 1973 (Lizenzausgabe nach der 3., neubearbeiteten und von E. Wexberg redigierten Auflage von 1928), S. 53 ff. Adler, Α., Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung fur Philosophie und Psychologie, in: Ders., Heilen und Bilden, a. a. O., S. 42 ff. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 383 f.
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diesmal: „Über die Einheit der Neurosen". Dabei wiederholt er seine Auffassung von der Organminderwertigkeit, auf deren Grundlage eine „Kompensation" notwendig werde, die je nach Form und Ausgang große Leistungen ebenso wie neurotische Erkrankungen möglich mache, jedenfalls aber immer mit der Art und Weise der Hemmung des „Aggressionstriebes" in Zusammenhang stehe. Wenn es auch schwierig sei, die Einheit der Neurosen auf den entscheidenden Punkt zu bringen, „immer aber wird es gelingen, die verschiedenen Formen auf den Aggressionstrieb zurückzuführen."5 Freud kommt nun gleich in seiner ersten Wortmeldung auf den Kern der Sache zu sprechen. Unverblümt wirft er Adler vor, er habe „fast wie absichtlich das Sexuelle eliminiert"6. Damit ist der Verlauf der weiteren Diskussion vorprogrammiert. Auch Adlers Ergänzung der Theorie der Minderwertigkeit durch einen „männlichen Protest", dessen Geltungsstreben die minderwertige „weibliche" Seite überwinden bzw. kompensieren soll, wird von Freud neben dem Problem, daß man nicht ohne weiteres wissen könne, was männliche und was weibliche Eigenschaften seien, in der Hauptsache als eine Mißachtung seiner Libidotheorie empfunden.7 In vier weiteren Diskussionen zwischen dem 4. Januar und dem 22. Februar 1911 spitzt sich die Situation zu.8 Freud faßt seine Einwände noch einmal prägnant und von verschiedenen Seiten her beleuchtet zusammen9, die Standpunkte sind freilich festgefahren, die Fronten verhärtet: Adler wird als abtrünnig und für die Bewegung verloren erachtet: „Sie werden einen großen Eindruck machen und der Psychoanalyse zunächst sehr schaden", er selbst halte die „Adlerschen Lehren für falsch und für die Entwicklung der Psychoanalyse gefährlich."10 Am 22. Februar 1911 legt Adler seine Funktion als Obmann der Vereinigung nieder, am 11. Oktober dieses Jahres gibt Freud bekannt, Adler sei aus derselben ausgetreten.11 Adler gründet daraufhin eine neue Gruppe mit der Bezeichnung „Verein für Freie Psychoanalytische Forschung", was Freud und sein Biograph E. Jones angesichts des Namens yyFreie Forschung" als besonders „geschmackvoll" empfinden.12
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Ebd., Band 2, S. 235. Ebd., Band 2, S. 240 (H. d. V.). Vgl. Vortrag und Diskussion über den „Psychischen Hermaphroditismus", in: Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 384 ff. Der Vortrag ist veröffentlicht unter dem Titel: Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose, in: Adler, Α., Heilen und Bilden, a. a. O., S. 85 ff. Vgl. die Diskussionen vom 4. 1., 1. 2., 8. 2. und 22. 2.1911, in: Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. Ο., Band 3, S. 103 ff., 139 ff., 150 ff., 164 ff. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 3, S. 145. Ebd., S. 145 und 167. Ebd., S. 172 und 271. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, GW 10, S. 95 sowie Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 2, S. 164.
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Schon bald war den Beteiligten klar, daß Adlers Gedanken, die so grundsätzlich an den Mauern der Psychoanalyse zu rütteln schienen, Friedrich Nietzsche ins Spiel gebracht und diesem nolens volens eine geistige Urheberschaft zuerkannt hatten, was einige dazu animierte, dem angegriffenen Adler Argumentationshilfe zu leisten. So hält G. Rosenstein in der Diskussion zu einem Referat über „Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie" fest, daß ihm „der Wille zur Macht im Gegensatz zur Libido sehr unterschätzt"13 scheine, während R. Freschi den Disput unmißverständlich auf den Punkt bringt. In einem Artikel über „Das ,Lustprinzip' bei Nietzsche", der ausgerechnet in dem zunächst von Freud herausgegebenen, dann von W. Stekel betreuten, offiziellen Organ der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung", dem „Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie", und darüber hinaus nur kurze Zeit nach Adlers Austritt veröffentlicht wird, stellt er 18 Zitate Nietzsches mit der unverkennbaren Absicht zusammen, Adler/Nietzsche gegen Freud ins Treffen zu führen. Im angefügten Kommentar heißt es dementsprechend, in Nietzsches Forschungen „fällt uns sogleich der Gegensatz zu den gerade auf das Lustprinzip gestellten Befunden Freud's auf, während wir die Forschungen Alfred Adlers in Ubereinstimmung mit Nietzsche's Einheitskonzeption der Psychologie finden. Ja noch mehr; wir glauben, daß uns Adler die von Nietzsche so sehr gesuchte, sicher geahnte Brücke [...] gegeben hat" 14 . Adler selbst bezeichnet seine „Leitidee" ab etwa 1910 mit dem NietzscheTerminus Wille %ur Macht.15 In den veröffentlichten Werken, insbesondere in seiner Schrift „Uber den nervösen Charakter" 16 , wird nun Nietzsche zwar einige Male erwähnt, zumeist aber nur in der Funktion als Pate und Lieferant für Schlagworte. Es ist evident, daß Adler mit Nietzsche, und sei er noch sosehr „eine der ragenden Säulen unserer Kunst" 17 , im Detail nicht vertraut war und ihn als ideengeschichtlichen Mentor für einige seiner Überlegungen wohl beanspruchte, für eingehendere Begründungen aber nicht heranziehen mochte bzw. auch konnte. Selbst die sinngemäß mehrfach wiederholte Aussage, „Nietzsches ,Wille zur Macht' und ,Wille zum Schein' umfassen vieles von unserer Auffassung" 18 , kann weniger als Indiz für eine Beschäftigung mit Nietzsche als vielmehr dafür gelten, daß die Lektüre des 1911 erschienenen Buches von H. Vaihingen „Die Philosophie des Als Ob", Spuren hinterlassen hatte. Vaihingers letztes 13 14
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Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 4, S. 128. Freschi, R., Das .Lustprinzip' bei Nietzsche, in: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie, 3. Jahrgang 1912, Lizenznachdruck der Ausgabe J. F. Bergmann (Wiesbaden 1912), Amsterdam 1964, S. 516 ff. Vgl. Sperber, M., Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie, Frankfurt am Main— Berlin-Wien 1983, S. 110. Adler, Α., Über den nervösen Charakter, Wiesbaden 1912. Adler, Α., Der nervöse Charakter, in: Heilen und Bilden, a. a. O., S. 123. Adler, Α., Über den nervösen Charakter, a. a. O., S. 4.
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Kapitel lautet: „Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein (,Der Wille zum Schein")"19. Der Autor versucht dabei zu zeigen, daß Nietzsches Erkenntnistheorie gerade die Dichtung, die Täuschung und den Schein als Bedingung „wahrer" Erkenntnis unterstellt, wobei insbesondere jene Theorie des Perspektivismus eine eingehende Würdigung erfährt, die dann in der Tat insofern ein Moment des Adlerschen Denkens wird, als auch er meint, das Individuum schaffe sich mittels seelischer „Kunstgriffe" Fiktionen20 und sehe „all seine Probleme aus einer Perspektive, die seine eigene Schöpfung ist" 21 . Eben diesen Aspekt des fiktiven Als-ob sollte Freud 3 Jahre nach dem Bruch mit Adler zum Anlaß für einen längeren, hämischen Kommentar nehmen: „Als ich seine [Adlers] geringe Begabung gerade für die Würdigung des unbewußten Materials erkannt hatte, verlegte ich meine Erwartung dahin, er werde die Verbindungen von der Psychoanalyse zur Psychologie und zu den biologischen Grundlagen der Triebvorgänge aufzudecken wissen, wozu seine wertvollen Studien zur Organminderwertigkeit auch in einem gewissen Sinne berechtigten. Er schuf dann auch wirklich etwas Ahnliches, aber sein Werk fiel so aus, als ob es — in seinem eigenen Jargon zu reden — für den Nachweis bestimmt wäre, daß die Psychoanalyse in allem unrecht habe, und die Bedeutung der sexuellen Triebkräfte nur infolge ihrer Leichtgläubigkeit gegen die Darstellung der Neurotiker vertreten hätte. Über das persönliche Motiv seiner Arbeit darf man auch vor der Öffentlichkeit sprechen, da er es selbst in Gegenwart eines kleinen Kreises [sie!] von Mitgliedern der Wiener Gruppe geoffenbart hat. .Glauben Sie denn, daß es ein so großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben lang in Ihrem Schatten zu stehen?'" 22 Solchen Untergriffen versuchte Freud nur kurz später die Spitze zu nehmen, indem er in der Fallstudie vom „Wolfsmann" Adlers Leitidee in gemäßigterem Ton begegnete: „Motiven dieser Art, die dem Willen zur Macht, dem Behauptungstrieb des Individuums entstammen, hat Alf. Adler wie alles andere so auch das sexuelle Verhalten der Menschen untergeordnet. Ich bin, ohne die Geltung solcher Macht- und Vorrechtsmotive zu leugnen, nie davon überzeugt gewesen, daß sie die ihnen zugeschriebene dominierende und ausschließliche Rolle spielen können."23 Diese vergleichsweise zurückhaltende Bewertung kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, wie unerbittlich er dessen Revisionismus zu Anfang verfolgt hat. Bereits im Februar 1911 teilt 19 20 21 22 23
Vaihinger, H., Die Philosophie des Als Ob, Berlin 1911, S. 771 ff. Vgl. das 3. Kapitel des theoretischen Teiles von „Über den nervösen Charakter", a. a. O., S. 30 ff. Zitiert in: Seidmann, P., Die perspektivische Psychologie Nietzsches, a. a. O., S. 437. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, G W 10, S. 94. Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, STA 8, S. 142 (Die Fallgeschichte vom „Wolfsmann" wurde noch im November 1914 niedergeschrieben, aber erst 1918 veröffentlicht — vgl. STA 8, S. 127). Des weiteren vgl. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, STA 8, S. 117 f.; Zur Einfuhrung des Narzißmus, STA 3, S. 59 f.; ,Ein Kind wird geschlagen', STA 7, S. 251 - 254; Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 347.
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er O. Pfister mit: „Adler hat sich ein Weltsystem ohne Liebe geschaffen, und ich bin dabei, die Rache der beleidigten Göttin Libido an ihm zu vollziehen."24 Dieser Vorsatz wird in der 1914 erfolgten Abrechnung mit dem Abtrünnigen in die Tat umgesetzt: Der Systemgedanke Adlers lautet bekanntlich, es sei die Absicht der Selbstbehauptung des Individuums, sein „Wille zur Macht", der sich in der Form des „männlichen Protests" in Lebensführung, Charakterbildung und Neurose dominierend kundgibt. [...] Das Lebensbild, welches aus dem Adlerschen System hervorgeht, ist ganz auf den Aggressionstrieb gegründet. Man könnte sich ja verwundern, daß eine so trostlose Weltanschauung überhaupt Beachtung gefunden hat; aber man darf nicht daran vergessen, daß die vom Joch ihrer Sexualbedürfnisse bedrückte Menschheit bereit ist, alles anzunehmen, wenn man ihr nur die „Überwindung der Sexualität" als Köder hinhält.25
Die Passage ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil mit der Kritik an Adlers Willen zur Macht zugleich eine an Nietzsches Hauptgedanken impliziert ist; sondern auch, weil ausgerechnet Freud in seinen späteren Werken der Aggressionstendenz des Menschen — im Sinne Nietzsches ist sie zwar eine offenkundige, aber keineswegs ausschließliche Form des Willens zur Macht — eminente Bedeutung zumißt und dem Eros einen weiteren autonomen Trieb, nämlich jenen Todestrieb zur Seite stellt, aus dem sich wiederum die Aggression herleiten lasse. Ja einmal spekuliert Freud sogar mit einem angeborenen Aggressions- bzw. Destruktionstrieb: „Ich erinnere mich meiner eigenen Abwehr, als die Idee des Destruktionstriebes zuerst in der psychoanalytischen Literatur auftauchte, und wie lange es dauerte, bis ich für sie empfänglich wurde. Daß andere dieselbe Ablehnung zeigten und noch zeigen, verwundert mich weniger. Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ,Bösen', zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird."26 Zum anderen kann Freuds ursprüngliche Adler-Kritik vielleicht auf Nietzsche umgelegt werden, der die Sexualität bzw. Libido in der Tat als bestimmte Form des Willens zur Macht begriffen und diesen Willen als Grundregulativ allen Lebens definiert hat; Adlers Theorie dagegen trifft die Kritik nur zu einem Teil. Zwar ordnet auch Adler die Libido bzw. Sexualität dem „Primat des Willens zur Macht"27 unter, aber dieses Motto erhält eine Bewertung zugesprochen, deren Intention immer darauf abzielt, das übermäßige Wuchern des Machtstrebens als eine Krankheit zu brandmarken, welche dem „Gemeinschaftsgefühl", dessen 24
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S. Freud — O. Pfister, Briefe 1909 — 1939, herausgegeben von E. Freud, Frankfurt am Main 1963, S. 47. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, G W 10, S. 98 und 102. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 247 f. Vgl. Adler, Α., Über den nervösen Charakter, a. a. O., S. 4 und 38.
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Aufgabe es sei und sein solle, diesen Trieb zu bändigen und in sozial motivierte Formen des menschlichen Zusammenlebens zu lenken, zutiefst zuwiderlaufe.28 Adler verbindet also den im Sinne der Gemeinschaft domestizierten Willen zur Macht mit einer herkömmlichen moralischen Theorie, der sich Nietzsche seinerseits aber gewiß widersetzt hätte. Oder anders: Nietzsche würde an dieser Stelle gegen Adler votieren, und Freuds ohnehin recht vulgarisierte Hauptkritik mag dann an Nietzsche zu prüfen sein, Adlers Theorie und seinen Uberzeugungen wird sie ganz offensichtlich nicht zur Gänze gerecht. Hören wir dazu den AdlerSchüler Manès Sperber: Jedenfalls ist der Wille zur Macht, wie Nietzsche ihn auffaßte, durchaus verschieden von jenem Machtstreben, dem Adler besonders in seiner Neurosenlehre einen großen Platz einräumt. [...] Man kann sich kaum etwas Gegensätzlicheres denken als Adlers Auffassung vom Willen zur Macht. Für ihn ist alles Machtstreben eine verfehlte Tendenz zur Uberkompensation eines durch quälende Minderwertigkeitsgefühle zutiefst gedemütigten Menschen [...] Somit ist der Wille zur Macht [...] ein zwingender Beweis für die äußerste Unsicherheit des Machtgierigen und für dessen Unfähigkeit zu einem auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Verhalten und für dessen völliges Versagen in allen menschlichen Beziehungen.29
Fragt man sich, wieso Freud dieser Seite der Adlerschen Überlegungen so wenig Rechnung getragen und die Interpretation des Willens zur Macht seinem eigenen Blickwinkel derart angepaßt hat, wird man um den Schluß kaum herumkommen, daß er einer allzuschnellen Identifizierung von Adler mit Nietzsche erlegen ist. Auch C. G. Jung sieht in Freuds Kritik an Adler letztlich die Person Nietzsches durchschimmern: „Jetzt sah ich seine [Freuds] Psychologie als einen Schachzug der Geistesgeschichte, der Nietzsches Vergötterung des Machtprinzips kompensierte. Das Problem lautete offenbar nicht ,Freud versus Adler', sondern ,Freud versus Nietzsche'. Es schien mir viel mehr zu bedeuten als ein Hausstreit in der Psychopathologie."30
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Vgl. Adler, Α., Weitere Leitsätze zur Praxis der Individualpsychologie, in: Ders., Praxis und Theorie der Individualpsychologie, herausgegeben von W Metzger, Frankfurt am Main 1974 (Lizenzausgabe), S. 40 ff. Sperber, M., Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie, a. a. O., S. 107 f. Jung, C. G., Erinnerungen, Träume, Gedanken, herausgegeben von A. Jaffé, Ölten und Freiburg im Breisgau 121982, S. 157 (H. d. V.).
Kapitel 8 Freuds Hinweis auf Nietzsches Hymnus „Vor Sonnen-Aufgang" A b 1 9 1 0 läßt sich in der psychoanalytischen Bewegung ein gesteigertes Interesse für Nietzsches wie auch für Schopenhauers Philosophie wahrnehmen. So weist Otto Rank 1 9 1 1 auf die bereits durch Schopenhauer geleistete Erklärung des Verdrängungsmechanismus hin 1 , Juliusburger 2 spinnt die Diskussion weiter und differenziert sie dann in einer eigenen Arbeit 3 ; Ferenczi 4 wiederum zieht Schopenhauer zu einer Interpretation des Ödipus-Mythos heran; 1 9 1 3 erscheinen zwei umfangreiche Artikel v o n A . Frh. v. Winterstein und E. Hitschmann 5 über das Thema Psychoanalyse und Philosophie, wobei Schopenhauer wie auch Nietzsche ausführlich zu Worte kommen. V o r allem Hitschmanns Abhandlung, welche Schopenhauers Philosophie in Verbindving zu seinem Leben setzt, ist in Form einer Hinterfragung v o n dessen willensverneinender Lehre durch Freuds psychopathologische Forschungen und Nietzsches Entlarvung der Willensverneinung bzw. des asketischen Ideals so angelegt, daß der zwingende Eindruck entsteht, Nietzsche allein sei das rechte Vorbild für Freud und die Psychoanalyse. 6 In diesem Sinne versteht es jedenfalls V. Tausk, wenn er schreibt: „Sowohl 1
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Rank, O., Schopenhauer über den Wahnsinn, in: Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. Jahrgang 1911, S. 69 ff. Freud wird sich in seiner „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" an genau diese Erklärung erinnern (vgl. GW 10, S. 53). Juliusburger, O., Weiteres zu Schopenhauer, in: Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. Jahrgang 1911, S. 173 f. Juliusburger, O., Psychotherapie und die Philosophie Schopenhauers, in: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie, 3. Jahrgang 1912, S. 569 ff. Ferenczi, S., Symbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythos (Gedeutet durch Schopenhauer), in: Imago, Zeitschrift für Anwendungen der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Band 1, Leipzig und Wien 1912, S. 276 ff. Hitschmann, E., Schopenhauer. Versuch einer Psychoanalyse des Philosophen, in: Imago, Band 2, 1913, S. 101 ff.; Winterstein, A. Frh. v., Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie, in: Imago, Band 2, 1913, S. 175 ff. Diesen Eindruck schränkt Hitschmann in seinem Schlußwort (S. 173) und in Anspielung auf Nietzsches eigenen persönlichen Lebenskampf dahingehend ein, daß auch dieser nicht als „gesundes" philosophisches Vorbild prädestiniert erscheine: „Sollte nun jemand, enttäuscht darüber, daß sich Schopenhauer,nicht gesund genug zum Philosophieren' {Riehl) erwiesen hat, bei einem anderen sein Seelenheil suchen wollen, so sei er gewarnt. Auch Nietzsche, dem wir hier als Scbopenbauer-Kúüket und Tiefenpsychologen so breiten Raum gewidmet haben, scheint nicht berufen, zum Richter des Lebens gemacht zu werden. Wer da auszöge, einen zu suchen, der gesund genug zum Philosophieren ist, dem erginge es wie jenem Boten eines kranken Königs, der das Hemd eines Glücklichen zur Heilung seines Herrn suchen ging. Denn als er endlich in einem Hirten den Glücklichen fand, besaß dieser kein Hemd. — Wer zum Philosophieren gesund genug wäre, der - philosophiert eben nicht!"
Kapitel 8: Freud zu Nietzsches Hymnus „Vor Sonnen-Aufgang"
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Hitschmann als auch Winterstein haben den richtigen Anschluß an Nietzsche gefunden, der sich in der Vertretung durch entscheidende Zitate als der einzige vorpsychoanalytische Denker erweist"7. Kurz zuvor besteht schon O. Pfister darauf, Nietzsche dürfe als der „scharfsinnigste aller Hintergrundpsychologen"8 charakterisiert werden. Verschiedene Nietzsche-Zitate bzw. Verweise auf dessen Philosophie in Freuds Hauszeitschriften wie auch innerhalb der Vereinsdiskussionen runden den Rahmen zu dieser Zeit ab.9 Nietzsche ist in einem Maße präsent, daß man wieder an Wittels' späteres Wort erinnert wird, man könne sich vor dessen Gedanken jedenfalls nicht „luftdicht abschließen". Freud selbst zeigt sich allerdings recht zurückhaltend und kann bzw. will nach der zweimaligen Erwähnung des „Gedächtnis-Stolz-Aphorismus" und zu einem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzung mit Adler ihrem Höhepunkt zusteuert, nur ein einziges Mal mit einem Nietzsche-Beitrag aufwarten. Seit 1910 bemüht er sich um eine psychoanalytische Deutung der berühmt gewordenen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" von D. P. Schreber. In dieser Studie, die ein Jahr später in Druck geht, nimmt Freud Schrebers Beschwörungen der Sonne nun zum Anlaß für einen kleinen psychomythologischen Exkurs, dem auch Nietzsche unterworfen wird: Die Deutung dieses Sonnenmythos macht uns Schreber leicht. Er identifiziert die Sonne geradezu mit Gott [...] Ich bin für die Eintönigkeit der psychoanalytischen Lösungen nicht verantwortlich, wenn ich geltend mache, daß die Sonne nichts anderes ist als wiederum ein sublimiertes Symbol des Vaters. Die Symbolik setzt sich hier über das grammatikalische Geschlecht hinaus; wenigstens im Deutschen, denn in den meisten anderen Sprachen ist die Sonne ein Maskulinum. Ihr Widerpart in dieser Spiegelung des Elternpaares ist die allgemein so bezeichnete „Mutter Erde". In der psychoanalytischen Auflösung pathogener Phantasien bei Neurotikern findet man oft genug die Bestätigung für diesen Satz. Auf die Beziehung zu kosmischen Mythen will ich nur mit diesem einen Wort verweisen. Einer meiner Patienten, der seinen Vater früh verloren hatte und in allem Großen und Erhabenen der Natur wiederzufinden suchte, machte es mir wahrscheinlich, daß der Hymnus Nietzsches „Vor Sonnenaufgang" der gleichen Sehnsucht Ausdruck gebe.
Dazu macht Freud folgende Anmerkung: „Also sprach Zarathustra, Dritter Teil. — Auch Nietzsche hatte seinen Vater nur als Kind gekannt."10 Da aus 7 8 9
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Tausk, V., Psychoanalyse der Philosophie und psychoanalytische Philosophie, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 6, Leipzig und Wien 1914, S. 407. Pfister, O., Anwendungen der Psychoanalyse in der Pädagogik und Seelsorge, in: Imago, Band 1, 1912, S. 56. Vgl. etwa Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. Jahrgang 1911, S. 80, 430; Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie, 3. Jahrgang 1912, S. 516 ff.; Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 3, S. 57, 113, 203, 300, 319 und Band 4, S. 79, 126 ff., 267. Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides), STA 7, S. 179 und Anmerkung 1.
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Hymnus
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dem nächsten Satz des Textes hervorgeht, daß ein „anderer" Patient Freuds den Bezug Sonne — Vater überraschenderweise „selbständig" herzustellen wußte, muß geschlossen werden, daß die Deutung im Falle Nietzsches nicht auf einen Hinweis des ersteren Patienten zurückging, da dieser einen solchen Bezug offensichtlich nicht ahnte. Die „Wahrscheinlichkeit" der Nietzsche-Deutung stammt also von Freud selbst. Diesmal ist der Verweis auf den dritten Teil des „Zarathustra" richtig, und daß Nietzsche seinen Vater früh verloren hatte, wußte Freud spätestens seit den Diskussionen über „Ecce homo". 11 Die Quellenangabe ist zwar korrekt, aber wie immer sehr dürftig: Verlagsort, Erscheinungsdatum und Seitenanzahl der Zarathustra-Ausgabe fehlen. Also auch hier muß man bei der Beantwortung der Frage passen, in welcher Einzel- oder Gesamtausgabe er auf den Text gestoßen war. Mit großer Sicherheit läßt sich indes sagen: „Also sprach Zarathustra" war Freud als Werk der Weltliteratur natürlich bekannt12, eine damit verbundene aufmerksame Lektüre wird man allerdings auszuschließen haben. Zum einen mußte ihn ein „Freund" etwas später auf eine bestimmte Zarathustra-Stelle erst hinweisen13, was sich erübrigt hätte, wäre er mit Nietzsches Opus magnum vertraut gewesen; zum anderen mißachtet seine Interpretation des Kapitels „Vor Sonnen-Aufgang" alle gebotenen Maßstäbe einer philologischen Analyse. Schon durch die Uberschrift allein hätte Freud vorsichtig werden müssen, lautet sie doch nicht „Der Sonnen-Aufgang" oder „Die Sonne", sondern „Vor Sonnen-Aufgang"14. Und auf die Präposition legt Nietzsche besonderen Wert, setzt er sie doch ausdrücklich in Sperrdruck. Inhalt des Kapitels, auf das Wesentliche beschränkt, ist folgender: Zarathustra ahnt bereits die Zentnerlast, welche in Form des Gedankens von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen" als immoralistische Erkenntnis auf ihn zukommen wird. Aber noch geht ihm diese Ahnung über seine Kraft, noch fürchtet er sich, es zittern ihm die Knie, noch kann er den „abgründlichen" Gedanken nicht ertragen. Auf seiner Irr-Reise der Erkenntnis erholt er sich für kurze Zeit und begegnet dabei dem „Glück des Nachmittags". Aber er mißtraut diesem „Frieden im Ungewissen", weiß, daß die Sonne sinken wird, wenn ihn die Wucht der schmerzlichen Erkenntnis am nächsten Tag trifft. Doch vergeblich wartet er auf das Unglück, kurzfristig läuft ihm das Glück wie ein „Weib" nach. Es ist ihm beschieden durch die Zeit vor Sonnenaufgang, womit besagter Abschnitt beginnt. Der Himmel, durch Sonneneinstrahlung und Ziehwolken noch nicht verdeckt, ist ihm dabei Zeichen für klare und tiefe Erkenntnis: „Die Welt ist tief — :
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Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 23 und 27. Zudem hatte Josef Paneth Freud schon 1883/84 über Motive des „Zarathustra" informiert (vgl. oben S. 34). Vgl. Einige Charaktertypen aus psychoanalytischer Arbeit, STA 10, S. 253. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 207.
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und tiefer als je der Tag gedacht hat" 15 , tiefer als die rationalistische Aufklärung, die als „Vernunft-Spinne" immer vermittelndes, vermischendes, besänftigendes Licht in die Klarheit der Nacht bringen will. Der Anblick des ungetrübten Himmels läßt Zarathustra begreifen, daß jedes Ding sein eigenes „rundes Dach", seine „azurne Glocke", sein eigenes zu bejahendes Schicksal habe. Darum sei er Symbol eines unschuldigen und „unbegrenzte[n] Ja-und-Amen-sagen[s]", welches sich in dem Augenblick der Bejahung immer schon jenseits von Gut und Böse wisse. Ziehwolken dagegen verdeckten diese Erkenntnis, indem sie als Sinnbilder moralischen Denkens in der Geschichte den Blick auf die Unschuld des ,Ja-und-Amen-sagen[s]" verstellten und die Dinge als richtungs- und zweckgebunden treibend erscheinen ließen. Dagegen stehe die tiefe Einsicht: „Alle Dinge sind getauft am Borne der Ewigkeit und jenseits von Gut und Böse; Gut und Böse selber aber sind nur Zwischenschatten und feuchte Trübsale und Zieh-Wolken."16 Im Kapitel „Vor Sonnen-Aufgang" läßt Nietzsche Zarathustra eine neue, immoralistische Geschichtsperspektive vortragen. Ob es da noch legitim ist, allen Text außer acht lassend über eine Sehnsucht nach dem verlorenen Vater zu mutmaßen?17 Nietzsche selbst teilt seiner Schwester in einem Brief vom August 1883 bezüglich des Zarathustra mit: „Und fast hinter jedem Wort steht ein persönliches Erlebniß"18. Dies einmal ernst genommen19, darf gefragt werden, was — biographisch gesehen — mit einem reinen, ungetrübten, wolkenlosen Himmel auch gemeint gewesen sein könnte. Und mit einem gewissen Maß an biographischen Kenntnissen, nämlich dem Umstand, daß Nietzsche aufgrund seiner Kopfschmerzen, der Migräneanfalle, seiner Sehschwäche, des Brechreizes, Fiebers und der anhaltenden Schlaflosigkeit ein außergewöhnliches Sensorium für die ihm am zuträglichsten bzw. abträglichsten klimatischen Bedingungen entwickelte20, wäre man wohl auf ähnliche Weise auf das Verhältnis zwischen 15 16 17
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Ebd., S. 210. Ebd., S. 208 f. Dieses Fragezeichen gilt auch für den Fall, hätte Freud tatsächlich auf Nietzsches Sonnensymbol reflektiert: Auch der „große Mittag", an dem die Sonne am höchsten steht und in diesem „Augenblick" nicht von moralischen Schatten getrübt wird, ist der Intention nach eine Abrechnung mit den Erkenntnisirrtümern der bisherigen Geschichte, dem Irrtum der Dichotomie von gut und böse wie auch der von wahrer und scheinbarer Welt: „Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA" (Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 81). KSB 6, S. 439. An anderer Stelle (Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 426) hält Nietzsche den Schluß vom Werk auf den Urheber allerdings für die „verfänglichste Art des Rückschlusses". Vgl. ebenfalls Zur Genealogie der Moral (KSA 5, S. 341): „Die Einsicht in die Herkunft des Werkes geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!" Brief vom 21. August 1881 an H. Köselitz (KSB 6, S. 119): „In Paris ist eine Ausstellung fur Electricität: ich sollte eigentlich dort sein, als Ausstellungsgegenstand, vielleicht bin ich in diesem Punkte empfänglicher als irgend ein Mensch, zu meinem Unglücke!"
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Krankheit und Wetterlage zu sprechen gekommen wie Nietzsche in praktisch all seinen Briefen, etwa: „Übrigens ist mein Befinden gar nicht meinen Hoffnungen entsprechend. Ausnahmewetter auch hier! Ewiges Wechseln der atmosphärischen Bedingungen! — das treibt mich noch aus Europa! Ich muß reinen Himmel monatelang haben, sonst komme ich nicht von der Stelle. Schon 6 schwere, zwei- bis dreitägige Anfälle!!" Oder: „Daß ein Himmel mit monatelanger Reinheit eine Lebensbedingung für mich geworden ist, sehe ich nun ein: lange vermag ich diesem ewigen Wechseln, diesem Wolken-aufziehen nicht mehr Stand zu halten!" Oder: „Diesen Sommer hat es sich wieder, auf unheimliche Weise, bestätigt, daß Dein Sohn an allen Tagen mit bewölktem Himmel krank ist." 21 Man wird also um die Vermutung nicht herumkommen, daß Zarathustras „großes und erhabenes" Glück vor Sonnenaufgang auch eine Sehnsucht Nietzsches nach eigener physischer Gesundheit zum Ausdruck bringt. Von dieser Sehnsucht zu derjenigen nach dem Vater ist aber noch ein Stück methodischer und inhaltlicher Arbeit zu tun. Mag unter Umständen ein solch unbewußt verschlungener Weg (und sei es über den Himmel, sei es über die Sonne) auch dorthin fuhren, er wäre erst einmal zu beschreiten und die Spurensuche eine Aufgabe, von der zunächst nicht feststeht, ob sie in jenem präjudizierten „wahrscheinlichen" Resultat auch endet. Abgesehen vom Mißgeschick, daß Freud schon die Uberschrift „Vor Sonnen-Aufgang" ignorierte und die Sonne zum Bezugspunkt seiner Auslegung erkor, hätte er sich auch für die „Eintönigkeit" der psychoanalytischen Lösungen nicht zu rechtfertigen brauchen. Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung des „Falles Schreber" zeigt sich, daß die Mythologie augenscheinlich mehrere Möglichkeiten der Interpretation offen läßt. Sabina Spielrein, zunächst Patientin und Schülerin von C. G. Jung 22 , seit 1911 auch Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, stellt im November desselben Jahres im Verein eine Arbeit vor, die kurz danach unter dem Titel „Die Destruktion als Ursache des Werdens" veröffentlicht wird. 23 Freud kann sich noch sehr viel später an diesen Artikel erinnern 24 , ist darin doch die Hypothese eines Todes- bzw. Destruktionstriebes als eigentliches Movens der Geschichte, des Werdens, ausgesprochen, ein Thema, auf das er sich erst nach langem Zögern einlassen sollte. Interessant ist aber eben auch, daß Spielreins Deutung der „Sonne" diametral zu jener Freuds ausfallt. Ganz in der Terminologie Jungs formulierend, sieht sie nämlich in dieser
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KSB 6, S. 111, 131 und KSB 7, S. 79. Vgl. Hurwitz, E., Otto Gross, a. a. O., S. 164. Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 3, S. 303 und 314 ff.; Spielrein, S., Die Destruktion als Ursache des Werdens, in: Jahrbuch fur psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Band 4/1, Leipzig und Wien 1912, S. 465 ff.
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Vgl. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 3, S. 326.
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den symbolischen Ausdruck fur eine Sehnsucht Nietzsches nach Identifizierung mit der Mutter!25 Freud blieb bei seinen Interpretationen ansonsten recht vorsichtig. So bekannte er sich, und zwar ungeachtet seiner Versuche einer psychoanalytischen Textauslegung großer Dichter (Goethe, Dostoevskij, Shakespeare u. a.), schließlich dazu, daß „die Analyse vor dem Problem des Dichters die Waffen strekken" 26 muß, die „Analyse [...] nichts zur Aufklärung der künsderischen Begabung sagen [kann] und auch die Aufdeckung der Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, fällt ihr nicht zu" 27 , woraus man mit Freud selbst folgern darf, daß ein Umstand wie der frühe Tod von Nietzsches Vater noch keine zureichende Erklärung für Motive des „Zarathustra" bietet. Diese Vorsicht hatte ihn im speziellen Fall verlassen. Welche Absicht ihn zur Erwähnung der besagten Passage auch immer bewogen haben mochte, eine jedenfalls scheidet mit Sicherheit aus: daß Freud an Nietzsches Text als solchem interessiert war. Wie schon zuvor, drängt sich auch hier der Schluß auf, daß die Anfuhrung Nietzsches eine reine AlibiZitierung war.
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Vgl. Spielrein, S., Die Destruktion als Ursache des Werdens, a. a. O., S. 482-485. Dostojewski und die Vatertötung, STA 10, S. 271. ,Selbstdarstellung', GW 14, S. 91.
Kapitel 9 Lou Andreas-Salomés Freundschaft mit Freud Im September 1911 findet in Weimar der 3. Internationale Psychoanalytische Kongreß statt. An ihm nimmt eine 50jährige Dame teil, der in halb Europa ihr Ruf als Schriftstellerin, Intellektuelle, Emanzipierte und femme fatale vorauseilte: Lou Andreas-Salomé. Auf ihren ständigen Reisen Schloß die Kosmopolitin nach und nach Bekanntschaften mit Wagner, Strindberg, Wedekind, Schnitzler, Hofmannsthal, Altenberg, Rilke, Tolstoi und eben auch mit Freud. 1 Sagenumwoben und über ein lokales Publikum hinaus berühmt geworden war sie gleichwohl durch ihre frühe Beziehung zu Nietzsche, die u. a. zu einer verwickelten ménage à trois mit diesem und Paul Rèe sowie zu lebenslangen Spannungen mit Nietzsches Schwester Elisabeth führte. 2 Bereits 1894, also inmitten seines Krankheitsstadiums, legte Lou Salomé eine Werkinterpretation Nietzsches vor. 3 Diese P. Rèe gewidmete Schrift, die sie, wie sie später in ihrem „Lebensrückblick" 4 behauptete, „voller Unbefangenheit" geschrieben hatte, erregte aisgleich heftiges Aufsehen und schlug sich in der Rezension als der „erste bedeutende Versuch" eines Nietzsche-Verständnisses, aber auch als „mystisches Ungetüm" 5 nieder. Elisabeth Förster-Nietzsche antwortete mit ihrer Biographie, in der Lou ein eigenes Kapitel mit der allessagenden Überschrift „Bittere Erfahrungen" 6 zugedacht ist. Ihrer Meinung nach sei Lous Buch „von Anfang bis zu Ende [...] eine vollkommen falsche und unwahre Darstellung", das dahintersteckende Motiv nur zu ersichtlich: „ein Racheakt verletzter weiblicher Eitelkeit gegen den kranken Nietzsche, der sich nicht mehr wehren konnte" 7 . Was Elisabeth besonders schmerzen mußte, war, daß Lou, die ihren
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In seinem Nachwort zu Lous „In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13" (Zürich 1958, S. 289) merkt der Nachlaßverwalter E. Pfeiffer an, daß eine erste Begegnung zwischen Lou und Freud schon 1895 anläßlich eines Wien-Aufenthaltes von Lou stattgefunden haben könnte. Biographisch vgl. etwa Peters, H. F., Lou Andreas-Salomé. Das Leben einer außergewöhnlichen Frau, erweiterte Taschenbuchausgabe (Lizenzausgabe), deutsche Ubersetzung durch den Autor, München 7 1983; Ross, W., Lou Andreas-Salomé. Weggefährtin von Nietzsche, Rilke und Freud, Berlin 1992. Vgl. Peters, H. F., Zarathustras Schwester. Fritz und Lieschen Nietzsche — ein deutsches Trauerspiel, München 1983, S. 82 ff. Andreas-Salomé, L., Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894. Andreas-Salomé, L., Lebensrückblick, Frankfurt am Main 1968 (Lizenzausgabe), S. 86. Vgl. Bernoulli, C. Α., Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, a. a. O., Band 2, S. 389. Förster-Nietzsche, E., Das Leben Friedrich Nietzsches, a. a. O., Band 2/2, S. 397 ff. Ebd., S. 403.
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Bruder doch nur kurz gekannt hatte, sich in einem ersten Kapitel anmaßte, „sein Wesen" zu erhellen. Die vernichtende Begutachtung der inhaltlichen Aussagen ließ sie andere und ihrer Uberzeugung nach allein kompetente Sachverständige wie Peter Gast und Fritz Koegel verrichten.8 Tatsächlich aber zeigt sich Lou in der Auslegung von Nietzsches Schriften als eine psychologisch feinsinnige Autorin. Namentlich im Hinblick auf Freud ist man erstaunt, mit welcher Treffsicherheit sie jene Stellen Nietzsches auszuwählen und zu zitieren weiß, die zu einem Vergleich mit Freuds Gedanken geradezu einladen: Stellen etwa zur Herkunft des Gewissens, zur Einschränkung der universalen Geltung von Logik und Vernunft durch Triebleben und Unbewußtes, zum Sinn der Träume usw. Eben dieser instinktsichere Blick für Probleme der Psychologie macht begreiflich, daß sie sich später von Freuds Forschungen angezogen fühlte. Anlaß, sich eingehender mit der neuen Wissenschaft auseinanderzusetzen, bot sich wie gesagt 1911, als Lou im Zuge einer Reise in Weimar haltmachte, um dem Psychoanalytischen Kongreß beizuwohnen, wobei Freud ihren Eifer und die „Vehemenz, seine Psychoanalyse lernen zu wollen"9 zunächst mäßigen mußte. Thema seines Vortrages war ein „Nachtrag" zum Fall Schreber. Dabei erfuhr die Deutung der „Sonne" als eines sublimierten Symbols für den Vater — nur kurz zuvor wurde ja Nietzsches Hymnus „Vor Sonnen-Aufgang" dafür beispielgebend in Anspruch genommen — eine phylogenetisch begründete Ergänzung, derzufolge die „mythenbildenden Kräfte der Menschheit" bis heute nicht erloschen seien. Anhand des symbolischen Gehaltes von Traum und Neurose ließ sich zeigen, daß in diesen nicht bloß kindliche Affekte und Denkweisen, sondern immer schon das Wilde und Primitive längst verschollen geglaubter Zeiten zum Durchbruch gelangten.10 Dies schien Freud durch die Forschungen C. G. Jungs, mit dem er dazumals noch freundschaftlich verbunden war, bestätigt. Erst später sollte er über einige Umwege in Erfahrung bringen, daß auch Nietzsche eine Interpretation des Traumes angeboten hatte, die gerade diesem Punkt der Wiederkehr archaischer Elemente im Traume Rechnung trägt.11 Und was Freud bei seinem Vortrag ebenfalls nicht ahnen konnte, war, daß seine wißbegierige Zuhörerin Lou Andreas-Salomé bereits 1894 auf genau diese Stelle Nietzsches aufmerksam geworden war und den Inhalt in ihrem Nietzsche-Buch diskutiert hatte.12 Daß als Tagungsort Weimar gewählt wurde, ist im nachhinein gesehen nicht ohne Pikanterie. An diesem Ort, genauer gesagt in der „Villa Silberblick", resi8 9 10 11 12
Vgl. ebd., S. 409 f. Andreas-Salomé, L., Lebensrückblick, a. a. O., S. 165. Vgl. Nachtrag zu dem autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides), STA 7, S. 201 ff. Vgl. unten S. 103 f. und 260 f. Andreas-Salomé, L., Friedrich Nietzsche in seinen Werken, a. a. O., S. 243 f.
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dierte nämlich Elisabeth Förster-Nietzsche. Hier hatte ihr Bruder seine letzten Jahre verbracht und hier befand sich nun das legendäre „Nietzsche-Archiv", das zu einem Anziehungspunkt fur Intellektuelle, Künstler und Neugierige aus aller Herren Länder geworden war. Ein Zufall wollte überdies, daß Lou Salomés zweite Auflage von „Friedrich Nietzsche in seinen Werken" soeben erschienen war, währenddessen Elisabeth gerade am Korrekturbild des „jungen Nietzsche" arbeitete und den ersten Band mit dem gleichnamigen Titel noch in diesem Jahr 1911 fertigstellte. 13 Jeder halbwegs Informierte wußte um die explosive Beziehung zwischen den Frauen Bescheid, und Nietzsches Schwester blieb über einen sehr merkwürdigen Umweg wohl nicht verborgen, daß die „schreckliche Russin" Lou Salomé jetzt mit einer Lehre sympathisierte, die ihr, der Antisemitin Elisabeth, von vornherein suspekt erscheinen mußte. In der Biographie von E. Jones hört sich die Episode sehr nüchtern an: Da mir in Weimar waren, nahmen Sachs und ich die Gelegenheit wahr, Nietzsches Schwester und Biographin, Elisabeth Förster-Nietzsche, aufzusuchen. Sachs erzählte ihr von dem Kongreß und wies auf die Ähnlichkeit mancher Ideen von Freud mit denen ihres berühmten Bruders hin.14 Obgleich bzw. gerade weil Jones eine diesbezügliche Reaktion der Angesprochenen mit keinem Wort erwähnt, läßt sich ermessen, wie Frau Nietzsche den Hinweis auf die „Ähnlichkeit" quittiert hat. Sollte sie darin nicht einen weiteren kleinen Racheakt ihrer Intimfeindin vermuten? Es ist freilich auszuschließen, daß Lou Salomé, aber auch Freud den Besuch in irgendeiner Weise initiiert haben könnten. Ersterer fehlte zu diesem Zeitpunkt die Kompetenz zu einer derartigen Aussage, denn wie bereits gehört, mußte die vehemente Wißbegier der Gasthörerin nach der für sie neuen Wissenschaft zunächst einmal gedämpft werden. Und abgesehen davon, daß der Begründer der Psychoanalyse gerade ob dieser Ähnlichkeiten seine eigenen, nicht immer erfreulichen Erfahrungen gemacht hatte und sich die Anregung zu einem Informationsaustausch mit Elisabeth auch aufgrund seiner beteuerten Unkenntnis von Nietzsche verbot, war Freud seit den Nietzsche-Diskussionen im Verein über die Person Elisabeths wenigstens insoweit ins Bild gesetzt, daß sich Belehrungen dieser Art wie ein Fauxpas ausnehmen mußten. Deshalb wird er sich über den Alleingang von Sachs und Jones, welche ja auch die Urheberschaft an der Idee beanspruchen, wohl ebenso gewundert haben wie Lou Salomé. Wenn also der Besuch der beiden Psychoanalytiker in der Villa Silberblick recht unbedacht wirkt und sich die Reaktionen der beteiligten Personen auch nicht mehr bis ins Detail zurückverfolgen lassen, so zeigt er in symptomatischer Weise doch eines auf: Der
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Vgl. Peters, H. F., Zarathustras Schwester, a. a. O., S. 271. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 2, S. 110 (H. d. V.).
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Verweis auf besagte Ähnlichkeit war als stehende Redewendung innerhalb der psychoanalytischen Bewegung bereits derart internalisiert, daß man es selbst unter Mißachtung aller Umstände nicht verabsäumen wollte, auch Elisabeth Förster-Nietzsche auf diese Erkenntnis aufmerksam zu machen. Unangesehen der eigenwilligen Aufkärungsarbeit von Sachs hatten Stimmung und Verlauf des Weimarer Kongresses bei Lou Salomé einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. 1912 beschließt sie deshalb, längere Zeit in Wien zu verbringen, um sich intensiver in die psychoanalytische Denkweise einzuarbeiten. Ihre Eindrücke während des Aufenthaltes sind in Tagebuchnotizen sowie Briefen festgehalten und posthum veröffentlicht worden.15 Freud heißt die fünfzigjährige „Schülerin" herzlich willkommen und lädt sie ein, seine Vorlesungen zu hören, an den Mittwoch-Abenden der Vereinigung teilzunehmen und mit ihm zu diskutieren. Ungebunden wie sie sich verstand, hatte sie jedoch schon zuvor auch bei Freuds Gegner Alfred Adler angefragt, ob er ihr sein Hauptwerk „Uber den nervösen Charakter" zukommen lassen könne. 16 Wie zu erwarten, zeigte sich Adler dieser Bitte aufgeschlossen, war Lou nicht zuletzt eben als Autorität in Sachen Nietzsche ausgewiesen, und gerade er, Adler, hatte sich für dessen Denken ja offen gezeigt. Noch nicht in Wien, war Lou Salomé also schon zwischen die Stühle geraten, was ihr sichtlich nicht in dem Maße bewußt war, stattete sie doch Adler bald nach ihrer Ankunft „bis spät nachts" 17 ihren Antrittsbesuch ab, um kurz darauf einer Diskussion der Freudschen Vereinigung als Gast beizuwohnen. Zufallig ausgewähltes Thema dieses Abends: „Eine kasuistische Mitteilung mit polemischen Bemerkungen"18, wobei Freud anhand einer Fallstudie seine Theorie des Kastrationskomplexes mit Adlers Lehre des männlichen Protestes konfrontiert. Da Lou nichts daran findet, die Konversation mit Adler weiterhin fortzusetzen, ja ins Auge faßt, an den Vereinsabenden der AdlerGruppe teilzunehmen, sieht Freud sich schließlich gezwungen, Lou über die angespannte Situation ins Bild zu setzen: „Zwischen den beiden Vereinen besteht nicht die Beziehung, die sich aus analogen, wenn auch divergenten Bestrebungen ergeben sollte. Die Menschen treiben häufig neben der Psychoanalyse auch noch anderes. Wir haben uns genötigt gesehen, jeden Verkehr zwischen der Adler'schen Abspaltung und unserer Gruppe zu unterbinden, und auch unsere ärztlichen Gäste sind gebeten, zwischen dem Besuch hier und dort zu wählen. Das ist nicht schön, aber das persönliche Verhalten der Ausgetretenen ließ uns keine Wahl. Es fallt mir nicht ein, für Sie, gnädige Frau, solche Beschränkung geltend zu machen. Ich bitte Sie nur, der Situation dadurch Rechnung zu tragen,
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Andreas-Salomé, L., In der Schule bei Freud, a. a. O. Ebd., S. 14 und 227 f. Ebd., S. 14. Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 4, S. 104 ff.
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Kapitel 9: Lou Andreas-Salomés Freundschaft mit Freud
daß Sie — gleichsam in einer artifiziellen psychischen Spaltung — dort von Ihrer Existenzform hier keine Erwähnung machen und umgekehrt." 19 Mag die Aufhebung dieser Beschränkung nun eine persönlich großzügige Geste gewesen sein oder die Gewißheit, der Adlerschen Theorie zuletzt doch überlegen zu sein, jedenfalls kann Freud schon bald mit Genugtuung feststellen, daß Lou Salomé dem Adler-Verein den Rücken kehrt. 20 Weil sie sich weder mit Adlers Minderwertigkeitslehre — bezeichnenderweise auch nicht mit seiner Theorie vom ,„Machttrieb', oder wie wir das Ding nun für den Moment nennen mögen" 21 — noch mit den Gedanken über das „Männliche" und „Weibliche" identifizieren kann, bekennt sie sich schließlich mit allem Nachdruck zu Freuds Auffassungen. Viel später, zu seinem 75. Geburtstag, wird der Grad der Identifizierung mit Freuds früheren Gedanken noch deutlicher. Nachdem dieser daran erinnert wird, wie „A. Adler von uns [!] abirrte" 22 , möchte sie es nicht verabsäumen, ihn darauf hinzuweisen, daß er sich in der letzten Fassung seiner Trieblehre durch die Hypothese eines Todes- bzw. Destruktionstriebes selbst gewisser „Abirrungen" schuldig gemacht habe und ihr „diese Selbstherrlichkeit solchen Aggressionstriebes" gar nicht „einleuchten" wolle. 23 1912/13 jedenfalls erhielt Freud durch die Person Lou Salomés eine gewichtige Bestätigung der Richtigkeit seiner Ideen gegenüber denen Adlers und indirekt, wie er es sehen mußte, auch denen Nietzsches. 24 Und man wird hinzufugen dürfen: Persönlich unterließ er nichts, um Lou für sich einzunehmen. Wie viele Männer war auch Freud der faszinierenden Ausstrahlung dieser Frau erlegen — nicht zufällig hatte er gerade ihr besagte Ausnahmebewilligung, ein Vorrecht sondergleichen, eingeräumt. Zweifel befielen ihn. War er damit zu weit gegangen? Fehlte Lou einmal in seinen Vorlesungen, machte er sich Gedanken, sie könnte ausgerechnet während dieser Zeit eine Unterredung mit Adler haben und ist — zu Unrecht — besorgt: „Ich vermißte Sie gestern in der Vorlesung und bin froh zu hören, daß Ihr Besuch im Lager des männlichen Protestes an der Verursachung Ihres Ausbleibens unschuldig ist. Ich habe die Unart angenommen, den Vortrag immer an eine bestimmte Person im Hörerkreis zu richten und starrte gestern wie gebannt in die Sitzlücke, die man für Sie gelassen hatte." Und etwas später noch einmal: „Es thut mir leid, daß Sie [...] am Samstag ««losigkeit"122, so ist damit offensichtlich eine Verflüchtigung des libidinösen Wertepotentials impliziert, die „Stütze" der Wahrheit also eingebrochen, oder klarer: Das Wort von der „Selbstaufhebung" der Moral, d. h. jenem Prozeß, in dem der Wille zur Wahrheit sich gegen sich kehrt, meint schlechterdings eine Wendung der destruktiven Komponenten gegen die libidinösen bzw. die schließliche Herrschaft der ersteren über 117 1,8 119 120 121 122
Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 410. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 576. Ebd., S. 582. Der Antichrist, KSA 6, S. 229; Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 93. Nachlaß Herbst 1887, 9 [91], KSA 12, S. 385. Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7 [54], KSA 12, S. 313.
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Kapitel 9: Wesen, Formen und Folgen des Nihilismus
die letzteren. Umgekehrt kann die Trauer bzw. Melancholie als Symptom dafür gelten, daß die Ablösung vom moralischen Idealismus der Vergangenheit nicht wirklich vollzogen wurde. Der heimliche Seitenblick auf Freuds Schrift „Trauer und Melancholie" darf zweifellos nicht überstrapaziert werden, de facto thematisiert Nietzsche den unterstellten Verfallsprozeß der Moral jedenfalls nicht in dieser dezidierten Form als Triebkampf, erst recht nicht als unbewußten Ambivalenzkonflikt, aber gewisse (von ihrer spezifischen Umgebung gelöste) Elemente der psychoanalytischen Betrachtung sind immerhin dazu angetan, Nietzsches Nihilismus-Theorie zu erhellen, selbst wenn man ausnahmsweise externe Maßstäbe an sie anlegt. So etwa verdichten sich nunmehr die Indizien, daß Nietzsche tatsächlich mit einer melancholischen Reaktion des Menschen auf den Tod Gottes rechnet und nicht bloß mit einer zeitweiligen Trauer. Abgesehen davon, daß er erwähntermaßen selbst von einer „melancholischen Sentenz" im Hinblick auf die aufdämmernde Einsicht „alles hat keinen Sinn" spricht, ist mit dem Wort „Gott ist tot" ja keineswegs bloß eine reaktive, mit Trauer bezahlte Erkenntnis über das Verlustigwerden der alten Ideale gemeint, sondern vielmehr ein aktiver, destruktiver Vorgang (wie er für die Melancholie typisch ist), bei dem Selbstvorwürfe, dies zeigt „Der tolle Mensch ", nicht ausbleiben können: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder! [...] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unsem Messern verblutet, — wer wischt dieses Blut von uns ab? [...] Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse der That zu gross für uns? [...]" 123
Die destruktive Entwertung der geheiligten Ideale, für welche die Worte „Tötung" und „Gott" ja als Metaphern einstehen, vollzieht sich nach Nietzsche durchaus nicht in einem plötzlichen Akt, vielmehr in einem wenn schon nicht unbewußten, so doch schleichenden, jahrhundertelangen Prozeß, der erst an seinem Ende zu einem „Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit" und zur Verabschiedung des abendländischen Moralglaubens führe. Damit ist auch das Kriterium genannt, das letztlich über die mögliche Alternative zur bloßen seelischen Verdüsterung entscheidet: die Entbindung von dieser Moral. Ob nun 123
Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 480 f. Bekanntlich wurde Zarathustra, nachdem sich ihm der „Abgrund" des Wiederkehrsgedankens als der letzten Zuspitzung des herrschenden Sinnlosigkeitsgefühls aufgetan hatte, von einer riefen „Depression" übermannt; 7 Tage lang „war er bleich und zitterte und blieb liegen und wollte lange nicht essen noch trinken", Symptome, die Freud mit den Worten „Schlaflosigkeit" und „Ablehnung der Nahrung" umschreibt und (neben der moralischen Selbsterniedrigung) zu den hervorstechendsten Zügen des melancholischen Bildes zählt (Vgl. Trauer und Melancholie, STA 3, S. 200).
4. Freud und die Entwertung der Werte
499
Trauer oder Melancholie, beide Formen haben jedenfalls eine solche Ablösung nicht wirklich geschafft, zumindest ein Rest an „Libido" bleibt gewissermaßen an den alten Idealen hängen und vermag hierin die Destruktion noch zu binden. Anders dagegen das Symptom des aktiven Nihilismus, bei dem der zerstörerische Trieb, entbunden von den moralischen Werten, frei abströmen und sich in einer Richtungsänderung wieder nach außen wenden kann: „Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, ,sich zu ergeben' ". In diesem Zusammenhang ist Nietzsche fern davon, den aktiven Nihilismus lediglich als reine Décadence-Erscheinung zu interpretieren, vielmehr setze die Empfindung, man habe die Moral bereits „überwunden", einen „ziemlich hohen Grad geistiger Cultur voraus" 124 . Ahnlich eine Überlegung aus demselben Zeitraum 1887, wo der aktive Nihilismus als „Zeichen von Stärke" gedeutet wird: „Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als aktiver Nihilismus. Sein Gegensatz wäre der müde Nihilism" 125 . Und schließlich: Der Nihilism ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das „Umsonst!", und nicht nur der Glaube, daß Alles werth ist, zu Grunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet Grunde [...] Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nöthig, logisch zu sein ... Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein „des Urtheils" stehn zu bleiben: — das Nein der That kommt aus ihrer Natur. Der VerNichtsung durch das Urtheil sekundirt die Ver-Nichtung durch die Hand.126
Obgleich mit unterschiedlicher Bewertung und auch anderem Hintergrund versehen, findet sich in Nietzsches „aktivem Nihilismus" also ein Gegenstück zu Konsequenzen, die Marcuse im Anschluß an seine Freud-Kritik im Rahmen der „vaterlosen Gesellschaft" zieht. Freud selbst hat ein im weiteren Sinne vergleichbares Argument ja selbst seinem imaginären Gegenspieler in der „Zukunft einer Illusion" in den Mund gelegt, wenn er diesen die Religion in Schutz nehmen und sagen läßt, man müsse sie mit allen Mitteln verteidigen, sonst breche das mühsam erbaute Werk der Kultur in sich ein: „Jeder wird ungehemmt, angstfrei seinen asozialen, egoistischen Trieben folgen, seine Macht zu betätigen suchen, das Chaos wird wieder beginnen [...] Unzählige Menschen finden in den Lehren der Religion ihren einzigen Trost, können nur durch ihre Hilfe das Leben ertragen. Man will ihnen diese ihre Stütze rauben und hat ihnen nichts Besseres dafür zu geben." 127 Nur eben, daß Freud derartige Schlüsse gerade nicht teilt:
124 125 126 127
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5 [71], KSA 12, S. 216 (H. d. V.). Nachlaß Herbst 1887, 9 [35], KSA 12, S. 350 f. Nachlaß November 1887-März 1888, 11 [123], KSA 13, S. 59f. Die Zukunft einer Illusion, STA 9, S. 169.
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Kapitel 9: Wesen, Formen und Folgen des Nihilismus
Sollte die Religion ihrer überragenden Stellung verlustig gehen, so stehe realistischer Ersatz bereits zur Verfugung, wobei die wissenschaftliche Betrachtung wohl nicht im Sinne der alten „Stütze" wirke, aber immerhin wie eine Art neue „Prothese", und daher bestehe weder Anlaß zur allgemeinen Verzweiflung noch Grund zur Befürchtung, es werde alles in einem destruktiven Chaos enden. Ziehen wir ein Resümee: Es scheint also, daß der „Stabilitätstheoretiker" Freud dem „Verfallstheoretiker" Nietzsche geradezu unversöhnlich gegenübersteht, und in der Tat kann man die jeweiligen Argumente bis zu diesem Punkt drehen und wenden wie man will, sie führen zu keinem gemeinsamen Ergebnis. Dieses Ergebnis bleibt freilich auch aus, wenn man über den Stand der bisherigen Diskussion, der einer fortgeschrittenen Zwischenbilanz gleichkommt, hinausgeht und Freud bzw. Nietzsche nach dem abschließenden Wohin ihrer Philosophie befragt. Nur daß die Fronten hier wieder vertauscht sind! Zwar räumt Freud ein, daß es dem Menschen bislang mehr oder weniger gelungen sei, seine Aggressionsneigungen als moralisches Schuldgefühl im Inneren zu konservieren und zugleich über libidinose Familien- und Massenbindungen den kulturellen Wertebestand abzusichern, und dies auch deswegen, weil die phylogenetische Erbschaft ihre Wirkung eben getan (und darin zwangsläufig einer vaterlosen Gesellschaft widerstanden) habe. Letztlich aber — und dieses Letztlich ist bereits näher zur Sprache gebracht worden 128 — bleibe die Frage, ob der tiefe Antagonismus zwischen Triebnatur und Kultur nicht doch derart unversöhnlich sei, daß man mit dem Schlimmsten rechnen müsse: nämlich mit dem „Erlöschen des Menschengeschlechts" selbst, welches Freud 1912 jedenfalls in „weitester Ferne" nicht mehr ausschließen will. 129 Dieser Gedanke, hier noch auf die Unverträglichkeit zwischen menschlicher Sexualnatur und Kulturanforderungen zurückgeführt, verfestigt sich angesichts der bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Später dann, als der resignative Grundton — so etwa, daß Glück nicht „im Plan der Schöpfung" vorgesehen sei und alles daher darauf ankomme, das Leben wenigstens „ertragen" zu lernen — schon seit längerem unüberhörbar geworden ist, nimmt Freud sich des beklemmenden Themas unter dem neuen Triebdualismus abermals an. Seine Studie „Das Unbehagen in der Kultur" schließt mit folgendem Absatz: Die Schicksalsfrage der Menschheit scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den
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Vgl. oben S. 3 9 7 - 3 9 9 . Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II: Uber die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens, STA 5, S. 209.
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4. Freud und die Entwertung der Werte
letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden „himmlischen Mächte", der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen? 130
Umgekehrt sollten die verheerenden Folgewirkungen, die Nietzsche im Hinblick auf den Tod Gottes erwartet, ja gerade den Blick auf eine befreiende Überwindung der nihilistischen Wertetradition lenken. Mag der abendländische Nihilismus auch ein einschneidendes Stadium der Geschichte bedeuten, selbst eines, in dem der Mensch sich schließlich in bisher nie gekanntem Ausmaße fragwürdig wird, wo ihm alle Hoffnung auf eine weitere Rechtfertigung des Daseins schwindet, so bleibt es für Nietzsche eben immer noch ein Zwischenstadium^ das einmal zu Ende gehe. Dann aber, nach diesem langen, mit innerer Notwendigkeit vorgezeichneten Weg der Aufrichtung und Zerbrechung großer Heiligtümer, werde sich der verdüsterte Horizont wieder aufhellen und das Ideal einer übermenschlichen Daseinsform freigeben: Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideale erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts — er muss einst kommen
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Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 270. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 336.
...131
Teil III Die Therapie des Menschen
Kapitel 10 Der Ubermensch 1. Das Überwindungsmotiv Im Verhältnis zu der immer wieder behaupteten Notwendigkeit, mit der ein neuer Typus Mensch eine schwer erkrankte Kultur ablösen werde, bleibt der Begriff Übermensch selbst, so E. Fink in seiner Nietzsche-Studie, auffallend „unterbestimmt"1, aber auch mehrdeutig und widersprüchlich. Selbst eine gewisse Kontinuität im Ideenverlauf, die sich zumindest bis zur 2. und 3. „Unzeitgemäßen"2 rückverfolgen läßt; selbst und gerade der apodiktische Ton, mit dem Zarathustra sein „gegenbiblisches Manifest" verkündet; ja selbst Nietzsches späte Worte im ,^Antichrist" und in „Ecce homo", mit denen er den gängigsten Mißdeutungen des Ubermenschen entgegenzutreten suchte3, vermochten eines nicht zu verhindern: daß die Literatur schon sehr früh von einer „proteusartig[en]" 4 Lehre sprach. Zum anderen sind wesentliche geschichtsphilosophische und auch psychologische Voraussetzungen für die Idee des Ubermenschen von Nietzsche in einer Weise aufbereitet worden, daß sich — in Verbindung mit seinen Folgerungen — gewisse Konturen des Ubermenschen durchaus skizzieren lassen (ohne daß deswegen die unübersehbaren Probleme der Idee wegdiskutiert werden müßten). Insofern scheint Vorsicht geboten, sich allzuschnell in kasuistischen Diskussionen über relativ vordergründige Ungereimtheiten zu verlieren. Etwa darüber, daß Zarathustra sehr dezidiert kundtut: „Niemals noch gab es einen Übermenschen"5, während es im „Antichrist"6 dann heißt, bereits in der Vergangenheit ließe sich, wenn auch vereinzelt, ein „höherer Typus" bzw. eine „Art Übermensch"
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Fink, E., Nietzsches Philosophie, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 4 1979, S. 69. Vgl. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 317; Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 380 ff. Zur expliziten Verwendung der Worte „Ubermensch" bzw. „übermenschlich" im Zeitraum vor „Zarathustra" vgl. etwa Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 113; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 490; vgl. auch Kaufmann, W, Nietzsche, a. a. O., S. 359 ff. Vgl. Der Antichrist, KSA 6, S. 171; Ecce homo, KSA 6, S. 300. Ziegler, Th., Friedrich Nietzsche, Berlin 1900, zitiert in: Müller-Lauter, W, Nietzsche, a. a. O., S. 131, Anmerkung 74. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 119. Der Antichrist, KSA 6, S. 171.
506
Kapitel 10: Der Übermensch
ausmachen. 7 Oder etwa darüber, daß Zarathustra in Nietzsches visionärem Epos gerade nicht der Übermensch ist, vielmehr dessen Verkünder 8 , während er in der Retrospektive von „Ecce homo" wie selbstverständlich als Inkarnation des Übermenschen gepriesen wird. 9 Die Gefahr, daß ob dieser und ähnlicher Inkonsistenzen der große Faden der Geschichtsphilosophie aus den Augen gerät, ist nicht gering. Daher soll zunächst das Grundmotiv für die Konzeption des Übermenschen — das Wort selbst reicht bis ins zweite vorchristliche Jahrhundert zum „hyperanthropos" des Lukian zurück und findet später auch Erwähnung bei H.Müller, Herder, Jean Paul, Goethe und Byron 10 — angesprochen werden. Die anschließende Darstellung geschichtsphilosophischer und psychologischer Aspekte wird dann immer wieder von der Frage durchzogen sein, ob die hier anfallenden Gegensätze nicht auch zur Erhellung der Idee selbst beitragen. „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll" 11 — dieser Satz, von Nietzsche ungezählte Male wiederholt und variiert, bildet das kardinale Motto in „Zarathustra" und den Brückenschlag zur Vision des Übermenschen. Ohne weiteres kann man behaupten, daß diesem Leitgedanken in etwa derselbe exponierte Stellenwert zukommt, den Freud im Rahmen seiner Theorie der „Überwindung des Ödipuskomplexes" einräumte (es wird darauf zurückzukommen sein). 12 „Überwindung" ist nun in einem mehrfachen Sinne zu verstehen. Zunächst in einem historisch-aktuellen, mit dem Nietzsche auf die Vermittelmäßigung seiner Zeit anspielt: auf die „pöbelhafte" Herrschaft der Massen, der „Herren von Heute", welche in ihrem selbstgefälligen, auf reine Bequemlichkeit gerichteten Selbsterhaltungswillen die „grösste Gefahr" des Übermenschen darstellten und daher ebenso überwunden werden müßten 13 wie jene verwandte Spezies der „letzten Menschen", die als „Gegensatz des Ubermenschen" einer trivialen und seichten Lebenseinstellung frönten, dabei das „Verachten" verlernt hätten — und eben darum verächtlich seien. 14 In einem essentiellen (und der obigen Auffassung vorausgesetzten) Sinne ist mit „Überwindung" freilich eine Neudefinition des menschlichen Selbstverständnisses
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Nach Kaufmann denkt Nietzsche dabei nicht so sehr an Napoleon, „diese Synthesis von Unmensch und Ubermensch" (Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 287), als vielmehr an Sokrates oder Caesar, an Leonardo und vor allem an Goethe (vgl. Kaufmann, W., Nietzsche, a. a. O., S. 367 ff. und 385). Vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 16: „Seht, ich lehre Euch den Übermenschen". „Hier [in der Person Zarathustras] ist in jedem Augenblick der Mensch überwunden, der Begriff .Übermensch' ward hier höchste Realität" (Ecce homo, KSA 6, S. 344). Vgl. Kaufmann, W, Nietzsche, S. 359 f. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 14. Vgl. etwa Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 350 f.; vgl. unten S. 520 f. Vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 358. Vgl. ebd., S. 19; Nachlaß November 1882-Februar 1883, 4 [171], KSA 10, S. 162.
1. Das Überwindungsmotiv
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gemeint, sei doch die Zwischenstellung, mit der sich der Mensch seit jeher als ein Wesen zwischen Tier und Gott bestimmte, durch den Tod Gottes gerade hinfällig und der „Sinn" der menschlichen Existenz fragwürdig geworden. Da der Verlust jedweden Glaubens an eine jenseitige Idealität, für die Gott eben eingestanden ist, den Menschen zwangsläufig auf sein irdisches und allzumenschliches Dasein zurückwerfe, liege es auch nahe, dieses Schicksal als immerwährenden Fluch zu empfinden. Genau davor warnt nun Zarathustra, indem er das Gegenteil beschwört. Nach der langen Geschichte lebensverneinender Daseinsbeglaubigungen ergehe jetzt und erstmals der Ruf an den Menschen, einer wahrhaftigeren Bestimmung und Verpflichtung nachzukommen: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche von überirdischen Hoffnungen reden! [...] Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste"15. Indes wolle sich eine tiefe innere Sehnsucht des Menschen mit diesem Zurückgeworfenwerden auf das Erden- und Tierdasein alleine nicht begnügen, habe doch schon bisher gegolten: „Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus"xe. Eben dieser Wille, sich über die bloße Selbsterhaltung hinaus zu transzendieren, sei ja auch verantwortlich gewesen für die Fiktion einer jenseitigen Welt, mit der das Dasein eine höhere Beglaubigung erfahren sollte. Mit dem Tod Gottes aber, der die begründende Situation für das Wollen des Übermenschen bildet — „Gott starb: nun wollen wir, — dass der Übermensch lebe"17, habe der Mensch die frühere Daseinslegitimation auf alle Zeiten hin verwirkt. Jetzt werde ihm bewußt, daß er der Hilfe einer göttlichen Instanz zur Steigerung seines Lebens entbehren müsse, ja noch mehr, daß alle Rechtfertigungsversuche von ehedem gerade der Verklärung und Verneinung der tatsächlichen Existenz gedient und darin den Grundcharakter des Lebens verleugnet hätten: den Willen %ur Macht. Mit der Einsicht in den Tod Gottes ist für Nietzsche also auch jene in den Willen zur Macht verknüpft, dadurch aber wiederum die Erkenntnis, daß Überwindung nunmehr im Sinne des i)VA-WZv/-Überwindens, -Steigerns und -Schaffens möglich werde. Als Zwischenwesen und „Seil" zwischen „Thier und Übermensch"18 sehe sich der Mensch damit vor die Aufgabe gestellt, der Erde fortan „treu" zu bleiben und doch zugleich etwas „über sich hinaus" zu schaffen.
15 16 17 18
Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 15. Ebd., S. 14 (H. d. V.). Ebd., S. 357. Ebd., S. 16.
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Kapitel 10: Der Übermensch
2. Geschichtsphilosophische Aspekte: Die Überwindung des Nihilismus und die Bejahung des Wiederkehrsgedankens In der bereits zitierten Passage aus der „Genealogie" liegt eine Art Definition des Ubermenschen vor: Er sei der „Antichrist und Antinihilist", der „Besieger Gottes und des Nichts"19, also der Überwinder beider Formen der nihilistischen Wertgeschichte. Nach Nietzsche hat diese Geschichte bekanntlich als Gegenbewegung zur unvergleichlichen Inthronisation vornehmer Werte in der Antike angehoben, als eine erste und folgenschwere Umwertung der Werte. Die Idee des Ubermenschen konnte sich somit zwangsläufig wieder am Vorbildcharakter der antiken Werte orientieren, und in der Tat kann man insbesondere die „Genealogie der Moral", aber auch die weiteren moral- und religionskritischen Schriften so lesen, daß Nietzsches Kritik an der Ressentiment-Moral bzw. am Siegeszug der christlichen Werte zugleich Rückgriffe auf die Antike und Antizipationen einer übermenschlichen Zukunft darstellen. In diesem Sinne hat K. Löwith Nietzsches Grundidee als „antichristliche Wiederholung" bzw. „Erneuerung" der Antike auf der „Spitze der Modernität" bezeichnet.20 Nun mag man darüber diskutieren, ob sich hinter dem Gedanken, der Gang der Geschichte vollziehe sich mit innerer Notwendigkeit in der Reihenfolge „Wertung — Umwertung — Umwertung dieser Umwertung", nicht doch eine Art „List der Vernunft" versteckt hält bzw. ein impliziter Hegelianismus, weil die antiken Werte in einem nunmehr höheren Stadium schließlich als „aufgehoben" gedacht sind, was Nietzsche wohl ebenso von sich weisen würde wie er der Unterstellung widerstreitet, sein Geschichtsmodell hänge letztlich einem profanen „Fortschritts"-Glauben an.21 Unabhängig von einer solchen Diskussion bleibt aber festzuhalten, daß der Übermensch nicht nur als „Besieger Gottes", sondern eben auch als Überwinder und Besieger des „Nichts" bzw. der zweiten Form des Nihilismus begriffen wird. In diesem Sinne ist also auch noch die Überwindung jener Trauer bzw. „Melancholie" miteingeschlossen, die den Menschen nach dem Tod Gottes überkomme, weil die Geschichte der geheiligten Werte sich inzwischen als großes Blendwerk herausgestellt, weil jede weitere Rechtfertigung des Daseins in einer Zeit vollkommener Entwertung der Werte sich als großes „Umsonst!" erwiesen habe.22 Erst mit der Überwindung der gesamten nihilistischen Grundgeschichte werde sich mithin ein „unschuldiges", gleichsam kindlich-affirmatives 23 Verständis vom Dasein entwickeln können, ein 19 20 21 22 23
Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 336 (H. d. V.). Vgl. Löwith, K., Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, a. a. O., S. 113 ff. Vgl. oben S. 3 8 5 - 3 8 7 . Vgl. oben S. 4 7 1 - 4 7 8 . Vgl. dazu die Parabel von den drei Verwandlungen des Geistes, nämlich „wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe" (Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 29 ff.).
2. Geschichtsphilosophische Aspekte
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Verständnis jenseits von Gut und Böse, den Menschen dazu befähigend, wieder „Etwas über sich hinaus" zu schaffen. Die Uberwindung des Menschen erfolge zuletzt im Wollen des Wiederhehrsgedanhens. Bekanntlich glaubt Nietzsche, dieser werde sich nach dem Tod Gottes dem Menschen mit Notwendigkeit aufdrängen. 24 Durch die willentliche Akzeptanz des Gedankens, mit der nun erstmals das Werden durch sich selbst gerechtfertigt und in seiner ganzen Unschuld bejaht sei, erfahre das menschliche Dasein seine höchstmögliche Steigerung. Der Wiederkehrsgedanke nimmt zuletzt die säkulare Stelle der christlichen Erlösungsidee ein: „Die Vergangnen zu erlösen und alles ,Es war' umzuschaffen in ein ,So wollte ich es!' — das hiesse mir erst Erlösung!" 25 Das vorbehaklose Wieder-Wollen aller Momente des Werdens „ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl" nennt Nietzsche etwa „dionysisch zum Dasein stehn" oder „amor fati" oder auch die „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann". 26 Es sei „das Ideal des übermüthigsten[J lebendigsten und weltbejahendsten Menschen" 27 , ein Ideal ferne von Verurteilungen und untrennbar an das Postulat geknüpft, alle anderen, selbst die entgegengesetzten Ideale noch willkommen zu heißen. Zugleich ist schon mit dem Aphorismus-Titel „Das grösste Schwergewicht" zum Ausdruck gebracht, daß die Idee der ewigen Wiederkehr — auch und gerade gemessen an den Verheißungen der christlichen Erlösungsidee — eine nahezu unerträgliche Vorstellung bedeute, welche, einmal einverleibt, den Menschen vielleicht sogar „zermalmen" könnte. 28 Letztlich sei es eine Frage der „Kraft", ob der Gedanke der Gedanken überhaupt ertragen werden könne: „Zeitalter der Versuche [...] wer hält den Gedanhen der ewigen Wiederkunft aus?"29 Die einen, glaubt Nietzsche, werden daran vielleicht „zu Grunde gehen " 3 0 , die anderen dagegen, welche „ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn." 31 Und gemeint sind dabei durchaus nicht Künsder, Heilige und Philosophen, wie sie W Kaufmann 32 vor Augen hat, wenn er den Übermenschen diskutiert. Vielmehr denkt Nietzsche gerade an unbändige Willens- und Befehlsnaturen, bei denen die Wiederkehrslehre, der „große züchtende Gedanke" 33 , im „Dienste der Kraft", ja „Barbarei" 34 stehe und als schonungsloses Werkzeug gegen die Ideale 24 25 26
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Vgl. oben S. 392 f. und 474 - 478. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 179. Vgl. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16 [32], KSA 13, S. 492; Ecce homo, KSA 6, S. 297 und 335. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 74. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 570. Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [290], KSA 11, S. 85. Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [305], KSA 11, S. 88. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [376], KSA 11, S. 250. Vgl. Kaufmann, W , Nietzsche, a. a. O., S. 332. Nachlaß Sommer - Herbst 1884, 26 [376], KSA 11, S. 250. Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24 [6], KSA 10, S. 646.
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Kapitel 10: Der Übermensch
aller, wenn man so will, Anders- oder Nichtgläubigen eingesetzt werde. MüllerLauter, der den „Gegensätzen" von Nietzsches Philosophie auf eine immanente Art nachgeht, kann sich nicht vorstellen, wie die „beiden Typen" des Übermenschen nun überhaupt noch „zusammengedacht" werden können: Wie soll derjenige, der auswählt und ausstößt, der züchtet und vernichtet, derselbe sein können wie derjenige, der alles, was ist, was war und was sein wird, unbedingt bejaht, ohne zu verurteilen? Wie kann der Ubermensch, der zu dem Gedanken getrieben wird, das Verschiedenartigste — einschließlich des seinem eigenen Ideal Entgegengesetzten — auf dieselbe Weise mit aller Intensität immer wieder zu wollen, diesen Gedanken als Waffe mit dem Ziel der Eliminierung des von seinem Ideal her Verwerfbaren gebrauchen?35
Tatsächlich ist Nietzsches Denken seit der Entdeckung des Wiederkehrsgedankens im August 1881 nichts anderes als ein fortwährendes Experimentieren, das sich nicht nur beständig zwischen der „kosmologischen" und der „ethischen" Variante36 hin- und herbewegt, sondern sich auch der versuchsweisen Formulierung extremster Gegensätze bedient, um dieselben als zur Sache selbst gehörig zu dokumentieren. Müller-Lauter bezweifelt zwar, daß Nietzsche dies in der Hauptsache gelingt, aber im selben Moment werden seine Versuche auch als Resultate einer philosophischen Grundbemühung selbst verstanden: nämlich das komplexe Widerspiel der Kräfte bzw. den „Gegensatzcharakter des Daseins" als letzte Gegebenheit aufzuzeigen, „ohne damit einem metaphysischen Dualismus oder einem Systemdenken im Sinne Hegels anheimzufallen." 37
3. Psychohistorische und psychologische Aspekte: Die übermenschliche Synthese von Gegensätzen In einer der ersten Notizen zu den möglichen Folgen vom Tod Gottes fragt Nietzsche: „Welches sind die tiefen Umwandlungen, welche tins aus den hehren kommen müssen, daß kein Gott für uns sorgt und daß es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistisch-unmoralische Menschheit)? daß wir unverantwortlich sind?" Seine Antwort: „Der Weise und das Thier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben!" 38 Das Zusammenwachsen des spontan-naturhaften, „starken" Willensmenschen, der sich seinem Tier- und Erdendasein verbunden weiß, mit der nuancierten und komplexen Klugheit des Weisen, der mit seinen Werten etwas über sich hinaus schafft, kann als bedeutsamer Gedanke für die Idee des Ubermenschen bezeichnet werden. Dabei bleibt freilich unklar, wie eine solche 35 36 37 38
Müller-Lauter, W., Nietzsche, a. a. O., S. 157. Vgl. oben S. 3 9 2 - 3 9 4 . Müller-Lauter, W, Nietzsche, a. a. O., S. 16. Nachlaß Herbst 1881, 11 [54], KSA 9, S. 461.
3. Psychohistorische und psychologische Aspekte
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Synthese von stark und weise in Zukunft möglich sein soll, da die bisherige Geschichte (entgegen Darwin) ja gerade demonstriert habe, daß letztlich „die Schwachen" gesiegt hätten.39 Mit welchen Argumenten, läßt sich fragen, glaubt Nietzsche diese „Tatsache" begründen zu können, oder umgekehrt, wie soll es möglich geworden sein, daß ausgerechnet die „Starken" unterlegen sind? Zunächst darf nochmals die Ausgangsthese in Erinnerung gerufen werden. Sie besagt, daß entgegen allen humanitären Illusionen jedwede höhere Kultur, also auch und gerade die vornehm-römische Antike — „Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind" 40 — aus entsetzlichen Fundamenten heraus gewachsen sei: „Die Wahrheit ist hart. Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cuitur auf Erden angefangen hat. Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstände des Wortes, [...] warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere [...] Rassen [...] Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste". Ein unbändiger, rücksichtsloser Tatendrang gegenüber allem „Anderssein" oder „Außen" habe demnach die unabdingbare Voraussetzung dargestellt für die spätere Herausbildung eines vornehmen Wertekodex innerhalb jener eigenen „Sittlichkeit der Sitte", in der sich die „Starken" bekanntlich durch ein besonderes Selbstverständnis, nämlich ihr werteschaffendes „Pathos der Distan^41, definierten und von allem „Gemeinen" abgrenzten. Daß die Starken dennoch unterlegen seien bzw. die Schwachen die Herrschaft an sich gerissen hätten, läßt sich nach Nietzsche auf mehrere Gründe zurückführen. Zunächst einmal auf den, daß sich die Starken, ganz allgemein gesprochen, selbst geschwächt hätten, sei es durch eine verschwenderische Kraftverausgabung gegenüber anderen Starken, mit der sie ihr Leben allzu leichtfertig aufs Spiel setzten; sei es, daß sie gerade durch ein „Zuwenig an Kampf ihrer Herrschaft verlustig geworden seien, weil sich durch den Wegfall der Gegner die nun angehäufte zerstörerische Kraft gegen die eigenen Mitglieder gerichtet habe.42 Ein anderer bzw. der historisch folgenschwere Grund sei freilich auf der „Gegenseite" zu suchen, nämlich darin, daß die lange aufgestauten Haß- und Rachegefuhle der Schwachen sich endlich gegen die Starken selbst endaden hätten. Und dies umso effizienter, meint Nietzsche, als die Vornehmen ihrerseits genügend Angriffsflächen boten, neigten sie doch in ihrer sich-selbst-verherrlichenden Art und ihrem Vertrauen in die vollkommene „Funktions-Sicherheit 39
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Vgl. unter dem Titel „Warum die Schwachen siegen" ein ausführliches Nachlaßfragment aus dem Frühjahr 1888, 14 [82], KSA 13, S. 365 ff.; vgl. oben S. 387. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 286. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 205 f. Vgl. detaillierter Müller-Lauter, W, Nietzsche, a. a. O., S. 54 f., der seine diesbezüglichen Ausführungen mit einer Reihe von Nietzsche-Zitaten unterlegt.
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Kapitel 10: Der Übermensch
der reguürenden unbewussten Instinkte" auch zu einer gewissen Unbekümmertheit, selbst Oberflächlichkeit, Vergeßlichkeit und Unklugheit. Gerade solche und ähnliche Eigenschaften seien aber wie nichts sonst dazu angetan gewesen, das bewußte Kalkül als Gegenstrategie ins Auge zu fassen, oder anders: Gegenüber der naiven „Ehrlichkeit" der Vornehmen habe sich der „Mensch des Ressentiments" erstmals im Umgang mit List und Tücke versucht: „Seine Seele schielt·, sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen." Folgewirkung nach Nietzsche: Die Menschen des Ressentiments seien schlußendlich „nothwendig [...] klüger" geworden, denn sie mußten die „Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat" 43 . Als „Hauptmittel", mit der eine solche Klugheit nun ihre Herrschaft zu begründen und in weiterer Folge abzusichern verstand, habe sich ein bestimmter, immer schon wirksamer moralischer Blickwinkel angeboten: Tendentζ der Moral-Entwicklung. Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtenden^folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urtheil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen. Der Kampf der Vielen gegen die Wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken 44 .
Folgerichtig habe der „Sklavenaufstand in der Moral", mit dem das Ressentiment selbst noch „Wierthe gebiert", auch zu einer vollkommenen Umwertung geführt: Gegenüber der Selbstgewißheit der Starken, die ihr Tun wie selbstverständlich als „gut" empfanden, seien es jetzt gerade die „Elenden, [...] die Armen, die Ohnmächtigen, Niedrigen", also die Schwachen selbst gewesen, die sich jetzt als die Guten definierten, während die Starken gerade als die Bösen gebrandmarkt wurden.45 Daß die Schwachen letztlich gesiegt hätten, erklärt sich für Nietzsche neben dem Umstand, daß sie die „grosse Zahl" 46 gewesen seien, also vor allem aus der subtilen Inanspruchnahme einer moralischen Klugheit, welche sich bis herauf zur Moderne als geschichtsmächtig erwiesen habe. Die Uberwindung des Ressentiments bedürfe mithin neuer Klugheiten bzw. eines neuen Typus „weiser" Mensch, der das Terrain der reaktiven Moral hinter 43 44 45 46
Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 272 f. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, [2, S. 168], KSA 12, S. 152. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 267 und 270. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 120 f.
3. Psychohistorische und psychologische Aspekte
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sich gelassen habe und nunmehr als schöpferisches, sich selbst steigerndes und affirmatives Wesen eine abermalige Umwertung der Werte wage. Nietzsche hat niemals einen definitiven Wertekatalog erstellt, an dem sich eine übermenschliche Perspektive bemessen könnte. Dennoch ließen sich aus dem Insgesamt seiner Betrachtungen wohl eine Anzahl philosophischer, psychologischer oder auch physiologischer Erkenntnisse als Voraussetzungen und zugleich Fingerzeige einer höheren Daseinsform herausfiltern. Beschränken wir uns hier nur auf den Hinweis, daß namentlich in den Kapiteln über die „Verinnerlichung", die „Sublimierung" und die „Steigerung des Lebens" existentielle psychologische Klugheiten von Nietzsche angesprochen sind (etwa im Hinblick auf den Umgang mit dem „schlechten Gewissen", der Triebbewältigung, der ästhetischen Realitätsaneignung u. a. m.), die gewisse Umrisse eines umgewerteten Ideals bzw. Gegenkonturen zum Menschenbild des Ressentiments zumindest andeuten. Mit guten Gründen hat W Kaufmann seine Annäherung an Nietzsches Lichtgestalt vor allem in den Zusammenhang der Sublimierungstheorie eingebunden. Seiner Auffassung nach lasse sich der Ubermensch dadurch charakterisieren, daß er „das Chaos seiner Leidenschaften organisiert, seine Triebe sublimiert und seinem Charakter Stil" 47 verleiht, und zwar in einer Weise, wie es beispielsweise bereits Goethe getan habe, der nach Nietzsche die „Totalität" wollte: Goethe „bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille [...], er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich ..." 4 8 Und mit Blick auf Shakespeare notiert Nietzsche an anderer Stelle: Der Mensch hat [...] eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. [...] Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der That: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegen einander treibenden Instinkte49.
Als Ubermensch wäre demnach jener Typus zu bezeichnen, der in sich die gegensätzlichsten Strömungen in ihrer Totalität zu bejahen und in einer Weise zu synthetisieren vermag, daß die Organisation der Leidenschaften ihre sublimste Vollendung erführe. Allein, der Verdacht läßt sich nicht abweisen, daß mit einer solchen Charakterisierung Nietzsches Bild vom Ubermenschen jedenfalls insoweit geschönt und idealisiert wird, als innerhalb der vielschichtigen Gegensätzlichkeit der zur „Weisheit" komplementäre Pol nicht einmal angesprochen ist: nämlich, daß es zur Erhöhung des Menschen auch jenes starken, unnachgiebigen Willens bedürfe, wie er als Voraussetzung der antiken Vornehmheit zugrunde gelegen sei und wie er für das Ertragen der Wiederkehrslehre unabdingbar sein werde. 47 48 49
Kaufmann, W, Nietzsche, a. a. O., S. 370. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 151. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27 [59], KSA 11, S. 289.
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Kapitel 10: Der Übermensch
Die postulierte Synthese der Gegensätze, vor allem das große Zusammenwachsen von „stark und weise", ist für Nietzsche ohne die Annahme einer naturhaften Willens- und Befehlsperspektive nicht hinreichend denkbar. Dementsprechend impliziert die Uberwindung der bisherigen Moral nicht nur intellektuelle Einsichten in den nihilistischen Charakter derselben und in der Folge neue, feinsinnig ästhetisierte Klugheiten des Lebens, sondern zugleich ein Maximum an Kraft und Durchsetzungswillen, von Zarathustra in Worte gekleidet wie: „Werdethart!" oder „Zerbrecht, zerbrecht mir [...] die alten Tafeln!" 50 In diesem Zusammenhang wehrt sich Nietzsche mit Entschiedenheit dagegen, das Wollen von Idealen mit Idealismus zu verwechseln. Als geradezu unverzeihlich empfindet er es daher, wenn seine Freundin Malwida von Meysenbug, Verfasserin der „Memoiren einer Idealistin", genau diesem Mißverständnis Vorschub geleistet habe: „Sie haben sich [...] aus meinem Begriff .Übermensch' wieder einen .höheren Schwindel' zurechtgemacht, Etwas aus der Nachbarschaft von Sybillen und Propheten: während jeder ernsthafte Leser meiner Schriften wissen muß, daß ein Typus Mensch, der mir nicht Ekel machen soll, gerade der Gegensatz-Typus zu den Ideal-Götzen von Ehedem ist, einem Typus Cesare Borgia hundert Mal ähnlicher als einem Christus." Der Fehlgriff scheint Nietzsche derart gravierend, daß er in diesem Brief vom Oktober 1888 bereit ist, seine Freundschaft aufs Spiel zu setzen: Verehrte Freundin, vergeben Sie mir, wenn ich noch einmal das Wort nehme: es könnte das letzte Mal sein. [...] Ich sende Ihnen seit Jahren meine Schriften zu, damit Sie mir endlich einmal, rechtschaffen und naiv, erklären „ich perhorrescire jedes Wort". Und Sie hätten ein Recht dazu. Denn Sie sind „Idealistin" — und ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordne Unwahrhaftigkeit, als ein Nicht-sehn-aW/e« der Realität um jeden Preis: jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus. Es giebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängnis als diese intellektuelle Unsauberkeit; [...] Verstehn Sie nichts von meiner Aufgabe? Was es heißen will „Umwerthung aller Werthe"? Warum Zarathustra die Tugendhaften als die verhängnißvollste Art Mensch ansieht? weshalb er der Vernichter der Moral sein muß? — haben Sie vergessen, daß er sagt,¿¡erbrecht, %erbrecht mir die Guten und Gerechten?" — 51
Wenn das gleichzeitige Zusammenstehen von „stark und weise" bei detaillierter Betrachtung auch nicht umstandslos nachvollziehbar ist 52 , so lassen doch 50 51
52
Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 251, 268. KSB 8, S. 457 f.; vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 267; vgl. auch Ecce homo, KSA 6, S. 300. In auffallendem Kontrast zu der von Nietzsche bzw. Zarathustra eingeforderten „Härte", mit der die Moral „vernichtet" bzw. die Guten und Gerechten „zerbrochen" werden sollen, steht die eigentliche Hauptthese, die Moral gehe durch einen notwendigen „Akt der Selbstaufhebung", nämlich durch die „christliche Wahrhaftigkeit" selbst zugrunde (vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 409 f.; vgl. oben S. 469-471). Müller-Lauter, der Nietzsches Argumentation im Detail verfolgt und problematisiert, arbeitet gerade die gegenseitige Unverträglichkeit der beiden Typen heraus und kommt zum Schluß, „daß der große Mensch stark oder weise ist. Nur das Sichablösen der beiden Typen von Größe
3. Psychohistorische und psychologische Aspekte
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bewußt zugespitzte Formulierungen wie etwa: „Der Barbar ist in Jedem von uns bejaht, auch das wilde Thier. Gerade deshalb wird es mehr werden mit den Philosophen"53 jedenfalls die Grundintention Nietzsches erkennen. Besonders deutlich in der folgenden Passage, wo die Mittelmäßigkeit des „typischen Menschen" eben darin erblickt wird, daß „er nicht die Kehrseite der Dinge als nothwendig versteht". Dagegen eröffne sich jetzt die Einsicht, „daß mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den GegensafiçCbarakter des Daseins am stärksten darstellte [...] Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit.. ," 54 Wiederholungen oder Variationen dieser Formel, die man neben „amor fati" als eine der grundsätzlichen innerhalb von Nietzsches Philosophie apostrophieren darf, finden sich quer über das Werk verstreut, vor allem natürlich in „Zarathustra": „Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Wierthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische."55 Oder etwa: „,Der Mensch muss besser und böser werden' — so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Ubermenschen Bestem."56 Und in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahre 1887: „Der Mensch ist das Unthier und Uberthier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das Eine nicht wollen, ohne das andere — oder vielmehr: je gründlicher man das Eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das Andere."57 Wahrhaft übermenschlich, und nicht bloß menschlich-allzumenschlich, wäre demnach die Verschmelzung der Gegensätze in einem Typus, wie er bisher in der Geschichte nicht oder nur als Ausnahme bzw. als Glücksfall des „grossen Gelingens"58 möglich war. Nietzsche schwebt ein Wesen vor, in dem eine nahezu unvorstellbare und deshalb paradox anmutende Mischung polarer Eigen-
53
54 55 56
57 58
ließe sich vielleicht auf diese Weise plausibel machen, nicht jedoch ihre Annäherung, geschweige denn ihre Verschmelzung" (Müller-Lauter, W , Nietzsche, a. a. O., S. 125). Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [417], KSA 11, S. 263; vgl. auch Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [5η, KSA 12, S. 87f. Nachlaß Herbst 1888, 10 [111], KSA 12, S. 519 f. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 149; ähnlich auch in Ecce homo, KSA 6, S. 366. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 359; vgl. auch ein nachgelassenes Fragment aus dem Zeitraum Juni-Juli 1885, 36 [17], KSA 11, S. 558 f.r „Ich will, auch in Dingen des Geistes, Krieg und Gegensätze; [...] Wir neuen Philosophen aber, wir beginnen nicht nur mit der Darstellung der thatsächlichen Rangordnung und Werth-Verschiedenheit der Menschen, sondern wir wollen auch gerade das Gegentheil einer Anähnlichung, [...] wir reißen die Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, wir wollen, daß der Mensch böser werde als er je war." Nachlaß Herbst 1887, 9 [154], KSA 12, S. 426. Der Antichrist, KSA 6, S. 171.
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Kapitel 10: Der Übermensch
Schäften zur Entfaltung gelangte: D e r Übermensch wäre die unbändige Willensnatur mit der zartesten Seele, der Furchtbare mit der höchsten Sensibilität, der Zerstörer mit der reichsten Schöpferkraft, der Starke mit der subtilsten Weisheit, der Brecher und Zerbrechet, der das Leben in artistischer Weise vergoldete. In einer Retrospektive zu „Also sprach Zarathustra" heißt es nicht zufällig, in Zarathustra seien „alle Gegensätze" in einer Einheit gebunden: „ D i e höchsten und die untersten Kräfte der menschlichen Natur, das Süsseste, Leichtfertigste und Furchtbarste strömt aus Einem Born mit unsterblicher Sicherheit hervor [...] D a s Halkyonische, die leichten Füsse, die Allgegenwart von Bosheit und Ubermuth und was sonst Alles typisch ist für den Zarathustra ist nie geträumt worden als wesentlich zur Grösse. Zarathustra fühlt sich gerade in diesem Umfang an Raum, an Zugänglichkeit zum Entgegengesetzten als die höchste Art alles Seienden"59. Letztlich ist es ein und derselbe Gedanke, der diese und ähnliche Charakterisierungen trägt: daß Natur und Kultur in einem nie gekannten Maße zusammenwachsen sollen, da zur elementaren Steigerung des Lebens, wie bereits angesprochen 6 0 , die Vernatürlichung der Kultur ebenso unabdingbar sei wie die Kultivierung der Natur.
59 60
Ecce homo, KSA 6, S. 343 f. Vgl. oben S. 402 - 404.
Kapitel 11 Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Ubermenschen 1. Die Grundargumentation: Der Antagonismus Natur — Kultur Die reservierte Haltung Freuds gegenüber der Idee des Übermenschen schlägt sich bekanntermaßen in zwei Ausdeutungen nieder, die bei all ihrer Flüchtigkeit dennoch bezeichnend sind. Zum einen stellt sich eine „barbarische" Version ein, die später auch von F. Wittels reaktiviert wird und derzufolge Nietzsche ein rücksichtsloses, gewalttätig-narzißtisches Ungeheuer herannahen sah, das in Wirklichkeit, und zwar in Gestalt des „Urvaters", bereits in den Anfangen des Menschengeschlechts sein gegenkulturelles Unwesen getrieben habe. Der Philosoph habe also schlicht einem Anachronismus das Wort geredet, denn: „Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er [der Urvater] der Ubermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartete."1 Im Gegenzug findet sich der Ubermensch freilich auch als idealisiertes Wesen wieder, als eine in sich vollendete Lichtgestalt, wie sie etwa von Michelangelo in seiner Moses-Statue verewigt wurde. Uber eine Detailanalytik der Statue versucht Freud dabei die unkonventionelle These zu erhärten, Michelangelo habe durch eine Umarbeitung des biblischen Motivs aus der Figur etwas schlechterdings „Neues, Übermenschliches" sprechen lassen: daß Moses nämlich, als er der tanzenden Menge um das goldene Kalb gewahr wurde, seinem aufwallenden Zorn gerade widerstanden und die Gesetzestafeln also nicht zerbrochen habe. Derart sei der kraftstrotzende Körper der Statue nur zum „leiblichen Ausdrucksmittel" für „die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist", geworden: „für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat." 2 Daß Freud aber nicht gewillt ist, die „übermenschliche" Botschaft einer künstlerischen Darstellung auf die Ziele der Menschheitsgeschichte umzulegen, zeigt sich unmißverständlich einige Jahre später. Nichts anderes als profanes Wunschdenken offenbare sich nämlich in der Überzeugung, der Gang der menschlichen Geschichte strebe in einer unaufhaltsamen Bewegung seiner eigentlichen, d. h. höheren Bestimmung zu: „Vielen von uns mag es auch schwer werden, auf den Glauben zu verzichten, daß im Menschen selbst ein Trieb zur 1 2
Massenpsychologie und Ich-Analyse, STA 9, S. 115; vgl. oben S. 103, 119 und 282 f. Der Moses des Michelangelo, STA 10, S. 217.
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Kapitel 11: Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Übermenschen
Vervollkommnung wohnt, der ihn auf seine gegenwärtige Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht hat und von dem man erwarten darf, daß er seine Entwicklung zum Ubermenschen besorgen wird. Allein ich glaube nicht an einen solchen inneren Trieb und sehe keinen Weg, diese wohltuende Illusion zu schonen."3 Freuds desillusionierende Begründung, hinter der sich ja einer der wenigen öffentlich artikulierten Einwände gegenüber Nietzsche verbirgt, lautet: Die bisherige Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Erklärung zu bedürfen als die der Tiere, und was man an einer Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen Drang zu weiterer Vervollkommnung beobachtet, läßt sich ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur aufgebaut ist.4
Zunächst ist zu berücksichtigen, daß Freud den Ubermenschen Nietzsches nur en passant, eben in Form einer kritischen Anspielung in seine eigenen Uberlegungen miteinbezieht; eine ernsthafte Auseinandersetzung, die sich mit „Zarathustra" und den Folgeschriften selbst befaßt, findet weder statt noch ist sie intendiert. Dennoch läßt sich wie gesagt darüber diskutieren, ob sich hinter Nietzsches Geschichtstheorie nicht uneingestandenermaßen doch eine Art „List der Vernunft" versteckt hält, die den Menschen nach schweren historischen Krisen letztlich mit „Notwendigkeit" einer (durchaus nicht „idealistisch" verstandenen) Vervollkommnung zuführt. Nietzsche selbst ist freilich niemals müde geworden, seiner fast schon zur Idiosynkrasie gewordenen Ablehnung der Fortschrittsidee bzw. eines wie immer gearteten Vervollkommnungstriebes den entsprechenden Nachdruck zu verleihen: Einschneidende „Regressionen" im Geschichtsverlauf, subtile Langzeitherrschaft gerade der „Schwachen", kein beständiges „Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen", „Anti-Darwin", Abweisung aller teleologischen Konzepte, „Wiederkehr des Gleichen" sind nur einige Stichworte aus der Palette jener Theoreme, die bereits erörtert worden sind. 5 Aber selbst wenn man an Freuds Anspielung auf den Ubermenschen keine textkritischen Vergleichsmaßstäbe anlegt und sie nur als kleine, nach den endlosen Querelen um den „Vorgänger" Nietzsche auch psychologisch verständliche Spitze wertet, selbst dann ist evident, daß Freuds inhaltliche Begründung für die Abweisung des Vervollkommnungstriebes grundsätzlicher Natur ist und darin eine bekannt tiefe Kluft zur Philosophie Nietzsches aufreißt. In der Tat wiederholt Freud ja nur seine schon 1908 geäußerte Grundthese, daß der Antagonismus zwischen Natur und Kultur unüberbrückbar6 bleibe, daß sich das „Wertvollste 3 4 5 6
Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 251 (H. d. V.). Ebd. (H. d. V.); vgl. auch Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 226. Vgl. oben S. 385-388. „Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut" (Die .kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität, STA 9, S. 18).
1. Die Grundargumentation
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an der menschlichen Kultur" eben dem Kampf gegen die Natur, mithin einer menschlichen Verdrängungsleistung verdanke. Auch der Mechanismus der Sublimierung im Sinne des starken Begriffs „.Cfesexualisierung" (und darin von der „Verdrängung" nicht ohne Schwierigkeiten abzugrenzen) läßt sich als Ausdruck dieses Kampfes verstehen, worin nicht zuletzt ein Grund zu suchen ist, daß man in Freuds Opus höchst selten typischen Nietzsche-Worten wie etwa „Vergöttlichung, Vergoldung und Veredelung" der Leidenschaften begegnet.7 Auf der anderen Seite gebe der unterdrückte Trieb, wie Freud in „Jenseits des Lustprinzips" fortfahrt, freilich nie auf, nach voller Befriedigung zu streben. Daher seien alle „Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen" auch ungenügend, um die daraus resultierende Spannung aufzuheben, „und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet", sondern nach einem Wort Mephistos „ ,ungebändigt immer vorwärts dringt'."8 Im Sinne dieser ernüchternden Deduktion des Vervollkommnungstriebes liegt ein übermenschliches Zusammenwachsen von Kultur und Natur9, wie es Nietzsche in der vorhin zur Sprache gebrachten Synthese von „weise und stark" postuliert, jenseits der psychoanalytischen Perspektive. Möglicherweise läßt sich auch daraus erklären, warum Freud seine zwei diametralen Bilder des Ubermenschen nicht nur jedesmal mit kritischen Beitönen kommentiert, sondern dieselben auch gänzlich unvermittelt nebeneinander stehengelassen hat. Unbegreiflich mußte es sich selbst aus seiner, d. h. gewiß oberflächlichen Warte wohl ausnehmen, daß der urgeschichtliche Willensmensch und der Weise der Zukunft mit ein und demselben Namen „Ubermensch" versehen sein sollen. Und indem er diese Gegensätzlichkeit zweier „Typen" einfach überging und in ihrer Differenz belassen hat, traf Freud unbeabsichtigt einen Nerv der früheren Nietzsche-Inter7 8 9
Vgl. oben S. 320, 353 und 397 - 400. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 251. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Nietzsche hat den Antagonismus Natur/Kultur natürlich nicht geleugnet, wovon die These, der Mensch sei mit Hilfe der „Sittlichkeit der Sitte", der „socialen Zwangsjacke" und furchtbaren „mnemotechnischen" Mitteln berechenbar gemacht worden, nachhaltiges Zeugnis ablegt. Dabei muß man sich die kritische Intention des Arguments allerdings vergegenwärtigen: Es sollte dem „modernen" Individuum nachdrücklich vor Augen fuhren, daß sein ganzer Stolz, ein „freies", nur sich selbst verantwortliches „Gewissen" herausgebildet zu haben, nichts anderes als eine Illusion sei, mit der die grundsätzlich grausame Herkunftsgeschichte der Gewissensbildung verdeckt werden sollte. Keineswegs impliziert ist damit aber, daß die Kultur deshalb Steigerungsformen des Lebens verunmöglichte (vgl. dazu oben S. 366 - 369, 402 f.; vgl. auch S. 285 - 288). Gerade eine übermenschliche Daseinsweise würde ja, wie gleich nochmals anzusprechen ist, die Befreiung aus einer historisch definierten Knechtschaft erwirken, in die der Mensch mit Hilfe einer trieb- und lebensfeindlichen Moral gezwungen worden sei. Mit dieser Befreiung offenbare sich erstmals eine sinnliche Perspektive, die nicht nur ein „Besser"-, sondern eben auch ein willentliches „Böserwerden" des Menschen nach sich ziehe.
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Kapitel 11: Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Ubermenschen
pretationen, die immer wieder zwischen den beiden Versionen hin- und herschwankten. Wie Müller-Lauter im einzelnen zeigt, blieb nämlich die „grundlegende Unterscheidung zwischen dem Ubermenschen als gewalttätigem Naturwesen, das schon in der Vergangenheit aufgetreten ist, und dem Übermenschen als Kulturwesen ^ das Nietzsche in irgendeiner Zukunft erwarte" 10 , gerade für diese Anfangsdiskussion charakteristisch.
2. Weitere Einwände Aus Freuds Grundargumentation lassen sich eine Reihe von Bedenken extrapolieren, die allesamt eine faktische Unversöhnlichkeit des psychoanalytischen Denkens nicht nur mit Nietzsches Zukunftsvision, sondern auch mit tragenden Säulen seiner Philosophie erkennen lassen. So ist der einmal konstitutiv gesetzte Antagonismus eben folgerichtig von jenem grau in grau gehaltenen Stimmungsbzw. Weltbild untermalt, in dem die ewige Not gegenüber den äußeren und inneren Naturmächten die eigentliche Essenz des Lebens bildet — und nicht, wie Nietzsche als ebenso zwingende Konsequenz seiner Interpretation schließt, dessen Üppigkeit oder „Ueberfluss". „Leben" enthüllt sich für Freud als beständige Abfolge diverser „Kompromißbildungen" und darin als bezeichnendes „Symptom" der allzumenschlichen Bemühung, den antagonistischen Grundkonflikt auf einem halbwegs erträglichen Niveau zu halten, nicht zuletzt um den Preis einer beständigen „Wiederkehr des Verdrängten". Nicht weniger schwer wiegt in diesem Zusammenhang der unterschiedliche Bedeutungsgehalt des Begriffs Überwindung. Nietzsche sucht denselben aus der historischen Situation des Nihilismus heraus verstehbar zu machen, aus einer Zeit also, die dem Menschen nach dem Tod Gottes eine Neudefinition seines Selbstverständnisses abverlange, welche erstmals die „gefährliche" Brücke für das Zusammenwachsen von Tier- bzw. Erdendasein und übermenschlichem Dasein als gangbar erscheinen und damit die Überwindung bzw. Selbstüberwindung des Menschen zur realistischen Möglichkeit werden lasse. Der Freudsche Überwindungsbegriff dagegen, in seiner Bedeutung für die Psychoanalyse ähnlich zentral wie jener Nietzsches für seine Konzeption, ist sowohl unpathetischer als auch unhistorischer angelegt. Ersteres, weil der Satz, aus dem nach Nietzsche gerade eine mit der Sinnlosigkeit der Existenz ringende Menschheit ihre Hoffnung schöpfe, nämlich: „alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus", sich von Freud problemlos aus dem Antagonismus Natur/Kultur ableiten ließe. Letzteres, weil mit „Überwindung" noch jedesmal die quasi-naturgesetzliche Wiederholung jener Situation angesprochen ist, für die Freud eben den Namen 10
Müller-Lauter, W., Nietzsche, a. a. O., S. 131, Anm. 74.
2. Weitere Einwände
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„Ödipuskomplex" reserviert. Quintessenz dieser Argumentation: Die Bewältigung des Dreh- und Angelpunkts der menschlichen Entwicklungsgeschichte fuhrt zu keiner wie immer erhofften Uberwindung des Menschen, vielmehr konstituiert sich der Mensch gerade in der Uberwindung des Ödipuskomplexes. Diese differente und mit Nietzsches Ansatz nur in höchst eingeschränktem Maße überhaupt vergleichbare Ausgangskonstellation zeitigt in weiterer Folge freilich Konsequenzen, die geeignet sind, Freuds nur beiläufig und coram publico mit entsprechender Zurückhaltung geäußerte Skepsis am Übermenschen noch zu verstärken, wenn man sie in den Kontext seines Werkes einbindet. Zunächst darf nochmals daran erinnert werden, daß aus psychoanalytischer Sicht die Uberwindung des Ödipuskomplexes jedes Moments von Freiwilligkeit entbehrt und von der Gesellschaft unter Einsatz von „Macht- und Zwangsmitteln" immer schon erzwungen wird. Unter dem „kastrierenden" Druck der kulturellen bzw. elterlichen Autorität ist der einzelne als „virtueller Feind der Kultur" 11 dazu angehalten, den Kampf gegen die Natur aufzunehmen und sich seiner drängendsten Triebwünsche zu entledigen, was im ungünstigen, d. h. mit späterer Neurotisierung erkauften Fall zu einer bloßen Verdrängung, im Normalfall aber zu einer (von Freud nicht weiter problematisierten) „Zerstörung und Aufhebung" des Kernkomplexes führt. 12 Die ursprünglich nach außen drängenden Aggressionen des Individuums werden nunmehr verinnerlicht, die Sexualstrebungen desexuaüsiert und subümiert, und anstelle der Objektbesetzungen tritt eine Identifizierung mit der Elternautorität, von der Freud annimmt, daß sie sich ihrerseits einer phylogenetischen Verankerung verdankt. 13 Der ganze Prozeß endet in der Errichtung einer eigenen psychischen Instanz, der Freud die Bezeichnung Uber-Ich zuweist. Soweit die vertraute Ausgangslage, von der nun der Faden zum Ubermenschen wieder gesponnen werden kann. Während Nietzsche also mit der Überwindung des Menschen die befreiende, willentliche Verabschiedung der nihilistischen Moral anvisiert, meint „Überwindung" im psychoanalytischen Sinne gerade die oben angedeutete Konstituierung des Menschen als moralisches Wesen, welches von seiner archaischen Vergangenheit freilich unwillentlich immer noch zehre. Als nachhaltiger Ausdruck einer solchen „Erbschaft" dürfe eben die Verbotsfunktion des Über-Ichs gelten, die den beständigen Drang zur Übertretung der einmal gesetzten Tabus gewissermaßen einer „ewigen" Zensur unterwerfe. Und da die Rigidität der Moral mithin nicht nur in Korrelation zum jeweils individuell verinnerlichten Aggressionspotential stehe, sondern ihrerseits auf die schuldhafte Verstrickung des Menschengeschlechts selbst verweise, nämlich auf 11 12 13
Vgl. Die Zukunft einer Illusion, STA 9, S. 140. Der Untergang des Ödipuskomplexes, STA 5, S. 248; vgl. oben S. 372-374. Vgl. oben S. 319 f. und 492 f.
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Kapitel 11 : Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Übermenschen
die quälenden psychischen Folgen einer frevlerischen Anfangs- bzw. „Urtat", sieht Freud sich bekanntlich gezwungen, das menschliche Dasein unter die Gesamtperspektive der Schuld zu stellen. 14 Nietzsches Vorstellung, es könnte einer durch den Wiederkehrsgedanken geläuterten Menschheit in absehbarer Zeit möglich sein, das Dasein in seiner vollkommenen Unschuld, also jenseits von Gut und Böse zu bejahen, liegt Freuds Denken somit schon dem Ansatz nach fern. Diese aus den psychoanalytischen Grundannahmen erschlossenen Bedenken lassen sich indes noch weiter vertiefen. Wie schon erwähnt 15 , spricht Freud dem Uber-Ich neben der Gewissensprüfung ja eine weitere Bestimmung zu: die der /(¿•«/-Funktion. Es kann hier von einer näheren Thematisierung der These abgesehen werden, daß die Bildungsgeschichte des Ichideals sich wiederum aus einer archaischen Vorbildfunktion deduzieren lasse, die ihren psychischen Niederschlag im Gebot: „ ,So (wie der Vater) sollst du sein' " gefunden und sich damit dem Verbot: „ ,So (wie der Vater) darfst du nicht sein, [...] manches bleibt ihm vorbehalten' " beigesellt habe. Wesentlich ist an dieser Stelle, daß Freud immer wieder auf die Gefahren dieser Doppelbedeutung verweist. Denn so wie das Uber-Ich oft „hypermoralisch" 16 sei und das Ich in ein nachgerade pathologisches Schuldgefühl dränge, so unerreichbar würden sich die hehren Ansprüche ausnehmen, die das Ichideal häufig an das Ich stelle: nämlich in allem Handeln einer Vollkommenheit und Großartigkeit Genüge zu tun. Freud schließt daraus, die Herkunft des Ichideals müsse einer libidinösen Quelle zuzuschreiben sein, letztlich sei es wohl der „Ersatz für den verlorenen Narzißmus" der Kindheit, in welcher der Mensch „sein eigenes Ideal war" 17 , bzw. auch das Produkt einer Verehrung der großartigsten Objekte, die das kindliche Ich jemals erleben durfte: „Dieses Ichideal ist der Niederschlag der alten Elternvorstellung, der Ausdruck der Bewunderung jener Vollkommenheit, die das Kind ihnen damals zuschrieb." 18 Den Kern der Freudschen Argumentation als Unterlage genommen, lassen sich in Nietzsches Vision zunächst zwei in sich zusammenlaufende Aspekte ausmachen. Einmal steht für ihn völlig außer Diskussion, daß im Ubermenschen nicht irgendein beliebiges, sondern das einer künftigen Menschheit schlechterdings gemäße Ideal sich realisieren werde 19 ; wogegen er sich zur Wehr setzte, das freilich mit gebotener Vehemenz, war eben, dieses Ideal mit „Idealismus" zu 14 15 16 17 18
19
Vgl. oben S. 295-299, 4 4 2 - 4 4 5 sowie unten S. 587-589. Vgl. oben S. 492 f. Vgl. Das Ich und das Es, STA 3, S. 301 ff. und 320. Zur Einfuhrung des Narzißmus, STA 3, S. 61. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 503. In „Das Ich und das Es" (STA 3, S. 304) bezeichnet Freud das „Ichideal" als „Ersatzbildung für die Vatersehnsucht". Vgl. etwa Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 335 ff.
2. Weitere Einwände
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verwechseln. Zum anderen knüpft sich die Vorstellung einer neuen Wirklichkeit untrennbar an die vorbehaltlose Bejahung der Unschuld des Werdens. Zusammengenommen ist es also ein unschuldiges Ideal, das den bisherigen moralischen, lebensverneinenden Idealen entgegenstehe. Bezeichnenderweise bemüht Nietzsche in diesem Zusammenhang, genauer besehen bei der Affirmation des Wiederkehrsgedankens als der „übermenschlichen" Conditio sine qua non, die Metapher von der kindlichen Unschuld, und zwar erwähntermaßen 20 wiederum in einem anti-idealistischen, immoralischen und letztlich gegenbiblischen Sinne. Mit Blick auf die psychoanalytische Grundierung läßt sich der Ubermensch damit als Inkarnation eines Ideals interpretieren, dazu befáhigt, sich in gleichsam kindlicher Unschuld vom moralischen Diktat des Über-Ichs abzukoppeln, oder wie Assoun lapidar konstatiert: „Das ganze Unternehmen Nietzsches ist im Gegensatz [zu Freuds Uber-Ich] als ein Ich-Ideal zu denken, das nicht mehr Uber-Ich ist." 21 Die Pointe der Gedankenkette liegt aber zwangsläufig im Verdacht, die Großartigkeit menschlicher Zielsetzungen, zu deren Anwalt das Ichideal sich eben aufschwinge, diene wohl nicht allein der Sache des „Höheren", sondern einer „wohltuende[n] Illusion", genauer: der Erfüllung libidinöser Regungen, ein Argument, vor dem sich die Philosophie Nietzsches noch in all ihrem Gegenidealismus nicht recht zu immunisieren vermag. Denn gerade die Diagnose, eine tiefe Verzweiflung bzw. „melancholische" Grundverstimmung werde sich nach dem Tod Gottes einer nunmehr sich selbst fragwürdig gewordenen Menschheit bemächtigen, ist ja von der großen Erwartung überstrahlt, letztlich werde ihr eine neue Befreiung zuteil. Noch sei diese Ära nicht gekommen, so Nietzsche in der „Genealogie", aber „irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch". Dieser mit einer „grossen Gesundheit" versehene „Mensch der Zukunft" werde es dann sein, der die „Erlösung von dem Fluche" bringe, den das alte Ideal auf die Wirklichkeit gelegt habe, der „den Willen -wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt" 22 . Nach psychoanalytischer Auffassung gestattet ja erst die Hinwendung zu neuen, libidinös besetzten Werten (Objekten, Idealen) eine Überwindung der „Trauer". Daß die Libido sich von den betrauerten Werten oder ihren Resten endgültig abzieht, ist somit die Voraussetzung für das Freiwerden der bislang gebundenen Energie. Die „Melancholie", von der wir annehmen durften, Nietzsche habe bei der Analyse der zweiten Form des Nihilismus gerade dieses Symptombild vor Augen (und weniger die Trauer), folgt trotz ihrer differenten Ätio20 21 22
Vgl. oben S. 416 f. Assoun, P.-L., Freud et Nietzsche, a. a. OL, S. 275. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 336.
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Kapitel 11: Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Übermenschen
logie demselben Muster der Überwindung, d. h. auch hier stellt sich schließlich ein Ablösungsprozeß der Libido ein. Im Unterschied zur Überwindung der Trauer darf die freie Verfügbarkeit der Energie, deren sichtbarster Ausdruck der Umschlag in die manische Euphorie ist, freilich als Resultat einer „Regression der Libido auf den Narzißmus" gelten, wodurch sich auch, so Freud, der unstillbare „Heißhunger" auf neue „Objektbesetzungen" verständlich machen lasse. 23 Anders gesagt: Nietzsches Hoffnung auf den „erlösenden Menschen" läßt sich mit den profanen und ihrerseits entmoralisierten Mitteln der Libidotheorie selbst noch dechiffrieren. Der Begriff „Narzißmus" gibt das Stichwort für einen Aspekt, mit dem sich die Argumentation weitertreiben läßt: den der Allmacht der Gedanken. Freud versteht darunter den „Glauben, daß die realen Vorgänge in der Welt die Wege gehen, die unser Denken ihnen anweisen will." Eine solche Überschätzung der intellektuellen Operationen, geboren aus dem Schöße des ursprünglichen Narzißmus, habe indes nicht nur der animistischen Weltsicht zugrundegelegen, sondern sei, das ist die Pointe, auch Charakteristikum ,,unsere[r] Philosophie", die sich nach wie vor vom bloßen Zauber der Worte verführen lasse. 24 Nun hat Freud bei aller Hochschätzung der psychologischen Sensibilität Nietzsches bekanntlich mit einer Kritik nicht zurückgehalten: daß er immer noch dem Kreis der Philosophen (Theologen) zuzurechnen sei. Von hier aus läßt sich aber die Brücke zu einer Idee Nietzsches schlagen, die er seinen „abgründlichen" Gedanken oder auch den „Gedanken der Gedanken" nennt: den der ewigen Wiederkehr des Gleichen, dessen Akzeptanz oder Verneinung, wie er glaubte, nicht zuletzt über Erlösung oder Untergang der Menschen entscheide. Die Zeit werde kommen, notiert er einmal, „wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird — er wird im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden." 25 Dieser Kampf ende dadurch, daß der „mächtigste Begriff" sich schließlich durchsetze, und dies sei eben, daran läßt Nietzsche keinen Zweifel, sein Wiederkehrsgedanke. Die folgende Passage, dem Inhalt nach nur eine von zahlreichen ähnlichen Überlegungen, demonstriert, wie blutig ernst ihm damit war: „Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen — und die nicht Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben ! Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!" 26 23
24 25 26
Wörtlich heißt es bei Freud: „Der Manische demonstriert uns auch unverkennbar seine Befreiung vom Objekt, an dem er gelitten hatte, indem er wie ein Heißhungriger auf neue Objektbesetzungen ausgeht" ^Trauer und Melancholie, STA 3, S. 208). Zum gesamten Themenkomplex vgl. oben S. 471 - 4 7 8 und 490 f. Vgl. 35. Vorlesung der Neuen Folge, Über eine Weltanschauung, STA 1, S. 592 f. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [273], KSA 9, S. 546. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [338], KSA 9, S. 573. Analoge Überlegungen finden sich etwa in: Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24 [6], KSA 10, S. 646 f.; Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [290], KSA 11, S. 85; Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [305], KSA 11, S. 88; Nachlaß Sommer-Herbst
2. Weitere Einwände
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In schroffem Gegensatz dazu steht Freuds berühmtes Bekenntnis zur Wissenschaft, in der sich kein Platz für die „Allmacht der Gedanken" finde. In Verwirklichung ihres methodischen Ziels, der „Ubereinstimmung mit der Realität", widersetze sie sich allen weltanschaulichen Normen. „Werturteile" lägen der Psychoanalyse mithin fern, regelmäßig seien es doch nur Versuche von Menschen, „ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen." Und so wolle er auch nicht als „Prophet"27 agieren oder einem wie immer gearteten „Sollen" das Wort reden, sondern sich das gleichermaßen realistische wie ernüchternde Eingeständnis jener wissenschaftlichen Betrachtung zueigen machen, in der sich der Mensch „zu seiner Kleinheit bekannt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendigkeiten unterworfen"28 habe. Es darf in diesem Zusammenhang nochmals daran erinnert werden, daß Nietzsches Vision nicht zuletzt in den Postulaten gründet, der Mensch solle, ja müsse überwunden werden und ebenso notwendig müsse eben der Ubermensch „einst kommen".29 Die damit offen zutage getretene Kluft zwischen den beiden Denkansätzen läßt sich auch durch die zentralen mythologischen Gestalten im jeweiligen Opus veranschaulichen. Dionysos ist bei all seiner Mehrdeutigkeit wesentlich der leidende und wiederauferstandene Gott, in letzterem aber und vor allem der auf die Zukunft hinweisende Gott, dem in „Zarathustra"30 der Boden aufbereitet wird für seine Wiederkunft in einer affirmativ-unschuldigen Welt, der erhofft wird als der „kommende Gott"31. Odipus dagegen versinnbildlicht für Freud jene schicksalhafte und schuldbeladene Verstrickung des Menschengeschlechts in ein urzeitliches Verbrechen32, von dem die psychoanalytische Wissenschaft entdeckt hat, daß es in der Individualgeschichte tatsächlich eine Form von „Wiederkehr" erfahrt, freilich und naturgemäß nicht als eine gewollte oder „gesollte", sondern als vergangenheitsabhängige, unbewußte Bürde des Menschen, die desillusionierende Schlüsse weit eher nahelege als irgendeine sehnsüchtige Erwartung an die Zukunft. Freud selbst hat seinen Haupteinwand ge-
27 28 29 30 31
32
1884, 26 [376], KSA 11, S. 250; Nachlaß Sommer-Herbst 1887, 5 [71], KSA 12, S. 216 f.; Nachlaß November 1887-März 1888, 11 [150], KSA 13, S. 71. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 270. Totem und Tabu, STA 9, S. 376. Vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 249 und 332; Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 336. Vgl. etwa die Retrospektive von Also sprach Zarathustra in Ecce homo, KSA 6, S. 344 f., wo Nietzsche den Begriff „Ubermensch" identifiziert mit dem „Begriff des Dionysos selbst". Vgl. Frank, M., Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt am Main 1982. Frank zeigt nicht nur, daß die Spuren des „kommenden Gottes" insbesondere auf die Romantik zurückgehen, sondern expliziert auch im Detail die verschiedenen mythologischen Wurzeln des Dionysos (vgl. ebd., S. 188 ff. und 291 ff).; vgl. auch Bishop, P., The Dionysian Self, a. a. O., S. 336 ff. und 369 ff. Bezeichnenderweise hat Freud den leidenden Dionysos der griechischen Tragödie seinerseits noch als Maskierung der ödipalen Grundtragödie interpretiert (vgl. Totem und Tabu, STA 9, S. 439).
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Kapitel 11: Freud oder das Unbehagen der Psychoanalyse am Übermenschen
genüber Nietzsche bereits 1908 im Rahmen einer Vereinsdiskussion auf den Punkt gebracht: „Was uns stört ist, daß er das ,ist' in ein ,soll' verwandelt hat. Der Wissenschaft ist aber ein Soll fremd. Er ist da noch Moralist geblieben, ist den Theologen nicht losgeworden." 33 In einem diesbezüglichen Gegenkapitel 34 wird zu zeigen sein, daß sich mit Nietzsches Philosophie freilich ebenfalls gravierende Argumente vorbringen lassen, wenn es darum geht, die Freudsche Theorie und Therapie auf ihren heimlichen oder offenen Nihilismus abzufragen.
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34
Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28. Freud glaubte seine Kritik auch durch die psychologische Vermutung stützen zu können, daß der spätere Andchrist Nietzsche wohl eine pubertate „Christus-Phantasie" bzw. ein „Christus-Ideal" in sich getragen habe, die das „Lehrhafte, Pastorale" seiner Anschauungen erkläre. Vgl. unten S. 576-606.
Kapitel 12 Stationen, Ziele und Hindernisse der analytischen Psychotherapie 1. Kurier Leitfaden %ur Geschichte der psychotherapeutischen Technik Aufgrund der angenommenen Ähnlichkeit zwischen individueller und kultureller Entwicklungsgeschichte drängte sich die Frage auf, ob nicht vielleicht „manche Kulturen — oder Kulturepochen — möglicherweise die ganze Menschheit — unter dem Einfluß der Kulturbestrebungen .neurotisch' geworden"1 seien. Freuds Interesse an einer noch zu initiierenden, im Kern aber bereits in „Totem und Tabu" angelegten „Pathologie der kulturellen Gemeinschaften" bleibt in den späten Jahren in der Tat rege und findet in der Studie über den „Mann Moses" seinen schließlichen Niederschlag. Der naheliegenden Idee einer radikalen Therapie der Kultur, wie Nietzsche sie auf seine Weise artikulierte, kann Freud freilich wenig abgewinnen, sein Axiom, sich aller Vermengung von Sein und Sollen zu enthalten, behält gegenüber der Versuchung, aus einer kritischen Diagnostik der Kultur selbst noch Handlungsanweisungen großen Stils abzuleiten, im wesentlichen die Oberhand. Im wesentlichen heißt, daß die methodische Intention natürlich nicht immer realisierbar — und zeitweise auch gar nicht gewollt war.2 So meint er etwa, unter Umständen sei die „Wirkung des religiösen Denkverbots nicht so arg", wie er vermute, und vielleicht jage er selbst einer Illusion hinterher: „Aber gestehen Sie mir zu, daß hier eine Berechtigung für eine Zukunftshoffnung vorhanden ist, daß vielleicht ein Schatz zu heben ist, der die Kultur bereichern kann, daß es sich der Mühe lohnt, den Versuch einer irreligiösen Erziehung zu unternehmen. Fällt er unbefriedigend aus, so bin ich bereit, die Reform aufzugeben und zum früheren, rein deskriptiven Urteil zurückzukehren"3. Wie man sieht, gelingt es Freuds innovativer Gesinnung letztlich nicht, das latente Unbehagen, aus deskriptiven Sätzen solche normativer Art gefolgert zu haben, aus der Welt zu schaffen, im Gegenteil, wie auch ein Brief an Pfister dokumentiert. Darin glaubt Freud, sich der methodischen Schwierigkeiten überhaupt entledigen zu können, indem er das religionskritische Traktat „Die Zukunft einer Illusion" als bloße Privatmeinung hinstellt: „Halten wir fest, daß die Ansichten meiner Schrift keinen Bestandteil des analytischen
1 2 3
Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 269. Vgl. etwa oben S. 420. Die Zukunft einer Illusion, STA 9, S. 182 f.
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie
Lehrgebäudes bilden. Es ist meine persönliche Meinung, die mit der vieler Nicht- und Voranalytiker zusammentrifft und gewiß von vielen braven Analytikern nicht geteilt wird." 4 Zum integralen Bestandteil der analytischen Lehre zählt aber sehr wohl die individuelle Psychotherapie, an die sich der Name Freud auch eo ipso knüpft. Die folgende, naturgemäß nur in Umrissen zu zeichnende Entwicklungsgeschichte des Heilverfahrens veranschaulicht zunächst, daß es sich dabei im wesentlichen um eine Technik handelt, mit deren Hilfe die primäre Zielvorgabe, die „Bewußtmachung des Unbewußten", realisiert werden soll; und sie verdeutlicht im weiteren, daß mit der Fortentwicklung dieser Technik die ursprünglichen Rollen von Analytiker und Patient einem augenfälligen Wandel unterliegen. Wie bereits angedeutet, bewegen sich Freuds Therapeutika anfangs in den Bahnen der konventionellen Medizin. Zur Bekämpfung sogenannter nervöser Störungen hält sich der Neuropathologe, seit 1886 in der eigenen Ordination tätig, im besonderen an die detaillierten Anweisungen jener Erbschen Elektrotherapie, von der er später im Einklang mit Möbius sagen wird, ihre Wirkung verdanke sich vornehmlich der „ärztlichen Suggestion". Neben vereinzelt verschriebenen „Wasserkuren" und selbst „Muskelarbeit" ist es namentlich die Weir Mitchell-Kur, eine zuerst in .Amerika populär gewordene Mischung aus Bettruhe, Isolierung, Mastkur, Massagen und Elektrizität5, die Freuds Zustimmung findet. Zu dieser Zeit operiert er freilich auch schon mit einer anderen „Waffe" aus seinem „therapeutische[n] Arsenal" 6 : der Hypnose, mit deren außergewöhnlichen Wirkungsweisen er bereits 1885 durch seinen Studienaufenthalt bei Charcot bekannt wurde. Das Jahr 1889 bringt die endgültige Entscheidung zugunsten der Psychologe·. Freud praktiziert erstmals die Breuersche kathartische Methode und kehrt aus Nancy, wo er den Hypnose-Experten Bernheim aufsucht, mit „stärksten Eindrücke[n]" 7 von der Macht des Unbewußten zurück. Seit damals bleibt der therapeutische Ansatz im Kern derselbe: Im Unterschied zu den physiotherapeutischen Direktiven sollte der Patient zu einer Erinnerungsarbeit angehalten werden, um die verdrängten Anteile einer Lebensgeschichte, die zugleich Leidensgeschichte ist, dem Bewußtsein zugänglich und damit bewältigbar zu machen. Die alten ärztlichen Hausmittel, den psychisch bzw. psychosomatisch Erkrankten mit Bescheiden folgender Art zu entlassen: „,Ihnen fehlt nichts; es ist bloß nervös' " oder: „,Gehen Sie zum Nervenarzt, er wird Ihnen eine leichte Kaltwasserkur verordnen' " 8 , waren damit obsolet geworden. Freud umreißt das 4 5
6 7 8
S. Freud - O. Pfister, Briefe 1909-1939, a. a. O., S. 126. Vgl. Ellenberger, H. F., Die Entdeckung des Unbewußten, a. a. O., Band 1, S. 346 f.; vgl. Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, GW 1, S. 266. .Selbstdarstellung', GW 14, S. 39 f. Ebd., S. 41. Vorwort zu M. Steiner, Die psychischen Störungen der männlichen Potenz, GW 10, S. 451 f.
1. Leitfaden zur Geschichte der psychotherapeutischen Technik
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Ziel seiner Bemühung mit der bekannten Formel: „Bewußtmachen des Unbewußten, Aufhebung der Verdrängungen, Ausfüllung der amnestischen Lücken, das kommt alles auf das gleiche hinaus"9, oder wie es an anderer, von höchstem Anspruchsniveau zeugender Stelle heißt: „Man kann sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fortbestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich gemacht. Man kann die Bedingung anders fassen: es seien alle Verdrängungen rückgängig zu machen"10. Was sich innerhalb des einmal vorgegebenen Rahmens ändern sollte, waren zum einen die therapeutischen Mittel, mit denen die verschütteten Erinnerungen des Patienten emporgezogen werden konnten, und zum anderen der jeweilige Stand der äüologischen Neurosenforschung, der darüber entschied, inwiefern die Erinnerungsarbeit überhaupt als zielführend indiziert war und an welcher Stelle die krankheitsauslösenden Faktoren vermutet werden durften. Wie schon näher ausgeführt11, schien es Freud beispielsweise vergebliche Mühe, die sogenannten Aktualneurosen über den Weg einer Gedächtnisauffrischung, wie er für die „Abwehrneurosen" bzw. späteren „Ubertragungsneurosen" als funktional erkannt worden war, therapieren zu wollen. Und die momentane Abhängigkeit von der Nosologie, nach Freud zwingende Folge der wechselhaften empirischen Erfahrung selbst, gab ihrerseits natürlich die inhaltlichen Schwerpunkte vor, in welchen lebensgeschichtlichen Situationen das Erinnerungsversagen überhaupt zu suchen war, etwa in einer traumatischen frühkindlichen Verführung, in einer präödipalen oder ödipalen Erlebnis- bzw. Phantasiewelt des Patienten. Den suggestiven Techniken der Gründerjahre war nun, bei all ihrer Unterschiedlichkeit, doch eines gemein: Der Status des Arztes als massive Autorität, die ganz bewußt die nötigen Initiativen im therapeutischen Prozeß setzt, blieb ebenso unangetastet wie jener des Patienten als mehr oder weniger reaktives, „ohnmächtiges" Objekt. Dabei nimmt sich aus späterer Sicht geradezu erstaunlich aus, mit welcher Selbstverständlichkeit Freud auch nach Preisgabe der direkten Hypnose und dem Wechsel zu den beiden Erinnerungstechniken, dem hypnokathartischen Verfahren und der schon gemäßigteren „Drucktechnik", gewissermaßen handfeste Vernehmungen der Patienten als probates Mittel gegen deren Gedächtnisblockaden anrät. So solle man die Patienten mit der nötigen Bestimmtheit „nach der Herkunft eines gewissen Symptoms ausfragen, wann dasselbe zum ersten Male aufgetreten und woran sie sich dabei erinnern. In diesem Zustande kehrt die Erinnerung, über welche sie im wachen Zustande nicht verfügen, zurück"; ja man müsse sie gleich dem Richter in ein „scharfes Verhör" 9 10 11
27. Vorlesung, Die Übertragung, STA 1, S. 419. Die Freudsche psychoanalytische Methode, STA Egb., S. 105. Vgl. oben S. 419-425.
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie
nehmen, „auf welche schädlichen Einflüsse sie selbst die Erkrankung an jenen neurotischen Symptomen zurückfuhren" 12 , mit anderen Worten: Letztlich sei das Unbewußte, wie es in einer späteren Retrospektive heißt, „gewaltsam zum Bewußtsein" 13 zu bringen. Im Gegenzug bleiben auch explizite Aufklärungen über die „wundersame Welt der psychischen Vorgänge" nicht aus, und schließlich findet sich der Analytiker sogar in der Rolle des Moralisten, Pädagogen und Priesters wieder, um die affektiven Widerstände des Patienten zum Versiegen zu bringen: Endlich aber — und dies bleibt der stärkste Hebel — muß man versuchen, nachdem man diese Motive seiner Abwehr erraten, die Motive zu entwerten, oder selbst sie durch stärkere zu ersetzen. Hier hört wohl die Möglichkeit auf, die psychotherapeutische Tätigkeit in Formeln zu fassen. Man wirkt, so gut man kann, als Aufklärer, wo die Ignoranz eine Scheu erzeugt hat, als Lehrer, als Vertreter einer freieren oder überlegeneren Weltauffassung, als Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse gleichsam Absolution erteilt 14 .
Freud arbeitet mit den diversen Spielarten der Hypnose gut zehn Jahre, zwischen 1886 und 1896. 15 Zur Verabschiedung der suggestiven Techniken tragen im wesentlichen drei Momente bei: ein technisches, weil ohne Umschweife einzuräumen war, daß manche Patienten einfach nicht hypnotisierbar waren; nicht unabhängig davon auch ein psychologisches Moment, da die Widerstände der Patienten gegen die Hypnose nicht nur als berechtigt anerkannt werden mußten, sondern ihrerseits einen gewichtigen Beitrag zur Aufhellung der seelischer Konflikte lieferten; und schließlich ein ideelles Moment bzw. ein reflektierterer Begriff von Aufklärung, der gebot, den Leidenden nunmehr als „Subjekt" des therapeutischen Prozesses zu respektieren und ihm damit selbst den Hauptteil der Genesungsarbeit zu überantworten, was für den Analytiker wiederum implizierte, daß alles ärztliche und erst recht moralische Helferpathos in den Hintergrund zu treten habe. Mit der Aufgabe der Hypnose sind die weiteren Bahnen vorgezeichnet, die psychoanalytische Technik reift Schritt für Schritt aus und zentriert sich schließlich um drei, schon in den „Studien über Hysterie" 16 mehr oder weniger stark akzentuierte Begriffe: um Übertragung, Widerstand und analytische Grundregel. 12
13 14 15
16
Vgl. Uber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, STA 6, S. 16 (H. d. V.); Die Abwehr-Neuropsychosen, G W 1, S. 69 (H. d. V.); Zur Ätiologie der Hysterie, STA 6, S. 53. Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Shaked, J., Vom .Verhör' zur .teilnehmenden Beobachtung': Statik und Wandel der Analytikerrolle im therapeutischen Prozeß, in: Grossmann-Garger, B. / Parth, W, Heilt die Psychoanalyse?, Wien 1993, S. 11 ff. Der Wahn und die Träume in W Jensens .Gradiva', STA 10, S. 80. Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, G W 1, S. 285. Vgl. die editorische Vorbemerkung zu Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), STA Egb., S. 16. Vgl. Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, G W 1, S. 219, 265, 269 f., 280 f.
1. Leitfaden zur Geschichte der psychotherapeutischen Technik
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Im „Fall Dora" liegt eine Art Definition vor, was unter Übertragungen zu verstehen sei: „Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen [...] Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig."17 Daß es sich dabei im besonderen um Wiederbelebungen der stärksten infantilen Objektbesetzungen, um aufgefrischte Beziehungen „zu einem Elternteil"18 handle, hat als Grundschatz des analytischen Denkens inzwischen Eingang in Psychologie und Gemeinverständnis gefunden. Die therapeutische Arbeit bestehe daher folgerichtig „in der Zurückfuhrung auf die Vergangenheit"19. Bemerkenswert ist, daß die Übertragungsreaktionen, namentlich die überschwenglichen, nicht selten an Hörigkeit grenzenden Gefühlsbeziehungen des Patienten zum Arzt in Freud aisgleich Erinnerungen an die alte Hypnose wachriefen: „Und wir müssen gewahr werden, daß wir in unserer Technik die Hypnose nur aufgegeben haben, um die Suggestion in der Gestalt der Übertragung wiederzuentdecken."20 Alles hänge somit von der sorgfältigen Handhabung derselben ab; die korrekte Arbeit mit der positiven wie auch der negativen Übertragung — letztere durch das Aufbegehren des Patienten gegen den Analytiker, durch sein feindselig getöntes „Agieren" statt „Erinnern" auch ein starkes Hindernis der therapeutischen Bemühung — entscheide nicht zuletzt über den Behandlungserfolg, wobei „korrekt" wie immer die Einsicht zu bedeuten habe, daß das, was der Patient in der analytischen Situation fur sein momentanes „reales Leben" halte, nur eine „Spiegelung der Vergangenheit ist" 21 . Als Ende der Behandlung dürfe dann jener Zeitpunkt angesetzt werden, an dem die Übertragungen, die sich im Laufe der Behandlung zur „Übertragungsneurose" ausgeweitet und im Regelfall die gemeine Neurose ersetzt haben, selbst noch „abgetragen" worden seien, sodaß die Suggestion ihre Wirksamkeit verloren habe.22 Und Freud vergißt nicht hinzuzufügen, dieses Stück harter psychischer Arbeit müsse eben wesentlich dem Patienten selbst zugemutet werden.23 Der Widerstand, um am zweiten Terminus technicus zu streifen, steht mit der „Übertragung" schon dadurch in engster Verbindung, daß nach psychoana17 18 19
20 21
22
23
Bruchstück einer Hysterie-Analyse, STA 6, S. 180. Vgl. etwa Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 318. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, STA Egb., S. 211. 27. Vorlesung, Die Übertragung, STA 1, S. 429. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 101 f.; Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, STA Egb., S. 210 ff. Vgl. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, STA Egb., S. 214; 28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 435. Vgl. etwa Zur Dynamik der Übertragung, STA Egb., S. 165.
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie
lyrischer Erfahrung dem Patienten keinerlei Denk-, Gefühls- und Handlungsumwege zu beschwerlich sind, um eine wirkliche Erforschung seiner unbewußten Biographie zu behindern, oder anders: um den Genesungswunsch, der doch das eigentliche Movens zur Therapie war, zu suspendieren. Schon in den „Studien" hält Freud fest, das „Nichtwissen der Hysterischen" sei eigentlich ein „mehr oder minder bewußtes-NichtwissenaW/ί/ζ", und die Aufgabe der Therapie bestehe eben in der Uberwindung dieser affektiv begründeten Barriere. 24 Im Gegensatz zu den therapeutischen Anfangsjahren macht sich später freilich eine beträchtliche Akzentverschiebung bemerkbar. Mit dem alten Glauben, durch bewußte Aufklärungen über die „wundersame Welt der psychischen Vorgänge" und Appelle an Intellekt und Vernunft den therapeutischen Erfolg wenn schon nicht zu sichern, so doch erheblich zu beschleunigen, wird gebrochen. Als höchst „oberflächlich" empfindet Freud die Vorstellung, der Patient leide bloß an einer „Art von Unwissenheit", und sobald man diese durch Mitteilungen über den Kausalzusammenhang seiner Erkrankung behoben habe, werde er gesund: Nicht dieses Nichtwissen an sich ist das pathogene Moment, sondern die Begründung des Nichtwissens in inneren Widerständen, welche das Nichtwissen zuerst hervorgerufen haben und es jetzt noch unterhalten. In der Bekämpfung dieser Widerstände liegt die Aufgabe der Therapie. [...] Wäre das Wissen des Unbewußten füir den Kranken so wichtig, wie der in der Psychoanalyse Unerfahrene glaubt, so müßte es zur Heilung hinreichen, wenn der Kranke Vorlesungen anhört oder Bücher liest. Diese Maßnahmen haben aber ebensoviel Einfluß auf die nervösen Leidenssymptome wie die Verteilung von Menükarten zur Zeit einer Hungersnot auf den Hunger.25
Der Begriff der analytischen Grundregel läßt sich schließlich — nicht dem Terminus, aber dem Inhalt nach — ebenfalls bis zu den Gründerjahren zurückverfolgen. Als assoziative Methode bzw. als „talking cure", wie Anna O. sie nannte, bildete sie eine therapeutische Innovation, die vor allem in Verbindung mit der „Drucktechnik" erfolgversprechend schien und dem Patienten die Verpflichtung auferlegte, alle Einfälle auszusprechen, die ihm gerade durch den Kopf gingen, „ohne Auswahl, ohne Beeinflussung durch Kritik oder Affekt." 26 1912 dann, als die Drucktechnik längst aufgegeben ist und der Therapeut als reiner Zuhörer hinter der Liegecouch Platz genommen hat, wird Freud diese Vereinbarung erstmals als besagte „Grundregel" bezeichnen und nochmals dahingehend definieren, „daß man ohne Kritik alles mitteilen solle, was einem in den Sinn 24 25
26
Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie G W 1, S. 269 (H. d. V.). Uber ,wilde' Psychoanalyse, STA Egb., S. 139. Diese Einsicht entstammt dem Jahre 1910. Wie aus den Notizen über den „Rattenmann" hervorgeht, hat Freud nur drei Jahre zuvor seinen Patienten freilich selbst noch eine Einführung in die psychoanalytische Theorie gegeben (vgl. Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 2, S. 274). Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, G W 1, S. 280 f.; vgl. Über Psychoanalyse, 1. Vorlesung, G W 8, S. 7.
2. Der exklusive Anspruch der analytischen Therapie
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kommt"27, auch wenn es nebensächlich, bedeutungslos oder unsinnig, aber auch unangenehm und peinlich wirke. Das Wort „Grundregel" ist nicht zufällig gewählt, eben keine Regel unter anderen, sondern ein elementares methodisches Instrument: Es sollte einmal den Einsatz hypnotischer Mittel überflüssig machen und in der geschützten Atmosphäre des therapeutischen Raumes28 doch zugleich gewährleisten, daß die im Alltagsleben ansonsten verbindlichen Kritikund Zensurschranken der seelischen Organisation durch unzensurierte Rede gleichsam überlistet und die Tore zum Unbewußten geöffnet werden. Unbeeindruckt von der sokratischen Selbstbescheidung verlangt Freud vom Patienten nur scheinbar Paradoxes: „Wir wollen von ihm nicht nur hören, was er weiss und vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiss."29
2. Der exklusive Anspruch der analytischen Therapie In der 34. Vorlesung der „Neuen Folge" meint Freud, seine inzwischen ausgereifte Therapie sei zwar „eine unter vielen", letztlich aber doch die „prima inter pares."30 Diverse Überlegungen aus dem Insgesamt seiner Argumentation in Rechnung gestellt, leitet sich dieser Anspruch aus den spezifischen Arbeitsleistungen ab, die dem Patienten und dem Analytiker zugemutet werden. Im Unterschied zur Genügsamkeit der suggestiv tätigen Therapeuten, die von „Heilung" bereits sprechen, wenn bestimmte Symptome des Patienten verschwunden sind, insistiert Freud zunächst darauf, „daß die Beseitigung der Symptome noch nicht die Heilung der Krankheit ist." 31 Gerade die Gefahr der sogenannten Symptomverschiebung, also die Fähigkeit des Patienten, ein erledigtes altes Symptom aisgleich durch ein neues zu ersetzen, zeige ja das Dilemma aller Symptomtherapien auf. Namentlich das hypnotische Verfahren bleibe an der bloßen Oberfläche kleben, weil es das Seelenleben letztlich mehr zu „verdekken und zu übertünchen" suche, während seine Methode in die tieferen Schichten desselben vordringe: „Die erstere arbeitet wie eine Kosmetik, die letztere wie eine Chirurgie. Die erstere benutzt die Suggestion, um die Symptome zu verbieten, sie verstärkt die Verdrängungen, läßt aber sonst alle Vorgänge, die 27 28
29 30 31
Zur Dynamik der Übertragung, STA Egb., S. 167; vgl. Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 99. Bemerkenswerterweise hat Freud (Zur Einleitung der Behandlung, STA Egb., S. 193) die inzwischen klassische Anordnung des therapeutischen Settings selbst noch in Zusammenhang mit den früheren hypnotischen Experimenten gebracht: „Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn, sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich die Psychoanalyse entwickelt hat." Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 99. 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 585. 23. Vorlesung, Die Wege der Symptombildung, STA 1, S. 350.
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Kapitel 12: Starionen der analytischen Psychotherapie
zur Symptombildung geführt haben, ungeändert. Die analytische Therapie greift weiter wurzelwärts an" 32 . „Wurzelwärts" aber bedeutet im idealen Falle, d. h. wenn das „reine Gold" der Analyse sich nicht mit dem „Kupfer" der Suggestion, etwa mit einer sozial gebotenen „Massenanwendung", „legieren" 33 muß, daß dem Patienten nicht nur ein praktischer Nutzen, eine durchgehende Verbesserung seines Befindens, sondern auch ein unschätzbarer Erkenntnisgewinn über die unverstandenen Schicksale seiner Lebensgeschichte in Aussicht steht. Psychotherapie im Sinne einer „Bewußtmachung des Verdrängten" läßt sich dann nachgerade als „Zusammenfallen von Aufklärung und Heilung" 34 definieren, als jene „Bewegung der Selbstreflexion"35, die dem Patienten die Befreiung aus seiner unbewußten „Unmündigkeit" ermöglicht. Daß sich eine solche Selbstaufklärung wesentlich über den Weg psychischer Arbeit zu inszenieren hat, bedarf nach den Ausführungen zu „Übertragung" und „Widerstand" keiner näheren Erläuterung. Freud selbst meint, mit Fug und Recht könne man die Analyse als eine „Art von Nacher^iehung"36 bezeichnen, die der Erkrankte während der Kur vollzieht und deren Ziel sich, so eine weitere Überlegung, an keinen wie immer gearteten Wertvorstellungen des Therapeuten bemessen kann: „Der Kranke soll nicht zur Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen Wesens erzogen werden." 37 Das hohe Anspruchsniveau des analytischen Heilungsverfahrens ist aber gleichzeitig an der veränderten Aufgabenstellung abzulesen, die Freud dem Therapeuten im Laufe der Zeit zuweist. Die ganze Ausrichtung des Unternehmens Psychoanalyse erfährt nämlich, um es auf einen kurzen Nenner zu bringen, ihre schließliche Legitimation dadurch, daß der Platz „hinter" dem Patienten keinem Magier oder Hypnotiseur, keinem Moralisten oder Pädagogen, aber auch keinem Nervenarzt oder sonstigen Mediziner, sondern allein dem Repräsentanten einer 32
28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 433. Freud hat den mißverständlichen Vergleich mit der Chirurgie öfters gezogen. 1895 schreibt er: „Ich habe bei mir häufig die kathartische Psychotherapie mit chirurgischen Eingriffen verglichen, meine Kuren als psychotherapeutische Operationen bezeichnet, die Analogien mit Eröffnung einer eitergefüllten Höhle, die Auskratzung einer kariös erkrankten Stelle u. dgl. verfolgt" (Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, GW 1, S. 311). Mißverständlich ist der Vergleich darum, weil Freud sich später von den hypnotischen „Operationen" bzw. allen reduktionistischen Verfahren der Symptombeseirigung gerade distanzierte und schließlich dem Therapeuten, wie man bald sehen wird, nicht die Funktion eines Operateurs, sondern die eines äußerst zurückhaltenden Beobachters zuweist, was ihn nicht hinderte, an seinem Bild dennoch festzuhalten (vgl. etwa Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 175; Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 243).
33
Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 249. Der Wahn und die Träume in J.Jensens .Gradiva', STA 10, S. 80. Habermas, J., Erkenntnis und Interesse, a. a. O., S. 306. 28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 433. Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 247.
34 35 36 37
2. Der exklusive Anspruch der analytischen Therapie
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neuen wissenschaftlichen Psychologie vorbehalten bleibt. Wie Freud anläßlich des Kurpfuscherprozesses gegen den „wilden" Analytiker Th. Reik aufs nachdrücklichste betont, sei die Psychoanalyse daher kein „Spezialfach" der Medizin; was sie mit ihr, aber nicht mir ihr allein verbinde, sei eben die „Abkunft von der exakten Wissenschaftlichkeit", welche die Analytiker gar „nicht verleugnen"38 könnten. Nun glaubte Freud schon zur Zeit, als er Patienten mit Hilfe eines hypnotischen Kreuzverhörs eine Art Beichte über deren Unbewußtes abrang, im Namen der Wissenschaft sprechen zu dürfen. Aber der „Hokuspokus" mit der Hypnose, dieser reinen „Handlangerarbeit"39, war eben als Irrweg erkannt worden, sodaß sich zwangsläufig revidierte Voraussetzungen für den praktizierenden Psychologen ergaben, sollte das Wort „Wissenschaft" nicht bloßer Etikettenschwindel bedeuten. Zu diesen Voraussetzungen zählt zunächst die unbedingte Redlichkeit des Analytikers dem Patienten, aber auch sich selbst gegenüber. Verlange man von jenem die Aufrichtigkeit, alles zu sagen, was ihm durch den Sinn gehe, also auch die ansonsten verschwiegenen, intimen Dinge des Lebens preiszugeben, so sei es nur recht und billig, wenn der Analytiker seinerseits nicht nur strengste Diskretion wahre, sondern ebenfalls die entsprechende Tugend beherzige und etwa der Versuchung widerstehe, die zärtlichen Gefühle einer Patientin zu erwidern, um ihren akuten Zustand nicht zu verschlimmern. Daß die „psychoanalytische Behandlung auf Wahrhaftigkeit aufgebaut ist" 40 , mache letztlich aber nur Sinn, wenn der Analytiker sich auch vor seinen eigenen psychischen Verblendungen zu schützen vermag. Freud rät den angehenden Therapeuten daher eine Vertiefung der Selbsterkenntnis an, die sich namentlich mit dem Studium der eigenen Träume zu befassen habe.41 Erwartet wird im weiteren, daß jeder Praktiker sich eine fundierte Kenntnis der psychoanalytischen Begriffsbildung angeeignet hat, vor allem der Psychologie des Unbewußten und der „Wissenschaft des Sexuallebens". Und schließlich sollte er, so Freud, mit dem technischen Rüstzeug, mit dem Umgang von „Widerstand" und „Übertragung" vertraut sein und die Kunst der objektiven Deutung beherrschen42, objektiv in dem Sinne, daß er sich vor allen verfrühten Auslegungen hütet und sich mit einem Status anfreundet, der ganz und gar Die Frage der Laienanalyse, Nachwort, STA Egb., S. 343; Psychoanalyse und Telepathie, GW 17, S. 29. 3 9 28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 432. 4 0 Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: III. Bemerkungen über die Ubertragungsliebe, STA Egb., S. 224; vgl. auch Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 280 und 298; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 99. 4 ' Vgl. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, G W 10, S. 59; Über Psychoanalyse, 3. Vorlesung, G W 8, S. 32; Bemerkung zu E. Pickworth Farrow's ,Eine Kindheitserinnerung aus dem 6. Lebensmonat', G W 14, S. 568. 4 2 Vgl. Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 319. 38
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie
dem des Wissenschaftlers gemäß ist: dem der Beobachtung. Die entscheidende methodische Prioritätenverlagerung tritt damit vollends zutage: Aus dem ungeduldigen Interventionisten der frühen Tage ist jetzt ein geduldiger Zuhörer geworden, der mit „gleichschwebende[r]" und „unparteiische[r] Aufmerksamkeit" 43 den Äußerungen des Patienten folgt und sich persönlicher Vorlieben und Abneigungen, ja aller Werturteile überhaupt enthält. Oder mit den berühmten Worten Freuds gesagt: „Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird." 44 Die Rahmenbedingungen einer gewissermaßen experimentellen Versuchsanordnung ziehen auch eine methodische Vorschrift nach sich, der Freud den bezeichnenden Namen Abstinen^regel zuweist. Diese Regel gilt zunächst dem Patienten, sie soll verhindern, daß er die Entbehrungen der Therapie durch voreilige „Ersatzbefriedigungen" außerhalb der Analyse kompensiert oder diese aber in der therapeutischen Situation selbst, in Form unangemessen starker Ubertragungsreaktionen auf den Arzt, befriedigt. In derartigen Fällen fordert Freud „energisches Einschreiten": „Die analytische Kur soll, somit es möglich ist, in der Entbehrung — Abstinenz — durchgeführt werden. [...] Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende finde." Gegenüber den sogenannten „aktiven Methoden", an die sich dann insbesondere der Name Ferenczi knüpft, wird „Abstinenz" aber zwangsläufig auch zu einem Prinzip des Analytikers: Da es nicht dessen Aufgabe sei, den Befriedigungshunger seiner Patienten zu stillen oder für jene Nestwärme zu sorgen, die das reale Leben selbst nicht bieten kann, habe er der Versuchung zu widerstehen, mit wohlwollenden Interpretationen die analytische Situation zu beschönigen oder den Patienten gar zu einem „Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild [...] zu gestalten." 45 Vielmehr solle er sich aller Interpretation eben solange enthalten, bis die Spiegelfunktion ihre Wirkung getan habe, und das heißt: mit einem bestimmten Deutungsvorschlag solange zuwarten, bis der Patient selbst „knapp davorsteht, so daß er nur noch einen kurzen Schritt zu machen hat, um sich dieser Lösung selbst zu bemächtigen." 46 Eine kurze Zwischenbilanz zeigt also eine aufgewertete Position des Patienten, die einhergeht mit der zurückhaltenden, reagierenden Beobachterrolle des Therapeuten. Diese veränderte Konstellation kann freilich über das wesentliche Faktum nicht hinwegtäuschen, daß die ehemalige Souveränität des Analytikers 43
44 45 46
Vgl. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, STA 8, S. 59 (H. d. V); Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 171. Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 178. Vgl. Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 244 ff. Zur Einleitung der Behandlung, STA Egb., S. 200.
2. Der exklusive Anspruch der analytischen Therapie
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nicht nur unangetastet geblieben ist, sondern sich auf subtile Weise sogar verfestigt hat. Denn nunmehr, nach der Verabschiedung aller naiv-aufklärerischen, pastoralen und suggestiven Methoden, ist der Analytiker als zeitgemäße Autorität schlechthin legitimiert: als die Personifikation des wissenschaftlichen Ideals selbst. Nicht zufällig hängt Freud über eine Zeitspanne von 14 Jahren hinweg der Überzeugung an, im Gegensatz zur unbewußt verzerrten Realitätsauslegung des Neurotikers öffne sich dem Analytiker, mit seinen privat betriebenen Traumstudien gegen etwaige Fallstricke der Verkenntnis gewappnet, die Wirklichkeit und speziell die therapeutische so, wie sie tatsächlich ist, unverfälscht und ohne persönliche Beimengungen des Beobachters, also „objektiv" im besten wissenschaftlichen Sinne des Wortes. Erst 1910 stößt man auf eine einschneidende Reflexion, vergleichbar einer kopernikanischen Wendung in der Geschichte des psychoanalytischen Denkens: Freud muß konzedieren, daß alle Erkenntnis sich immer schon um die Achse des Erkennenden selbst dreht, konkreter: daß auch der Analytiker mit seiner ganzen Person, mit all seinen unbewußten Gefühlen und Wertvorstellungen in den therapeutischen Prozeß involviert ist. Die Einsicht in den beständigen Gefahrenherd, daß Vorlieben und Abneigungen des Analytikers unkontrolliert in die Deutungsarbeit einfließen und sich letztlich mit denen des Patienten vermengen, fuhrt zum Begriff der Gegenübertragung. Zunächst glaubt Freud, diesem Hindernis der therapeutischen Neutralitätshaltung mit der Forderung nach verstärkter Selbstanalyse begegnen zu können. Über die Deutung seiner Träume hinaus solle der Analytiker daher auch eine sensible Wahrnehmung der „eigenen Komplexe und inneren Widerstände" entwickeln: „Wer in einer solchen Selbstanalyse nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke analytisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen."47 Indes macht sich schon 2 Jahre danach eine Skepsis breit, die ihrem Kern nach bereits gegenüber W. Fließ artikuliert wurde, dann aber, als die Erforschung eigener Träume Erfolge zeitigte und zur Veröffentlichung der „Traumdeutung" führte, zum Erliegen kam: „Meine Selbstanalyse bleibt unterbrochen", schreibt Freud 1896, „ich habe eingesehen, warum. Ich kann mich nur selbst analysieren mit den objektiv gewonnenen Kenntnissen (wie ein Fremder), eigentliche Selbstanalyse ist unmöglich, sonst gäbe es keine Krankheit."48 1912 findet Freud zu dieser Ansicht zurück, fortan beharrt er darauf, gegenüber den Mängeln isolierter Introspektion bedürfe es in der Tat eines Fremden, d. h. einer „Analyse bei einem Sachkundigen", um die einem selbst verschlossenen Nischen der Psyche kommunikativ aufzubrechen und damit die Unvoreingenommenheit der eigenen therapeutischen Arbeit zu sichern.49 Sehr viel später, in den Jahren 1926/27, 47 48 49
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 126 f. Freud, S., Briefe an W Fließ 1887-1904, a. a. O., S. 305. Vgl. Ratschläge fur den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 176 f.
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie
kommt Freud auf das Thema zurück und weist dem lange mißverständlichen (weil eigentlich als „Fremdanalyse" verstandenen) Terminus „Selbstanalyse" die Bezeichnung Lehranalyse zu, ohne daß sich am Inhalt wesentliches änderte. 50 1937 empfiehlt er schließlich den praktizierenden Therapeuten, sich in periodischen Abständen von etwa 5 Jahren wieder zum „Objekt der Analyse" zu machen, wodurch die Selbsterforschung von einer endlichen zu einer „unendliche^] Aufgabe" würde. 51 Freuds sporadische Äußerungen über die möglichen Beschränkungen der Wahrnehmungsfähigkeit des Therapeuten bezeugen nur, wie wenig diese Thematik geeignet war, an seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis zu rühren. Auch die Rede von ,,unabgeschlossene[r]"52 bzw. „unendlicher" Analyse vermag letztlich nichts daran zu ändern, daß er die Gegenübertragungen des -Analytikers nur als bedauerliche Betriebsunfälle der Erkenntnis in Rechnung zu stellen gewillt war, als bloße Störfaktoren des therapeutischen Unterfangens und nicht, wie Autoren der postfreudschen Ära insistieren, als gewichtiges „Erkenntnisinstrument bei der Erfassung des Unbewußten" selbst.53 Freud ließ kaum Zweifel darüber aufkommen, daß dem Analytiker nach der periodischen Beseitigung seiner möglichen Erkenntniseintrübungen ein ungetrübter Zugang zur Realität wieder offen steht, das wissenschaftliche Objektivitätsideal also frei von Behinderungen wieder inthronisiert ist.
3. Hindernisse und pragmatische Ziele der therapeutischen Arbeit Nur zu deutlich war Freud sich bewußt, daß „Ideale" immer schon im Verdacht stehen, in ein krasses Mißverhältnis zur Realität zu geraten; gewiß nicht das wissenschaftliche Ideal im allgemeinen, das als große Zukunftshoffnung der Menschheit per se die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit suche, und folglich auch nicht oder nicht sosehr das Ideal des Therapeuten im speziellen. Zwar keimt vor allem in seinen letzten Lebensjahren ein Unbehagen auf, auch die psychischen Verkrustungen des Analytikers, seine „Eigenart[en]" und „Abwehrmechanismen" 54 , könnten den Behandlungserfolg in Frage stellen, aber letztlich bleibt es dabei, daß dieser seine nachteiligen Gegenübertragungen mit Hilfe der Lehranalyse zu bewältigen verstehe. Die faktischen Komplikationen im therapeutischen Prozeß rührten somit von der Patientenseite her und zwar in einem 50 51 52 53
54
Vgl. Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 290, 319 und 339. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 389. Ratschläge fur den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 177. Vgl. Shaked, J., Vom .Verhör' zur .teilnehmenden Beobachtung': Statik und Wandel der Analytikerrolle im therapeutischen Prozeß, a. a. O., S. 21. Vgl. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 387 f.
3. Hindernisse und pragmatische Ziele der therapeutischen Arbeit
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Maße, das dem Begründer der Psychoanalyse — seit den unvergeßlichen Zeiten in E. Brückes Laboratorium vor allem vom Bild des unerschrockenen Forschers in Bann gezogen — die mühsehlige praktische Tätigkeit selbst zu verleiden drohte. Immer wieder ringt Freud sich daher Eingeständnisse der Art ab, eigentlich sei er „Therapeut [...] wider Willen geworden", niemals ein „therapeutischer Enthusiast" oder auch „richtiger Arzt" gewesen.55 In einer seiner Vorlesungen erinnert er zunächst daran, die Psychoanalyse habe wohl als Therapie begonnen, aber nicht deswegen wolle er sie dem Publikum ans Herz legen, sondern wegen ihres kritischen Erkenntnisinteresses, „wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt."56 Weil seine Tiefenpsychologie namentlich den Sozialwissenschaften möglicherweise unentbehrliche Hilfen bieten könne, sei der „Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen" auch nur eine ihrer Anwendungen: „Vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist." 57 Mit einem Wort: Nimmt man seine eigenen Präferenzen als Richtschnur, zeigt das vielzitierte .Junktim zwischen Heilen und Forschen"58 eine unverkennbare Schlagseite zu letzterem. Freuds skeptisches Weltbild gibt zunächst jene elementaren Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer sich alle therapeutischen Erwartungshaltungen nolens volens immer schon zu bewegen haben: Wenn dem einzelnen Menschen, der aufgrund des Antagonismus Natur/Kultur prinzipiell „schwer am Leben [zu] leiden" habe, nicht viel mehr übrig bleibe, als dasselbe zu „ertragen" und „Glück" daher nicht zum Bestandteil des Schöpfungsplans zähle59, dann sei realistischerweise auch dem Patienten zuzumuten, daß seine Heilungswünsche nicht zu Heilserwartungen werden, sondern sich mit einem relativ gemäßigten Anspruch bescheiden. So gesehen ist es also das Leben selbst, das die großen Schranken der Therapie setzt und dem Leidenden die „Befreiung und Vollendung seines eigenen Wesens" nur in bestimmten Umfang zu gewähren bereit ist. Aber natürlich hat Freud vor allem die Barrieren der analytischen Therapie selbst vor Augen, wenn er allzugroßer Euphorie widerstreitet. Einmal mußten die Zielgruppen im wesentlichen auf die sogenannten „Übertragungsneurosen" 55
56 57 58 59
Vgl. Freud, S., Briefe an W. Fließ 1887-1904, a. a. O., S. 190; 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 580; Die Frage der Laienanalyse, Nachwort, STA Egb., S. 344. 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 584 f. Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 339. Ebd., Nachwort, STA Egb., S. 347. Vgl. Die Zukunft einer Illusion, STA 9, S. 187, 150; Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 208.
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie
beschränkt und damit bestimmte Erkrankungen, wie etwa Psychosen, von der Behandlung ausgeschlossen werden; auch war einzuräumen, daß die Psychoanalyse hereditären und konstitutionellen Faktoren mehr oder weniger machdos gegenübersteht. 60 Vor allem aber ließ sich die Frage zumindest nicht abweisen, ob der „Bewußtmachung des Unbewußten" nicht auch praktische Grenzen gesetzt seien, ob mit der „Auffrischung alter Zustände" tatsächlich „alles" 61 wiederbelebt werden könne, eine Frage, die bei der Darlegung von Nietzsches Position nochmals zu stellen sein wird. Neben dem überbordenden „Widerstand" des Patienten, seinem unerfreulichen „Agieren" und der Nichtbefolgung der „analytischen Grundregel", neben der langwierigen Behandlungsdauer und einigen hier irrelevanten kasuistischen Details, neben diesen insgesamt doch erheblichen Beeinträchtigungen des Unternehmens Psychotherapie fördert insbesondere „Die endliche und die unendliche Analyse" zusätzliche Erschwernisse zutage. 62 In dieser Schrift, 2 Jahre vor seinem Tode geschrieben und von einem auffallend pessimistischen Grundton durchzogen, führt Freud kaum zu beeinflussende Faktoren ins Treffen: etwa ein quantitatives Übermaß der individuellen Triebausstattung; den „gewachsenen Fels" 63 des Biologischen, der es unsicher erscheinen lasse, ob der in jedem Einzelnen tobende Kampf der Geschlechter wirklich zureichend erhellt werden könne; schließlich aber ein schon länger bekanntes Haupthindernis: die sogenannte „negative therapeutische Reaktion", d. h. ein übermächtiges Strafbedürfnis des Patienten sich selbst gegenüber, das sich als Leidenwollen um jeden Preis äußert, wobei an anderer Stelle offen bleibt, ob man diese Reaktion nun als eine von der Außenwelt nach innen gewendete Aggression oder als Produkt der ,,stumme[n] und unheimliche[n]" Arbeit des Todestriebes selbst auffassen dürfe. 64 Die hier in starker Verdichtung erwähnten Schwierigkeiten der analytischen Therapie sollen indes nicht den Eindruck erwecken, als ob Freud seine Methode als nachgerade hilflos erachtet hätte, im Gegenteil: Noch 1932, als wesentliche Restriktionen der Therapie bereits offen zutage lagen, beharrt er darauf, im Vergleich mit anderen Verfahren sei die „Psychoanalyse das über jeden Zweifel mächtigste." Aber die -wissenschaftliche Redlichkeit gebot eben auch, die Grenzen des Heilverfahrens aufzuzeigen, oder von der anderen Seite her: sich seriöserweise mit einer Reihe von pragmatischen Therapiezielen zu begnügen. Freud
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62
63 64
Vgl. oben S. 417 f. Vgl. 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 582. Vgl. Die endliche und die unendliche Analyse, Kap. III-VIII, STA Egb., S. 3 6 4 - 3 9 2 ; zum Themenkomplex vgl. auch 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 5 8 0 - 5 8 5 . Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 392. Vgl. 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 541 f.
3. Hindernisse und pragmatische Ziele der therapeutischen Arbeit
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besaß Realitätssinn und Humor genug, um sich einzugestehen, daß seine Heilerfolge es ohnedies nicht „mit denen von Lourdes aufnehmen können."65 Tatsächlich wäre ihm auch ein Wort wie Nietzsches „grosse Gesundheit" suspekt gewesen. Es ist bereits des näheren angesprochen worden, daß aufgrund der Affinität „zwischen normalem und neurotischem Seelenleben" die Begriffe Gesundheit und Krankheit wesentlich als praktische, quantitative Variablen zur Diskussion stehen, denn theoretisch gesehen, so Freud, seien wir „alle krank, d.i. neurotisch".66 Nüchtern betrachtet bemesse sich der Erfolg der Therapie daher danach, ob dem Patienten ein „genügendes Maß von Genuß- und Leistungsfähigkeit verblieben ist." 67 Man könne auch sagen, Ziel der therapeutischen Kur sei es, über die Aufhebung der Widerstände und Verdrängungen dem Kranken eine weitgehende „Stärkung seines Ichs" in Aussicht zu stellen, „ihm den psychischen Aufwand für innere Konflikte zu ersparen, [...] und ihn so nach Möglichkeit leistungs- und genußfähig zu machen. Die Beseitigung der Leidenssymptome wird nicht als besonderes Ziel angestrebt, sondern ergibt sich bei regelrechter Ausführung der Analyse gleichsam als Nebengewinn."68 Anstatt die seelischen Konflikte durch einen „Fluchtversuch"69 zu erledigen, d. h. auf eine mit hohem Energieeinsatz verbundene unterirdische Art der Befriedigung auszuweichen, habe der Patient vielmehr Schritt für Schritt darauf hinzuarbeiten, den unmittelbar erhofften Lustgewinn gegen einen aufgeschobenen, aber „besser abgesicherten" einzutauschen und so jenen „Fortschritt vom Lustprin^ip ^um Realitätsprinayp [zu] machen, durch welchen sich der reife Mann vom Kinde scheidet." 70 Einem kardinalen Mißverständnis komme es daher auch gleich, wenn wider besseres Wissen ständig behauptet werde, die Psychoanalyse rede einer ungezügelten Sexualität das Wort. Vielmehr solle sich der Patient nach eigenem Ermessen „zu irgendeiner mittleren Position zwischen dem vollen Ausleben und der unbedingten Askese entschließen". Und überhaupt: Da die Therapeuten keine ,,fanatische[n] Hygieniker" seien, nicht einmal „Reformer, sondern bloß Beobachter"71 möchte er dringend davor warnen, dem Patienten eine extreme Gesinnung aufzudrängen: Die psychoanalytische Erziehung nimmt eine ungebetene Verantwortung auf sich, wenn sie sich vorsetzt, ihren Zögling zum Aufrüher zu modeln. Sie hat das
65 66 67 68 69 70 71
Vgl. 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 581. Vgl. oben S. 409 f. 28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 439 (H. d. V.). .Psychoanalyse' und JJbidotheorie', GW 13, S. 226 f. Vgl. Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 295. Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, STA 10, S. 231 f. VgJ. Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 131; 27. Vorlesung, Die Übertragung, STA 1, S. 418 (H. d. V.).
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Kapitel 12: Stationen der analytischen Psychotherapie ihrige getan, wenn sie ihn möglichst gesund und leistungsfähig endäßt. In ihr selbst sind genug revolutionäre Momente enthalten, um zu versichern, daß der von ihr Erzogene im späteren Leben sich nicht auf die Seite des Rückschritts und der Unterdrückung stellen wird. Ich meine sogar, revolutionäre Kinder sind in keiner Hinsicht wünschenswert. 72
Zuletzt hält Freud es mit einem Friedrich dem Großen zugeschriebenen Motto. Da Glück eben nicht als Faktor des Weltenlaufes vorgesehen sei, sich vielmehr auf ein Problem der „individuellen Libidoökonomie" reduziere, versuche er erst gar nicht, die philosophische Frage nach dem „Zweck des menschlichen Lebens" aufzuwerfen: „Es gibt hier keinen Rat, der fur alle taugt; ein jeder muß selbst versuchen, auf welche besondere Fasson er selig werden kann." 73
72 73
34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 579. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 207 f., 215.
Kapitel 13 Voraussetzungen und Konsequenzen der Therapeutika Nietzsches 1. Das ärmliche Interesse Quer durch die verschiedenen Phasen seiner intellektuellen Entwicklung hält sich die Grundüberzeugung Nietzsches, die gegenwärtige Kultur bzw. deren Produkt, der „moderne Mensch", sei von besorgniserregenden Lebens- und Erkenntniskrankheiten befallen, wenn nicht von einem heimlichen Willen zum Untergang infiziert. Sei es nun der philisterhafte Glaube an den Wert der humanistischen Bildung, der sich unfähig zeige, die entsetzlichen Quellen alles Höheren überhaupt wahrzunehmen, wie der Philologe anfangs beklagt; sei es das Unvermögen zu einer wissenschaftlichen Betrachtung des Lebens im allgemeinen und zur psychologischen und moralkritischen im speziellen, wie Nietzsche in seiner mittleren Periode bedauert; sei es schließlich die sträfliche Ignoranz gegenüber dem selbstzerstörerischen nihilistischen Grundsyndrom — noch jedesmal stellt sich ein Appell an die akute oder prophylaktische Aufgabenstellung der medizinischen Zunft ein, als deren Bündnispartner Nietzsche sich zunehmend versteht. Ausdruck dieser Verbundenheit sind diverse Notizen, Aphorismen und längere Reflexionen zum Thema Arzt, auf die hier nur stichwortartig zu verweisen ist: Bereits 1872/73 findet sich ein Plan als „Seitenstück" zur „Geburt der Tragödie" mit dem Titel: „Der Philosoph als Ar%t der Cultur." Wo, fragt Nietzsche angesichts der „Verworrenheit in der modernen Seele" wenig später, sind „die Arzte der modernen Menschheit [·•·]?", wie ist es eigentlich um die Zukunft des Arztes" bestellt? In der „Morgenröthe" wiederum stößt man auf den Hilferuf: „Wo sind die neuen Arge der Seele", die endlich die „unerhörte Quacksalberei an den Pranger" stellten, mit der unter „herrlichsten Namen" die Seelenkrankheiten bisher behandelt worden seien. ,,Zur Pflege der Gesundheit" — ein Motto aus derselben Schrift — bedürfe es insbesondere neuer Ärzte, die das Wissen um die Moral zu einem „Stück ihrer Heilkunst" verwandelten. Was fehle, moniert Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft", sei auch der Typus „philosophischer Ar%t", der entschieden Schluß mache mit den bisherigen Irrtümern der Philosophen, der erkenne, daß es sich noch bei allem Philosophieren nie um „Wahrheit", sondern um etwas anderes gehandelt habe, nämlich um „Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben." Namentlich aber werde nunmehr eine ,¿Moralfür Arçte" selbst unabdingbar, eine höchste Verantwortlichkeit
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Kapitel 13: Die Therapeutik Nietzsches
für die Interessen des „aufsteigenden Lebens", wie in der „Götzen-Dämmerung" insistiert wird. 1 Nietzsches Postulat eines neuen ärztlichen Ethos war fraglos durch seinen biographischen Hintergrund mitbestimmt. Vor allem die Briefe an Mutter und Schwester, aber auch an die engeren Freunde wie F. Overbeck und H. Köselitz zeugen von einer Leidensgeschichte, die nicht zu Ende zu kommen schien. Indes konnte und wollte er einen solchen Hintergrund auch coram publico nicht leugnen, zumal gerade aus ihm ein methodisches Werkzeug herauswachsen sollte. Was Thomas Mann später als Großtat Nietzsches rühmen wird, nämlich die Krankheit als „Erkenntnismittel" eingesetzt zu haben und darin zu einem Vorläufer Freuds geworden zu sein2, läßt sich unschwer mit Leitsätzen des Gerühmten selbst belegen: So empfiehlt er, die „Krankheit an den Pflug [zu] spannen" 3 , zumal der „Nutzen der Kränklichkeit" nicht nur im bewußten Genuß des späteren Gesundseins liege, sondern auch in einem „geschärften Sinn für Gesundes und Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen und fremden" 4 . Ja, es dürfe gefragt werden, ob der „grosse Schmerz" nicht letztlich ein „Befreier des Geistes" sei, ein Zwang für „uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsere Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz .verbessert' — ; aber ich weiss, daß er uns vertieft,"5 Das anvisierte Heilverfahren selbst unterscheidet sich nun schon dem -Ansatz nach von jenem Freuds: Im Gegensatz zur interaktiven Therapie der Psychoanalyse denkt Nietzsche vornehmlich an eine Selbsttherapie des Individuums, und auch hier spielen die eigenen leidvollen Erfahrungen natürlich eine nicht unbeträchtliche Rolle. Wie er offenmütig bekennt, sei er als ,yAr%t und Kranker in Einer Person " geradezu gezwungen worden, neue Wege der Genesung zu betreten. 6 Es beleidige daher seinen Stolz, wenn man ihm, der sich nicht zuletzt mit der entsprechenden wissenschaftlichen Literatur auseinandergesetzt habe, dauernd „neue Kuren" anrate, wie dies Mutter und Schwester tun würden. Gerade solche Kuren und Methoden hätten nämlich seinen Zustand weit eher verschlimmert denn gebessert, er bitte also, wie er in einem Brief vom Juli 1881 1
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Nach der Reihenfolge der Zitate vgl. Nachlaß Winter 1 8 7 2 - 7 3 , 23 [15], KSA 7, S. 545 und KSB 4, S. 132; Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 345 f.; Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 203 f.; Morgenröthe, KSA 3, S. 56, 176 ff.; Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur Neuausgabe von 1887, KSA 3, S. 349; Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 134. Mann, Th., Freud und die Zukunft, a. a. O., S. 136. Nachlaß Frühling-Sommer 1878, 28 [30], KSA 8, S. 508. Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 522. Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur Neuausgabe von 1887, KSA 3, S. 350. Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede zur Neuausgabe von 1886, KSA 2, S. 375 (H. d. V.).
1. Das ärztliche Interesse
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an seine Familie schreibt, in dieser Sache um etwas mehr Zurückhaltung: „Bis jetzt bin ich erst 2 Jahre in meiner Behandlung, und wenn ich Fehler gemacht habe, so lag es immer daran, daß ich dem eifrigen Zureden Anderer endlich nachgegeben habe [...] Aber ich will durchaus mein eigner Arzt nunmehr sein, und die Menschen sollen mir noch nachsagen, daß ich ein guter Arzt gewesen sei — und nicht nur für mich allein."7 Aus diesem doppelten Zugang zum Phänomen der Krankheit resultiert nicht nur eine Sensibilität für die organischen Ursachen allen Leidens, sondern ebensosehr jene extrem geschärfte Wahrnehmung für die Abgründe der Seele, die Freud als niemals erreichte und wahrscheinlich auch nie mehr erreichbare Fähigkeit zur Introspektion apostrophieren wird.8 Einmal mißtrauisch geworden gegen seinen angestammten philologischen Fachbereich, definiert Nietzsche seine Tätigkeit in der Tat schon bald als die eines Psychologen bzw. Physio-Psychologen. Dabei werden technische Instrumentarien, wie sie die Psychoanalyse in ihrem dialogischen Verfahren dann entwickelt (etwa die Handhabung von „Übertragung" und „Widerstand"), zwar naturgemäß nicht zur Diskussion gestellt; gleichwohl wird etwa der Widerstand als elementares Hindernis der psychologischen Erkenntnis und Selbsterkenntnis durchaus aufgespürt: „Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. [...] Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ,das Herz' gegen sich"9. In dieser Überlegung ist, um einen Terminus Freuds zu paraphrasieren, auch die „analytische Grundregel" jeder kompromißlosen Psychologie enthalten: Ein Psychologe, wie er Nietzsche vor Augen schwebt, ein „geborene [r] Psychologe [...] und Freund der .grossen Jagd'", ein „unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather", ein „Nierenprüfer" und „Nussknacker der Seele"10, habe eben vor nichts so sehr auf der Hut zu sein wie vor den Fallstricken der Moral, oder in den Worten der „Genealogie": „Ein Psychologe nämlich hat heute darin, wenn irgend worin, seinen guten Geschmack [...], dass er der schändlich vermoralisierten Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne Urtheilen über Mensch und Ding angeschleimt ist." 11 Dazu wie zur „Kunst der psychologischen Zergliederung" überhaupt bedürfe es daher harter, einschneidender Methoden. Ganz ähnlich wie bei Freud, der den Chirurgen bzw. die Chirurgie 7
8 9 10
11
KSB 6, S. 103; vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 100 f., wo Nietzsche in Anspielung auf das biblische Wort „Arzt, heile dich selbst" (Lukas 4, 23) seine Titelfigur sagen läßt: „Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch." Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 38. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 65 und 222; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 560; Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 358. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 385.
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zum Vorbild der Psychoanalyse erhebt — tatsächlich findet sich der Ausdruck „Chirurgie der Seele" auch bei Nietzsche12 —, heißt es, dem Menschen könne nunmehr der „grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen [...] nicht erspart" bleiben.13 Und durchaus bezeichnend ist, daß Nietzsches einmal entfachte Leidenschaft zur Physio-Psychologie bzw. Chirurgie der Seele auch in seinen Mußestunden ungebrochen blieb. So teilt er seinem Freund Overbeck im März 1885 mit, er habe zur Erholung wieder einmal die „Confessionen des h Augustin" gelesen, um dann zu diagnostizieren: „Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht! [...] Welche psychologische Falschheit (zb. als er vom Tode seines besten Freundes redet, mit dem er Eine Seele gewesen sei, ,er habe sich entschlossen, weiter zu leben, damit auf diese Weise sein Freund nicht gamζ sterbe'. So etwas ist ekelhafi verlogen.) [...] Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen."14
2. Zur Bewußtmachung des Unbewußten Dieses Thema gibt Freud durch sein Leitmotiv zwangsläufig vor. Im Vergleich mit der metapsychologischen Betrachtung der Psychoanalyse darf zunächst generell festgehalten werden, daß Nietzsche im Rahmen seiner Annäherung an den Komplex „Wille zur Macht" zwar auf das dynamische und quantitative Kräftespiel15 innerhalb der unbewußten psychosomatischen Gesamtorganisation und vor allem dessen Beziehung zur Instanz des Bewußtseins abstellt, freilich nicht explizit auf jene Struktur des Unbewußten, die Freud behauptet: „ ,Unbewußt' ist der weitere Begriff, .verdrängt' der engere. Alles was verdrängt ist, ist unbewußt; aber nicht von allem Unbewußten können wir behaupten, daß es verdrängt sei."16 Im wesentlichen sind es verschiedene, teils auch miteinander verschlungene Bedeutungen, die Nietzsche dem Begriff im Laufe der Zeit zuweist. Verkürzt gesagt und auf tragende Elemente desselben beschränkt, gilt das Unbewußte anfanglich als „schöpferisches"17, als ein dem „Sokratismus" gegenläufiges Prinzip des Lebens, aber ebenso etwa als der „mörderische" Unterbau des menschli12 13 14 15 16
17
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [164], KSA 13, S. 348. Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 57 und 59; vgl. oben S. 2 5 7 - 2 5 9 . KSB 7, S. 34; vgl. Der Antichrist, KSA 6, S. 248. Vgl. unten S. 6 3 0 - 6 3 5 . Der Wahn und die Träume in W.Jensens .Gradiva', STA 10, S. 47; unter dem Gesichtspunkt der späteren Metapsychologie vgl. insbesondere Das Ich und das Es, STA 3, S. 287 ff. Vgl. etwa Socrates und die Tragoedie, KSA 1, S. 542.
2. Zur Bewußtmachung des Unbewußten
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chen Bewußtseins.18 Zunehmend präzisiert sich der Begriff indes in Richtung fundamentaler Triebkräfte bzw. eines höchst facettenreichen leiblichen Machtwillens und zugleich als ein selbst noch problematisches „Es" des Denkens, von dem das Ich gedacht werde.19 Aber das Unbewußte steht psychologisch sowie individual- und kulturgeschichtlich auch als Verdrängung zur Disposition, nur daß Synonyme wie etwa „Verneinung", „Verleumdung", „Verketzerung" der Triebe diesen Terminus zumeist ersetzen.20 Nietzsches Hellhörigkeit gegenüber dem Phänomen des Unbewußten ist bekanntlich stark von der Auseinandersetzung mit Schopenhauer geprägt. Im Unterschied zur Spätphilosophie, die mit rigoroser Kritik an dessen Gesamtkonzeption nicht spart21, läßt sich die Position bis inklusive der mittleren Periode, um die es in diesem Abschnitt zu tun ist, eher mit einem allmählichen, wehmütigen Abschiednehmen als einem heftigen Bruch vergleichen. Insbesondere die Hauptfrage, ob der „blinde Drang" des Lebenswillens wirklich erfaßt werden könne, findet vorderhand keine definitive Antwort, vielfach ist es ein Hin- und Herwägen und Abtasten von Argumenten, das letztlich zwar zugunsten der Skepsis Partei ergreift, aber eine gewisse schwankende Haltung durchaus nicht verhehlen will. Vergegenwärtigen wir uns also einige wenige, teils bekannte22 Psychologica bis zur „Fröhlichen Wissenschaft", um dann die Position Nietzsches zur Bewußtmachung des Unbewußten bzw. Verdrängten als einer Erkenntnis- und Heilmethode zu erfragen. Jeder kenne den „sonderbaren Zustand", so ein Aphorismus aus „Schopenhauer als Erzieher", wenn sich „plötzlich unangenehme Erinnerungen"23 aufdrängten und wir mittels heftiger „Gebärden und Laute" bemüht seien, „sie uns aus dem Sinn zu schlagen"; aber diese selbst ließen erraten, daß wir uns alle in einem Zustand der „Furcht vor der Erinnerung" befinden würden. Ähnlich eine Passage in „Menschliches, Allzumenschliches"24, derzufolge man sich aus Selbstdünkel fortwährend mit der Illusion einer strahlenden Vergangenheit umschmeichle und in diesem Selbstbetrug sich die wirkliche Vergangenheit „absichtlich aus dem Sinn" schlage. Gerade die Lehrer der Moral riefen eine „eigenthümliche Krankheit" hervor, so „Die fröhliche Wissenschaft", denn mit der Aufforderung, die „natürlichen Regungen und Neigungen" in die Gewalt zu bekommen, erwirkten sie ein Gefühl im Menschen, als ob seine Selbstbeherrschung in beständiger Gefahr wäre; und so dürfe er sich „keinem freien Flügel18 19 20 21 22 23 24
Vgl. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 877. Vgl. unten S. 6 8 4 - 6 9 3 . Vgl. oben S. 425 f. Vgl. oben S. 2 7 2 - 2 7 5 . Vgl. oben S. 375 f. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 379 (H. d. V.). Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 397.
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Kapitel 13: Die Therapeutik Nietzsches
schlage mehr anvertrauen, sondern steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen sich selbst, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat." 25 Aufgrund verschiedener, allesamt nicht hinterfragter Umstände — Kindheitserziehung, sogenannte Notwendigkeiten des Berufslebens, Eitelkeiten usw. — sei es mit dem delphischen Gebot der Selbsterkenntnis daher ausgesprochen schlecht bestellt: „ Jeder ist sich selber der Fernste' — das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch .erkenne dich selbst' ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit." 26 Somit liegt auf der Hand, die bewußte Erkenntnis bzw. Selbsterkenntnis als adäquates Mittel gegen die dunkel gebliebenen und „unangenehmen" Stellen der Vergangenheit in Anwendung zu bringen. In der Tat freundet sich Nietzsche mehrfach mit einem solchen Gedanken an, etwa in einer Hommage an Schopenhauer, in der ganz allgemein auf das beständige unbewußte Gefangensein des Menschen in seiner tierischen Existenz verwiesen wird; aber es gebe eben „Augenblicke, wo wir dies begreifen", wo die Eintrübungen und Wolken der Erkenntnis gleichsam „zerreissen" und den Menschen über sein animalisches Wesen hinausheben würden. 27 Und auf den möglichen Gang der Geschichte übertragen: Während der Mensch sich früher eher „unbewusst und zufällig" entwikkelt habe, stehe ihm nunmehr der Zugang zu einer bewußten Daseinsaneignung offen: „Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, — er ist möglich,"28 Vor allem setzt Nietzsche jetzt auf die Methode der Wissenschaft — seit „Menschliches, Allzumenschliches" auch essentiell als historisches Denken begriffen —, von der die Heilung der Krankheit „Selbstverkenntnis" erhofft wird: „,Erkenne dich selbst' ist die gan^e Wissenschaft. — Erst am Ende der Erkenntniss aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben." 29 Zuletzt darf nochmals jene kardinale Überlegung von 1870/71 in Erinnerung gerufen werden, auf der die späteren Reflexionen ja wesentlich aufbauen: „Alle Erweiterung unsrer. Erkenntniß entsteht aus dem Bewußtmachen des Unbewußten." 30 Indes stellen sich von Anfang an zugleich erhebliche Zweifel an dieser Position ein, die auch in der Hochblüte der „aufklärerischen" Phase nicht verebben wollen. Noch im selben Jahr 1871 notiert Nietzsche, der „,Wille' Schopenhauers" sei auch bei „genauester Selbstprüfung" seinem Wesen nach nicht zu er25 26 27 28 29 30
Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 543. Vgl. ebd., S. 560 ff. Vgl. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 378; vgl. ebd., S. 340 f. Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 45. Morgenröthe, KSA 3, S. 53. Nachlaß September 1870-Januar 1871, 5 [89], KSA 7, S. 116.
2. Zur Bewußtmachung des Unbewußten
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gründen oder zu entziffern31, und es wäre auch gar nicht zu erwarten, wie es ein Jahr darauf heißt, daß „der Mensch sich gan% erkennt"32. Weil er sich eben ausgesprochen gut „gegen Auskundschaftung und Belagerving durch sich selber" verteidige, bleibe ihm auch die „eigentliche Festung [...] unzugänglich, selbst unsichtbar", höchstens, daß „Freunde und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinfuhren"33, — ein kleiner Wink, der, wenn man so will, auf die Möglichkeit der Fremdanalyse verweist und darin eine verbesserte Objektivität gegenüber der Selbsterforschung andeutet. Im Tenor ähnlich ein Gedicht aus „Scherz, List und Rache": Ich kenne mancher Menschen Sinn und weiss nicht, w e r ich selber bin! Mein Auge ist mir viel zu nah — Ich bin nicht, was ich seh und sah. Ich wollte mir schon besser nützen, K ö n n t ' ich mir selber ferne sitzen. 3 4
Vor allem „Morgenröthe" und „Fröhliche Wissenschaft" bilden eine Fundgrube von Erkenntnissen bzw. Metaphern, die allesamt den Verdacht nähren, ein Zugang zum Wesen oder „An sich" des Unbewußten bleibe zuletzt versperrt. So sei der „angebliche Kampf der Motive", der den bewußten Handlungen vorausgehe, etwas „für uns völlig Unsichtbares". Niemand, selbst der „liebe Gott" wisse nicht, was es mit den „verborgene[n] Gärten und Pflanzungen in uns" auf sich habe. Zwar könne man auf ein „verborgenes Feuer" raten, aber nachgerade „lächerlich" erscheine der Versuch, „es definiren zu wollen."35 Mit der einmal konstatierten, gleichwohl nicht direkt faßbaren Macht des Unbewußten geht für Nietzsche also zwangsläufig die Einsicht von der Ohnmacht des Bewußtseins bzw. bewußt geglaubten Handelns einher. In diesem Zusammenhang werden im vielzitierten Aphorismus 109 der „Morgenröthe" folgende 6 prinzipielle Methoden der Triebbearbeitung bzw. -bekämpfung zunächst aufgezählt: das Vermeiden von bestimmten Anlässen, die Befriedigung erwarten lassen; die Reglementierung der Triebe; die Triebübersättigung, um mit dem daraus resultierenden Ekel Macht über den Trieb zu gewinnen; die Assoziation zu einem mit dem Trieb verbundenen „quälenden Gedanken"; die Umleitung der Triebe in andere Bahnen („Dislocation" der Kraftmengen) und endlich das nicht ungefährliche Un-
31 32 33
34 35
Vgl. Nachlaß Frühjahr 1871, 12 [1], KSA 7, S. 360 f. Nachlaß Sommer 1872-Anfang 1873, 19 [48], KSA 7, S. 434. Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 318 f.; vgl. auch Nachlaß April-Juni 1885, 34 [9], KSA 11, S. 425. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 358. Nach der Reihenfolge der Zitierung vgl. Morgenröthe, KSA 3, S. 119; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 381; Nachlaß Herbst 1880, 6 [305], KSA 9, S. 276; vgl. auch Morgenröthe, KSA 3, S. 108 f.
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terfangen einer allgemeinen Schwächung der leiblich-seelischen Gesamtorganisation. Nietzsche schließt nun: „Daß man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen will, steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines anderen Triebes, welcher ein Rival dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält" 36 . Der wesentliche (und die gegenläufigen Passagen letztlich überwuchernde) Gedanke dieser Zeit, in der die Idee des Willens zur Macht erst sehr vage Konturen annimmt 37 , ist also, daß man wohl einen unbewußten Triebkampf vermuten dürfe, die Erkenntnis aber nicht zur Trieberkenntnis fortschreite: Wie weit Einer seine Selbstkenntnis auch treiben mag, Nichts kann doch unvollständiger sein, als das Bild der gesammten Triebe, die sein Wesen constituiren. Kaum dass er die gröberen beim Namen nennen kann: ihre Zahl und Stärke, ihre Ebbe und Fluth, ihr Spiel und Widerspiel unter einander, und vor Allem die Gesetze ihrer Ernährung bleiben ihm ganz unbekannt.38
3. Der Leib als „große Vernunft" Die These, menschliche Erkenntnis dringe nicht bis zur Trieberkenntnis vor, erfährt eine entscheidende Revision, als Nietzsche entdeckt: „Unsere Triebe sind reduzirbar auf den Willen %ur Macht. Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen." 39 Die Unzweideutigkeit solcher und ähnlicher Wendungen zwingt ihn bald dazu, die Beseitigung von Mißverständnissen zu einem Bestandteil der Argumentation selbst zu machen. Einerseits gilt ihm der Machtwille zwangsläufig nicht als Trieb unter anderen, wie er etwa von Freud unter dem Namen „Bemächtigungstrieb" als ein von der Sexualität relativ autonomer Partialtrieb zunächst begriffen und dann in die späte dualistische Triebkonzeption eingebunden wird. Andererseits ist er aber auch nicht als „der" oder der „eine" oder der „unmittelbare" Wille gedacht, sondern als Agens unterschiedlichster, ja gegensätzlichster Kräfte-Konstellationen. Daraus schließt Nietzsche, daß sogenannte Grundtriebe wie Selbsterhaltungs-, Sexual- und Destruktionstriebe ihrerseits nur diverse Ausgestaltungen des Willens zur Macht sind. Die „Einheit" der Trieborganisation erweist sich demnach als in sich different, in ihr vollzieht sich — Nietzsche folgt hier auch Thesen der Entwicklungs36 37
38 39
Vgl. Morgenröthe, KSA 3, S. 96 ff. Vgl. etwa den Aphorismus 13 der „Fröhlichen Wissenschaft" mit dem Titel „Zur Lehre vom Machtgefuhl", KSA 3, S. 384 ff.; vgl. Nachlaß Sommer 1880, 4 [170 ff.], KSA 9, S. 144 ff. Morgenröthe, KSA 3, S. 111. Nachlaß August-September 1885, 40 [61], KSA 11, S. 661.
3. Der Leib als „große Vernunft"
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mechanik von W Roux — der beständige Kampf zwischen einzelnen, nach Macht strebenden „Teilen".40 Bekanntlich war der „Mensch unter der Haut" bereits in den vorzarathustrischen Werken zur Diskussion gestellt worden, etwa in der Vermutung, unsere Vernunfturteile oder auch Traumauslegungen seien möglicherweise nur ein Uberbau der Physiologie, das Bewußtsein selbst ein „mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text"41. Aber erst in „Zarathustra" erhält die „terra incognita"42 prägnante Namen und gegenüber der Bewußtseinsinstanz den Status einer höheren Intelligenz zugesprochen: Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne [...] Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft [...] „Ich" sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, — dein Leib und seine grosse Vernunft [...] Hinter deinen Gedanken und Gefühlen [...] steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser — der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.43
Am „Leitfaden des Leibes" (so auch der Titel einer Abhandlung von Schipperges 44 ) unternimmt Nietzsche, wie noch näher zu zeigen ist, immer neue Anläufe zur theoretischen Begründung einer Synthese von Macht- und Leibphilosophie. Trotz der Komplexität des Themas gerät die eigentliche Argumentationsrichtung freilich niemals in Vergessenheit: die Abrechnung mit den „ Verächtern des Leibes", wie die berühmte Rede des Zarathustra zur „großen Vernunft" überschrieben ist. Im unmittelbar zuvorliegenden, gewissermaßen einführenden Abschnitt „ Von den Hinterweltlern" finden sich denn auch kaum verklausulierte Anspielungen auf zwei Strömungen der Leibverachtung: einmal und vor allem auf die christliche Tradition und deren Hinterwelt, d. h. auf eine „himmlische" Stätte der Erlösung, von der aus unsere Welt des Begehrens in Bann getan werde.45 Im weiteren aber auf den Pessimismus Schopenhauers, der die Leib- bzw. Willenswelt, so die detailliertere Erklärung im Spätwerk46, nur deshalb zu einer Art Ungeheuer anwachsen habe lassen, um diese in der Folge umso entschiedener verneinen zu können, um in einer Welt unsagbaren Leidens endlich Befreiung und „Gnade" in einer anderen, einer Welt des Nicht-mehr-Wollens zu finden.
40 41 42 43 44
45 46
Vgl. oben S. 221, 3 2 6 - 3 2 8 und unten S. 6 2 5 - 6 3 0 , 651 f. Morgenröthe, KSA 3, S. 113; vgl. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 422 ff. Nachlaß November 1882-Februar 1883, 5 [31], KSA 10, S. 225. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 39 f. (H. d. V.). Schipperges, H., Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975; zu Nietzsches Motto vgl. etwa Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [35], KSA 11, S. 565; Nachlaß Juni-Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 578. Vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 35 ff. Vgl. oben S. 2 7 2 - 2 7 5 .
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Kapitel 13: Die Therapeurik Nietzsches
Nicht unabhängig davon stellt sich in den Schriften nach „Zarathustra" eine nun rigorose bis polemische Kritik an den augenscheinlich höheren, „wahren" bzw. theologischen Welten der Philosophie seit Piaton ein; aber auch eine an den mehr versteckten, wie Nietzsche sie etwa bei Kant ortet, der mit seiner Dichotomie von „Ding an sich" und „Erscheinung" bzw. den Postulaten der praktischen Vernunft einer unergründlichen eigentlichen Welt bzw. „Gott" die „Hinterthür" von neuem geöffnet habe, was ihn zuletzt als „Theologen" und „hinterlistigen Christen" endarve. 47 Nietzsche wird sich schließlich als „philosophischer Ar%t" fragen, ob die obersten Werte der Philosophie nicht überhaupt der ,,unbewusste[n] Verkleidung physiologischer Bedürfnisse" gedient hätten, d. h. nur eine „Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes" gewesen seien, in einer „milderen Form" vielleicht vergleichbar mit den Werten der „Geisteskranken und Neurastheniker". Jedenfalls aber lasse sich sagen: „[...] aller philosophische Idealismus war bisher Etwas wie eine Krankheit" 48 .
4. Therapeutische Konsequenzen 4.1. „Amor fati" oder das „Realitätsprinzip" Nietzsches „Hinterwelten", „Idealismus" und namentlich die moralische „Kettenkrankheit" 49 geben die Stichworte ab für jene bereits angedeutete „analytische Grundregel" Nietzsches bzw. seine philosophisch-therapeutische Maxime, der Mensch habe dieses sinnliche Dasein in der ganzen Faktizität bzw. „Unschuld" zu bejahen. Was den Menschen nämlich allein rechtfertige und ewig rechtfertigen werde, sei eben die Realität selbst, der „Reichthum an Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels". Der Anspruch der Moralisten, „der Mensch sollte anders sein", klinge nachgerade armselig gegenüber dem „wirkliche [n]", dem nichtimaginierten Menschen, der allen Respekt verdiene im Vergleich mit irgendeinem „gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen [...] idealen Menschen" 50 . Die Ächtung dieses fiktiven Menschen und seiner Welt bzw. Hinterwelt, wie sie vor allem dem späten Opus zueigen ist, kann in ihrer Begründung auf die bereits 1881 anhebende Philosophie der Affirmation und deren radikalsten Gedanken zurückgreifen: „Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnun47
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49 50
Vgl. Der Antichrist, KSA 6, S. 176 f.; Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 79 und 121; Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 405. Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur Neuausgabe von 1887, KSA 3, S. 348; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [65], KSA 13, S. 250; Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 624. Dieser Ausdruck entstammt bereits Menschliches, Allzumenschliches II (vgl. KSA 2, S. 702). Vgl. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 86 f. und 131.
4. Therapeutische Konsequenzen
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gen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! — Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran."51 Basisargumente und Implikationen des Wiederkehrsgedankens sind bei verschiedenen thematischen Anlässen bereits zur Diskussion gestellt worden. Insofern mag es genügen, sich in nuce auf drei wesentliche, miteinander auch verflochtene Aspekte zu beschränken, die dem Individuum seine therapeutischen Grundziele gewissermaßen vorschreiben, jedenfalls aber einen Leitfaden zur realitätsgerechten Lebensbewältigung an die Hand geben würden. Zunächst auf einen moralpsychologischen Aspekt, der gegenüber der verhängnisvollen „Verketzerung" der Geschichte und ihrer Leidenschaften eine neue, umgewertete Ethik ins Blickfeld rücke: den Imperativ zur unbedingten Akzeptanz einer vielgestaltigen, fragmentarisch wirkenden, zwangsläufig sinnlichen Vergangenheit — einen Imperativ, der in begrenztem Umfang vergleichbar ist mit jener therapeutischen Bemühung der Psychoanalyse, die der späte Freud in die Formel bringt: „Wo Es war, soll Ich werden."52 Nietzsche läßt „Zarathustra" sagen: Die Vergangnen zu erlösen und alles „Es war" umzuschaffen in ein „So wollte ich es!" — das hiesse mir erst Erlösung! [...] Alles „Es war" ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall — bis der schaffende Wille dazu sagt: „aber so wollte ich es!" — Bis der schaffende Wille dazu sagt: „Aber so will ich es! So werde ich's wollen!" 53
Dazu gesellt sich ein moralhistorischer Aspekt. Die aufdämmernde Einsicht, daß nach dem Tod Gottes keine Letztinstanz das Dasein mehr begründe, der Mensch also eines göttlichen Wesens zur Legitimation seiner Existenz entbehren müsse, lasse zugleich die Erkenntnis frei werden, daß ein immanenter Wille zum Leben, der Wille zur Macht, das Dasein leite und rechtfertige, d. h. auf die praktisch-therapeutische Vernunft übertragen: Das Leben jedesmal von neuem zu wollen, würde bedeuten, daß das Individuum sich nunmehr selbst zu überwinden und immer von neuem zu gestalten habe. Schließlich ist ein kosmologischer Aspekt zu nennen, wonach der Mensch im ewigen (als naturwissenschaftlich begründbar gedachten) Wiederholungslauf des Werdens notwendig zu einem Fatum54 werde — und er eben deshalb zum beständigen Wiederwollen und Steigern seines Lebens verpflichtet sei. 51 52 53
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Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [161], KSA 9, S. 503. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit STA 1, S. 516. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 179, 181. In begrenztem Umfang sind die Worte Zarathustras mit Freuds Formel deshalb vergleichbar, weil der psychologische Aspekt untrennbar mit dem kosmologischen verknüpft ist und Nietzsche daher das Thema Bewußtes/Unbewußtes nicht ins Spiel bringt. VgJ. bereits Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 395 f.; von den späteren Reflexionen vgl. etwa Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 86 f.
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Kapitel 13: Die Therapeutik Nietzsches
Das unaufhörliche „da capo"-Rufen, wie Nietzsche es auch bezeichnet 55 , kann freilich nicht im Sinne einer hedonistischen Leib- und Machtphilosophie oder eines wie immer gearteten „Lustprinzips" interpretiert werden. Vielmehr sei es eben ein tragisches „Realitätsprinzip", ein Schwergewicht des Handelns — und dennoch kein Pessimismus. Gemessen an Freuds resignativem Schluß, angesichts der unüberwindbaren Kluft von Natur und Kultur solle man das Leben „ertragen" lernen, erweist sich Nietzsches Perspektive als anders gewichtet: „Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amorfati·, dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen [...], sondern es lieben ..." 5 6 Das Wort „dionysisch zum Dasein stehn" 57 , mit dem die Formel andernorts nochmals umschrieben wird, darf auch als massiver Querverweis gelten, daß mit der anvisierten „Experimentalphilosophie" nicht nur eine veränderte, affirmative Bewertung der Leidenschaften, sondern auch des Leidens intendiert ist. Nietzsches Denken gelangt schließlich an seinen „Kreuzweg": Dionysos gegen den „Gekreuzigten": da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, — nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung ... im anderen Fall gilt das Leiden, der „Gekreuzigte als der Unschuldige", als Einwand gegen dieses Lebens, als Formel seiner Verurtheilung. Man erräth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher, ob ein tragischer Sinn ... 5 8
4.2. Die physiotherapeutische Umwertung und die „kleinen Dinge" des Lebens Nietzsches therapeutischer Ansatz wartet indes nicht nur mit ethischen Leitsätzen und philosophischen „Lebensweisheiten", sondern durchaus mit konkreten Direktiven auf. Dabei präjudiziert sein leiborientiertes Motto von vornherein die Wertigkeiten. Unter der Voraussetzung, gegenüber der Komplexität des Leibes müsse sich alles Bewußtsein wie „etwas Armes und Enges" ausnehmen, stellt sich wie von selbst die Devise ein: „Also müssen wir die Rangordnung umdrehen: alles Bewußte ist nur das Zweit-Wichtige [...] Also umlernen1, in der Hauptschätzung! Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten!" 59 55 56 57 58
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Jenseits von Gut und Böse, K S A 5, S. 75. Ecce homo, K S A 6, S. 297. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16 [32], K S A 13, S. 492 (H. d. V.). Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [89], K S A 13, S. 266. Zu den in diesem Abschnitt komprimiert vorgetragenen Thesen Nietzsches vgl. ausführlicher oben S. 392 — 394, 402, 4 7 6 - 4 7 8 . Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [126], K S A 10, S. 285.
4. Therapeutische Konsequenzen
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Und noch deutlicher: „[...] mit direkter Einwirkung auf den Organism [...] arbeiten statt mit der indirektenf,] der ethischen Zucht. Eine andere Leiblichkeit schafft sich dann schon eine andere Seele und Sitte. Also Umdrehen!"60 Das Vorbild einer angewandten Umwertung großen Stils gibt immer wieder der Buddhismus ab. Dieser ist nach Nietzsche, um sich auf den hier relevanten Gesichtspunkt zu beschränken, darum eine realistische Religion, weil er die Moral bereits hinter sich gelassen und die entscheidende Problemstellung im „Leibe" habe: „[...] er sagt nicht mehr ,Kampf gegen die Sünde', sondern ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, ,Kampf gegen das Leiden'." Daher gehe Buddha, und das stelle seine Lehre „hundertmal" über jene des Christentums, gegen die aus überreizter Sinnlichkeit und Übergeistigung entstandene „Depression" auch konsequent mit hygienischen und diätetischen Maßnahmen vor.61 Hinzugerechnet eine gewisse Hochschätzung des indischen „Gesetzes des Manu"62, nach Nietzsche Beispiel eines vornehm-aristokratischen, über Generationen hinweg instinktiv gemachten Wertgefüges und darin unablösbar von einer dazugehörigen Diätetik und Asketik, erstaunt die folgende therapeutische Ausrichtung kaum noch: Aus einer höchsten Sensibilität allen Körperfunktionen und einem Gehorsam den unbewußt eingelernten Wertvorstellungen gegenüber habe der Mensch das „zweitrangige" Bewußtsein willentlich zurückzudrängen, ja eine „Gymnastik des Willens" zu betreiben, um die Meisterschaft in der Kunst des Lebens zu erreichen — den vollkommenen, zum Instinkt gewordenen „Automatismus" der Handlungen.63 Anders dagegen Freud, der an diesem Thema relativ wenig Interesse zeigt und sich daher nur spärlich äußert. Zwar will er ganz allgemein die Heilwirkung fernöstlicher Methoden (etwa von Yogapraktiken) nicht bestreiten, sehr wohl aber physiologische Erklärungen, mit denen sich eine Erweiterung des Gefuhlshorizonts oder gar „ozeanische" Gefühle plausibel machen ließen. Es falle ihm, dem AycAo-Analytiker, eben schwer, mit „diesen kaum faßbaren Größen" zu arbeiten, was ihm Grund genug für einen ironischen Kommentar ist. Auf die Versicherung eines Freundes, man könne durch Abwendung von der Außenwelt, höchste Empfindlichkeit gegenüber dem Körper und bestimmte Atemtechniken „Regressionen zu uralten, längst überlagerten Zuständen des Seelenlebens" erwirken und also mit einer „physiologischen Begründung" viele Weisheiten der
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Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [9η, KSA 10, S. 275; vgl. auch Ecce homo, KSA 6, S. 295. Vgl. Der Antichrist, KSA 6, S. 186 f. Vgl. dazu Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 100 f.; Der Antichrist, KSA 6, S. 240 ff. Nietzsche studierte das „Gesetz des Manu" anfangs 1888 in einer französischen Übersetzung von L. Jacolliot (vgl. KSA 14, S. 420). Vgl. etwa Der Antichrist, KSA 6, S. 242; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [142], KSA 13, S. 329; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [216], KSA 13, S.392f.; Nachlaß Herbst 1887, 9 [93], KSA 12, S. 387; Nachlaß Frühjahr 1888, 15 [25], KSA 13, S. 421.
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Mystik erfassen, drängt es Freud „auch einmal mit den Worten des Schillerschen Tauchers auszurufen: ,Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht.'" 64 Festzuhalten bleibt indes, daß auch Nietzsche keinerlei Anlaß gesehen hat, Weltbilder und Therapeutika des Fernen Ostens nun „importieren" zu müssen. Zum einen, weil der Buddhismus bei aller Wertschätzung letztlich als „nihilistische Religion" ebenso apostrophiert werden durfte wie das „Gesetz des Manu" als eine „Schule der Verdummung" und „Theologen-Brutanstalt". 65 Zum anderen, weil die herrschende Sinnenfeindlichkeit der okzidentalen Kultur nicht nur auf einen inneren Drang zur schließlichen „Selbstaufhebung" hoffen ließ, sondern auch hinreichend Ansatzpunkte für die akute Notwendigkeit einer leibbezogenen Umwertung an „Ort und Stelle" bot. Vor allem die ungebrochene Tradition des Idealismus und namentlich des deutschen, d. h. die Verirrung des Geistes in „unverdaulichen", dafür umso „größeren" Problemstellungen und die damit einhergehende Entwertung der kleinen Dinge des Lebens, schienen geradezu nach einer Zeit gegenläufiger Rangordnungen zu verlangen. Neben der Bedeutung von Ort und Klima sowie der Art der Erholung für die Maximierung geistiger und „moralinfreier" Tugenden ist es im besonderen die „Frage der Ernährung", die das Interesse Nietzsches auf sich zieht, hänge doch an ihr das „Heil der Menschheit" bei weitem mehr als an irgendeiner „Theologen-Curiosität". In „Ecce homo" finden sich denn auch entsprechende Indizien für die verheerende Wirkung falscher diätetischer Gewohnheiten. Um ein Beispiel zu nennen: „Aber die deutsche Küche überhaupt — was hat sie nicht Alles auf dem Gewissen! Die Suppe vorder Mahlzeit [...]; die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer! Rechnet man gar noch die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfnisse der alten, durchaus nicht bloss alten Deutschen dazu, so versteht man die Herkunft des deutschen Geistes — aus betrübten Eingeweiden ..." 6 6 Man mag geneigt sein, derartige Betrachtungen als skurrile Auswüchse einer Leibphilosophie zu bewerten, die sich am Ende um die Früchte der eigenen ernsthaften Bemühungen bringt. Nietzsche widerspricht dem, indem er sich selbst die Frage vorlegt, warum er diese nach herkömmlichem Urteil „gleichgültigen Dinge" überhaupt angesprochen habe, zumal sie seiner „Aufgabe" mit Sicherheit schadeten, um dann zur Antwort zu finden: „Diese kleinen Dinge — Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht — sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen."*'1 Im Grunde kommt mit dem Stich-
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Vgl. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 204 f. und 210 f. Vgl. Der Antichrist, KSA 6, S. 186; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [203], KSA 13, S. 386. Vgl. Ecce homo, KSA 6, S. 279 ff. Ebd., S. 295.
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wort „Die kleinen Dinge des Lebens" tatsächlich nur ein originäres Denken zu seinem Abschluß: Es hebt an mit „Menschliches, Allzumenschliches", wo mit „schneidender Helle", so die Retrospektive, in alle „Schlupfwinkel" bzw. in die „Unterwelt des Ideals hineingeleuchtet"68 wird, setzt sich dann fort in der „Morgenröthe" und der „Fröhlichen Wissenschaft", wo etwa bereits die Frage angeschnitten ist: „Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernährung?"69, und beschließt sich eben mit der Uberzeugung, daß in einer gegenidealistischen Umwertung der herrschenden Werte allein noch die „Ehre" der Modernität liege: Giebt es eine gefahrlichere Verirrung, als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurtheilt wäre krankhaft zu werden, zu den vapeurs des „Idealismus"! Es hat Alles nicht Hand und Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht worden ist: wir sind radikaler. Wir haben die „kleinste Welt" als das überall-Entscheidende entdeckt [...] wir haben Ernst gemacht mit allen Necessitateti des Daseins und verachten alles „Schönseelenthum" als eine Art der „Leichtfertigkeit und Frivolität".70
4.3. Nietzsche als „Facharzt" Titel wie „Heilung der Seele", „Langsame Curen", „Zur ,Cur des Einzelnen'", „Gegen das Contagium der Neurose"71 sowie diesbezügliche Reflexionen über die richtige Wahl der Diätetika und die Klugheit der Körpererziehung, den Umgang mit Denk- und Lebensgewohnheiten, mit Einsamkeit, Rauschmitteln usw. zeugen von der Intensität, mit der Nietzsche die „tausend Pfade"72 der Gesundung abzuschreiten gedachte. Im Regelfall waren hier Mittel der Selbstthe.fipie ins Auge gefaßt. Freilich, die unter dem Einfluß „priesterlicher" Seelenkuren grassierende allgemeine „Neurasthenie" ließ Skepsis aufkommen, ob Appelle an gegenläufige Erziehungspraktiken überhaupt den Aufwand lohnten, da sie ohnedies an der Starre der herrschenden Ideologie verpufften, oder anders: ob es nicht sinnvoller wäre, die Genesungsarbeit in die Hände geschulter Ärzte zu legen. Sollte es richtig sein, und Nietzsche hegte daran keinen Zweifel, daß die „wahre Ursache" der seelischen Störung und des „Sich-Schlecht-Befindens" zuallererst in verborgenen physiologischen Zuständen73 gesucht werden mußte, 68 69 70 71
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Ecce homo, KSA 6, S. 323 f. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 378 f. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [3η, KSA 13, S. 236. Vgl. Nachlaß Juni-Juli 1879, 50 [16], KSA 8, S. 581 f.; Morgenröthe, KSA 3, S. 278; Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [258], KSA 9, S. 539; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [206], KSA 13, S. 387. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 100. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 374.
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Kapitel 13: Die Therapeutik Nietzsches
waren dann nicht entsprechende Methoden allein noch angemessen? In der Tat räumt Nietzsche sich allmählich selbst die Kompetenz ein, in dieser Frage ein entscheidendes Wort beizusteuern. Ganz im Tonfall eines Facharztes fur moralische Erkrankungen, zu dem er sich hinreichend ausgebildet und spezialisiert fühlt, hält er etwa gegen die „Reue" folgendes Therapeutikum für indiziert: „Ich empfehle die Behandlung des Gewissensbisses mit der Mitchells-Kur"1"'. Freud schätzte bekanntlich das Verfahren von Weir Mitchell ebenfalls, da diese Mischung aus Liege- und Mastkur in Kombination mit der Breuerschen kathartischen Methode unerwartete Heilerfolge bei der hysterischen Symptomatik zeitigte, und 1887 publizierte er auch ein Referat über den amerikanischen Neurologen. 75 Nietzsches und Freuds Gleichklang bei der Bewertung dieser in Mode gekommenen Therapie läßt sich aus der Zeit der späten 80er Jahre heraus verstehen. Naturgemäß nicht mit derselben Intensität wie der studierte und praktizierende Neuropathologe Freud, aber doch mehr als nur am Rande beschäftigte sich Nietzsche bereits früher mit modernen experimentellen Verfahren wie Hypnose, Spiritismus, Elektrizität, Magnetismus usw.76 Und damals übliche Diagnosen wie insbesondere „Neurasthenie", aber auch „Hysterie", „Neurose" oder „Psychose" waren ihm genauso geläufig wie die physiologischen Grundlagen der „neurotisch-hypnotisch-erotischen" Experimente der CharcotSchule, vor allem aber der Degenereszenz-Theorie von Ch. Féré. 77 Dazu kam nun eben die Weir Mitchell-Kur, die auch für Freud alle in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen schien. Indes sollte sich diese Erwartungshaltung bald verflüchtigen. Freud, der unter dem maßgeblichen Einfluß von Breuer und Bernheim die Wende zum Psychologen ja bereits vollzogen hatte, aber durch die Kombination von kathartischer und Mitchell-Methode noch eine gewisse Zeit in einer Art Mittelstellung als Physio-Psychologe verharrte, verzichtet zuguterletzt auf alle suggestiven Techniken samt dem physiotherapeutischen „Zubehör", sei es nun die amerikanische Ruhe- und Diätkur, seien es Wasserkuren u. ä. Anders Nietzsche, der am Ende seines Lebensweges gerade zum unverhüllten Physiologen und „Körpertherapeuten" wird und eben deshalb das Verfahren Mitchells gegen die „moralische" Neurasthenie empfiehlt. Es kann hier nur nochmals mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß sich die schließlich vertauschten Vorzeichen der jeweiligen Denkentwicklung zwar auch, aber nicht allein als Reflex auf die ausklingenden 74 75
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Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [155], KSA 13, S. 338; vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 265. Referat über Weir Mitchell, Die Behandlung gewisser Formen von Neurasthenie und Hysterie, in: Wiener medizinische Wochenschrift, Bd. 37, 1887, Nr. 5, Sp. 138; vgl. Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, G W 1, S. 266; vgl. auch oben S. 528. Vgl. etwa Nachlaß Juli-August 1882, 1 [31], KSA 10, S. 16 f.; Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5 [110], KSA 12, S. 229. Vgl. oben S. 426 - 432.
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80er Jahre begreifen lassen. Denn andernfalls implizierte dies, daß sich Nietzsches generelle Leib-Perspektive nur als „voranalytisch", mithin als überholt und keiner weiteren Diskussion mehr bedürftig erwiese. In Wirklichkeit wurde Nietzsche, und das ist erwähntermaßen78 von einiger Bedeutung, zum Physiologen, als er längst Tiefenpsychologe, und das heißt vor allem: Analytiker des Allzumenschlichen und psychologischer Kritiker der herrschenden Moralpsychologie war\ Die letztlich unterschiedlichen Orientierungen, von denen mit Blickwinkel auf die — Nietzsche ja unbekannte — Psychoanalyse noch näher die Rede sein wird 79 , lassen sich etwa am Problem der „Symptomverschiebung" ablesen. Während Freud die Preisgabe „äußerlicher" Methoden wie die Erbsche Elektrotherapie, die Mitchell-Kur und vor allem direkte hpynotische Eingriffe damit begründet, diese manipulativen Techniken würden im Gegensatz zu seiner Psychoanalyse nicht „wurzelwärts" zum Entstehungsherd der Erkrankung vordringen80, nimmt Nietzsche ein solches Argument in Anspruch, um die Oberflächlichkeit der allein psychologisch arbeitenden Methoden zu demonstrieren. Nicht zufällig findet sich im Zusammenhang mit der empfohlenen Mitchell-Kur folgendes Resümee: „Diese ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung muß auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden [...] Die bisherige Praxis, die rein psychologische und religiöse, war nur auf eine Veränderung der Symptome aus". Vor der verheerenden Wirkung herkömmlicher Seelenkuren könne daher gar nicht genug gewarnt werden: „[...] hier wird aus jeder Operation eine Verletzung [...] Und besten Falls, wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht ..." 8 1 5. Erkenne dich selbst — ein Mißverständnis? 5.1. Der psychoanalytische Zugang zum „gnothi seauton" Nachdem Denkfiguren und therapeutische Konsequenzen von Nietzsches Leibphilosophie zur Sprache gebracht worden sind, kann die anfangs begonnene und dann unterbrochene Diskussion über die Bewußtmachung des Unbewußten unter dem Titel „Möglichkeiten und Grenzen der Selbsterkenntnis" nun fortgesetzt und im Lichte seiner Spätphilosophie zu Ende geführt werden. Zunächst empfiehlt es sich, die Position der Psychoanalyse als Hintergrundfolie für jene Nietzsches zu unterlegen. Freud steht bei der Erforschung des 78 79 80 81
Vgl. oben S. 4 3 3 - 4 3 6 . Vgl. unten S. 5 8 9 - 5 9 3 . Vgl. oben S. 533 f. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [155, 164], KSA 13, S. 339, 348.
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Unbewußten, kurz gesagt, vor folgendem methodischen Grundsatzproblem: Zum einen will er uneingeschränkt zugestehen, daß physische und psychische Akte in kontinuierlichen Beziehungen zueinander stehen. Andererseits aber widerstreitet er gerade dem Schluß des psychophjsischen Parallelismus (Fechner u. a.) 82 , es würde jedem Glied einer physiologischen Kettenreihe ein entsprechender Bewußtseinsvorgang korrelieren. Nach dieser Auffassung sind latente psychische Phänomene ein Indiz dafür, daß die Bewußtseinskette abgerissen ist, womit die unbewußten Vorgänge also nicht mehr als psychisch zu qualifizieren sind, sondern „den Resten von somatischen Vorgängen entsprechen, aus denen das Psychische wieder hervorgehen kann." Nein, insistiert Freud gegenüber der Gleichsetzung von „psychisch" und „bewußt" und deren materialistischen Verankerung, die latenten Zustände des Seelenlebens seien ihrer physischen Natur nach niemals zugänglich, „keine physiologische Vorstellung, kein chemischer Prozeß kann uns eine Ahnung von ihrem Wesen vermitteln." 83 Insofern müsse man der Psychologie, und zwar einer Tiefenpsychologie, wieder zu ihrem Recht verhelfen und davon ausgehen, daß das Bewußtsein nur eine Qualität des Psychischen sei, das eigentliche Psychische aber das Unbewußte.84 Wenn das Psychische aber in seiner „inneren Natur" bzw. „an sich" unbekanntist, was explizit behauptet wird 85 , so steht die Frage an, wie es überhaupt zu dechiffrieren ist. Dieser methodischen Schwierigkeit, die sich im Umkreis der Diskussion über Kants „Ding an sich" bewegt 86 , begegnet Freud mit dem Argument, daß der psychoanalytischen Wissenschaft gar nichts anderes übrig bleibe, als gerade mit dem als lückenhaft erkannten Beobachtungs- und „Wahrnehmungsapparat" die Lücken im Psychischen zu ergänzen, d. h. durch einen „Schlußpro^eß" bzw. „nahe liegende Schlußfolgerungen" 87 von der „Erscheinungswelt" aus sich dem Unbewußten zu nähern, ja es sogar wie „irgendeine Tatsache der Außenwelt" 88 herzuleiten. Und de facto sei es ihr aufgrund experimentell ausgewiesener Einsichten in die Genese von alltäglichen Fehlleistungen, von Träumen und Neurosen auch gelungen, bahnbrechende Einsichten in Strukturen und Qualitäten des Unbewußten zu gewinnen.
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Vgl. Das Unbewußte, STA 3, S. 126 f.; Der psycho-physische Parallelismus, in: Anhang Β zu Das Unbewußte, STA 3, S. 165 ff. Zu diesem Themenkomplex vgl. auch die Freud-Kritik von M. Kaiser-El-Safo, Der Nachdenker, a. a. O., S. 69 ff. und 139 ff. Vgl. Das Unbewußte, STA 3, S. 126 f. Vgl. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 80. Vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 580; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 80; Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis, G W 17, S. 144. Vgl. unten S. 6 6 2 - 6 6 4 ; vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 580; Das Unbewußte, STA 3, S. 130 f.; Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 238. Vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 580; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 81. .Selbstdarstellung', G W 14, S. 57.
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Zu einer solchen Qualität des Unbewußten rechnet Freud, um sich dem Ausgangsthema zu nähern, die Zeitlosigkeit und Uni^erstörbarheit der unbewußten Vorgänge, eine These, mit der die psychotherapeutische Bemühung, verloren gegangene bzw. verdrängte Gedächtnisinhalte wieder in Erinnerung zu rufen, ja ihre Beglaubigung erfährt. Die mehrschichtige Gedächtnistheorie der Psychoanalyse — das System Wahrnehmung/Bewußtsein begriffen in der Funktion von Reizaufnahme und Reizschutz, das Unbewußte dagegen als eigentliche Gedächtniskammer, in der die „Dauerspuren" der Erinnerungen gelegt sind — ist bereits referiert worden. In der nachhaltigsten und, wenn man so will, extremsten Fassung läuft sie darauf hinaus, daß „alle Eindrücke einerseits in der nämlichen Art erhalten sind, wie sie aufgenommen wurden, und überdies noch in all den Formen, die sie bei den weiteren Entwicklungen angenommen haben [...] Der Theorie zufolge ließe sich also jeder frühere Zustand des Gedächtnisinhaltes wieder für die Erinnerung herstellen"89. Daß dies auch praktisch möglich sei, ist an jenem Satz abzulesen, der den exklusiven Anspruch der analytischen Therapie und ihres „archäologischen" Verfahrens noch einmal vor Augen fuhrt: „Man kann sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fortbestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich gemacht."90 Andererseits relativiert Freud seine Unzerstörbarkeitshypothese zumindest stellenweise.91 Desgleichen kommt er nicht umhin, gerade auf die eminenten Hindernisse der rekonstruktiven Gedächtnisarbeit und damit der „Selbsterkenntnis" bei Analytiker und Patient aufmerksam zu machen. Die anfängliche Uberzeugung, eine angemessene Deutung der Träume, die geschärfte Innenwahrnehmung eigenen Konflikten und Widerständen gegenüber und das Studium der „scheinbar zufalligen Handlungen und Unterlassungen" führe zu einem „gnothi seauton"92, wird bekanntlich abgeschwächt. Da „jede ungelöste Verdrängung beim Arzte [...] einem .blinden Fleck' in seiner analytischen Wahrnehmung" 93 entspreche und also die Wirklichkeitssieht des Analytikers verzerre, andererseits aber die Ergiebigkeit der „Selbstanalyse" mit einem Fragezeichen versehen werden mußte, blieb nur der Schuß übrig, daß der Analytiker sich selbst einer Therapie, d. h. dem kommunikativen Verfahren einer „Lehranalyse" zu unterziehen habe. Als konkrete Barrieren, die den Zugang zum Verdrängten auf Patientenseite blockieren, lassen sich etwa der Wiederholungszwang, das „Agieren statt Erinnern" oder die negative therapeutische Reaktion an dieser Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW 4, S. 305, Anmerkung 1; vgl. oben S. 373. Die Freudsche psychoanalytische Methode, STA Egb., S. 105. 9 ' Vgl. etwa Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 203 f. 92 Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW 4, S. 236. 9 3 Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 176. 89
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Stelle nochmals nennen. Derartige und andere bereits im Detail angesprochene Erschwernisse sind es letztlich, die Freud nicht nur jeden therapeutischen Enthusiasmus verbieten, sondern in ihm auch Zweifel grundsät2licher Natur aufkommen lassen, etwa darüber, ob sich ein bestimmtes „Maß von psychischer Erstarrung" wirklich durchbrechen lasse: „So groß die Plastizität des seelischen Lebens und die Möglichkeit der Auffrischung alter Zustände auch ist, es läßt sich nicht alles wieder beleben. Manche Veränderungen scheinen endgültig, entsprechen Narbenbildungen nach abgelaufenen Prozessen." 94 Die beiden Einstellungen zur praktischen Tragfähigkeit der Psychoanalyse — Zuversicht versus Skepsis — widerspiegeln im Grunde nur eine allmähliche Unumgänglichkeit der Theoriebildung selbst: nämlich auf Macht und Ohnmacht des erkennenden „Ich" zugleich beharren zu müssen. Das Ich, so läßt sich in äußerster Verdichtung zusammenfassen, figuriert bereits im Narzißmus-Konzept von 1914 als ausgesprochen triebabhängige und daher in seiner vermeintlichen Autonomie stark beschnittene Instanz der psychischen Organisation, 1916 ist es nicht einmal mehr „Herr im eigenen Hause" und 1923 schließt Freud, Teile des Ichs seien immer schon vom Unbewußten infiltriert, sodaß die Identität von Ich und Bewußtsein hinfallig werde und das Unbewußte durch den geeigneteren Terminus „Es" zu ersetzen sei. 95 Da das Ich sich aber vom Es nicht scharf abgrenzen lasse, vielmehr mit diesem zusammenfließe, ja dem Es „oberflächlich" aufsitze und einen bloßen „Vordergrund", eine „Fassade" 96 desselben bilde, war nur konsequent, das Ich letztlich als ein „armes Ding" zu bezeichnen, und zwar nicht nur in Hinsicht auf das drängende Begehren des Es. Denn durch seine weiteren Abhängigkeiten von der äußeren Realität und dem Uber-Ich scheitere das Ich wie zwangsläufig immer wieder an der Aufgabe, die vielfach diametralen Forderungen der drei „Realitäten" in Einklang zu bringen, und so verstehe man, „warum wir so oft den Ausruf nicht unterdrücken können: Das Leben ist nicht leicht!" 97 Andererseits bleibe eben nichts übrig, als auf die synthetische Funktion des Ichs und seines Vermögens zu letztlich adäquater Erkenntnis zu setzen, sollte der therapeutische Anspruch auf Transformation verdrängter Erinnerungen in bewußte und der theoretische Anspruch auf Wahrheit nicht überhaupt fallen gelassen werden. In aller Regel sind Freuds Reflexionen daher von einer „Zwar-
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34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 582; vgl. oben S. 5 3 7 - 5 4 0 . Vgl. Zur Einfuhrung des Narzißmus, STA 3, S. 41 ff.; 18. Vorlesung, Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte, STA 1, S. 284; Das Ich und das Es, STA 3, S. 292; vgl. auch Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 260 f. Das Ich und das Es, STA 3, S. 292 f.; Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 287. Das Ich und das Es, STA 3, S. 322; 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 515.
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aber-Argumentation" durchzogen, so etwa in der 31. Vorlesung: „Es trifft zu, daß Ich und bewußt, Verdrängtfes] und unbewußt nicht zusammenfallen. Zunächst sind wir geneigt, den Wert des Kriteriums der Bewußtheit, da es sich als so unzuverlässig erwiesen hat, recht herabzusetzen. Aber wir täten unrecht daran. [...] Ohne die Leuchte der Bewußtseinsqualität wären wir im Dunkel der Tiefenpsychologie verloren."98 Im lichte der revidierten Terminologie habe sich die analytische Therapie, so der späte Freud, daher den folgenden „Angriffspunkt" gewählt: über die Erweiterung seines Wahrnehmungsfeldes, über ein zunehmendes Unabhängigwerden des Ichs auch von der inneren Abhängigkeit des Uber-Ichs und in summa über den Ausbau seiner Gesamtorganisation „das Ich zu stärken", sodaß das Ich „sich neue Stücke des Es aneignen kann: Wo Es war, soll Ich werden."99
5.2. Der Ausgangspunkt Nietzsches: Leib und Intellekt als Instanzen der Verfälschung Souveränität und Zuständigkeitsbereich des „Ichs" haben seit Kants Kritik an Descartes „Ich denke" auf verschiedenen Wegen kontinuierliche Einbußen erlitten, vor allem natürlich bei den späteren Philosophen des Unbewußten. Nietzsche selbst hat Phänomene wie Intellekt, Bewußtsein, Ich, Verstand, Vernunft, Geist, Denken, Fühlen und Wollen nicht in ein begriffliches System integriert, sondern das Insgesamt der „inneren Welt" seiner Einheitskonzeption gewissermaßen „einverleibt", sich aber gleichzeitig bemüht, einer mechanistischen, sensualistischen oder empiristischen Reduktion psychischer Prozesse zu entgehen. Generell warnt auch Nietzsche vor einer Überschätzung der Erkenntnisleistungen des sich selbst bewußten Ichs. Denn das Bewußtsein, so die Voraussetzung, sei „eben nur ein „Werkzeug" innerhalb der organischen Funktionalität, ein ausgesprochen unzulängliches noch dazu: „Dieses ganze Phänomen ,Leib' ist nach intellectuellem Maaße gemessen unserem Bewußtsein, unserem .Geist', unserem bewußten Denken, Fühlen, Wollen so überlegen, wie Algebra dem Einmaleins."100 Dasselbe gelte zwangsläufig für die „kleine Vernunft" des Ichs, die — in ihrer (von Freud auf seine Weise gerade relativierten) Symbiose mit 98 99
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31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 508. Ebd., S. 516 (H. d. V.); vgl. weitere Umschreibungen der therapeutischen Formel in: Das Ich und das Es, STA 3, S. 322; Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 295; .Psychoanalyse' und .Libidotheorie', G W 13, S. 226; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 103; vgl. auch Die Weiblichkeit, STA 1, S. 544, wo Freud seine 31. Vorlesung den „ersten Ansatz einer Ichpsychologie" nennt. Vgl. oben S. 3 4 7 - 3 4 9 . Nachlaß Juni —Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 577.
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dem Bewußtsein — von der unbewußten „Klugheit" des Leibes immer schon geleitet werde, also ebenfalls ein bloßes Mittel, ein Oberflächen- und Endphänomen bedeute. Die Wende von der Ichvernunft zur Leibvernunft erschöpft sich gleichwohl nicht in der physiologischen Argumentation, vielmehr nimmt sie Komplexität und „unsägliche Complication" 101 der organischen Ursachen als Ansatzpunkt einer eigenen Philosophie, mit der das Selbstverständnis der herrschenden Psychologie und Philosophie, und d. h. wesentlich: der eingesessene Glaube an seelische Kausalitäten erschüttert werden sollte. Es darf nochmals daran erinnert werden, daß Nietzsche das über die Sprache bzw. das Verhältnis SubjektPrädikat gleichsam mitgeschleppte Ich als den Verursacher eines verheerenden Anthropomorphismus ausmacht: als jenen „Täter", mit dem der Mensch nunmehr sein Inneres, seine scheinbar verbürgten „inneren Tatsachen" nach außen zu stülpen und zu „projiciren" verstehe, um das ganze Sein „nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache" zu gestalten und zu verzerren. Oder anders: Das Ich diene eben nicht, wie Kant meinte, der Objektivierung von Erfahrung, sondern ziele ab auf die Absegnung und Perpetuierung einer rein fiktiven Ursachenwelt als einer „Willens-Welt, als eine[r] Geister-Welt." 102 Dieser Mißdeutung allen Geschehens auf Basis einer fehlgreifenden Psychologie stellt Nietzsche eine gleichfalls anthropomorphe, gegenüber der philosophischen Tradition freilich anders gewichtete Lösung entgegen, welche auch die Ausgangslage hinsichtlich Freuds ,,Z»ör-«ferArgumentation" zum Ich entscheidend verändert. Nietzsche behauptet nämlich, daß das Ich als „Organ" der bewußten Erkenntnis prinzipiell nicht auf Wahrheit oder Korrespondenz mit der Realität abzielt, auch nicht auf Objektivierung oder Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes, sondern allein auf Herrschaft\ Da im Organismus ein beständiger Kampf tobe, habe das Bewußtsein als Werkzeug des Leibes seine Werte und Ideale — heißen sie nun Suche nach Wahrheit, nach letzter Einheit, nach einem großen Zweck, nach dem Wesen der Dinge usw. — doch nur unbewußt in den Dienst der „Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschaftsgebilde" 103 gestellt: In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesammtieben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Werthschätzungen ein kleiner Ausschnitt. [...] ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung der Machterweiterung des Lebens. [...] Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen) Kosmo- und Theodiceen, gegen alle Warum's und höchsten Werthe in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. Eine Art
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102 103
Nachlaß April-Juni 1885, 34 [46], KSA 11, S. 434; vgl. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1 [20], KSA 12, S. 15. Vgl. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 91 (H. d. V.); vgl. oben S. 244 - 249. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [99], KSA 13, S. 49.
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der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgehehrt zum Mittel erniedrigt.104 In diesem Mißverständnis begründet sich nach Nietzsche ja die historisch folgenreiche Verachtung und Knechtung des Leibes·. Der beständige Kampf im Organismus, der auch den Kampf der „großen" mit der „kleinen" Vernunft und vice versa in sich birgt, habe in der geschichtlichen Entwicklung das bloße Werkzeug Bewußtsein eben zum Zweck werden lassen und damit der strukturellen Verkehrung des Willens zum Leben eine anhaltende Rechtfertigung verschafft. Mit dieser Argumentationsfigur ist aber unter anderem impliziert, daß das somatopsychische Herrschaftsgebilde auch als historischer Organismus zu denken ist. Nietzsche steht damit vor der Schwierigkeit, das Leib-Seele-Problem jedenfalls nicht mit einem ausschließlich organizistischen Modell beheben zu können. Zwar macht sich in der Spätphilosophie immer wieder der Hang zu einem monokausalen Physiologismus bemerkbar, vor allem im Umkreis der Identifikation mit Férés Degenereszenz-Theorie und ihrer Reduktion etwa historischer Moralen auf reine Physiologie. 105 Letztlich aber bleibt das perspektivische Konzept des Willens zur Macht gleichwohl inkompatibel mit einem Determinismus, weil es sich bekanntlich jeden Glauben an ein „An sich" bzw. eine „wahre" Welt der Ursachen verbietet. Das bedeutet, daß Nietzsche nicht nur einer „geistigen" Kausalwelt widerstreitet und diese der Mythologie zuordnet, sondern auch Erkenntnisse über „Wesen" und wahre Ursächlichkeit komplexer somatischer Prozesse in Abrede stellen muß. In diesem Sinne kommt der Anrufung der empirischen Wissenschaften, namentlich der vielfach herbeizitierten Physiologie, am ehesten noch die Stellung eines unentbehrlichen pragmatischen Hilfsmittels innerhalb der Philosophie des Willens zur Macht zu: „Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede." 106 Die These, ein wie immer gedachtes „An sich" des Leibes bleibe letztlich Schimäre, erfährt ihre tiefste Rechtfertigung nun darin, daß Nietzsche gegen allen Naturalismus den Leib selbst als Deutungsorgan begreift, genauer: als komplexes Zusammen- und Widerspiel verschiedener „Intelligenzen", die sich ihrerseits des sogenannten Intellekts als Werkzeug bedienen. Wie aber, so läßt sich fragen, sollte es dann ausgerechnet der „kleinen Vernunft" gelingen, die „große" zu ergründen, wenn das bewußte Ich dem „Selbst" doch an der Oberfläche aufsitzt und seine Erkenntnisgewinne der Macht der „terra incognita" verdankt? Nietzsches bereits angesprochene Antwort lautet, der Glaube an eine solche 104 105 106
Nachlaß Herbst 1887, 10 [13η, KSA 12, S. 533 f. Vgl. oben S. 4 2 9 - 4 3 3 . Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [128], KSA 9, S. 487.
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Möglichkeit habe sich überhaupt nur um den Preis eines fatalen Mißverständnisses, eben den der Verkehrung von Mittel und Zweck, Bahn brechen können. Demgegenüber seien Leib und Intellekt gleichermaßen als Produzenten der Dascins-Auslegung aufzufassen, nur daß sie in differenter Wertigkeit und auf verschiedenen Wegen nach Macht ringen würden, und das heißt bekanntlich auch: auf Verfälschung allen Geschehens hinarbeiteten. Insbesondere das späte Nachlaßwerk fördert eine ganze Reihe von Versuchen zutage, in denen die hierarchische Struktur des Organismus mit dem Gesichtspunkt des Willens zur Macht als einer durchgängig interpretierenden Vernunft verflochten wird. Unter der stets gleichbleibenden Voraussetzung, der Leib sei im Grunde das wahre „Wunder der Wunder", das Bewußtsein dagegen ledigliches Werkzeug, vertritt Nietzsche auch die folgende gegenmechanistische These: In der „Aristokratie" des Organismus sei das Bewußtsein nicht nur ein selektives Instrument, das die ungeheure Vielfalt der Erlebnisse komprimiert, schematisiert und damit verfälscht, sondern der Intellekt bekomme von der ungeheuren Komplexität des Leibes selbst schon eine Auswahl von Erlebnissen vorgelegt [...], dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Erlebnisse, — damit er seinerseits in diesem Vereinfachen und Ubersichtlichmachen, also Fälschen fortfahre und das vorbereite, was man gemeinhin „einen Willen" nennt, — jeder solcher Willensakt setzt gleichsam die Ernennung eines Diktators voraus. Das aber, was schon die Erlebnisse vorher vereinfacht, angeähnlicht, ausgelegt hat, ist jedenfalls nicht eben dieser Intellect [...] Am Leitfaden des Leibes wie gesagt, lernen wir daß unser Leben durch ein Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthigen Intelligenzen und also nur durch ein beständiges tausendfaltiges Gehorchen und Befehlen [...] möglich ist. 107
Eine große Vernunft, die am Ende unerkannt bleibt; eine „Wahrheit", derzufolge alles Tun Verfälschung ist; eine These vom Machtwillen als „letztem Factum", die sich jeglichen Glauben an unumstößliche Fakten oder ein „An sich" verbietet — so etwa könnte man einige jener (noch näher anzusprechenden 108 ) Aporien umschreiben, denen allen doch das eine Leitmotiv gemeinsam ist: An keiner Stelle, in keiner philosophischen, moralischen, psychologischen, physiologischen oder wissenschaftlichen Vorstellung im allgemeinen sollte auch nur der Hauch des Anscheins aufkommen, als ob irgendein „Gott" in irgendeinem Geschehen wirke! Nietzsche hat an einer Stelle selbst die Frage aufgeworfen, wie unter der Annahme, alles Erkennen beruhe auf einem Faßbarmachen und Ausdichten eines letztlich nicht faßbaren Prozesses, der Trug des Seins dann eigentlich zu bewerten und abzuschätzen sei. Seine Antwort: „Aber das Abschätzen
107 108
Nachlaß Juni-Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 578. Vgl. unten S. 6 9 5 - 7 0 1 ; vgl. auch oben S. 2 5 3 - 2 5 6 .
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selbst ist dieses Sein noch — : und indem wir Nein sagen, so thun wir immer noch, was wir sind ... Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen"109.
5.3. Problematischer Anspruch und Gefahr der Selbsterkenntnis Aus der Verquickung von Erkenntnis- und Moraltheorie erwachsen Nietzsche grundsätzliche Zweifel am Postulat des „gnothi seauton". Unter der Voraussetzung, daß der Erkenntnisapparat ein ,^Fàlschungs-Λpparat", alles Bewußtwerden ein „aktives Zurechtmachen " zu Machtzwecken und das Gedächtnis eine „Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen" ist110, wird die Forderung Kants, man solle, ehe man erkennt, die Tauglichkeit des Erkenntniswerkzeuges selbst untersuchen, fragwürdig. Nietzsche schließt sich hier in gewissem Sinn Hegel an, dem dieses Unterfangen ähnlich verfehlt scheint „wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht. Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist" 111 . Die Analogie Nietzsches zum „komisch[en]" Verlangen, die Philosophie müsse mit einer „Kritik des Erkenntnißvermögens" anheben, lautet: „Dies ist schlimmer noch als ein Streichholz prüfen wollen, bevor man es brauchen will."112 Hegels Bedenken gegenüber dem Kantschen Kritizismus, vermittels einer Einsicht in Aktivität und Reichweite des menschlichen Erkenntnisvermögens werde sichergestellt, daß die subjektiven Beimengungen von den objektiven Gehalten des Untersuchungsgegenstandes gesondert sind, kehren die zirkuläre Struktur dieser Bemühung hervor: „Wenn wir von einem formierten Dinge das wieder wegnehmen, was das Werkzeug daran getan hat, so ist uns das Ding [...] gerade wieder so viel als vor dieser somit überflüssigen Bemühung." Und weiters: „Inzwischen, wenn die Besorgnis, in Irrtum zu geraten, ein Mißtrauen in die Wissenschaft setzt, [...] so ist nicht abzusehen, warum nicht umgekehrt ein Mißtrauen in dies Mißtrauen gesetzt und besorgt werden soll, daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist." 113 Nietzsche folgt dem ersten Teil dieser Argumentation auf Grundlage seiner Theorie der Projektion: Da der Mensch 109 110
111 112
113
Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [96], KSA 13, S. 45. Vgl. Nachlaß April-Juni 1885, 34 [252], KSA 11, S. 506; Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [61], KSA 11, S. 164; Nachlaß Herbst 1884, 26 [114], KSA 11, S. 179 f.; Nachlaß April-Juni 1885, 34 [249, 252], KSA 11, S. 505 f. Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Band 20, S. 334. Nachlaß Herbst 1885 - Frühjahr 1886, 1 [113], KSA 12, S. 37; Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1 [60], KSA 12, S. 26. Hegel, G. W. F., Phänomenologie des Geistes, Band 3, S. 69.
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alle Dinge eben als seiend und wirklich gesetzt habe „nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache", wie könne es dann wundern, „dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?" Die Zurückweisung eines wie immer gearteten „absoluten Wissens" markiert indes die Bruchstelle zu Hegel. Zwar sei nur folgerichtig, so Nietzsche, daß der Intellekt sich nicht selbst beurteilen oder erkennen könne, weil dieses „Vermögen" erst im Vergleich mit anderen Intellekten und angesichts einer „wahren Wirklichkeit" zutage treten würde, „d. h. weil, um den Intellekt zu kritisiren, wir ein höheres Wesen mit .absoluter Erkenntniß' sein müßten." 115 Aber genau das sei eben nicht der Fall, ganz im Gegenteil, wie eine Philosophie des „Scheins" bzw. „unendlicher Scheinbarkeiten" gegenüber jedem Absolutheitsanspruch der Erkenntnis und respektive der Identität von „Vernunft und Wirklichkeit" zu zeigen habe. 116 Nicht die Furcht vor dem Irrtum mache also den Irrtum aus, wie Hegel glaubte, vielmehr sei der Irrtum selbst die große treibende Kraft der Erkenntnis: „Erkenntniß [ist] an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntniß möglich? Als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung." 117 Von der ausgehenden Kant-Kritik gelangt der „Seelen-Errather" Nietzsche nun zu weitreichenden, auf den ersten Blick auch befremdlich anmutenden Folgerungen hinsichtlich des Themas Selbsterkenntnis: Psychologen, wie sie erst vom 19 ten Jahrhundert möglich sind: nicht mehr jene Eckensteher, die drei, vier Schritt vor sich blicken und beinahe zufrieden sind, in sich zu graben. Wir Psychologen der Zukunft — wir haben wenig guten Willen zur Selbstbeobachtung: wir nehmen es fast als ein Zeichen von Entartung, wenn ein Instrument „sich selber zu erkennen" sucht: wir sind Instrumente der Erkenntniß und möchten die ganze Naivetät und Präcision eines Instrumentes haben; — folglich dürfen wir uns selbst nicht analysiren, nicht „kennen". Erstes Merkmal eines Selbsterhaltungs-Instinkts des großen Psychologen: er sucht sich nie, er hat kein Auge, kein Interesse, keine Neugierde fur sich ... Der große Egoismus unseres dominirenden Willens will es so von uns, daß wir hübsch vor uns die Augen schließen, — daß wir als „unpersönlich", „désintéressé", „objektiv" erscheinen müssen ... oh wie sehr wir das Gegentheil von dem sind! Nur weil wir in einem excentrischen Grade Psychologen sind 118 .
In dieser in sich abgeschlossenen Aufzeichnung von 1888, übertitelt „Zur Psychologie des Psychologen", laufen augenscheinlich mehrere Argumentationsstränge in sehr komprimierter Form zusammen: Nietzsche verlangt, man solle die (wie fast immer nur en passant angedeutete) Kant-Kritik in den praktischen 114 115 116 1.7 1.8
Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 91. Nachlaß Sommer 1886, 5 [11], KSA 12, S. 188. Vgl. oben S. 246 f. Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7 [53], KSA 12, S. 313. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [2η, KSA 13, S. 230 f.
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Konsequenzen einmal ernst nehmen, d. h. das Erkenntniswerkzeug nicht wie üblich zum Zweck, sondern tatsächlich zu einem tauglichen Präzisionsinstrument werden lassen. Vom Psychologen wird erwartet, daß er endlich über sich hinaus-, nicht in sich hineinsieht, also das wirklich Andere des eigenen seelischen Geschehens erfaßt, und das möglichst kühl, nüchtern, sachlich, objektiv. Und doch kann er der Forderung zur Selbstdistanz im letzten Grunde nicht nachkommen. Warum? Gerade weil er als Psychologe in jedem Tätigwerden der „Seele" den grundsätzlichen Vètfdlschungsvrì!\en erraten hat und sich in diesen Zirkel der Erkenntnis unauflöslich verstrickt weiß. Eine solche „Absurdität" des Erkenntniswillens ändert indes nichts daran, ja bestärkt Nietzsche in der Überzeugung, daß gegenüber allen Versuchen, die Introspektion zu einem Zweck an sich zu machen, äußerste Skepsis angebracht sei. Den „Nabelbeschauern" mißtraue er etwa darum, da bei ihnen die Selbstbeobachtung das Geniale des psychologischen Instinkts schlechterdings behindere, vergleichbar dem getrübten Blick des Malers, „hinter dem der Wille steht, zu sehn, um zu sehn" 119 . Aus den Fehlgriffen des Bewußtseins noch eine höhere Tugend zu machen, führe bestenfalls zu einer Art „Colportage-Psychologie", daher: „Nie beobachten, um zu beobachten! Das giebt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes [...] Man darf nicht im Erlebniss nach sich hinblicken, jeder Blick wird da zum ,bösen Blick'."120 Also bleibe es dabei: „Der Psychologe muss von sich absehn, um überhaupt zu sehn."121 Und vielleicht bedeute auch jenes delphische „[...] .erkenne dich selbst'!" etwas anderes, als man landläufig darunter verstehe, vielleicht bedeute es: „,höre auf, dich etwas anzugehn! [...]'" 1 2 2 „Was liegt an miri" ist denn auch ein Lieblingsmotto Nietzsches, gleichermaßen in Schriften, nachgelassenen Aufzeichnungen und Briefen anzutreffen: „ ,Was liegt an mir!' ist der Ausdruck der wahren Leidenschaft, es ist der äußerste Grad, etwas außer sich ψ sehen."122. In Umkehrung des „Optimus sum egomet mihi" von Terenz leitet Nietzsche die Vorrede zur „Genealogie" mit einem Gedanken ein, der bereits in der „Fröhlichen Wissenschaft" angesprochen ist: Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst [...] und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten „was haben wir da eigentlich erlebt? mehr noch: wer sind wir eigentlich?" und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres Seins — ach! und verzählen uns dabei ... Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir ver-
119 120 121 122 123
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [28], KSA 13, S. 231. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 115. Ebd., S. 65. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 88. Nachlaß Ende 1880, 7 [45], KSA 9, S. 326; vgl. eine Zusammenstellung diesbezüglicher Passagen in KSA 14, S. 270; vgl. auch KSB 6, S. 43.
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stehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit „Jeder ist sich selbst der Fernste", — für uns sind wir keine „Erkennenden" 124
Genauer besehen stehe es vielleicht noch schlimmer, denn immerhin sei nicht auszuschließen, daß das unnachgiebige „In-sich-Graben" nicht bloß ein erkenntnistheoretischer Mißgriff, sondern möglicherweise auch ein höchst gefährliches Unterfangen sei. Nietzsche genügt zunächst ein Satz, um die eingangs erwähnte Verbindungslinie von der Erkenntnistheorie zur Moral zu ziehen: „ ,Ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht': — und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral" bzw. der Moralkritik, wie man ergänzen darf. Denn die Voraussetzung, alles Leben dränge essentiell nach Schein und Täuschung, fuhrt in der Folge wie von selbst zur Frage, in welchen Triebquellen der ethische Rigorismus in Sachen Wahrheit, dieser Wille zur Wahrheit „um jeden Preis" dann gründe. Müsse man nicht konsequenterweise annehmen, daß er letztlich ein „lebensfeindliches zerstörerisches Prinzip [sei] ... ,Wille zur Wahrheit' — das könnte ein Wille zum Tode sein." 125 Immerhin wäre, sobald man das Thema vom „ Werthe der Wahrheit" 126 einmal durchdenke, erst zu prüfen, ob im „Haushalte der Menschheit" der „Wahrhaftige mehr werth sei als der Lügner" 127 oder ob nicht vielmehr das „nosce te ipsum das Recept zum Untergang" sei. 128 Nietzsche wird die Frage nach dem Wert der Selbsterkenntnis schließlich in seine „Dionysos-Dithyramben" einfließen lassen: Jetzt einsam mit dir, zwiesam im eignen Wissen, zwischen hundert Spiegeln vor dir selber falsch, zwischen hundert Erinnerungen ungewiss, an jeder Wunde müd, an jedem Froste kalt, in eignen Stricken gewürgt, Selbstkenner! Selbsthenker!x29
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126 127 128 129
Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 247 f.; vgl. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 560; vgl. KSA 14, S. 377. Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 576; vgl. Nachlaß August-September 1885, 40 [39], KSA 11, S. 649. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 15 (H. d. V.). Nachlaß August-September 1885, 40 [44], KSA 11, S. 651. Ecce homo, KSA 6, S. 293. Dionysos-Dithyramben, KSA 6, S. 390.
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5.4. Annäherungsversuche an Nietzsches Methode Es wirkt beinahe grotesk, daß ausgerechnet der „geborene Psychologe" Nietzsche, dem von Freud die größte jemals erreichte Introspektion attestiert wird, die Selbsterkenntnis als großes Mißverständnis behauptet. Um die Verwirrung aber zu komplettieren, teilt er andererseits eine auch von Freud eingeforderte Grundvoraussetzung: Vom Psychologen wie jedem anderen wissenschaftlichen Arbeiter wird verlangt, daß er absolute Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber aufbringt! Nietzsche ist nicht bereit, „irgend eine Größe anzuerkennen, welche nicht mit Redlichheit gegen sich verbunden ist: die Schauspielerei gegen sich flößt mir Ekel ein" 130 . Vor allem die „Schwindler" des Idealismus hätten eine solche Tugend, mehrfach auch „intellektuelle Rechtschaffenheit" oder „Rechtschaffenheit der Erkenntnis" genannt, nicht einmal ansatzweise erfaßt, geschweige denn beherzigt: „Es gab vor mir noch gar keine Psychologie. — " 1 3 1 Aus der eingeforderten Lauterkeit des Psychologen folge zwangsläufig, daß er die Spurensuche nach verdrängten bzw. „absichtlich aus dem Sinn" geschlagenen Erinnerungen wirklich aufgenommen, die versteckten Höhlengänge der eigenen Psyche hinreichend ausgeleuchtet und die kleinen und großen Selbstbetrügereien kompromißlos aufgedeckt habe. Das „Erkenne dich selbst" bzw. die „Bewußtmachung des Unbewußten" würde dann erwähntermaßen 132 das Erkenntnisziel präjudizieren. Andererseits aber soll der Glaube an die Effizienz der Selbsterforschung gerade ein Irrtum sein, entstanden aus der letztlichen Überschätzung und Fehldeutung des menschlichen Bewußtseins bzw. Erkenntnisvermögens. Man kann nun verschiedene Gesichtspunkte geltend machen, um ein einigermaßen adäquates Verständnis für die Polarität der Aussagen zu gewinnen. Mit Recht läßt sie sich aus dem intellektuellen Werdegang Nietzsches, d. h. aus einem veränderten Problemzugang im Spätwerk herleiten, denn das Gros der kritischen Reflexionen findet sich tatsächlich in dieser Periode. Und doch haften diesem Ansatz auch unübersehbare Mängel an. Auf der einen Seite tritt die Antinomie (wenn auch in gemilderter Form) in der frühen sowie „aufklärerischen" Phase selbst zutage, schon hier werden unüberhörbare Zweifel an der These laut, Erkenntnis dringe bis zum „Innersten" bzw. zur Trieberkenntnis vor. Umgekehrt erschöpft sich die Spätphilosophie natürlich nicht in bloßer Skepsis, vielmehr pflanzt sich besagte Antinomie fort. Das Mißtrauen gegenüber 130 131
132
Nachlaß Ende 1880, 7 [53], KSA 9, S. 328. Ecce homo, KSA 6, S. 371. Zu „Rechtschaffenheit" und „Redlichkeit" vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 162; Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 385; Ecce homo, KSA 6, S. 275; Der Antichrist, KSA 6, S. 178, 208, 248; Nachlaß Herbst 1885 - Frühjahr 1886, 1 [45], KSA 12, S. 44; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [132], KSA 13, S. 314; Nachlaß Frühjahr 1888, 15 [25], KSA 13, S. 421. Vgl. oben S. 5 4 6 - 5 4 8 .
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Kapitel 13: Die Therapeutik Nietzsches
der Möglichkeit von Psycho-Analyse sieht sich gerade jetzt mit dem Wahrhaftigkeitspostulat konfrontiert, auch erwachsen Einsichten wie etwa jene, daß der „Schmerz" den Philosophen in seine „letzte Tiefe" zwinge, dorthin, wo die Selbsterkenntnis alles „Verschleiernde, Milde, Mitdere" sich verbiete. In einem nächsten Schritt empfiehlt es sich, die „Widersprüchlichkeit" von Nietzsches Denken nicht oder nicht primär von den Perioden her, sondern noch als dessen Konsequenz aufzufassen, d. h. die zweite kritische Argumentation immer schon als unweigerliche Folge der ersten anzusetzen. So gesehen macht es wenig Sinn, die beiden Punkte gegeneinander auszuspielen, oder konkreter: Die Wahrhaftigkeit selbst ist es ja, die permanente Bedenken gegenüber dem eigenen Anspruch artikuliert. Zu dieser Erklärung greift Nietzsche mehrfach, so etwa in einer Retrospektive auf die „Morgenröthe". Bereits dieses Buch stelle nämlich „in der That einen Widerspruch dar und furchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt — warum doch? Aus Moralität!"1^ Die schließliche Aufhebung der eigenen Voraussetzung sei nur folgerichtig, alle Moral habe sich nämlich, wie es an anderer Stelle heißt, schon „selber die Schnur um den Hals gelegt, mit der sie erwürgt werden kann — werden muß"XM. In der „Genealogie" nennt es Nietzsche geradezu ein „Gesetz des Lebens", daß alle „grossen Dinge [...] durch sich selbst zu Grunde [gehen], durch einen Akt der Selbstaufhebung [...], — immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: .patere legem, quam ipse tulisti.'" So sei es gerade der christlichen Wahrhaftigkeit zuzuschreiben, daß sie am Ende, d. h. nachdem ein Zweifel den anderen in der Hinterfragung der eigenen Geschichts- und Weltdeutung abgelöst habe, den stärksten Schluß ziehe, den „Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt ,was bedeutet aller Wille %ur Wahrheit?' .. ," 1 3 5 Daß Nietzsche auch sein Denken diesem „Gesetz des Lebens" unterworfen, aber selbst noch in dieser historischen Tradition verhaftet sah, ergibt sich schon aus der durchaus aufrichtigen (also nicht zynisch gemeinten) Hochschätzung des christlichen Wahrhaftigkeitswillens. In direktem Zusammenhang damit steht eine weitere Überlegung bzw. Präzisierung. Nietzsche vollzieht (insbesondere im Spätwerk) einen dauernden Wechsel seiner Argumentationsebenen, namentlich den von der Anwendung der Wahrhaftigkeit zur Reflexion auf diese selbst, den von der „empirischen" Psychologie des Allzumenschlichen und der Kultur zur Erkenntnistheorie. Diese Abgrenzung wird freilich dadurch erschwert, daß gerade der Begriff der Psychologie äußerst weit gefaßt, zumindest aber zweideutig ist: Nietzsche bezeichnet sich nämlich sowohl dann als Psychologen, wenn er konkrete Tiefenpsychologie 133 134 135
Morgenröthe, Vorrede zur Neuausgabe von 1887, KSA 3, S. 16 (Widerspruch - H. d. V.). Nachlaß Herbst 1881, 15 [15], KSA 9, S. 640. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 410.
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in einem mit Freud vergleichbaren Sinne betreibt, als auch dann, wenn er als Erkenntniskritiker spricht. Und im letzteren Fall wenden sich die „philosophischen" Einsichten eben häufig gegen die vermeintliche Gewißheit der eigenen psychologischen Ergebnisse. In Rechnung zu stellen ist endlich, daß die Unterscheidung zwischen angewandter Psychologie und Erkenntnistheorie wohl zeitweilig als heuristische Brücke dienen kann, der Vielfalt und unaufhörlichen Durchmischung verschiedenster Argumentationen aber nicht gerecht wird. So bietet sich zum Schluß ein Leitfaden zur Lektüre an, der Nietzsches perspektivischer Methode vielleicht am ehesten angemessen ist. Die zahlreichen gegenläufigen Diskurse lassen sich nämlich oftmals dahingehend strukturieren, daß man sich (speziell im Spätwerk) folgende Grundfrage vor Augen hält: Zu wem spricht Nietzsche an gegebener Stelle? Wer ist der Vertraute, der Eingeweihte? Wer sein Gegner? Eine diesbezügliche Abgrenzung wird insofern erleichtert, als Nietzsche, wenn er seine Überzeugungen vorträgt, geradezu regelmäßig im Plural bzw. in der „Wir"-Form spricht („Wir Erkennenden", „Wir Philosophen", „Wir Psychologen" usw.). Dieses „Wir" soll in Relation zum kritisierten Gegenüber („Ihr jedoch ...") allemal ein höheres Reflexionsniveau zum Ausdruck bringen und kann eine, muß freilich keine erkenntnistheoretische Erwägung enthalten. So etwa hätten „wir Psychologen der Zukunft" keinen Hang mehr zur Selbstbeobachtung, nachdem Kants Erkenntnistheorie in die Schranken gewiesen sei.136 Aber ebenso gehöre es zu ,,unsere[n] Wahrheiten", daß man sich der „Heerdenthier-Moral"137 erwehre und „unser Fragezeichen" sei auch, ob wir womöglich selbst noch als Nihilisten lebten. 138 Solche Passagen ließen sich beliebig weiterzitieren, wesentlich ist hier nur, daß sich die Widersprüchlichkeit der eigenen Gedanken oft genug als eine scheinbare herausstellt, wenn man die entsprechende gegnerische Position mitberücksichtigt. Dies mag an einem Beispiel verdeutlicht werden. Gegen die religiöse Weltanschauung und ihre rein affektive Auslegung des Geschehens („Beweis der Kraft") insistiert Nietzsche mehrfach auf den Einsichten „unserer" modernen Tatsachen-Wissenschaft. Gegen deren Glauben an das „factum brutum" nimmt er aber neuerlich eine „Wir"-Perspektive ein und betont, daß alle Auslegung immer auch schon ein affektives Überwältigen und Interpretieren sei. Abstrahiert man nun vom Kontext der Begründungen, d. h. in diesem Fall von der jeweils anders bewerteten Rolle der Wissenschaft (einmal als Bündnispartner, dann gerade als Kontrahent), so ließe sich unschwer eine theoretische Unverträglichkeit herauslesen. Denn zu Recht könnte jetzt eingewendet (und mit der Gegenüberstellung entsprechender Aphorismen „belegt") werden, daß Nietzsche dem zu136 137 138
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [27], KSA 13, S. 230. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 124. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 581.
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Kapitel 13: Die Therapeudk Nietzsches
vor beanstandeten affektiven Weltbild der Religion selbst nur einen affektiv fundierten Einwand entgegenzuhalten weiß. Ein anderes Beispiel: Erwähntermaßen darf die Formel „amor fati" als „Realitätsprinzip"139 Nietzsches gelten, weil mit ihr die Akzeptanz der Wirklichkeit gefordert wird, so wie sie ist bzw. gewesen ist. Demgegenüber steht die Behauptung, daß die faktische bzw. „die" Realität eine reine Fiktion sei, woraus man absurderweise folgern könnte: Der Mensch solle etwas bejahen und immer wieder von neuem wollen, was es gar nicht gibt! Auch hier läßt sich dasselbe Schema anwenden: Explizit gegen den Idealismus, der verlange, der Mensch solle „anders" oder „besser" werden, moniert Nietzsche, dieser verdiene genau darum allen Respekt, weil er so ist, wie er ist. In der höheren Sprache des „Wir" wird dagegen ein ästhetisches Verfälschungsprinzip verfochten, das dann als „eigentliches" Realitätsprinzip anzusprechen wäre. Mit einem Wort: Nietzsches Werk liegt nicht nur eine Theorie des Perspektivismus zugrunde, sondern es ist seinerseits bereits angewandter Perspektivismus. Und er selbst hat dessen hierarchische Struktur mit folgender Erklärung versehen: Unsre höchsten Einsichten müssen — und sollen! — wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür [...] vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, kurz überall, wo man [an] eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, — das hebt sich nicht sowohl dadurch von einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das Wesentliche ist, dass der von Unten hinauf die Dinge sieht, — der Esoteriker aber von Oben herab!XA0
5.5. Die „Schelmenkappe" als Therapeutikum Alle Thematisierung des „Erkenne dich selbst!" bleibt solange folgenlos, als aus ihr nicht auch therapeutisch-praktische Konsequenzen hervorgehen. Mag man es nun die „Wir"-Perspektive oder eine sich selbst unterhöhlende Wahrhaftigkeit nennen, jedenfalls fordert Nietzsche im Zusammenspiel mit der physiotherapeutischen Neuorientierung und einer Sensibilität gegenüber den „kleinen Dingen" des Alltags auch die folgende Psychohygienik ein: Da der grundlegende Scheincharakter des Daseins und damit das mißverständliche, wenn nicht „lebensfeindliche" Gebot der Selbsterkenntnis eben erwiesen sei, gelte es, das Verkenntisprinzip als solches noch zu bejahen, d. h. den Willen zur Täuschung und Selbsttäuschung gerade zu befördern, was per se ausschließe, daß dieser 139 140
Vgl. oben S. 5 5 2 - 5 5 4 . Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 48 (Exoterische, Esoterische - H. d. V.).
5. Erkenne dich selbst — ein Mißverständnis?
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als moralisches Skandalon diskreditiert werde. Das Individuum habe sich daher willentlich eine „Schelmenkappe " 1 4 1 oder auch Maske aufzusetzen, um nicht dauernd auf der Hut vor sich selber sein zu müssen, oder wie es in einem Entwurf zu „Zarathustra" heißt: „Als ich die Lust an der Wahrheit haben wollte, erfand ich die Lüge und den Schein — das Nahe und Ferne, Vergangene und Künftige, das Perspektivische. Da legte ich in mich selber die Dunkelheit und den Trug und machte mich zu einer Täuschung vor mir selber."142 Ein solches, bereits angesprochenes143 Künsdertum des Lebens hat nach Nietzsche mit der unbewußten Verlogenheit des Idealismus freilich sowenig gemein wie mit der „Schauspielerei" Wagners.144 Vielmehr habe es den Schein gerade als Schein, d. h. als „metaphysisches"145 Prinzip des Lebens bereits begriffen und eben deshalb höchstes Mißtrauen gegen allen Wahrheits- und Selbsterkennungswillen entwickelt. Die jetzige Sehnsucht nach Oberfläche und Vordergrund ist dem Verständnis nach also kein bloßer Irrationalismus, sondern ein Therapeutikum aus dem Schöße der Reflexion. Nicht zufällig verlangt Zarathustra, man müsse nun lernen, „Schale [zu] haben und schönen Schein und kluge Blindheit!"146 Dieser neuen Kunst des Lebens, die zugleich doch nur eine Weisheit der Antike war, mißt Nietzsche eine derartige Bedeutung bei, daß er sie, von minimalen Abweichungen abgesehen, in zwei seiner Schriften mit denselben Worten umspielt: Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut «¿¿/-zu-wissen, als Künstler [...] Nein, dieser [...] Wille zur Wahrheit, zur „Wahrheit um jeden Preis", dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit — ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu t i e f . . . Oh diese Griechen! sie verstanden sich darauf, zu leben! Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehn zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich — aus Tiefe ...147
141 142 143 144 145 146
147
Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 464. Nach]aß November 1882-November 1883, 5 [244], KSA 10, S. 216. Vgl. oben S. 3 5 5 - 3 5 7 . Vgl. etwa Der Fall Wagner, KSA 6, S. 29 ff.; vgl. oben S. 427 f. Vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [18], KSA 13, S. 226; vgl. oben S. 355. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 242 f. (kluge Blindheit - H. d. V.). Zum Thema „Selbsttäuschung als Notwendigkeit und als Klugheit" vgl. weitere Reflexionen in: Nachlaß Frühjahr— Herbst 1881, 11 [162], KSA 9, S. 504; Nachlaß Herbst 1881, 12 [32], KSA 9, S. 581; Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [294], KSA 11, S. 228; Nachlaß Herbst 1887, 10 [110], KSA 12, S. 518 f.; Ecce homo, KSA 6, S. 293. Vgl. Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 438 f. sowie Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur Neuausgabe von 1887, KSA 3, S. 351 f.; vgl. auch Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, KSA 12, S. 79.
Kapitel 14 Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse Freud hat sein Unbehagen an der Idee des Ubermenschen zwar vage, aber doch insoweit artikuliert, daß sich eine Reihe weiterer grundsätzlicher Einwände gegen das Denken Nietzsches ableiten ließ. 1 Im folgenden findet sich die entsprechende „Replik" Nietzsches, wobei sich von selbst versteht, daß eine solche Argumentation nur aus dem Opus erschlossen werden kann. Namentlich wird dabei zu fragen sein, ob Freuds gewichtiger Vorwurf, Nietzsche sei bei all seiner psychologischen Hellsichtigkeit den „Theologen" letztlich nicht losgeworden, sich nicht auf Freud selbst zurückwenden läßt, oder allgemeiner: ob Theorie und Praxis der Psychoanalyse nicht ihrerseits von nihilistischen, d. h. lebensverneinenden Grundannahmen geleitet sind.
1. Freud und die „weltliche Seelsorge" 1.1. Die psychoanalytische Gemeinde und ihre Feinde Ein Gutteil der Anziehungskraft der Psychoanalyse verdankt sich nach wie vor dem exklusiven Anspruch des Aufklärers Freud, die von ihm ins Leben gerufene Disziplin habe sich, da einzig und allein noch dem Impetus der Wissenschaft verpflichtet, von der religiösen Ausdeutung und Behandlung menschlichen Seelenleids endlich und endgültig gelöst. Die ursprüngliche Vorstellung freilich, damit sei auch ein breiter Konsens über die nunmehr realistischen Grundlagen der Psychologie geschaffen, sollte sich schon bald als Illusion erweisen. Freud mußte zur Kenntnis nehmen, daß seine Lehre ihrerseits wissenschaftliche (und anderweitige) Gegnerschaften erst recht auf den Plan rief, wobei ihm, wie die „Massenpsychologie" zeigt, durchaus bewußt war, daß jede sich einmal formierende Bewegung — sei es eine religiöse, sei es eine säkulare wie die sozialistische, sei es selbst eine wissenschaftliche — in der potentiellen Gefahr steht, gröbste „Intoleranz gegen die Aussenstehenden" 2 zu entwickeln. De facto traf diese Einsicht immer wieder auf die psychoanalytische Bewegung selbst zu. Angefangen von den Grabenkämpfen mit den schließlichen Renegaten Adler und 1 2
Vgl. oben S. 5 1 7 - 5 2 6 . Massenpsychologie und Ich-Analyse, STA 9, S. 93.
1. Freud und die „weltliche Seelsorge"
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Jung über unselige Episoden mit diversen Psychoanalytikern bis herauf zu den jüngeren wissenschaftlichen Fehden rund um das S. Freud Archiv 3 erweckt die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung nicht selten den Eindruck, als ob theoretische Richtungskämpfe auch den willkommenen Vorwand bildeten, um die Macht einer „Priesterkaste" innerhalb einer zusehends wachsenden Gemeinde zu zementieren. Und außer Frage steht wohl, daß sich Freud entgegen seiner habituellen Zurückhaltung mehrmals zu ausgesprochenen Polemiken gegen die Ketzerei „Aussenstehender" hinreißen ließ. So schreckte er nicht davor zurück, Alfred Adler öffentlich zu denunzieren4 oder C. G. Jung der Lächerlichkeit preiszugeben, indem er einen von Jungs Patienten zum Kronzeugen dafür aufrief, wie sehr dessen Therapie noch immer den ausgetretenen religiösen Pfaden folge: „Man verließ die Analyse als armer Sünder mit den stärksten Zerknirschungsgefuhlen und den besten Vorsätzen, aber gleichzeitig in tiefster Entmutigung. Was er [Jung] mir empfahl, hätte jeder Pfarrer mir auch geraten" 5 . Unbestreitbar ist im weiteren, daß Freud stellenweise eine eigentümliche Strategie der Immunisierung gegenüber seinen Kritikern bzw. „ahnungslosen" Gegnern einschlug, indem er etwa meinte, zwar möchten er und sein Kreis den unvorteilhaften Eindruck vermeiden, „als seien wir Geheimbündler und betreiben eine Geheimwissenschaft", letztlich aber bleibe nichts anderes übrig, als die Uberzeugung zu „verkünden", es habe „niemand das Recht, in die Psychoanalyse dreinzureden", sofern er nicht selbst eine „Analyse an seiner eigenen Person" gemacht habe. 6 Oder indem er am Beispiel des Malers und „Teufelsneurotikers" Ch. Haitzmann apodiktisch darauf bestand, er habe gar nicht die Absicht, diesen Fall als „Beweismittel" für die Gültigkeit der Psychoanalyse zu verwenden, im Gegenteil: „[...] ich setze vielmehr die Psychoanalyse als gültig voraus" 7 . Oder indem er auf die Frage, ob man der herrschenden Ignoranz gegenüber der Psychoanalyse nicht mit der Kraft des besseren Arguments begegnen könne, zur Antwort fand: „Ich bitte Sie, tun Sie nichts von alledem. Es wäre unnütz; am besten Sie verbergen überhaupt ihr besseres Wissen" 8 — eine Einstellung, die schon in der „Psychopathologie des Alltagslebens" durchschimmert, wo die Deutungen der Psychoanalytiker mit der Weisheit des König Salomo verglichen werden, „der nach der orientalischen Sage die Sprache der Tiere verstand." 9 Schwerer als diese in exklusivem Eingeweihtenwissen begründeten Abschottungsversuche gegenüber den Skeptikern der Psychoanalyse wiegt freilich, daß 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. Malcolm, J., Vater, lieber Vater ... Aus dem Sigmund-Freud-Archiv, a. a. O., S. 9 ff. Vgl. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, GW 10, S. 94. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, GW 10, S. 109 f. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 507. Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert, STA 7, S. 299. 34. Vorlesung der Neuen Folge, Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen, STA 1, S. 567. Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW 4, S. 222.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
Freud, langsam überdrüssig und müde all der nicht enden wollenden An- und Untergriffe gegen seine Wissenschaft, schließlich zur Gegenattacke überging und die Kritiker verschiedentlich mit Kranken auf eine Stufe stellte. Tenor dieser im Prinzip immer ähnlichen Argumentation: Die Kritiker würden sich nicht viel anders als die Neurotiker benehmen, auch ihre Opposition sei im Grunde eine affektive Abneigung gegen die unangenehmen Entdeckungen der Psychoanalyse, ein „Widerstand", der sich nur intellektuell maskiere. Was seine Patienten von den Kritikern noch unterscheide, sei zunächst einmal, daß man diesen tatsächlich nachweisen könne, daß sich „alles so abspielte, wie es nach den Voraussetzungen geschehen mußte" und man nötigenfalls auch über „Pressionsmittel verfügte, um sie ihre Widerstände einsehen und überwinden zu lassen", Mittel, die man bei den „angeblich Gesunden" zwangsläufig nicht in Anwendung bringen könne; und im weiteren, daß die eigene Klientel natürlich zahlenmäßig beschränkt war, währenddessen es „keine Kleinigkeit", ja nachgerade etwas „Schreckhaftes" sei, nunmehr „das ganze Menschengeschlecht [!] zum Patienten zu haben" 1 0 . Gewiß bediente sich Freud zugleich moderater Töne und drängte auf Einvernehmen mit wesentlichen Teilen seiner Kritiker. Dieser Stimmungswandel läßt sich freilich auch von einem pragmatischen Hintergrund her erklären. Im Zuge der zunehmenden Bedrohung durch die medizinische Zunft, die sich anschickte, den sogenannten Laienanalytikern (nichtärztlichen Psychotherapeuten) ihre Berufsbefähigung zu entziehen, galt es, ein möglichst breites Spektrum psychologischer Ansätze bzw. Schulen zusammenzuschweißen, um gewissermaßen mit vereinten Kräften schlagen zu können. Namentlich die Bemühungen des protestantischen Seelsorgers O. Pfister, eine psychoanalytische Pädagogik aus der Taufe zu heben, waren Freud schon des längeren in allen Details vertraut, und trotz eines elementaren Unbehagens gegenüber der möglichen Theologisierung der Psychoanalyse hatte er verschiedene seiner Arbeiten durchaus mit Wohlwollen bedacht. 11 Nun aber war die Zeit gekommen, auch weniger sympathische Strömungen der Psychotherapie wenn schon nicht in die eigenen Reihen aufzunehmen, so doch als Partner zu akzeptieren, um die gemeinsame Front gegen die etablierte Medizin nicht von vornherein zu schwächen. 1927, im selben Jahr also, in dem Freud auch sein religionskritisches Traktat „Die Zukunft einer Illusion" verfaßt, schreibt er: Der berufsmäßige Laienanalytiker wird es nicht schwer haben, sich das Ansehen zu verschaffen, das ihm als einem weltlichen Seelsorger gebührt. Mit der Formel 10
11
Vgl. Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, G W 14, S. 108 f.; Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, G W 10, S. 62; Uber Psychoanalyse, 3. Vorlesung, G W 8, S. 39 f.; Kurzer Abriß der Psychoanalyse, G W 13, S. 416 f. Vgl. etwa Geleitwort zu O. Pfister, Die psychoanalytische Methode, G W 10, S. 450; Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, G W 10, S. 78 f.
1. Freud und die „weltliche Seelsorge"
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„ Weltliche Seelsorge" könnte man überhaupt die Funktion beschreiben, die der Analytiker, sei er nun Arzt oder Laie, dem Publikum gegenüber zu erfüllen hat. Unsere Freunde unter den protestantischen und neuerlich auch katholischen Geistlichen befreien oft ihre Pfarrkinder von ihren Lebenshemmungen, indem sie ihnen ein Stück analytischer Aufklärung über ihre Konflikte geboten haben. Unsere Gegner, die Adlerschen Individualpsychologen, erstreben dieselbe Änderung bei den haidos und untüchtig Gewordenen, indem sie ihr Interesse für soziale Gemeinschaft wecken, nachdem sie ihnen einen einzigen Winkel ihres Seelenlebens beleuchtet und ihnen gezeigt haben, welchen Anteil ihre egoistischen und mißtrauischen Regungen an ihrem Kranksein haben. Beide Verfahren, die ihre Kraft der Anlehnung an die Analyse verdanken, haben ihren Platz in der Psychotherapie.12
Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Pikanterie, daß der „gotdose Jude" Freud hier sein kritisches Verhältnis zur Religion demonstrativ hintanstellte, indem er die protestantischen und katholischen Therapeuten unisono zu seinen Freunden erklärte, um im Gegenzug die eigentlichen Kontrahenten in diesem fiktiven Bündnis beim Namen zu nennen: die Adlerschen Häretiker, welche sich mit einem „einzigen Winkel" Psychologie begnügten.
1.2. Die Inkompatibilität von Psychotherapie und Beichte Dieser kurze Streifzug durch die Geschichte der Psychoanalyse und einige ihrer Merkwürdigkeiten wirft zwar etwas Licht auf die Unzulänglichkeiten einer institutionalisierten Bewegung und die allzumenschlichen Seiten ihres Gründers, im Hinblick auf Nietzsche ist er allerdings von akzidenteller Bedeutung. Denn um einen gewissen Dogmatismus und entsprechende Praktiken der „Kirche" Psychoanalyse zu belegen, würde es der Reflexionen Nietzsches natürlich nicht bedürfen. Mit gleicher Berechtigung könnte man im Gegenzug gerade auf die verheerende Geschichte des Nietzsche-Archivs verweisen. Für die anstehende Diskussion, d. h. den Verdacht, die Psychoanalyse sei vielleicht nur ein Stück subtil umgesetzter Theologie bzw. ein nicht eingestandener oder wahrgenommener Nihilismus, wäre mit bloßer Institutionskritik indes nicht viel gewonnen. So gesehen wird also an der psychoanalytischen Theorie und Therapie selbst anzusetzen sein. Und insbesondere im Hinblick auf letztere hat Freud, wie es scheint, starke Argumente gegen den genannten Verdacht zur Hand. Solche Argumente sind freilich nicht in jenen Überzeugungen zu suchen, von denen Freud selbst meinte oder jedenfalls implizierte, sie drückten bereits einen Gegensatz seiner wissenschaftlichen Neuorientierung zur religiösen Weltanschauung aus. Wenn es etwa heißt, es sei nicht Aufgabe des Therapeuten, als 12
Die Frage der Laienanalyse, Nachwort, STA Egb., S. 346 f. (H. d. V.).
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
„Prophet" aufzutreten (so der Vorwurf an C. G. Jung 13 ) und „Menschen nach seinem Vorbilde zu schaffen" bzw. ihn im „Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild" zu gestalten, sondern zur „Befreiung und Vollendung seines Wesens" 14 anzuhalten, so zeugen solche Sätze zwar von hehren Idealen, im Prinzip aber sind sie wenig geeignet, die Demarkationslinie zu religiösen Bekenntnissen zu verdeutlichen. Weit eher dagegen der Umstand, daß der psychisch Erkrankte im Gegensatz zum „Sünder" das ihn erwartende Wertesystem bzw. die der Therapie zugrundeliegende Lehre gar nicht internalisiert oder studiert haben muß, im Gegenteil: „Wir verlangen nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Uberzeugung oder Anhängerschaft an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste Einstellung bei ihnen." 15 Die Vertiefung in die psychoanalytische Theorie, so die bekannte Begründung, habe auf das Therapieergebnis eben einen ähnlichen Einfluß wie „die Verteilung von Menükarten zur Zeit einer Hungersnot auf den Hunger" 16 , mehr noch: Nicht selten wirke sie nachgerade kontraproduktiv und diene der Verstärkung eines Widerstandes gegen die wirkliche Aufdeckung der Leidensverursachung. Erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem „Widerstand" des Patienten gibt nun den Fingerzeig für ein Kriterium, das im besonderen geeignet scheint, die analytische Therapie von den Formen der Beichte abzugrenzen. Dem Selbstverständnis Freuds zufolge basiert sie nämlich nicht vorrangig auf außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen des Therapeuten, auch nicht auf einem noch so gut gemeinten, auf raschen Erfolg drängenden Helfenwollen (auch wenn dies, wie er meint, „grausam" 17 klinge) und schon gar nicht auf Glaubensbekenntnissen, sondern auf einem technischen Verfahren, das erlernt sein will. Man mute einem Arzt, so Freud, ja auch nicht die Untersuchung eines exstirpierten Tumors zu, wenn man nicht sicher wäre, daß er mit der histologischen Technik vertraut sei. 18 Bekanntlich zeichnet sich die Geschichte der psychoanalytischen Technik ja durch den Paradigmenwechsel von den hypnotischen Verfahren zur definitiven Verabschiedung derselben aus, eine Zäsur, die nicht zufällig in das Thema „Priester" hineinspielt. Insbesondere seine anfänglichen Erfahrungen machten Freud nur zu deutlich bewußt, welche Macht dem Hypnotiseur de facto übertragen ist: „Die Hypnose schenkt dem Arzt eine Autorität, wie sie wahrscheinlich
13
14
15 16 17 18
17. Vorlesung, Der Sinn der Symptome, STA 1, S. 269; vgl. auch Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 270. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 101; Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 246 f. 16. Vorlesung, Psychoanalyse und Psychiatrie, STA 1, S. 246. Über ,wilde' Psychoanalyse, STA Egb., S. 139. Vgl. Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 245. Vgl. Über Psychotherapie, STA Egb., S. 113.
1. Freud und die „weltliche Seelsorge"
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niemals ein Priester oder Wundermann besessen hat, indem sie alles seelische Interesse des Hypnotisierten auf die Person des Arztes vereinigt"19. Aber auch zur Zeit, als die gemäßigteren hypnokathartischen bzw. drucktechnischen Experimente das therapeutische Reservoir bereits ergänzt hatten, als Freud die Patienten unter leichtem Druck zu ihren Erinnerungen gewissermaßen nötigte, ihnen zugleich aber auch Informationen über die „wundersame Welt der psychischen Vorgänge" zukommen ließ, findet sich eine bezeichnende Analogie: Der Therapeut müsse eben so gut wie möglich als Aufklärer und „Vertreter einer freieren oder überlegeneren Weltauffassung" wirken, als „Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse gleichsam Absolution erteilt"20. Aus den genannten technischen und psychologischen Gründen sowie geleitet von einem reflektderteren Begriff von Aufklärung verzichtete Freud erwähntermaßen21 auf die hypnotischen Methoden. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß sie reine „Kosmetik" waren, nicht „wurzelwärts" zum Entstehungsherd der Erkrankung vordrangen und die mühsame Erkenntnisarbeit des Patienten an sich selbst zugunsten kurzfristiger Heilungseffekte hintanstellten. Freilich, auch mit der Zug um Zug ins Leben gerufenen neuen Technik, die sich vor allem um „Übertragung, Widerstand, analytische Grundregel" zentrierte, war die Möglichkeit einer suggestiven Gängelung des Patienten nach Art der religiösen Einflußnahme noch nicht prinzipiell auszuschließen, im Gegenteil: Freud mußte sich eingestehen, daß er die Hypnose nur aufgegeben hatte, „um die Suggestion in der Gestalt der Übertragung wiederzuentdecken."22 Da die Übertragung allein schon Leidenssymptome beseitigen konnte, jedenfalls solange, als sie eben andauerte, durfte hier fraglos von einer „Suggestivbehandlung" gesprochen werden, nicht aber von Psychoanalyse. Diesen Namen verdiene die Therapie erst, wenn die Intensität der Übertragung noch zur „Überwindung der Widerstände" verwendet und die Übertragung schlußendlich aufgelöst bzw. selbst „abgetragen" worden sei.23 Redlicherweise gab Freud aber auch hier zu bedenken, daß eine noch so objektive Technik ihre mißbräuchliche Verwendung nicht zu verhindern vermag, namentlich wenn das „gefahrliche Mittel" der Übertragung in die Hände Ungeschulter gerate: „Aber vor Mißbrauch ist kein ärztliches Mittel oder Verfahren geschützt; wenn ein Messer nicht schneidet, kann es auch nicht zur Heilung dienen."24 Wie Freud mit der Zeit ernüchtert feststellte, waren indes 19 20 21 22 23
24
Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), STA Egb., S. 31. Breuer, J. / Freud, S., Studien über Hysterie, GW 1, S. 285 (H. d. V.). Vgl. oben S. 529 f. 27. Vorlesung, Die Übertragung, STA 1, S. 429 (H. d. V.). Vgl. Zur Einleitung der Behandlung, STA Egb., S. 202 f.; 28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 435. 28. Vorlesung, Die analytische Therapie, STA 1, S. 444.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
auch die professionellen Analytiker aufgrund ihrer Eigenarten und psychischen Blockaden vor der Gefahr nicht gefeit, ihre „Macht [...] zu mißbrauchen." Dieses Zugeständnis fuhrt bekanntlich zum Konzept der „Lehranalyse" bzw. „unendlichen Analyse" 25 , einer prophylaktischen Maßnahme mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit des Analytikers im Hinblick auf seine störenden Gegenübertragungen zu schärfen und dadurch die objektive Handhabung der Technik zu gewährleisten. Neben, aber nicht unabhängig vom Problem der Übertragung mußte noch ein weiterer möglicher Manipulationsfaktor in der analytischen Situation berücksichtigt werden: die ungeheure Wirkung des Wortes, seine „magische" Ausstrahlung, seine „Zauberkraft", wie Freud es auch nennt. 26 Geradezu exemplarisch weiß sich dieser archaischen Macht ja der Hypnotiseur zu bedienen, dem bei geeigneten Voraussetzungen wenige Worte genügen, damit der Hypnotisierte dem Bann seiner suggestiven Direktiven verfällt und auf Befehl etwa eine ganze Reihe verschollen geglaubter Erinnerungen produziert. Diesen Umstand konnte sich die neue Psychoanalyse, die mit der Aufnahmefähigkeit des Bewußtseins gegenüber unbewußten Prozessen auch unter abgeschwächten suggestiven Bedingungen rechnete, in besonderer Weise zunutze machen. Durch die Einfuhrung der „analytischen Grundregel" sollte zum einen gewährleistet werden, daß der Patient in der entspannten, quasihypnotischen Atmosphäre des therapeutischen Raumes und seiner nunmehrigen Anordnung die eigene psychische Zensur lockert, indem er verpflichtet wird, ungehindert alles zu sagen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Dadurch daß diese losen Einfalle zum anderen aber an der Spiegelwand „Analytiker" gleichsam verpuffen und auf den Patienten selbst zurückschlagen, weil der Analytiker im Gegensatz zum Suggesteur dazu angehalten ist, sich voreiliger „Worte" bzw. Deutungen zu enthalten oder mit ihnen jedenfalls solange zuzuwarten, bis der Patient selbst vor der Aufklärung eines ihm unverständlichen Leidenskomplexes steht, — dadurch sind idealtypische Rahmenbedingungen geschaffen, daß die magische Kraft der Worte einer methodischen Kontrolle unterworfen, d. h. letztlich in den Dienst der Selbstreflexion und nicht der Suggestion gestellt ist. Freud war sich darüber im klaren, daß in der analytischen Behandlung eigentlich „nichts anderes vor[geht] als ein Austausch von Worten" 27 . Die Zauberkraft derselben einmal hinterfragt und methodisch kanalisiert, mußte die Sprache mithin zum unentbehrlichen und ,,mächtige[n] Instrument" der psychischen Behandlung erklärt werden. Insofern sei, wie in „Die Frage der Laienanalyse" mo-
25 26
27
Vgl. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 388 f. Vgl. Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), STA Egb., S. 26; 1. Vorlesung, Einleitung, STA 1, S. 43. 1. Vorlesung, Einleitung, STA 1, S. 43.
1. Freud und die „weltliche Seelsorge"
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niert wird, der populäre Einwand nicht recht zu verstehen, es werde in der analytischen Therapie „nur" geredet. An dieser Stelle der Argumentation bringt Freud nun einen „unparteiischen" Diskussionspartner ins Spiel, den er sagen läßt: Wenn er die vorigen Ausführungen recht verstanden habe, dann liege der Effekt der Therapie also darin, daß den Nervösen ein Geheimnis bedrückt, und indem der Analytiker ihn dazu bringt, es auszusprechen, werde er von diesem Druck entlastet. Und gleich im nächsten Satz, nun unverhohlen kritisch: „ [,]Das ist ja das Prinzip der Beichte, dessen sich die katholische Kirche seit jeher zur Versicherung ihrer Herrschaft über die Gemüter bedient hat.' " Darauf Freud: Die Beichte gehe wohl in die -Analyse ein, aber höchstens und gleichsam als ihre Einleitung, im Grunde aber sei sie weit davon entfernt, Wesen oder Wirkung der Analyse auch nur annähernd zu treffen, denn: „In der Beichte sagt der Sünder, was er weiß, in der Analyse soll der Neurotiker mehr sagen." 28 Diese Kontrastierung wird im „Abriss der Psychoanalyse", und zwar im Zusammenhang mit dem analytischen Vertrag „volle Aufrichtigkeit gegen strenge Diskretion", nochmals angesprochen: „Das macht den Eindruck, als strebten wir nur die Stellung eines weltlichen Beichtvaters an. Aber der Unterschied ist groß, denn wir wollen von ihm [dem Patienten] nicht nur hören, was er weiss und vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiss." 29 Mit anderen Worten: Während sich die Religion an das Bewußtsein des Sünders wende und ihn zusätzlich durch die „Aufnahme in die katholische, protestantische [...] Gemeinschaft" zu entlasten suche, setze sich die Psychotherapie zum Ziel, über eine möglichst vollständige Analyse des Unbewußten dem Ich des Patienten wieder jene Energien zur Verfügung zu stellen, die zum einen durch die Verdrängungen im Unbewußten gebunden und zum anderen vom Ich zur Aufrechterhaltung derselben bislang verwendet worden seien. Eine solche „Seelsorge im besten Sinne" lasse mithin die grundlegend divergente Ausrichtung der Psychotherapie gegenüber der Beichte deutlich werden. 30 In einem Brief an O. Pfister vom November 1928, der retrospektiv auf die vor kurzem erschienenen Schriften „Die Frage der Laienanalyse" sowie „Die Zukunft einer Illusion" Bezug nimmt, spricht Freud gewissermaßen sein Schlußwort: Ich weiß nicht, ob Sie das geheime Band zwischen der „Laienanalyse" und der „Illusion" erraten haben. In der ersten will ich die Analyse vor den Ärzten, in der anderen vor den Priestern schützen. Ich möchte sie einem Stand übergeben, der noch nicht existiert, einem Stand von weltlichen Seelsorgern, die Arzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen.31
28 29 30 31
Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 280 f. (H. d. V.). Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 99. Vgl. Die Frage der Laienanalyse, Nachwort, STA Egb., S. 346 f. S. Freud - O. Pfister, Briefe 1 9 0 9 - 1 9 3 9 , a. a. O., S. 136.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
2. Nietzsches „Genealogie der Moral" als Einstieg fiir die Frage: Ist der Psychoanalytiker ein Priester ? 2.1. Die „Erbsünde" der Psychoanalyse Namentlich die dritte Abhandlung der „Genealogie der Moral" enthält in komprimierter Form eine Kritik des Priesters und seiner Praktiken. Wenn im folgenden diese Argumentation auf jene Freuds umgelegt, d. h. auf deren eventuell religiöse Implikationen abgesucht wird, so gilt es seriöserweise festzuhalten, daß auf die Kasuistik der psychoanalytischen Technik nur zum Teil repliziert werden kann. Soweit dies (auch über die „Genealogie" hinaus) möglich ist, wird später darauf zurückzukommen sein. De facto läßt sich freilich die Technik, auch nach dem Selbstverständnis ihres Begründers, von der dahinterstehenden Theorie (welche ihm wiederum durch die empirische Erfahrung bestätigt schien) gar nicht abkoppeln. So etwa wird das Phänomen der Übertragung ja nur unter der These verständlich, die neurotischen Konflikte würden in der biographischen, vor allem infantilen Vorgeschichte der Patienten ihren Ausgangspunkt nehmen, und wenn sie sich nun in der Gegenwart im Analytiker spiegelten, so bestehe eine wesentliche Aufgabe der Therapie eben in der Fruchtbarmachung und Analyse dieser Übertragungen, d. h. in ihrer folgerichtigen „Zurückfuhrung auf die Vergangenheit"32. Ebenso wird der Analytiker beim „Austausch von Worten" nicht nur darauf drängen, daß über die analytische Grundregel erinnert wird, sondern er muß ein konkretes Vorverständnis darüber haben, was als Erinnerungsmaterial von Relevanz ist. Und daß sich schließlich der Widerstand des Patienten vorzugsweise gegen die peinlichen und verpönten Dinge seiner Sozialisation wendet, bettet denselben wiederum in den Kontext einer allgemeinen Kultur- und Moraltheorie ein. Oder anders: Es ist nicht nur legitim, sondern macht auch methodischen Sinn, zunächst an Fundamenten der Theorie selbst anzusetzen, um über ein mögliches Naheverhältnis zwischen psychoanalytischer und religiöser Weltanschauung zu entscheiden. Tatsächlich ist es auch kein Zufall, daß sich die großen Auseinandersetzungen mit anderen psychologischen Schulen nicht primär an der Technik, sondern an den theoretischen Grundlagen entzündeten, namentlich aber an jenem archimedischen Punkt, dessen Aufdekkung allein genügt habe, die Psychoanalyse unter „die wertvollen Neuerwerbungen der Menschheit"33 einzureihen: jenem Ödipuskomplex, zu dem sich, jedenfalls soweit es die Herleitung des menschlichen Schuldgeßihls betrifft, auch ein
32
33
Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, STA Egb., S. 211. Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 120.
2. Ist der Psychoanalytiker ein Priester?
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kritischer Kommentar der „Genealogie der Moral" sozusagen antizipierend einstellt. Nietzsches Thesen zur Herkunft von „Schuld" und „schlechtem Gewissen" sind an zwei Stellen der Untersuchung34 bereits näher referiert worden, sodaß hier eine äußerst komprimierte Zusammenfassung genügen mag. Die Genealogie der „Schuld" nimmt Bezug auf das Obligationenrecht und die Idee, daß der Schuldner dem Gläubiger seine Schulden in materieller Form zurückzuzahlen hat oder aber, wenn dies nicht möglich ist, daß dem Gläubiger ein „Anrecht auf Grausamkeit" eingeräumt wird. Seit jeher stand dieses Recht dem Gemeinwesen zu, das sich der härtesten und rücksichtslosesten Strafsanktionen bediente, um die Verfehlungen des Einzelnen gegen die Gemeinde zu ahnden. Da freilich mit der Verfeinerung der Sittlichkeit die Vergehen der Individuen nicht mehr im selben Maße die Existenz des Sozialgefiiges gefährdeten wie früher, konnte das Strafrecht zunehmend gelockert werden und sich der ursprüngliche Gedanke, „jedes Vergehen als in irgend einem Sinne abzahlbar zu nehmen", als immer humaneres Strafrecht in die Tat umsetzen. Die letzte Konsequenz dieser Entwicklung, ihre Selbstaufhebung, wäre dann mit dem Machtbewußtsein einer Gesellschaft erreicht, die sich den Luxus leistet, ihren Schädiger frei zu lassen, was in Nietzsche die Utopie einer straflosen Gesellschaft aufkommen läßt. In früheren Zeiten ist das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis indes nochmals in einer uns heute seltsam anmutenden Weise als Schuld der Nachkommen gegenüber den Vorfahren interpretiert worden, wobei mit der Erstarkung des eigenen Geschlechts die abzugeltenden Schulden proportional anwuchsen, da man den Ahnen die eigene Macht ja zu verdanken schien — mit dem Resultat, daß die Vorfahren der mächtigsten Geschlechter schließlich zu „Gott" verdichtet wurden und im Monotheismus ein „Maximum des Schuldgefühls" entstand. Aber auch hier rechnet Nietzsche mit einer Umkehrbewegung: Man dürfe erwarten, daß der unaufhaltsame Niedergang des monotheistischen Glaubens zu einer erheblichen Verringerung des menschlichen Schuldbewußtseins führe, ja daß der Sieg des Atheismus dem Menschen zuletzt zu einer „Art ^weiter Unschuld" verhelfen könnte. Die andere Genealogie, jene des „schlechten Gewissens", bemüht die Psychologie und kulminiert in der berühmten Verinnerlichungsthese, derzufolge dem Menschen, sobald er einmal „in den Bann der Gesellschaft und des Friedens" eingeschlossen war, nichts anderes übrig blieb, als seine aggressiven, nach außen drängenden Instinkte zu hemmen, nach rückwärts, gegen sich selbst zu wenden und in dieser inneren Welt sich „neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen" zu verschaffen.35 34 35
Vgl. oben S. 2 9 9 - 3 0 5 und 441 f. Zur Herkunft der „Schuld" vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 2 9 7 - 3 0 9 und 327-330; zur Herkunft des „schlechten Gewissens" vgl. ebd., S. 321 — 327.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
Soweit die bekannte Ausgangslage. Der Priester, so die Argumentation der dritten Abhandlung über das „asketische Ideal", stehe nun insbesondere vor der Aufgabe, Leiden und Unlust in seiner Gemeinde so gut wie möglich einzudämmen bzw. zu mildern. Er habe also den „ K a m p f mit dem Unlustgeßihl" aufzunehmen bzw. die „Depression" zu überwinden 36 , namentlich aber die in gefährlicher Weise aufgestauten Ressentiment- hiiçkxs. zu kanalisieren. Wie alle großen Affekte hätten diese nämlich die Tendenz, sich nach außen hin zu endaden, d. h. letztlich die Existenz von „Herde" und „Hirt" selbst zu gefährden. Den Umstand, daß dem Leidenden in der instinktiven Suche nach der Verursachung seines Leidens jeder beliebige Vorwand recht sei, um sich der Affekte zu entledigen, mache sich der Priester nun in genialer Weise zunutze. Sein Raffinement gründe darin, daß er sich des in jeder Sozietät immer schon vorhandenen „schlechten Gewissens" bediene und dem Leidenden den „ersten Wink" über die Ursache seines Leidens (das in Wirklichkeit physiologischen Ursprungs sei) gebe: „Er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafiçustand verstehn . . . " Für Nietzsche ist der Priester damit zum „Richtungs-Veränderer des Ressentimentjs]" geworden, nach dem Vorbild des Verinnerlichungsvorganges habe er es verstanden, den explosiven „Sprengstoff" der Affekte gegen den Urheber selbst zu wenden und dadurch zu entschärfen, berechenbar und verfügbar zu machen: „Aus dem Kranken ist ,der Sünder' geworden". 37 Eine solche Ausbeutung der Affekte durch psychologische Ausdeutung erreicht, so Nietzsche im weiteren, den Höhepunkt der hermeneutischen Kunst aber darin, daß der Mensch des schlechten Gewissens seine inzwischen als Selbstverschuldung mißverstandenen aggressiven Instinkte mit Hilfe des Priesters noch als Schuld gegen Gott auslegt, d. h. sein schlechtes Gewissen mit der religiösen Interpretation des Schuldrechts „verwickelt": Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm [dem Menschen des schlechten Gewissens] zum Folterwerkzeug. Er ergreift in „Gott" die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablösüchen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den „Herrn", den „Vater", den Urahn und Anfang der Welt). Mit diesem „Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit", der nun den Gedanken einer „ewigen Strafe" 3 8 nach sich gezogen habe, sei aber, so das Resümee Nietzsches, die ins Auge gefaßte Entwicklungsrichtung hin zu einer grundsätzlichen Abzahlbarkeit aller Schulden, zu einer „zweiten Unschuld" des Men-
36 37 38
Vgl. ebd., S. 377 ff. Vgl. ebd., S. 3 7 2 - 3 7 5 , 388 f. Vgl. ebd., S. 3 3 0 - 3 3 2 .
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sehen bzw. einem .Jenseits" der herkömmlichen Moral nachgerade pervertiert worden. Das Bezeichnende an Freuds Theorie ist nun, daß die von Nietzsche auseinandergehaltenen Vorgänge, insbesondere die Schuld der Nachkommen gegenüber den Vorfahren, die religiöse Ausdeutung dieser Schuld sowie das schlechte Gewissen, in einem einzigen Strang zusammenlaufen, dem Ödipuskomplex, aus dem „das Schuldgefühl der Menschheit [...] stammt"39. Diese Synthese erfolgt mit Hilfe einer inhaltlich spezifizierten Sozialpsychologie, welche sich der von Nietzsche gezogenen Trennlinie zwischen dem sich verzweigenden Obligationenrecht und der Psychologie der Verinnerlichung entzieht. Der auffalligste Unterschied zeigt sich zunächst natürlich darin, daß Freud die später religiös überbaute „Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht", wie es bei Nietzsche heißt40, in den Anfängen der Menschheitsgeschichte als ebenso begründet und real gegeben sah wie „den Aufruhr gegen den .Herrn', den ,Vater', den Urahn" (Nietzsche). Der leibhaftige Urvater ist nach Freud eben das Modell gewesen, „nach dem spätere Generationen die Gottesgestalt gebildet haben" 41 , jener Vatermord aber das „Haupt- und Urverbrechen der Menschheit wie des einzelnen" und daher „Hauptquelle des Schuldgefühls".42 Nach der bekannten Auffassung seien die „psychischen Niederschläge jener Urzeiten Erbgut geworden [...], in jeder neuen Generation nur der Erweckung bedürftig", sie würden sich „noch heute" auch insofern nachweisen lassen, als das Kind „in seiner seelischen Entwicklung die Stammesgeschichte in abkürzender Weise" wiederhole.43 Im Hinblick auf das Naheverhältnis von archaischem und religiösem Schuldgefühl argumentiert Freud nun, daß die Aggressionsneigung gegen den ersten Patriarchen, die nach dessen Beseitigung zunächst zu einer ambivalenten Identifizierung der Nachkommen mit ihm, d. h. zu einer zärtlichen Bewunderung und einem schuldbewußten, aggressiven Uber-Ich geführt hatte, sich auch in der Folge nicht unterdrücken ließ, sondern weiterhin in verinnerlichten, sozial erwünschten Kanälen Abfluß fand. Das Schuldgefühl blieb also auch in den nachfolgenden Generationen bestehen „und verstärkte sich von neuem durch jede unterdrückte und dem Über-Ich übertragene Aggression."44 Über historische Zwischenstufen und Abzweigungen (Muttergottheiten, Totemismus, Heroenvorstellung, Polytheismus usw.) sei im jüdischen Monotheismus schließlich die Herrlichkeit und Macht des alten Patriarchen nicht nur am deutlichsten symbolisiert, 39 40 41 42 43
44
Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 257. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 328. Die Zukunft einer Illusion, STA 9, S. 176. Dostojewski und die Vatertötung, STA 10, S. 276. Der Mann Moses und die monotheistische Religion (H. d. V.), STA 9, S. 577; Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 303. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 258.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
sondern auch ein bislang nicht gekanntes Ausmaß an Schuldgefühl erreicht worden: Da die Geschichte des Vatermordes in der Beseitigung des Religionsstifters Moses nämlich eine tendenzielle Wiederholung erfahren und dann als Erinnerungs-„Spur" ihre Wirkung entfaltet habe, mußten mit der glanzvollen Inthronisation des einen und einzigen Gottes zwangsläufig auch die heftigsten Schuldgefühle entstanden sein. 45 In letzter Konsequenz heißt das aber nichts anderes, als daß Freud der von Nietzsche gerade monierten moralischen „Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe" 46 auf seine Weise, in Form einer säkularen Legitimation des religiösen Schuldgefühls, Vorschub geleistet hat. Nietzsches Kritik an der priesterlichen Auslegungskunst, das „thierisch" schlechte Gewissen als „Schuld gegen Gott" umzudeuten, findet bei Freud zwar darin den Niederschlag, daß es sich dabei fraglos um eine verklärte Interpretation gehandelt habe, weil das Schuldgefühl zu einer Schuld gegenüber Gott erhöht wurde. Da aber das letztlich entscheidende Ereignis, in Nietzsches Worten: der „Aufruhr gegen den [...] Urahn" tatsächlich sich ereignet und durch eine geschichtliche Wiederholung die unbewußte Erinnerung daran mobilisiert habe, treffe das Schuldbewußtsein gegenüber Gott wohl nicht die „materielle", gewiß aber eine „historische Wahrheit". 47 In der prolongierten Geschichte des Vatermordes mußte das religiöse Schuldbewußtsein im Monotheismus trotz aller wahnhaften Entstellungstendenzen mithin nicht nur als verständlich, es mußte, horribile dictu für Nietzsche, als Verstärkung eines universellen Schuldgefühls und damit als historisch berechtigt anerkannt werden! Die „Erbschuld" des Menschen hatte seine unauslöschlichen und verhängnisvollen Spuren hinterlassen. Eine Tilgung der religiösen Schulden, eine „zweite Unschuld" des Menschen, wie Nietzsche sie erwartete, schien Freud durch den naturwüchsigen Gang der Historie selbst blockiert. Es ist kein Zufall, daß ein Abschnitt des „Anti-Odipus" das Thema „Worin die Psychoanalyse noch fromm ist" aufgreift und darin den Nietzsche-Aphorismus „Inwiefern auch wir noch fromm sind" paraphrasiert. In einer Reflexion auf die Beziehung von Mythos und Unbewußtem argumentieren Deleuze und Guattari, die Ubereinstimmung zwischen Freud und Jung habe in gewissem Sinn ihren Bruch überdauert, da Freuds rigoroser Atheismus und Jungs spirituelle Religiosität nur Kehrseiten derselben Medaille bildeten: „Aber die Religion unbewußt oder das Unbewußte religiös zu machen, in beiden Alternativen wird dem Unbewußten Religiöses injiziert." Es folgt der in unserem Zusammenhang bezeichnende Klammersatz, Freud habe die Religion nicht nur unter seine Theorie des Unbewußten subsumiert, sondern ein Kernstück derselben noch zusätzlich 45 46 47
Vgl. oben S. 443 f. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 330. Vgl. Der Mann Moses und die monotheistische Religion, STA 9, S. 574 f.
2. Ist der Psychoanalytiker ein Priester?
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beglaubigt: „(Und was wäre die Freudsche Analyse ohne die berüchtigten Schuldgefúhle, die dem Unbewußten zugeschrieben werden?)"48 In der Tat war Freud von seiner ideologiekritischen Unternehmung, die Religion bedingungslos aus den irdischen Quellen eines bereits archaisch fundierten Unbewußten herzuleiten, derart in Bann gezogen, daß schlußendlich die Erbsünde der Theologie unversehens durch die säkulare Erbschuld der Psychoanalyse substituiert worden war. Wenn aber das Unbewußte selbst von „religiösen" Gehalten infiltriert ist, dann verliert Freuds Überzeugung, seine Psychotherapie stehe im Gegensatz zur Beichte, weil sie sich an das Unbewußte wende, natürlich bedeutend an Gewicht. Nun ließe sich dagegen einwenden, daß im Laufe der Analyse letztlich ja die faktischen Erinnerungen des Patienten über die Triftigkeit eines psychoanalytischen Deutungsvorschlags entscheiden, und wo diese ausbleiben, hat sich die entsprechende Hypothese — in diesem Fall jene über die Herkunft des Schuldgefühls — nicht bewährt. Die Gefahr, daß man den Patienten auf suggestive Weise in die Irre führt, „indem man ihm Dinge .einredet', an die man selbst glaubt", würde dergestalt einer Art empirischen Kontrolle unterworfen. Freud muß in seinen „Konstruktionen in der Analyse" allerdings den mißliebigen Umstand einräumen, daß sich die Erinnerungen des Patienten de facto nur zu oft nicht einstellen. So bleibe eben nur der Ausweg (gleichsam die Hintertür der Psychoanalyse), dieses Manko durch die Deutungskunst des Analytikers wettzumachen: „Oft genug gelingt es nicht, den Patienten zur Erinnerung des Verdrängten zu bringen. Anstatt dessen erreicht man bei ihm durch korrekte Ausführung der Analyse eine sichere Überzeugung der Wahrheit der Konstruktion, die therapeutisch dasselbe [!] leistet wie eine wiedergewonnene Erinnerung."49
2.2. Techniken und Zweck der priesterlichen Psychologie Die „Genealogie der Moral" fördert einige Mittel zutage, die der Priester beim Kampf gegen die Unlust in der Gemeinde immer schon in Dienst nahm und die teils mit jenen generellen ,,Technik[en] der Leidabwehr" vergleichbar sind, welche Freud im „Unbehagen in der Kultur" beleuchtet.50 Nietzsche rechnet dazu die Dämpfung der Affektstärke und des Lebensgefuhls im allgemeinen, die „machinale Thätigkeit" (Verschiebung des Interesses vom Leiden weg auf die Arbeit), die „Freude des Vteuàe-Machens" (Beschenken, Helfen, „Nächsten48
49 50
Deleuze, G. / Guattari, F., Anti-Ödipus, a. a. O., S. 73 und 524 (H. d. V.); vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 574 ff. Vgl. Konstruktionen in der Analyse, STA Egb., S. 399, 403 (H. d. V.). Vgl. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 2 0 8 - 2 1 6 .
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liebe") und vor allem die „Heerdenbildung", durch die der „Verdruss" des einzelnen durch „seine Lust am Gedeihen der Gemeinde übertäubt wird" 51 . Alle diese Medikationen werden in gewissem Sinne als verzeihlich erachtet, nicht aber das Hauptmittel des Priesters: daß er sich das Schuldgefühl (genauer: das sozial initiierte „schlechte Gewissen") des Leidenden eben ^unut^e mache, indem er die Richtung der aufgestauten Ressentiment-Affekte verändere und ihm zu Zwecken seiner Disziplinierung nahelege: „[...] ,du selbst bist an dir allein schuld!' ... " 5 2 Diese psychologische Raffinesse sei im Grunde so paradox wie folgerichtig. Paradox, weil der Priester die Sinnenfeindlichkeit des asketischen Ideals, dessen „Prunkworte" lauten: „Armuth, Demuth, Keuschheit", ausgerechnet in den Dienst einer „Geßhls-Ausschweifung" 5 3 stelle, einer methodisch erzeugten „folie circulaire " zwischen „Buss- und Erlösungstraining", wie Nietzsche es einmal in Anspielung auf Férés Terminus nennt. 54 Folgerichtig aber, weil die Umpolung der Ressentiment-Affekte ja nach dem großen Vorbild der Verinnerlichung inszeniert werde und daher unterirdische, innere Befriedigungen anstelle äußerer Objektbefriedigungen treten, oder mit anderen Worten: Der Priester verstehe es, die Triebenergie des Leidenden gewissermaßen auf konstantem Niveau zu halten, nur daß die von der Außenwelt abgezogenen Affekte nunmehr in der besonderen Kommunikation von Priester und Gläubigem als Schuldgefühle und Schuldzuweisungen „ausschweifen" dürfen. Spätestens ab dieser Stelle bleibt ein beständiger Seitenblick auf die psychoanalytische Methode unvermeidbar. Es darf daran erinnert werden, daß Freud eine eigene Regel geschaffen hat, die Abstinenyegel, welche besagt: Der Patient habe sich aller störenden Ersatzbefriedigungen außerhalb der Therapie zu enthalten und seine ganze Triebkraft, seinen Willen zur Genesung in die analytische Situation einzubringen. Freilich solle er im Gegenzug allzu hemmungslose Ubertragungsreaktionen auf den Arzt vermeiden, damit die ihm auferlegte Suche nach der Leidenskausalität nicht frühzeitig durch oberflächliche Befriedigungen ersetzt, die Mobilisierung der Affekte also gleich in den langwierigen Prozeß einer SeUbst-Analyse eingebunden werde: „Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende finde."55 Nicht zufällig rührt die Argumentation der „Genealogie" auch am Phänomen, die Leidenden würden immer schon an der Vergangenheit ansetzen („Zu-
51 52 53 54
55
Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 3 7 9 - 3 8 4 . Ebd., S. 375. Vgl. ebd., S. 352, 388. Vgl. Der Antichrist, KSA 6, S. 231 sowie KSA 14, S. 446; vgl. auch Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 391; Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 67 f. Vgl. Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 244 ff.
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rückfüihrung auf die Vergangenheit"56 nennt Freud ein Ziel der therapeutischen Arbeit), um der „Schuldigen" ihrer Erkrankung habhaft zu werden. In einer, wie es Nietzsche scheint, geradezu „entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vorwänden" richteten sie ihren Blick wie hypnotisiert nach rückwärts, nur um sich ihrer Affekte endlich entledigen zu können, und dies wie gesagt umso mehr, als ihnen die physiologischen Ursachen des „Sich-Schlecht-Befindens" verborgen blieben: „Sie durchwühlen ihre Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen — sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht."57 Daß ein solchermaßen nach rückwärts gerichteter Blick den Absichten des Priesters bereits entgegenarbeitet, versteht sich für Nietzsche von selbst. Aber erst der Umstand, daß diese Ressentiments vom Priester in die entscheidende Richtung umgelenkt würden, d. h. die Ursache der tief sitzenden Lebensunlust als Selbstverschuldung ausgedeutet und mit der Schuld gegen Gott schließlich „verwickelt" werde, habe zum durchschlagenden therapeutischen Effekt geführt: daß die Depression tatsächlich „überwunden" worden sei. Mit einem Male sei das alte, die längste Zeit wie bleiern empfundene Leben nämlich wieder „sehr interessant" geworden: Dieser alte grosse Zauberer im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester — er hatte ersichtlich gesiegt, sein Reich war gekommen: schon klagte man nicht mehr gegen den Schmerz, man lechze nach Schmerz; „mehr Schmerz! mehr Schmerz!" so schrie das Verlangen seiner Jünger und Eingeweihten Jahrhunderte lang. Jede Ausschweifung des Gefühls, die wehe that, Alles was zerbrach, umwarf, zermalmte, entrückte, verzückte [...] — Alles war nunmehr entdeckt, errathen, ausgenützt, Alles stand dem Zauberer zu Diensten, Alles diente fiirderhin dem Siege seines Ideals, des asketischen Ideals . . . 5 8
Die Psychologie des Priesters, so läßt sich mit Nietzsche resümieren, hat zwei wesentliche Gefahrenquellen zum Versiegen gebracht: Einmal war die angestaute emotionelle Erregung entschärft worden, das „Verlangen nach Betäubung von Schmer.ζ durch Affekt"59, so die Vermutung über die physiologische Ursache des Ressentiments, also in einer Weise kanalisiert, daß das Sozialgefuge (die „Heerde") nicht mehr von Auflösung und Anarchie bedroht war. Zugleich aber konnte das bislang nicht oder unzureichend befriedigte (und daher ebenfalls
56
57 58 59
Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, STA Egb., S. 211. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 374 f. Ebd., S. 390. Ebd., S. 374.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
gefahrliche) Kausalbedürfnis der Leidenden gestillt werden, das Leiden hatte nunmehr einen „Sinn" bekommen (es war, in der Sprache der Psychoanalyse, „analysiert" worden). Bekanntlich hält Nietzsche ja nicht das Leiden selbst für das große Problem des Menschen, „sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage: leiden?' " So gesehen sei der eigentliche „Fluch" der Menschheitsgeschichte, die „Sinnlosigkeit des Leidens", mit einem Male in Bann getan worden, da das asketische Ideal einen solchen Sinn eben offerierte. Durch die Subsumption allen Leidens unter die Perspektive der Schuld war der Mensch mithin „gerettet, [...] er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des ,Ohne-Sinns', er konnte nunmehr Etwas wollen". Aber im gleichen Maße, wie der Priester „Salben und Balsam" gebracht habe, sei dieses Wollen selbst noch vergiftet, zu einem „ Willen %um Nichts" geworden. 60 Denn die „priesterliche Medikation" habe den Menschen nicht nur geheilt, sondern zugleich auch „kränker" 61 gemacht: „Dieses Wieder-Aufreißen alter Wunden, das SichWälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung ist eine Krankheit mehr, aus der nimmermehr das ,Heil der Seele', sondern immer nur eine neue Krankheitsform derselben entstehen kann .. ." 6 2 Da der Priester mit jeder „Operation" eine neue „Verletzung" hervorgerufen, also ein Symptom nur durch ein anderes ersetzt habe, sei es — wie auch im Hinblick auf Freuds Psychoanalyse diskutiert — höchste Zeit, der verheerenden Wirkung der moralisierenden Psychologie ein Ende zu bereiten und die Psychologie wieder auf einen physiologischen Boden zu stellen. 63 Nietzsche steht nicht an, neben seiner Verwunderung immer wieder auch eine gewisse Bewunderung über die Genialität des Priesters Ausdruck zu verleihen. Denn letztlich habe dieser mit der Richtungsveränderung der Affekte und der Befriedigung des Kausalbedürfnisses genau das erreicht, was letztlich Zweck des Unterfangens gewesen sei: Macht und Herrschaft über die Leidenden zu gewinnen, mehr noch: den nun im asketischen Ideal gebündelten und selbstreflexiv gewordenen Willen als Einheitswillen wieder nach außen zu drängen, gegen jede andere Daseinsbetrachtung und Praxis zu wenden, insbesondere aber gegen die Lebensformen frohgemuter, sinnlicher, mächtiger, dabei freilich auch oberflächlicher Naturen. Der Leidende und „Schwache", der in Befolgung der priesterlichen Direktiven schließlich zum „Guten" geworden ist, hat nach Nietzsche das so faszinierende, da lebensbejahende Prinzip „oberflächlich — aus Tiefe" endgültig mit „bösem" Blick bedacht und dessen Verneinung noch mit besten
60 61 62 63
Vgl. ebd., S. 373, 411 f. Ebd., S. 391. Nachlaß Sommer 1888, 14 [155], KSA 13, S. 338. Vgl. oben S. 429 - 436 und 5 5 7 - 5 5 9 .
3. Psychoanalyse als Wissenschaft
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Gründen versehen. Sein letzter Triumph ist die Klugheit, die Geistigkeit, die Tiefe, alle Oberfläche muß ihm daher wie ein großer Makel des Lebens selbst erscheinen. 64
3. Psychoanalyse als Wissenschaft oder: Das unbewußte Erbe des asketischen Ideals Zweifelsohne lassen sich die in der „Genealogie" demaskierten Absichten und Strategien des Priesters nicht bedenkenlos auf jene des Psychoanalytikers umschlagen. So etwa drängt sich die Frage auf, ob man ausgerechnet jener Psychoanalyse, der lange genug der Vorwurf des „Pansexualismus" nicht erspart blieb, nunmehr mit Nietzsche vorrechnen kann, sie habe die „Gefühlsausschweifungen" der Patienten in der Therapie gerade zu Zwecken einer letztlich sinnenfeindlichen Weltanschauung mißbraucht. Und im einzelnen wäre auch zu diskutieren, ob bzw. inwieweit die über eine Aufarbeitung von Vergangenheit erwirkte gleichzeitige Befriedigung von Affekt- und Kausalbedürfnis tatsächlich dazu dient, die Macht des Analyrikers über die Leidenden abzusichern, d. h. jene Voraussetzung zu schaffen, die es, überspitzt formuliert, Priesterkaste und Gemeinde schließlich gestatteten, ihr tiefen-psychologisches Weltbild gegen die „Aussenstehenden", gegen die rein „oberflächliche" Daseinsbetrachtung aller Nichtanalysierten zu wenden. Zwangsläufig wäre man mit solchen und ähnlichen Überlegungen wieder auf die bereits angesprochenen institutionellen Aspekte rückverwiesen bzw. auch auf einige in der Tat eigentümliche Aussagen Freuds, in denen er seine Kritiker mit „Kranken" vergleicht oder etwa darauf beharrt, es habe „niemand" das Recht, der Psychoanalyse „dreinzureden", sofern er nicht selbst Objekt der Analyse geworden sei. Wenn eine Wiederaufnahme bzw. Vertiefung dieser Diskussion hier vermieden wird, dann aus dem einfachen Grund, daß sich ein gravierender Unterschied zwischen religiösem und analytischem Heilverfahren schlechterdings aufdrängt und die möglicherweise ins Auge gefaßten Analogien wieder in den Hintergrund schiebt: Kein seriöser Analytiker seit Freud wird sich nämlich noch dazu verleiten lassen, dem Patienten in der Art des Priesters zu sagen: „Du bist schuldig!" oder gar „Du bist sündig!", im Gegenteil: Freud verweist mit Nachdruck darauf, die unbewußten Schuldgefühle müßten nicht nur als Hindernis, sondern in Form der negativen therapeutischen Reaktion als der „schlimmste Feind unserer therapeutischen Bemühung" bezeichnet werden. 65 Mit anderen Worten: Die Psychoanalyse verwahrt sich dagegen, den Patienten mit einem vorgefaßten Weltbild oder gar mit therapeutischen Schuldzuweisungen zu indoktrinieren, weil sie die 64 65
Vgl. oben S. 438 - 4 4 0 und 574 f. Vgl. 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Ttiebleben, STA 1, S. 541 f.
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Kapitel 14: Zum „nihilistischen" Charakter der Psychoanalyse
Ubermächtigkeit der religiösen Grundvoraussetzung gerade in ihren negativen Auswirkungen erkannt hat (was sich freilich auch als Zirkelargumentation auslegen läßt 66 ) — mehr noch: weil sie Grundlagen und unliebsame Folgen der Suggestion im allgemeinen reflektiert und sich auf den Boden der allein der Wahrheit verpflichteten Wissenschaft und ihrer objektiven Methoden gestellt hat. Der Schluß liegt also nahe, daß die Psychoanalyse wie jede andere Wissenschaft damit in wirkliche Gegnerschaft zum asketischen Ideal geraten ist. Bezeichnenderweise wird ein solches Verständnis gegen Ende der „Genealogie der Moral" einer näheren Prüfung unterzogen. Allen Respekt vor der Wissenschaft! — unter dieses Motto können Nietzsches einleitende Passagen zunächst gestellt werden. Schon die Tatsache, mit welcher Leidenschaft die Erkennenden von heute ein Mißtrauen gegen alle Art Glauben entwickelten, wie jeder Glaube und jedes Ideal zu einem Verdachtsmoment für Täuschung und Unwahrheit würden, zeuge ja vom Ernst und Redlichkeitswillen der Wissenschaft. Und sofern es überhaupt noch ein „letztes Stück" Glauben gebe, dann eben den, daß man sich in höchstem Maße als Opponent des antiquierten Glaubens und also gerade als „Ungläubiger" verstehe. Diese bewußte, in allen Ehren zu haltende Distanzierung vom herkömmlichen asketischen Ideal könne freilich, und hier setzt Nietzsches Fundamentalkritik nun ein, über eines nicht hinwegtäuschen — daß all diese „harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister" zuguterletzt doch im Banne eines ihnen selbst verborgenen, unbewußten Ideals stünden: Diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit [...] - sie glauben sich in der That so losgelöst als möglich vom asketischen Ideale, diese „freien, sehr freien Geister": und doch, dass ich ihnen verrathe, was sie selbst nicht sehen können — denn sie stehen sich zu nahe — dies Ideal ist auch ihr Ideal, sie selbst stellen es heute dar, und Niemand sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Ausgeburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kundschafter-Schaar, seine verfänglichste, zarteste, unfasslichste Verfuhrungsform: — wenn ich irgend worin Räthselrather bin, so will ich es mit diesem Satze sein! ... Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit...
Da der unbedingte Wille zur Wahrheit, dieser bereits von Piaton und Christentum genährte Glaube, daß „die Wahrheit göttlich ist", nichts anderes sei als der „ Glaube an das asketische Ideal selbst", dürfe die Wissenschaft folglich nicht als
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Mit dem auf Nietzsche rückverweisenden Gedanken von Deleuze und Guattari kann die psychoanalytische Argumentation deshalb als Zirkelargumentation verstanden werden, weil gerade die überragende, ubiquitäre Bedeutung der Schuldgefühle ein weiteres Mal — nur diesmal negativ und im Lichte des psychoanalytischen Vorverständnisses — „erwiesen" wird. Oder in den Worten der Autoren: „Und was wäre die Freudsche Analyse ohne die berüchtigten Schuldgefühle, die dem Unbewußten zugeschrieben werden?" (Deleuze, G. / Guattari, F., Anti-Ödipus, a. a. O., S. 73).
3. Psychoanalyse als Wissenschaft
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Gegnerin, sondern geradezu als „beste Bundesgenossin" dieses Ideals, als „dessen jüngste und vornehmste Form" apostrophiert werden. In der Tat seien ihre Symptome verräterisch genug, nur zu leicht ließe sich feststellen, daß in der Wissenschaft selbst noch einem „Ascetismus der Tugend", einem Keuschheitsideal bzw. einer sublimen Form der „Verneinung der Sinnlichkeit" gehuldigt werde. Und ebenso leicht ließe sich erkennen, daß einem „Gott" nach wie vor Schulden abgezahlt und Opfer gebracht werden müßten, sei es nun der Tribut an das „factum brutum", sei es etwa jener an die wissenschaftliche Objektivität.67 Nahtlos reiht sich hier eine Stelle Freuds an, der zum Wissenschaftsanspruch der Psychoanalyse wieder zurückfuhrt und gewissermaßen den schlagenden Beweis fur Nietzsches These liefert: „Die Analytiker [...] können ihre Abkunft von der exakten Wissenschaftlichkeit und ihre Zugehörigkeit zu deren Vertretern nicht verleugnen. Aufs Äusserste misstrauisch gegen die Macht menschlicher Wunschregungen, gegen die Versuchungen des Lustprinzips sind sie bereit alles zu opfern, um zu einem Stückchen objektiver Sicherheit zu gelangen"68. Zur Verdeutlichung dieser verfeinerten Opferbereitschaft darf an einige Grundsäulen der psychoanalytischen Methode erinnert werden. Bekanntlich macht der frühe therapeutische Interventionismus zunehmend einem wissenschaftlichen Beobachterstatus Platz, gefordert ist schließlich, daß der Analytiker zum unparteiischen Zuhörer wird, der seine eigene Person ganz zurückzunehmen und in den Dienst der Sache zu stellen hat, oder wie es das vielzitierte Wort Freuds will: „Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird." 69 Wie eine vorweggenommene Replik nimmt sich dazu eine Passage aus der „Genealogie" aus, in der Nietzsche die Neutralitätshaltung der modernen Wissenschaft (und der Geschichtsbetrachtung im besonderen) beleuchtet: Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr „beweisen"; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, — sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt" ... Das Alles ist in einem hohen Grade asketisch;
67
68 69
Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 396—403. Analog zu den „Sündern", bei denen bestimmte Formen der „Gefühlsausschweifung" das unabdingbare Komplementärstück zur religiösen Askese bilden, glaubt Nietzsche auch bei den wissenschaftlichen „Arbeitern" ein entsprechendes Phänomen entdeckt zu haben: „Oh was verbirgt heute nicht Alles Wissenschaft! wie viel soll sie Zumindestens verbergen! Die Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst — wie oft hat das Alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung: kennt ihr das? ..." (ebd., S. 397). Psychoanalyse und Telepathie, GW 17, S. 29 (H. d. V.). Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 178; vgl. oben S. 534-536.
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es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht!70
Nun führt ja die dem Analytiker auferlegte Rolle als Spiegelplatte zwangsläufig zu einer Form der Abstinenz, nämlich zum methodischen Postulat, sich übereilter Deutungen zu enthalten und im weiteren Sorge dafür zu tragen, daß sich das interpretative Handeln nicht unkontrolliert mit den Übertragungen des Patienten durchmischt. Um letzteres zu gewährleisten, verpflichtet Freud den Analytiker daher, sich in regelmäßigen Intervallen selbst einer Analyse (Lehranalyse) zu unterziehen, oder übersetzt: all die im Laufe der Zeit angesammelten kleineren oder größeren neurotischen „Sünden" ihrerseits wieder bei einem Analytiker abzuarbeiten, um die „Reinheit" der psychischen Verfassung und damit die Objektivität der eigenen Therapeutenarbeit zu garantieren: Es genügt nicht, daß er [der Analytiker] selbst ein annähernd normaler Mensch sei, man darf vielmehr die Forderung aufstellen, daß er sich einer psychoanalytischen Puriß^ierung unterzogen und von jenen Eigenkomplexen Kenntnis genommen habe, die geeignet wären, ihn in der Erfassung des vom Analysierten Dargebotenen zu stören. An der disqualifizierenden Wirkung solcher eigener Defekte kann billigerweise nicht gezweifelt werden; jede [!] ungelöste Verdrängung beim Arzte entspricht nach einem treffenden Worte von W Stekel einem „blinden Fleck" in seiner analytischen Wahrnehmung.71
Wie gesagt 72 betrachtet Freud die „Gegenübertragungen" in der Hauptsache als Behinderung der therapeutischen Erkenntnis, und erst die entsprechenden lehranalytischen Reflexionen ermöglichten es dem Analytiker eben, seine ansonsten unbewußt mitschwingenden Wertvorstellungen und Interpretationsvorlieben aus dem Erkenntnisprozeß auszugliedern. Nietzsche gilt nun dieser im Dienste von Objektivität und Wahrheit geleistete Versucht auf das „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretirens gehört" nicht nur als ehrenwerter „Ascetismus der Tugend", sondern ebensosehr als Symptom für eine Nihilisierung des Lebens selbst. Denn auch die Verneinung des immer schon auf Macht und Verfälschung drängenden Interpretationswillens vermöge nichts daran zu ändern, daß diese Negation immer noch ein Wille bleibe: „[...] lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen .. ." 7 3 Paradoxe Quintessenz der Argumentation, sofern man sie eben auf die Freudsche Position umlegt: Die Psychoanalyse, die ihrem Selbstverständnis nach, insbesondere aber durch ihre Trieb- und Kulturtheorie mit der kompromißlosen Entzauberung aller „hö-
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Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 405 f. Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, STA Egb., S. 176 (H. d. V.). Vgl. oben S. 537 f. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 400, 412.
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heren" Moral Ernst gemacht hat, folgt selbst einem moralischen, wenn auch sublimen und „unbewussten Imperativ": Ihr unbedingter Wille zur Wahrheit, ihre Demut vor diesem letzten aller Götter, zwingt sie schlußendlich, an das asketische Ideal und damit wiederum an eine höhere Rechtfertigung in der Verneinung der Sinnlichkeit zu glauben. Die bahnbrechende Fragestellung, die Nietzsche damit ein für allemal aufgeworfen hat (und an deren Oberfläche das von Freud in den Mittelpunkt gerückte Problem der Suggestion nur rührt), ist offenkundig also diese: Darf die Wissenschaft den Glauben an das schlechterdings „Gute" der Wahrheit verabschieden, die Ehrfurcht vor diesem „Gott" auch noch zunichte machen, mit einem Wort: Darf die Wissenschafi selbst unmoralisch sein? So gesehen hinge die Bewährungsprobe der Psychoanalyse in letzter Instanz also nicht von der Beseitigung jenes Legitimationsdefizits ab, an dem sie nach wie vor am meisten zu leiden scheint: daß ihre Hypothesen möglicherweise nicht oder nur teilweise empirisch überprüfbar sind, ζ. B. nur in Form klinischer Validierungen, wie sie etwa Grünbaum bei all seiner Kritik für grundsätzlich möglich hält (was der Psychoanalyse naturgemäß wieder Aufwind gegenüber Poppers lange Zeit schwer lastendem Vorwurf verschafft hat). 74 Nein, für Nietzsche steht die Wissenschaft als solche auf dem Spiel, als das einschneidendste „Sprachspiel" der Moderne, um mit Wittgenstein zu reden, aber eben deshalb immer noch als eine „Lebensform" 75 , die nunmehr — über die Thematisierung des Wahrheitswillens — selbst der „Rechtfertigung" bedürfe. Denn sobald das asketische Ideal der „£/«abschätzbarkeit, £/»kritisierbarkeit der Wahrheit" 76 einmal überdacht, sobald das Problem vom „Wierthe der Wahrheit" gestellt sei, liege die Frage nachgerade auf der Hand: „ Warum nicht lieber Unwahrheit?" 77 Tatsächlich hat der Diskurs über die Verquickung von Moral und Wissenschaft — erzwungen durch die Schicksalsgeschichte des 20. Jahrhunderts und ihrer nun global absehbaren Folgen — eher eingesetzt, als Nietzsche dies erwartete bzw. überhaupt zu denken vermochte. Es überrascht daher nicht, daß der „Wert" der wissenschaftlichen Wahrheit tendenziell im Sinken begriffen, ja vielfach radikal unterminiert ist, wie etwa die Umwertung P. Feyerabends zeigt, der seine „anarchistische" Methodenprogrammatik nicht zuletzt der Einsicht entnommen hat, gerade die vorgeblichen Methodenzwänge und die unter seltsamsten Umständen in Anspruch genommene Vernunft- und Wahrheitsapodiktik
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Vgl. Grünbaum, Α., Die Grundlagen der Psychoanalyse, a. a. O., S. 309; vgl. oben S. 341 f. Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1971 (16.-25. Tausend), § 23, S. 28. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 401 f. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 15.
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könnten die „grundlegende Irrationalität aller unserer Wissenschaften" 78 längst nicht mehr überdecken. Nietzsche selbst rechnete freilich mit einem retardierten Gang der Geschichte, einem „grosse[n] Schauspiel in hundert Akten", bis das „Problem" des Willens zur Wahrheit endlich bewußt werde. Die damit verbundene und von ihm weit ins 21. Jahrhundert hineindatierte 79 Aufhebung der Moral ist bekanntlich nach dem Modell der Selbstaufhebung gedacht: Im Unterschied zu den bereits diskutierten 80 Annahmen Freuds trete die Wissenschaft nämlich, wie das asketische Ideal zeige, nicht in einen äußerlichen Gegensatz zur Religion, sondern sie selbst sei noch Produkt jenes christlichen Wahrhaftigkeitswillens, der sich, nunmehr „übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen", schließlich gegen sich richte und die Moral zu Fall bringe. 81 In diesem Zusammenhang darf freilich auf die lange wirksame Dialektik der modernen Wissenschaft als Zerstörerin und Wahrerin von Werten nochmals rückverwiesen werden, auf Nietzsches These, daß die Wissenschaft zwar die als göttlich geglaubten Werte mit innerer Logik einer unübersehbaren Entwertung zuführe und damit weg von allen Zentren in Richtung eines unbestimmten „x" tendiere, zugleich aber selbst den Versuch unternehme, jedenfalls solange sie an ihrem asketischen Wahrheitswillen festhalte, eine Art letzten Schutzwall gegen die aufdämmernde Einsicht von der Fragwürdigkeit, ja Sinnlosigkeit aller Werte zu errichten. 82 Auf die Psychoanalyse übertragen hieße dies nichts anderes, als daß ihre Tiefen-Erkenntnisse zweifellos an der Destruktion der höheren Werte mitgearbeitet, eine solche aber zugleich blockiert haben, namentlich wenn man zur Formalität ihres Wahrheitsglaubens die davon unablösbaren inhaltlichen Einschreibungen, gleichsam deren materialisierte „Götter" in Rechnung stellt. Tatsächlich findet sich im Freudschen Opus eine Reihe wissenschaftlich sanktionierter „Ersttäter" bzw. Erstursachen, wie sie von Nietzsche, angefangen vom „Ding an sich" Kants über die „uralte Mythologie" des „Willens" bei Schopenhauer bis zum „Atom" der Physik, als analoge „Wechselbälge" zum Gott der Religion gerade moniert werden. 83 Und bezeichnenderweise hat Freud sie durchwegs mit dem Prädikat — bzw. aus der Sicht Nietzsches: mit dem Reizwort — „Ur" versehen und in den Kontext einer bis dato nachwirkenden Ausgangsgeschichte 78
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Vgl. Feyerabend, P., Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, in: Duerr, H. P. (Hg.), Der Wissenschaftler und das Irrarionale, Frankfurt am Main 1981, Band 2, S. 55 f. 1887, dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der „Genealogie", schreibt Nietzsche: „An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an - daran ist kein Zweifel — die Moral χμ Grunde·, jenes grosse Schauspiel [...], das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa's aufgespart bleibt" (Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 410 f.). Vgl. oben S. 483-489. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 409 ff. Vgl. oben S. 486-488. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 279 f.; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 482 f.
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eingewoben: Urvater, Urhorde, Urschuld, Unterbrechen, Urphantasie, Urkonflikt, Urangst, Urszene usw.84 Freuds Denken enthüllt sich damit als einer der letzten kolossalen Versuche, im Zeitalter einer sich zunehmend fragwürdig werdenden Moderne noch Gesetze der Historie à la longue aufzuzeigen, also die Tradition „großer Erzählungen"85 zu beleben und dabei in den Dienst eines therapeutischen Projekts zu stellen. Folgt man dem systematischen Aufbau Nietzsches, wäre der „Selbstaufhebungs"-Prozeß der Psychoanalyse ab dem Zeitpunkt in Gang gesetzt, an dem sie vermittels einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber allen Formen ihrer Causa prima den Wahrheitswillen noch gegen sich wendete, an dem das ausgeprägte Ringen um wissenschaftliche Reputation etwa der Erkenntnis Platz machte, daß die Moral durch die ödipalen „Ur"-Gesetze zwar eine nunmehr konsequent säkulare, d. h. triebpsychologische Begründung erfahren habe, ein tieferer Zweifel am vorgeblichen Faktum „Moral" selbst aber unterblieben sei. In aller bisherigen Moralbetrachtung, so würde sich die Selbstreflexion einer quasi nietzscheanischen Psychoanalyse ausnehmen, „fehlte [...] noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe." 86 Was Nietzsche vorschwebt, ist eine bewußt interpretierende Wissenschaft, und zwar in zweierlei Hinsicht: zunächst eine Wissenschaft, die allein dem perspektivischen Prinzip der Erkenntnis folge und also „keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne"87 und Auslegungen eines Geschehens bereit halte, d. h.: die sich anstelle einer universellen Begründung der Moral etwa dazu verpflichtet fühle, die kritische Beleuchtung verschiedener Morale» fur eine diesbezügliche „Typenlehre"88 im Hinblick auf die Steigerung des Lebens in Dienst zu nehmen; die als Wissenschaft der Werte ganz allgemein dazu aufgerufen sei, einer neuen Methodik, dem Denken in Gefàllen, Hierarchien, Abstufungen und unaufhebbaren Differenzen Priorität einzuräumen, ja die in letzter Konsequenz vor dem Labyrinth einer wirklichen „Freiheit des Geistes" nicht zurückschrecke, jenem Labyrinth, in das sich noch kaum jemand verirrt habe und das da laute: „ .Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt' ..." 8 9 Zugleich wäre es aber nicht nur eine Wissenschaft, 84
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Vgl. die zahllosen Belegstellen in G W 18, S. 6 9 2 - 6 9 5 . Nach der „Geburt der Tragödie", die unter dem Einfluß Schopenhauers mehrfach von „Ur-Einem", „Urwiderspruch", „Urfreude", „Urschmerz", „Urleiden" usw. spricht (vgl. etwa KSA 1, S. 30, 39, 51, 137, 141), nimmt der Gebrauch des Wortes „Ur" bei Nietzsche rapide ab (man findet es ζ. B. noch in „Jenseits von Gut und Böse", KSA 5, S. 208, wo der Wille zur Macht als „Ur-Faktum aller Geschichte" bezeichnet wird). Zur Bedeutung von „Ursprung" vgl. Foucault, M., Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Von der Subversion des Wissens, a. a. O., S. 84 ff. Vgl. Lyotard, J.-E, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übersetzt von M. Kubaczeck u. a., Bremen 1982, S. 7. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 106. Nach]aß 1886-Frühjahr 1887, 7 [60], KSA 12, S. 315 (H. d. V.). Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 105; vgl. oben S. 293. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 399.
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die auf die unzähligen Bedeutungsgehalte und „Sinne" der Erkenntnis reflektiere, sondern auch eine sinnliche Wissenschaft, in der gegenüber obsoleten Begriffen wie etwa ,,interesselose[r] Anschauung" oder „Erkenntniss an sich" die „ Verschiedenheit" aller Affekte gerade fiir den Erkenntnisprozeß mobilisiert würden, wo man — kritische Überlegungen von Autoren der nachfreudschen Ara an dieser Stelle hinzugerechnet 90 —, das Unbewußte des Analytikers, respektive seine scheinbar hinderlichen Gegenübertragungen selbst noch als Erkenntnisinstrument zu nutzen wüßte, oder in der Sprache Nietzsches: Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen"; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns fur dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff dieser Sache, unsre „Objektivität". Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castrireni ...91
Aus diesem gewissermaßen von allen Seiten her angreifenden Willen der Wissenschaft, welcher die (von Freud gezogene und an anderer Stelle bereits diskutierte 92 ) Trennlinie zwischen der Metaebene Wissenschaft und den „bloß" psychologischen Bedingungen menschlicher Erkenntnis gerade zu durchbrechen suche, folgt für Nietzsche, daß Objektivität bzw. Wahrheit schlechterdings nicht zu definieren sei als „Bewußtwerden von etwas, ( d a s ) ,an sich' fest und bestimmt wäre", sondern als ein Wahrheit-Machen, als ein Uberwältigen einer Sache, als durchgängige Aktivität — eine Einsicht, die auch den gänzlich reaktiven Impetus der bisherigen Wissenschaft ans Licht fördere. 93 Kurzum: Wahrheit selbst sei nur „ein Wort für den .Willen zur Macht'". 9 4 Kernpunkt der Argumentation, wenn man den supponierten Nihilismus der Psychoanalyse weiterhin im Auge behält: Nietzsche glaubt, daß sich mit diesem nun erkannten Lebenswillen endlich wieder Ziele abzeichneten, die es erlaubten, den asketischen Wahrheitswillen zu überwinden! Daß er dabei vor allem an einen ästhetisch unterbauten, einen sich in seinen Verfälschungsabsichten bewußt gewordenen Willen denkt, ist hinlänglich erörtert und namentlich durch den Satz der „Genealogie" dokumentiert worden: „Die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille %ur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft" 95 . Verge90
91 92 93
94 95
Vgl. Shaked, J., Vom .Verhör' zur .teilnehmenden Beobachtung': Statik und Wandel der Analytikerrolle im therapeutischen Prozeß, a. a. O., S. 21 f. Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 364 f. Vgl. oben S. 3 4 0 - 3 4 6 . Vgl. etwa Nachlaß Herbst 1887, 10 [18], KSA 12, S. 464. G. Deleuze (Nietzsche und die Philosophie, a. a. O., S. 45 ff.) hat die Dichotomie „aktiv - reaktiv" zu einem Ausgangspunkt seiner Nietzsche-Interpretation gemacht. Vgl. Nachlaß Herbst 1887, 9 [91], KSA 12, S. 384 f. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 402.
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genwärtigt man sich zudem die therapeutisch-praktischen Konsequenzen dieser Philosophie, hat sich die Gedankenkette geschlossen: Sie verweist wieder zurück auf jene künstlerische „Schelmenkappe", die neben der Formel „amor fati" und der „physiotherapeutischen Umwertung" nicht nur als drittes Standbein der Therapeutik angesprochen werden durfte, sondern auch als antizipierende Unterwanderung von Freuds rückwärtsgerichteter Tiefenpsychologie, namentlich aber dem Gedanken einer lebenslänglichen, d. h. „unendlichen Analyse". Bereits 1880 hat Nietzsche in einer nachgelassenen Überlegung seine spätere Position in etwa umrissen: „Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten — ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen!"96 4. Die Psychoanalyse als zeitgemäßes Symptom des theoretischen und praktischen Nihilismus? Nietzsches therapeutische Vorstellungen orientieren sind natürlich in entscheidendem Maße an den künftigen Umwälzungen, welche der innere Gang der Wertgeschichte in der Wendung gegen den vergötterten Wahrheitswillen mit sich bringe. Bekanntlich steht für ihn mit der erhofften Befreiung des Menschen vom Verhängnis der alten Ideale nicht ein beliebiges oder gar marginales Projekt auf dem Spiel, vielmehr die mögliche Neudefinition und Uberwindung seines bisherigen Selbstverständnisses. Demnach würde die durch den Tod Gottes aufgeworfene Krise in der menschlichen Wert- und Sinngeschichte zunächst durch den Glauben an die „ewige" Nichtigkeit aller Werte noch verstärkt, schließlich aber von einem affirmativen Daseinszugang bereinigt, der erstmals Zielsetzungen jenseits des Nihilismus erlaube.97 Demgegenüber nehmen sich die von der Psychoanalyse diskutierten „Ziele" des Menschen, namentlich aber die konkreten therapeutischen Erwartungen unbestreitbar bescheiden, nach Freuds Auffassung dafür umso realistischer aus. Die Unversöhnlichkeit des antagonistischen Konflikts zwischen Natur und Kultur einmal in Rechnung gestellt, gelte es im wesentlichen eben, das Leben „ertragen" zu lernen, dem Begriff der Gesundheit komme daher zwar eine praktische, quantitative Bedeutung zu, theoretisch gesehen aber seien wir erwähntermaßen 96
57
Nachlaß Ende 1880, 7 [213], KSA 9, S. 361; vgl. oben S. 574 f. Hinzuzufügen ist natürlich, daß Nietzsche damit die Notwendigkeit des historischen Denkens keineswegs außer Kraft gesetzt hat. Gleichwohl ist die Unterschiedlichkeit, in der Nietzsche und Freud etwa die Rolle des „Vergessens" bewerten, symptomatisch (vgl. oben S. 376 — 382). Vgl. oben S. 4 6 8 - 4 7 8 und 505-516.
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„alle krank". 98 Aus der Warte Nietzsches würde ein solcher Gedanke wohl allein hinreichen, um einen, anders kann man es kaum sagen, Nihilismus allerersten Ranges zu diagnostizieren, um hier den schlagenden Beweis dafür zu finden, wie sich in die Psychoanalyse ein lebensverkennendes, jegliche historischen und qualitativen Differenzen tilgendes Analogon zur religiösen Vorstellung, wir alle seien „Sünder", eingeschlichen habe. Wenn nun bei Freud das entsprechende Komplementärstück folgerichtig fehlt, nämlich die Idee der „Erlösung" bzw. die einer ,grossen Gesundheit"99, so darf dies im Gegenzug als Ausdruck einer zugleich skeptischen wie religionskritischen Einstellung gelten, die sich zu den ernüchternden Wahrheiten der Wissenschaft eben bequemt und auf alles wertende Pathos verzichtet habe. An dieser Stelle ist aber der Punkt erreicht, an dem sich die „wechselseitige" Diskussion im Kreise zu drehen beginnt: Denn genau diese Selbstgewißheit, die Wissenschaft stehe in strikter Opposition zur religiösen Weltanschauung schließt nach Nietzsche gerade nicht aus, daß sie selbst ebenso in einer sublim nihilistischen Erbschaft des asketischen Ideals stehe wie die modernen säkularen Bewegungen — atheistischer Anarchismus, Kommunismus, Sozialismus usw. — in der Erbschaft des Christentums. 100 Streift man die konkreten Zielsetzungen der analytischen Therapie (die vom Weltbild natürlich unablösbar bleiben) ein letztes Mal, so ließe sich — wiederum Nietzsche folgend — sagen, daß der Analytiker das therapeutische Handeln wesentlich über die Negation seines Willens definiert. Im Zusammenhang mit den diversen Aufforderungen zur interpretativen Askese wird man immer wieder auf die Warnung Freuds stoßen, es sei keineswegs Aufgabe des Analytikers, den Patienten in irgendeiner Weise zu bevormunden, zu „formen", ihm „Ideale aufzudrängen" 101 oder ihn gar weltanschaulich zu indoktrinieren, auch nicht, daß er ihm unmittelbare Anleitungen zu geben hätte, wie eine Art Künstlertum des Lebens zu befördern wäre, wie er sich selbst noch zu steigern oder „überwinden" hätte. Naturgemäß konnte Freud aber nicht umhin, einige generelle Ziele für den Patienten dennoch zu formulieren. So sollte er nach Beendigung der Therapie sein Ich erweitert und gestärkt, das Realitätsprinzip wieder eingesetzt haben und schließlich „leistungs- und genußfahig" geworden sein, ohne daß er es wiederum für nötig erachte, seine Realitäts- und Genußtauglichkeit nun einseitig demonstrieren zu müssen. Denn ähnlich der Mahnung an den Analytiker, nicht einem therapeutischen Fanatismus oder auch nur einer „Reformer"-Rolle zu verfallen,
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Vgl. oben S. 409 f. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 336; vgl. oben S. 523 f. Vgl. oben S. 479 f. Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 246.
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sondern sich auf die ursprüngliche Funktion des Beobachters zu besinnen, gelte es auch für den Patienten zu bedenken, daß bei aller berechtigten Kritik etwa an der herrschenden Sexualmoral der Sinn der Therapie nicht darin liegen könne, das rechte Augenmaß zu verlieren — vielmehr solle er sich „zu irgendeiner mittleren Position zwischen dem vollen Ausleben und der unbedingten Askese entschließen". Letztlich aber gebe es, wie Freud gerne einräumt, überhaupt keinen allgemein tauglichen Rat oder Weg zum Glück: „Ein jeder muß selbst versuchen, auf welche besondere Fasson er selig werden kann." 102 Wenn sich vor allem Zarathustra mit einem solcherart unbestimmt gelassenen, in jeder Hinsicht maßvollen Bild menschlichen Glücks sozusagen nicht anfreunden kann, dann nicht darum, weil einer auszehrenden Askese oder einer überbordenden Sinnlichkeit das Wort geredet werden sollte. Nietzsche selbst hat ja eine Reihe psychohygienischer, insbesondere diätetischer Maßregeln befürwortet bzw. zur Aufmerksamkeit gegenüber den „kleinen Dingen" des Lebens aufgerufen, um damit die bislang auseinandergefallenen Welten von Leib und Intellekt Schritt für Schritt synergetischen Zielen dienstbar zu machen. 103 Nein, Zarathustra wehrt sich sinngemäß gegen die Verwechslung von „maßvoll" und „mittelmäßig", weil ihm nicht nachvollziehbar ist, wie der moderne Mensch nach der langen Geschichte der Lebensverneinung und ihrer zuletzt fragwürdig gewordenen Rechtfertigung durch eine höhere Causa prima ganz selbstverständlich davon ausgehen kann, daß nunmehr, zugespitzt gesagt, „Genuß- und Leistungsfähigkeit" schon der Wert schlechthin sei; daß die dank Introspektion schließlich gefundene „Position der Mitte" sich von der Verfallsbewegung der Werte gleichsam absentieren könne; daß die diversen individuellen Glückserwartungen das virulent „durchbohrende Gefühl" des „Nichts" 104 außer Kraft zu setzen vermöchten; und schließlich, daß die Frage nach der Bewältigung einer solchen Krise, für die „alle Ohren bereits gespitzt" 105 sein müßten, nachgerade obsolet geworden sei. Eben diesen Mißverständnissen leisteten aber die „letzten Menschen", wie Zarathustra sie nennt, Vorschub. In der Epoche einer zunehmenden, unaufhaltsamen „Leere und Armut an Werthen " treten sie nach Nietzsche als eine Art unbewußte Verzögerungsbewegung 106 gegen die Entwertung aller Werte auf den Plan und personifizieren den Versuch, sich gleichsam in einer Anzahl konkreter Glücksvorstellungen zu sonnen, noch ehe das redliche Verachten der bisherigen Werte überhaupt eingesetzt, geschweige denn einer neuen, historisch reflektierten Willensperspektive Platz gemacht habe. Diese letzten Menschen seien 102 103
104 105 106
Vgl. oben S. 541 f. Vgl. oben S. 554—557. Zu Nietzsches differenzierter Würdigung der Askese vgl. etwa Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 340-356. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 404. Nachlaß November 1887-März 1888, 11 [411], KSA 13, S. 189. Vgl. Nachlaß November 1887-März 1888, 11 [119], KSA 13, S. 56f.; vgl. oben S. 479.
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durchaus gebildet und klug, wie Zarathustra das Sittenbild der Moderne skizziert, gewiß auch zynisch, und zur rechten Zeit und im rechten Maß bemühten sie sich auch um körperliche und seelische Hygiene. Schon lange glaubten sie nicht mehr an Gott oder überhaupt an ein Ziel, für das zu kämpfen sich lohnte, aber ebensowenig an eine Talfahrt der Wertgeschichte, und sofern noch ein Rest von Glauben übrig geblieben sei, dann höchstens der, daß alles im Leben auch seine Kehrseiten habe. Lieber daher und allenthalben den bequemen Kompromiß suchen, so die Devise, als sich unnötigerweise mit festen Zielen oder Prinzipien zu belasten: Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. [...] Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. [...] Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald — sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. „Wir haben das Glück erfunden" — sagen die letzten Menschen und blinzeln. - 1 0 7
Im „Antichrist" rechnet Nietzsche mit dem Typus des Menschen, der zu keiner „Linie" mehr findet, der weder ein noch aus, über den Lauf der Dinge aber selbstverständlich Bescheid weiß und nichts wie „Compromiss" sucht, nochmals ab: „Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles .verzeiht', weil sie Alles .begreift', ist Scirocco für uns." 108 Ein entsprechendes Phänomen dieses Mangels an Eindeutigkeit bzw. stetigen Hanges zur Kompromißbildung glaubt Nietzsche, freilich auf unvergleichlich seriöserem Standard, auch bei den Skeptikern zu entdecken, über die man zum gewissermaßen angekränkelten Willen der Wissenschaft, damit aber wiederum zu einer Frontenverhärtung zwischen Nietzsche und Freud zurückverwiesen wird. Denn während der Skeptiker Freud jedem unbedingten Ideal, Ziel oder Sollen zutiefst mißtraut, geht Nietzsche seinerseits daran, den nihilistischen Zug dieses Mißtrauens hervorzukehren. Freuds Denken enthüllt sich seinem Ausgangspunkt nach ja als grundsätzlich dualistisch gestaltet und fuhrt, wie die großen Säulen der psychoanalytischen 107 108
Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 19 f. Der Antichrist, KSA 6, S. 169.
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Theorie demonstrieren, tatsächlich zu immer demselben Resultat des Kompromisses (wobei dessen tiefste Wurzel fraglos in dem — von Nietzsche in dieser Ausschließlichkeit nicht zufällig bezweifelten — Grundantagonismus Natur/Kultur zu suchen ist). Als solche Kompromißbildungen erweisen sich etwa: der Traum, das neurotische Symptom, die Psychopathologie des Alltags, schließlich aber das Leben selbst als Kompromiß zwischen Lust- und Realitätsprinzip, innerer Realität und äußerer Ananke, Eros- und Todestrieb. Insofern überrascht nicht (und wurde z. B. am Thema „Ich" auch schon angedeutet109), daß Freuds Argumentation sich durchgängig von einem „Zwar-aber" bzw. „Sowohl-als-auch" leiten läßt. Außer Frage steht, daß Nietzsche den Skeptiker als Typus intellektueller Redlichkeit mit großer Wertschätzung bedachte und ihn mit der Kompromißbereitschaft der „letzten Menschen" nicht auf eine Stufe gestellt haben wollte. Dessen ungeachtet gilt er ihm immer noch als analoges Symptom der fortgeschrittenen Moderne: als tiefe „Willenslähmung", von der dieser wie auch der sogenannte „objektive Mensch" und die ganze wissenschaftliche Objektivität erfaßt worden sei, außerstande, noch „Partei zu ergreifen" und zu bejahen odS?r zu verneinen.110 Vergegenwärtigt man sich zum Schluß die beiden „Kritiken", d. h. die teils expliziten, teils deduzierbaren Einwände Freuds gegen Nietzsche111 und umgekehrt die aus Werk und Geist Nietzsches hier erschlossenen Vorbehalte gegenüber Theorie und Praxis der Psychoanalyse, bleibt nur das Resümee, daß die Positionen gewissermaßen bezogen sind, konkreter: daß der Impetus des jeweiligen Denkens unübersehbar tiefe Kluften zum „Gegenüber" aufgerissen und zu eminenten Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten der Art geführt hat, daß der „wechselseitige" Disput mit Notwendigkeit auch auf der Stelle treten mußte. Denn im Gegenzug zu Freuds dezidiert geäußertem Vorwurf, Nietzsche sei ganz augenscheinlich den Theologen „nicht losgeworden", steht nunmehr der Verdacht, die Psychoanalyse sei selbst eine unbegriffene, subtile Form von Theologie. Und der von Freud beanstandete Idealismus und Moralismus112 von Nietzsches Philosophie findet sein Korrelat in der These, daß der Realismus der Psychoanalyse seinerseits nur gleichsam auf dem Klavier des Nihilismus spielt und jedenfalls den monierten Moralismus, wiederum auf unbewußte und verfeinerte Weise, keineswegs hinter sich gelassen hat. Bemerkenswert an dieser Diskussion ist, daß sie in einem ganz bestimmten Sinne freilich auf einem Anachronismus aufbaut. Auch wenn das spätere (also 109 1,0 111 112
Vgl. oben S. 562 f. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 1 3 4 - 1 3 7 . Vgl. oben S. 5 1 7 - 5 2 6 . Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 2, S. 28.
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nach dem Tode Nietzsches artikulierte) Mißbehagen Freuds an den pathetischen Kernen von Nietzsches „Sollens"-Philosophie ohne weiteres nachvollziehbar ist, auch wenn sein libidotheoretisch ableitbares Unverständnis gegenüber der Idee des Ubermenschen 113 durchaus für sich steht, selbst dann ändert dies nichts daran, daß gerade die formalwissenschaftliche Begründung dieser Idiosynkrasie von Nietzsches Philosophie der Werte bereits unterlaufen wurde, mit anderen Worten: daß Nietzsche aus dem Kontext der Geschichte des Nihilismus und namentlich des asketischen Ideals die Beziehung zwischen Wissenschaft und Moral in einer Weise zum Thema erhoben und problematisiert hat, die de facto einer postfreudschen Perspektive gleichkommt.
113
Vgl. oben S. 523 f.
Teil IV Theoretische Grundlagen und Probleme
Die Untersuchung ließ sich leiten von einer Rekonstruktion der menschlichen Kultur- und im weiteren der Krankheitsgeschichte bei Nietzsche und Freud. Im Zuge der Diskussion über die jeweils verfochtenen therapeutischen Interventionsmöglichkeiten brach schließlich die weltanschauliche Unverträglichkeit der Ideen in aller Schärfe durch: hier Freuds postulierter Realismus, der sich dem Idealismus Nietzsches offen verweigert, dort eine Philosophie Nietzsches, über die sich wiederum der Realismus der Psychoanalyse als uneingestandener Nihilismus enthüllt. Tatsächlich hält sich hinter dieser Polarisierung nur ein Grundproblem versteckt, das entscheidend für das eben angesprochene Auf-der-StelleTreten der Diskussion bzw. eine gewisse Sprachverwirrung verantwortlich zeichnet: die Ungeklärtheit des Realitätsbegriffs selbst. Damit drängt sich die Frage nach der Fundierung von Realität im jeweiligen begrifflichen System auf, nach der Beziehung von innerer und äußerer Wirklichkeit und nicht zuletzt nach den Begründungszusammenhängen, mit denen die Autoren den vielzitierten Dualismus oder Monismus ihres Weltbildes als „real" zu erweisen suchen.
Kapitel 15 Die Trieblehre Ein erster Zugang zum Fragenkomplex ergibt sich durch eine stärkere Beleuchtung jenes Teils der inneren Realität, die als Triebrealität zu bezeichnen ist. Nun sind wesentliche Komponenten der Triebtheorien bereits kontinuierlich zur Sprache gebracht worden. Es mag an dieser Stelle also genügen, die historische Entwicklung 1 derselben in nuce zu referieren, um sich in der Folge bestimmten Themen- und Problemstellungen zuzuwenden.
1. Meilensteine der Triebkon^epte 1.1. Die frühe Phase Im posthum veröffentlichten „Entwurf einer Psychologie" von 1895 legt Freud ein neurophysiologisches Modell über Arbeitsweise, Funktionalität und Dysfunktionalität des Nervenapparates vor. Gewicht gewinnt diese Abhandlung dadurch, daß etliche Einsichten über den späteren psychischen Apparat" vorformuliert sind. So stößt man auf die überragende Bedeutung der quantitativen Erregungszustände für die Seelenökonomie, im besonderen des Trägheitsprin^ips (Tendenz zur vollkommenen Abfuhr bzw. Reduktion der Erregungsgrößen auf Null), welches in „Jenseits des Lustprinzips" — im Zusammenhang mit dem Todestrieb — als Nirwanaprinzip umschrieben wird, sowie des Konstan^prin^ips (Tendenz zur Aufrechterhaltung oder Minimierung eines bestimmten Energieniveaus) als einer Modifizierung des Trägheitsprinzips. Damit wiederum ist ein Verständnis gegeben für die Differenz zwischen „Primär"- und „Sekundärvorgang", wie sie in der „Traumdeutung" als eine zwischen „freier" und „gebundener" Energie zum Ausdruck kommt. Des weiteren begegnet man der fortan konstitutiven Unterscheidung zwischen äußeren, exogenen Reizen, denen der
1
Im Unterschied zu Nietzsche gibt Freud an mehreren Stellen eine Übersicht über die Wandlungen seiner Triebtheorie. Vgl. z. B. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 259 ff. und 269, Anmerkung 1; Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 2 4 5 - 2 4 7 ; 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 529 ff. und 535 ff. Darüber hinaus vgl. etwa die editorische Vorbemerkung zu Triebe und Triebschicksale, STA 3, S. 76 — 80; Nagera, H. (Hg.), Psychoanalytische Grundbegriffe, Frankfurt am Main 1976, S. 2 3 - 4 7 ; detailliert auch Assoun, P.-L., Freud et Nietzsche, a. a. O., S. 83 ff.
1. Meilensteine der Triebkonzepte
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Mensch entfliehen kann, und inneren, endogenen Rei2en (Trieben), vor denen keine Flucht möglich ist. Und schließlich findet sich eine erste Annäherung an Begriffe wie Bewußtsein, Wahrnehmung, Realität, Verdrängung usw. vor, Begriffe, die Freud in den metapsychologischen Schriften 1915 neuerlich zu präzisieren trachtet. Im Hinblick auf Nietzsche und seine in der Spätphase vollzogene Verankerung der Triebtheorie in einem vitalen, aktiven „Monismus" läßt sich in Freuds „Entwurf' nicht nur ein dualistischer, sondern vor allem ein reaktiver Grundzug registrieren (der in „Jenseits des Lustprinzips" seine Fortsetzung und gleichsam Vollendung erfahrt). Leben definiert sich hier wesentlich als Mangel, als erzwungener Umweg einer an sich organischen Trägheit, die — in der Sprache Nietzsches — auf den prinzipiellen „Willen zum Nichts" hinarbeite. Reizen „aus dem Körperelement" wie Hunger und Sexualität falle nämlich die Aufgabe zu, die Schwächung des Organismus, die sich infolge der „primären" Tendenz zur Entladung der Erregungsquantitäten zwingend ergeben würde, zu verhindern, da „das Individuum unter Bedingungen gesetzt ist, die man als Not des Lebens bezeichnen kann. Hiermit ist das Neuronensystem gezwungen, die ursprüngliche Tendenz [...] zum Niveau = 0 aufzugeben. Es muß sich Vorrat von Quantität gefallen lassen f...] Alle Leistungen des Neuronensystems sind entweder unter den Gesichtspunkt der Primärfunktion oder der Sekundärfunktion, die durch Not des Lebens aufgedrungen ist, zu bringen." 2 Halten wir fest, daß der Topos „Not des Lebens" schon in den Anfangen der Denkentwicklung verwurzelt ist und das spätere Verständnis daher umstandslos auf diesem aufbauen konnte.3 Der „Entwurf" markiert auch darum eine einschneidende Zwischenetappe in Freuds Forschungen, weil zu dem Zeitpunkt die Wende zur Tiefenpsychologie im Grunde bereits vollzogen ist. Zwar werden die sogenannten Aktualneurosen, d. h. nervöse Störungen durch „anormale" Sexualpraktiken, noch auf eine somatische Herkunft bzw. einen ungeklärten „Sexualchemismus"4 zurückgeführt. Aber seit der gemeinsamen Arbeit mit Breuer verficht Freud konsequent eine psychische Konflikt- bzw. Abwehrtheorie zur ätiologischen Begründung neurotischer Symptome. Demnach bewirken einzelne, mit bestimmtem Kraftaufwand festgehaltene Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen einen pathogenen Effekt, weil sie Manifestationen einer Abwehr sind und sich als unverträglich erweisen mit anderen in der Erinnerung eingeschriebenen, gleichwohl verdrängten Vorstellungen oder unterdrückten Affekten. Die „Verfuhrungstheorie"5 demonstriert sodann, daß die verdrängten Erinnerungen und die im Symptom abge-
2 3 4 5
Entwurf einer Psychologie, a. a. O., S. 381. Vgl. oben S. 397-400. Vgl. etwa .Selbstdarstellung', GW 14, S. 50 f. Vgl. oben S. 420 f.
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wehrten Affekte sich als Folge realer sexueller Traumen der Kindheitsgeschichte verstehen lassen. Mit der Aufgabe der Verfuhrungstheorie im Jahre 1897 tritt die Bedeutung einander widersprechender Wünsche und Phantasien endgültig in den Vordergrund, wenngleich die These, daß die sexuelle Färbung der abgewehrten Vorstellungswelt direkt auf die Natur der Sexualtriebe aufmerksam macht, noch auf sich warten läßt. Selbst der Begriff „Trieb" ist bis zu den „Drei Abhandlungen" im Jahre 1905 praktisch nicht existent, und Freud scheint die gängige biologische Unterscheidung zwischen arterhaltenden Sexualtrieben und individuellen Selbsterhaltungstrieben anstandslos zu akzeptieren. Ein Blick auf Nietzsches frühes Werk illustriert den Unterschied der anhebenden Denkbewegungen: Während der gelernte Neuropathologe und anfangliche „Physiotherapeut" Freud Schritt für Schritt das Feld seiner Psychologie erobert und systematisch erweitert (ohne dabei, wie er stets betont, den Boden der Naturwissenschaften je zu verlassen), stammen Nietzsches erste Schriften aus der Feder eines Philologen, der erst allmählich ins Lager der allzumenschlichen Psychologie und im weiteren der Physiologie schwenkt. In der Spätphase findet Nietzsche schließlich zu einer physio-psychologischen, ebenfalls stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Betrachtung, die er mit einer revolutionierenden Machtphilosophie zu synthetisieren sucht.6 Die heterogene Ausgangssituation läßt sich veranschaulichen, wenn man Freuds neurophysiologische Studie mit der „Trieblehre" des frühen Nietzsche kontrastiert. Im „Entwurf verwaltet Freud das Erbe seines Lehrers Brücke und damit zugleich jenes der herrschenden Physiologie, für die Namen wie Du BoisReymond und Helmholtz7 einstehen, nicht zuletzt aber das von Th. Fechner, der gewissermaßen im Untergrund allgegenwärtig ist und von dem Freud später sagt, er sei für dessen Ideen „immer [...] zugänglich"8 gewesen. Nietzsche dagegen erweist sich zunächst nicht nur als getreuer Anhänger Schopenhauers, sondern auch als Erbfolger der romantischen und insbesondere frühromantischen Tradition. Die „Nachtseite der Natur", das Unbewußte und damit die Vielfalt der Triebe und Gefühlszustände, der Traumbilder und Phantasien werden als die schöpferischen Kräfte des Seelenlebens angesehen, zu denen sich Ratio, Verstand, Zahl und Maß wie jene blasse, unlebendige, ja lebensfeindliche zweite Welt ausnehmen, deren geistige Urheberschaft sich nach Nietzsche einem Manne verdankt: Sokrates, der in seiner „Mißachtung des Instinktiven" geglaubt habe, am „Leitfaden der Causalität" das Sein nicht nur zu erkennen, sondern es selbst zu „corrieren"·, dessen Verkenntnis so weit gereicht habe, daß ausgerechnet das „Bewußtsein zum Schöpfer" geworden sei, wo doch bei „allen produktiven 6 7 8
Vgl. oben S. 4 2 9 - 4 3 6 . Vgl. etwa Jones, E., Sigmund Freud, a. a. O., Band 1, S. 427 - 437. .Selbstdarstellung', G W 14, S. 86.
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Naturen [...] gerade das Unbewußte schöpferisch und affirmativ [wirkt], während das Bewußtsein sich kritisch und abmahnend geberdet." 9 In diesem Sinne kann Assoun, der neben dem Einfluß der Frühromantik auch die nachhaltige Wirkung von La Rochefoucauld, Schiller, Emerson u. a. auf Nietzsches Triebbegriff hervorkehrt, im Hinblick auf Freuds „Entwurf" konstatieren: „Doch während der Instinkt Nietzsches schöpferisch ist, erinnert der Freudianische Trieb an eine Art energetischer Absonderung: Sie speisen sich also von zwei unterschiedlichen Modellen, so unterschiedlich wie das romantische Lebenwollen und die Trägheit Fechners, die grundlegend entropischer Natur ist." 10 Die im Zuge seiner altphilologischen Profession, aber auch im Anschluß etwa an F. Schlegel und Hölderlin erfolgte Rückbesinnung Nietzsches auf das Wesen des Hellenismus führt bekanntlich zu einem ersten Trieb- und Sublimierungskonzept, das in der Mythologie ihren Ausgangspunkt nimmt. Demnach habe sich im Gotte Apollo die großartige Fähigkeit des Menschen widergespiegelt, den Schrecken des Daseins zu umschleiern und jenen dionysisch legierten „Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit" durch eine begrenzende Kraft zu bändigen. Da die menschlichen Grundtriebe, über die sich sowohl der Kampf als auch die Versöhnung der Geschlechter perpetuiere, sich gleichzeitig als „Kunsttriebe" erwiesen und in der ursprünglich antagonistischen griechischen Götterkonstruktion zu einem vorbildhaften Bündnis gefunden hätten, habe das Dasein seine letzte Rechtfertigung somit durch die Ästhetik selbst erfahren. 11 Dieser Grundgedanke spielt in verschiedener Färbung in die meisten Schriften der Frühperiode hinein. Die Trieberkenntnis (bzw. auch die Einsicht in die nachteiligen Folgen der Triebverleugnung) dient im eigentlichen als Mittel zur ästhetischen Beförderung des Lebens bzw. auch zur Vision eines schöpferischen Genius, wie er besonders eindringlich in der „3. Unzeitgemäßen" beschworen wird. 12 Neben der „Geburt der Tragödie" nehmen die Abhandlung „Uber Wahrheit und Lüge" und teils auch die „2. Unzeitgemäße" eine gewisse Ausnahmestellung ein: erstere, weil sie über eine Thematisierung des Anthropomorphismus den „Trieb zur Metaphernbildung" als jenen „Fundamentaltrieb" bestimmt, mit dem sich der Mensch als sprachbefähigtes Wesen der Welt bemächtigt — und diese dadurch immer schon verfälscht, woraus folgt, daß auch eine naturalistisch fundierte Trieblehre bzw. jeder Glaube an ein „An sich" der Triebe jenseits von Sprache und Sozietät fragwürdig bleiben muß. Letztere aber, weil sie durch eine Reflexion über „Nutzen und Nachteil" der historischen Betrachtung für das 9
10 11 12
Vgl. Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 99; Socrates und die Tragoedie, KSA 1, S. 542; vgl. oben S. 343 f. Assoun, P.-L., Freud et Nietzsche, a. a. O., S. 112; vgl. ebd. S. 103 ff. und 122 f. Vgl. detaillierter Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 2 5 - 4 8 ; vgl. oben S. 351 f. Vgl. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 380 ff., 403 ff. u. a.
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Leben die durchgehende Bedingtheit auch der menschlichen Trieberkenntnis impliziert.13 Von einer Trieblehre im engeren Sinn kann zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht gesprochen werden, vielmehr sind es für Nietzsche die facettenreichen Äußerungen des Lebens selbst, die auf die Vielfalt von Trieben und Triebchen schließen lassen. Insofern überrascht nicht, daß man (jedenfalls bis zum Stadium der späteren „Einheitskonzeption") auf ein ganzes Arsenal an Trieben stößt: Erkenntnistrieb, Wißtrieb, Trieb zur Wahrheit, Kunsttrieb, Trieb zur Lüge, Spürund Spieltrieb, Jagdtrieb, Nahrungstrieb, Geschlechtstrieb, Trieb zur Grausamkeit, egoistischer Trieb, unegoistischer Trieb und viele andere mehr. Bezeichnend etwa ein Aphorismus aus der späteren „Morgenröthe", wo die Frage nach den Ursachen des „Freude-machens" noch mit folgender Antwort versehen wird: „Weil man damit seinen fünfzig eigenen Trieben auf Einmal eine Freude macht." 14 Unwillkürlich drängt sich ein Wort Freuds auf, der über die Beliebigkeit der vor ihm vertretenen Theorien einmal meinte: „Jedermann stellte so viele Triebe oder ,Grundtriebe' auf, als ihm beliebte, und wirtschaftete mit ihnen wie die alten griechischen Naturphilosophen mit ihren vier Elementen" 15 .
1.2. Auf dem Weg zur definitiven Trieblehre Nietzsches und Freuds „mittlere" Schaffensperioden lassen eine gewisse Annäherung der Positionen erkennen, die bedingt ist durch eine nun systematischere Auseinandersetzung mit dem Triebbegriff. Insbesondere die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" veranschaulichen diese Neuorientierung: Freud wagt hier zum ersten Mal eine Definition von Trieb und entdeckt die gemeinhin als Einheit supponierten Sexualtriebe als zersplittert, als Partialtriebe, welche an einen bestimmten somatischen Ort gebunden sind und relativ unabhängig voneinander nach Befriedigung streben, bis sie sich allmählich um das Primat der Genitalzonen zentrieren und in den Dienst der Fortpflanzung stellen. Die bahnbrechende Analyse der Sexualtriebe16 und ihrer Implikationen für das menschliche Sexualleben selbst, für die Neurosentheorie, die psychologische Phänomenologie und die Kulturtheorie korrespondiert indes nicht mit einer Beleuchtung der Selbsterhaltungstriebe, die nach wie vor stillschweigend vorausgesetzt werden. Erst 1910, in der kleinen Abhandlung „Die psychogene Sehstörung", wird ein Dualismus zum ersten Mal explizit formuliert: Freud bezeichnet 13
14 15 16
Vgl. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 877 ff. und oben S. 2 1 4 - 2 1 8 ; Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 269 ff. Morgenröthe, KSA 3, S. 257. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 260. Vgl. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 47 ff.
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die Triebe zur Selbsterhaltung dabei als Ichtriebe, die häufig in Gegensatz geraten zu den Sexualtrieben, ein Konflikt, der hier noch in Analogie gesetzt wird zum Kampf zwischen bewußten und unbewußten Vorstellungen bzw. Kräften.17 Mit der These von Ich- und Sexualtrieben wird auch der Biologie Genüge getan, denn die Dichotomie verdeutliche die „Doppelstellung des Einzelwesens, welche seine eigene Erhaltung wie die der Gattung anstrebt"18. Problematisch wird die Konzeption im Jahre 1914 durch die Einführung des Narzißmus, welche den bisherigen Dualismus zwischen „Hunger und Liebe", wie Freud in Anspielung auf Schillers „Die Weltweisen" vereinfacht19, schwinden läßt. Durch das Studium von Paranoia und Homosexualität stellte sich ganz allgemein heraus, daß das Ich und mithin die Selbsterhaltungstriebe schon libidinös durchtränkt sind, eine Unterscheidung also höchstens im Hinblick auf die Objektwahl zu treffen ist, was zur Differenz von gleichermaßen libidinösen „Ich"und „Objekttrieben" führt.20 Mit diesem in der Nähe des Monismus angesiedelten Triebentwurf wird nicht nur eine entscheidende Zäsur, sondern auch eine bedrohliche Phase der Denkentwicklung augenfällig, da sich der längst laut gewordene Vorwurf des Pansexualismus jetzt zu bestätigen schien. Bezeichnenderweise widmet sich Freud in der Folge verstärkt dem Thema „Liebe und Ηαβ"2λ, aber auch dem der bisher vernachlässigten Selbsterhaltungstriebe, deren Energiebesetzungen er mit Interesse übersetzt22, ohne damit jedoch zu einer für ihn befriedigenden Gesamdösung zu finden. Durch die Handhabung des „psychologischen Seciermessers" in „Menschliches, Allzumenschliches" vorbereitet, dringt Nietzsches Analyse im Umkreis von „Morgenröthe" und „Fröhlicher Wissenschaft" tiefer in das Phänomen Trieb ein. Zwar laufen die betreffenden Reflexionen noch nicht in einem gemeinsamen Strang zusammen und noch bezweifelt Nietzsche die Möglichkeit hinreichender Trieberkenntnis. Aber dem aphoristischen Umkreisen verschiedener Problemstellungen folgen gleichwohl maßgebliche Einsichten: etwa über die fundamentale Abhängigkeit aller geistigen Prozesse von den physiologischen, über den vermutlichen Kampf der Triebe, der sich in einem nur unzulänglich wahrgenommenen „Kampf der Motive" fortsetze und selbst im Traumleben seinen Niederschlag finde; über die Umgestaltung der Triebe durch soziale und moralische 17 18
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22
Vgl. Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung, STA 6, S. 209 ff. Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, STA 7, S. 196. Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung, STA 6, S. 210. Vgl. Zur Einführung des Narzißmus, STA 3, S. 43 ff.; Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 121 f. (Zusatz von 1915); Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 269, Anmerkung 1. Vgl. Triebe und Triebschicksale, STA 3, S. 95 — 102. Hinzuzufügen ist, daß sich die Auseinandersetzung mit Haß und Aggression durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs zwangsläufig aufdrängte (vgl. auch Zeitgemäßes über Krieg und Tod, STA 3, S. 35 ff.). 26. Vorlesung, Die Libidotheorie und der Narzißmus, STA 1, S. 400.
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Urteile bzw. Wertschätzungen überhaupt, ein Verständnis, mit dem sich das historische Philosophieren seit der „2. Unzeitgemäßen" und „Menschliches, Allzumenschliches" ungebrochen prolongiert. 23 Ein Themenkomplex drängt sich indes massiv in den Vordergrund: die Hinterfragung der Kategorien „Nützlichkeit" und „Zweck" für den Triebbegriff. Nietzsche nimmt damit eine Diskussion auf, die er in Ansätzen bereits früher mit P. Rées utilitaristischer Verankerung des Begriffspaares „egoistisch — unegoistisch" geführt hat. 24 Und akzentuierter als damals scheint ihm nun, wenn auch noch überwiegend in nachgelassenen Notizen, höchst zweifelhaft, ob die Annahme eines letzten „Um-zu" bzw. die Teleologisierung der Triebe einer kritischen Überprüfung standhält. Wie noch genauer auszuführen sein wird, stützt sich die Begründung dieses Zweifels im wesentlichen auf das Argument, daß man die Nützlichkeit, Absichtlichkeit oder Zweckhaftigkeit der Sexual- und Selbsterhaltungstriebe verwechselt habe mit der ursprünglichen Tendenz des Menschen nach LustgewinrA Nietzsche visiert damit nicht nur einen erweiterten, nämlich über die Fortpflanzungsfunktion hinausragenden Begriff von Sexualität an, sondern glaubt zu diesem Zeitpunkt auch, die Selbsterhaltungstriebe dem universaleren „Lustprinzip" unterordnen zu können. 25 Damit wird eine gewisse Annäherung an den zeitweiligen Monismus von Freud evident, der nach der Einfuhrung des Narzißmus ebenfalls auf der libidinösen Natur der Selbsterhaltungstriebe insistiert. Dieser gemeinsame Blickwinkel kann freilich nicht überstrapaziert werden. Zum einen bleiben Nietzsches Reflexionen regelmäßig der Ebene des Prinzipiellen verpflichtet und orientieren sich naturgemäß nicht an einer Detailanalytik psychogener und psychopathologischer Prozesse, aus deren Verständnis Freud gerade das empirische Material zur Legitimation einer allgemeinen Triebtheorie bezieht. Zum anderen sind Nietzsches Reflexionen unaufhörlich (und wiederum v. a. in den nachgelassenen Fragmenten) von Fragezeichen durchsetzt, ja man darf behaupten, daß es die Fragezeichen selbst sind, die schließlich eine Revision der Hypothesen erzwingen.
1.3. Die späte Phase Lust kann ebensowenig zum Primum mobile des Daseins erklärt werden wie der Sexualtrieb, der Selbsterhaltungstrieb oder ein Schopenhauerscher „Wille zum Leben". Leben selbst ist nichts anderes als Wille spr Macht — das ist die 23
24 25
Vgl. etwa Morgenröthe, KSA 3, S. 45 f., 96 ff., 111 ff., 117 ff.; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 558 f.; vgl. oben S. 267 f. und 549 f. Vgl. etwa Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 92 f. Vgl. etwa Nachlaß Herbst 1880, 6 [145], KSA 9, S. 234.
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schließliche Konsequenz des hartnäckigen Ringens um die Fundierung eines neuen Triebkonzepts. Es zählt zu den gängigsten Vorurteilen, und Freud hat ein solches ebenso verstärkt wie etwa A. Zweig oder Th. Mann, daß Nietzsche seine Einsichten im Gegensatz zur „mühseligen" Wissenschaft „intuitiv" und „blitzartig" gewonnen habe.26 Tatsächlich aber entpuppt sich das Spätwerk bereits als Frucht einer mehrjährigen Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, die nun intensiviert wird. Unangesehen ihrer positiven oder negativen Bewertung fließen etwa folgende Theoriekomplexe in Nietzsches immer sehr weit gefaßten Triebbegriff ein: die Evolutionstheorie Darwins (mit der Nietzsche schon früh durch F. A. Langes „Geschichte des Materialismus" vertraut wurde27), der Utilitarismus englischer Provenienz (f. St. Mill, H. Spencer u. a.), W Roux' Entwicklungsmechanik28, J. R. Mayers Wärmelehre und J. G. Vogts „real-monistischer" Kraftbegriff.29 Näher betrachtet sind es freilich eine Anzahl von Werken, denen Nietzsche mittelbare oder unmittelbare Anregungen verdankt.30 Er selbst notiert in „Ecce homo": „Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an [seit „Menschliches, Allzumenschliches"] habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften, — selbst zu den eigentlichen historischen Studien bin ich erst wieder zurückgekehrt, als die Aufgabe mich gebieterisch dazu zwang."31 Thematisch darf daran erinnert werden, daß Nietzsche im Zuge der Neuentdeckung des „Leibes" und ihrer Implikationen die Kardinaltriebe (namentlich die Sexual- und Selbsterhaltungstriebe) als Verzweigungsformen bzw., wie man vorwegnehmend formulieren durfte32, Partialtriebe des einen Grundwillens begreift. Die sprachliche Nachlässigkeit beim Wort „Partialtriebe" (das ja dem Freudschen Vokabular entnommen ist) verfuhrt zur Annahme, daß es sich hier 26 27
28 29 30
31 32
Vgl. oben S. 55 f., 148 und 160. Nietzsche nahm überhaupt lebhaften Anteil an der Entwicklungslehre, etwa am Disput zwischen E. Haeckel auf der einen und L. Rütimeyer u. a. auf der anderen Seite (vgl. Müller-Lauter, W, Der Organismus als innerer Kampf, a. a. O., S. 193, Anmerkung 16). Vgl. ebd., S. 188 ff. Vgl. Bauer, M., Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, in: Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 212 ff. und 218 ff. Zu nennen sind etwa Weber, E. H., Untersuchungen über den Erregungsprozeß im Muskelund Nervensystem, Leipzig 1870; Espinas, Α., Die thierischen Gesellschaften, Braunschweig 1879; Semper, K. G., Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere, Leipzig 1880; Herrmann, E., Cultur und Natur, Berlin 1887; Baumann, J. J., Handbuch der Moral nebst Abriß der Rechtsphilosophie, Leipzig 1879 und nicht zuletzt Schneider, G. H., Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre, Leipzig 1882. Aus Platzgründen ist es nicht möglich, sämtliche Querverweise zu Nietzsches Auseinandersetzung mit den genannten Autoren bzw. Werken zu geben (vgl. dazu die diesbezüglichen Informationen im Gesamtregister der KSA, Band 15). Ecce homo, KSA 6, S. 325. Vgl. oben S. 327 f.
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um untergeordnete Teiltriebe im Verhältnis zu einem übergeordneten Haupttrieb handelt. Tatsächlich insistiert Nietzsche darauf, daß alle Ausgestaltungen und Differenzierungen des Grundtriebes nichts anderes als Wille zur Macht sind. Freud auf der anderen Seite überwindet die Schwierigkeiten seines libidinösen Monismus und findet bekanntlich zu dem in „Jenseits des Lustprinzips" erstmals verfochtenen und dann bis ans Lebensende verteidigten Dualismus von Eros (Lebenstrieben) und Todestrieben, aus dem sich wiederum das lange ungelöste Problem des Machtwillens (Destruktions-, Bemächtigungstrieb) deduzieren ließ. Der Wille zur Macht mußte als ein durch den „Lebenswächter" Eros nach außen abgeleiteter Partialtrieb jenes Todestriebes verstanden werden, der ursprünglich und aus inneren Gründen zum Leblosen und Anorganischen zurückdrängt. 33 Die anstehenden Triebtheorien nochmals vergegenwärtigt, läßt sich deren Entwicklungsgeschichte folgendermaßen komprimiert vergleichen: ein weitgehendes Auseinanderklaffen der Ideen in der Frühphase, eine gewisse Annäherung derselben in der mittleren Periode und schließlich eine Art Umkehrverhältnis bezüglich des Willens zur Macht in der Spätphase (hier der Grundtrieb schlechthin, dort ein Partialtrieb des Todestriebes, der seinerseits im Kampf mit dem Eros steht).
2. Der Triebbegriff Freuds 2.1. Trieb als Abgrenzungsproblem An mehreren Stellen unterscheidet Freud definitorisch zwischen Quelle, Drang, Ziel und Objekt der Triebe. Quelle des Triebes ist ein „somatischer Vorgang in einem Organ", während sich der Terminus Drang eben auf das Moment des Drängens bezieht und eine „konstante Kraft" meint, der man sich im Gegensatz zur „momentanen Stoßkraft" äußerer Reize nicht durch Flucht entziehen kann. Allgemeinstes Ziel der Triebe ist die Befriedigung bzw. Herabsetzung einer Reizspannung (die „Wiederherstellung eines früheren Zustandes" nach der späten Trieblehre) und Objekt schließlich dasjenige, an dem der Trieb sein Ziel zu erreichen sucht. 34 Die Zufälligkeit und Variabilität der Objekte sowie die Vielfalt der Ziele, durch welche die Triebe mannigfache „Schicksale" erfahren, lassen den Wesens33 34
Vgl. Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 347; vgl. oben S. 329 f. Im Detail vgl. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 76 f.; Triebe und Triebschicksale, STA 3, S. 82 ff.; 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 530 f.; Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 246 f.
2. Der Triebbegriff Freuds
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unterschied zwischen Trieb und Instinkt deutlich werden. Während der tierische Instinkt traditionell durch ein in seinem Ablauf präformiertes und an sein Objekt stark gebundenes, hereditär bestimmtes Verhaltensmuster gekennzeichnet wird, sind die menschlichen Triebregungen, insbesondere die sexuellen Partdaltriebe, nicht nur höchst flexibel in Hinsicht auf die Austauschbarkeit der Objekte, sondern auch „außerordentlichplastisch" bei der Realisation der Triebziele: Eine Triebregung kann Surrogat fur eine andere sein, „eine kann die Intensität der anderen auf sich nehmen; wenn die Befriedigung der einen durch die Realität versagt ist, kann die Befriedigung einer anderen volle Entschädigung bieten. Sie verhalten sich zueinander wie ein Netz von kommunizierenden, mit Flüssigkeit gefällten Kanälen" 35 . Wiewohl Freuds Verwendung des Terminus „Instinkt" nicht immer homogen ist und auch keineswegs bestritten wird, daß instinktanaloge Elemente in die menschliche Psyche Eingang gefunden haben 36 , so ist es letztlich doch dieser weitgehenden Unbestimmtheit bzw. Plastizität der Triebe zuzuschreiben, die eine begriffliche Differenz zwischen Trieb und Instinkt erzwingt. 37 Ein heikles Problem der psychoanalytischen Triebkonzeption betrifft die Frage, inwieweit der Trieb eher als somatisches oder als psychisches Phänomen zu klassifizieren ist. Freud versucht einer strengen Gegenüberstellung zu entgehen, indem er den Trieb als „Gren^begriff zwischen Seelischem und Somatischem" bestimmt, da der Trieb seine Quellen unzweifelhaft in organischen Erregungen habe, durch die Beziehung zu seinen Zielen und Objekten aber ebenso unzweifelhaft ein psychisches Schicksal erleide. Gleichwohl bleibt der Ansatz zweideutig, wenn man den von der Triebdefinition unablöslichen Begriff der Repräsentant mitberücksichtigt. Einmal ist es der Trieb selbst, der nach Freud die psychische Vertretung des Somatischen übernehme und dabei eine „Arbeitsanforderung" zu bewältigen habe, die „dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist" 38 . 1915 dagegen, anläßlich der metapsychologischen Beleuchtung des Verdrängungsvorganges, wird der Trieb mit den somati35 36 37
38
22. Vorlesung, Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie, STA 1, S. 338. Vgl. etwa Das Unbewußte, STA 3, S. 154. Im übrigen bestätigen die empirischen Daten der anthropologischen Forschung diese weitgehende Unbestimmtheit der menschlichen Triebe im Gegensatz zu den tierischen Instinkten, bei denen sich zwar ebenfalls eine gewisse Plastizität feststellen läßt, die sich freilich immer in den determinierten Grenzen der vererbten Merkmale einer bestimmten Art bewegt. Autoren wie H.-D. Klein insistieren darauf, daß man selbst den Begriff „Trieb" wegen seiner „Auslegbarkeit als Naturtrieb und der damit verbundenen falschen Assoziationen" besser vermeiden und stattdessen von Wille sprechen sollte. Aufgabe der Philosophie wäre es dann, das Bindungsgeflecht des unmittelbaren Willens (Trieb) mit dem Willens- bzw. Freiheitsbegriff zu vermitteln (vgl. Klein, H.-D., Vernunft und Wirklichkeit, Wien 1973, Band 1, S. 139-157). Vgl. Triebe und Triebschicksale, STA 3, S. 85 (Grenzbegriff - H. d. V.); Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 76 (Zusatz von 1915); Uber einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, STA 7, S. 196; Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 70.
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sehen Erregungen identifiziert, während dessen Repräsentanz einerseits Vorstellungen und andererseits dem Affektbetrag zugewiesen wird. Bemerkenswerte Konklusion dieser Überlegungen: „Ich meine wirklich, der Gegensatz von bewußt und unbewußt hat auf den Trieb keine Anwendung. Ein Trieb kann nie Objekt des Bewußtseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann aber auch im Unbewußten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein. Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen." 39 Freud schwankt also zwischen den beiden Versionen hin und her, wenngleich erstere, welche die psychische Dimension des Triebbegriffs betont, zu überwiegen scheint. Das Schwanken selbst verweist freilich auf den „Grenzbegriff" des Triebes nur zurück, sodaß weder die organische noch die psychologische Konzeption eindeutige Oberhand gewinnt. 40
2.2. Die ökonomische Betrachtung Die angesprochene Charakterisierung des Triebes als konstante Kraft legt Nachdruck auf das Wort „konstant" und damit den Unterschied zum „momentanen" äußeren Reiz. Dies erklärt die sprachliche Ungenauigkeit hinsichtlich der Bezeichnung „Kraft", handelt es sich im psychoorganischen Gesamthaushalt doch keineswegs um „die" Kraft, sondern um quantitative Erregungsgrößen von Kräften (ökonomischer Gesichtspunkt) und — untrennbar davon — um das Spiel und Widerspiel derselben (dynamischer Gesichtspunkt). Ökonomie und Dynamik markieren (neben der Topologie) die beiden großen Stützpunkte der Freudschen Metapsychologie 41 und, wie sich erweisen wird, auch der Nietzscheschen Machtphilosophie. Im Hinblick auf das energetische Grundprinzip nimmt Freud an, „daß die psychischen Vertretungen der Triebe mit bestimmten Quantitäten Energie besetzt sind (Cathexis) und daß der psychische Apparat die Tendenz hat, eine Stauung dieser Energien zu verhüten und die Gesamtsumme der Erregungen, die ihn belastet, möglichst niedrig zu halten." 42 Strukturell betrachtet ringe das Ich um die „Bewältigung seiner ökonomischen Aufgabe, die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken" 43 . Da alle Erfahrungen indes bestätigten, daß das Ich hierbei nur zu oft scheitere, habe 39 40 41 42 43
Das Unbewußte, STA 3, S. 136; vgl. Die Verdrängung, STA 3, S. 113 f. Vgl. auch Assoun, P.-L., Freud et Nietzsche, a. a. O., S. 128 ff. Vgl. Das Unbewußte, STA 3, S. 140. Psychoanalysis, G W 14, S. 302. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 515; vgl. auch Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 97 f.
2. Der Triebbegriff Freuds
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eine Analytik der Seele die „Schicksale der Erregungsgrößen"44 im einzelnen zu verfolgen und aufzuzeigen, inwiefern quantitative Veränderungen das energetische Budget aus dem Gleichgewicht bringen. Eine rein qualitative Beschreibung der Krankheitsätiologie sei schon dadurch unzureichend, daß sie von den spezifischen Zunahmen, Einbußen und Intensitätsverschiebungen der Kräfte abstrahiere. Gerade die sexuellen Triebenergien verdeutlichten, daß ein seelischer Konflikt nicht ausbreche, „ehe nicht gewisse Besetzungsintensitäten erreicht sind, mögen die inhaltlichen Bedingungen längst vorhanden sein." Umgekehrt bleibe der Faktor Quantität auch für die Widerstandsfähigkeit gegen neurotische Erkrankungen entscheidend, alles hänge davon ab, „welchen Betrag der unverwendeten Libido eine Person in der Schwebe erhalten kann, und einen wie großen Bruchteil ihrer Libido sie vom Sexuellen weg [...] zu leiten vermag"45, beispielsweise auf Ziele der Sublimierung. Tatsächlich setzt Freud große Hoffnungen in die Meßbarkeit der Energien: „Wir haben uns den Begriff der Ubido festgelegt als einer quantitativ veränderlichen Kraft, welche Vorgänge und Umsetzungen auf dem Gebiete der Sexualerregungen messen könnte."46 Andererseits sei evident, daß die Quantifizierung der Kräfte und der Vergleich ihrer Wirkungen einem naturwissenschaftlichen Modell entspreche, das Phänomene zwar beschreibe und klassifiziere, letztlich aber keine Aussagen über deren Wesen treffe. In dieser Hinsicht mußte konzediert werden, „daß wir nichts über die Natur des Erregungsvorganges in den Elementen der psychischen Systeme wissen und uns zu keiner Annahme darüber berechtigt fühlen. Sò operieren wir also stets mit einem großen X, welches wir in jede neue Formel mit hinübernehmen."47 Das Ideal der Meßbarkeit und das unbekannte X stellen gleichwohl nur die äußersten Begriffsgrenzen dar, innerhalb derer Freud eine Reihe von Erkenntnissen zutage fördert, und zwar sowohl im Hinblick auf die konkreten „Wechselwirkungen"48 der Kräfte bei normalen und psychopathologischen Phänomenen als auch im Hinblick auf elementare „Formen der Energiefüllung"49. Trotz gebotener Bescheidenheit halte die psychoanalytische Forschung nämlich an der Entdeckung fest, „dass die Vorgänge im Unbewussten oder im Es anderen Gesetzen gehorchen als die im vorbewussten Ich. Wir nennen diese Gesetze in ihrer Gesamtheit Primärvorgang im Gegensatz zum Sekundärvorgang, der die Abläufe im Vorbewussten, im Ich, regelt."50 Mit dieser Aussage verweist Freud auf 44 45 46 47 48 49 50
Das Unbewußte, STA 3, S. 140. 23. Vorlesung, Die Wege der Symptombildung, STA 1, S. 365; vgl. oben S. 409 f. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 121. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 240. Vgl. Kurzer Abriß der Psychoanalyse, GW 13, S. 420. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 240. Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 86.
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Kapitel 15: Die Trieblehre
die These der „Traumdeutung" zurück, daß die Tätigkeit des ersten Systems „auf freies Abströmen der Erregungsquanütäten gerichtet ist und daß das zweite System durch die von ihm ausgehenden Besetzungen eine Hemmung dieses Abströmens [...] herbeiführt." 51 Die Annahme einer hochgradigen Flexibilität der Libido im Kampf mit dem Hemmungssystem läßt nicht nur die Mechanismen der „Verschiebung" und „Verdichtung" im Traume plausibel werden, sondern bildet auch die Voraussetzung für das Verständnis zahlreicher psychischer Erscheinungsbilder. Ökonomisch erhellt werden ganz unterschiedliche Phänomene wie etwa Witz, Glück und allgemeine Techniken der Leidabwehr, im weiteren Melancholie, unbewußtes Strafbedürfnis, Angst 52 und typische Formen der Neurose; nicht zuletzt aber der Vorgang der Verdrängung, von dem man vermuten dürfe, daß sich die List der Libido dem Bewußtsein entzieht, das Verdrängte aber gleichwohl einen konstanten Druck „in Richtung zum Bewußten hin ausübt, dem durch unausgesetzten Gegendruck das Gleichgewicht gehalten werden muß", sodaß die Aufhebung der Verdrängung ökonomisch eine „Ersparung" bedeutet. 53 In diesem Kontext stehen auch die Begriffe „Widerstand" und „Gegenbesetzung", mit denen Freud beispielsweise der Zwangsneurose auf den Grund leuchtet: „So folgt aus der kontinuierlichen Natur des Triebes die Anforderung an das Ich, seine Abwehraktion durch einen Daueraufwand zu versichern. Diese Aktion zum Schutz der Verdrängung ist es, die wir bei der therapeutischen Bemühung als Widerstand verspüren. Widerstand setzt das voraus, was ich als ,Gegenbeset%un¿ bezeichnet habe. Eine solche Gegenbesetzung wird bei der Zwangsneurose greifbar. Sie erscheint hier als Ichveränderung, als Reaktionsbildung im Ich, durch Verstärkung jener Einstellung, welche der zu verdrängenden Triebrichtung gegensätzlich ist (Mitleid, Gewissenhaftigkeit, Reinlichkeit)." 54
2.3. Übergang zur dynamischen Betrachtung Freud ist des längeren unschlüssig, wo man den Vorratstank der Kraftmengen zu lokalisieren habe. Nachdem die frühere Anschauung, das Ich sei als „großes Reservoir" der Libido zu charakterisieren, aufgegeben und zugunsten des Es revidiert worden war — „zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft" 55 —, blieb ein 51 52
53 54 55
Die Traumdeutung, STA 2, S. 569. Vgl. etwa Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, STA 4, S. 112 ff.; Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 207 ff.; Trauer und Melancholie, STA 3, S. 210 ff.; Das Ich und das Es, STA 3, S. 295; Hemmung, Symptom und Angst, STA 6, S. 289 ff. Vgl. Die Verdrängung, STA 3, S. 112. Hemmung, Symptom und Angst, STA 6, S. 295. Das Ich und das Es, STA 3, S. 312; vgl. dazu den Anhang II von Das Ich und das Es: „Das grosse Reservoir der Libido", STA 3, S. 327 ff.
2. Der Triebbegriff Freuds
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gravierendes Problem dennoch bestehen. Immerhin wäre denkbar, daß es sich bei der höchst flexiblen (also gerade bei der libidinösen) Triebenergie letztlich um eine neutrale Grundenergie handelt, die sich nur hinsichtlich quantitativer Intensitäten unterscheiden ließe. Tatsächlich wird stellenweise mit einer „an sich indifferenten] Energie"56 spekuliert. Allein, wie konnte unter dieser Voraussetzung der triebliche Dualismus gerechtfertigt werden? Freud sieht sich daher gezwungen, neben den unbestreitbaren Quantitäten selbst noch Qualitäten der Triebenergie zu behaupten, wobei in den „Drei Abhandlungen" die libidinose Energie zunächst ganz vage von „anderer psychischer Energie" gesondert ist, während ab 1910 und besonders gegen Anfang der Narzißmus-Schrift die Biologie zum Kronzeugen für die populären „Qualitäten" Hunger und Liebe wird. 57 Mit dem Dualismus ab „Jenseits des Lustprinzips" erhält die Argumentation definitive Konturen. Demzufolge verweisen die erotischen Triebe auf jene Qualität, die nach „immer grössere[n] Einheiten " drängt und dabei für den „Lärm des Lebens" verantwortlich zeichnet. Die Todestriebe dagegen, die im Inneren des Organismus „stumm" arbeiten, tendieren dazu, die vom Eros angestrebten Einheiten gerade zu χ-erbrechen und ins Anorganische zurückzukehren.58 Bemerkenswerterweise glaubt Freud, diese Polarität nicht nur biologisch erhärten, sondern auch durch die Mythologie Piatons59 und die Kosmologie des Empedokles verdeutlichen zu können. Während man im „Symposion" eine grandiose Vorwegnahme der psychoanalytischen Eros-Theorie erkenne, habe Empedokles die beiden Fundamente der Trieblehre selbst gelegt: Der Philosoph lehrt also, daß es zwei Prinzipien des Geschehens im weltlichen wie im seelischen Leben gibt, die in ewigem Kampf miteinander liegen. Er nennt sie philia — Liebe — und neikos — Streit. Die eine dieser Mächte, die für ihn im Grunde „triebhaft wirkende Naturkräfte, durchaus keine zweckbewußten Intelligenzen" sind, strebt darnach, die Ur-Teilchen der vier Elemente zu einer Einheit zusammenzuballen, die andere im Gegenteil will alle diese Mischungen rückgängig machen und die Ur-Teilchen der Elemente voneinander sondern. Den Weltprozeß denkt er sich als fortgesetzte, niemals aufhörende Abwechslung von Perioden, in denen die eine oder die andere der beiden Grundkräfte den Sieg davonträgt, so daß einmal die Liebe, das nächste Mal der Streit seine Absicht voll durchsetzt und die Welt beherrscht, worauf der andere, unterlegene Teil einsetzt und nun seinerseits den Partner niederringt.60
56
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Das Ich und das Es, STA 3, S. 311 (H. d. V.); vgl. Zur Einfuhrung des Narzißmus, STA 3, S. 45. VgJ. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 121; Zur Einführung des Narzißmus, STA 3, S. 45. Vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 266 f.; Das Ich und das Es, STA 3, S. 311 ff.; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 71 f. (Einheiten - H. d. V.). Vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 266. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 385 f.; vgl. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 71.
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Kapitel 15: Die Trieblehre
Der Exkurs zur empedokleischen Philosophie veranschaulicht den Brückenschlag von der quantitativen zur dynamischen Betrachtung. Ihr Augenmerk gilt dem „Spiel von Kräften", die in Konflikt geraten und einander widerstreben, sich gegenseitig „fördern oder hemmen, sich miteinander verbinden, zu Kompromissen zusammentreten usw." 61 Fraglos ist die Psychoanalyse selbst eine Konflikttheorie großen Stils, die ihren entscheidenden Ausgangspunkt im Antagonismus Natur — Kultur nimmt und sich in jenem ödipalen Konflikt spezifiziert, dessen Ausgang den Menschen zu erheblichen Verzichtsleistungen, Künsten der Triebmodellierung und Kompromißbildungen nötigt. Unter metapsychologischen Gesichtspunkten sind es für Freud insbesondere die Dynamik des Verdrängten und die Konflikte der Triebkräfte untereinander, welche das Seelenleben zu einem „Kampf- und Tummelplatz entgegengesetzter Tendenzen" 62 machen. Im Unterschied zu einer rein deskriptiven, statischen Auffassung des Unbewußten nehme der engere Begriff „verdrängt" nämlich Rücksicht auf das „seelische Kräftespiel" und besage, „es sei ein Bestreben vorhanden, alle psychischen Wirkungen, darunter auch die des Bewußtwerdens, zu äußern, aber auch eine Gegenkraft, ein Widerstand, der einen Teil dieser psychischen Wirkungen, darunter wieder das Bewußtwerden, zu verhindern vermöge. Kennzeichen des Verdrängten bleibt eben, daß es sich trotz seiner Intensität nicht zum Bewußtsein zu bringen vermag." 63 Triebtheoretisch wiederum setzt Freud zunächst den Kampf zwischen Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben als „Urkonflikt" 64 an, später dann jenen von Eros und Todestrieb. Anzumerken ist schließlich, daß Freud sich nicht nur einer weitgehend entmoralisierten Sprache bedient, sondern auch zu einer Art Kriegsberichterstatter der Seele wird, dessen Analysen territorialen psychischen Kämpfen verschiedenster Form gelten — Triebkämpfen, Kämpfen zwischen Vorstellungen und Trieben, zwischen Vorstellungen untereinander — und dessen Vokabular in Permanenz von Begriffen wie Herrschaft, Unterdrückung, Abwehr, Widerstand u. a. m. durchdrungen ist. Stabile Verhältnisse, so das Argument, würden von vornherein wenig Interesse erwecken: „Was uns fördern kann, sind allein Zustände von Konflikt und Aufruhr" 65 . Gerade das widerspruchsvolle Beziehungsgeflecht der seelischen Instanzen Es, Ich und Uber-Ich verdeutliche dies. Nicht nur, daß es dem Menschen schwer genug falle, die von der Kultur aufgenötigte Hemmung, Verdrängung oder Sublimierung der Sexualstrebungen zu bewerkstelligen, in noch viel stärkerem Maße sei die Bändigung der Aggressionstriebe 61 62 63 64
65
Psychoanalysis, G W 14, S. 301. 4. Vorlesung, Die Fehlleistungen, STA 1, S. 95. Der Wahn und die Träume in W Jensens .Gradiva', STA 10, S. 47. Das Interesse an der Psychoanalyse, GW 8, S. 410; vgl. Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung, STA 6, S. 209. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 87.
3. Nietzsches Konzept des Willens zur Macht
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ein Problem, das über die Etablierung der Moral allerdings in „ingeniöser Weise" behoben werde: „Die Einsetzung des Uber-Ichs, das die gefährlichen aggressiven Regungen an sich reißt, bringt gleichsam eine Besatzung in die zum Aufruhr geneigte Stätte." 66 Da das Ich indes nicht allein vom Über-Ich bewacht und von den Leidenschaften getrieben, sondern oft genug auch von der Realität zurückgestoßen werde, verstehe man nur zu gut den Ausruf: „Das Leben ist nicht leicht!" 67 Besonders gelähmt und ohnmächtig empfinde sich das Ich, das sich zu seinem Schutze an die Realität „anklammern" wolle, freilich dann, wenn Es und Uber-Ich „gemeinsame Sache gegen das bedrängte Ich" machten und dadurch die Beziehung zur Realität nachhaltig störten. Genau auf diese Einsichten gründet Freud nun seinen Heilungsplan: „Das Ich ist durch den inneren Konflikt geschwächt, wir müssen ihm zu Hilfe kommen. Es ist wie in einem Bürgerkrieg, der durch den Beistand eines Bundesgenossen von aussen entschieden werden soll." 68
3. Nietzsches Konzept des Willens %ur Macht 3.1. Grundlagen Dynamische und ökonomische Elemente fließen in außergewöhnlichem Maße in Nietzsches Willensphilosophie ein, ohne daß Platz für einen Begriff wie „Metapsychologie" reserviert würde. Vielmehr impliziert sie, wie noch zu erläutern ist, daß der kritische Anspruch Freuds, die obsoleten Begriffe der Metaphysik in die Sprache einer Meta-Psychologie69 zu überfuhren, womöglich selbst zu hinterfragen ist. Voraussetzung einer solchen Diskussion bildet eine nähere Thematisierung des Leitgedankens vom Willen zur Macht, wobei sich folgende Aspekte fur einen ersten Uberblick aufdrängen: Wirkungsbereich desselben; Verwendung des Terminus im Singular; Triebdefinitionen.70 Ferne davon, den Willen zur Macht auf einen menschlichen Trieb zu reduzieren, beharrt Nietzsche mehrfach darauf, daß dieser nicht nur in der gesamten 66 67 68 69 70
32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 543. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 515. Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 98. Vgl. Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW 4, S. 287 f.; vgl. oben S. 135 f. Es darf daran erinnert werden, daß sich die meisten Aufzeichnungen zum Willen zur Macht im Nachlaß befinden und der Plan eines gleichnamigen Hauptwerkes nicht realisiert wurde (über die diesbezüglichen Gründe vgl. den Kommentar der Herausgeber der Kritischen Studienausgabe, KSA 14, S. 383 ff.). Die Nachlaßproblematik bedeutet einerseits, daß Nietzsches Einsichten aus verschiedensten Fragmenten erst zusammengetragen werden müssen. Zum anderen ergibt sich der unschätzbare Vorteil, daß ein Gedanke oder Thema in seiner Entwicklung, seinen Nuancierungen und Revisionen nachvollzogen werden kann.
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organischen, sondern auch der anorganischen Wirklichkeit herrsche (wenngleich ein Fragezeichen an einer Stelle auf die Unsicherheit dieser Behauptung verweist 71 ). Die Begriffe „Anziehung" und „Abstoßung" seien gegenüber der mechanischen Vorstellung von „Druck" und „Stoß" elementarer, verhielten sich wie eine „Grundthatsache" zu einer bloß „regulativen Hypothese": „Der Trieb, sich anzunähern — und der Trieb, etwas zurückzustoßen, sind in der unorganischen wie organischen das Band." Diese Betrachtung dürfe freilich nicht verabsolutiert werden: „Der Wille zur Macht in jeder Kraft-Combination, sich wehrend gegen das Stärkere, losstürmend auf das Schwächere ist richtiger. " 7 2 Im übrigen findet sich der, wie C. Colli 73 meint, „empedokleische" Ausgangspunkt Nietzsches auch in der erwähnten Triebtheorie Freuds. In einer Anspielung auf den griechischen Philosophen, der schon in „Die endliche und die unendliche Analyse" zu einer Art Stammvater der psychoanalytischen Triebtheorie erkoren wird, heißt es: „Dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen. Uber den Bereich des Lebenden hinaus führt die Analogie unserer beiden Grundtriebe zu dem im Anorganischen herrschenden Gegensatzpaar von Anziehung und Abstossung." 74 Die singuläre Rede von „dem" bzw. überhaupt vom „Willen zur Macht" legt Mißverständnisse nahe, sofern man darunter ein „ens metaphysicum", eine letzte Einheit oder Substanz im traditionellen Sinne versteht. Zwar gilt nur der Machtwille als Qualität des Wirklichen — „und nichts außerdem!"15 — , aber die Qualität definiere sich ihrerseits gerade als Differenz und Zusammenwirken verschiedener Wi&drAquanten. In kosmologischer Hinsicht denkt Nietzsche dabei die Kraftkonstellationen „des" Willens zur Macht als „ungeheuer groß und praktisch ,unermeßlich'". Gleichwohl könne die Gesamtsumme der Kräfte nur bestimmt, d. h. eine „feste, eherne Größe von Kraft" sein, ansonsten die Hypothese von der Wiederkehr des Gleichen, wie bereits diskutiert, nicht zu halten wäre. 76 An dieser Stelle 71 72
73
74
75 76
Vgl. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1 [29], KSA 12, S. 17. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [21], KSA 11, S. 560; vgl. Nachlaß Juni-Juli 1885, 34 [24η, KSA 11, S. 504; Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [22], KSA 11, S. 560 f. Vgl. Colli, G., Nachwort zu Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus dem Zeitraum Herbst 1884-Herbst 1885, KSA 11, S. 725. Abriss der Psychoanalyse, GW 17, S. 71; vgl. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 385 f. Anzumerken ist, daß Nietzsche vor allem in seiner Basler Zeit nicht nur unaufhörlich auf die Philosophie des Empedokles anspielt, sondern dessen „Symbolik der Geschlechtsliebe" (bzw. auch den platonischen Mythos) in einer Wortwahl rekapituliert, die mit Freuds Exegese in „Die endliche und die unendliche Analyse" und folglich mit dem Kern der späten Triebtheorie frappant übereinstimmt (vgl. Nachlaß Winter 1872-73, 23 [34], KSA 7, S. 553 f.). Nachlaß Juni-Juli 1885, 38 [12], KSA 11, S. 611. Vgl. Nachlaß Juni-Juli 1885, 38 [12], KSA 11, S. 610f.; Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [202], KSA 9, S. 523; vgl. oben S. 393 f. Zum gesamten Themenkomplex vgl. detaillierter MüllerLauter, W, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 247—265. Müller-Lauter verweist auch auf einen Selbstwiderspruch Nietzsches, der einerseits eine unendliche Teilbarkeit von Kräften supponiert, womit „jeder Gedanke an eine Quasi-Substanzialität der Willen zur Macht
3. Nietzsches Konzept des Willens zur Macht
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verficht Nietzsche im Anschluß an J. R. Mayers „Mechanik der Wärme" also den Satz von der „Erhaltung des Kraftquantums" bzw. ein „Konstanzprinzip", wie es Freud als Sonderfall des Fechnerschen Stabilitätsprinzips auf die Tendenz des psychischen Apparates (früher: Nervenapparates) überträgt.77 Wille zur Macht im Singular hat indes noch zusätzliche, zwangsläufig engere Bedeutungen: einmal die der Zusammenfassung mannigfaltiger Phänomene in einem Komplex (ζ. B. Moral, Kunst, Religion als Wille zur Macht); und dann — auch in Verbindung mit einem Possesivpronomen — die der Abgrenzung einer spezifischen Machtorganisation (die selbst wiederum von verschiedenen einzelnen Machtwillen bzw. -quanten getragen wird) zu einer anderen, sei diese nun sozialer oder politischer Art (ζ. B. der Machtwille eines bestimmten Volkes), sei sie biologischer, chemischer oder physikalischer Natur: „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen ( — sein Wille zur Macht:) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangiren (.vereinigen'), welche ihm verwandt genug sind: — so conspiriren sie dann zusammen %ur Macht. Und der Prozeß geht weiter ..," 7 8 Die psychoanalytische Triebtheorie als Maßstab unterlegt, lassen sich hinsichtlich des Willens zur Macht als der Grundkategorie der menschlichen Wirklichkeit (Trieblehre im populären Sinn) einige Gesichtspunkte festhalten. So werden die Begriffe Trieb und Instinkt zwar im gesamten Opus mehr oder weniger unterschiedslos verwendet (Instinkt der Tiere, Instinkt der Freiheit usw.), aber diverse Themenstellungen verweisen doch auf eine inhaltliche Differenzierung (die bereits vor der Willensphilosophie einsetzt). Mit Darwin wird der Mensch zwar ein für alle Mal in den Rang des Tieres rückverwiesen, und als Gattung stellt er nach Nietzsche, durchaus im Gegensatz zu den Darwinschen Implikationen, keinen „Fortschritt" dar.79 Als sprachliches („interpretierendes") und soziales Tier ist er aber auch als höchst sublimierungsfahiges Wesen gedacht, das aufgrund der Flexibilität seiner Begierden und dem Erfindungsreichtum im „Ersinnen des Unmöglichen" die „thierische Schranke einer Brunstzeit übersprungen" 80 habe. Vor allem aber sei er jenes Wesen, und hier spricht unverkennbar der späte Nietzsche, das sich über seine bloße Selbsterhaltung hinaus und jenseits der bisherigen Daseinslegitimationen zu überwinden habe, weil sein originärer
77
78 79 80
ausgeschlossen wird", andererseits aber nicht nur eine Begrenzung der Gesamtsumme der Kraft, sondern auch „der möglichen Zahl von Kraftlagen" unterstellt (vgl. ebd., S. 258). Vgl. Bauer, M., Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, a. a. O., S. 218; vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 218 f. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [186], KSA 13, S. 373 f. Vgl. oben S. 388. Nachlaß Ende 1876-Sommer 1877, 23 [81], KSA 8, S. 432.
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Macht- und Steigerungswille mit dem Tod Gottes erstmals evident werde. 81 Überwindung setzt mithin voraus, daß der Mensch seine tierische Existenz immer schon historisch definiert hat und daher auch neu zu definieren vermag. In der Tat bezeichnet Nietzsche den Menschen als das „noch nicht festgestellte Thier", und in dieser Eigenschaft habe er auch den Sieg über die tierische Natur errungen (freilich um den Preis, daß er lange genug durch den Glauben an das asketische Ideal „kränker [...] als irgend ein Thier sonst" gewesen sei). 82 Freud hat im weiteren den konstant drängenden Trieb (bzw. inneren Reiz) vom spontan wirkenden äußeren Reiz, dem man sich durch Flucht entziehen kann, abgegrenzt und die Aussichtslosigkeit der Flucht vor der inneren Realität betont. Diese für die Psychoanalyse schlechterdings konstitutive Unterscheidung — sie ermöglicht etwa die Definition der Neurose als eines gescheiterten Fluchtversuchs — steht in Nietzsches Werk, soweit zu sehen, nicht explizit zur Diskussion. Symptomatisch ist freilich die divergierende Annäherung an das Thema „äußerer Reiz". Während Freud den Reizschutz bzw. die Reizabwehr funktionell für „beinahe wichtiger" 83 hält als die Reizaufnahme, kehrt sich diese reaktive (oder je nachdem: realistische 84 ) Perspektive zu einer aktiven bei Nietzsche um, da er den Schwerpunkt entschieden auf die Aneignung der Reize von innen her verlagert. Demzufolge sind die äußeren Reize Kräfte, die dazu tendieren, den Organismus zu überfluten. Ihnen stehen Kräfte gegenüber, Triebe, deren Aufgabe darin liegt, den Kampf untereinander in einer Weise zu organisieren, daß die Reizbewältigung gelingt: „Der Trieb befriedigt sich\\ d. h. er ist thätig, indem er sich der Reize bemächtigt und sie umbildet. Um sich ihrer zu bemächtigen, muß er kämpfen: d. h. einen anderen Trieb zurückhalten, dämpfen." 85 Gerade in der Auseinandersetzung mit der Entwicklungsmechanik von W Roux wird deutlich, daß die Kraftwirkungen der äußeren Reize im eigentlichen als Anreise86 für eine innere Spontaneität bzw. Selbsttätigkeit interpretiert werden, dieser Gegenkräfte Herr zu werden und damit der äußeren Realität den Stempel aufzudrücken. Nietzsches Gewohnheit, physiologische Einsichten auf philosophische und insbesondere moralische umzulegen (zu erinnern ist an die Erweiterung der Degenereszenztheorie von Ch. Féré 87 ), schlägt sich in der Kritik des „Ressentiments" nieder, bei dem ein grundsätzliches Nichtwahrhabenwollen bzw. -können dieser inneren, bejahenden Spontaneität geradezu den Wesenszug bilde: „Immer zu81 82 83 84
85 86
87
Vgl. oben S. 506 f. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 366 f.; Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [428], KSA 11, S. 125. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 237; vgl. auch oben S. 371 f. Vgl. in diesem Zusammenhang Freuds Analyse der Phänomene Trauma, Schock und Schmerz in Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 237 - 241. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [263], KSA 10, S. 322. Vgl. detaillierter Müller-Lauter, W., Der Organismus als innerer Kampf, a. a. OL, S. 204 f. und 214 f. Vgl. oben S. 4 2 9 - 4 3 2 .
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erst" habe die Ressentiment-Moral nämlich eine „Gegen- und Aussenwelt" nötig, „sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, — ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion." 88 Zuletzt einige prinzipielle Überlegungen Nietzsches zu den von Freud erstellten Definitionen über „Drang, Quelle, Objekt, Ziel" der Triebe. Bezüglich des Dranges ist zunächst ein Einwand Freuds gegenüber A. Adler von Interesse: „Es scheint mir, daß Adler einen allgemeinen und unerläßlichen Charakter aller Triebe, eben das .Triebhafte', Drängende in ihnen [...] zu einem besonderen Triebe mit Unrecht hypostasiert habe." Man darf hier davon absehen, daß Freud sich dabei auf den Aggressionstrieb Adlers bezieht, den er später ja selbst „statuieren" mußte. 89 Es ist der Grundeinwand, der mit Blick auf Nietzsche Aufmerksamkeit erregt und zur Frage führt, ob nicht auch er eine allgemeine Eigenschaft der Triebe auf einen einzigen Trieb eingeengt hat. Tatsächlich stößt man verschiedentlich auf Aussagen wie: „Daß der schaffe, das ist aller Triebe Treiben" 90 . Oder: „Befriedigung des Triebes ist nicht im Resultat der Thätigkeit, sondern im Thun zu suchen." 91 Diese Erwägung greift frühere Gedanken auf, die sich allesamt gegen die Teleologisierung der Triebe wenden, beispielsweise: „Unsere Handlungen sind Versuche, ob dieser oder jener Trieb daran seine Freude habe, bis in's Verwickeltste hinein, spielende Äußerungen des Dranges nach Thätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke mißdeuten und falsch verstehen." 92 Nietzsche vertritt einige Zeit die These, nur die Lust sei eine Art zweckfreier Zustand, sodaß die allgemeine Tätigkeit des Triebes mit Lust zusammenfalle. Diese Ansicht erfahrt eine Revision, und in unmittelbarem Zusammenhang mit obiger Passage von 1883 (und der Auseinandersetzung mit J. J. Baumanns „Handbuch der Moral") deutet sich die Wende der Theoriebildung in Richtung einer spezifischen Kraftorientierung bereits an: „Der Trieb selber ist aber nichts Anderes als ein bestimmtes Thätig sein"93. „Alle Thätigkeit", das ist die schließliche Konsequenz der Argumentation, „ist gegen etwas gerichtet" 94 und setzt ihrerseits Kräfte voraus, die sich dem Überwältigtwerden zu widersetzen suchen. Mit einem Wort, „die" Tätigkeit oder das „allgemeine" Treiben gibt es nur als Abstraktion, da der Drang der Willen immer schon different gestaltet und also in konkrete Gegenbezüge verstrickt ist. Die Frage nach der Túebquelle wird von Nietzsche nicht in einer mit Freud vergleichbaren Form aufgegriffen. Erkennbar ist die Trieblehre im wesentlichen 88 89
90 91 92 93 94
Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 271. Vgl. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, STA 8, S. 117 und Anmerkung 2, Zusatz von 1923. Nachlaß Herbst 1883, 17 [10], KSA 10, S. 536. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [260], KSA 10, S. 321. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [16], KSA 9, S. 447. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [260], KSA 10, S. 322. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [275], KSA 11, S. 222.
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organisch, nicht aber organizistisch fundiert. Freilich obliegt es Freud, faktische Nachweise für die von Nietzsche behauptete Spezifität der trieblichen Aktivitäten zu liefern, indem er die somatischen Orte der sexuellen Partialtriebe (erogene Zonen) en détail lokalisiert. Hinsichtlich der Objekte des Willens zur Macht läßt sich jedoch der bemerkenswerte, dem Ansatz nach verwandte Aspekt hervorkehren, daß die Triebkräfte nicht allein in einer potentiell unbegrenzten Welt äußerer Objekte, sondern ebenso in einer „inneren Welt" ihr Ziel zu erreichen vermögen. Wie Freud später auf seine Weise, entdeckt Nietzsche, daß gerade das scheinbar souveräne Ich zum Objekt und „Werkzeug" des Leibes wird. 95 Die Antwort auf die heikle und nach der Preisgabe der „hedonistischen" Periode ausführlich diskutierte Frage nach dem Trieb%iel kann mit Nietzsche in aller Kürze etwa so formuliert werden: Ziel der Triebe ist nicht, wie Freud annimmt, die Herabsetzung bzw. Aufhebung einer Reizspannung, also nicht die Lust — und noch weniger der Tod. Lust und Unlust sind nach Nietzsche nur „bloße Folge, bloße Begleiterscheinung, — was der Mensch will, was jeder kleinste Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein plus von Macht." In diesem Streben suche er gerade immer neue Spannungen auf für das entscheidende „Spiel von Widerstand und Sieg": „[...] jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus." 96 Alle „,Zwecke', ,Ziele', ,Sinne' " seien so gesehen „nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen" des Willens zur Macht, Indizien dafür, „daß Zwecke, Ziele, Absichten haben, wollen überhaupt soviel ist wie Stärker-werden-wollen, wachsen wollen, und da%u auch die Mittel wollen" 97 . 3.2. Die Dynamik des Machtwillens Der Singular „der" Wille zur Macht dient erwähntermaßen auch zur Abgrenzung von spezifischen Machtkörpern. Um nach außen hin als homogenes Ganzes zu wirken, müssen die Teile eines Organismus demnach aufeinander abgestimmt sein: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit" 98 . Uberall, wo Nietzsche „Leben" findet, entdeckt er „schon dies Zusammenspielen" 99 , und durch eine „Synthesis" gegensätzlicher Triebe habe der Mensch schließlich erreicht, daß er „Herr der Erde" 100 geworden sei. Andererseits liege 95
96 97 98 99 100
Vgl. etwa Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [94], KSA 10, S. 274; Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24 [16], KSA 10, S. 653 ff.; Nachlaß Juni-Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 576 ff.; vgl. oben S. 551 und 5 6 3 - 5 6 6 . Vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [174,175], KSA 13, S. 358 ff. Nachlaß November-März 1888, 11 [96], KSA 13, S. 44. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [8η, KSA 12, S. 104. Nachlaß Sommer 1883, 12 [3η, KSA 10, S. 407. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27 [59], KSA 11, S. 289.
3. Nietzsches Konzept des Willens zur Macht
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alles daran, die Einheit der Organisation nicht metaphysisch zu überhöhen: „[...] es genügt, sie als eine Regentschaft zu fassen."101 Einheit oder auch Einfachheit gebe es in Wirklichkeit nicht für sich, weder im Sinne des Schopenhauerschen Willens noch einer anderen philosophischen oder theologischen Wurzel. Was man als Einheit zu bezeichnen pflege, sei vielmehr nur im Hinblick auf das Zusammen- und Widerspiel mannigfaltiger, konkreter Kräfte bzw. Quanten von Belang. Da die Kräftekonstellationen „sich unablässig mehren oder mindern, so kann nur von sich fortlaufend ändernden Einheiten gesprochen werden, nicht aber von der Einheit. Einheit ist immer nur Organisation unter der kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen"102, ein „Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist."103 Hinter dieser Unterscheidung steckt eine bekannt sprachkritische Intention Nietzsches: Weil namentlich die Metaphysik, aber auch die moderne Physik nicht imstande gewesen seien, die „verführerische" Funktion der Grammatik zu hinterfragen, durften unbedenklich fiktive Einheiten (Wille, Subjekt, Substanz, Atom usw.) als real gesetzt und anthropomorph verbrämt werden.104 Statt alles begriffliche und logische Faßbarmachen eines prozessualen Geschehens als „bloße Semiotik"105 zu Zwecken der Kommunikation und der Berechnung aufzufassen, habe man arglos eine „gröbere Welt von Bleibend"106 unterstellt, habe man, systemtheoretisch gesagt, die notwendige Reduktion von Komplexität mit letzten Gewißheiten verwechselt und die différentielle, dynamische Betrachtung zugunsten der statischen eliminiert. Außer Frage steht, daß Nietzsches Triebtheorie, wie jene Freuds, sich wesentlich als eine dynamische versteht und — schon vor der Explikation der Machdehre - allen Nachdruck sowohl auf das „Spiel und Widerspiel" 107der Triebkräfte als auch auf den Konflikt der Triebe mit dem Intellekt und den zwischen unvereinbaren Vorstellungen legt: Durch jeden Trieb werde auch sein „Gegentrieb erregt", sodaß von „fortwährender Rivalität und Einzelbündnissen unter einander" gesprochen werden dürfe; der Intellekt werde durch den „Kampf der verschiedenen Triebe" niemals „frei", vielmehr sei er „Werkzeug" derselben, und wahrscheinlich sei auch, daß unter den wahrgenommenen Motiven „ein Kampf Statt findet, ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen"108. Mit der Entfaltung der Willenskonzeption 101 102 103 104 105 106 107 108
Nachlaß August-September 1885, 40 [38], KSA 11, S. 647 (H. d. V.). Müller-Lauter, W., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 246. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [8η, KSA 12, S. 104. Vgl. oben S. 2 4 7 - 2 5 1 . Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [79], KSA 13, S. 258. Nachlaß November-März 1888, 11 [73], KSA 13, S. 36. Moigenröthe, KSA 3, S. 111. Nach der Reihenfolge der Zitierung vgl. Nachlaß Herbst 1880, 6 [63], KSA 9, S. 210; Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [94], KSA 10, S. 274; Nachlaß Herbst 1880, 6 [130], KSA 9, S. 229; Morgenröthe, KSA 3, S. 119.
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verlagern sich die inhaltlichen Schwerpunkte dann zunehmend in Richtung Organisation der Kräfte sowie Befehlen und Gehorchen. Gerade am „Leitfaden des Leibes" erkenne man den Menschen als eine „Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfen, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen. Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind" 109 . Auch sogenannten Grundtrieben könne daher keine Qualität oder Einheitlichkeit an sich zukommen: Von jedem unserer Grundtriebe aus giebt es eine verschiedne perspektivische Abschätzung alles Geschehens und Erlebens. Jeder dieser Triebe fühlt sich in Hinsicht auf jeden anderen gehemmt, oder gefördert [...] — und dieser ist absterbend, wenn jener steigt. Der Mensch als eine Vielheit von „ Willen Macht": jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen. Die einzelnen angeblichen „Leidenschaften" (ζ. B. der Mensch ist grausam) sind nur fiktive Einheiten, insofern das, was von den verschiedenen Grundtrieben her als gleichartig ins Bewußtsein tritt, synthetisch zu einem „Wesen" oder „Vermögen", zu einer Leidenschaft zusammengedichtet wird. 110
Freud hat die Thematik „Einheit und Vielheit" im Rahmen seiner Triebtheorie ebenfalls aufgegriffen und in den „Drei Abhandlungen" dahingehend formuliert, daß eine Palette relativ selbständiger sexueller Partialtriebe sich entwicklungsgeschichtlich immer stärker um das Primat der Genitalzonen schart, womit die Vielheit sich im Normalfall in den Dienst der Einheit der Sexualorganisation stellt bzw. gegenüber dieser zurücktritt. Diese Auffassung behält zeitlebens Gültigkeit, nur daß sie durch den späten Dualismus ergänzt und vertieft wird. Nunmehr ist es der weit gefaßte Eros, der wie gesagt nach immer größeren Einheiten drängt, während die Todestriebe diese Einheiten gerade zerstören wollen. Ein Unterschied zu Nietzsches Trieblehre wird damit manifest: Während Freud mit diametralen Qualitäten des Trieblebens rechnet, gibt es innerhalb der Qualität Wille zur Macht ausschließlich Differenzierungen von Kräften nach dem Gesichtspunkt von Herrschen oder Unterliegen, von Vereinheitlichen oder Zerfallen, von Aggregation oder Disgregation. In der Vielfalt der Willen zur Macht entscheidet allein die „Perspektive" über die Funktionalität des Organismus: Einmal sind es Kräfte, die in einer „Regentschaft" den Organismus zusammenhalten und als Einheit nach außen vertreten, dann wiederum solche, die sich im Kampf untereinander aufreiben und denselben in Gefahr bringen. Letztlich ist es eine Frage von Aktivität oder Reaktivität (und nicht, wie noch zu sehen ist, von
109
110
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27 [27], KSA 11, S. 282; vgl. Nachlaß April-Juni 1885, 34 [123], KSA 11, S. 461 f. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1 [58], KSA 12, S. 25.
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„Anpassung"), in welchem Maße sich die Kräfte für oder wider das Leben organisieren.111 Aus der Warte Freuds stellt sich das Problem, ob damit nicht jener Eros außerhalb des Blickfelds gerät, der die immanente Destruktionstendenz prinzipiell zu schwächen trachtet, indem er diese sowohl im Inneren bindet als auch nach außen ableitet, darüber hinaus aber selbst Vereinigungen mit anderen Lebewesen eingeht und so seine „Macht" erweitert.112 Umgekehrt ist Nietzsche wiederum die Vorstellung fremd, daß eine Triebqualität im tiefsten Grunde, d. h. aus einem naturhaften „An sich" heraus gegen den Organismus arbeiten und den Weg zum Tode suchen sollte.
3.3. Der quantitative Aspekt Freud hat seine Hoffnungen verschiedentlich auf einen noch zu ergründenden „Chemismus" der Libido gesetzt, über den sich die sexuellen Erregungen quantifizieren und von „anderer" Energie sondern ließen.113 In einem weiteren Sinn teilt Nietzsche diesen Optimismus vor allem um die Zeit von „Menschliches, Allzumenschliches": „Uberhaupt ist das Wort Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an Organismen noch nicht auf ihre chemischen und mechanischen Gesetze zurückgeführt sind."114 Was wir auf der Höhe der derzeitigen Wissenschaften benötigten, sei „eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen [...]: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niederen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind?" Diese Möglichkeit solle sich namentlich die „metaphysische Philosophie" vor Augen halten, die in ihrem bloßen Gegensatzdenken „die Entstehung des Einen aus dem Anderen", des Höheren aus dem Niederen geleugnet und daher statt gradueller Abstufungen Wunder-Ursprünge imaginiert habe.115 Die Stoßrichtung der weiteren Argumentation ist damit vorprogrammiert: Die Naturwissenschaften dienen wesentlich zur Kritik an den insbesondere moralischen und teleologischen Versteinerungen der traditionellen Philosophie. Nicht daß sich Freuds immenses, schon früh ausgeprägtes Unbehagen gegenüber der Philosophie einer solchen Maxime verschlossen hätte, aber die Erforschung des Sexualchemismus ist doch von vornherein mit einer spezifischen 111 112 113
114 115
Vgl. Deleuze, G., Nietzsche und die Philosophie, a. a. O., S. 45 ff. Vgl. Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 347 f. Vgl. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 119 ff.; Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen, STA 5, S. 156; .Selbstdarstellung', G W 14, S. 51. Nachlaß Ende 1876-Sommer 1877, 23 [9], KSA 8, S. 406. Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 23f.; vgl. oben S. 408 - 410.
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Erwartung verknüpft: nämlich Aufschlüsse über die Ursachen konkreter Sexualstörungen zu liefern, etwa darüber, inwieweit sich die heterogenen Krankheitssymptome von Neurasthenie und Angstneurose als toxische Folgen unterschiedlicher chemischer Erregungen nachweisen lassen. 116 Die divergente Grundorientierung bleibt bis ins jeweilige Spätwerk erhalten: Während Freud naturwissenschaftliche Prämissen auf sein energetisches Modell der Seele überträgt und für die ökonomische Erhellung bestimmter psychologischer und psychopathologischer Phänomene wie Zwangsneurosen, Hysterien und Phobien nutzt, integriert Nietzsche das begriffliche Inventar der Naturwissenschaften in sein Machtprojekt, um es gegen die Irrtümer der Philosophie einzusetzen. Stärker noch als in der Psychoanalyse fließen dabei dynamische und quantitative Aspekte unmittelbar ineinander über. Es versteht sich in diesem Zusammenhang, daß eine an sich indifferente Energie, wie sie für Freud jedenfalls denkbar ist, nicht zur Debatte steht. Nietzsche hat nichts dagegen, der Beziehung quantitativ meß- und vergleichbarer Kräfte auch qualitativen Charakter zuzusprechen, sofern Qualität richtig definiert werde, d. h. als Differenz der Quantitäten selbst: „Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reduzirbar sind." 117 Die Differenz der Kräfte ist es demnach, die einen Körper strukturiert und dem Willen zur Macht qualitative „Einheit" verleiht. In Rechnung freilich gestellt, daß „Qualität" selbst nur ein perspektivischer Begriff ist, ein Wert des Menschen, mit dem er scheinbare Wahrheiten in die Dinge hineinlegt, bleiben nach Abzug dieses Anthropomorphismus keine „Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem .Wirken' auf dieselben". Die Wirkung der Quanten aufeinander ist nach Nietzsche keinesfalls beliebiger oder gleichgültiger Art: „Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht — darum handelt sich bei allem Geschehen [...] Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie" 118 . Vergegenwärtigt man sich in diesem Lichte Freuds Modell verschiedener „Energiefüllungen" — das freie Abströmen der Erregungsquantitäten im „Primärvorgang" und ihre Hemmung zugunsten einer realitätsbezogenen Besetzung im „Sekundärvorgang" —, so läßt sich sehr generalisierend sagen, daß Nietzsche 116
117 1,8
Freud hat seine frühen Arbeiten über die Aktualneurosen auch nach der Wende zur psychischen Konflikttheorie nicht preisgegeben und gemeint, sie scheinen ihm „im ganzen noch heute richtig zu sein" (vgl. .Selbstdarstellung', GW 14, S. 50 f.). Nachlaß Sommer 1886 - Frühjahr 1887, 6 [14], KSA 12, S. 238. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [79], KSA 13, S. 257 ff.; vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1887, 5 [36], KSA 12, S. 197.
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eine vergleichbare Differenz in den Kraftbegriff verlagert; allerdings nicht im Hinblick auf die notwendige „Ablösung" des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip (wie es Freud dann einprägsamer formuliert119), sondern hinsichtlich eines „Mehr" an Macht. Jedes „Quantum gesteigerter und organisierter Macht"™ setzt aber per se Gegenkräfte voraus, die überwunden worden sind, sich diesem Ablauf gleichwohl widersetzt bzw. ihn „gehemmt" haben. Es ist daher kein Zufall, daß bei der noch anzusprechenden Relation Lust-Unlust (das auch bei Freud den Ausgangspunkt der Erörterungen bildet) immer wieder der Mechanismus der Hemmung121 in den Vordergrund tritt. Wenn Nietzsche nun den „siegreiche [n] Begriff .Kraft' " und das „gute Gewissen" 122 der mechanischen Weltauslegung beschwört, wenn er Leben als dauernden „Proagß àct Kraftfeststellungen " 1 2 3 und „alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen"124 behauptet, dann ist wie gesagt die Moralisierung und Teleologisierung des Geschehens im besonderen ins Visier genommen. Am Beispiel der Moral: „Alle Moral ist eigentlich nur eine Verfeinerung der Maaßregeln, welche alles Organische nimmt, um [...] Macht gewinnen. [...] Auch die feinsten Bewußtseins-Veränderungen müssen erst mechanisch möglich sein, ehe sie eintreten können. Somit ist auch die Willensäußerung abhängig von der mechanischen Vorbedingung."125 Aus dem Kraftbegriff folgen Konsequenzen für die Philosophie: etwa, daß es (v. a. gegenüber Schopenhauer) „keinen Willen [giebt]: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren"126. Oder, daß das „Ich" nur eine Einheit imaginiere, während es eine „Mehrheit von personenartigen Kräften" bilde: „Das Subjekt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe, wie Nähe und Ferne und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Quandtätsgraden ist." 127 3.4. Wille zur Macht und Interpretation Angesichts des Kreuz- und Querdenkens von Nietzsche ist immer in Rechnung zu stellen, welchem Autor oder begrifflichen System die Kritik gilt. Gegenüber den Spielarten der Fundamentalphilosophie insistiert er, daß alle Enitäten 119 120 121 122 123 124 125 126 127
Vgl. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 18 ff. Nachlaß November 1887-März 1888, 11 [83], KSA 13, S. 39 f. Vgl. etwa Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [77], KSA 10, S. 268; Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [275], KSA 11, S. 222; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [173], KSA 13, S. 358. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [31], KSA 11, S. 563; Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [34], KSA 11, S. 564. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [22], KSA 11, S. 560. Nachlaß Herbst 1887, 9 [51], KSA 12, S. 385. Nachlaß Sommer 1883, 12 [29], KSA 10, S. 405. Nachlaß November-März 1888, 11 [73], KSA 13, S. 36. Nachlaß Herbst 1880, 6 [70], KSA 9, S. 211 f. (H. d. V.).
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— sei es ein Sein oder „An sich" der Dinge, sei es „der" Wille, „die" Tätigkeit usw. — nichts als anthropomorphe Erdichtungen bedeuten, die letztlich im Glauben an ein ursächliches Ich, an ein Ich als „Täter" ihre gemeinsame Wurzel haben. 128 In dieser Hinsicht konnte das mechanische Weltbild in Dienst genommen und auf reinen Quantitäten und dem Wirken der Elemente aufeinander, mit einem Wort: auf der irreduziblen Vielheit von Kraftverhältnissen bestanden werden. Gleichwohl hat der Mechanismus (wie schon aus den bisherigen Passagen durchgeklungen ist) nicht das entscheidende Wort, im Gegenteil. Nietzsche wechselt schließlich die Perspektive in Richtung eigener Philosophie bzw. einer, wie man festhalten durfte, „esoterischen" Betrachtung, welche die Situation jetzt „von Oben herab" beurteilt. 129 Zwar sei die Mechanik und mit ihr der Begriff Kraft in der Tat „siegreich" geblieben, aber alle sogenannten physikalischen und chemischen „Gesetze" könnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier (wie bei der philosophischen Begriffsbildung) nur um anthropomorphe Zeichenrede handle, um eine „Schematisir- und Abkürzungskunst, eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks — kein .Verstehen', sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung." Im Grunde sei die „wissenschaftliche Genauigkeit" sogar bei den „oberflächlichsten Erscheinungen" stehen geblieben, dort also, wo „gezählt, gerechnet, getastet, gesehn werden kann, wo Quantitäten contstatirt werden können. Also die armseligsten Bereiche des Daseins sind zuerst fruchtbar angebaut worden. Die Forderung, alles müsse mechanisch erklärt werden, ist der Instinkt, als ob die werthvollsten und fundamentalsten Erkenntnisse gerade da am ersten gelungen wären: was eine Naivetät ist." 130 Mehr noch: Weil die Mechanik Beschreibungen mit Erklärungen verwechselt 131 und in ihrer „Tölpelei" die Kausalität ,,verdinglich[t]" habe, indem sie eine Ursache „drücken und stossen läßt, bis sie ,wirkt'" 132 , huldige sie „dem Principe der größtmöglichen Dummheit. Inzwischen giebt sich gerade bei den ausgesuchten Geistern, welche in dieser Bewegung stehen, ein Vorgefühl, eine Beängstigung zu erkennen, wie als ob die Theorie ein Loch habe" 133 . Diese Lücke, daß nämlich Druck und Stoß selbst unerklärlich blieben, glaubt Nietzsche zuletzt schließen zu können: Der siegreiche Begriff „Kraft", mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als „Wille zur Macht", d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischer Trieb usw. [...] Es hilft nichts: man muß alle
128 129 130 131 132 133
Vgl. oben S. 2 4 7 - 2 5 1 . Vgl. oben S. 573 f. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5 [16], KSA 12, S. 190. Vgl. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [76], KSA 12, S. 96. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 35; vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 279 f. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [34], KSA 11, S. 564.
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Bewegungen, alle „Erscheinungen", alle „Gesetze" nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. 134 Den eigenen Anthropomorphismus vergegenwärtigt, bleibe nichts anderes übrig, als die „treibende Kraft", die in der mechanischen Auslegung zugunsten des Gleichungsverhältnisses von Quantitäten verleugnet sei 135 , als innere Willenskraft anzunehmen, als eine, wie es Nietzsche in der Auseinandersetzung mit W Roux formuliert, „ungeheuer gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt" 136 . Allerdings verweist diese Argumentation nur auf den unentrinnbaren Zirkel zurück, daß der Wille seinerseits weder im Sinne einer Schopenhauerschen Einheit noch etwa in der aristotelischen Beziehung von Dynamis, Energeia und Entelecheia gedacht werden kann. Gegenüber Heidegger, der den Willen zur Macht in den Kontext der Metaphysik des Aristoteles rückt, zeigt MüllerLauter überzeugend, daß Nietzsches Begriff nicht die Verwirklichung eines immer schon als Anlage Vorgegebenen und ein schließliches „Zu-sich-selbst-Kommen" meint, noch gar einen „Wesenswillen", wie ihn Heidegger supponiert. 137 Als einziges „quäle "138 sei er eben wirklich und tätig nur in der Vielheit und Differenz von „Willens-Punktationen" selbst. Nietzsche hat in diesem Zusammenhang, freilich nur am Rande, auf die Monadologie von Leibniz verwiesen und angemerkt, „relativ" gesehen dürfe man auch bei ihm von „Monaden" sprechen. 139 Die Verwandtschaft zwischen beiden perspektivischen Lehren ist gelegentlich betont worden, freilich ebenso, daß sie nicht überbewertet werden darf, denn Nietzsches Monaden sind weder „konstant, noch ,fensterlos', noch gar sind sie ,Entelechien' im Sinne des Leibniz " 1 4 0 Wenn Nietzsche im Bewußtsein seiner analogen Rede die mechanische Denkweise einer Revision von „innen her" unterzieht (und damit tendenziell die Tradition des deutschen Idealismus belebt), dann richtet sich der Blick im besonderen auf die organischen Prozesse. Hier werde deutlich, daß der Kausalität gerade nicht das Bild von Druck und Stoß angemessen sei, sondern jenes von Befehlen und Gehorchen bzw. unterschiedlichem Interpretieren, wie schon die primitiven Lebewesen zeigten: „Das ,Höher' und .Niedriger', das Auswählen des Wichtigeren, Nützlicheren, Dringlicheren, besteht schon in den niedrigsten Organismen. ,Lebendig': d. h. schon schätzen — und Wille ist im Organischen
134 135 136 137 138 139 140
Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [31], KSA 11, S. 563 (H. d. V.). Vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [121], KSA 13, S. 300. Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7 [25], KSA 12, S. 304. Vgl. Müller-Lauter, W., Nietzsche, a. a. O., S. 22 ff. und 30 ff. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [15η, KSA 12, S. 142f. Nachlaß November-März 1888, 11 [73], KSA 13, S. 36. Müller-Lauter, W., Nietzsche, a. a. O., S. 32; vgl. Seidmann, P., Die perspektivische Psychologie Nietzsches, a. a. O., S. 414 ff.
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da." 141 Erst recht gelte dies vom menschlichen Leib, über den Nietzsche geradezu ins Schwärmen gerät: [...] man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib möglich geworden ist: wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen und doch wiederum in gewissem Sinne befehlend und aus eignem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann — : und dies geschieht ersichtlich nicht durch das Bewußtsein! Zu diesem „Wunder der Wunder" ist das Bewußtsein eben nur ein „Werkzeug" und nicht mehr [...] Die prachtvolle Zusammenbindung des vielfachsten Lebens, die Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten, der tausendfaltige Gehorsamf,] welcher kein blinder, noch weniger ein mechanischer],] sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam ist — dieses ganze Phänomen „Leib" ist nach intellectuellem Maaße gemessen unserem Bewußtsein, unserem „Geist", unserem bewußten Denken, Fühlen, Wollen so überlegen, wie Algebra dem Einmaleins.142
Dieses Fragment liefert einen komprimierten Kommentar zu den „Verächtern des Leibes" in „Zarathustra" und spricht dabei die Vielheit der Machtwillen in einer organisierten Einheit (die andernorts als „Regentschaft" begriffen ist) ebenso an wie den beständigen Willensprozeß einer nichtmechanischen Vernunft des Leibes, die sich des bewußten Ichs als eines Werkzeuges bedient. In diesem Kontext findet sich eine weitere Überlegung, nämlich daß das „fortwährende [...] Interpretiren" 143 des Willens zur Macht im eigentlichen ein höchst komplexes, leibliches Verfälschen ist, das in Folge, wie diskutiert 144 , auf den vereinfachenden, vereinheitlichenden Intellekt übergreift und den Organismus zu einem großen „Fälschungs-Apparat" macht. Nietzsches Denken, hinter dem ja nicht zuletzt die Abrechnung mit jeglichem Wahrheitsglauben steht, ist dem Selbstverständnis nach also weder auf einen Organizismus noch auf einen Mechanismus zu reduzieren. Bezeichnend etwa die Notation, daß „Alles Organische, das ,urtheilt' " durch Auswahl und Zusammenfügen einzelner Anregungen und Reize wie ein „Künstler" handelt. 145 Ein zusätzlicher Aspekt betrifft den Kampf zwischen den „ungleichwerthigen Intelligenzen" 146 von Leib und Intellekt und das prinzipielle Ubergewicht des ersteren als einer „großen Vernunft". Gelegentlich wird die Beziehung auch als eine von Mittel und Zweck definiert: Der Intellekt fungiere als Mittel, der Leib als eigentlich höherer Zweck 147 (wodurch Nietzsche gegenüber der ansonsten 141 142 143 144 145 146 147
Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [436], KSA 11, S. 127. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 576 f. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [148], KSA 12, S. 139f. Vgl. oben S. 5 6 3 - 5 6 6 . Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [333], KSA 11, S. 97. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 578. Vgl. Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24 [16], KSA 10, S. 653 ff.
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geschmähten Teleologie selbst teleologische Kategorien ins Spiel bringt). Aus einer geschichtsmächtigen Verkehrung von Mittel und Zweck, so lautet das bekannte Argument, habe der Leib seine überragende Funktion indes eingebüßt. Auf diesem Gedanken fußt nicht nur eine „Krankheitslehre" und das Postulat einer „physiotherapeutischen" 148 Umwertung, vielmehr ist in ihm auch impliziert, daß der menschliche Organismus immer schon als ein historischer zu denken ist. 149 Wie in jeder Herr-Knecht-Dialektik seien die Relationen zwischen Gehorchen und Befehlen nicht eindeutig strukturiert, vielmehr folge, daß der Mensch eine Vielheit von Kräften ist, welche in einer Rangordnung stehen, so daß es Befehlende giebt, aber daß auch der Befehlende den Gehorchenden alles schaffen muß, was zu ihrer Erhaltung dient, somit selber durch deren Existenz bedingt ist. [...] die Dienenden müssen, in irgendeinem Sinn, auch Gehorchende sein, und in feineren Fällen muß die Rolle zwischen ihnen vorübergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen. Der Begriff „Individuum" ist falsch. Diese Wesen sind isolirt gar nicht vorhanden: das centrale Schwergewicht ist etwas Wandelbares.150
Diese Einsicht wird ganz generell formuliert, aber sie läßt sich umstandslos auf das Verhältnis Leib-Intellekt umschlagen, da Nietzsche in der Tat mit einem ungeheuren Einfluß intellektueller, letztlich historischer und sozialer Faktoren auf die Triebgestaltung rechnet. Ein kleiner Auszug entsprechender Reflexionen mag dies verdeutlichen. So würden die Triebe durch die „moralischen Urtheile umgestaltet", seien „Nachwirkungen lange gehegter Werthschätyungen ". 1 5 1 In die „Mehrheit von personenartigen Kräften", die wir vereinfachend als „ego" bezeichnen, würden unsere ganzen „socialen Beziehungen" eingetragen, wie sich überhaupt unsere Triebe in „Gesellschafis- und Geschlechtsverbänden" herausgebildet hätten, sodaß sie als „sociale Triebe und Leidenschaften stärker als als individuelle" zur Entfaltung gelangt wären. 152 Der Intellekt sei zwar Werkzeug unserer Triebe, gleichwohl aber wirke er zurück und „verfeinert die Thätigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch." 153 Affektive Zustände und vor allem Lust und Unlust spiegelten eine „Unsumme" von perspektivischen Auslegungen wider, wir „stehen unter dem Gesetze der Vergangenheit[,] d. h. ihrer Annahmen und Werthschät^ungen."154 Affekte seien „Construktionen des Intellekts, eigentlich „eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht giebt. Alle körperlichen Gemeingefiihle, die wir nicht verstehen, werden intellektuell ausgedeutet, d. h. ein Grund gesucht, um sich so 148 149 150 151 152
153 154
Vgl. oben S. 5 5 4 - 5 5 7 . Vgl. oben S. 564 f. Nachlaß April-Juni 1885, 34 [123], KSA 11, S. 461 f. Morgenröthe, KSA 3, S. 45; Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [460], KSA 11, S. 135. Nachlaß Herbst 1880, 6 [70], KSA 9, S. 211 f.; Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [130], KSA 9, S. 487 f. Nachlaß Herbst 1880, 6 [130], KSA 9, S. 229. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [334], KSA 9, S. 572.
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Kapitel 15: Die Trieblehre
oder so zu fühlen, in Personen, Erlebnissen usw.[;] also etwas Nachtheiliges[,] Gefährliches[,] Fremdes wird geset%t[^ als wäre es die Ursache unserer Verstimmung: thatsächlich wird es zu der Verstimmung hin^ugesucht, um der Denkbarkeit unseres Zustandes willen." 155 Da die Ausdeutungen aber ihrerseits einem trieblichen Impetus folgten, gelte grundsätzlich: „Unsere Werthschätzungen bestimmen [J welche Dinge überhaupt wir acceptiren und wie wir sie acceptiren. Diese Werthschätzungen aber sind eingegeben und regulirt von unserem Willen zur Macht." 156 Halten wir einige Gründe thesenartig fest, warum sich Nietzsche über seinen tragenden Gedanken gerade einer Trieblehre im landläufigen Sinn widersetzt: 1) Die Machtwillen eines organischen Gebildes sind höchst different. Indem sie bereits interpretieren — jeder Trieb hat „eine verschiedene perspektivische Abschätzung" —, schaffen sie die Voraussetzung für eine Gesamtverfälschung des Geschehens. 2) Der Intellekt (und mit ihm das wissenschaftliche Bewußtsein) kann nicht umhin, die Verfälschung im Hinblick auf ein mögliches Verständnis überhaupt fortzusetzen. Er hat sich daher auf „Zeichenrede" zu beschränken. 3) Die sozialen und historischen Wertschätzungen wirken ihrerseits auf das Triebgeschehen und alle affektiven Zustände ein, prolongieren also den perspektivischen Prozeß. 4) Daraus folgt, daß alle Theorien, die ein Triebwirken zu einem „An sich" oder Grundvermögen naturalisieren, unbegriffene „Zusammendichtungen" sind, weil sie von der Zeichenrede des Menschen — und damit diesem Willen zur Macht — abstrahieren und darin der verführerischen Funktion von Sprache aufsitzen. Die Psychoanalyse nähert sich den menschlichen Trieben erwähntermaßen von zwei Seiten her. Einmal von einer relativierenden Position, die besagt, der Trieb als solcher könne „nie Objekt des Bewußtseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. [...] Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen." Nach den obigen Ausführungen ist dieser Ansatz zumindest tendenziell mit jenem Nietzsches vergleichbar, sieht man von dem neutral gefaßten Delegationsverhältnis ab, daß der Trieb von Vorstellungen und Affekten repräsentiert werde. Hierin liegt auch der Grund, warum namentlich Freuds zweite Version — der Trieb selbst übernehme die Repräsentation des Somatischen und verwirkliche die ihm auferlegten „Arbeitsanforderungen" — mit Nietzsches Philosophie inkompatibel ist. Die Beziehung somatisch — psychisch wird nämlich von Nietzsche gerade nicht nach dem Modell der Repräsentant sondern dem der Herrschaft gedacht, und die Arbeitsanforderungen sind demnach nicht solche, die im Hinblick auf naturhafte, somatische Vorgaben erst 155 156
Nachlaß Winter 1883, 24 [20], KSA 10, S. 657. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [414], KSA 11, S. 262.
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zu erfüllen wären, sondern sich im Prozeß der Interpretation immer schon realisieren. Nun ließe sich letzteres Argument aus psychoanalytischer Warte etwa dadurch konzedieren, daß Triebe durch die Präferenz fur bestimmte Objekte, an die sie sich bei der Verfolgung ihrer Ziele heften, unbestreitbar ein konkretes „perspektivisches" Schicksal erfahren; oder auch dadurch, daß bei der Uberwindung der ödipalen Triebsituation, d. h. der Identifikation des Kindes mit dem elterlichen „Objekt", eigentlich soziale Werte internalisiert werden. In der Tat durchziehen derartige Gesichtspunkte das Œuvre, nur eben, daß Freud sie nicht dem Triebbegriff selbst dienstbar macht und statt dessen, insbesondere in der ökonomischen Betrachtung, ein szientistisches Vokabular jenseits aller Wertfragen („die" Objektbesetzung, Gegenbesetzung usw.) 157 bevorzugt. Zwar hat auch Nietzsche bei der quantitativen Erörterung der Kraftverhältnisse die Diktion der Naturwissenschaften übernommen, aber gleichzeitig und vor allem bestand er eben auf einer Ergänzung. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß Laplanche und Pontalis eine im weiteren Sinne vergleichbare Ergänzung für die Psychoanalyse ins Auge fassen. Sie geben zu bedenken, daß es sich bei dem, was Freud in einer physikalischen Sprache erläutert, um etwas handelt, das sich [...] als die Welt der „Werte" beschreiben läßt. D. Lagache legt besonderen Wert auf die von der Phänomenologie inspirierte Idee, wonach der Organismus seine Umwelt und sogar die Wahrnehmung der Objekte auf Grund ihrer vitalen Bedeutung strukturiert, indem ein bestimmtes Objekt, ein bestimmtes Feld, eine bestimmte Wahrnehmungsdifferenz in seiner Umgebung bewertet wird [...] So wird das vom Trieb auf der oralen Stufe besetzte Objekt als ein zu Verschlingendes angesehen, als Ernährungswert.158
Halten wir also fest, daß der Freudsche „psychische Apparat" von Nietzsche wesentlich als Wert-,^Apparat" gedacht würde. Darin wäre auch der Grund zu suchen, warum Nietzsche die meta-psychologischen Reflexionen der Psychoanalyse wohl einer Tradition zuordnete, der Freud sich gerade entziehen wollte: jener der Metaphysik. 4. Selbst- und Gattungserhaltung Die Frage, ob nicht Erkenntnisse über die biologische Zweckmäßigkeit der Selbsterhaltungs- und Sexualtriebe für Individuum und Gattung allen psychoanalytischen oder philosophischen Spekulationen eine „natürliche" Grenze setzen, wird von Freud und Nietzsche immer wieder aufgegriffen und, abhängig vom jeweiligen Stand des Denkens, verschiedensten Antworten zugeführt. 157
158
Vgl. etwa Das Ich und das Es, STA 3, S. 297 ff.; Der Untergang des Ödipuskomplexes, STA 5, S. 248. Laplanche, J. / Pontalis, J.-B., Das Vokabular der Psychoanalyse, a. a. O., Band 2, S. 360 (H. d. V.); vgl. auch ebd., Band 1, S. 95 f.
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Kapitel 15: Die Trieblehre
4.1. Psychoanalytische Trieblehre und Biologie Nach dem Selbstverständnis Freuds beansprucht die Psychoanalyse den Status einer eigenständigen Wissenschaft, die zugleich den Konsensus mit den etablierten Wissenschaften sucht. Daher habe er es für notwendig erachtet, „biologische Gesichtspunkte während der psychoanalytischen Arbeit ferne zu halten, und solche auch nicht zu heuristischen Zwecken zu verwenden, damit wir in der unparteiischen Beurteilung der uns vorliegenden psychoanalytischen Tatbestände nicht beirrt werden. Nach vollzogener psychoanalytischer Arbeit müssen wir aber den Anschluß an die Biologie finden und dürfen zufrieden sein, wenn er schon jetzt in dem einen oder anderen wesentlichen Punkte gesichert scheint." 159 Diese doppelte Orientierung wird vor allem bei der Einschätzung der menschlichen Sexualität deutlich. Einmal mußte auf einer gravierenden Erweiterung des Sexualbegriffs insistiert und die bekannte These verfochten werden, „daß der Sexualtrieb des Menschen ursprünglich nicht den Zwecken der Fortpflanzung dient, sondern bestimmte Arten der Lustgewinnung zum Ziele hat." Zum anderen schien evident, daß die gewöhnliche Entwicklung des Sexualtriebes vom Stadium des Autoerotismus über die Objektliebe bis zur erstmals entdeckten Autonomie der erogenen Zonen noch einer letzten Phase harrt, welche eminenten biologischen Interessen Durchbruch verschafft: die der Unterordnung verschiedener Partialtriebe „unter das Primat der in den Dienst der Fortpflanzung gestellten Genitalien." 160 Wie gesagt beschränken sich Freuds Studien vorwiegend auf eine Analyse der Sexualtriebe, während die Selbsterhaltungstriebe lange Zeit eher im Hintergrund mitgedacht sind. Erst ab 1910 wird die populäre Unterscheidung von Hunger und Liebe wie auch der Konflikt zwischen den individuellen Ichtrieben und den unwillkürlich auf Gattungserhaltung zielenden Sexualtrieben ausdrücklich thematisiert und mit biologischen Querverweisen untermauert. 161 Die zwischen 1910 und 1920 „fortschreitende Biologisierung" 162 der psychoanalytischen Konzeption wird in der Mitte des Jahrzehnts kurzfristig, aber nachhaltig irritiert. Noch 1914 räumt Freud das Konventionelle seiner Trieblehre ein, da die Polarität von Ich- und Sexualtrieben „zum wenigsten auf psychologischem Grunde ruht", sondern „wesentlich biologisch gestützt ist", um dann fortzufahren: „Ich werde also auch konsequent genug sein, diese Annahme fallenzulassen, Das Interesse an der Psychoanalyse, G W 8, S. 410; vgl. auch ,Psychoanalyse' und ,Libidotheorie', G W 13, S. 232. 160 j ) j e kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität, STA 9, S. 19. 161 Vgl. Das Interesse an der Psychoanalyse, G W 8, S. 410; Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung, STA 6, S. 209 f.; Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), STA 7, S. 196. 1 6 2 Sulloway, F. J., Freud. Biologe der Seele, a. a. O., S. 542. 159
4. Selbst- und Gattungserhaltung
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wenn sich aus der psychoanalytischen Arbeit selbst eine andere Voraussetzung über die Triebe [...] erheben würde." 163 Durch die Erhellung des Narzißmus sollte sich die Ausgangslage in der Tat verändern, denn die nun keimende Auffassung eines libidinösen Monismus implizierte gegenüber der orthodoxen biologischen Vorstellungswelt, daß sich auch die Ich- bzw. Selbsterhaltungstriebe aus narzißtischen Quellen speisten. Angesichts des problematischen Ausschließlichkeitscharakters der jetzigen Trieblehre bringt Freud in der Folge unter der Bezeichnung „Interesse" die geläufigen Selbsterhaltungstriebe sowie die schon früher betonte „Doppelstellung" des Menschen, der sich selbst wie auch die Gattung zu erhalten sucht, wieder stärker ins Spiel.164 Letztlich aber bleibt der Ansatz unbefriedigend und der nach wie vor in Schwebe gehaltene Monismus macht erst ab 1920 dem endgültigen Dualismus von Eros und Thanatos Platz. Demnach bestehe der Gegensatz zwischen „Selbsterhaltungs- und Arterhaltungstrieb" und derjenige von „Ichliebe und Objektliebe [...] noch innerhalb des Eros" 165 , während der Todestrieb die vereinheitlichende, aufbauende Tendenz des lebenden Organismus gerade zu zerbrechen trachte und ins Anorganische zurückdränge. Im Hinblick auf Nietzsche lassen sich namentlich zwei Aspekte hervorheben. Einmal der eigentümliche, nie ganz ausdiskutierte Gedanke, daß die beiden „verwandten" und von Freud in dieser Affinität sporadisch auch wahrgenommenen 166 Triebe der Selbsterhaltung und des Willens zur Macht in letzter Konsequenz zwei diametralen Triebgruppen angehören sollen: die Selbsterhaltungstriebe, so die These seit „Jenseits des Lustprinzips", eben dem Eros; der Wille zur Macht (Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb) dagegen, nach der Erklärung von „Das ökonomische Problem des Masochismus", jenem ursprünglichen Todestrieb, der durch den Einfluß des Eros dann nach außen umgepolt werde.167 Der zweite Aspekt bezieht sich auf die erstaunliche Unternehmung der Psychoanalyse, die Todestriebe selbst noch biologisch zu rechtfertigen. Freud war sich des spekulativen Zugs seiner späten Trieblehre nur zu bewußt, nicht zufällig
163
Zur Einführung des Narzißmus, STA 3, S. 46.
164
Vgl- 26. Vorlesung, Die Libidotheorie und der Narzißmus, STA 3, S. 399 f.; Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), STA 7, S. 196. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 71. Vgl. etwa 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 529. In .Jenseits des Lustprinzips" vertritt Freud zunächst eine, wie er selbst meint, „extreme" Ansicht, indem er auch die Selbsterhaltungstriebe als „Trabanten des Todes" versteht. Diese Auffassung wird aber noch in derselben Schrift revidiert, und die Uberzeugung, die Selbsterhaltungstriebe gehörten der Triebgruppe des „Eros" an, bleibt fortan konstitutiv (vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 248 und 249, Anmerkung 1; Das Ich und das Es, STA 3, S. 307; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 71). Zum Willen zur Macht vgl. Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 347.
165 166 167
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bezeichnete er sie als „Mythologie" 168 , und nicht zufallig sollten die kleinen Exkurse zu Piatons Geschlechtermythos und der Philosophie des Empedokles zumindest Indizien dafür liefern, daß er mit seiner Idee nicht ganz alleine stand. Gleichwohl durfte hinzugefügt werden, daß eine alte philosophische Vorstellung natürlich nicht das letzte Wort haben konnte: „Unser Interesse gebührt aber jener Lehre des Empedokles, die der psychoanalytischen Triebtheorie so nahe kommt, daß man versucht wird zu behaupten, die beiden wären identisch, bestünde nicht der Unterschied, daß die des Griechen eine kosmische Phantasie ist, während unsere sich mit dem Anspruch auf biologische Geltung bescheidet." 169 In der Auseinandersetzung mit der berühmten Theorie von A. Weismann, derzufolge die einzelligen Lebewesen potentiell unsterblich sind, stößt Freud allerdings auf ein gewichtiges Argument gegen die Annahme von Todestrieben. Wenn der Tod (bzw. die Differenzierung von unsterblichem Keimplasma und sterblichem Soma) tatsächlich erst eine späte Errungenschaft bei Vielzellern ist, wie Weismann Schloß, dann kamen Todestriebe am Beginn des Lebens nicht weiter in Betracht. Diesen Grundeinwand glaubte Freud indes durch Forschungen der experimentellen Biologie selbst entkräften zu können, zeigten sie doch, daß Produkte des eigenen Stoffwechsels niedere Organismen schädigen und den Tod der Generation herbeiführen. Im Gegenzug ging aus Untersuchungen aber auch hervor, daß die Verschmelzung der Organismen (die Vorstufe der geschlechtlichen Fortpflanzung) ebenso „verjüngend" wirkt wie der Ersatz der „Kopulation" durch äußere Reizmittel (etwa durch die Versorgung mit neuer Nährflüssigkeit). Wenn aber bereits die zeitweilige Verschmelzung von zwei Einzellern für beide Teile einen verjüngenden Effekt nach sich zieht und im weiteren unbestritten ist, daß die Vielzelligkeit der Organismen schlechterdings ein Mittel zur Lebensverlängerung darstellt, dann könne man, so folgert Freud, die psychoanalytische Libidotheorie auf das Verhältnis der Zellen zueinander übertragen und sich vorstellen, daß die Lebens- oder Sexualtriebe in jeder Zelle tätig sind, sich andere Zellen zum Objekt nehmen und dadurch die „Todestriebe [...] teilweise neutralisieren" 170 . Freuds biologischer Legitimationsversuch der Todestriebe ist immer wieder zurückgewiesen worden. 171 Nach Sulloway, der den maßgeblichen Einfluß von Darwin, Lamarck, Pauly u. a. für Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse nachweist, ist freilich die Art der Biologie zu berücksichtigen, die diese Kritiker vor Augen gehabt hätten. Gewiß lasse sich die Todestriebhypothese von einer darwinistischen Warte kaum rechtfertigen, denn jeder Organismus mit angeborenem Trieb
168 169 170 171
32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 529. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 385. Vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 2 5 4 - 2 5 9 . Vgl. die entsprechende Literatur in Sulloway, F. J., Freud. Biologe der Seele, a. a. O., S. 557.
4. Selbst- und Gattungserhaltung
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zum Tode wäre „im Existenzkampf ,selektiv' schwer benachteiligt, gerade im Vergleich zu Organismen, die lediglich über einen Lebenstrieb verfugen." Nicht daß Freud prinzipiell undarwinistisch gedacht habe, meint Sulloway, aber Plausibilität gewinne der Todestrieb erst im Rahmen des biogenetischen Grundgesetzes von Haeckel. Denn dieser für Freuds Psycho-Lamarckismus entscheidende Bezugspunkt ermögliche ein Verständnis (für das auch psychologisch bedeutsame) Phänomen der Wiederholung. Insbesondere die Embryologie, so Freud selbst, liefere durch ihre Beweislage eine großartige Antwort auf die Frage, warum die Organbildung nicht auf kürzestem Wege zu ihrer endgültigen Ausgestaltung gelangt: „Wir sehen, der Keim eines lebenden Tieres ist genötigt, in seiner Entwicklung die Strukturen all der Formen, von denen das Tier abstammt — wenn auch in flüchtiger Abkürzung — zu wiederholen." Demnach wäre der Trieb also ein dem „belebten Organischen innewohnender Drang %ur Wiederherstellung eines früheren Zustandes"172; und die letzte gedankliche Zuspitzung würde eben darin bestehen, daß das Leben zu seinem Ausgangsstadium, dem Tod, zurückfindet, um von hier aus die Entwicklung von neuem zu beginnen und unter dem maßgeblichen Einfluß der äußeren Umstände auch zu verändern. Gegenüber dem bereits andernorts erwähnten Unterfangen, den Todestrieb aus der Perspektive des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik bzw. des Entropiesatzes zu diskutieren 173 , bietet der biogenetische Ansatz nach Sulloway den Vorteil, daß er ein historisches Moment in die Trieblehre einführt und Freud ein Gleichgewichtsmodell fur die Prozesse von Involution (Regression) und Evolution (Progression) liefert: Neben die regressiven Strebungen dieses hypothetischen Todestriebes stellte Freud gleichzeitig die konstruktiven Äußerungen des Eros (Lebens- und libidinöser Trieb), jenes alternativen Triebagens, dem er die Fähigkeit des Lebens zuschrieb, sich zu immer größeren Einheiten zusammenzuschließen. Auf dem Wege der Fortpflanzung triumphierte der Lebens- über den Todestrieb, während Freud in der zyklischen Rückkehr des Lebenstriebes zum gleichen Schema der sexuellen Verschmelzung ein Zeichen seiner eigenen „konservativen" Natur sah. 174
In diesem Zusammenhang und auch mit Seitenblick auf Nietzsche wirft sich die Frage auf, inwieweit Freuds Erörterungen im Grunde teleologisch ausgerichtet sind. Eine definitive Antwort fallt aus zwei Gründen schwer: einmal, weil Freud dem Thema aus dem Wege geht und nur an einer Stelle höchst verallgemeinernd anmerkt, in Sachen Biologie lasse sich „kaum vermeiden, sich der teleologischen Denkweise zu bedienen, obwohl man weiß, daß man im einzelnen Falle gegen
172 173 174
Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 246 f. Vgl. oben S. 3 9 5 - 3 9 7 . Sulloway, F.J., Freud. Biologe der Seele, a. a. O., S. 566; vgl. ebd., S. 382 ff. und 5 4 9 - 5 5 9 .
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den Irrtum nicht gesichert ist" 175 ; und dann, weil die Trieblehre seit .Jenseits des Lustprinzips" natürlich eine gravierende Revision der bisherigen Auffassungen bedeutet. Bezüglich des ersten Punktes ist Freuds Einschätzung wohl zuzustimmen, da er immer wieder, zumindest implizit, mit teleologischen Kategorien operiert. Formal nimmt er zwar seine These, die Säuglingsonanie lasse bereits eine „Absicht der Natur" erkennen, weil dadurch das fur die Fortpflanzung entscheidende Genitalprimat bereits vorweggenommen werde, zurück und konzediert gegenüber den bekannten Einwendungen von Reitler, er werde sich fortan hüten, „Absichten der Natur erraten zu wollen" und sich damit begnügen, einen „Sachverhalt zu beschreiben". 176 Im großen und ganzen hegt Freud aber wenig Zweifel, daß die Entwicklung der Sexualorganisation, insbesondere die Subsumption der versprengten Partialtriebe unter die Herrschaft der Genitalien, einer plan- und zweckmäßigen Vorkehrung der Natur entspricht, die Gattung zu erhalten. Zum anderen macht die späte Trieblehre jeden Glauben an einen letztgewissen Trieb zur Gattungserhaltung und erst recht jenen an einen beständigen Fortschritt in der Geschichte 177 von vornherein zu einem Problem, weil das „Endziel" und der eigentliche „Zweck" alles organischen Strebens, wie Freud in bewußter Anknüpfung an Schopenhauer formuliert 178 , eben der Tod sei. Freilich stehe diesem Telos eine zweite, antipodische Kraft gegenüber, sodaß die Theorie des Werdens nur unter einer dualistischen Betrachtung Relevanz erhalte. Aufschlußreich ist nun, daß Freud den Grundkonflikt zwischen Eros und Todestrieb auf die kulturelle Entwicklung überträgt. Da der Ausgang desselben aber zwangsläufig offen bleibe, werde die Frage nach der Gattungserhaltung schlußendlich auch zu einer Frage von Präferenzen und Entscheidungen. Angesichts des Umstandes, daß es die Menschen erstmals in der Hand hätten, einander „bis auf den letzten Mann auszurotten", gewinne die Möglichkeit eines endgültigen Sieges der nach außen gewendeten Todestriebe beklemmende Aktualität. Im Gegenzug sei allerdings „zu erwarten, daß die andere der beiden ,himmlischen Mächte', der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg [...] voraussehen?" 179
175 176 177 178
179
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Anmerkung 1 (Zusatz von 1920), STA 5, S. 91. Vgl. oben S. 415. Vgl. oben S. 3 8 9 - 3 9 2 und 394 f. Vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 248 und 259; Schopenhauer, Α., Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, in: Parerga und Paralipomena 1/1, Band 7, S. 245. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 270.
4. Selbst- und Gattungserhaltung
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4.2. Von der Zweckmäßigkeitsidee der Elementartriebe zur Teleologiekritik Schopenhauers Reflexionen über das „Leben der Gattung" haben offenbar nicht nur Freud zu einer diesbezüglichen Hommage veranlaßt180, sondern auch Nietzsche zum Einleitungsaphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" angeregt. Schopenhauer meint, auch wenn der Mensch alles unternehme, um die Macht der Sexualität „zu bändigen, einzukerkern, wenigstens einzuschränken und wo möglich ganz verdeckt zu halten", so sei der im Dienst der Gattungserhaltung arbeitende Geschlechtstrieb doch — oder gerade deshalb — der „Mittelpunkt alles Thuns und Treibens": „Der Wille zum Leben äußert sich zwar zunächst als Streben zur Erhaltung des Individuums; jedoch ist dies nur die Stufe zum Streben nach Erhaltung der Gattung, welches letztere in dem Grade heftiger seyn muß, als das Leben der Gattung, an Dauer, Ausdehnung und Werth, das des Individuums übertrifft."181 Im Aphorismus „Die Lehrer vom Zwecke des Daseins" setzt Nietzsche den Gedankengang fort. Unter der Prämisse, aller Menschen Tätigkeit ziele eben auf die „Erhaltung der menschlichen Gattung", und zwar nicht aus Liebe zu ihr, sondern weil „dieser Instinct eben das Wesen unserer Art und Heerde ist", liege der Schluß nahe, daß auch die Prediger von höheren Werten und Zwecken, die „Stifter der Moralen und Religionen", diesem Triebe unbewußt erlegen seien. Gerade ein „glänzendes Gefolge von Gründen" könne nicht überdecken, daß sie selbst „das Leben der Gattung [fördern], indem sie den Glauben an das Leben fördern."182 Und ähnlich wie Freud, der mehrfach auf den Antagonismus zwischen Selbsterhaltungs- und Gattungserhaltungstrieben aufmerksam macht, argumentiert Nietzsche, der „Zwiespalt dieser Triebe" sei ebenso „notwendig wie aller Kampf [...] Im Einzelnen sind die Triebe sehr oft unzweckmäßig zusammengewürfelt, dann geht das Individuum daran zu Grunde; im Ganzen ist das Ergebniß die Erhaltung der Gattung."183 Die Unzweideutigkeit des Standpunktes täuscht darüber hinweg, daß Nietzsche die Evidenz jedes trieblichen „Um-zu", sei es nun das der Selbst- oder jenes der Gattungserhaltung, bereits vor bzw. im Umkreis der „Fröhlichen Wissenschaft" durchaus suspekt erscheint. Hintergrund für diese langsam sich anbahnende und immer wieder von Fragen und Zweifeln durchsetzte Gegenauffassung bildet eine generelle Skepsis gegenüber der Naturalisierung und insbesondere Teleologisierung menschlichen Handelns. Könnte der Selbsterhaltungstrieb nicht eine „Mythologie" sein, wissen wir wirklich, warum uns eine Speise schmeckt, was selbst eine „Begierde" ist? Gibt es dieses Streben nach einem 180 181 182 183
Vgl. Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, G W 14, S. 105. Schopenhauer, Α., Die Welt als Wille und Vorstellung II/2, Band 4, S. 601. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 369 ff. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [122], KSA 9, S. 485.
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Kapitel 15: Die Trieblehre
Ziele überhaupt? „Angebliche Zweckmäßigkeit der Natur [...] ,Ich esse, um mich zu sättigen' — aber was weiß ich von dem, was Sättigung ist! In Wahrheit wird die Sättigung erreicht, aber nicht gewollt". Die Theorie der Zwecke beruhe letztlich auf einem dichterischen MißVerständnis: „Wir bewegen unsere Fangarme — und dieser oder jener Trieb findet in dem, was wir fangen, seine Beute und macht uns glauben, wir hätten beabsichtigt, ihn zu befriedigen." 184 Aus dieser teleologiekritischen Position schält sich allmählich der Kerngedanke heraus, die Triebe zur Selbst- und Gattungserhaltung seien selbst nur Folge Wirkungen des gewissermaßen zweckfreien Begehrens nach Lust. Da der Genuß am Essen zur Ernährung ebensowenig ein „nothwendiges Verhältniß" 185 habe wie der geschlechtliche Genuß zur Zeugung, müsse man auch den „unbewußten Zweck"186, wie Nietzsche gegenüber Schopenhauer moniert, aus der Betrachtung eliminieren. Grundsätzlich gelte: Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb — sondern das Angenehme suchen, dem Unangenehmen entgehen erklärt alles, was man jenem Trieb zuschreibt. Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie [...] Die Generation ist eine Sache der Lust: ihre Folge ist die Fortpflanzung [...] Die geschlechtliche Begierde hat nichts mit der Fortpflanzung der Gattung zu thun! Der Genuß der Nahrung hat nichts mit der Erhaltung zu thun! 187
Wiederum verdunkelt die Apodiktik der Thesen den Umstand, daß Nietzsche auch diesen Ansatz zusehends für revisionsbedürftig erachtet. Formal gesehen wird die Stoßrichtung der Argumentation, die kompromißlose Zurückweisung teleologischer Kategorien, zwar beibehalten (wobei auffallt, daß Geschichte und Vieldeutigkeit des Zweckbegriffs in der philosophischen Tradition seit Aristoteles nirgendwo zum Gegenstand einer konzentrierten eigenen Untersuchung werden 188 ). Inhaltlich jedoch weicht die behauptete Universalität des Lustprinzips sukzessive jener des Machtprin^ips. Bereits 1880 notiert Nietzsche, der geschlechtliche Reiz unterhalte im „Aufsteigen [...] eine Spannung, welche sich im Gefühle der Macht entladet: herrschen wollen — ein Zeichen des sinnlichsten Menschen." 189 Lust und Unlust seien nur zu verstehen in der Relation von
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188
,89
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [16], KSA 9, S. 447; vgl. im weiteren Nachlaß Frühjahr 1880, 3 [149], KSA 9, S. 95; Nachlaß Sommer 1880, 5 [5], KSA 9, S. 181£; Nachlaß Ende 1880, 5 [5], KSA 9, S. 362 f. Nachlaß Herbst 1880, 6 [141], KSA 9, S. 232. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [211], KSA 10, S. 308. Nachlaß Herbst 1880, 6 [145], KSA 9, S. 234; vgl. im weiteren Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 541; Nachlaß Ende 1876-Sommer 1877, 23 [12], KSA 8, S. 407 f.; Nachlaß Herbst 1881, 15 [46], KSA 9, S.650. Zur Geschichte des Zweckbegriffs vgl. die instruktive Abhandlung von H. Brockard, Zweck, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 6 Bände, herausgegeben von H. Klings, H. M. Baumgartner und C. Wild, Band 6, München 1974, S. 1817 ff. Nachlaß Herbst 1880, 6 [53], KSA 9, S. 206.
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überströmendem und gehemmtem Machtgefiihl: „Also nicht um des Glücks wegen oder Nutans wegen oder um Unlust abzuwehren handelt der Mensch: sondern eine gewisse Kraftmenge giebt sich aus, ergreift etwas, woran sie sich auslassen kann. Das, was man ,Ziel', ¡Zweck' nennt, ist in Wahrheit das Mittel für diesen unwillkürlichen Explosionsvorgang."190 Oder in einer anderen Version: Alles Wollen von Zwecken, Zielen, Absichten usw., ja Wollen selbst bedeute nichts anderes als „Stärker-werden-wollen, wachsen wollen, und da^u auch die Mittel wollen" 191 . Nietzsche findet schließlich zum bekannten und entscheidenden Satz, es sei „alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille %ur Macht."192 Unter dieser Voraussetzung mußte zwangsläufig eine Neubewertung all jener „hedonistischen" Argumente, die in der mittleren Periode die Letztgewißheit von Gattungs- und Selbsterhaltungstrieben unterminierten, vorgenommen werden. Dabei wiederholt Nietzsche zunächst seine alte Auffassung, daß jede Theorie, die davon ausgehe, es habe das „einzelne Individuum den Vortheil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge", bloßer Schein sei — um dann im Lichte der jetzigen Perspektive zu schließen: „[...] die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung: sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung" 193 . Und was den Selbsterhaltungstrieb betreffe, sollten sich die Physiologen endlich „besinnen", ihn als „kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen — Leben selbst ist Wille zur Macht — : die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. — Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor übelflüssigen teleologischen Principien!" 194 Sobald man nämlich eine Verantwortlichkeit im Dasein imaginiere und diese auf Gott oder die Natur übertrage, wodurch sich die Existenz des Menschen, sein Glück oder Elend als ,¿Absicht" deuten lasse, „verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir haben dann Jemanden, der durch uns und mit uns etwas erreichen will." 195
4.3. Nietzsches Versuch einer Umwertung evolutionstheoretischer Konzepte Zur Erhärtung ihrer Triebtheorien bedienen sich die beiden Autoren mehrfach der Parallele mit dem Protoplasma, d. h. den Aktivitäten einfachster Lebewesen. Freud notiert: 190 191 192 193 194 195
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7 [77], KSA 10, S. 268 f. Nachlaß November-März 1888, 11 [96], KSA 13, S. 44. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 55. Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7 [9], KSA 12, S. 295. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 27 f. Nachlaß Herbst 1887, 9 [91], KSA 12, S. 385 f.
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Sie strecken Fortsätze aus, Pseudopodien genannt, in welche sie ihre Leibessubstanz hinüberfließen lassen. Sie können diese Fortsätze aber auch wieder einziehen und sich zum Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze vergleichen wir nun der Aussendung von Libido auf die Objekte, während die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann, und wir nehmen an, daß unter normalen Verhältnissen Ichlibido ungehindert in Objektlibido umgesetzt [...] werden kann.196
Es darf als symptomatisch gelten, daß Nietzsche eine anders geartete Interpretation vorschlägt. Während Freud mit der Analogie seine — später modifizierte — These illustriert, das Ich sei das „große Reservoir" jener Libido, die sich bald auf ein Objekt, bald eben auf das Ich richte (womit die ichbezogenen Triebe „Hunger" und „Selbsterhaltung" ihren narzißtischen Charakter offenbarten), deutet Nietzsche das Wirken der protoplasmatischen Substanz nicht primär vom Gesichtspunkt der Libido bzw. der Erhaltung her. Lust sei überhaupt nur eine „Begleiterscheinung", strebe doch jedes Wesen im Grunde nach einem „Widerstand", um ihn zu bezwingen. Und weiters: Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, was ihm widersteht — nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: — das was man „Ernährung" nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung [...] jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden[.] Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen: ebenso wenig als die Selbsterhaltung197.
Gerade die Ernährungs- und Teilungsvorgänge des Protoplasmas demonstrierten, daß die Kategorien Mangel und Not weder Leben noch Evolution zureichend definieren können, denn in der Regel nehme das Protoplasma „auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde" 198 . Erst wenn die Einverleibung nicht gelingt, „zerfällt das Gebilde; und die Zmibeit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander" 199 , womit der Prozeß der Überwältigung von neuem anhebt. Diese beständige innere Tendenz des Organischen zu einem Mehr an Aneignung verweist zurück auf Nietzsches Kritik am Darwinismus und indirekt auch zu einer an Freud, der erwähntermaßen 200
196
197 198 199
200
26. Vorlesung, Die Libidotheorie und der Narzißmus, STA 1, S. 402; vgl. im weiteren Zur Einführung des Narzißmus, STA 3, S. 43; Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, G W 12, S. 6; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 72 f. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [174], KSA 13, S. 360 f. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [121], KSA 13, S. 57. Nachlaß Herbst 1887, 9 [151], KSA 12, S. 424; vgl. auch Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [274], KSA 11, S. 221 f.; Nachlaß Herbst 1885 - Frühjahr 1886, 1 [118], KSA 12, S. 38; Nachlaß Herbst 1887, 9 [145], KSA 12, S. 420. Vgl. oben S. 3 9 8 - 4 0 1 .
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die äußere Not zum „Hauptmotor" der Entwicklung erklärt und über dieses Axiom, jedenfalls nach den Richtlinien Nietzsches, zu einem reaktiven Weltbild gelangt. Gegenüber Darwin argumentiert Nietzsche bekanntlich, in der Natur herrsche eben nicht „die Notlage, sondern der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Unsinnige." Insofern sei der Hunger eine „Folge der Unterernährung", d. h. „Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur Macht" 201 und der vielziderte „Kampf ums Dasein" daher nur die Ausnahme, eine „zeitweilige Restriktion" jenes Lebenswillens, der nach Ubergewicht und Wachstum dränge.202 Eine tiefere Begründung der Opposition zu Darwin, insbesondere zu dessen Überbewertung der äußeren Umstände, glaubt Nietzsche in der Entwicklungsmechanik von W Roux (mit der auch Freud vertraut ist 203 ) vorzufinden. Roux versteht sein kausal-mechanisches Modell als Ergänzung zu den Lehren von Wallace und Darwin, da das Prinzip der natürlichen Zuchtauswahl zur Erklärung der „feineren inneren Zweckmäßigkeiten der thierischen Organismen" unzureichend sei. Uber den internen Kampf um Nahrung und vor allem Raum organisieren sich demnach die Gewebe, Zellen und Organe in komplexen Selbstdifferenzierungs- und Selbstregulationsprozessen zu relativ dauerhaften und funktionalen Teileinheiten, die in ihrem Für-sich-Leben dennoch die Dauerhaftigkeit des Ganzen sichern und dergestalt eine „Vor-Auslese" für den Kampf ums Dasein treffen. Die Beziehung der beiden „Kampfesarten" habe man sich so vorzustellen, daß aus den „vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen lebenskräftigen und am stärksten reagierenden [...] Processen der Kampf der Individuen um das Dasein überall diejenigen speciellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen geeignet sind." 204 Bei Nietzsche tritt nun der zweite Kampf zugunsten des Primats des inneren Kampfes ganz in den Hintergrund, da er Roux' Werk „Der Kampf der Theile im Organismus" offenbar nicht als Ergänzung, sondern als bloßen Gegensatz zu Darwin interpretiert. Ungeachtet dessen scheint ihm freilich die Theorie des inneren Kampfes bei Roux insofern selbst kritikbedürftig, als das aus dem Kampf der Teile herauswachsende Prinzip der Selbstregulation zum einen strikt mechanisch gefaßt sei, zum anderen aber noch unhinterfragte Teleologismen enthalte (was Roux bestreitet). Diese beiden Schwachstellen glaubt Nietzsche durch das Konzept des Willens zur Macht beheben zu können. Eine teleologische Letztbegründung wird dem Selbstverständnis nach vermieden, indem Kampf und Zusammenwirken der einzelnen Lebewesen im Organismus auf das Verhältnis von Befehlen 201 202 203 204
Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [174], KSA 13, S. 361. Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 585 f. Vgl. Sulloway, F. J., Freud. Biologe der Seele, a. a. O., S. 362. Zitiert in: Müller-Lauter, W., Der Organismus als innerer Kampf, a. a. O., S. 200 und 203; zu den folgenden Ausführungen sowie zur Beziehung Nietzsche—Roux vgl. im Detail ebd., S. 189 ff.
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und Gehorchen, genauer: auf eine „Regentschaft" und ursprüngliche Spontaneität der „neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte" zurückgeführt werden. Da gegenüber dieser ,,herrschaftliche[n] Rolle der höchsten Funktionäre" die inneren Anpassungsprozesse nur Aktivitäten „zweiten Ranges" bildeten, könne auch Roux' Prinzip der Selbstregulation und Selbsterhaltung nur die Rolle einer Sekundärfunktion zugesprochen werden. 205 Der Mechanismus wiederum, so der bekannte Gedanke, sei trotz des „siegreichen" Begriffes der Kraft außerstande, Geschehniszusammenhänge mit einer Erklärung zu versehen, weil eben von der treibenden inneren Willenskraft abstrahiert werde. Müller-Lauter unterstreicht die Bedeutung des Einwands, wenn er konstatiert, daß Roux gegenüber Darwin zwar den inneren Kampf im Organismus betont; dadurch aber, daß er ihn selbst noch kausal-mechanisch analysiert, „bleibt auch er noch im ,Außen'. Die von innen her tätige Gestaltungskraft und ihre Wirkungsweise bleiben ihm verborgen." 206 In einer Nachlaßaufzeichnung von 1886/87, die auf Roux anspielt und seine Idee doch zugleich neu bewertet, resümiert Nietzsche unter dem Titel „Gegen den Darwinismus": Das Individuum selbst als Kampf der Theile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Theile, an ein Verkümmern, „Organwerden" anderer Theile — der Einfluß der „äußeren Umstände" ist bei D ins Unsinnige überschätzt-, das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die „äußeren Umstände" ausnützt, ausbeutet ...207
Auf diese Argumentation stützt sich im wesentlichen auch Nietzsches Kritik des Utilitarismus, im speziellen der Anpassungslehre H. Spencers. Zunächst aber darf man sich in Kürze vergegenwärtigen, daß bei Freud Kategorien wie „Anpassung" an die bzw. „Übereinstimmung" mit der äußere(n) Wirklichkeit eine erhebliche Rolle spielen. Demnach stehe vor allem das „arme" Ich vor der schwierigen Aufgabe, die Dynamik der inneren Welt — Triebansprüche, Triebkämpfe, Konflikte der psychischen Instanzen überhaupt — mit den bedrohlichen Forderungen von äußerer Realität bzw. Kultur in einer Weise in Einklang zu bringen, daß diese Anpassungs- und Vermittlungsarbeit dem Individuum nicht zu Schaden gereicht und sich mit neurotischen Störungen bezahlt. Natürlich hat Freud im Gegenzug auch den Aktivitäten des Ichs im Hinblick auf die Bewältigung äußerer Reize und der „zweckmässige[n]" Veränderung der Außenwelt Rechnung getragen. 208 Insbesondere seine Vorliebe für den Lamarckismus (dem Nietzsche ebenfalls geneigt zu sein scheint) bzw. das Denken von A. Pauly, wo205
206 207 208
Vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 316; Nachlaß August-September 1885, 40 [38], KSA 11, S. 647. Müller-Lauter, W, Der Organismus als innerer Kampf, a. a. O., S. 219 f. Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7 [25], KSA 12, S. 304. Vgl. etwa Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 68.
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nach vererbte „innere physiologische Bedürfnisse" — und nicht das Prinzip der natürlichen Selektion — für den evolutionären Wandel verantwortlich zeichnen, demonstriert diese Ausrichtung nach „innen" hin. In einem Brief an Abraham faßt Freud sogar ein (dann nicht realisiertes) Projekt ins Auge, ,,L.[amarck] ganz auf unseren Boden zu stellen und zu zeigen, daß sein .Bedürfnis', welches die Organe schafft und umschafft, nichts anderes ist als die Macht der unbewußten Vorstellung über den eigenen Körper, wovon wir Reste bei der Hysterie sehen, kurz die .Allmacht der Gedanken'."209 Dessenungeachtet wird andernorts noch auszufuhren sein, wie stark die Idee eines Primats der äußeren Realität in Freuds Anschauungen (v. a. in seiner Erkenntnistheorie) verwurzelt ist, namentlich die oben gestreifte Vorstellung, die Außenwelt habe als Faktum per se zu gelten, dem sich die psychischen Prozesse im normalen (also nicht neurotischen) Falle zu fügen bzw. mit der sie einen tauglichen Kompromiß zu suchen hätten. G. Raulet210 hat auch auf den nachhaltigen Einfluß utilitaristischer Motive, vor allem der Lehre J. St. Mills, auf Freud hingewiesen und im einzelnen dokumentiert, in welch hohem Maße er die Aktivitäten der Psyche als eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung hinsichtlich des libidoökonomischen Etats begreift. An dieser Stelle mögen zwei Hinweise genügen, wie selbstverständlich Freud den Begriff des Nutzens als solchen nimmt. Man dürfe ganz allgemein davon ausgehen, so eine Passage in „Das Unbehagen in der Kultur", „die Triebfeder aller menschlichen Tätigkeiten sei das Streben nach den beiden zusammenfließenden Zielen, Nutzen und Lustgewinn"211. Ganz ähnlich eine frühere Überlegung: „Wie das Lust-Ich nichts anderes kann als wünschen, nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht das Real-Ich nichts anderes zu tun, als nach Nutzen zu streben und sich gegen Schaden zu sichern."212 Nietzsches mehrschichtige Kritik am Utilitarismus, die anfänglich stark von der Auseinandersetzung mit P. Rèe geprägt ist und sich dann sukzessive auf die Lehren von J. St. Mill, H. Spencer u. a. ausdehnt, ist hier auf den Aspekt zu beschränken, daß man eigentlich zuerst wissen müßte, was den Entwicklungsvorgängen nützlich ist 213 , um über deren Sinnhafügkeit zu entscheiden. Gegenüber dem „naiven" Glauben der Utilitaristen mangle es aber gerade an solchem Wissen, weil die ursächliche Entstehung einer Sache, so die These in der „Genealogie", sich „toto coelo" von der postulierten Nützlichkeit unterscheide. Evident sei nämlich, daß „etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes im209
210
211 212 213
Zitiert in: Sulloway, F. J., Freud. Biologe der Seele, a. a. O., S. 384; vgl. ebd., S. 383; vgl. auch oben S. 391 f. Raulet, G., Freuds Psychoanalyse: eine Metaphysik der politischen Ökonomie? — in: Nagl, L. u. a. (Hg.), Philosophie und Psychoanalyse, a. a. O., S. 155 ff. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 225. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 21 f. Vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [185], KSA 13, S. 372.
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mer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn' und .Zweck' nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss." Alle Zwecke und Nützlichkeiten seien dergestalt nur Vordergrundsphänomene, „Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funkdon aufgeprägt hat". Die Geschichte der Organbildung oder auch einer gesellschaftlichen Sitte könne daher weder im Sinne eines Progressus auf ein Ziel hin noch als Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen begriffen werden, sondern als eine „Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen [...] Uberwältigungsprozessen" 214 . Gegenüber den ,,Grundirrthümer[n] der bisherigen Biologen" sei Leben eben „nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr .Äußeres' sich unterwirft und einverleibt" 215 . Unverzeihlich findet es Nietzsche, wenn Biologen und Physiologen in ihrer Abneigung gegen den Topos des Herrschen-Wollens einen tragenden Grundbegriff, „den der eigentlichen Aktivität", wegleugneten, was insbesondere für die Anpassungslehre H. Spencers gelte: „Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die .Anpassung' in den Vordergrund, [...] ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an äussere Umstände definirt [...] Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille "ψτ Macht-, damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden [...] Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die .Anpassung' folgt" 216 .
5. Machtwille, Lust und Tod Die divergenten Schwerpunkte der Auffassungen Nietzsches und Freuds werden nach und nach manifest. Aus der kritischen Sicht der jeweils anderen Konzeption betrachtet, läßt sich allgemein konstatieren, daß bei Nietzsche die Thematik des Todes eigentümlich in den Hintergrund tritt bzw. erst im Hinblick auf die Steigerung der Lebensprozesse Relevanz gewinnt, während Freud wiederum zeitweilig unübersehbare (und selbst einbekannte) Schwierigkeiten hat, den Begriff der Lust von jenem des Todes überhaupt noch abzugrenzen. 214 215 216
Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 313 f. Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7 [9], KSA 12, S. 295. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 315 f.
5. Machtwille, Lust und Tod
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5.1. Zur Bedeutung des Todes Der Tod als Elementarereignis des Lebens steht nicht nur im Zentrum verschiedener natur-, geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen (etwa der Ethnologie, welche die erste Nachdenklichkeit des Menschen immer schon mit dem Rätsel des Todes in Zusammenhang gebracht hat), sondern bildet seit jeher ein Herzstück der religiösen und philosophischen Weltanschauungen. Aus diesem Spektrum hat Freud auf diese oder jene Weise Anregungen für sein Opus gewonnen, wobei der Todestrieb nur die äußerste Konsequenz einer lebenslangen, hier nur in Form einer fragmentarischen Skizze anzusprechenden Beschäftigung mit dem Todesproblem darstellt. Sie nimmt ihren Ausgang im „Entwurf einer Psychologie", in der das spätere „reaktive" Paradigma wie gesagt symptomatisch vorweggenommen ist, da die dem Organischen innewohnende Tendenz zur Trägheit bzw. zur Reduktion der Erregungsgrößen auf Null allein durch die Not des Lebens verhindert werde. Einen weiteren Meilenstein der Auseinandersetzung markiert „Totem und Tabu". Nicht zuletzt über Fragen nach dem Sinn des „Tabus der Toten" sowie der besonderen „Situation des Uberlebenden gegen den Toten"217 findet Freud zu maßgeblichen Einsichten seiner Kulturtheorie (Erhellung des Dämonismus, Animismus und des religiösen Weltbildes auf dem Hintergrund der Allmacht der Gedanken), und mit der Fundierung von Geschichte als ödipaler Grundgeschichte sieht er sich endgültig imstande, die Verknüpfung zwischen kulturellen und individualpsychologischen Prozessen herzustellen (die Wiederbelebung des archaischen Tötungsdelikts als infantiler Todeswunsch gegen einen Elternteil). 1915 wird der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Anlaß einer „zeitgemäßen" Betrachtung über „Krieg und Tod" und „unser Verhältnis zum Tode" im generellen. Freud parallelisiert dabei die dreifache Beziehung des „Urmenschen" zum Tode mit jener des Unbewußten (Verleugnung des eigenen Todes, da das Unbewußte weder Tod noch Verneinung kenne; Mordlust gegenüber Fremden und Feinden; Ambivalenz gegenüber einer geliebten Person) und folgert, daß in Zeiten des Krieges die unbewußten Vorstellungen den konventionellen Realismus stark überwuchern und den „Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen" lassen.218 Neben den Kriegsneurosen sind es dann erwähntermaßen die Phänomene des Wiederholungszwanges und der posttraumatischen Träume219, die Freud den Weg zur Entdeckung einer dem Leben gegensätzlichen TriebVi&ît weisen. Halten wir nur fest, daß die aus biologischen, physikalischen, mythologischen und philosophischen Elementen 217 218 219
Vgl. Totem und Tabu, STA 9, S. 342 ff., 365, 381. Vgl. Zeitgemäßes über Krieg und Tod, STA 9, S. 56 ff. Die Todesträume und deren Symbole selbst sind bereits seit der „Traumdeutung" Gegenstand der Untersuchung (vgl. etwa Die Traumdeutung, STA 2, S. 253 ff.; 12. Vorlesung, Analysen von Traumbeispielen, STA 1, S. 193 ff. und 201 f.).
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gespeiste Hypothese der Todestriebe und ihres Kampfes mit den Lebenstrieben das psychoanalytische Denken ab 1920 massiv prägt: Sie spielt hinein in die strukturelle Abklärung des Beziehungsgeflechtes zwischen Es, Ich und UberIch, ermöglicht eine Neubeleuchtung von Erscheinungsbildern wie Sadismus und Masochismus, fuhrt zu einem veränderten Begriff von „Triebmischung" bzw. „Triebentmischung"220, erzwingt eine Modifizierung der Traumtheorie221, beeinflußt in erheblichem Umfang die Studie über das „Unbehagen in der Kultur" 222 und nötigt Freud aufgrund des erkannten unbewußten Schuldgefühls („negative therapeutische Reaktion") schließlich ein eher skeptisches Urteil über die Möglichkeiten der analytischen Therapie ab. 223 Zu dieser Intensität und Mehrdimensionalität der Ideen steht Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Komplex des Todes in merkwürdigem Kontrast. Die verstreuten Reflexionen sind zumeist knapp gehalten und sprechen in der Regel auch sehr unterschiedliche Themen an, etwa den Tod als „Schauspiel", das Verhältnis von Schlaf und Traum zum Tod oder die positive Bewertung des Freitodes.224 Insgesamt vermitteln sie nicht den Eindruck, als ob das „Todesproblem [...] am Eingang jeder Philosophie" zu stehen hätte, wie Freud mit beziehungsvollem Blick auf Schopenhauer vermerkt 225 , ganz im Gegenteil. Zwar werde der „Gedanke an den Tod", so ein Aphorismus aus der „Fröhlichen Wissenschaft", durch die Hast des Lebens tatsächlich überdeckt und verdrängt, aber: „Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen!" Mit dem Schluß, der „Gedanke an das Leben" sei „hundertmal denkensmrther"226, ist auch Nietzsches eigentliches Interesse charakterisiert: die Kritik an allen „Predigern des Todes" 227 , die des Lebens überdrüssig seien; an den Aposteln der vor- und nachchristlichen Moral, den Anwälten des Pessimismus und den Verkündern der Sinnlosigkeitslehre, mit einem Wort: den Repräsentanten einer großen nihilistischen Bewegung, die unter schillerndsten Namen den Tod im Leben beschworen hätten. Diese geschichtsmächtigen Anstrengungen zur Verneinung des Lebens 228 seien aber schlechter220
221
222 223
224
225 226 227 228
Vgl. Das Ich und das Es, STA 3, S. 3 0 7 - 3 1 4 ; Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 262 f.; Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 347. Vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 223 f., 232 und 241 f.; 29. Vorlesung der Neuen Folge, Revision der Traumlehre, STA 1, S. 469 ff. Vgl. Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 246 ff. Vgl. 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 541 f.; Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 382; vgl. auch Sulloway, F. J., Freud. Biologe der Seele, a. a. O., S. 559 ff. Vgl. Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, S. 27, 544 f. und 578; Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 93 ff. Vgl. Totem und Tabu, STA 9, S. 376. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 523. Vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 55 ff. Vgl. oben S. 4 6 6 - 4 6 8 .
5. Machtwille, Lust und Tod
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dings als fatal zu bezeichnen, zielten doch die einmal erkannten Grundkräfte des Daseins nicht auf den „Willen zum Nichts" ab, auch nicht auf bloße Erhaltung, sondern eben auf Steigerung und Erweiterung der Machtgebilde. Unter diesem Aspekt erstaunt nicht, daß Nietzsche an einem archimedischen Punkt seiner Philosophie, der des Leibes, selbst den organischen Tod bzw. das Absterben der Körperfunktion nur am Rande als nüchternes Faktum ins Spiel bringt, etwa in der folgenden Notation: „Und auch jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren [...], gelten uns [...] als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes: so daß ihre Zahl unbeständig wechselt, und unser Leben wie jegliches Leben zugleich ein fortwährendes Sterben ist." 229 Das Schwergewicht der Argumentation liegt indes an anderer Stelle. Ferne des Freudschen Gedankens, einen im Organismus „stumm" wirkenden, dem Leben entgegenarbeitenden und ins Anorganische zurückdrängenden Todestrieb zu postulieren, weist Nietzsche umgekehrt dem Tod eine tiefere Bedeutung im Hinblick auf die „unsinnige" Neugestaltung gerade des Lebens zu. In seiner Kritik am Utilitarismus schließt er, selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus verschiebe sich mit dem Wachstum des Ganzen der „Sinn" der einzelnen Organe, sodaß auch deren „Zu-Grunde-Gehn" ein Zeichen „wachsender Kraft" sein könne. Und ins Allgemeine gewendet: Auch das „Unnüt^lichwerden, [...] das Verlustiggehn von Sinn und Zweckmässigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird." 230
5.2. Die Lust zum Tode und die Lust zur Macht Immer wieder betont Freud, in Sachen Lust und Unlust tappe „die Psychologie noch [...] im dunkeln", das Problem rühre an einer ihrer „wundesten Stellen", und so würde er sich „gerne zur Dankbarkeit gegen eine philosophische oder psychologische Theorie bekennen", wenn sie das Wesen der Lust erhellen könnte.231 Trotz solcher Relativierungen findet er zu einem Lösungsansatz, der die längste Zeit über verbindlich bleibt und verkürzt besagt: Unter quantitativen Gesichtspunkten bedeutet Unlust einen Spannungszustand, der mit Zuwachs und Steigerung der Erregungsgrößen verbunden ist, während Lust einer Verrin-
229 230 231
Nachlaß Juni—Juli 1885, 37 [4], KSA 11, S. 577. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 315. Vgl. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 90 und 114; Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 217.
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Kapitel 15: Die Trieblehre
gerung und Abnahme derselben entspricht. 232 Diese auch dem Gemeinverständnis mehr oder weniger geläufige Unterscheidung wird durch den späten Dualismus freilich auf eine harte Probe gestellt. Demnach zeichne der Eros für den „Lärm des Lebens" 233 verantwortlich, indem er durch Vereinigung mit anderen lebenden Substanzen die „Spannungen vergrößert, sozusagen neue ,Vitaldifferenzen' einführt". Ganz der alten Vorstellung entsprechend werde die Reduktion dieser Spannungen dann als Lust erlebt. Indes bleibe der inneren Wahrnehmung durch ihre Konzentration auf die Störungsprozesse des Lebens zwangsläufig verborgen, daß bei der Erledigung unlustvoller Spannungen, und hier spiegelt sich die veränderte Sicht wider, gerade die Todestriebe „unauffällig" ihr Werk verrichteten: „Daß wir als herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung erkannten (das Nirwanaprin^ip nach einem Ausdruck von Barbara Low), wie es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben." 234 Es ist hier nicht um die Details und Schwierigkeiten von Freuds Mechanismus der Seele zu tun 235 , sondern allein um die Folgerung, daß das „Lustprinzip [...] geradezu im Dienste der Todestriebe" 236 stehe, oder in die Sprache Nietzsches übersetzt: der Wille zur Lust sei im Grunde ein Wille zum Tode. Allein, wie vermochte unter einer solchen Voraussetzung dem Eros noch Herrschaft über die Lebensvorgänge zugesprochen werden, wie konnte selbst der Begriff des Lebens gerechtfertigt werden, wenn neben den Todestrieben auch die libidinösen Triebe ihr letztes Ziel im Tode suchten? In „Das ökonomische Problem des Masochismus" nimmt Freud die Identifikation von Lust- und Nirwanaprinzip in der Tat zurück: „Auf jeden Fall müssen 232 Ygj e t w a Q r e j Abhandlungen zur Sexualtheorie, STA 5, S. 114 f.; Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, STA 5, S. 219; Triebe und Triebschicksale, STA 3, S. 84; 22. Vorlesung, Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie, STA 1, S. 348 f.; Psychoanalysis, GW 14, S. 302; Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 2 1 7 - 2 2 1 . 233 Das Ich und das Es, STA 3, S. 313. 234 Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 264 und 271. 235 So glaubte Freud nicht nur, das Lustprinzip mit dem Nirwanaprinzip (bzw. zuvor mit dem Konstanzprinzip) gleichsetzen, sondern auch als „Spezialfall" des Fechnerschen Stabilitätsprinzips interpretieren zu können (vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 219; Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 343 und Anm. 2). Letzteres ist aber, wie F. J. Sulloway (Freud. Biologie der Seele, a. a. O., S. 553 ff.) zeigt, durchaus nicht ident mit Freuds Theorie. Die selbst einbekannte Unsicherheit bezüglich der Prozesse Konstanterhaltung, Reduktion oder überhaupt Aufhebung der energetischen Spannungen, die auch für die Aquivokation der Terminologie verantwortlich zeichnet (vgl. Laplanche, J. / Pontalis, J.-B., Das Vokabular der Psychoanalyse, a. a. O., Band 1, S. 260 — 268), schlägt sich etwa in einer Formulierung von 1916/17 nieder: „Nur soviel darf man sich getrauen zu behaupten, daß die Lust irgendwie an die Verringerung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im Seelenapparat waltenden Reizmenge gebunden ist, die Unlust aber an eine Erhöhung derselben" (22. Vorlesung, Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie, STA 1, S. 348). 236 Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 271.
5. Machtwille, Lust und Tod
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wir innewerden, daß das dem Todestrieb zugehörige Nirwanaprinzip eine Modifikation erfahren hat, durch die es zum Lustprinzip wurde, und wir werden es von nun an vermeiden, die beiden Prinzipien für eines zu halten. Von welcher Macht diese Modifikation ausging, ist [...] nicht schwer zu erraten. Es kann nur der Lebenstrieb, die Libido, sein, der sich in solcher Weise seinen Anteil an der Regulierung der Lebensvorgänge neben dem Todestrieb erzwungen hat." Von Interesse ist die eigentliche Begründung dieser Revision, die so banal zu sein scheint wie sie folgenreich ist: daß nämlich die Lustvorgänge ebenso anwachsende Spannungen unterhalten wie es unlustvolle Entspannungen gibt. Die gängige Dichotomie Lust — Unlust bzw. die Gleichungen: Lust = Spannungsverminderung, Unlust = Spannungserhöhung werden damit unterminiert: Der Zustand der Sexualerregung ist das aufdringlichste Beispiel einer solchen lustvollen Reizvergrößerung, aber gewiß nicht das einzige. Lust und Unlust können also nicht auf Zunahme oder Abnahme einer Quantität [...] bezogen werden, wenngleich sie offenbar mit diesem Moment viel zu tun haben. Es scheint, daß sie nicht an diesem quantitativen Faktor hängen, sondern an einem Charakter desselben, den wir nur als qualitativ bezeichnen können. Wir wären viel weiter in der Psychologie, wenn wir anzugeben wüßten, welches dieser qualitative Charakter ist. Vielleicht ist es der Rhythmus, der zeitliche Ablauf in den Veränderungen, Steigerungen und Senkungen der Reizquantität237. In erstaunlichster Weise nimmt Nietzsche nun den Kern dieser Argumentation vorweg. Die Pointe liegt freilich nicht in der Verhinderung eines drohenden Monismus des Todes und der Bemühung, das Lustprinzip als den „Wächter des Lebens" 238 schlußendlich doch noch zu legitimieren, sondern gerade darin, das Lustprinzip seinerseits als Machtprinvgp zu behaupten: Wenn das Wesen der Lust zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Geföhl von Macht [...], so ist damit das Wesen der Unlust noch nicht definirt. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es giebt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner UnlustReize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefuhls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall ζ. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des coitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingredienz der Lust thätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird — dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesammtgefuhl von überschüssiger^] überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht. 239 237 238 239
Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 344. Ebd., S. 345. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [131], KSA 13, S. 358; vgl. in diesem Zusammenhang auch Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [275], KSA 11, S. 222; Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5 [50], KSA 12, S. 204; Nachlaß November 1887-März 1888,11 [76], KSA 13, S. 38; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [174], KSA 13, S. 360 f.
660
Kapitel 15: Die Trieblehre
Die Unlust als Ingredienz der Lust heißt in der Freudschen Version nichts anderes, als daß lustvolle Spannungen im Rhythmus der Reizverarbeitung ein unbestreitbares Faktum sind. Dabei darf nicht irritieren, daß Freud den früheren Mechanismus, d. h. die Gleichsetzung der Lust- bzw. Unlustphänomene mit einem spezifisch quantitativen Energiepegel, schließlich relativiert und zu einer qualitativen Auffassung von Lust findet. Auf höherem Abstraktionsniveau ist dies auch bei Nietzsche der Fall (ohne daß deswegen — wie bei Freud — die quantitativen Momente eliminiert würden). Wie bereits ausgeführt, läßt sich seine Kritik am Mechanismus bzw. an bloß quantitativen Gleichungsverhältnissen eben von einer qualitativen Ergänzung leiten: der Annahme treibender innerer Willenskräfte, die bei der Realisation ihrer Ansprüche auf hemmende Gegenkräfte stoßen, sodaß auch in Sachen Lust das „Spiel von Widerstand und Sieg" stets von neuem anhebt. Die hier in nuce skizzierten Positionen Nietzsches und Freuds sind insofern als die entscheidenden anzusehen, als sie die zuletzt vertretenen sind bzw. nicht mehr grundsätzlich revidiert werden. 240 Und sie verdeutlichen (gerade wegen der Beschränkung des Gesamtproblems Lust/Unlust auf die hier referierten Aspekte) eine Quintessenz, die im Hinblick auf das dualistische Weltbild der Psychoanalyse gar nicht zu überschätzen ist. Denn ohne es zu ahnen, sieht sich der späte Freud gezwungen, ein originäres Denkmotiv Nietzsches aufzunehmen, um seinen Begriff der Libido und in einem weiteren Sinn den des Lebens selbst noch rechtfertigen zu können. Oder umgekehrt formuliert: Dem Ansatz nach hat eine Vorstellung Nietzsches gewissermaßen das Abgleiten der Psychoanalyse in eine vollkommene Philosophie des Todes verhindert. Daß Freud in „Das ökonomische Problem des Masochismus" nicht die direkte Brücke vom Lustzum Machtprinzip schlägt, sondern den explizit so genannten „Wille [n] zur Macht" seinerseits auf einen zerstörerischen (also gerade nicht auf Wachstum zielenden) Trieb reduziert und ihn daher als jenen Partialtrieb des Todestriebes begreift, der durch den Einfluß der nun gleichsam geretteten Libido gegen die Objekte der Außenwelt gewendet werde 241 , steht auf einem anderen Blatt und bezeugt einmal mehr die Unverträglichkeit der Denkkonfigurationen.
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Es darf daran erinnert werden, daß Nietzsche in seiner mitderen, „hedonistischen" Phase die Polarität von Lust und Unlust selbst noch vehement vertreten hat. Aus der Fülle von Überlegungen soll hier nur ein Beispiel Erwähnung finden. Es sei eine „universale Thatsache alles Beseelten", notiert er, „daß wir der Unlust entgehen wollen, auf alle Weise, und dagegen nach Lust streben" (Nachlaß Ende 1876-Sommer 1877, 23 [12], KSA 8, S. 407 f.). Vgl. Das ökonomische Problem des Masochismus, STA 3, S. 347.
Kapitel 16 Die innere und die äußere Wirklichkeit 1. Realität bei Freud 1.1. Chaos versus Ordnung: Zur Erkenntnis des Unbewußten Die Mehrdeutigkeit des Triebbegriffs führt zu einer erheblichen Schwierigkeit bei der Konzeption des Unbewußten. 1933, anläßlich der „Zerlegung" des Seelenlebens, vergleicht Freud das Unbewußte bzw. das Es mit einem „Chaos", einem „Kessel voll brodelnder Erregungen. [...] Von den Trieben her erfüllt es sich mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaffen."1 Im Gegensatz zur Vernunft des Ichs sind es mithin die „Leidenschaften", die den Kern des Unbewußten ausmachen, bzw. alles, „was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe"2. 1915 dagegen, in der metapsychologischen Schrift „Das Unbewußte", erscheint jegliche Identifikation des Unbewußten mit vorgeblichen Rohzuständen der Natur problematisch, weil der Trieb als solcher gar nicht „Objekt des Bewußtseins werden [kann], nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. [...] Wenn wir aber doch von einer unbewußten Triebregung oder einer verdrängten Triebregung reden, so ist dies eine harmlose Nachlässigkeit des Ausdrucks. Wir können nichts anderes meinen als eine Triebregung, deren Vorstellungsrepräsentanz unbewußt ist, denn etwas anderes kommt nicht in Betracht." Diese gewissermaßen rationalistische Kehre, die psychische Akte wie Fehlhandlungen, Träume und Symptome als dem Bewußtsein entzogene „Denkresultate"3 begreift, bildet ihrerseits nur eine Konsequenz der „Traumdeutung". Demnach basiert das Paradigma des Unbewußten, der Traum eben, auf nichts anderem als auf kohärenten, durch die Verformungsmechanismen der Traumarbeit gleichwohl entstellten Gedanken4, die sich sprachlogisch dekodieren und für die therapeutische Bemühung fruchtbar machen lassen. Dem von Freud selbst genährten Verständnis von der „Irrationalität" des Unbewußten steht die pionierhafte Entdeckung einer eigenen Sprache des Unbewußten 1 2 3 4
31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 511. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 67 f.; Das Ich und das Es, STA 3, S. 294. Das Unbewußte, STA 3, S. 125 f. und 136. Vgl. oben S. 191 f.
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Kapitel 16: Die innere und die äußere Wirklichkeit
gegenüber. Unbewußt in diesem Sinn meint also kein metaphysisches oder sonstiges „Prinzip" des Lebens, kein schöpferisches oder bedrohliches Chaos, keinen „blind" dahintreibenden Schopenhauerschen Willen — und schon gar nicht einen naturhaften Instinkt. Mit großer Eindringlichkeit insistiert Lacan: Sicher war das Unbewußte seit jeher da, es existierte, agierte schon vor Freud, wichtig ist aber, hervorzuheben, daß alle Auffassungen zur Funktion des Unbewußten vor Freud absolut nichts mit dem Unbewußten zu tun haben, wie es bei Freud erscheint. Das Urunbewußte, das Unbewußte als archaische Funktion, das Unbewußte als verhüllte Präsenz eines Denkens, das auf der Ebene des Seins anzusetzen wäre, bevor es sich enthüllen soll, das metaphysische Unbewußte eines Eduard von Hartmann [...] und vor allem das Unbewußte als Instinkt — alles dieses hat nichts zu tun mit dem Freudschen Unbewußten, nichts zu tun — was immer das analytische Vokabular mit seinen Biegungen und Beugungen besagen mag — nichts mit unserer Erfahrung. Ich rufe die Analytiker unter Ihnen als Zeugen an — Haben Sie je, auch nur einen Augenblick lang, das Gtfiihl gehabt, im Teig des Instinkts ^u rühren!5
Daß das Unbewußte vor allem als ein befremdliches Anderes des Bewußtseins zu verstehen ist, bildet den Ausgangspunkt von G. Böhmes Interpretation der Freudschen Metapsychologie von 1915, namentlich der Schrift „Das Unbewußte". Wenn wir dieser Leseart nun auszugsweise folgen, dann nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß das strapazierte Wort von der „Ähnlichkeit" der Ideen Nietzsches und Freuds erneut zu hinterfragen und gerade in diesem Punkt die Eigentümlichkeit des psychoanalytischen Ansatzes hervorzukehren ist. Gegenüber dem psychophysischen Parallelismus vertritt Freud erwähntermaßen 6 die These, man habe das Unbewußte als das eigentlich Psychische anzusetzen, wobei über Schlußproyesse von den Manifestationen der Erscheinungswelt (Träume, Neurosen, Fehlleistungen) auf deren unbewußte Ursachen die Lücken des Psychischen zu ergänzen seien. Das Paradox, daß das Unbewußte seiner Natur nach als unbekannt vorausgesetzt und doch zugleich als potentiell erkennbar gedacht werden müsse, versucht Freud mit einer Berichtigung der Kantschen Erkenntniskritik zu erhellen: Wie Kant uns gewarnt hat, die subjektive Bedingtheit unserer Wahrnehmung nicht zu übersehen und unsere Wahrnehmung nicht für identisch mit dem unerkennbaren Wahrgenommenen zu halten, so mahnt die Psychoanalyse, die Bewußtseinswahrnehmung nicht an die Stelle des unbewußten psychischen Vorganges zu setzen, welches ihr Objekt ist. Wie das Physische, so braucht auch das Psychische nicht in Wirklichkeit so zu sein, wie es uns erscheint. Wir werden uns aber mit Befriedigung auf die Erfahrung vorbereiten, daß die Korrektur der
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Lacan, J., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übersetzt von N. Haas, Ölten und Freiburg im Breisgau 1978, S. 132. Vgl. oben S. 559 f.
1. Realität bei Freud
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inneren Wahrnehmung nicht ebenso große Schwierigkeit bietet wie die der äußeren, daß das innere Objekt minder unerkennbar ist als die Außenwelt. 7
Autoren wie R. Heinz, H. Dahmer oder M. Kaiser-El-Safü8 haben die hier implizierte Analogie des Unbewußten mit dem „Ding an sich" zurückgewiesen, weil die Kausalrelation nach Kant in den Bereich der Erscheinungen fallt, Freud aber das Unbewußte ausdrücklich als Ursache bestimmt, sodaß das Unbewußte konsequenterweise den Gegenständen der Erscheinung zugeschlagen werden müßte. G. Böhme konzediert zwar dieses Argument, will das Kant-Verständnis gleichwohl differenzierter sehen und sieht sich außerstande, Freud diesbezüglich eine „schlechte Note" zu erteilen: „Denn Kant selbst spricht vom Ding an sich unter Verwendung der Kausalitätskategorie: Es ist nämlich dasjenige, was unsere Sinne affiziert, es wird als Ursache unserer Empfindungen gedacht. Ich betone ,gedacht', weil nämlich Kant einen Unterschied zwischen Denken und Erkennen macht. Wir können das Ding an sich mit Hilfe der Kategorie der Kausalität denken, wir können es aber nicht erkennen, weil es uns gerade qua Ding an sich nicht gegeben ist. Das ist auch das, was Freud — zunächst jedenfalls — feststellen möchte: das Unbewußte wird als metapsychologische Hypothese gedacht, aber es ist uns als Unbewußtes gerade unbekannt."9 Näher besehen geht die Analogie sogar noch weiter, als Freud vermutet hat. Denn Kant hat seinerseits die ursprünglich auf die äußere Wahrnehmung bezogene Relation Ding an sich — Erscheinung auf die innere Wahrnehmung übertragen und im Deduktionskapitel der „Kritik der reinen Vernunft" festgehalten, auch wir selbst nehmen uns nicht wahr, wie wir „an sich" sind, sondern immer schon in einer durch die Bewußtseinsstrukturen vorgeformten Weise, also nur, wie wir uns erscheinen. Der Vorstellung „Ich", so die Erwägung im Paralogismen-Kapitel, können keine inhaltlichen Bestimmungen beigelegt werden, weil sie ein bloß formales Bewußtsein ist, das alle Begriffe begleitet: „Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können"10. Mit dieser an Descartes' Adresse gerichteten Kritik hebt be-
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Das Unbewußte, STA 3, S. 130. Vgl. Heinz, R. / Dahmer, H., Psychoanalyse und Kantianismus, in: Elrod, N., Heinz, R., Dahmer, H., Der Wolf im Schafspelz, Frankfurt am Main 1978, S. 129 ff.; Kaiser-El-Safü, M., Der Nachdenker, a. a. O., S. 66 f. Böhme, G., Freuds Schrift JDas Unbewußte', in: Psyche, 40. Jahrgang, Heft 9, Stuttgart 1986, S. 768 (zunächst - H. d. V.). Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Band 3, Β 404 und Β 152/153; vgl. Böhme, G., Freuds Schrift .Das Unbewußte', a. a. O., S. 768 f.
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Kapitel 16: Die innere und die äußere Wirklichkeit
kanntlich eine „es-denkt"-Tradition an, in die unter anderem auch Nietzsche und Freud involviert sind. 11 Entscheidend an dieser Stelle ist, daß Kants Einsichten — wir sind uns, wie wir an sich sind, unbekannt, mehr noch: wir müssen, da der Differenz von Ding an sich und Erscheinung selbst verhaftet, die Besonderheit verstehen, daß wir im Unterschied zu den Gegenständen der Außenwelt „das fragliche Ding an sich selbst sind" — den Weg freimachen für den Bereich der Praxis und Freiheit. Gerade weil sich hinter dem Reich des Bewußtseins ein Chaos befinde, hält Kant die Möglichkeit einer Selbstbestimmung durch Vernunft für evident. 12 Genau dies ist aber der Punkt, an dem Freuds metapsychologische Modifizierung von Kant einsetzt, da man — nach dem Wort von 1915 — mit „Befriedigung" zur Kenntnis nehmen dürfe, daß die innere Wahrnehmung „minder unerkennbar" sei als die äußere Realität. Nun läßt sich die Metapsychologie aber ihrerseits über die eigentümliche kommunikative Situation zwischen Arzt und Patient begreifen, und diese Abhängigkeit von der analytischen Praxis hat nach Habermas keineswegs bloß forschungspsychologischen, sondern methodologischen Sinn: „Jene [metapsychologischen] Kategorien und Zusammenhänge sind nämlich nicht nur unter bestimmten Bedingungen einer spezifisch geschützten Kommunikation entdeckt worden, sie können unabhängig davon gar nicht expliziert werden." 13 Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß Freud sowohl Appelle an die Vernunft des Patienten als auch gutgemeinte, vom Analytiker vorgetragene Aufklärungen über die „wundersame Welt der psychischen Vorgänge" für den Therapiefortgang als nicht zielführend, ja selbst kontraproduktiv erachtet. Erst indem dem Patienten die Zeit eingeräumt werde, die affektiven Widerstände über die analytische Grundregel, also mittels eines Sprachverfahrens durchzuarbeiten14, eröffne sich die Möglichkeit, die zwischen Bewußtsein und dem Anderen des Bewußtseins eingeschalteten Zensurschranken zu überwinden und die „Lücken" des Bewußtseins durch unbewußtes Datenmaterial aufzufüllen. Da der Erkenntnisgegenstand, das Fremde des Bewußtseins, dem Patienten aber zwangsläufig nicht unmittelbar ins Blickfeld gerät, sondern gleichsam im Rücken bleibt, nennt G. Böhme die Psychoanalyse eine „Selbsterkenntnis im Schrägblick": „Die Heilung der Irrationalität gelingt gar nicht, indem man in direkter Weise der Intention d à Bewußtseins nach Rationa-
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Nietzsche lag dabei alles daran, die Spielarten des „Täter"-Denkens selbst noch zu unterlaufen (vgl. oben S. 2 4 7 - 2 5 2 und unten 6 9 0 - 6 9 3 ) , während der inhaltliche Bezugspunkt der Psychoanalyse nicht so sehr in der späten Einfuhrung des Terminus „Es" und seiner Charakterisierung als brodelnder Triebkessel zu suchen ist, als vielmehr darin, daß die Herkunft der Gedanken in einer unbewußten Denktätigkeit wurzelt (vgl. etwa Das Unbewußte, STA 3, S. 125 f.). Vgl. Böhme, G., Freuds Schrift ,Das Unbewußte', a. a. O., S. 769. Habermas, J., Erkenntnis und Interesse, a. a. O., S. 307. Vgl. oben S. 5 2 9 - 5 3 3 .
1. Realität bei Freud
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lität und Subjektivität folgt, sondern nur in obliquer Weise, indem das Bewußtsein sich dem Befremdenden öffnet und sich als dessen Symptom akzeptiert."15 Der eben angesprochene Begriff der Zensur gibt nun das Stichwort füir die nach wie vor unbeantwortete Frage, wie „das Paradox des unbewußten und dennoch erkennbaren Unbewußten" zu lösen ist. Dabei verdient die als Konfliktmodell gefaßte dynamische Betrachtung der „Systeme" Bewußtsein und Unbewußtes besondere Aufmerksamkeit. Demnach durchläuft ein psychischer Akt zwei Phasen, zwischen die eine Zensur eingeschoben ist: „In der ersten Phase ist er unbewußt und gehört dem System Ubw an; wird er bei der Prüfung von der Zensur abgewiesen, so ist ihm der Ubergang in die zweite Phase versagt; er heißt dann .verdrängt' und muß unbewußt bleiben. Besteht er aber diese Prüfung, so tritt er in die zweite Phase ein und wird dem zweiten System zugehörig, welches wir das System Bw nennen"16. Die Bedeutung der Zensur kann freilich auch dahingehend gelesen werden, daß sie nicht „Unbewußtes und Bewußtes trennt, sondern diesen Unterschied produziert. " Wenn die über gesellschaftliche, moralische und logische Normen vermittelte Zensur zunächst bewußt vorgenommen und „das zu zensierende Material also gerade wegen seiner UnStatthaftigkeit [...] auffällig wird, dann aber verschwiegen und verdrängt bzw. nur in bereinigter Form weitergegeben wird, dann ist der zensierenden Instanz eben beides bekannt, das unterdrückte Material wie das veröffentlichte." Am Beispiel der Traumdeutung läßt sich nun gewissermaßen der Beweis für die Erkenntnis des Unbewußten antreten. Freud warnt dabei vor dem Mißverständnis, als seien die „hinter" dem manifesten Trauminhalt liegenden latenten Traumgedanken die Gedanken des Unbewußten. Vielmehr sind es sprachlich korrekte, in sich stimmige Gedanken aus dem Bereich des Systems Vorbewußt/Bewußt, die über eine „Regression" ins Unbewußte gleichsam abgetaucht und dann im Zustand des Schlafes, jetzt unter Bedingungen einer ermäßigten Zensur, entstellt wieder aufgetaucht sind. Soll der Schluß vom verwirrenden manifesten Trauminhalt auf die latenten Traumgedanken (und damit die Lücken des Bewußtseins) mehr als bloßes Rätselraten sein, dann wird allerdings eine Kenntnis der Mechanismen, mit denen die Traumbildung ihre Verformungstätigkeit inszeniert, zur Conditio sine qua non. Freud hat sie unter dem Titel „Traumarbeit" zusammengefaßt und als Verdichtung, Verschiebung, Umsetzung von Gedanken in Bilder usw. entziffert, d. h. aber: „Die Prinzipien, nach denen sie vorgeht, sind die Strukturen des Unbewußten."17 Die Großtat Freuds gegenüber den voranalytischen Den1 5 Vgl. Böhme, G., Freuds Schrift .Das Unbewußte', a. a. O., S. 766, 777. ' 6 Das Unbewußte, STA 3, S. 132. 1 7 Vgl. Böhme, G., Freuds Schrift ,Das Unbewußte', a. a. O., S. 7 7 3 - 7 7 5 (produziert; beides - H. d. V.). Nicht zuletzt der Traumanalyse entnimmt Freud weitere „Charaktere des unbewußten Denkens" (Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, STA 4, S. 151) wie etwa Widerspruchslosigkeit, Primärprozeß, Zeitlosigkeit usw.; vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 316 ff.; Das Unbewußte, STA 3, S. 145 f.; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 91; vgl. dagegen die Freudkritische Argumentation von M. Kaiser-El-Safti, Der Nachdenker, a. a. O., S. 61 ff.
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Kapitel 16: Die innere und die äußere Wirklichkeit
kern besteht somit nicht in der „Entdeckung" des Unbewußten, sondern in der Dechiffrierung seiner spezifischen Sprache, wodurch es — mit Blick auf Nietzsche formuliert — nicht mehr (oder jedenfalls nicht mehr primär) als Regulativ des „Lebens" oder als höhere „Vernunft des Leibes" zur Diskussion steht.
1.2. Phantasie und Wirklichkeit Mit dem Jahre 1897 tritt eine für Freuds Realitätsbegriff entscheidende Wende ein. Die sogenannte Verführungstheorie, welche die Ätiologie der Neurosen auf äußere Ereignisse — sexuelle Traumen — und deren mißlungene psychische Verarbeitung zurückführte, wird problematisch, da sich die von den Patienten behaupteten Verführungsszenen immer wieder als Wunschphantasien zur Beschönigung und Abwehr der autoerotischen Sexualbetätigung entpuppten. 18 Im berühmten Brief an W Fließ vom 21. September 1897 zieht Freud die Konsequenz aus dieser Neuorientierung und schließt, „daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann." 19 Der Umstand, daß eine unbewußte Vorstellungs- bzw. Wunschwelt keine Rücksicht auf die äußere Realität nimmt, führt in der Folge etwa zu nachstehender dichotomischer Terminologie: subjektive — objektive Realität; Lustprinzip — Realitätsprinzip; psychische Realität — objektive/äußere/faktische/materielle Realität. 20 Dieser Dualismus — das gilt es gegenüber Nietzsches prinzipiell philosophisch angelegter Erkenntniskritik festzuhalten — ist zunächst aus dem Kontext psychoanalytischer Erfahrung gewonnen und dient der Abgrenzung zwischen wirklichkeitsangemessenen und neurotischen (später auch psychotischen 21 ) Formen des Denkens/Handelns. Durch seine starke Betonung der psychischen Realität gegenüber der „faktische [n]" 22 demonstriert gerade der Neurotiker, so Freud, wie die Verzichtsleistungen, welche eine unerbittliche „äußere Not" ihm abverlangen, sich gleichsam kompensieren durch die Errichtung eines inneren „ .Naturschutzparks' ", wo das Gesetz der „Schonungen" herrscht und alles „wuchern und wachsen" darf, wie es will: „Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische 18 19 20
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Vgl. oben S. 4 2 1 - 4 2 3 . Freud, S., Briefe an W. Fließ 1 8 9 7 - 1 9 0 4 , a. a. O., S. 284. Nach der Reihenfolge der angeführten Begriffe vgl. Die Verneinung, STA 3, S. 375 (hier heißt es: „Das Nichtreale, bloß Vorgestellte, Subjektive, ist nur innen; das andere, Reale, auch im Draußen vorhanden."); Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 18 ff.; Totem und Tabu, STA 9, S. 75; Das Unbewußte, STA 3, S. 146; Totem und Tabu, STA 9, S. 57 und 442; 23. Vorlesung, Die Wege der Symptombildung, STA 1, S. 359. Vgl. Neurose und Psychose, STA 3, S. 333 ff.; Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, STA 3, S. 357 ff. Totem und Tabu, STA 9, S. 442.
1. Realität bei Freud
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Reich der Phantasie." Näher besehen schlage die von der äußeren Realität an der Befriedigung gehinderte Libido gleichwohl ganz bestimmte Wege ein, die von der Phantasie offengehalten werden, weil sie sozusagen an frühere und bessere Zeiten erinnern. Diese Regressionen zu überwundenen Stufen und verlassenen Objekten der seelischen Organisation bleiben nach Freud so lange folgenlos, als sie nicht in Widerspruch mit dem „Ich" treten. Andernfalls ist der Konflikt vorprogrammiert: Die Libido sucht demnach „rückwärtsströmend" die vom Ich seinerzeit schon verdrängten Positionen der Entwicklung („Fixierungen") auf und entzieht sich dem Einfluß des Ichs. Unter dem doppelten Druck äußerer wie innerer Versagung findet die von Wunschphantasien unterhaltene Libido ihre Befriedigung schließlich im „Symptom", das einem heimlichen, unbewußten Kompromiß zwischen den gegensätzlichen Mächten entspricht. 23 Daß für das Phantasieleben die „Übereinstimmung mit der äußeren Realität" 24 zur reinen Nebensache wird, darf mithin den Analytiker nicht dazu verleiten, die spezifische Wirklichkeit der Phantasie bei der Symptombildung zu unterschätzen: „Man hat die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist, in unserem Falle der neurotischen Währung"25 Die Neurose stellt nach Freud freilich nur den Prototypen einer allgemeinen, entwicklungsgeschichtlich verstehbaren Regressionstendenz des Menschen dar: Weil der allein auf Erregungsabfuhr drängende „Primärprozeß" dem realitätsbezogenen „Sekundärprozeß" zeitlich vorgeordnet ist und sich das Real-Ich aus dem älteren Lust-Ich ebenso erst herausdifferenzieren mußte 26 wie eine wirklichkeitsgerechte Einstellung aus dem primitiven Denken, gewinnt die regressive Neigung, einer „phantastischen" inneren Welt das Primat gegenüber der beängstigenden äußeren Realität einzuräumen, allzumenschliche Züge. Neben dem bereits betonten Sonderfall des Künstlers27 bei der Vermittlung von Phantasie und Wirklichkeit, Lustprinzip und Realitätsprinzip, sind auch die generellen psychologischen und historischen Verkennungsmechanismen des „unermüdlichen Lustsuchers" Mensch referiert worden. Es mag an dieser Stelle daher Freuds Resümee genügen, daß die animistische Allmacht der Gedanken, in der die „Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt" 28 war, in einem langen kulturellen Reifungsprozeß sukzessive beschnitten wurde und schließlich einem wissenschaftlichen Denken gewichen ist, das sich nun jenseits anthropomorpher 23
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Vgl. 23. Vorlesung, Die Wege der Symptombildung, STA 1, S. 350 f. und 362 ff.; vgl. auch Über neurotische Erkrankungstypen, STA 6, S. 219 f. Totem und Tabu, STA 9, S. 375. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 23 f. Vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 572 f.; Das Unbehagen in der Kultur, STA 9, S. 199 f. Vgl. oben S. 357 f. Das Unheimliche, STA 4, S. 267.
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Kapitel 16: Die innere und die äußere Wirklichkeit
Verschmelzungsphantasien an eine elementare Subjekt-Objekt-Differenzierung gebunden fühlt: „Sein Bestreben ist, die Ubereinstimmung mit der Realität zu erreichen, d. h. mit dem, was außerhalb von uns, unabhängig von uns besteht und, wie uns die Erfahrung gelehrt hat, für die Erfüllung oder Vereitelung unserer Wünsche maßgebend ist. Diese Ubereinstimmung mit der realen Außenwelt heißen wir Wahrheit." 29 Nach dem Selbstverständnis Freuds steht die Psychoanalyse inmitten dieser aufklärerischen Bewegung: Da sie den realitätsverkennenden, regressiven und atavistischen Charakter der Neurose aufgedeckt habe, könne ihre Aufgabe und speziell die einer „wurzelwärts" angreifenden Psychotherapie nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorrangig darin bestehen, den Leidenden von einem quälenden Symptom zu befreien, sondern primär darin, ihm ein selbstreflexives, wirklichkeits- und wahrheitsgetreues Realitätsverständnis wieder zu ermöglichen. 30 In dieser leidenschaftlichen Parteinahme für die Sache der „Wahrheit" ist ein wesentlicher Grund zu suchen, warum Freud mit bestimmten Spielarten des Philosophierens ganz und gar nicht konform gehen will. Bekanntlich hält er mit einer Polemik am erkenntnistheoretischen Anarchismus, demzufolge es keine Wahrheit gebe, ebensowenig zurück wie am „Als-ob"-Philosophen und Nietzsche-Interpreten H. Vaihingen Dessen These über die Fiktionalität aller Erkenntnis, von der man aus pragmatischen Gründen gleichwohl annehmen müsse, „als ob" sie wahr sei (und die erwähntermaßen auch in A. Adlers Konzeption nachwirkt), sei schlicht und einfach ein philosophisches Hirngespinst und vom „Credo quia absurdum" nicht weit entfernt. 31 Der scharfe Ton, den Freud hier im Namen seines Wahrheitsrigorismus anschlägt, ist freilich dazu angetan, ein bestimmtes Problem eher zu kaschieren als zu erhellen. Und dieses Problem verweist zurück auf die Neubewertung der Verführungstheorie und die erwähnte These, im Unbewußten sei zwischen Wahrheit und Fiktion nicht zu unterscheiden, weil sich die beschriebenen Verführungsszenen des öfteren als Yetfuhrungphaniasien, mithin als Erfindungen herausgestellt hätten. Die Frage bleibt somit, an welchen Kriterien sich der Analytiker in der Praxis zu orientieren hat, um eine reale Verführung von einer phantasierten auseinanderzuhalten. Angesichts der Erfahrungen, daß „die in der Analyse konstruierten oder erinnerten Kindheitserlebnisse einmal unstreitig falsch sind, das andere Mal aber ebenso sicher richtig und in den meisten Fällen aus Wahrem und Falschem gemengt", wirkt Freuds Antwort, der Therapeut habe „Phantasie und Wirklichkeit gleichzustellen" und zunächst den Wahrheits29
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35. Vorlesung der Neuen Folge, Über eine Weltanschauung, STA 1, S. 597; vgl. oben S. 1 7 9 - 2 0 2 , insbesondere S. 1 9 9 - 2 0 2 . Vgl. oben S. 533 f. Vgl. Die Zukunft einer Illusion, STA 9, S. 162 f.; 35. Vorlesung der Neuen Folge, Über eine Weltanschauung, STA 1, S. 602 f.; vgl. oben S. 64 f. und 142 f.
1. Realität bei Freud
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gehalt der Aussagen zu vernachlässigen, nicht ganz überraschend. Denn die Phantasien besitzen eben auch „psychische Realität im Gegensatz zur materiellen und wir lernen allmählich verstehen, daß in der Welt der Neurosen die psychische Realität die maßgebende ist." Aufschlußreich ist freilich die Begründung für die Gleichsetzung von Realität und Phantasie. Sollten die Erzählungen über Verfuhrungen, aber auch über die Beobachtung des elterlichen Verkehrs und insbesondere über die Kastrationsandrohung nicht auf wirklichem Erleben beruht haben, dann sei zu fragen, ob die betreffende Person bei ihren Schilderungen nicht auf „Urphantasien" und damit einen „phylogenetische^] Besitz" zurückgegriffen habe: „Es scheint mir sehr wohl möglich, daß alles, was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, [...] in den Urzeiten der menschlichen Familie einmal Realität war und daß das phantasierende Kind einfach die Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt hat." 32 Unangesehen der Strittigkeit dieser These läßt sich in unserem Zusammenhang festhalten, daß mit ihr eine Komplikation des Realitätsbegriffs evident wird: daß nämlich die einmal gezogene Grenze zwischen neurotischem Phantasieren und tatsächlicher Realitätserkenntnis nun ebenso verschwommen ist wie die zwischen innerer und äußerer Realität.
1.3. Barrieren des Ichs bei der Realitätsprüfung Schränkt man die Diskussion des Komplexes Phantasie — Realität, innere — äußere Wirklichkeit auf den Umkreis der de facto nie preisgegebenen Verführungstheorie ein, bleibt nur der Schluß, daß Freud zu keiner definitiven Lösung gefunden hat und angesichts der nach wie vor äußerst kontrovers verlaufenden Debatten über tatsächliche oder phantasierte Sexualverfiihrungen wohl auch nicht finden hat können. In seinem späten Denken, vor allem im Strukturmodell von „Das Ich und das Es", unternimmt er gleichwohl den Versuch, einerseits die fließenden Grenzen sowohl innerhalb der seelischen Organisation als auch die der Innenwelt zur Außenwelt aufzuzeigen, andererseits aber gerade auf der potentiellen Erkennbarkeit der beiden differenten Realitäten zu insistieren. Als bekannt darf dabei gelten, daß das Unbewußte inzwischen durch den Terminus „Es" ersetzt wurde, da sich Unbewußtheit insofern nicht mehr als ausschließliches Charakteristikum der ichfremden Seelen-„Provinzen" definieren ließ, als sich das Ich teilweise als unbewußt enthüllte. Die Funktion der Realitätsprüfung,
32
Vgl. 23. Vorlesung, Die Wege der Symptombildung, STA 1, S. 3 5 8 - 3 6 2 ; vgl. auch Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, STA 8, S. 209 f.
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die jetzt nicht mehr dem Bewußtsein bzw. Vorbewußten, sondern dem Ich zugeschrieben wird 33 , ist damit von vornherein eine problematische. Freuds Dekonstruktion des Ichs, welche aus einer souverän gedachten Instanz eine sehr abhängige, aus dem „Herrn im eigenen Hause" einen Diener werden läßt, erfolgt in mehreren Schritten. Unter den drei von ihm genannten Abhängigkeiten verweist die erste zurück auf die oben angesprochenen, in einer phylogenetischen Wirklichkeit wurzelnden „Urphantasien", welche die Scheide „innen-außen" als höchst porös erscheinen ließen. Freud sieht sich nämlich gezwungen, eine eigene seelische Zone zu supponieren, in der ursprünglich äußere Realität in innere umgesetzt wird: das Uber-Ich, das in der individualgeschichtlichen Wiederholung des Ödipuskomplexes ausgerechnet jene Tabus verinnerlicht und über deren Einhaltung wacht, die in der Stammesgeschichte real durchbrochen wurden. Dabei, d. h. bei der ontogenetischen Uberwindung des ödipalen Konflikts, werden die mit libidinösen und aggressiven Triebkomponenten besetzten äußeren „Objekte", daran darf sehr verkürzt erinnert werden, aufgegeben und durch Identifizierungen mit ihnen substituiert, wobei die Ahnenreihe über Eltern, Imagines, Traditionen bis hin zu ihren phylogenetischen Vorbildern reicht. Die inhaltliche Konkretisierung des Gewissens steht also in der „archaischen Erbschaft" einer ödipalen Grundgeschichte und in dieser teils unbewußten Genealogie tritt es dem Ich wie eine fremde, gebieterische Macht entgegen: Das Über-Ich spielt für das Ich „die Rolle einer Aussenwelt [...], obwohl es ein Stück Innenwelt geworden ist." 34 Der Nachweis der unbewußten Anteile dieser zensierenden Instanz, die in ihrer Beobachtungsfunktion geradezu „hypermoralisch" und grausam werden kann, ist nach Freud besonders gut zu erbringen bei den Symptombildern der Zwangsneurose und der Melancholie. Das Es, um an der zweiten Abhängigkeit des Ichs zu streifen, meint in einem nicht näher definierten Sinn zunächst jene unbekannten Mächte, von denen wir „gelebt" werden: „ ,Es hat mich durchzuckt', sagt man; ,es war etwas in mir, was in diesem Augenblick stärker war als ich.', O était plus fort que moi. '"3S Vor allem aber bildet das Es jenes große Triebreservoir des menschlichen Organismus, von dem das Ich seine Energien bezieht, indem es sich dem Es selbst noch als Triebobjekt aufdrängt. Genetisch betrachtet, so Freud, hat sich das Ich aus dem Es als ein „besonders differenzierter Anteil" herausentwickelt, wodurch es diesem wie eine „Fassade" aufsitzt, genauer gesagt: „Das Ich ist der durch den direkten Einfluß der Außenwelt unter Vermittlung von W-BW [WahrnehmungBewußtsein] veränderte Teil des Es, gewissermaßen eine Fortsetzung der Ober33
34
35
Vgl. etwa Das Ich und das Es, STA 3, S. 292 ff. und 296, Anmerkung 2; Das Unbewußte, STA 3, S. 147; Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre, STA 3, S. 189 f. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 137; vgl. im Detail Das Ich und das Es, STA 3, S. 2 9 6 - 3 0 6 und 3 1 5 - 3 2 5 . Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 287.
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flächendifferenzierung."36 Der Erhenntnis^ugang zum Es hat sich gegenüber dem Unbewußten der Metapsychologie von 1915 schon insofern relativiert, als das Es sehr stark als biologisches Substrat bzw. eben als chaotischer Triebkessel zur Diskussion steht und überdies der kardinale Begriff der trieblichen „Vorstellungsrepräsentanz" nicht mehr aufgenommen wird. Dadurch freilich, daß Freud unter einer dynamischen Perspektive die alte Differenz zwischen dem großen und weitgehend unbestimmten Kreis des Unbewußten und dem spezifischen des Verdrängten (das durch den Widerstand des Ichs bzw. die Zensur des UberIchs37 selbst produziert wird) erneuert und damit das Verdrängte als potentiell rekonstruierbar bestimmt (selbst wenn die analytische Arbeit durch die teilweise Unbewußtheit von Ich und Uber-Ich erschwert ist), sowie auch dadurch, daß Funktionsweisen und Eigenschaften des früheren Unbewußten (Primärprozeß, Verdichtung, Zeitlosigkeit usw.) in das neue Strukturmodell übernommen werden, zählt die Durchdringung einer angeblichen „terra incognita" (Nietzsche38) nach wie vor, wenn auch in eingeschränkterem Maße, zu einer elementaren Voraussetzung von Psychoanalyse und Psychotherapie. Die (noch näher zu thematisierende) Abhängigkeit des Ichs von der Außenwelt schließlich einkalkuliert, findet Freud in der 31. Vorlesung zu seinem vielzitierten Resümee: „Ein Sprichwort warnt davor, gleichzeitig zwei Herren zu dienen. Das arme Ich hat es noch schwerer, es dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherrn sind die Außenwelt, das Über-Ich und das Es."39 Der einmal erkannten Heteronomie der Ich-Organisation trägt der Gedanke Rechnung, daß das Ich „in sich gespalten" ^ ist: Das Es bricht in sein Territorium ein, das Uber-Ich sondert sich von ihm ab und nimmt, ebenso wie das Es, das Ich zum Objekt. Diese Zersplitterung des Ichs ist nach Freud ein unvermeidlicher Entwicklungsvorgang, der freilich auch die Basis tiefgreifender Persönlichkeitsstörungen bilden kann. Am Phänomen des Fetischismus lasse sich etwa demonstrieren, daß hier eine Grundfunktion abhanden gekommen sei, die ansonsten der Selbstentfremdung des Seelenlebens schlechterdings entgegenwirke: die „synthetische Funktion des Ichs"41. Insbesondere gegenüber dem unorgani-
36 37
38 39 40
41
Vgl. Das Ich und das Es, STA 3, S. 293 und 305; Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 287. Vgl. Das Ich und das Es, STA 3, S. 286 f.; 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 507. Nachlaß November 1882-Februar 1883, 5 [31], KSA 10, S. 225. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 514. Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 107 (H. d. V.); 31. Vorlesung, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 497. Die Ichspaltung im Abwehrvorgang, STA 3, S. 392 (H. d. V.); vgl. Fetischismus, STA 3, S. 386 ff.
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sierten Es, das keinen „Gesamtwillen" aufbringe, in dem gegensätzliche Strömungen nebeneinander existierten, zeichne sich das Ich durch sein „Streben nach Vereinheitlichung, nach Synthese" aus, und an dieser Tendenz hat nach Freud auch die therapeutische Arbeit anzusetzen: „Der neurotisch Kranke bringt uns ein zerrissenes, durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben entgegen, und während wir daran analysieren, die Widerstände beseitigen, wächst dieses Seelenleben zusammen, fügt die große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die Triebregungen ein, die bisher von ihm abgespalten und abseits gebunden waren." 42 Unter genetischen und strukturellen Gesichtspunkten erweist sich das Ich der Psychoanalyse somit in einer eigentümlichen Doppelrolle: Es ist Instanz der Verdrängung und der Synthese, der Verkenntnis und Erkenntnis, das Ich ist gespalten und Einheit, unbewußt und bewußt, sich selbst entfremdet und bei sich. 43
1.4. Aspekte der Erkenntnis- und Urteilstheorie Die Abhängigkeit des Systems Wahrnehmung/Bewußtsein bzw. des äquivoken Ichs von der äußeren Realität führt Freud zwangsläufig zur Frage, auf welchen Entwicklungswegen und mit welchen Mitteln das Erkenntnissubjekt die mehrfach eingeforderte Übereinstimmung mit dem, „was außerhalb von uns, unabhängig von uns besteht", zu erreichen trachtet, aber auch, auf welche Abwege es verfällt, um eine solche Korrespondenz gerade zu unterminieren. Da sich die psychoanalytische Erkenntnistheorie und die Urteilstheorie im speziellen aus einem Konglomerat von biologischen, physiologischen, hirnanatomischen, sensomotorischen, psychologischen und philosophischen Elementen zusammensetzt, hat sich die folgende Chronologie auf einige entscheidende Grundüberlegungen zu beschränken. In den 1911 publizierten „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens" nimmt Freud zunächst Gedanken aus dem frühen 42
43
Wege der psychoanalytischen Therapie, STA Egb., S. 243; vgl. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 511 und 513; Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 288; Hemmung, Symptom und Angst, STA 6, S. 242 f. Diese Gedoppeltheit des Ichs legt Analogien zu Fichte nahe, bei dem das Ich ein ihm selbst „Widerstehendes", ein Nicht-Ich oder Anderes des Ichs gerade setzt, um sich über diese Spaltung als Ich zu konstituieren, wobei Fichtes Wissenschaftslehre - wie H. und G. Böhme (Das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 128 ff.) zu zeigen versuchen — ihrerseits wiederum von Freuds Analyse des primären Narzißmus bzw. des „ozeanischen Gefühls" her deutbar ist. Die vereinheitlichende Funktion des psychoanalytischen Ichs läßt entfernt auch an Kants synthetische Tätigkeit des Ichs denken, welche freilich — oder gerade deswegen — als nicht gespalten begriffen ist und außerdem einen transzendentalen, nicht — wie bei Freud - genetischen Ansatz begründet. Zu Freuds „gespaltenem" Ich vgl. die Kritik von M. Kaiser-El-Safti, Der Nachdenker, a. a. O., S. 47 ff.
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„Entwurf" und vor allem der „Traumdeutung" auf. Demnach stören die inneren Körperbedürfnisse (v. a. Hunger) bzw. „die Not des Lebens" die ursprüngliche Tendenz des seelischen ,^Apparats", sich reizlos zu erhalten. Die damit verbundene innere Erregung sucht sich deshalb durch eine motorische Abfuhr (Schreien, Zappeln beim Säugling) Entlastung zu verschaffen, ohne Erfolg freilich, denn die inneren Bedürfnisse entsprechen nicht einer momentanen, sondern einer „kontinuierlich wirkenden Kraft". Erst mit dem Befriedigungserlebnis tritt eine Wende ein, welche die innere Reizspannung aufhebt. Dieses Erlebnis geht nach Freud einher mit einer gewissen Wahrnehmung bestimmter Objekte (ζ. B. Nahrungsgegenständen, Mutterbrust usw.), die von nun an als Erinnerungsbild mit der „Gedächtnisspur der Bedürfniserregung" assoziiert bleiben. Ab diesem Zeitpunkt ist es dem Individuum möglich, ein neu auftretendes Bedürfnis mit dem Erinnerungsbild der ersten Befriedigung zu verquicken („Wahrnehmungsidentität") und es in Form einer halluzinatorischen Wunscherfiillung zu stillen. Das tatsächliche Ausbleiben der Befriedigung bei anhaltendem Bedürfnis zählt freilich zu den bitteren Erfahrungen des Lebens und nötigt die „primitive Denktätigkeit" in der Folge zu der entscheidenden Modifikation, daß die Vorstellung einer realen Außenwelt und ihre mögliche Veränderung für die tatsächliche Befriedigung/Nichtbefriedigung maßgeblich sind: „Damit war ein neues Prinzip der seelischen Tätigkeit eingeführt; es wurde nicht mehr vorgestellt, was angenehm, sondern was real war, auch wenn es unangenehm sein sollte. Diese Einsetzung des Realitätsprinyips erwies sich als folgenschwerer Schritt."44 Folgenschwer, weil der gewachsene Stellenwert der äußeren Realität auf der einen Seite eine Reihe von Anpassungsleistungen der Psyche erforderte, die man mit Freud wie folgt zusammenfassen kann: erhöhte Konzentration auf die der Außenwelt zugewendeten Sinnesorgane und auf das nicht mehr ausschließlich auf innere Lust- und Unlustprozesse beschränkte Bewußtsein-, Entwicklung der Funktion der Aufmerksamkeit, welche über ein periodisches Abtasten der Außenrealität die Daten sammelt, die später für ein unaufschiebbares inneres Bedürfnis von Relevanz sind; damit die Installation eines Systems von Merkern bzw. eines Gedächtnisses, in dem die gefundenen Bewußtseinsdaten gespeichert werden; endlich die Herausbildung einer „unparteiische[n] Urteilsfillung", die zu entscheiden hat, „ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch, das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht". Gegenüber der ursprünglichen motorischen Abfuhr nach innen (Schreien usw.) tritt schließlich das auf Veränderung der Außenwelt gerichtete Handeln, wobei der Aufschub der Aktion durch das aus den Vorstellungen generierte Denken in einer Weise erfolgt, daß das Seelenleben nunmehr
44
Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 18; vgl. Die Traumdeutung, STA 2, S. 539 f.; Entwurf einer Psychologie, a. a. O., S. 402 ff.
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eine erhöhte Reizspannung erträgt („Denkidentität"; Überführung der „freien" Energie in „gebundene"). 45 Diesem mit Rücksicht auf die äußere Realität entwickelten Erkenntnispotential steht auf der anderen Seite, so Freud, freilich eine Denktätigkeit gegenüber, die vom Realitätsprinzip abgespalten und allein dem Lustprinzip unterworfen bleibt. Dies sei eben das Reich der Phantasien, jener oben angesprochene „Naturschutzpark", in dem etwa Tagträume, vor allem aber „neurotische" Denkmuster nach Belieben wuchern dürfen. Allerdings zieht Freud die Grenze zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip nicht starr, in Wirklichkeit bilde auch letzteres nur ein ermäßigtes Lustprinzip, da man die Befriedigung jetzt eben in der Außenwelt suche und eine momentan unsichere durch eine erst später erreichbare, dafür umso gewissere Lust ersetze.46 1915, in der Abhandlung „Triebe und Triebschicksale", wird das Vermögen, innere und äußere Realität auseinanderzuhalten, auf erste motorische Aktivitäten selbst zurückgeführt. Der Säugling, so Freud, erlebt nämlich die Differenz zwischen inneren und äußeren Reizen als ureigenste Erfahrung: Einerseits verspürt er Reize, von denen sich herausstellt, daß man sich ihnen durch „Muskelaktionen", mithin über den Weg der Flucht, entziehen kann, andererseits aber begegnet er inneren Reizen, die aufgrund ihres „konstant" drängenden Charakters einen solchen Fluchtversuch verunmöglichen. Das hilflose Wesen wird „so an der Wirksamkeit [... der] Muskeltätigkeit einen Anhaltspunkt gewonnen haben, um ein ^Außen' von einem ,Innen' zu unterscheiden."47 Zwei Jahre später, in der ,,Metapsychologische[n] Ergänzung zur Traumlehre", werden die beiden Gedankenstränge von 1911 und 1915 unter dem Aspekt des Bewußtseins als der Instanz der Realitätserkenntnis miteinander verbunden. Freud wiederholt zunächst das Argument, daß sich der Mißerfolg des halluzinatorischen Wunsches dann einzustellen pflegt, wenn die reale Befriedigung ausbleibt, sodaß die Realitätsprüfung wirkliche „Wahrnehmungen von noch so intensiv erinnerten Vorstellungen" zu trennen vermag. Gewisse Halluzinationen ignorieren indes diese allmählich gebildete Regel, indem sie das System Bewußtsein über den Weg einer Regression „nicht wie normal von außen, sondern von innen her" besetzen. Um die derart entstandene Durchmischung von Subjekt- und Objektwelt wieder rückgängig zu machen, entdeckt das Bewußtsein eben in bestimmten Muskelaktionen das maßgebliche Kriterium für die Abgrenzung eines „Außen" von einem „Innen": Gelingt es einer solchen Aktion, die Wahrnehmung zu tilgen, entstammt diese der äußeren Realität, im anderen Falle der inneren. Das Bewußt-
45
46 47
Vgl. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 19; Die Traumdeutung, STA 2, S. 569 ff. Vgl. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, STA 3, S. 21 f. Triebe und Triebschicksale, STA 3, S. 82 f.
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sein muß also „über eine motorische Innervation verfugen, durch welche festgestellt wird, ob die Wahrnehmung zum Verschwinden zu bringen ist oder sich resistent verhält. Nichts anderes als diese Einrichtung braucht die Realitätsprüfung zu sein."48 Im 1925 verfaßten Artikel „Die Verneinung" reflektiert Freud zunächst auf die psychologische Funktion des Urteilens, die seiner Auffassung nach darin besteht, einem Ding gute oder schlechte Eigenschaften zu- oder abzuerkennen. Die Urteilsbildung folgt hier primär dem Lust-Ich bzw. den ältesten oralen Triebregungen, die alles Gute sich einverleiben, „in sich" haben, alles Schlechte aber abstoßen, nach „außen" werfen möchten49, sodaß in einem weiteren Sinne die Bejahung dem „Eros" entspreche, die Verneinung aber dem „Destruktionstrieb". Die zweite Entscheidung, die das Urteil zu treffen habe, geht nach Freud über die Psychologie hinaus und berührt ein Interesse des — aus dem Lust-Ich selbst hervorgegangenen — „Real-Ichs": „Nun handelt es sich nicht mehr darum, ob etwas Wahrgenommenes (ein Ding) ins Ich aufgenommen werden soll oder nicht, sondern ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes auch in der Wahrnehmung (Realität) wiedergefunden werden kann. Es ist, wie man sieht, wieder eine Frage des Außen und Innen. Das Nichtreale, bloß Vorgestellte, Subjektive, ist nur innen; das andere, Reale, auch im Draußen vorhanden. In dieser Entwicklung ist die Rücksicht auf das Lustprinzip beiseite gesetzt worden." Da nach Freud alle Vorstellungen aus Wahrnehmungen stammen, „Wiederholungen derselben sind", entsteht der Gegensatz zwischen Subjektivem und Objektivem erst durch die Fähigkeit des Denkens, Wahrgenommenes durch „Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht." Realitätsprüfung in diesem Sinne meint dann weniger ein ursprüngliches Finden, sondern vor allem ein Wiederfinden der Objekte in der Wirklichkeit. Freilich sei die Reproduktion der Wahrnehmung in der Vorstellung sehr oft verzerrt, sodaß die Realitätsprüfung das Ausmaß der Verfälschungen zu kontrollieren habe. Im weiteren erneuert Freud seine These, das Urteilen setze über die Wahl der motorischen Aktion dem Denkaufschub ein Ende. Den Denkaufschub selbst betrachtet er als ein Testen und Abtasten der äußeren Realität am „sensorischen Ende des Apparats, bei den Sinneswahrnehmungen. Nach unserer Annahme ist ja die Wahrnehmung kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich schickt periodisch kleine Besetzungsmengen in das Wahrnehmungssystem, mittels deren es die äußeren Reize verkostet, um sich nach jedem solchen tastenden Vorstoß wieder zurückzuziehen."50
48 49
50
Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre, STA 3, S. 188 f. Freud nimmt diesen Gedanken in ähnlicher Form in Das Unbehagen in der Kultur (STA 9, S. 199 f.), und zwar bei der Diskussion über das „ozeanische Gefühl", nochmals auf. Vgl. Die Verneinung, STA 3, S. 374-377.
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Freud spielt damit auf einen Gedanken an, den er vor allem in „Jenseits des Lustprinzips" (1920) ausführlich diskutiert. Der Einfachheit halber, so die Argumentation, habe man sich den lebenden Organismus zunächst als „undifferenziertes Bläschen reizbarer Substanz" vorzustellen, dessen der Außenwelt zugekehrte Oberfläche durch ihre Lage selbst differenziert ist und der Reizaufnahme dient. Da eine solche Oberfläche infolge der unaufhörlich auf sie einwirkenden Außenreize aber der Gefahr ausgesetzt ist, von diesen gleichsam „erschlagen" zu werden, bilde der Rei%schut\ eine „beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme". Im Laufe der Entwicklung habe sich bei den höher entwikkelten Organismen die reizaufnehmende Schicht „längst in die Tiefe des Körperinnern zurückgezogen" und nur Anteile derselben seien an der Oberfläche zurückgeblieben: die Sinnesorgane, die einerseits Vorrichtungen gegen die Reizüberflutung enthalten, andererseits aber Fühlern vergleichbar sind, die „kleine Stichproben" der Außenwelt entnehmen, um sich dann mit einer bestimmten „verkosteten" Energiemenge wieder von ihr zurückzuziehen, wobei die Eindrücke gegebenenfalls in der Gedächtniskammer des Unbewußten abgespeichert werden. 51 Die besondere Bedeutung dieser empfindlichen Rindenschicht, des späteren Bewußtseins, liege aber darin, daß sie auch Reize von innen her empfange und das Bewußtsein mithin als Differenzierungs-"Apparat" zwischen Innen- und Außenwelt fungiere. 52 Freud hat sein Modell im wesentlichen in die drei Jahre später publizierte Schrift „Das Ich und das Es" mitübernommen, dabei freilich die bekannte (und nun auch mit sozialpsychologischen und -historischen Argumenten unterbaute) Korrektur angefügt, daß dem Ich die schwierige, von mehrerlei „Abhängigkeiten" beeinträchtigte Aufgabe der Realitätsprüfung zufällt. 53 In der 31. Vorlesung (1933) findet sich schließlich eine Art Resümee über das Verhältnis des Ichs Zur Außenwelt: Zu einer Charakteristik des eigentlichen Ichs, insofern es sich vom Es und vom Uber-Ich sondern läßt, gelangen wir am ehesten, wenn wir seine Beziehung zum äußersten oberflächlichen Stück des seelischen Apparats ins Auge fassen, das wir als das System W-BW bezeichnen. Dieses System ist der Außenwelt zugewendet, es vermittelt die Wahrnehmungen von ihr, in ihm entsteht während seiner Funktion das Phänomen des Bewußtseins. Es ist das Sinnesorgan des ganzen Apparats, empfänglich übrigens nicht nur für Erregungen, die von außen, sondern auch für solche, die aus dem Inneren des Seelenlebens herankommen. Die Auffassung bedarf kaum einer Rechtfertigung, daß das Ich jener Teil des Es ist, der durch die Nähe und den Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zur Reizaufnahme und zum Reizschutz eingerichtet, vergleichbar einer Rindenschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender Substanz umgibt. Die Beziehung zur Außenwelt ist für das Ich entscheidend geworden [...] In der Erfüllung 51
Vgl. oben S. 371 f.
52
Vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 236 ff. Vgl. Das Ich und das Es, STA 3, S. 321.
53
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dieser Funktion muß das Ich die Außenwelt beobachten, eine getreue Abbildung von ihr in den Erinnerungsspuren seiner Wahrnehmungen niederlegen, durch die Tätigkeit der Realitätsprüfung fernhalten, was an diesem Bild der Außenwelt Zutat aus inneren Erregungsquellen ist.54
1.5. Aporien der psychoanalytischen Konzeption Die Freudsche Theorie der Realität und Realitätsprüfung basiert auf einem genetischen Ansatz, der die Herausbildung der Erkenntnisfunktionen (Wahrnehmung, Gedächtnis, Bewußtsein, Denken, Urteilen) einer spezifisch psychoanalytischen Betrachtung unterzieht. Indem das Individuum auf den geschilderten Wegen das Innere mit dem Äußeren zu vergleichen lernt, sieht es sich allmählich in die Lage versetzt, das bloß Vorgestellte, Phantastische, tendenziell Neurotische von der äußeren, der „wirklichen" Wirklichkeit abzugrenzen und über diese Differenzierung eine Korrespondenz zwischen Subjekt- und Objektwelt zu erzielen. Dieser erkenntnistheoretische Leitgedanke sowie die ihm zugehörigen Einzelaspekte sind inzwischen unter diversen Blickwinkeln beleuchtet und teils auch kritisiert worden. 55 Beispielsweise hat sich Freuds Annahme, das Kind gewinne die ersten Anhaltspunkte zur Unterscheidung eines Außen von einem Innen durch motorische Aktivitäten (Möglichkeit versus Unmöglichkeit der Reizflucht) dadurch als fragwürdig erwiesen, daß sich „das Kind akustischen Reizen nicht immer zu entziehen vermag und daß es andererseits einen inneren Reiz durch die Sphinktermuskulatur aufheben kann." 56 An dieser Stelle sollen einige Argumentations figuren der klassischen Philosophie, insbesondere das Subjekt-Objekt-Problem und damit auch der Begriff der äußeren Realität mit dem psychoanalytischen Modell konfrontiert werden. Man mag einwenden, daß deren Bedeutung für die Psychoanalyse von untergeordnetem Interesse ist, da es in der Praxis ja um die Minimierung jener psychischen Lasten zu tun ist, die im wesentlichen eine innere Realität dem Individuum aufbürdet. So plausibel dieses pragmatische Verständnis aufs erste klingt, Freuds eigenen Ansprüchen wird es nicht gerecht. Nicht zufällig hat er sich in dem Zusammenhang immer wieder gegen Vorwürfe des Pansexualismus und im weiteren Sinne des Panpsychismus57 mit der Begründung zur Wehr gesetzt, gerade weil die Macht des Psychischen für die Ohnmacht des Leidenden verantwortlich 54 55
56
57
31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 512 f. Vgl. das diesbezügliche Themenheft der Psyche, 26. Jahrgang, Heft 11, Stuttgart 1972, S. 821 ff.; M. Kaiser-El-Safti, Der Nachdenker, a. a. O., S. 91 ff., hat auf den starken Einfluß von W. Jerusalem auf Freuds Urteilstheorie hingewiesen. Vgl. Hurvich, M., Zum Begriff der Realitätsprüfung, in: Psyche, 26. Jahrgang, Heft 11, Stuttgart 1972, S. 864 f. Vgl. oben S. 201 f.
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zeichne, gelte es, dieselbe in Richtung „Übereinstimmung" mit der äußeren Realität zu beschränken — was freilich Reflexionen voraussetzt, wie die äußere Realität überhaupt zu verstehen bzw. zu erkennen ist. Es wird sich alsbald zeigen, daß Nietzsches Philosophie (die natürlich bestimmten Elementen der psychoanalytischen Theorie nicht Rechnung trägt) am anderen Ufer der Erkenntnistheorie angesiedelt ist. In diesem Sinne bereiten Teile der folgenden Freud-kritischen Erörterungen den Ubergang zu Nietzsche vor, bilden nur eine Art Brücke, die dieser selbst noch zum Einsturz gebracht haben wollte. Die vornehmlich im Anschluß an Kant und Autoren der nachkantschen Tradition vorgetragenen 58 , hier auf kurze Thesen beschränkten Überlegungen verweisen auf vier Problemkreise: a) Zum Geltungsansprucb von Urteilen. Einsichten über das Zustandekommen der Urteils funktion, wie sie die Psychoanalyse an den Tag fördert, tangieren noch nicht den Umstand, daß mit jedem Urteil auch ein Anspruch auf Wahrheit bzw. über die zwischen Subjekt und Prädikat eingeschobene Kopula ein Seinsanspruch erhoben wird („die Rose ist rot"). Auch Freud macht eine derartige Implikation, wenn er der „unparteiischen Urteilsfällung" die Aufgabe überantwortet, mittels eines Vergleichs mit der Wirklichkeit zu entscheiden, „ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch, das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht". Die Voraussetzung eines solchen Korrespondenzaktes kann freilich darin erblickt werden, daß die „logischen Verknüpfungsstrukturen der Urteile zugleich die Verknüpfungsstrukturen des Seienden selbst sind" und die Urteile auch untereinander nicht in Widerspruch stehen (Kohärenz). Gegenüber Aristoteles' ontologischer Fundierung der Urteilstheorie hat Kant die Urteilsformen auf das „Ich denke" bezogen und geschlossen, daß alles Seiende, sofern es objektiv ist, den Urteilsformen gemäß verknüpft ist und daher die „Synthesis, welche in den Urteilsformen herrscht, zugleich Synthesis der allgemeinsten Begriffe ist. So lassen sich die allgemeinsten Begriffe aus den Urteilsformen ableiten." Die Grundidee, der Bezug der Urteilsformen auf das „Ich denke" rechtfertige somit die universelle Gültigkeit der „Kategorien", ist ihrerseits auf den Widerspruch von Exponenten der Sprechakttheorie (Apel, Habermas) gestoßen, die das monologische „Ich denke" in die dialogische Situation der Kommunikationsgemeinschaft transformiert wissen wollen. 59 Die damit anhebenden weiteren Verwicklungen tun hier nichts zur Sache, entscheidend ist, daß die Psychoanalyse, wie etwa auch Rapaport 60 bemängelt, formale Elemente der Urteilstheorie vermissen läßt und dadurch den Anspruch, das Urteil habe über Wahr58
59 60
Die Darstellung folgt im wesentlichen H.-D. Kleins differenziertem „Solipsismus" und M. Kaiser-El-Saftis Kritik an der Psychoanalyse. Vgl. Klein, H.-D., Metaphysik. Eine Einführung, Wien 1984, S. 1 4 - 2 2 . Vgl. den Literaturbericht von Hurvich, M., Zum Begriff der Realitätsprüfung, a. a. O., S. 859 f.
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heit oder Falschheit einer Aussage 211 entscheiden, nur zum vagen Postulat erhebt. b) Wahrnehmung und Vorstellung (Phantasie, Einbildungskraft). Freud hat den Begriff der „Wahrnehmung" mit energetischem Wortschatz umschrieben und in der Regel als rezeptives Vermögen des Systems Bewußtsein verstanden, das über die Sinnesorgane zur Aufnahme spezifischer äußerer Erregungen befähigt, aber auch für die unspezifischeren inneren Triebreize empfänglich ist. Von der „unmittelbaren" Wahrnehmung unterscheidet er die „Vorstellung" in mehrfacher Hinsicht, wobei hier nur drei Faktoren zu erwähnen sind. Einmal wird die Vorstellung ganz generell als intellektuelle Wiederholung der im Subjekt abgebildeten äußeren Wahrnehmungen begriffen, dann als Reproduktion von „Erinnerungsbildern" äußerer Objekte, die ursprünglich an ein „Befriedigungserlebnis" geknüpft waren, und schließlich, damit direkt zusammenhängend, als ausufernde Produktion von Phantasmen (halluzinatorische Wunscherfüllungen). Die libidinose Uber- bzw. Alleinbesetzung der Objektbilder durch Wunschphantasien führt zwangsläufig zu einer Dysfunktionalität der Realitätsprüfung, weil das „Wiederfinden" von Objekten in der äußeren Realität bzw. die „Übereinstimmung" von subjektiver Vorstellung und faktischer Wirklichkeit zu einer höchst marginalen Angelegenheit wird. Damit sind die Bahnen für die Entstehung einer Neurose vorgezeichnet, die Freud im Detail rekonstruiert. Nun kann sich eine genetische Theorie der Realität allemal mit der Erhellung von lust- bzw. unlustgesteuerten Entwicklungsvorgängen der menschlichen Erkenntnis begnügen. Dadurch freilich, daß die Phantasie primär unter dem Aspekt neurotischer Zerrbilder analysiert und dabei in bloßen Gegensatz zu einer adäquaten Vorstellung von der äußeren Wirklichkeit gebracht wird, ist das alte Problem natürlich nicht aus der Welt geschafft, wie Aussagen über die Realität dennoch objektive Geltung zugesprochen werden kann. Kant geht davon aus, daß die produktive „Einbildungskraft" bereits bei (!) der Erzeugung von Wahrnehmung tätig ist und im weiteren auch die Fähigkeit zu einer mehr oder minder getreuen Reproduktion der Eindrücke beinhaltet, andererseits aber „auf höchster Ebene Wirklichkeit zu antizipieren vermag", da sie ein in den „Tiefen der menschlichen Seele" verankertes Verfahren (das „Schema") bereitstellt, das die Produktion von Bildern unabhängig von der Anschauung konkreter Gegenstände erlaubt. Die produktive Einbildungskraft leitet auch und gerade die synthetische Funktion des Ichs, welche dadurch, daß sie nunmehr die obersten Verstandesbegriffe (Kategorien, denen ihrerseits die logischen Urteilsformen entsprechen) an die Mannigfaltigkeit der empirisch gegebenen Anschauungen heranträgt, menschliche Erkenntnis zuallererst möglich und objektivierbar macht.61 61
Vgl. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Band 3, Β 151 f. und Β 179 ff.; Kaiser-El-Safü, M., Der Nachdenket, a. a. O., S. 127-130.
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c) Widerspiegelungstheorie und physiologische Bestimmung des Bewußtseins. Wenn Freud in einer oben angeführten Stelle behauptet, das „Nichtreale, bloß Vorgestellte, Subjektive, ist nur innen; das andere, Reale, auch im Draußen vorhanden", so bleibt natürlich die altbekannte und leidige Frage, wie das Erkenntnissubjekt zu einem Objekt gelangt. Die Widerspiegelungs- oder Abbildtheorie, an die Freud in leicht unterschiedlicher Akzentuierung mehrmals anschließt, besagt in seinen Worten, daß das Ich durch Beobachtung der Außenwelt eine „getreue Abbildung" derselben in den Erinnerungsspuren seiner Wahrnehmungen vornimmt, daß die Innenwelt die Außenwelt mithin „als ihr Abbild" vertritt bzw. die Außenwelt „in der Innenwelt unseres Denkens irgendwie zuverlässig reproduziert oder gespiegelt" wird. Die Realitätsprüfung habe dann in einem Schrittum-Schritt-Vergleich zu prüfen, was am Bild der Außenwelt subjektives Beiwerk und damit Quelle der Verfälschung sei, welche gegebenenfalls zu korrigieren ist. 62 Dieser korrespondenztheoretische Gedanke impliziert, daß Subjekt und Objekt unabhängig voneinander existieren und wie zwei Gegenstände im Raum verglichen werden könnten. Allein, wie sollte ein solcher Vergleich stattfinden, wenn nicht wieder über das Bewußtsein selbst bzw. eben dadurch, daß ein bestimmtes Urteil in Beziehung zu anderen Bewußtseinsakten (ζ. B. Wahrnehmungsurteilen) gesetzt wird? In diesem Zusammenhang sind auch Freuds räumliche Seelenmetaphern, seine Maschinensprache (der psychische „Apparat"), die Definition des Ichs als eines „körperliche[n ...] Oberflächenwesenfs]", das man am ehesten mit dem „Gehirnmännchen" 63 der Anatomen identifizieren könne, und die Charakteristik des Bewußtseins als einer hirnanatomisch lokalisierbaren „Rindenschicht" insofern als mißverständlich zu bezeichnen, als zwar alles am Bewußtsein physiologisch bestimmbar ist, das Bewußtsein selbst aber nicht als physiologischer Gegenstand bestimmt werden kann. Leibniz hat das Problem im berühmten Mühlengleichnis angesprochen: „Nehmen wir einmal an, es gäbe eine Maschine, die so eingerichtet wäre, daß sie Gedanken, Empfindungen und Perzeptionen hervorbrächte, so würde man sich dieselbe gewiß dermaßen proportional-vergrößert vorstellen können, daß man in sie hineinzutreten vermöchte, wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, wird man bei ihrer inneren Besichtigung nichts weiter finden als einzelne Stücke, die einander stoßen — und niemals etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre." 64 H.-D. Klein expliziert im einzelnen, daß alle Versuche des Physikalismus, die Begriffe Wahr-
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Vgl. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 512 f.; Neurose und Psychose, STA 3, S. 334 f.; Abriss der Psychoanalyse, G W 17, S. 127. Das Ich und das Es, STA 3, S. 294; vgl. Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 234 ff.; zur Kritik an Freuds räumlichen Seelenmetaphern vgl. Kaiser-El-Safti, M., Der Nachdenker, a. a. O., S. 52 ff. Leibniz, G. W, Monadologie, neu übersetzt, eingeleitet und erläutert von H. Glockner, Stuttgart 1970, S. 14 f. , ,
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nehmung und Bewußtsein mit elektromagnetischen und hirnphysiologischen Modellen zu rechtfertigen, als gescheitert zu betrachten sind. 6 5 d) Erkenntnis der äußeren Realität. Versteht man unter Transzendentalphilosophie im weitesten Sinn die Widerlegung jedes naiven Realismus durch die Einsicht, daß Wirklichkeit nie im Naturzustand vorliegt, sondern immer schon über sprachlogisch vermittelte Bewußtseinsstrukturen einzuholen, mithin zu interpretieren ist, so bleibt nur der Schluß, daß die psychoanalytische Erkenntnistheorie einem durch den Physikalismus angeblich beglaubigten gegenkantschen Realitätsmodell anhängt. Dabei darf kaum irritieren, daß Freud 1915 gerade mit Hinweis auf K a n t en passant festhält, die äußere Wirklichkeit stelle sich nur so dar, wie sie uns erscheint, nicht wie sie „an sich" ist. Im großen und ganzen hat er in Theorie und Praxis an der Durchdringung der Realität als solcher nicht gezweifelt. Zwar betont er unter Zuhilfenahme eines energetischen Vokabulars zeitweise die Aktivitäten im Erkenntnisvorgang. 6 6 Letztlich aber macht Kants Gedanke, daß gerade die sprachlogisch rekonstruierbare Subjektivität des menschlichen Erkennens dessen Objektivität sicherstellt, einem Szientismus Platz, bei dem Subjektivität vornehmlich als triebbedingter und daher tendenziell neurotischer Verkenntnisgrund zur Diskussion steht. D a s Ich müsse eben, so die bereits zitierte Überlegung, „die Außenwelt beobachten, eine getreue Abbildung von ihr in den Erinnerungsspuren seiner Wahrnehmungen niederlegen, durch die Tätigkeit der Realitätsprüfung fernhalten, was an diesem Bild der Außenwelt Zutat aus inneren Erregungsquellen ist." 6 7
2. Realität bei Nietzsche 2.1. Die veränderte Ausgangslage Während Freud der Gefahr des Abgleitens in einen Subjektivismus dadurch zu begegnen sucht, daß er sich das Objektivitätsideal der Naturwissenschaften zueigen macht und letztlich in Theorie und psychoanalytischer Praxis 6 8 auf der Möglichkeit „zutatenfreier" Erkenntis insistiert, glaubt Nietzsche im Gegenzug, allen methodischen Asketismus überhaupt verabschieden zu können. Demnach habe man in der Geschichte des religiösen, metaphysischen und wissenschaftli-
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Vgl. Klein, H.-D., Vernunft und Wirklichkeit, a.a.O., Band 1, S. 15ff.; Ders., Metaphysik, a. a. O., S. 9 ff. Vgl. Die Verneinung, STA 3, S. 376; Jenseits des Lustprinzips, STA 3, S. 237. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 513 (H. d. V.). Vgl. oben S. 536-538.
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chen Denkens den Umstand gar nicht oder nur höchst unzureichend wahrhaben wollen, daß es sich bei „Erkenntnis" schlechterdings nicht um einen Zweck an sich, einen Seins- bzw. Wahrheitsanspruch oder eine „reaktive" Übereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt handle, sondern einzig und allein um jene gestalterischen, von innen her „angreifenden" Auslegungskräfte, mit denen das Subjekt einer Vielheit von Realitäten Herr werde. Mit anderen Worten: Erkenntnis sei bloßes Mittel zur mannigfaltigen Steigerung von Machtkomplexen. Nicht zu übersehen ist, daß sowohl Freud als auch Nietzsche bei der Rechtfertigung bzw. Kritik des Realitäts- und Wahrheitsbegriffs mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ersterer steht vor dem Problem, die subjektiven, potentiell neurotischen Bedingungen von Erkenntnis, und das heißt auch: die psychologisch sozusagen vorbelasteten Erkenntnisfunktionen (Wahrnehmung, Urteilen usw.) als dennoch korrespondenztauglich mit einer als unumstößlich gedachten äußeren Realität zu erweisen, was ihn nicht zufällig in Richtung Widerspiegelungstheorie drängt. Auf der anderen Seite gerät Nietzsche, der die Realitätsgrenzen ebenso verschwimmen läßt wie er den Wahrheitsbegriff für obsolet erklärt, in das Dilemma, daß die ganze Konzeption auf einen grandiosen Subjektivismus hinauszulaufen scheint. Der Knotenpunkt von Nietzsches Philosophie, der für die Kalamitäten des Realitätsbegriffs wohl in erster Linie verantwortlich zeichnet, darf nochmals vergegenwärtigt werden. Er liegt in der „Doppelnatur" jenes Willens zur Macht, der gleichermaßen als Regulativ der Triebe und der Interpretation behauptet ist. Dadurch entstehen Überschneidungen, die Freud zumindest dem methodischen Anspruch nach gerade zu vermeiden trachtet: etwa die zwischen Wißtrieb und Wissenschaft, subjektiver Entstehung und objektiver Geltung von Aussagen, psychischer und materieller Realität, Fiktion und Wahrheit. 69 Nun gilt es in Rechnung zu stellen, daß Freud zuallererst an konkreten psychoanalytischen Erfahrungen (prototypisches Beispiel: an phantasierten versus realen Verführungsszenen) ansetzt und späterhin weder die Modelle der Seelenzergliederung noch die Kulturtheorie von diesem spezifischen Ausgangspunkt abkoppelt, während es Nietzsche vornehmlich um eine Pathologie der abendländischen Ideengeschichte zu tun ist. Zu einem Teil wenigstens erklärt sich daraus, daß Nietzsche insbesondere den Problemkreis „Fiktion und Wahrheit" genereller, „philosophischer" faßt denn als bloße Dichotomie zwischen neurotischem Phantasieren und tatsächlicher Übereinstimmung mit der äußeren Realität bzw. zwischen rudimentärem animistischen und reifem wissenschaftlichen Denken. Nicht unabhängig davon ist zu berücksichtigen, daß Freud die Wahrheit der psychoanalytischen Theorie stets von neuem zu beweisen sucht, was ihn, um der Opposition der empirischen Gelehrtenwelt gerecht zu werden, in die Bahnen des herrschen69
Vgl. oben S. 220-222, 3 4 0 - 3 4 6 und 666-669.
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den Positivismus zwingt, während Nietzsche von vornherein die Position des kompromißlosen Kritikers bezieht. 70 Demgemäß fallen dessen Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Realität auch stark negativ aus, d. h. sie legen zunächst alles Gewicht darauf, wie Wirklichkeit nicht zu begreifen sei: nämlich als Verleugnung des Willens zur Macht als Triebregulativ (ein Aspekt, den Freud im Rahmen seiner Trieb- und Verdrängungstheorie einer originären Beleuchtung unterzieht und eben in Kontrast zu realitätsadäquater, wahrer Erkenntnis setzt) sowie als Verleugnung des Interpretationsregulativs (ein Aspekt, der Freud unzugänglich bleibt). Die gemeinsame Klammer dieser Realitätsverleugnung bildet nach Nietzsche aber gerade der „moralische" Glaube an die Wahrheit (!), sodaß derselbe — und nicht die Betonung des fiktiven Charakters aller menschlichen Erkenntnis — als symptomatische Verirrung des Geistes zu bezeichnen sei (ein Ansatz, dem Freud mit Blick auf die „Als-ob"-Philosophie Vaihingers keinerlei Sympathien abgewinnen kann). Die dominierende Vernunftgeschichte des Abendlandes erscheint dergestalt als lebens- und realitätsverneinende Gleichzeitigkeitsgeschichte von Triebasketismus (Geschichte der Verdrängung der Leidenschaften, der Sinnlichkeit und des Leibes zugunsten imaginierter, wahrer „Hinterwelten") und Wertasketismus (Geschichte von der platonischen Metaphysik bis zum Wahrheitsglauben der modernen Wissenschaft, vom christlichen Wahrhaftigkeitswillen bis zu den „fatalen" Folgen im extremen Nihilismus). 71 Positive Bestimmungen des Realitätsbegriffs lassen sich schon insofern schwerer festmachen, als Nietzsche nicht eine oder „die" zu erkennende Wirklichkeit ins Visier nimmt, sondern, durchaus auch dem Historismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet, eine Vielfalt von je immer perspektivisch gefärbten Wirklichkeiten. Namentlich sperrt sich seine Philosophie gegen den Gedanken, als ob wahre Erkenntnis als „Bewußtwerden von etwas" oder gar als inneres Abbild einer starren äußeren Realität zu definieren sei. Die Akzentuierung auf den unhintergehbaren Produktions- und Verfalschungsprozeß der Erkenntnis fuhrt nicht nur zu einer allgemeinen Asthetisierung des Realitätsbegriffs, sondern befördert auch therapeutische Maximen der Art, das Individuum habe sich gegen die „Gefahr" der Selbsterkenntnis am besten dadurch zu schützen, daß es sich willentlich eine „Schelmenkappe" überstülpt. 72 Von eigentlichem Interesse ist indes die zugrundeliegende, gegen den Wahrheitsglauben explizit in Anschlag gebrachte Theorie des Scheins bzw. unendlicher Scheinbarkeiten als der „einzigen" Realität, eine Theorie, die sukzessive Erörterungen der Frage vonnöten
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Vgl. oben S. 140-142 und 340-342. Vgl. oben S. 223-227, 268-272, 342-345, 468-478, 4 8 6 - 4 8 9 und 594-600. Vgl. oben S. 351—357, 574 f. und 599-601; zur allgemeinsten Bestimmung und Problematik des Realitätsprinzips als „amor fati" vgl. oben S. 552 — 554 und 574.
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macht, ob es Nietzsche letztlich gelingt, den immer wieder laut gewordenen Vorwurf eines überbordenden Subjektivismus, wenn nicht Irrationalismus aus dem Felde zu schlagen.
2.2. Wer oder was denkt? Der Versuch zur Transformation aller bisher für wahr gehaltenen Welten in bloß scheinbare wählt sich insbesondere die Bewußtseinsphilosophie zum Angriffspunkt. Um dieses mit Freud grundsätzlich geteilte, in seinen schließlichen Konsequenzen aber doch so heterogene Leitmotiv zentriert sich eine Philosophie des Unbewußten, deren Bausteine man schlagwortartig folgendermaßen zusammenfassen kann: Das Unbewußte ist zunächst gedacht als ein durch den „Sokratismus" verdecktes „schöpferisches" Prinzip des Lebens, aber etwa auch als der durch gesellschaftliche Sprachkonventionen übertünchte „mörderische" Untergrund des menschlichen Bewußtseins, in der mittleren Periode dann begriffen als Spiel und Widerspiel primärer physiologischer Triebkräfte, denen eine bloß sekundäre Welt des bewußten Denkens, Fühlens und Handelns gegenübersteht, und schließlich bestimmt als „Selbst" bzw. als jene „Vernunft des Leibes", welche in Synthese mit der Willensphilosophie das Herzstück der ganzen Konzeption bildet. Nietzsche trägt überdies dem Aspekt der Verdrängung massiv Rechnung, ohne allerdings die von Freud sowohl theoretisch wie therapeutisch für fundamental gehaltene Grenze zwischen dem weiteren, teils vagen Kreis des Unbewußten und dem engeren, analytisch zugänglicheren des Verdrängten zu ziehen. Damit ist bereits eine Bruchstelle zur psychoanalytischen Theorie des Unbewußten angesprochen. Trotz vereinzelter gegenteiliger Behauptungen laufen Nietzsches Aussagen nämlich darauf hinaus, daß eine tatsächliche Erkenntnis der inneren Realität dem Subjekt verunmöglicht ist. 73 Angesichts des befremdlichen „Schönseelenthums"74 in der Geschichte des religiösen und metaphysischen Denkens würden sich zwar negative Kriterien erschließen lassen, was Selbsterkenntnis unter keinen Umständen bedeute, daraus folge aber noch nicht, daß der Komplex der inneren Welt schon positiv bestimmbar oder „an sich" ergründbar wäre. Bezeichnend eine Überlegung aus der „Morgenröthe", die mit einer bereits zitierten Reflexion Freuds aus der Schrift „Das Unbewußte" direkt kontrastiert werden kann. Während Freud in einer Revision der Kantschen Auffassung auf einer potentiellen Erkennbarkeit (und nicht bloß Denkbarkeit) des Unbewußten (Verdrängten) besteht und in einer geistesgeschichtlichen Pionier73 74
Vgl. oben S. 5 4 7 - 5 5 0 und 563-570. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [3η, KSA 13, S. 236.
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leistung dessen spezifische Sprache dechiffriert75, bescheidet sich Nietzsche in dem ebenfalls auf Kant anspielenden Aphorismus „Die unbekannte Welt des Subjects'" mit der Feststellung, man müsse sich endlich vom Vorurteil eines Wissens über sich selbst freimachen: „Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind wie sie uns erscheinen, — nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso!"76 Diese Position bleibt auch für die Spätphilosophie konstitutiv und erfährt eine wesentliche Begründung bekanntlich darin, daß in der „Hierarchie" des Organismus alle leiblichen und psychischen Kräfte stets neue Präferenzen in Hinsicht auf die Steigerung des Lebens setzen, d. h. immer schon als historische Deutungs- und Verfalschungskräfte tätig sind und daher vom zwangsläufig selbst verfälschenden Intellekt niemals wesenhaft oder an sich begriffen werden können. Übrig bleibt Nietzsches Zirkel, daß ausgerechnet die Erkenntnis des einzig und allein gewissen Faktums „Wille zur Macht" sich jedweden Glauben an wahre innere oder äußere Ursachen oder Fakten verbiete.77 Nun darf daran erinnert werden, daß Freud den Terminus Es, der seit 1923 jenen des Unbewußten ersetzt, ja bei Nietzsche gefunden zu haben glaubt. Lassen wir hier beiseite, daß er auf den ominösen Begriff höchstwahrscheinlich niemals bei Nietzsche selbst gestoßen ist, und fragen, eindringlicher als im historischen Teil78, nach der Relevanz dieser Vokabel im Opus Nietzsches. Unter Hinweis auf G. Groddecks Uberzeugung, unser Ich verhalte sich im Leben wesentlich passiv, da wir von einem Es, von „unbekannten, unbeherrschbaren Mächten" gelebt würden, merkt Freud an: „Groddeck selbst ist wohl dem Beispiel Nietzsches gefolgt, bei dem dieser grammatikalische Ausdruck für das Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige in unserem Wesen durchaus gebräuchlich ist."79 Diese Passage läßt sich von zwei Seiten her kommentieren. Zunächst erscheint die Äußerung stark überzogen, die Verwendung des Terminus sei bei Nietzsche gang und gäbe. Eine Durchsicht der Werke zeigt, daß Nietzsche von einem „Es" („es") dezidiert nur im § 17 von „Jenseits von Gut und Böse" und in einigen, allerdings gewichtigen Nachlaßpassagen spricht.80 Inhaltlich wiederum ist Freuds Charakterisierung des Es und die Betonung der
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Vgl. oben S. 661-666. Morgenröthe, KSA 3, S. 109. Vgl. oben S. 564-567 und 637-640. Vgl. oben S. 107-117. Das Ich und das Es, STA 3, S. 292, Anm. 2. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 31; vgl. etwa Nachlaß April-Juni 1885, 34 [54], KSA 11, S. 437; Nachlaß August-September 1885, 40 [22], KSA 11, S. 639; Nachlaß August-September 1885, 40 [23], KSA 11, S. 639 f.; Nachlaß August-September 1885, 40 [24], KSA 11, S. 640 f.; Nachlaß August-September 1885, 40 [29], KSA 11, S. 644; Nachlaß Herbst 1887, 10 [158], KSA 12, S. 549. In einem thematisch nur entfernt vergleichbaren Zusammenhang ist von einem „Es" noch dezidiert die Rede in einer nachgelassenen Aufzeichnung vom Herbst 1880, 6 [70], KSA 9, S. 212.
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grundsätzlichen Abhängigkeit des Ichs vom Es bzw. von anonymen Mächten81 derart allgemein gehalten, daß sich in der Tat etliche Bezüge zu Gedanken Nietzsches arrangieren lassen: etwa zu der bereits angesprochenen82 und alsbald noch zu präzisierenden These, daß ein Denk- oder Handlungsgeschehen fern seines vermeintlichen Urhebers „Ich" einfach geschehe; oder etwa zu dem in „Zarathustra" angesprochenen Verhältnis zwischen dem bloßen Werkzeug „Ich" und dem „Selbst", welches als „mächtiger Gebieter" und „unbekannter Weiser" im Organismus herrsche-, bzw. auch zu dem (besonders in der mittleren Periode beleuchteten) Verhältnis zwischen der unnachgiebigen, gleichwohl verborgenen Macht der Triebe und der Ohnmacht des Bewußtseins.83 Die beiden letzten Punkte ließen sich auch dadurch rechtfertigen, daß Freud bei seiner zweiten Zuweisung des Terminus an Nietzsche das Es zum Sitz der Triebe erklärt und dabei mit jenem berühmten „Kessel voller brodelnder Erregungen" vergleicht, in dem — im Gegensatz zum Ich — die „logischen Denkgesetze" außer Geltung seien.84 Allein, Nietzsches Diskussion nimmt ihren Ausgang nicht an dieser Stelle. Vielmehr liegt deren inhaltliche Bedeutung gerade auf der Ebene des Denkens bzw. der Logik/Grammatik und rührt an dem, was man als „linguistic turn" von Nietzsches Philosophie umschreiben kann, sodaß in diesem Zusammenhang etwaige Parallelen mit dem psychoanalytischen Es in den Hintergrund treten.85 Fragt man nach dem spezifischen Kontext, in den Nietzsche den Ausdruck rückt, und im weiteren nach den Quellen, denen er selbst Anregungen verdankt, so läßt sich in Einklang mit der neueren psychoanalytischen Literatur grundsätzlich festhalten, daß Nietzsche an die um Descartes und Kant zentrierte philosophische Debatte anschließt86 und sich daher unwillkürlich mit einem „Ich denke" oder „Es denkt" konfrontiert sieht (wodurch auch eher belanglos wird, wie oft er den Terminus tatsächlich erwähnt). Diese Auseinandersetzung ist freilich ihrerseits von verschiedenen Einflüssen geprägt: etwa von der romantischen Sprachphilosophie eines Hamann, Herder und Humboldt, wahrscheinlich auch von der „es denkt"-Reflexion G. C. Lichtenbergs (dem wiederum die
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Vgl. auch Die Frage der Laienanalyse, STA Egb., S. 287. Vgl. oben S. 2 4 7 - 2 5 1 . Vgl. oben S. 5 4 9 - 5 5 1 . Vgl. 31. Vorlesung der Neuen Folge, Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, STA 1, S. 509 ff. Wie schon angemerkt, würden sich mögliche Parallelen gegebenenfalls herstellen lassen, wenn man das Es nicht so sehr im Sinne eines chaotischen Triebkessels definierte, sondern vielmehr als eine — von Freud etwa in der „Traumdeutung" oder in „Das Unbewußte" besonders hervorgehobene - unbewußte, spezifischen Gesetzen unterworfene Denktätigkeit. Vgl. oben S. 109.
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transzendentale Seelenlehre Kants bekannt gewesen sein dürfte)87, sicher aber, und dies gilt es nun etwas detaillierter auszufuhren, von den auf Descartes und Kant direkt replizierenden Philosophien eines Λ. Spir und G. Teichmüller. Wie K-Η. Dickopp in einer instruktiven Untersuchung nachweist, beeinflussen Spirs Schrift „Denken und Wirklichkeit" und Teichmüllers „Die wirkliche und die scheinbare Welt" Nietzsches Ideen und insbesondere seine Kritik am „Ich denke" in nachhaltigster Weise. Auf den Kern der Argumentation beschränkt, besagt Spirs „fundamentale Antinomie" von Bedingtem und Unbedingtem, daß die Welt, die wir erkennen, notwendig eine Täuschung ist, da wir immer schon den Gesetzen der Kausalität folgen und Bedingtes auf Unbedingtes zurückführen, obwohl wir nie zum Unbedingten vordringen können. Das einzige Wissen, das wir vom Unbedingten oder Sein haben, bestehe darin, daß es mit sich selbst identisch, unwandelbar, von der Erfahrungswirklichkeit also verschieden sei und insofern auch nicht den „Keim oder die Ursache zu Veränderungen in der empirischen Welt" enthalten könne. Nietzsche akzeptiert nun die Auffassung von der Unhaltbarkeit des Kausalschlusses auf ein unbedingtes Sein, um dann den Spirschen Ansatz freilich dahingehend zuzuspitzen, daß jedes Sein oder Unbedingte grundsätzlich unzugänglich bleibe88 — mithin auch das Sein des „Ich denke". Diese Position bestimmt auch die kritische Aneignung von Teichmüllers Werk, die insbesondere im 1. Hauptstück von „Jenseits von Gut und Böse" unübersehbare Spuren hinterläßt und ganz generell Nietzsches Perspektivismus, die Sprachkritik und eine nun positive Bewertung des (bei Spir negativ gedachten) Täuschungscharakters der Erkenntnis beeinflußt. Teichmüller, der im Gegensatz zu Spir als „Seinsphilosoph" apostrophiert werden kann und dessen Fragestellungen äußerlich etwa denen Heideggers vergleichbar sind, bemängelt insbesondere die Vernachlässigung des Seins in der Philosophiegeschichte. Ohne hier auf die einzelnen Begründungen einzugehen, findet er im Anschluß an die neuzeitliche Ichmetaphysik zur Grundthese, daß das vor allem mit lexikographischen Methoden bzw. über den „Sprachgebrauch" erschließbare Sein letztlich als „substanziale Einheit" des Ichs gedacht bzw. einfach „anerkannt" werden müsse, wobei man „nach der Analogie mit dem Ich auch auf das Du und Er und Es kommen" und damit zu einem allgemeineren Ausdruck — dem des „Wesens" oder der „Substanz" — gelangen könne. Nietzsche widerstreitet dieser 87
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Vgl. Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 42 f.; Macho, T. H., Was denkt? Einige Überlegungen zu den philosophiehistorischen Wurzeln der Psychoanalyse, in: Nagl, L. u. a. (Hg.), Philosophie und Psychoanalyse, a. a. O., S. 193 ff. Vgl. Dickopp, K.-H., Nietzsches Kritik am Ich denke, Düsseldorf 1965 (Dissertation), S. 67 ff. und 73 f. Nur in einer nachgelassenen Passage aus dem Zeitraum Frühjahr-Herbst 1881, 11 [330], KSA 9, S. 569 f., rechnet Nietzsche - und zwar in direktem Anschluß an Spir - noch mit einem bedingten, „vorstellenden Sein".
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Seinsfixierung vom Selbstbewußtsein aus, indem er gerade Teichmüllers Begründung der Fixierung — das grammatische Subjekt weise den Weg zum „subjectum", zur Substanz — hernimmt, um sie als Folge einer tiefsitzenden Sprachgewohnheit bzw. -Verführung zu enttarnen. Auch dessen Idee des Perspektivischen greift Nietzsche dankbar auf, um sie letztlich gegen diesen selbst zu wenden. Aus der Unterscheidung zwischen dem Begriff des Ichs (als einem bloß „semiotische[n] Ausdruck") und dem realen Ich, das nicht nur erkennt, sondern sich auch fühlend und wollend verhält, folgert Teichmüller, daß der Zugang zur Wirklichkeit von vornherein subjektiv präformiert ist. Unsere „Meinungen", „Auffassungen" und „Begriffe" registrieren demnach die sinnlich erfahrene Wirklichkeit nicht als solche, nicht „in einer Relation zwischen einem realen Subjekt und einem realen Objekt, sondern zwischen einem realen Subjekt in der Tätigkeit seiner verschiedenen Zustände und einem hypothetischen Objekt." Das reale Subjekt ist es also, das „in seinen verschiedenen Zuständen selbst das Objekt schafft und im Ergreifen diese ,Vielheit der Empfindungen' zu einem perspektivischen Bild eint." Diese Einsicht dient Nietzsche einerseits dazu, den Begriff der Täuschung, der bei Spir ein notwendiges Produkt des Satzes vom Grunde ist, ins Positive zu wenden, zum anderen aber zu einer Radikalisierung von Teichmüllers Perspektivismus, indem auch das angeblich reale Subjekt und seine Tätigkeiten in Frage gestellt werden: „Darin besteht vielleicht Nietzsches Verabsolutierung des Perspektivismus von Teichmüller, wodurch ein Dualismus von wirklicher und scheinbarer Welt oder — um mit Spir zu reden — von unbedingtem und bedingtem Sein überwunden wird." 89 Als ideengeschichtliche Quellen spielen Spir und Teichmüller bei Nietzsches Kritik an Descartes eine maßgebliche Rolle. „Es muß besser gezweifelt werden als Descartes!", notiert Nietzsche 1885, besser auch als Spir, der die „Naivetät des C" eher beschönige, wenn er schreibe: „ ,Das Bewußtsein ist sich selber unmittelbar gewiß: das Dasein des Denkens kann nicht geleugnet, noch bezweifelt werden, denn diese Leugnung oder dieser Zweifel sind eben selbst Zustände des Denkens oder des Bewußtseins, ihr eigenes Vorhandensein beweist also das, was sie in Abrede stellen, es benimmt ihnen folglich jede Bedeutung.'" 90 Schon Teichmüller monierte gegenüber Descartes, dieser habe, kaum daß er den Zweifel problematisierte, schon wieder gefolgert, „daß ich, der Zweifelnde, bin, als wenn er schon wüsste, was das Sein wäre", als wenn er sich gar keine Rechenschaft darüber abzulegen hätte, „was Zweifel, Existenz und Gedanke sei". Den gleichen Vorwurf machte Teichmüller auch Kant: „Ach! leider ist auch dieser unbefangen an der Frage vorbeigegangen. Er weiss vom Sein der 89
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Nach der Reihenfolge der Argumente bzw. Zitate vgl. Dickopp, K.-H., Nietzsches Kritik am Ich denke, a. a. O., S. 60 f., 74 f., 77 ff., 80, 85, 93 ff. Vgl. Nachlaß August-September 1885, 40 [24, 25], KSA 11, S. 640f.
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Dinge ,an sich' und .für uns' zu sprechen, [...] und vergisst sich darüber zu verwundern, dass er über diese Arten des Seins verfugen zu können glaubt, ohne das Sein selbst zu verstehen ..." 9 1 Nietzsche folgt dieser von Teichmüller vorgezeichneten Argumentationslinie weitgehend, wenn er gegenüber Descartes' Voraussetzung und Spirs diesbezüglicher Beschönigung festhält: „Es giebt keine unmittelbaren Gewißheiten: cogito, ergo sum setzt voraus, daß man weiß, was ,denken' ist und zweitens [J was ,sein' ist"92. Mehr noch: Der § 16 von „Jenseits von Gut und Böse", also jener dem berühmten „Es"-Aphorismus unmittelbar zuvorliegende Abschnitt, stellt nichts anderes dar als eine — freilich verschwiegene — Auseinandersetzung mit Teichmüller. Dabei schließt Nietzsche sich auch dessen Kritik am Denken an. Teichmüllers Ansicht, das Denken bedeute nur eine „Funktion" des Ichs neben dem Fühlen und Wollen, bestärkt Nietzsche zunächst in der Überzeugung, daß jegliche Evidenz, sei es nun eine des Denkens oder des Wollens, Schimäre bleibe: „Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es .unmittelbare Gewissheiten' gebe, zum Beispiel .ich denke', oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, ,ich will': gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ^Ding an sich', und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände." Man müßte eben wissen, was Denken ist, um es vom Fühlen oder Wollen unterscheiden zu können: „Genug, jenes .ich denke' setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges .Wissen' hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare .Gewissheit'." Da Nietzsche im Gegenzug aber Teichmüllers „substanziale Einheit" des Ichs leugnet und damit auch die angeblich in den Dienst der Erkenntnis gestellte Koordination der verschiedenen „Thätigkeiten des Ichs" bestreitet, fehle nicht nur der Beweis, „dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muß, das denkt", sondern auch, „dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird"93. An anderer Stelle vertieft Nietzsche seine Kritik: „Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes": darauf läuft die argumentado des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als „wahr a priori" anzusetzen: — daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, „das denkt", ist aber einfach eine Formulirung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht — und nicht nur constatili ... 91 92 93
Zitiert in: Dickopp, K.-H., Nietzsches Kritik am Ich denke, a. a. O., S. 75. Nach]aß August-September 1885, 40 [24], KSA 11, S. 641. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 29 f.; vgl. Dickopp, K.-H., Nietzsches Kritik am Ich denke, a. a. O., S. 86.
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Kapitel 16: Die innere und die äußere Wirklichkeit
Auf dem Wege des Cartesius kommt man nicht zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens[.] Reduzirt man den Satz auf „es wird gedacht, folglich giebt es Gedanken"[J so hat man eine bloße Tautologie94.
Bei der einleitenden Kritik am unangemessenen Substanzbegriff (und in Zusammenhang mit weiteren entsprechenden Reflexionen) muß fraglich bleiben, ob Nietzsche dem Ansatz des Descartes wirklich gerecht wird. Der Vorwurf, dieser habe „unseren Glauben" an den Substanzbegriff — gemeint ist: an die Bestimmungen desselben durch Aristoteles — einfach als „wahr a priori" vorausgesetzt und auf das Denken bzw. das Subjekt des Denkens übertragen, würde implizieren, daß ausgerechnet Descartes seiner epochalen Einsicht von der substanziellen Selbständigkeit des Denkens gegenüber der Natur untreu geworden wäre. Indes zeigt M. Djuric im einzelnen, daß Descartes den aristotelischen Substanzbegriff bedeutend verändert und Nietzsche etlichen Pauschalierungen Vorschub geleistet hat: „Nietzsche ging nicht nur darin fehl, daß er Descartes unkritisch unterschob, Aristoteles in einer wichtigen Frage seiner Philosophie blindlings gefolgt zu sein. Sein viel größerer Fehler lag darin, daß er einfach vermutete, der Substanzbegriff sei schon am Anfang unserer philosophischen Tradition eindeutig und endgültig bestimmt worden, so daß Descartes gar nichts anderes tun konnte als das, was er getan hat — und das ist, diesen Begriff auf das Subjekt anzuwenden. Auf diese Weise hat Nietzsche seine Aufgabe der kritischen Auseinandersetzung mit der Metaphysik sehr eingeengt, wenn schon nicht auch gewaltig vereinfacht." 95 Dessenungeachtet konzediert der Autor, daß Nietzsches begriffsanalytische Anstrengung gegenüber Descartes derart grundlegend sei, daß sie nach wie vor beachtenswert bleibe. In der oben zitierten Passage zeige Nietzsche nämlich, daß Descartes stillschweigend damit rechnete, es könnten die Gedanken vom Denken bzw. vom Denker getrennt werden. Diese Voraussetzung sei wohl notwendig für den Beweis der Existenz des „Ich denke", scheine jedoch unbegründet. Warum sollten Gedanken und Denken bzw. Denker auseinanderfallen? Daß vielmehr das Gegenteil evident sei, werde deutlich, wenn man cogito ergo sum wie Nietzsche in die Form bringt: „es •wird gedacht, folglich giebt es Gedanken". Dadurch sei jeder Zweifel beseitigt, irgendein Substrat des Denkens könne unabhängig vom Denkprozeß bestehen, und daraus gehe auch hervor, daß Descartes' Satz höchstenfalls eine „Tautologie" sei. Vorbereitet durch die Auseinandersetzung mit Teichmüller räumt Nietzsche ein, es sei auch für ihn selbst schwer zu sagen, was Denken eigentlich ist und daher nahezu unfaßbar, daß das scheinbar allergewisseste Faktum gerade das 94 95
Nachlaß Herbst 1887, 10 [158], KSA 12, S. 549. Vgl. Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 60 ff.
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problematischste sei. Aber für unabweislich hält er doch, daß Descartes (und auch Teichmüller) etwas hinzugefügt hätten, was dem Denken nicht zueigen ist: nämlich einen Urheber, einen „Täter" des Denkens: „Wäre es richtig, daß das Subjekt 4ch' die Ursache des Prädikats ,denke' sei, wie Descartes es glaubte, dann würde dies bedeuten, daß der Mensch alles denken kann, was er will, seine Gedanken stünden völlig in seiner Gewalt. Die faktische Situation ist jedoch eine ganz andersartige. Der Mensch ist eher Sklave seiner Gedanken als deren Herr."96 Wenn also nicht das Ich zum Urheber der Gedanken und zur Bedingung des Prädikats „denken" gemacht werden kann, dann gilt vielleicht der gegenteilige Schluß: „Abgesehen von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Grammatik als Veritas aeterna und folglich als Subjekt[,] Prädikat und Objekt glauben, ist Niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art Descartes das Subjekt ,ich' als Bedingung von .denke' zu setzen; vielmehr ist durch die skeptische Bewegung der neueren Philosophie die Umkehrung, nämlich das Denken als Ursache und Bedingung sowohl von ,Subjekt* wie von .Objekt', wie von .Substanz' wie von .Materie' anzunehmen — uns glaubwürdiger geworden: was vielleicht nur die umgekehrte Art des Irrthums ist." 97 Mit der zweiten, „skeptischen" Variante spielt Nietzsche namentlich auf Kant an. Dieser habe gesehen, daß das Ich tatsächlich nicht vom Denken getrennt werden könne und, wie es im § 54 von .Jenseits von Gut und Böse" heißt, „,denke' Bedingung, ,Ich' bedingt [sei]; ,Ich' also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird." 98 Nun hat Kant das „Ich denke" ja als keine gegenständliche Vorstellung, sondern als rein formales Selbstbewußtsein bestimmt, das, „indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann."99 Im bereits erwähnten Paralogismen-Kapitel hält er fest, der Natur „unseres denkenden Wesens" dürfe nichts anderes zugrundegelegt werden als die gänzlich inhaltslose Vorstellung Ich, „von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstel-
96 97 98 99
Ebd., S. 59. Nachlaß August-September 1885, 40 [20], KSA 11, S. 637. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 73. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Band 3, Β 132.
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lung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen" 100 . Da das transzendentale Subjekt der Gedanken keine inhaltlichen Präzisierungen erlaubt, kann die Bindung an ein bestimmtes Personalpronomen bestenfalls willkürlich sein und gleichgültig ist auch, ob es nun ein Ich oder Er oder Es ist, das da denkt: „Die Substantivierung des Es soll bloß eine falsche Substantialisierung des Seelen- und Bewußtseinsbegriffs verhindern." 101 Im § 16 von „Jenseits von Gut und Böse" meinte Nietzsche noch, gegen die unmittelbare Gewißheit von Descartes' „ich denke" spreche schon allein das — durch Teichmüller vorbereitete — Argument, daß man nur durch den Vergleich des „augenblicklichen Zustand [es] mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne", also durch ein anderweitiges Wissen zu Bestimmungen des denkenden Ichs gelangen könne. Bei Kant sieht Nietzsche nun aber, daß alle inhaltlichen Fixierungen des Ichs vergeblich bleiben müssen. Teichmüllers Kritik an Kant schließlich, dieser habe die Existenz des Ichs in der Form eines „dass ich bin" zugegeben, dieselbe aber zugleich bestritten, indem er nicht die Aussage, „wie ich bin, sondern nur wie ich mir selbst erscheine" 102 , gestatte, dürfte eine entscheidende Quelle für Nietzsches Schluß im § 54 gewesen sein: „Kant wollte im Grunde beweisen, daß vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, — das Objekt auch nicht: Die Möglichkeit einer Scbeinexisten% des .Subjekts', also ,der Seele', mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist." 103 Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Komplex „Wer oder was denkt?" ist vermutlich auch durch einen Aphorismus von G. C. Lichtenberg angeregt worden. Vermutlich deshalb, weil Lichtenberg bei seiner Substitution des „cogito" durch ein „es denkt" die Verbindung zu einem „es blitzt" knüpft und im weiteren auch behauptet, die Annahme des Ichs sei ein „praktisches Bedürfnis". Wie noch zu zeigen ist, liegen hier Motive vor, die Nietzsche aufgreift und näher beleuchtet. In den „Sudelbüchern" notiert Lichtenberg: „Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen: andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das leb anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis." 104 100 101 102 103
104
Ebd., Β 404. Vgl. Macho, T. H., Was denkt?, a. a. O., S. 194. Zitiert in: Dickopp, K.-H., Nietasches Kritik am Ich denke, a. a. O., S. 82. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 73; vgl. auch Nachlaß August-September 1885, 40 [16], KSA 11, S. 635 f. Lichtenberg, G. C., Schriften und Briefe, herausgegeben von W. Promies, 2. Band, Sudelbücher II, München 1971, S. 412.
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Im § 17 von „Jenseits von Gut und Böse" möchte Nietzsche freilich auch dieses „es denkt" verabschiedet wissen. Ein Gedanke komme eben, „wenn ,er' will, und nicht wenn ,ich' will": „Es denkt: aber dass dies ,es' gerade jenes alte berühmte ,Ich' sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme [...] Zuletzt ist schon mit diesem ,es denkt' zu viel gethan: schon dies ,es' enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst [...] und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine ,es' [...] auszukommen."105 Aber selbst wenn man dieses problematische „es" beiseite lasse und nur das Faktum „cogitatur" hervorhebe, „so täuschen wir uns noch einmal, denn auch die passivische Form enthält Glaubenssätze und nicht nur ,Thatbestände': in summa, gerade der Thatbestand läßt sich nicht nackt hinstellen, das .Glauben' und .Meinen' steckt in cogito des cogitat und cogitatur"106. Wiederholt beharrt Nietzsche daher darauf, daß der „Ursprung des Gedankens [...] verborgen"107, unbewußt bleibe. 2.3. Die Scheinbarkeit der Realität Wesentliche, bereits skizzierte Konsequenzen aus Nietzsches Kritik am „Ich denke" ergeben sich aus dem Umstand, daß der Mensch als ein vor allem „urtbeilendes Tier" wie selbstverständlich davon ausgehe, zwischen „Subjekt und Prädikat, zwischen Ursache und Wirkung [...] unterscheiden " zu können. Dabei sei der Kausalglaube, d. h. in der Fassung Nietzsches die Annahme, daß „jede Wirkung Thätigkeit sei und daß jede Thätigkeit einen Täter voraussetze", sogar ein „Einzelfall" des Subjekt-Prädikat-Glaubens, sodaß der „Grundglaube übrig bleibt: es giebt Subjekte"108. Das in der „grammatischen Gewöhnung" verwurzelte TäterDenken zeichne daher auch dafür verantwortlich, daß das Ich alle Realität nach seinem Bilde konstruiere und nach außen hin als Sein, als Wirklichkeit der Dinge projiziere. In diesem Zusammenhang greift Nietzsche (ähnlich wie Lichtenberg;) mehrfach auf das Beispiel des Blitzes („der Blitz leuchtet") zurück. Da das „Thun" alles sei und es also kein Substrat, keinen Täter hinter dem Tun gebe, habe das „Volk", indem es unter der „Verführung der Sprache" den Blitz von seinem Leuchten trennt, das Tun nur verdoppelt: „[...] es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung."109 Wie bei 105 106 107 108 109
Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 31. Nachlaß August-September 1885, 40 [23], KSA 11, S. 639 f. Nachlaß Juni-Juli 1885, 38 [1], KSA 11, S. 596 (H. d. V.); vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [92], KSA 11, S. 173 f.; Nachlaß August-September 1885, 40 [29], KSA 11, S. 644. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [83], KSA 12, S. 102; Nachlaß Anfang 1886-Frühjahr 1886, 4 [8], KSA 12, S. 182. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 279; vgl. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [84], KSA 12, S. 103f.; Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [193], KSA 12, S. 162.
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Descartes souffliere dabei immer nur die Ich-Vorstellung: „[...] wie als ob, wenn alles Thun vom, Thäter* abgerechnet würde, er selbst noch übrig bliebe"110 Nietzsche zieht daraus den Schluß, das Ich selbst sei nur eine „regulative Fiktion, mit deren Hülfe eine Art Beständigkeit, folglich ,Erkennbarkeit' in eine Welt des Werdens hingelegt, hineingedichtet wird" 111 . Sobald die trügerische Idee eines ,,wirkende[n] Subjekt[s]" aber aufgegeben werde, falle mit Notwendigkeit eine ganze Reihe weiterer Imaginationen: etwa der Glaube an den Kausalkonnex zwischen den Dingen, an eine Welt wirkender „Atome" oder an die Dichotomie von „Ding an sich" und „Erscheinung"; und mit der Preisgabe eines ursächlichen Verhältnisses von Subjekt und Objekt falle wiederum der Glaube an den Begriff der „Substanz" und seiner verschiedenen Modifikationen. 112 Auch der korrespondenztheoretische Gedanke, daß „zwischen Subjekt und Objekt eine Art adäquater Relation stattfinde; daß das Objekt etwas ist, das von Innen gesehn Subjekt wäre", sei letztlich nichts anderes als eine „gutmüthige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat." 113 Nietzsche schließt an die neuzeitliche Wende von der Substanz- zur Ichmetaphysik also nicht etwa deshalb an, um eine Vertiefung der Metaphysik zu erreichen, sondern um das metaphysische Denken selbst so energisch wie möglich zurückzuweisen. Daß seine Formulierungen dabei nicht immer unmißverständlich sind und auch die Frage aufkommen lassen, inwieweit er den Bestrebungen und Nuancierungen innerhalb der Philosophiegeschichte tatsächlich gerecht wird, steht auf dem einen Blatt 114 ; auf dem anderen, dem hier maßgeblichen dagegen, daß seine erkenntnistheoretische Grundintention jener von Freud offensichtlich zuwiderläuft. Während dieser bei seiner Dekonstruktionsarbeit zumindest an zwei Uberzeugungen festhält — an der zwar bedrohten, aber letztlich doch unbezweifelbaren synthetischen Erkenntnisfähigkeit des „Ichs" 115 und damit an der potentiellen Erkennbarkeit von innerer und äußerer Realität —, sind bei Nietzsche sowohl die Begriffe „Ich" als auch „Realität" obsolet geworden. Als einzige Gewißheit scheint vielmehr jene „Wirklichkeit" zu gelten, die Freud — nicht zuletzt in Zusammenhang mit dem „Irrationalismus" H. Vaihingers — buchstäblich zum Reizwort wird: die „Fiktion". Gerade weil Nietzsche (in einer ansatzweise mit Freud zunächst vergleichbaren Form) auf die Abhängigkeiten des Ichs aufmerksam wird, etwa auf die des eitlen „Ich will" von der „Sittlichkeit der Sitte" 116 und jene des Ichs vom Leibe; und gerade weil er auf die fehlgrei110 111 112 113 114 115 116
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7 [1], KSA 12, S. 250. Nachlaß Mai-Juni 1885, 35 [35], KSA 11, S. 526. Vgl. Nachlaß Herbst 1887, 9 [91], KSA 12, S. 383 ff. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [120], KSA 13, S. 57. Vgl. Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 56 f. Vgl. oben S. 671 f. Vgl. oben S. 3 6 6 - 3 6 9 .
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fende Psychologie des Ichs, auf seine Projektions- und Abwehrmechanismen117 stößt, glaubt er sich zuletzt berechtigt, dem Ich eine erkenntnistheoretische Relevanz überhaupt abzusprechen. Und nicht zufállig versieht er im Unterschied zu Freud auch den Begriff der Realität regelmäßig mit Anführungszeichen, da es Wirklichkeit als solche, so seine Lieblingswendung, gar „nicht giebt". Habe man sich vom Gegensatzdenken118 und insbesondere dem Begriffspaar „wahr — scheinbar" erst einmal gelöst, bleibe nur übrig, die Realität als eine durch und durch bedingte anzusehen, genauer: als eine unendliche Vielfalt perspektivischer Scheinbarkeiten.119 Aber auch die naheliegende Implikation, daß die scheinbare Welt vielleicht nur eine Art negativer wahrer Welt sei, müsse mit größter Entschiedenheit abgewiesen werden: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft]"120 Aus psychoanalytischer Warte betrachtet, erwecken diese hier bewußt verdichteten Argumente den Eindruck, als ob Nietzsche mit Begriffen wie „Schein, Scheinbarkeit, Fiktion, Erfindung, Ausdichtung" ausgerechnet jenes Terrain zur Wirklichkeit erkoren habe, das Freud mit einem üppigen „Naturschutzpark" vergleicht: das tagträumerische und neurotische Reich der Phantasien, in dem Gedanken nach Belieben „wuchern und wachsen" dürften, in dem der Bezug zum Realitätsprinzip gerade außer Kraft gesetzt sei.121 Wäre dann aber der alle Scheinbarkeiten produzierende Wille zur Macht nicht Synonym für eine bloße Allmacht der Gedanken?122
2.4. Nietzsches Aporie und der Versuch ihrer Auflösung In der Tat wäre es absurd und vollkommen willkürlich, behauptete Nietzsche das Ich und seine Objekte als reine Phantasieprodukte, ohne plausibel zu machen, warum das menschliche Denken sich immer schon an Fiktionen geklammert und nicht zu adäquateren Formen der Realitätserkenntnis gegriffen hat. Und nur zu bewußt war ihm der Zirkel, daß seine heftigsten Polemiken gegen die Versteinerungen der „metaphysischen" Begriffe nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß er sich ihrer selbst bedienen mußte. Natürlich spricht Nietzsche in der Ichform, verknüpft in seinen Urteilen Subjekt und Prädikat, schließt von der Ursache auf die Wirkung, verwendet die als nihilistisch geschmähten 117 118 119 120 ,2t 122
Vgl. oben S. 268-271. Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 16 f. Vgl. oben S. 221 f. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 81. Vgl. oben S. 666 f. Vgl. auch oben S. 524 f.
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Vernunftkategorien von „Einheit", „Zweck", „Wahrheit"123 usw. Dieser Grundaporie sucht er nun mit zwei unmittelbar miteinander verwobenen Argumentationsfiguren zu begegnen, die beide auf die (wohl von A. Spir 124 angeregte) Unterscheidung von „Notwendigkeit" und „Wahrheit", d. h. auf die These hinauslaufen, daß unsere stark verinnerlichten Denk- und Formulierungszwänge zwar offenbar pragmatische Funktionen erfüllen, deshalb aber noch lange nicht wahr sein müssen. Die sprachliche Gebundenheit des Denkens leitet zum ersten Aspekt über: Grundlösung: wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist auf die aller naivsten Vorurtheile hin gebaut[;] nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken — somit die „ewige Wahrheit" der „Vernunft" glauben (z. B. Subjekt Prädikat usw.[)] wir hören auf denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.125
Nietzsche hat wohl die große Beweglichkeit von Sprache bzw. „Sprachspielen" 126 betont, aber obiger Hinweis auf Subjekt und Prädikat gibt bereits den Fingerzeig, daß er letztlich mit einer statischen Grammatik rechnete, welche das Denken zu seinen Begriffsverhärtungen und insbesondere „Täter"-Verirrungen notwendig verführe. Daß er vor der logischen Syntax der Sprache gleichwohl nicht erstarrt ist, demonstriert eine Überlegung von „Jenseits von Gut und Böse", in der er sich gegen eine Verabsolutierung der „subjektbezogenen" indogermanischen Sprachen wendet: „Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik — ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen — von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders ,in die Welt' blicken und auf anderen Pfaden zu finden sein, als Indogermanen oder Muselmän-
123 124 125 126
Vgl. Nachlaß November-März 1888, 11 [99], KSA 13, S. 46 ff. Vgl. Dickopp, K.-H., Nietzsches Kririk am Ich denke, a. a. O., S. 119. Nachlaß Sommer-Herbst 1887, 5 [22], KSA 12, S. 193. Zur Diskussion um mögliche Affinitäten zwischen den Sprachkonzeptionen Nietzsches und Wittgensteins vgl. Funke, M., Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche, Stuttgart 1974, S. 266 f£
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ner" 127 . Über gewisse programmatische Ideen hinaus ist Nietzsche freilich nicht näher darauf eingegangen, wie man sich die Uberwindung der Metaphysik (des Volksglaubens, der Wissenschaft) auf Basis einer veränderten Grammatik vorzustellen habe. Das Mißtrauen gegenüber der Grammatik blieb aber allemal konstitutiv, wovon auch der berühmte, ironisch zugespitzte Satz zeugt: „Ich furchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ,.." 1 2 8 Dadurch daß Nietzsche die Grammatik als unmittelbar mit der Logik verwachsen und letztere als „Fortsetzung und Vollendung" der ersteren sieht, ist der zweite Aspekt angesprochen: die Notwendigkeit der Logik, die er indes ein für allemal von der Ontologie abgekoppelt wissen will. Nun ist der Gedanke, die logischen Axiome stimmten mit dem Sein nicht überein, bekanntlich schon in der Antike vertreten und seither in zahllosen philosophischen Varianten erneuert und vertieft worden. Was Nietzsches Radikalität ausmacht, ist somit nicht, daß er den Wirklichkeits- und Wahrheitsbezug der Logik in Frage stellte (obwohl er darauf größtes Gewicht legte), sondern daß er sie nachgerade zu einem Hindernis des Denkens erklärte, das irreale Hypostasen und Verfälschungen der Realität zwangsläufig nach sich ziehe.129 Was allein noch konzediert werden könne, sei ihre pragmatische Funktion: „[...] das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren .Wahrheit'. [...] Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist nothwendig; nicht, daß etwas wahr ist."uo Ein Glaube, wie etwa jener an das „Ich denke" oder der an „causae finales" und „causae efficientes", könne eben „Lebensbedingung und trotzdem falsch sein."131 Man solle die „Nöthigung", in logischen Begriffen, Kausalrelationen, Gesetzen usw. zu denken, nur als Mittel der Kommunikation, d. h. als unumgängliche, nichtsdestoweniger aber fiktive Konvention betrachten: „Wir sind es, die ,das Ding', das .gleiche Ding', das Subjekt, das Prädikat, das Thun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und EinfachwaA« am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisirt haben"132. Die „Verirrung der Philosophie" gründe darin, daß sie in der Logik nicht ein nützliches „System pnncipieller Fälschung"133, sondern ein Kriterium der Realität zu haben vermeinte. Dieser 127 128
129 130 131 132 133
Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 34 f. Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 78; zu den historischen Quellen, Details, aber auch Vereinfachungen von Nietzsches Sprachkritik vgl. Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 41 ff. Vgl. ausführlicher Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 20 ff. und 48. Nachlaß Herbst 1887, 9 [38], KSA 12, S. 352. Nachlaß Mai-Juni 1885, 35 [35], KSA 11, S. 526; Nachlaß April-Juni 1885, 34 [243], KSA 11, S. 502. Nachlaß Herbst 1887, 9 [144], KSA 12, S. 418; vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 36 f. Nachlaß Frühjahr 1888, 15 [153], KSA 13, S. 336.
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Vorwurf legt Mißverständnisse freilich nahe. Nietzsche hat nämlich in aller Regel einen kontemplativen, passiven und vorsubjektiven Begriff von Theoriebildung (Wahrheit bzw. Erkenntnis „an sich") vor Augen, zu dem sich die moderne Wendung zum Subjekt in der Tat wie ein Mittel nützlicher Wirklichkeitsverfälschung ausnimmt. Wie schon A. Schmidt134 bemerkt, gelangt Nietzsche dadurch zu Alternativen, die seit Kant eigentlich keine mehr sind: „ [...] nicht .erkennen', sondern schematisiren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut[.] In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfniß maaßgebend gewesen: das Bedürfniß, nicht zu .erkennen', sondern zu subsumiren, zu schematisiren, zum Zwecke der Verständigung, der Berechnung"135. Auf der anderen Seite gibt die Wendung „nicht erkennen" bereits zu verstehen, daß Nietzsche bestrebt ist, andere, seiner Auffassung nach konsequentere Wege als Kant zu beschreiten, indem er eine erkenntnistheoretische Bedeutung der Logik gänzlich bestreitet und allein noch das — mit Lichtenbergs Ich-denkeKritik wortwörtlich geteilte — „praktische Bedürfnis" gelten läßt. Nicht nur, daß er den „Satz der Identität" (den er im Gegensatz zu Aristoteles für elementarer als den vom „Widerspruch" hält) als „Grundfiktion " und bloße Folge eines Willens zum „Gleichmachen", eines Verlangens nach Identischem behauptet und in der ihm eigenen Prägnanz festhält: „Bevor .gedacht' wird, muß schon .gedichtet' worden sein; das Zurechtbilden zu identischen Fällen, zur Scheinbarkeit des Gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen des Gleichen"136; nicht nur, daß er mit der These von der Fiktionalität des Identitätssatzes also ein Fundament der Logik unterminiert, besteht Nietzsche auch darauf, „die Kantische Frage ,wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?'" durch eine andere Frage zu ersetzen, nämlich: „[...] ,warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?'"137 Seine Antwort, mehrfach variiert, dem Tenor nach aber immer gleichlautend: „Die Kategorien sind .Wahrheiten' nur in dem Sinne, als sie lebensbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingte .Wahrheit' ist [...] Die subjektive Nöthigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nöthigung" 138 . Wenn aber die in der grammatischen Struktur der Sprache verwurzelten Vernunfturteile immer schon imaginäre Vorurteile sind, wenn im weiteren jegli-
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Schmidt, Α., Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 127; vgl. auch Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 19. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [152], KSA 13, S. 333 f. Nachlaß Herbst 1887, 10 [159], KSA 12, S. 550; vgl. Nachlaß Mai-Juli 1885, 35 [5η, KSA 11, S. 537; Nachlaß August-September 1885, 40 [33], KSA 11, S. 545; zu Nietzsches Kritik am Identitäts- und Widerspruchssatz vgl. Djuric, M., Nietzsche und die Metaphysik, a. a. O., S. 26 ff. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 25 f. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [152], KSA 13, S. 334 (H. d. V.).
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che Identität, namentlich die bei Kant realitätskonstituierende Identität des denkenden Subjekts eine Fiktion darstellt, und wenn schließlich die Möglichkeit objektivierbarer Erkenntnis bzw. die apriorische Geltung der Kategorien einer biologischen Nötigung weicht, dann scheint evident, daß Nietzsche die Kantsche Transzendentalphilosophie hinter sich gelassen oder jedenfalls entscheidend revidiert hat. 139 Seine Grundthese präzisiert er schlußendlich dahingehend, daß die Menschheit sich in ihrer Entwicklung für die Logik als einen Wert entschieden hat, der ihrer Existenz, d. h. der Erhaltung der Gattung besonders dienlich, in dieser Hinsicht also fur sie „notwendig" gewesen ist. Uber ein Realitätsoder Wahrheitskriterium der Logik, dabei bleibt es, sage diese Präferenz freilich (oder gerade deshalb) nichts aus. 140
2.5. Der perspektivische Universalismus Die immer wieder artikulierten Einwände, Nietzsche reduziere die Erkenntnistheorie auf einen kruden Biologismus oder Utilitarismus, dürfen wohl selbst noch als grobe Vereinfachungen bezeichnet werden. Auch wenn vorbehaltlos einzuräumen ist, daß manche seiner Formulierungen diesbezüglichen Mißverständnissen geradezu Vorschub leisten, so kann dieser Umstand doch nicht überdecken, daß er, wie im einzelnen diskutiert 141 , den Utilitarismus in die Schranken gewiesen und überhaupt jedes biologisch verabsolutierte „Um-zu" der Gattungserhaltung einer nachdrücklichen Kritik unterzogen hat. Warum also sollte er plötzlich blindlings ins Lager der konventionellen Biologie oder Evolutionstheorie geschwenkt sein? Bereits 1880 notiert er: „Warum die Gattung erhalten? Man verweist uns an die Triebe: aber es giebt weder einen Trieb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der Gattungserhaltung. Das Nichtsein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein: dann hat die physiologische Ethik nichts zu sagen." 142 Mit der Ausarbeitung seiner spätphilosophischen Position spricht Nietzsche den Kern des Themas dann direkt an: „Die bestgeglaubten a priorischen .Wahrheiten' sind für mich — Annahmen bis auf Weiteres^ ζ. B. das Gesetz der Causalität[,] sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der 139
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Eine eingehendere Interpretation von Nietzsches „revidiertem Begriff des Transzendentalen" unternimmt J. Habermas in: Zu Nietzsches Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 254 ff. Vgl. etwa Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 25; Nachlaß Herbst 1887, 9 [38], KSA 12, S. 352; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [122], KSA 13, S. 302; Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [153], KSA 13, S. 336. Vgl. oben S. 647-654. Nachlaß Herbst 1880, 6 [123], KSA 9, S. 226.
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Mensch bestehen bleibt!" 143 Am Ende handle es sich, so die bekannt explosive These, gar nicht um die Erhaltung der Gattung, sondern um spezifische menschliche Macht- und Steigerungsentwürfe, d. h. um die Ausbildung einer höheren 144 , letztlich übermenschlichen Daseinsform. Als Zwischenbilanz ergibt sich daher: Die logischen Vemunftkategorien bilden für Nietzsche einen notwendigen (nicht wahren) Wert in Hinblick auf die Gattungserhaltung, während die Gattung ihrerseits ein Mittel für die Installation höherer Werte darstellen soll. Dieser Wertuniversalismus spitzt sich indes noch zu, da die Möglichkeit extraterrestrischer Perspektiven nicht auszuschließen sei. Darüber zu mutmaßen, bleibe freilich vergeblich, weil der menschliche Intellekt von seinen eigenen „perspektivischen Formen" nicht loskomme: „Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte·, zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre)." 145 Die ganze Diskussion verweist somit zurück zum Problem des Anthropomorphismus, das Nietzsche erwähntermaßen 146 in der Aporie von Unumgänglichkeit und Absurdität begreift. Unumgänglich oder notwendig ist es demnach, die logischen Vernunftkategorien als gattungsgeschichtliche „Erfindungen" zur Erhaltung und vor allem Steigerung unserer Lebensformen in Anspruch zu nehmen (während die Philosophie dieselben mit sogenannten „Wahrheiten" verwechselt habe). Absurd aber findet Nietzsche, daß wir, indem wir tatsächlich nicht anders als anthropozentrisch, d. h. vermittels unseres Willens zur Macht interpretieren können, außerstande sind, das „Sein selbst abfcu]schätzen·. aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch — : und indem wir Nein sagen, so thun wir immer noch, was wir sind ..."147 Die Einsicht, mit außermenschlichen Interpretationen rechnen zu müssen und doch nur allzumenschlich interpretieren zu können, sowie jene, daß alles (organische und unorganische) Sein wesentlich auslegendes Sein ist, verhilft Nietzsche nicht zuletzt zu einer erkenntnistheoretischen Absicherung des frühen Ästhetizismus. Der Täuschungscharakter der Erkenntnis kann nicht nur als bedauerliches Epiphänomen hingestellt werden, wie er schon 1881 (und wohl in einer Umwendung der Philosophie A. Spirs) festhält: „Leben ist Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. 143 144
145 146 147
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26 [12], KSA 11, S. 152f. Vgl. etwa Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 315; Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7 [9], KSA 12, S. 294 f.; Nachlaß Herbst 1887, 9 [91], KSA 12, S. 385 f. Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, KSA 3, S. 626 f. Vgl. oben S. 2 5 3 - 2 5 6 . Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [96], KSA 13, S. 45.
2. Realität bei Nietzsche
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Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres! [...] Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben" 148 . Und da in einer Welt des Irrens und Verfalschens, so die späte Uberzeugung, dem Wahrheitsbegriff allenfalls eine pragmatische Funktion zu Verständigungszwecken zuerkannt werden dürfe, mehr noch: da man sich von der Fessel des reaktiven Wahrheitsglaubens insofern gänzlich zu befreien habe, als Wahrheit gar nicht etwas sei, „was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, das schaffen ¿f/"149, würden den Philosophen auch neue, veränderte Aufgabenstellungen überantwortet: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ,so soll es sein!', sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen [...] Ihr ,Erkennen' ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist — Wille spr Macht. " 15 ° Von der Immanenz der Gedankenkette her gesehen, erscheint dieser Schluß konsequent. Grundlegende, am Problem des „Irrationalismus" rührende Fragen bleiben gleichwohl offen, so etwa, inwieweit Nietzsches Interpretation der interpretierenden Wirklichkeit deren Interpretationscharakter tatsächlich trifft 151 , oder etwa, welcher methodische Status oder auch Wert seiner Perspektivenlehre innerhalb eines universell behaupteten Perspektivismus zukommt. Nietzsches und Freuds Theorien der Realität, so läßt sich resümieren, sind nur schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Freud setzt an Phänomenen wie kindlichen Verfuhrungsphantasien, neurotischen Symptomen, Träumen usw. an und findet über „Schlußprozesse" auf die unbewußten Ursachen dieser irritierenden psychischen Erscheinungen zu einer Dekodierung der Sprache des Unbewußten. Die Frage, wie ein dem Lustprinzip verpflichtetes und eben deshalb für Realitätsverzerrungen anfälliges Subjekt sich der äußeren Welt der Objekte intellektuell gleichwohl so nähern kann, daß adäquate Wirklichkeitserkenntnisse erzielbar sind, führt zu Reflexionen über Entstehung und Ausbildung der menschlichen Urteilsfähigkeit. Freud legt dabei eine mehrschichtige Theorie vor, die letztlich auf der Voraussetzung der möglichen Übereinstimmung zwischen Urteil und Wirklichkeit aufbaut. Die in diesem Zusammenhang mehr oder weniger als selbstverständlich genommenen Begriffe — Realität, Innen, Außen, Subjekt, Objekt, Identität (Wahrnehmungs- und Denkidentität), Wahrheit, unparteiische Urteils fallung usw. — sind es aber gerade, die Nietzsche bereits zuvor als höchst problematisch gelten und ihn mit Blick auf die Brennpunkte des neuzeitlichen Philosophierens die immer gleichen Ausgangs fragen stellen lassen: Was heißt eigentlich Realität, was ist Subjekt, was Objekt, was 148 149 150 151
Nach]aß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [162], KSA 9, S. 504. Nachlaß Herbst 1887, 9 [91], KSA 12, S. 385. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 145. Diese Fragestellung wird von Müller-Lauter (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 274 ff.) aufgegriffen und einer näheren Betrachtung unterzogen.
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Kapitel 16: Die innere und die äußere Wirklichkeit
Identität, was Denken, Wahrheit usw.? Aus diesem beständigen Fragen heraus erwächst eine Philosophie, die den späteren erkenntnistheoretischen Fundamenten der Psychoanalyse in einem Maße gegenläufig ist, daß sich etwa folgende Polarisierungen unweigerlich einstellen: grundsätzliche Verkenntnisfunktion des „Täters" Ich versus synthetisches Erkenntnisvermögen des Ichs; an sich unbekannte Welt des Subjekts und der Objekte versus potentielle Erkennbarkeit der psychischen und der äußeren Realität; perspektivische Konstruktionen von Wirklichkeiten versus Gegensatz von „bloß" subjektiver und faktischer Wirklichkeit; notwendige Fiktion der Vernunftkategorien versus Wahrheitsanspruch der Vernunft; aktive Willens- und Verfälschungsphilosophie versus reaktive Korrespondenz- und Widerspiegelungstheorie; (ästhetische) Philosophie der Werte und des „Sollens" versus Tatsachenwissenschaft. 152
152
Auf einen Anachronismus gebracht, könnte man sagen, Nietzsche habe mit seiner Erkenntniskritik gerade Freud als den prototypischen Repräsentanten einer kontemplativen Erkenntnistheorie vor Augen. Umgekehrt hat Freud aus seiner Abneigung gegen Nietzsches „Sollens"Philosophie und „Theologie" bekanntlich kein Hehl gemacht.
Schlußbetrachtung Im historischen Teil der Untersuchung wurde dezidiert ausgeschlossen, daß Freud den tatsächlichen Umfang seiner Nietzsche-Lektüre verheimlicht hat. Da seine Äußerungen, er habe die Werke Nietzsches willentlich gemieden, als glaubhaft zu bezeichen waren, wurde auch der berühmt-berüchtigte Plagiatsvorwurf gegenstandslos — jedenfalls in dem Sinne, daß Freud die geistigen Urheberrechte Nietzsches bewußt verletzt haben könnte. Hingegen mußte die Frage offengelassen werden, ob er nicht möglicherweise über diverse Umwege (Hinweise von Mitstreitern der psychoanalytischen Bewegung u. a. m.) zu einer entsprechenden Kenntnis gelangte, die ihm freilich nicht in diesem Maße gegenwärtig war. Freud selbst räumt ein solches Argument ganz generell ein, da er nie sicher gewesen sei, ob seine „angebliche Neuschöpfung nicht eine Leistung der Kryptomnesie war." Beispielsweise habe er erst in hohem Alter entdeckt, daß die dualistische Kosmologie des Empedokles seine Trieblehre vorweggenommen und eventuell auch auf seine Auffassung eingewirkt habe. Deswegen stehe er in solchen Fällen nicht an, das „Prestige der Originalität" zugunsten anderer zu opfern. 1 Auch im Zusammenhang mit Nietzsche findet sich eine charakteristische Bemerkung. Obgleich Freud dabei zum ersten Mal eindringlich betont, „daß Nietzsches Gedanken auf seine eigenen Arbeiten gar keinen Einfluß gehabt hätten", ist den „Protokollen" eine gewisse Unsicherheit doch zu entnehmen: „Bei dieser Gelegenheit [sie!] erzählt er [Freud], um zu zeigen, wie kompliziert und mitunter seltsam die Entstehung neuer Ideen ist, die Genealogie von der sexuellen Ableitung der Neurotik [...]: drei bedeutende Arzte haben diese Idee in seiner Gegenwart ausgesprochen: Breuer, Charcot und Chrobak." 2 Später kommt Freud nochmals darauf zurück: „Alle drei Männer hatten mir eine Einsicht überliefert, die sie, streng genommen, selbst nicht besaßen. Zwei von ihnen verleugneten ihre Mitteilung, als ich sie später daran mahnte, der dritte (Meister Charcot) hätte es wahrscheinlich ebenso getan, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, ihn wiederzusehen. In mir aber hatten diese ohne Verständnis aufgenommenen identischen Mitteilungen durch Jahre geschlummert, bis sie eines Tages als eine scheinbar originelle Erkenntnis erwachten." 3 1
2 3
Vgl. Die endliche und die unendliche Analyse, STA Egb., S. 384; vgl. in diesem Zusammenhang auch Freuds Diskussion über die „wissenschaftliche Originalität" im allgemeinen und die Affinitäten zwischen seiner Theorie der „Traumzensur" und jener von Popper-Lynkeus im speziellen, in: Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes, GW 13, S. 357 ff. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 338. Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, GW 10, S. 50; vgl. ebenfalls ,Selbstdarstellung', GW 14, S. 48 f.
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Schlußbetrachtung
Bei der Frage, ob trotz Freuds Weigerung, sich mit Nietzsche näher auseinanderzusetzen, einige Ideen des „Vorläufers" auf verschlungenen Kanälen dennoch zu ihm vorgedrungen sind und bis zu ihrer Ausformulierung in ihm „geschlummert" haben, ist auf eine nicht unerhebliche Relativierung hinzuweisen: auf den nachhaltigen Einfluß der Wissenschaftsgeschichte, der die beiden Denker zwangsläufig eine gewisse methodische und teils auch inhaltliche Interessengemeinschaft eingehen läßt. Sowohl Nietzsche als auch Freud knüpfen explizit an die kopernikanische und darwinsche Geistesrevolution an und schöpfen im weiteren aus einem Fundus natur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen, von denen etwa zu nennen sind: Biologie und verschiedene Varianten der Evolutionstheorie, Mechanik, Physiologie, Psychiatrie, Ethnologie, Religionsgeschichte, Mythologie, Literaturgeschichte u. a. m. Die fortschreitende Aneignung bzw. Verarbeitung der diversen Wissensgebiete durch Freud und Nietzsche — genauer: durch den ursprünglichen Neuropathologen Freud, der von den medizinischen Wissenschaften sukzessive ins Lager der naturwissenschaftlich gefaßten Psychologie wechselt, und durch den ursprünglichen Philologen Nietzsche, der schrittweise das Terrain des historischen Philosophierens und der PhysioPsychologie abschreitet — ist von Fall zu Fall natürlich sehr different. Aber sie bedingt verschiedentlich eben auch eine gemeinsame Präferenz für bestimmte methodische Zugänge und inhaltliche Problemstellungen. Beispielsweise zeichnet die Allgegenwart des mechanischen Weltbildes für die quantitativen Annäherungen an Psychologie und Psychopathologie (für Nietzsche auch an die Metaphysik) ebenso verantwortlich wie für energetische und ökonomische Abklärungen der Triebkonzeptionen; Konzeptionen, die sich etwa auch in dem Punkte berühren, daß sie an einer Evidenz der herrschenden Biologie, nämlich der selbstgewissen Annahme von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben, massive Zweifel aufkommen lassen. Und die Theorien der Seele bzw. seelischen Erkrankung orientieren sich nicht zufällig an den aufsehenerregenden Experimentalstudien der Salpêtrière. (Freilich, dem langjährigen „Psychoanalytiker" Nietzsche kamen die physiologischen Zuspitzungen eines Ch. Féré wie gerufen, um nach der Dominanz der religiös verbrämten Psychologie deren Ende zu verkünden — während Charcots Untersuchungen für Freud gerade den Auslöser einer allmählichen Distanzierung vom Ausschließlichkeitscharakter der Physio-Psychologie bildeten.) Die Ethnologie, um ein Beispiel aus den Geisteswissenschaften zu erwähnen, bot wiederum reichhaltiges Quellenmaterial, das beide Denker für bestimmte Reflexionen zur Kulturgeschichte (Animismus, Magie, Religion) verwerteten. Diese hier auf wenige Aspekte eingegrenzten Forschungsinteressen werden indes überstrählt von einer Leitmaxime, die Nietzsche und Freud miteinander (und beide wiederum mit Schopenhauer) teilen: jene zur kompromißlosen intellektuellen Redlichkeit in psychologicis. Das bedeutete, mit durchaus unzeitgemä-
Schlußbetrachtung
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ßem Vokabular die heimliche „Unterwelt", d. h. die allzumenschlichen und eben deshalb verleugneten Züge von Metaphysik, Religion, Moral (Sexualmoral im engeren) und „modernen" Ideen auszuleuchten. Dieses methodische Rahmenprogramm, das sich nun an einem mühsamen, wiederum stark quantitativ begriffenen, psychologischen „Steinchen-fur-Steinchen"-Abtragen (Nietzsche) bzw. an einem kasuistischen Durchwühlen des wissenschaftlich vernachlässigten „Abhubs der Erscheinungswelt" (Freud) ausrichtet, fuhrt schließlich zu zahlreichen analogen Einsichten (wenn sie manchmal auch mit anderer Tönung versehen und mit unterschiedlicher Detailfreude formuliert werden): etwa zu Erkenntnissen über die Unangemessenheit des traditionellen Gegensatzdenkens (Liebe — Haß, Mideid — Grausamkeit, Altruismus — Egoismus, gut — böse usw.), über die lustgesteuerten, destruktiven, letztlich unbewußten Quellen des menschlichen Denkens und Handelns, über die idealistische Verherrlichung bestimmter Einstellungen im Alltagsleben (ζ. B. die scheinbare Uneigennützigkeit der Elternliebe) und anderes mehr. Vor allem in seiner mitderen und späten Periode enttarnt Nietzsche, der „Nußknacker der Seele", eine Reihe psychologischer Vorgänge, die allesamt für die Psychoanalyse von Relevanz sind. Unangesehen des jeweiligen Vertiefungsgrades, mit dem er die einzelnen dieser Phänomene freilegt und dabei ausdrücklich beim Namen nennt oder aber inhaltlich umschreibt, sind etwa zu erwähnen: Sublimierung, Verinnerlichung, Projektion, Verdrängung, Wiederkehr des Verdrängten, Rationalisierung, Verkehrung ins Gegenteil, Reaktionsbildung, Hemmung und Abreagieren. Damit ist der Punkt erreicht, an dem die Frage, ob Freud kryptomnestischen Neigungen erlegen ist oder nicht, im Detail aufzunehmen wäre. Mit gutem Grund, wie noch zu sehen ist, beschränken wir uns auf zwei Beispiele, die beiden Möglichkeiten Rechnung trägt. Durch ein Protokoll der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus dem Jahre 1908 ist überliefert, daß P. Federn Freud darauf hinwies, Nietzsche habe die Bedeutung des „Abreagierens [...] als erster entdeckt" 4 . Zu diesem Zeitpunkt hatte Freud seine Theorie des Abreagierens freilich längst formuliert, abgesehen einmal davon, daß er diesen Mechanismus in den Kontext einer umschriebenen hysterischen Individualsymptomatik stellte, während er bei Nietzsche in den historischen Rahmen der Ressentiment-Analyse eingebettet ist. Dagegen gibt das Thema der Entstehung des Gewissens aus einer Rückwärtswendung und „Verinnerlichung" der Aggression die meisten Rätsel auf. Noch 1932 spricht Freud gegenüber Einstein von einer „Ketzerei", die er mit dieser These begangen habe. 8 Jahre zuvor hatte indes F. Wittels in seiner Freud-Biographie, die vom Porträtierten auch gelesen wurde, betont, bereits Nietzsche habe diesen Gedankengang in aller Deutlichkeit artikuliert. Nun mag man einwenden, daß Freuds Verinnerlichungstheorie schon in „Totem und 4
Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Band 1, S. 337.
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Schlußbetrachtung
Tabu" (1912/13) und in „Zeitgemäßes über Krieg und Tod" (1915) zumindest vorgezeichnet ist. Dem wäre wieder entgegenzuhalten, daß Lou Salomé gerade im Frühjahr 1913 in der Nähe Freuds weilte, d. h. zu einem Zeitpunkt, als Freud den für das Thema relevanten 4. Teil von „Totem und Tabu" ausarbeitete — dieselbe Lou Salomé, die des Philosophen Idee genau kannte und in ihrem Nietzsche-Buch näher besprochen hatte. Zudem ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß Freuds Schüler E. Hitschmann über den Inhalt der NietzscheThese informiert war, hielt er doch 1908 vor der Wiener Vereinigung ein Referat über die dritte Abhandlung der „Genealogie der Moral". (Der Verinnerlichungsgedanke findet sich in der zweiten Abhandlung dieser Schrift.) Andererseits darf man wohl vermuten, daß Nietzsches „eigne Hypothese" zur Verinnerlichung, wie er es nennt, in dieser oder jener Form schon vor ihm gedacht worden ist. Die Problematik aller sogenannten Vorläuferdiskussionen ist ja etwa bei der Frage nach der Herkunft des „Es" manifest geworden: Freud glaubte, Nietzsche ein solches Es zuschreiben zu dürfen, während sich bei näherer Betrachtung herausstellte, daß Nietzsche, der angebliche Urheber des Gedankens, seinerseits an den um Descartes und Kant zentrierten philosophischen Diskurs der Neuzeit anschloß und vermutlich auch bei G. C. Lichtenberg Anleihen genommen hat. Ein weiteres Beispiel: Der über die Psychoanalyse populär gewordene Begriff der Sublimierung gewinnt bekanntlich bereits in Nietzsches Opus überragende Bedeutung. Indes ist wahrscheinlich, daß Nietzsche selbst auf Ideen von J. H. Jung-Stilling zurückgriff, und gewiß, daß er Anregungen dem „Symposion" von Piaton verdankte. Freuds Uberzeugung, der Frage nach geistigen Urheberrechten und Prioritätsansprüchen komme im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt von Aussagen höchstens sekundärer Rang zu, kann über einen Umstand nicht hinwegtäuschen: daß gerade er es war, der diese von ihm als ärgerlich empfundene Diskussion in Permanenz schürte. So gesehen entbehrt es nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, daß man sowohl zu seinen Lebzeiten als auch späterhin nicht nur immer peniblere Maßstäbe an die Originalität seiner Gedanken anlegte, sondern auch mögliche persönliche Motive für sein Unbehagen in Sachen Priorität ins Spiel brachte. Anders die Situation in der Nietzsche-Forschung, wo diese Diskussion eher im konventionellen Rahmen verläuft, jedenfalls aber weitgehend frei von Argumenten ad hominem ist. Und dies, obwohl Nietzsche keinerlei Skrupel hatte, Ideen anderer aufzugreifen, ohne dabei auf die entsprechenden Quellen zu verweisen. Dies gilt etwa für G. Teichmüller, dessen Namen man in „Jenseits von Gut und Böse" ebenso vergeblich sucht wie jenen von Ch. Féré in den veröffentlichten Schriften ab der „Genealogie der Moral". Im Unterschied zu Freud war für Nietzsche die Problematisierung des Themas „bewußtes/unbewußtes Plagiat und Prioritätsrechte" offenbar eines der „überflüssigsten Geschäfte von der Welt", wie es E. Friedell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit" (und unter
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Bezugnahme auf ein Gespräch Goethes mit Eckermann) nennt. Drastisch ausgedrückt, sei die „Frage der Priorität [...] von großem Interesse bei Luftreinigern, Schnellkochern und Taschenfeuerzeugen, aber auf geistigem Gebiet ist sie ohne jede Bedeutung". Denn, so Friedell weiter, die lebensfähigen und fruchtbaren Gedanken sind eben niemals „von einem Einzelnen ausgeheckt, sondern immer das Werk des Kollektivbewußtseins eines ganzen Zeitalters."5 Bemerkenswerterweise ist es gerade Freud, der einen solchen Gedanken konsequent weitertreibt und am Beispiel der Affinität zwischen dem psychoanalytischen Konstrukt des Todestriebes und der Schopenhauerschen Philosophie zum Schluß kommt: „Alles ist schon gesagt worden und vor Schopenhauer haben viele Ahnliches gesagt."6 Mit einem Wort: Ein unendlicher Regreß ist bei sämtlichen diesen Fragen immer schon in Rechnung zu stellen. Warum sich weitere Reflexionen über Freuds mögliche kryptomnestische Veranlagung in Causa Nietzsche zuguterletzt erübrigen, ist freilich dem folgenden, allesentscheidenden Umstand zuzuschreiben: dem bislang in der vergleichenden Literatur nicht oder jedenfalls nicht hinreichend hervorgehobenen Faktum, daß beide Theoriekomplexe für sich stehen und gegenüber der jeweils anderen Konzeption auch derart viele diametrale Elemente erkennen lassen, daß die wie immer gearteten Gemeinsamkeiten in den Hintergrund treten. Zunächst kann man drei markante, d. h. trotz aller geistesgeschichtlichen Einflüsse unverwechselbare Säulen der beiden Unternehmungen miteinander konfrontieren. 1) Freud stößt auf die eminente Bedeutimg des ödipalen Konflikts, der infantilen Sexualität, der Partialtriebe usw. für die individuelle psychische Entwicklung. Diese Einsichten fuhren zu einer charakteristischen Neurosentheorie und zu einer innovativen Form von Therapie. Demgegenüber richtet sich Nietzsches vorrangiges Interesse auf die Pathologie der abendländischen Vernunft- und Moralgeschichte, ein Interesse, aus dem schließlich eine originäre Theorie des Nihilismus und ein visionäres „therapeutisches" Großprojekt hervorgeht. 2) Freud „entdeckt" nicht das Unbewußte, sondern dessen spezifische Sprache oder Ordnung. Man tut Freud, wie G. Böhme festhält, sicher nicht unrecht, wenn man ihm bei dieser eigentlichen Pionierleistung einen „ungebrochenen Cartesianismus"7 unterstellt (hier die Seele, dort der Körper). Die vor allem im Opus magnum „Die Traumdeutung" niedergelegte und in der Metapsychologie von 1915 erhärtete Grundidee besagt, daß das Unbewußte nur als Seelisches im Sinne eines Anderen des Bewußtseins verstanden werden kann. Dagegen wurzelt Nietzsches Theorie des Unbewußten zuletzt in einer Philosophie des Leibes, die den cartesischen Dualismus zu überwinden sucht. Seinem revolutionären 5 6 7
Vgl. Friedell, E., Kulturgeschichte der Neuzeit, Band 1, München 6 1986, S. 51 ff. 32. Vorlesung der Neuen Folge, Angst und Triebleben, STA 1, S. 540. Böhme, G., Freuds Schrift ,Das Unbewußte', a. a. O., S. 764.
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Schlußbetrachtung
Selbstverständnis zufolge muß der Leib selbst noch als unbewußtes Erkenntnisotgan begriffen werden, das im komplexen Zusammenspiel der Kräfte „intelligenter" agiert als jegliches Bewußtsein. 3) Im Rahmen des späten psychoanalytischen Triebdualismus gilt der Wille ψτ Macht als Partialtrieb des Todestriebes, dem seinerseits der Eros als zweiter Elementartrieb gegenübersteht, während bei Nietzsche umgekehrt die Sexual- und Destruktionstriebe als „Partialtriebe" des einen Grundwillens zur Macht fungieren, der zudem als Trieb- und als Interpretationsregulativ alles Seienden gedacht ist — womit der bei Freud herrschenden Tendenz zur Biologisierung der Trieblehre widerstritten wird. Folgt man in groben Zügen dem Aufbau der vorliegenden Untersuchung, lassen sich die weiteren theoretischen Kernstücke Nietzsches und Freuds wiederum in ihren bezeichnenden Unterschieden herausstellen. Zwar fördern vor allem die Betrachtungen der Phänomene „Sublimierung", „Projektion" und „Verinnerlichung" eine Reihe augenfälliger Parallelen zutage. Aber bereits die Diskussion um die Sublimierung, die sozusagen in einer weitgehend harmonischen Atmosphäre verläuft, kann erste inhaltliche Akzentverlagerungen nicht überdekken (abgesehen davon, daß bestimmte psychoanalytische Themenstellungen nur aus dem immanenten Gang der Erörterungen heraus verstehbar werden). Beispielsweise begreift Nietzsche den Sublimierungsbegriff viel eindringlicher als Freud als einen B^rtbegriff; über das Postulat der „Veredelung" (und nicht bloß Ökonomisierung) der menschlichen Leidenschaften vollzieht er den Brückenschlag zu einem ästhetisch unterbauten Realitätskonzept (was wiederum eine gegenüber der Psychoanalyse unterschiedliche Auffassung der Kunst bzw. des Künstlers bedingt), und schließlich definiert er auch das „Ziel" der Sublimierung in einem genauer umschriebenen Sinne als Freud. Die Thesen zur Projektion wiederum nehmen zunächst teils in vergleichbaren Motiven ihren Ausgang (generelles Mißbehagen an den religiösen und philosophischen „Hinterwelten"), teils in differenten Überlegungen (Freuds Entschlüsselung der Paranoia; Nietzsches Kritik der neuzeitlichen Ichmetaphysik); sie lassen in der Folge durchaus verwandte Aspekte zum Vorschein kommen (ζ. B. die Projektion als Abwehrmechanismus), münden schlußendlich aber in eine vollends diametrale Erkenntnistheorie ein (Korrespondenz- gegen perspektivische ,,Verfálschungs"-Theorie). Zudem wird von Nietzsche das Problem des Anthropomorphismus erheblich weiter gefaßt als bei Freud. Auch die Genealogien zur Moral folgen in etwa diesem Schema: Voraussetzungen teils ähnlicher Art (der grausame Grundtext der menschlichen Kultur), teils unterschiedlicher Art (inhaltlich spezifÍ2Íerter Ödipuskomplex zum einen; formale Ableitung der „Sittlichkeit der Sitte" und formales Obligationenrecht zum anderen) führen zu einem analogen Herzstück, der Idee der Verinnerlichung, die allerdings die letztlich heterogenen Moralphilosophien keineswegs zurückzudrängen vermag: Während Freud eine quasinaturalistische Begründung des „Faktums" Moral unternimmt, ist es Nietzsche namentlich
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um die Herkunft differenter Morali» und eine Typenlehre derselben zu tun. Der archäologischen Methode der Psychoanalyse steht die genealogische bei Nietzsche gegenüber. Ersterer fällt die Aufgabe zu, in nüchterner Rekonstruktionsarbeit die Ereignisse einer zugleich verschütteten wie konservierten Historie freizulegen und so zusammenzufügen, daß sie der Gegenwart als Elemente einer sinnhaften Kontinuitätsgeschichte erkennbar werden. Genealogie bei Nietzsche aber meint ein Aufspüren all der „sinnlosen" kleinen Verzweigungen und Diskontinuitäten in der Vergangenheit, aber auch der radikalen Einschnitte und Brüche, die all das entstehen ließen, was der Gegenwart zu Werten oder Unwerten geworden ist. Diese unterschiedliche Orientierung, die Freud eine „große Erzählung" über das ödipale Szenario der Menschheitsentwicklung und Nietzsche gleichermaßen „vornehme" wie „gemeine" Erzählungen über die Wechselfälle der Historie vortragen läßt, bleibt konstitutiv für die Betrachtungen zur Psychologie und Psychopathologie der Religion. Und auch hier gilt: Diverse ähnliche, in der Tradition der Aufklärung verwurzelte kritische Gedanken zu den Triebquellen der Religion, ihren Praktiken usw. treten angesichts der eigentlichen Basisargumentation in den Hintergrund. Tatsächlich ist der inhaltliche Kontext, in den Freud den uranfanglichen „Mord am Vater" bzw. die daraus folgende „Tötung Gottes" und Nietzsche die Zäsur vom „Tod Gottes" stellt, miteinander schlechterdings inkompatibel, da ersterer eine fortwährende Neuinszenierung der patriarchalischen Moral, letzterer aber die Selbstaufhebung der abendländischen Moralgeschichte vor Augen hat. Da Freud zudem der Auffassung ist, der „Prothesengott" Wissenschaft mache den Verlust der religiösen Werte in säkularer Form wett, und da er im weiteren am Bestand einer „phylogenetisch" verankerten Werttradition im großen und ganzen wenig Zweifel hegt, ist ihm die Möglichkeit einer „unaufhaltsamen" Entwertung der Werte ebenso fremd wie die Funktion der Wissenschaft, die ihr bei dieser „melancholischen" Verdüsterung des „Horizonts" nach Nietzsche zukommt. Die zunehmende gegenseitige Frontenverhärtung des Denkens wird bei der Frage nach der Bedeutsamkeit der „äußeren realen Not" für den Willen zum Leben manifest. Für Freud ist es gerade diese Not oder „Ananke", die den Menschen beständig an den fundamentalen, unüberwindlichen Konflikt zwischen seinen inneren Triebbedürfnissen und den äußeren (naturhaften oder gesellschaftlichen, im Laufe der Entwicklung selbst noch internalisierten) Zwängen gemahnt und dem Individuum schwerste Verzichtsleistungen auferlegt. Nietzsche teilt die antagonistische Zentralthese weder in dieser Ausschließlichkeit, noch aber sind es Not, Mangel und Uberleben, die seiner Ansicht nach Leben wesenhaft definieren. Diese divergenten Lesearten zeichnen nicht zuletzt verantwortlich für ein gegenläufiges Weltbild und eine diametrale praktische Leitmaxime (für Unverträglichkeiten mithin, die noch verstärkt werden durch die an-
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Schlußbetrachtung
dersartdge Gewichtung des Komplexes „Leben und Tod"). Glück, so Freud, ist im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen, und also gelte es das Leben zu „ertragen". Glück ist eine Frage von Macht, so Nietzsche, abgesehen von zeitweiligen Restriktionen liege alles daran, das Leben zu „steigern". Erinnert man sich des „Kriegsvokabulars", dessen sich auch Freud bedient, kann man vielleicht sagen, daß Nietzsche und Freud überhaupt zwei unterschiedliche Typen des strategischen Denkens repräsentieren. Beide sind weit davon entfernt, den realen und psychischen Krieg im Leben zu beschönigen (und darin jedenfalls verbunden durch einen gemeinsam geteilten Immoralismus). Aber während Nietzsche dem Menschen zumutet, diesen Krieg stets aufs neue zu gewinnen, beschränkt sich Freud auf die Erwartung, daß wir ihn mit möglichst wenig Verlusten überstehen. Der Disput eskaliert gewissermaßen beim Thema „Die Therapie des Menschen". Bereits bei den Reflexionen zur Individualtherapie treten bemerkenswerte Differenzen zutage. Freuds psychotherapeutische Methode steht zwar unbestritten für sich, gleichwohl wirft Nietzsche einige Fragestellungen auf, deren Antworten durchaus eine andere Richtung nehmen als die der Psychoanalyse — Fragen etwa, ob „Selbsterkenntnis" überhaupt möglich ist, und selbst wenn ja, ob darin tatsächlich ein erstrebenswertes therapeutisches Ziel liegt, Fragen etwa zur Rolle des „Ichs" im Erkenntnisprozeß u. a. m. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang jedenfalls, daß Nietzsche und Freud an einem Punkt rühren, der nichts an Aktualität verloren hat: an dem über das Primat von körperorientierter Therapie oder Psychotherapie. Selbstredend aber entzündet sich die Kontroverse in aller Schärfe an Nietzsches kulturellem, übermenschlichen Therapieprojekt, wobei das jeweilige Menschenbild der Dissonanz den Weg bahnt. Für den Desillusionisten Freud ist der Mensch, man mag es drehen und wenden wie man will, im tiefsten Grunde nichts anderes als ein sublimiertes Tier. Das ist er für Nietzsche zwar entschieden auch! Aber zugleich wird er als Wesen gedacht, das sich in seiner Existenz auch zu rechtfertigen und in dieser Rechtfertigung über sich hinauszuwachsen sucht. Da mit dem Tod Gottes dem Menschen aber beides genommen werde, liegt für Nietzsche die Notwendigkeit einer Uberwindung dieses existenziellen Vakuums auf der Hand. Mit einem Wort: Nietzsche verweist auf einen Problemkreis, den man mit einer etwas abgenutzten Vokabel als historische Neufassung der menschlichen „Sinnfrage" bezeichnen kann — ein Sujet, das in Freuds Theorie keinen Platz findet. Diese Leerstelle einmal verdeutlicht, ließ sich aus Nietzsches Philosophie eine Reihe von Argumenten extrapolieren, die letztlich in der Frage zusammenlaufen, ob der Psychoanalyse in Theorie und Praxis nicht eine unbegriffene Form des Nihilismus zugrundeliegt. Umgekehrt macht Freud aus seinem Unbehagen am Ubermenschen und an Nietzsches „SoUens"-Philosophie bekanntlich kein Hehl. Die Psychoanalyse sei eben nicht mit einer „Weltanschauung" zu verwechseln, sondern dem objektiven
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Ductus der Wissenschaften verpflichtet. Daraus aber resultieren wiederum zusätzliche Polarisierungen hinsichtlich der historischen, psychologischen und „ideologischen" Funktion der Wissenschaft, des Wahrheitsbegriffs und der Erkenntnistheorie im generellen. Aus dieser Gegenläufigkeit der Ideen kann nicht geschlossen werden, Nietzsches und Freuds Denken berührten sich allenfalls am Rande oder erschöpften sich in beidseitig geteilten Marginalien. Gleichwohl ist nunmehr evident, daß die Ähnlichkeit der Gedanken seit Freuds Zeiten erheblich überschätzt wurde und somit ein kontinuierlich genährter Mythos entstand, der dadurch, daß man ihn weiterhin belebt, um nichts wahrer wird.
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Namenregister
Dieses Register enthält Personennamen, Namen von literarischen, mythischen und biblischen Gestalten, Pseudonyme, charakteristische Personenbezeichnungen wie „Rattenmann", im weiteren Zeitschriften, Periodika und Buchreihen, bestimmte Institutionen sowie ausgewählte Orte, Länder und Kontinente, wobei die entsprechenden abgeleiteten Wortformen und Wortverbindungen ebenfalls erfaßt sind. So beinhaltet etwa das Stichwort „Dionysos" auch „dionysisch", „Griechenland" auch „griechisch", „Marx" auch „Marxismus" und „Darwin" auch „Anti-Darwin". Schließlich sind die im Text erwähnten Titel der Werke Nietzsches und Freuds berücksichtigt worden. Sowohl im Namen- als auch im Sachregister beziehen sich die Seitenverweise der Stichworte auf Text und Anmerkungen. Davon ausgenommen sind Ortsnamen in Anmerkungen, die einen Verlagsort bezeichnen sowie Personennamen, die ebendort in Buchtiteln aufscheinen (etwa „Schopenhauer als Erzieher"). Hingegen sind mit Ausnahme Nietzsches und Freuds die in den Anmerkungen zitierten Verfasser, Herausgeber und Ubersetzer von Werken und Briefen als Seitenverweise enthalten, sofern sich diese Autoren nicht ohnehin auf der betreffenden Textseite vorfinden. Für Namen- und Sachregister gilt: Verweise auf zwei oder mehrere aufeinanderfolgende Seiten, die kursiv hervorgehoben sind, machen auf einen fortlaufenden thematischen Bezug aufmerksam. Nicht kursiv gekennzeichnete Seitenfolgen können, müssen aber nicht notwendig einen solchen Bezug implizieren. Abraham, Karl 460, 653 Achelis, Werner 138 Adler, Alfred IX, 49, 51, 62- 67, 69, 77- 78, 85, 87-88, 92-93, 95, 102, 120, 122, 131, 156, 169, 171, 194, 216, 282, 328-29, 576-77, 579, 629, 668 Adler, Siegmund 24 Adler, Viktor 7, 13- 15, 21, 24, 26, 132 V. Adler Archiv XI, 2 4 - 2 6 Adorno, Theodor W. 280 Ägypten 284, 443 Akademischer Verein für medizinische Psychologie 157, 159 Altenberg, Peter 74 Amerika IX, 124, 361, 528, 558 Ananke 199, 211, 235, 398- 99, 605, 709 Andler, Charles 466 Andreas-Salomé, Lou 74-86, 95, 113, 119, 131, 144, 150- 52, 158, 166- 67, 171, 314, 706 Anna O., eigentlich Bertha Pappenheim 532 Apel, Karl-Otto 678 Apollo 13, 90, 351-53, 360, 613 Archiv der Universität Wien XI, 8, 11 Ariadne 155 Aristoteles 16, 134, 154, 244, 265, 409, 637, 648, 678, 690, 698
Asien 352 Assoun, Paul-Laurent VIII, 42, 108, 220, 260-61, 294, 305, 377, 523, 610, 613, 620 Athen 291, 343, 440 Atkinson, James Jasper 205, 282—83 Augustinus, Aurelius 546 Bachofen, Johann Jakob 494 Baeumler, Alfred 153-54 Balmer, Heinrich 42 Basel 3, 18, 52, 88, 205, 340, 429, 626 Bastian, Adolf 109 Baubo 185 Bauer, Martin 617, 627 Baumann, Julius J. 617, 629 Baumayer, Franz 183 Baumgartner, Hans Michael 648 Bauschinger, Sigrid VIII-IX Bayreuth 14-15, 258 Benn, Gottfried IX, 465, 474-75 Berisch, Karl 456 Berlin 12, 27, 37, 59, 147 Bernays, Jakob 35 Bernays, Martha 28, 30, 35, 37 Bernfeld, Siegfried 11, 16, 29, 395- 96 Bernheim, Hippolyte 434, 528, 558 Bernoulli, Carl Albrecht 34, 74
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Namenregister
Beuerle, Karl 8 - 9 Bickel, Lothar 128, 143 Billroth, Theodor 9, 11 Binswangen Ludwig 19, 81, 144, 157-58, 161-65, 171, 235 Bishop, Paul 90-91, 353, 525 Bismarck, Otto von 154 Blumenberg, Hans 196-97, 262, 389 Boehlich, Walter 15 Böhme, Gernot 241, 253, 662- 65, 672, 707 Böhme, Hartmut 241, 253, 672 Boltzmann, Ludwig 396— 97 Bolz, Norbert W 253, 348 Bonaparte, Prinzessin Marie 37, 324—25, 331, 338, 351 Bonn 35 Borgia, Cesare 514 Bornmann, Fritz VIII Bourget, Paul 466 Bourke, John Gregory 353 Braun, Emma 13 — 14 Braun, Heinrich 7, 12- 15, 24, 26, 132, 171 Braunthal, Julius 13-14 Braun-Vogelstein, Julie 12 Brecht, Karen 108 Brennecke, Detlef 290- 91 Brentano, Franz von 11-12, 16-18, 27-28, 108, 132 Breslau 35 Breuer, Josef 11, 37-38, 201, 229, 377-78, 427, 434, 528, 530, 532, 534, 558, 581, 611, 703 Brill, Abraham A. 44, 313 Brockard, Hans 648 Brücke, Ernst 11, 27-28, 30-31, 34, 132, 417, 539, 612 Brückner-Pfaffenberger, Eva X Brühl, Carl Bernhard 7, 27 Brumm, Barbara X Bruno, Giordano 154 Brunswick, Mark 127 Buddha, Gotama 402, 449, 555-56 Burckhardt, Jacob 111 Byron, George Noël Gordon, Lord 506 Caesar, Gaius Julius 506 Cagliostro, Alessandro Graf von, eigentlich Giuseppe Balsamo 362 Canetti, Elias 238, 329 Carpitella, Mario VIII Cassirer Bernfeld, Suzanne 11, 16, 29 Challaye, Felicien 129 Charcot, Jean Martin 37, 417-18, 429, 434, 528, 558, 7 0 3 - 4
Christus siehe Jesus von Nazareth Chrobak, Rudolf 703 Clark, Ronald W 28 Claus, Carl 11, 27-28 Cohen, Hermann 154 Colli, Giorgio V, VIII, 3,22, 43,212,291,416, 626 Common, Thomas 90 Comte, Auguste 17 Cremerius, Johannes 147 Creusot, Chantal 253 Dahmer, Helmut 663 Danto, Arthur C. 394 Darwin, Charles Robert 7, 16, 19, 27, 47, 259, 282-83, 387-89, 391, 400, 432, 484, 511, 518, 617, 627, 644- 45, 650 - 52, 704 Davies, J. Keith XI, 44, 46 DDR VII, 148 Decher, Friedhelm 274 Deleuze, Gilles VIII, 226, 294, 307, 348, 401-2, 456, 588- 89, 594, 600, 633 Den Haag 113-14 Derrida, Jacques VIII, 372 Descartes, Réne 17, 109-10, 154, 244, 250, 253, 260, 262, 563, 663, 686- 94, 706 - 7 Deschner, Karlheinz 450 Descombes, Vincent VIII Deutsch, Helene 79-80 Deutschland VII-IX, 7 - 9 , 12, 14-15, 19, 27, 154, 290, 465, 556, 696 Deutsch-österreichischer Leseverein 9 Dickopp, Karl-Heinz 687-89, 692, 696 Diogenes Laërtius 222 Diogenes von Sinope 468 Dionysos 4, 13, 90 - 91, 155, 351-53, 354, 360, 390, 452, 476, 509, 525, 554, 613 Djuric, Mihailo 246-47, 389, 687, 690, 694, 697-98 Don Juan 339 Dora (Patientin Freuds) 531 Dorer, Maria 128 Dostoevskij, Fedor, M. 73, 128, 353, 448, 465 Drews, Sibylle 108 Du Bois-Reymond, Emil 27-28, 612 Duerr, Hans Peter 598 Dühring, (Karl) Eugen 479, 483 Eckardt-Jaffe, Marianne von 496 Eckermann, Johann Peter 707 Eckstein, Emma 421 — 22 Ehrlich, Josef R. 21-22, 23 - 26 Einstein, Albert 154, 157, 297, 705 Eissler, Kurt R. 28, 40, 80, 96
Namenregister Eitingon, Max 128 Ellenberger, Henry F. 108, 315, 528 Elrod, Norman 663 Emerson, Ralph Waldo 613 Empedokles 623-24, 626, 644, 703 England 28, 259, 281, 288, 387 Erb, Wilhelm Heinrich 434, 528, 559 Erdheim, Mario 4, 11, 108 Ermers, Max 14-15 Eros siehe Trieb [Eros] im Sachregister Espinas, Alfred 617 Europa IX, 4,72, 209, 356,386,429,438,446, 465, 469, 472 - 73, 476, 489, 598 Exner, Sigmund 11 Fechner, Gustav Theodor 395, 560, 612-13, 627, 658 Federn, Ernst XI, 5 Federn, Paul 50-51, 62, 152, 171, 494, 705 Feitelberg, Sergei 395- 96 Féré, Charles, eigentlich Charles Octave Moget 429-32, 434, 438, 558, 565, 590, 628, 704, 706 Ferenczi, Sándor 68, 99, 114, 123, 198, 536 Feuerbach, Ludwig 16, 19-20, 47, 109, 131, 249, 272 Feyerabend, Paul 597- 98 Fichte, Johann Gottlieb 17,134, 241, 247, 253, 272, 435, 672 Fichtner, Gerhard XI Figi, Johann VIII Fink, Eugen 505 Hieß, Wilhelm 37-41, 93,103,133,135, 234, 242, 248, 271, 313, 413-14, 421-23, 537, 666
Fluß, Emil 7 Förster, Bernhard 33 Förster-Nietzsche, Elisabeth 3-4, 25, 32-33, 41, 51-52, 71, 74 — 77, 83 - 84, 95, 111-12, 152, 155, 171, 544 Foucault, Michel VIII, 294, 599 France, Anatole 47 Frank, Joachim A. 7, 28, 114 Frank, Manfred VIII, 253, 342, 525 Frankreich VII-VIII, 124, 289, 341, 362, 386, 429, 436, 465-66 Frazer, Sir James G. 180, 205, 282 Freschi, Robert 64, 171 Freud Archiv 577 Freud Museum, London XI, 44, 83, 128 Freud Museum, Wien XI Freud, Anna V, X, 37, 8 2 - 8 3 Freud, Ernst 7, 30 - 31, 66, 147 Freud, Lucie 7
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Freud, Sophie 399 Freud, Werke (chronologisch) Entwurf einer Psychologie 38, 133, 136, 332, 371, 610-13, 655, 673 Studien über Hysterie (gemeinsam mit J. Breuer) 377- 78, 427, 530, 532 Zur Ätiologie der Hysterie 421 Uber Deckerinnerungen 381 Die Traumdeutung 3, 26- 27, 30, 37 - 39, 103 - 6, 134, 136, 170, 215, 262, 332, 334, 371-72, 537, 610, 622, 661, 673, 707 Uber den Traum 38 Zur Psychopathologie des Alltagslebens 41-46, 51, 135, 234, 236 - 37, 244, 248, 577 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 194 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 313, 328, 332, 415, 461, 612, 614, 623, 632 Bruchstück einer Hysterie-Analyse 531 Der Wahn und die Träume in W Jensens .Gradiva' 358 Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben 282 Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose 41—46, 186 Uber Psychoanalyse 361 Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci 358, 494 Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung 614 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens 672 Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) 69, 72, 169, 182, 239-40 Nachtrag zu .Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)' 75, 105—6 Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II: Uber die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens 399, 461 Totem und Tabu 88, 119, 139, 148, 180, 184, 216, 240, 281-84, 297, 346, 390, 453, 494, 527, 655, 7 0 5 - 6 Der Moses des Michelangelo 517 Zur Einfuhrung des Narzißmus 562, 623 Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung 93 - 97, 120, 171 Zeitgemäßes über Krieg und Tod 119, 297, 706 Triebe und Triebschicksale 674
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Namenregister
Das Unbewußte 661-65, 684 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 410 Eine Kindheitserinnerung aus ,Dichtung und Wahrheit' 358 Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre 674 Trauer und Melancholie 490- 91, 498 Aus der Geschichte einer infantilen Neurose 65, 186 Das Unheimliche 100 Jenseits des Lustprinzips 100, 139, 141, 243, 371, 394, 519, 610-11, 618, 623, 643, 646, 676 Massenpsychologie und Ich-Analyse 494, 576 Das Ich und das Es 107, 114- 17,119,139, 325, 346-47, 492, 669, 676 Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert 577 Das ökonomische Problem des Masochismus 643, 658-60 Notiz über den .Wunderblock' 371-72 .Selbstdarstellung' 5, 9, 26, 120-21, 126, 171 Die Verneinung 675 Hemmung, Symptom und Angst 186 Die Frage der Laienanalyse 582- 83 Die Zukunft einer Illusion 129, 138, 179- 80, 209, 240, 297, 311, 485, 499, 527, 578, 583 Das Unbehagen in der Kultur 119, 129, 131, 241, 297, 307, 325, 373, 486, 500, 589, 653, 656 Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 210, 346— 47, 492, 533, 539, 563, 671, 676 Nachschrift 1935 zur ,Selbstdarstellung' 132 Gedenkwort für Lou Andreas-Salomé 166 Die endliche und die unendliche Analyse 213, 540, 626 Konstruktionen in der Analyse 589 Der Mann Moses und die monotheistische Religion 152, 307, 310-12, 390, 392, 438, 443, 453, 527 Abriss der Psychoanalyse 583 Friedell, Egon 706-7 Friedjung, Heinrich 9, 14-15 Friedrich II., der Große 542 Funke, Monika 696 Gadamer, Hans-Georg 256 Gasché, Rodolphe 372
Gast, Peter siehe Köselitz, Heinrich Gay, Peter 7, 37, 128-29, 143, 456 George, Stefan 59 Geröly, Beatrix 114 Glockner, Hermann 680 Gockel, Heinz 157 Gödde, Günter 27 Goedert, Georges 223 Goethe, Johann Wolfgang von 7, 47, 73, 89, 314, 358, 386, 506, 513, 707 Goldmann, Stefan 108-9 Gomperz, Theodor 12, 47 Graz 58 Griechenland 13, 34, 111, 197, 199, 211, 291, 293, 311, 314, 316, 322-23, 340, 343-44, 351-54, 358, 362, 386, 400, 403, 411, 440, 445, 447-48, 474, 575, 613-14, 644, 696 Groddeck, Georg 96, 107-17, 119, 121, 169, 172, 201, 685 Groos, Karl 194 Gross, Hans 43, 58, 60 Gross, Otto 58-61, 91, 95, 125, 171, 333 Grossmann-Garger, Brigitte 530 Grotjahn, Martin 108 Gruber, Max 14, 21, 24 Grün, Anastasius 9 Grün, Karl 27 Grünbaum, Adolf 341-42, 597 Gründer, Karlfried 353 Grunsky, Hans Alfred 154 Guattari, Felix 401-2, 588 - 89, 594 Guzzoni, Alfredo VIII Haas, Norbert 253, 662 Habermas, Jürgen IX, 188 - 89, 341 -42, 348, 534, 664, 678, 699 Haeckel, Ernst 27, 100, 221, 261, 319, 391-92, 419, 617, 645 Haitzmann, Christoph 577 Hamacher, Werner VIII Hamann, Johann Georg 686 Hamlet 353, 358 Harpprecht, Klaus 157, 160 Härde, Heinrich 153 Hartmann, Eduard von 17, 20-21, 108-9, 134, 383, 662 Hartmann, Heinz 107, 128, 313-14, 348 Häutler, Adolf 51, 54, 171, 276 Heftrich, Eckhard 157 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 55, 154, 244 - 46, 249, 253, 265, 272, 384, 436, 469, 480-81, 508, 510, 567-68 Heidegger, Martin IX, 161-62, 218-21, 466, 469, 637, 687
Namenregister Heine, Heinrich 47, 138 Heinz, Rudolf 663 Heimholte, Hermann 27, 612 Henschen, Hans-Horst 391 Heraklit 389, 402, 416, 472 Herborth, Friedhelm 79 Herder, Johann Gottfried 506, 686 Herring, Herbert 265 Herrmann, Emanuel 617 Herzen, Alexander I. 465 Hildebrandt, Kurt 128 Hillebrand, Bruno 4 Hiller, Albert 7, 9 Hinterberger, Heinrich 40 Hitler, Adolf VII, 153 Hitschmann, Eduard 48 - 49, 68- 69, 97, 105, 111, 116-17, 121, 128, 135, 169-71, 173, 235, 706 Hoffmann, E. T. A. 100 Hofmannsthal, Hugo von 74 Hölderlin, (Johann Christian) Friedrich 121, 613 Homer 47 Honegger, Margaretha 96 Horkheimer, Max 246, 280 Hübscher, Arthur 101, 190-91 Humboldt, Wilhelm von 686 Hume, David 17, 55, 265 Hurvich, Marvin 677-78 Hurwitz, Emanuel 58, 61, 72, 96 Hutson, James H. XI Ikhnaton (Echnaton/Amenhotep TV.) 443 Indien 445, 555, 696 Internationale Psychoanalytische Vereinigung 64, 87, 92, 161, 171 lokaste 281 Irma (Patientin Freuds), eigentlich Anna Hammerschlag 421 Italien VII, 152, 280 Jacobi, Friedrich Heinrich 465 Jacolliot, Louis 555 Jaffé, Aniela 67 Jahve 443 Janz, Curt Paul 23, 53, 223 Jarrett, James L. 90 Jaspers, Karl 53 Jean Paul 506 Jekels, Ludwig 128 Jena 52, 161 Jensen, Wilhelm 358 Jerusalem, Wilhelm 677 Jesus von Nazareth (Christus) 447- 52, 455, 483, 514, 526
731
Jones, Ernest 10-11, 28, 31, 35, 37, 41, 47, 54-55, 58, 60-61, 63, 72, 76, 83, 87, 96, 99, 113-14, 118, 121-22, 124, 127, 133, 139,150,157,161,166,198, 325, 331, 338, 351, 392, 399, 413, 444, 532, 612 Jones, Katherine 11 Juliusburger, Otto 68 Jung, Carl Gustav IX, 51, 58-60, 67, 72, 75, 85, 87- 92, 93 - 95, 105- 6, 119 - 22, 144, 159, 170-72, 281, 413, 577, 588 Jünger, Ernst IX Jung-Merker, Lilly 92 Jung-Stilling, eigentlich Johann Heinrich Jung 314, 706 Kachele, Horst 342 Kaiser-El-Safü, Margret 42, 188, 560, 663, 665, 672, 677-80 Kant, Immanuel 17-18, 55, 109, 154, 190, 218, 244 - 46, 249, 251, 253, 260, 273, 359, 386, 435, 552, 560, 563 - 64, 567- 68, 573, 598, 662- 64, 672, 678- 81, 684 - 689, 691-92, 698-99, 706 Kaufmann, Walter 53-55, 59, 94, 126, 218-19, 291, 313-14, 328, 343 -44, 364, 388-89, 505-6, 509, 513 Kautsky, Karl 12 Keller, Gottfried 25, 47 Kerz, Joachim Ph. 17, 111 Kettner, Matthias 342 Kipling, Rudyard 47 Klages, Ludwig 128 Klein, Hans-Dieter XI, 619, 678 - 81 .Kleiner Hans' 282, 284, 336, 345, 390, 425, 437 Kleist, Heinrich von 121 Knörzer, Winfried 423 Koegel, Fritz 75 Köhler, Joachim 238 Kolbert, Christa 342 Kopernikus, Nikolaus 47, 244, 484, 487, 704 Köselitz, Heinrich 3, 41, 71, 75, 544 Krafft-Ebing, Richard von 421 Kraus, Karl 118 Kreuzlingen 161 Klings, Hermann 648 Kris, Ernst 37 Kropotkin, Peter 465 Knill, Marianne 421-22 Krümmel, Richard Frank 32, 34 Kubaczeck, Marianne 599 Küchenhoff, Joachim 109 Kuhn, Elisabeth 465 Kuhns, Richard 357
732
Namenregister
La Rochefoucauld, François de 613 Lacan, Jacques 196, 253, 257, 341-42, 348, 401, 662 Laermann, Klaus 357 Lagache, Daniel 641 Laios 281 Lamarck, Jean Baptiste de Monet de 259, 370, 391-92, 419, 437, 443, 644-45, 652, 653 Lampi, Hans Erich 362, 427, 429 - 31 Lang, Hermann 196 Lange, Friedrich Albert 617 Laplanche, Jean 107, 239, 243, 322, 641, 658 Lehrer, Ronald 35, 305, 353 Leibniz, Gottfried Wilhelm 17, 244, 262, 435, 637, 680 Leonardo da Vinci 337, 358, 494, 506 Leseverein der deutschen Studenten Wiens 7- 15, 20 - 27, 29, 132 Library of Congress XI, 40, 129 Lichtenberg, Georg Christoph 109, 191, 686, 692-93, 698, 706 Liébeault, Ambroise Auguste 434 Liebknecht, Wilhelm 12 Lindquist, Nils Thomas 238 Lindsay, Jack 129 Lipiner, Siegfried, eigentlich Salomo 7, 13 — 15, 21, 22-26, 32-33, 84, 171 Liszt, Franz 155 Lobner, Hans 40 Locke, John 17 Lombroso, Cesare 430 London XI, 20, 39, 128 Lorenzer, Alfred 341 - 4 2 Low, Barbara 658 Löwith, Karl 416, 469, 508 Lubbock, John 205-6, 260, 285, 288 Lüdemann, Hermann 448 Lukàcs, Georg VII Lukas (Evangelist) 545 Lukian 506 Luther, Martin 436 Lyotard, Jean-François 599 Macaulay, Thomas 47 Mach, Ernst 109, 396 Macho, Thomas H. 687, 692 Magnus, Bernd 394 Mahler, Gustav 15 Maimonides (Moses ben Maimón) 154 Malcolm, Janet Χ, 422, 577 Mann, Thomas 157-61, 164-65, 544, 617 Manu 555-56 Marcuse, Herbert 495- 97, 499 Marx, Karl VII-VIII, 148,154,249-50,304, 319, 481-82
Masson, Jeffrey Moussaieff X, 37, 421 — 22, 429 Matheson, William XI, 129 Matthäus (Evangelist) 363, 417, 462 Maupassant, Guy de 52 Maurer, Reinhart Klemens 224 Mayer, Julius Robert 617, 627 Mayer-Hillebrand, Franziska 16 McGrath, William J. 7, 10-11, 14, 20, 22, 34 McGuire, William 60 Mephisto 519 Mereschkowsky, Dmitri S. 47 Mérimée, Prosper 465 Merton, Robert K. 96 Mette, Alexander 128 Metzger, Wolfgang 67 Metzler, Günter XI Meyer, Ahlrich 250 Meyer, Conrad Ferdinand 47 Meyer, Richard Moritz 83 - 85, 129 Meynert, Theodor 11, 13, 30 Meysenbug, Malwida von 514 Michaelis, Edgar 96, 128 Michel, Karl Markus 246 Michelangelo Buonarroti 102, 517 Midas 400 Mill, John Stuart 12, 36, 617, 653 Miller, Norbert VIII Milton, John 47 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, Graf von 377 Mitscherlich, Alexander X, 495 Mitscherlich-Nielsen, Margarete 123 Möbius, Paul Julius 52- 53, 528 Moersch, Emma 239 Moira 197, 199, 211 Moldenhauer, Eva 246, 342 Montinari, Mazzino V, Vili, 3, 22, 32, 43 Moses 102, 308, 311-12, 382, 392, 443-44, 453, 462, 517, 588 Mühsam, Erich 59 Müller, G. H. 5 Müller, Gert 39 Müller, Heinrich 506 Müller-Lauter, Wolfgang VIII, 220-21, 327, 465- 66, 505, 510-11, 514-15, 520, 617, 626, 628, 631, 637, 651-52, 701 Multatuli, Ps. für Eduard Douwes Dekker 47, 199 München 59, 158 Nagl, Ludwig 196, 342, 653, 687 Nancy 434, 528 Napoleon Bonaparte 386, 506
Namenregister Naumburg 23 Neininger, Johannes XI Neufeld, Steve XI, 83, 128-29 New York 40 Newton, Isaac 154 Niederland, William G. 238 Niederösterreichisches Landesarchiv in Wien XI, 8 Nietzsche, Elisabeth siehe Förster-Nietzsche, Elisabeth Nietzsche, Franziska 23-24, 155, 544 Nietzsche, Werke (chronologisch) Die Geburt der Tragödie 13, 29, 35, 89, 148, 258, 342, 350- 56, 400, 543, 613 Unzeitgemässe Betrachtungen I: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller 18-20, 29 Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 20, 29, 376, 379, 388, 613, 616 Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher 22- 24, 29, 258, 388, 547, 613 Menschliches, Allzumenschliches 104, 204 - 6, 208, 210, 211-12, 228, 257- 61, 266- 67, 269, 281, 285, 303, 307, 316-17, 323, 325, 349, 363, 376, 384, 408, 432, 438, 481, 485, 487, 547 - 48, 557, 615-17, 633 Morgenröthe 261-62, 267- 68, 280, 285-88, 300, 303, 323, 339, 347, 374, 383, 450-52, 481, 543, 549, 557, 572, 614-15, 684 Die fröhliche Wissenschaft 89, 130, 221, 223, 255- 56, 264, 267, 353 - 54, 432, 461, 469, 497, 543, 547, 549, 557, 569, 615, 647, 656 Also sprach Zarathustra 32, 34—35, 69- 73, 89 - 90, 92, 94, 98- 99, 120, 154, 163, 169, 269, 304, 335, 339, 389, 393, 414, 416- 17, 432, 457, 469, 473, 477, 479, 498, 505- 7, 514-16, 518, 525, 551-53, 575, 603-4, 638, 686 Jenseits von Gut und Böse 41—46, 89, 109-11, 116, 163 - 65, 202, 286, 288, 290, 304, 322, 327, 338, 376, 685- 93, 696, 706 Zur Genealogie der Moral 48—49, 89, 119, 203, 208, 230, 247-48, 250, 275, 290, 292, 294, 299, 304, 307, 309-10, 326, 334, 350, 366, 368, 374, 387, 401, 427, 432, 435, 438-42, 469, 472, 483, 487, 508, 523, 545, 569, 584 - 87, 589- 96, 600, 653, 706
733
Der Fall Wagner 362, 430, 432 Götzen-Dämmerung 247— 48, 252, 262- 64, 270, 387, 403, 430, 544 Nachgelassene Schriften Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 20, 215-18, 223-27, 253 - 54, 355, 613 Der Antichrist 40, 129, 209, 252, 270, 309, 430, 432, 439, 446- 50, 505, 604 Ecce homo 41, 51-54, 70, 91, 236, 258, 271, 430, 436, 505-6, 556, 617 Dionysos-Dithyramben 570 Nietzsche-Archiv X, 3, 76, 84, 579 Nili, Peggy 90 Nitschke, Bernd 5, 39, 50, 107-12, 114-16 Nizza 30- 32, 36, 39, 256 Nothnagel, Hermann 30 Novalis, eigentlich Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg 158, 314 Nunberg, Herman 5 Ödipus 7, 68,164, 281, 284, 353, 389, 401-2, 525, 588 siehe auch Ödipuskomplex (Sachregister) Oehler, Richard 153 Öser, Erhard 396 Österreich XI, 8 - 9 , 25 Overbeck, Franz V, 33, 544, 546 Paneth, Josef 7, 15-16, 21, 24-26, 30-36, 39, 70, 84, 132, 153, 171, 256 Paris 71, 429-35 Parnet, Ciaire 348 Parth, Walter 530 Paskauskas, R. Andrew 127 Paulus 53, 354, 362 - 63, 386, 425, 436, 447- 56, 458, 467, 471, 483 Pauly, August 644, 652 Perikles 291 Pernerstorfer, Engelbert 14-15, 21, 24, 26 Pestalozzi, Karl VIII Peters, Heinz Frederick 52, 74, 76 Pfeiffer, Ernst 74, 79 Pfister, Otto 66, 69, 113, 115, 129-31, 142, 171, 229, 527-28, 578, 583 Philo von Alexandrien 154 Pick, Arnold 43-44 Pickworth Farrow, E. 535 Platon 130, 154, 224, 229, 272, 277, 314- 15, 322, 327, 335, 343-44, 356, 425-26, 436, 440, 447, 459,467, 469, 471, 488, 552, 594, 623, 626, 644, 683, 706 Plotin 17 Podach, Erich Friedrich 52-53, 150, 161
734
Namenregister
Poincaré, Henri 396-97 Pompeji 294 Pontalis, Jean-Bertrand 107, 239, 243, 322, 641, 658 Popper, Karl Raimund 219, 341-42, 597 Popper-Lynkeus, Josef 703 Prometheus 2 3 - 2 5 Promies, Wolfgang 692 Psychologische Mittwoch-Gesellschaft 48 siebe auch Wiener Psychoanalytische Vereinigung Raffael, eigentlich Raffaello Santi 359 Rank, Otto Χ, 5, 40, 48, 51, 68, 94, 104-5, 116, 118, 122-27, 128, 170-71, 268, 401-2 Rapaport, David 678 .Rattenmann* 41-46, 110, 169, 185-86, 230, 532 Raulet, Gerard 653 Raulff, Ulrich Vili Rèe, Paul 23, 74, 258-59, 281, 285, 432, 616, 653 Reik, Theodor 139, 233, 283, 288, 358, 362, 535 Reitler, Rudolf 415, 646 Renan, Ernest 448 Ribot, Théodule 429-30 Ricoeur, Paul 341 - 4 2 Rilke, Rainer Maria 74, 166 Roazen, Paul XI, 5, 79- 80, 96, 118, 122 - 23, 127 Rohde, Erwin 23, 35 Rom 27, 289, 386, 439, 447, 453, 483, 511 Rosenstein (Roffenstein), Gaston 64 Ross, Werner 53, 74 Röttges, Heinz 246 Rousseau, Jean-Jacques 202—3, 277, 386, 403 - 4, 480 Roux, Wilhelm 221, 551, 617, 628, 637, 651-52 Rudnytsky, Peter L. 342 Rußland 465, 482-83 Rütimeyer, Ludwig 617 Sachs, Hans 76-77, 115, 171 Sade, Donatien-Alphonse-Franfois, Marquis de 280 Sadger, Isidor 51, 54 Salaquarda, Jörg VIII, XI, 53, 220, 327, 394, 448, 450 Salomo 577 Sauerländer, Wolfgang 60 Saulus siehe Paulus Schadewaldt, Wolfgang 416
Schaffganz, Hans 105 Schatzmann, Morton 238 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 17, 109, 134, 253, 272, 436 Schiller, Friedrich 556, 613, 615 Schipperges, Heinrich 551 Schlechta, Karl 313 Schlegel, Friedrich von 389, 613 Schleiermacher, Friedrich Daniel 272, 436 Schmidt, Alfred IX, 246, 698 Schmidt, Hermann Josef 344 Schneider, Georg Heinrich 617 Schnitzler, Arthur 56, 74, 95, 170 Schopenhauer, Arthur 4, 11, 15, 22, 34, 48, 55-56, 68, 101, 108, 117, 120, 124-25, 134, 159-60, 170, 190-91, 212, 225, 228, 231, 254, 260 - 62, 267, 272- 75, 279, 314, 328, 343-45, 351, 359, 362-63, 375, 383, 394, 401-2, 414, 436, 472, 480, 486, 547-48, 551, 598-99, 612, 616, 631, 635, 637, 646-48, 656, 662, 689, 704, 707 Schorske, Cari E. 4 Schreber, Daniel Paul 69, 106, 182-83, 233, 237- 38, 243 Schrödinger, Erwin 396 Schröter, Michael 37 Schrötter, Karl 118 Schulte, Günter 238 Schur, Max 39 Schwab, Sophie 32, 34 Schwarz, Franz F. 265 Schweiz 58, 87, 113 Schwibs, Bernd 226, 348, 402 Seidmann, Peter 42, 65, 89, 637 Seitter, Walter 294 Sellin, Ernst 443 Semper, Karl Gottfried 617 Seydlitz-Kurzbach, Reinhart von 25 Shaked, Josef XI, 530, 538, 600 Shakespeare, William 47, 73, 353, 513 Shatzky, Jacob 40 Silberer, Herbert 118 Silberstein, Eduard 15- 18, 27, 47, 132, 168 Silen 400 Sils-Maria 392, 450 Simmel, Georg 394 Simmons, Roger Dennis 16, 40, 83 Simon, Walther C. 5, 108 Smith, W. Robertson 282, 284 Sokrates 4, 13, 54, 125, 148, 315, 343 - 44, 362, 385-86, 431, 440, 506, 533, 546, 612, 684 Solon 323 Sonnenfeld, Paul 40 Sophokles 7, 47, 281, 353
735
Namenregister Spencer, Herbert 180, 205, 281, 617, 652-54 Spengler, Oswald IX Sperber, Hans 308 Sperber, Manès 64, 67 Spielrein, Sabina 72-73 Spinoza, Benedictas (Baruch) de 34, 154 Spir, Afrikan 687- 89, 696, 700 Steiner, Maximilian 528 Steiner, Riccardo 127 Stekel, Wilhelm 64, 238, 460, 596 Stephenson, P. R. 129 Stirner, Max, Ps. für Caspar Schmidt 250, 474 Storfer, Albert Josef X, 128 Strachey, James X Straßburg 18 Strauss, David Friedrich 18- 20, 47, 272 Strindberg, August 74 Sulloway, Frank J. 391-92, 399, 642, 644 - 45, 651, 653, 656, 658 Taureck, Bernhard VIII Tausk, Viktor 68 - 69, 79 - 80, 118, 171 Teichmüller, Gustav 687-92, 706 Terenz, eigentlich Publius Terentius Afer 569 Thanatos 643 Theusner-Stampa, Gudrun 315 Thomä, Helmut 342 Thukydides 291 Tolstoi, Lev Ν. 74, 448 Toronto XI Tramer, Friedrich 5 - 6 , 120-21 Trosman, Harry 16, 40, 83 Tübingen XI Turgenev, Ivan S. 465 Twain, Mark 47 Tylor, Edward B. 180, 205- 6, 260, 285 Ungeheuer, Gerold 205, 260 Vaihinger, Hans 64 - 65, 111, 142, 668, 683, 694 Venturelli, Aldo 7, 21, 23, 32 Verrecchia, Anacleto 53 Vetter, Helmuth 196, 342 Villefranche 32 Virchow, Rudolf 27, 221 Vogt, Johannes Gustav 617 Volkelt, Johannes 134 Voltaire, eigentlich François-Marie Arouet 131,211,386 Volz, Pia Daniela 53-54 Wagner, Cosima 258 Wagner, Richard 4, 14-15, 34, 74, 258, 362, 427- 28, 575
Waite, Geoffrey VIII Wallace, Lewis 484, 651 Washington XI, 20, 40, 129 Weber, Ernst Heinrich 617 Wedekind, Frank 74 Wehr, Gerhard 39, 90-91, 108, 120 Weimar X, 74-77, 84, 106, 171 Weininger, Otto 109 Weir Mitchell, Silas 528, 558- 59 Weischedel, Wilhelm 190 Weismann, August 644 Wenzel, Georg 148 Wexberg, Erwin 62 Wien XI, 4, 7- 29, 32 - 34, 40, 65, 74, 77, 81, 87, 112, 117, 122, 126, 144, 157, 161 Wiener Psychoanalytische Vereinigung 5, 40, 48 - 57, 62- 63, 72, 77, 116, 118, 122, 124, 128, 173, 220, 236, 268, 276, 415, 7 0 5 - 6 Wild, Christoph 648 Will, Herbert 108-10, 112 Winterstein, Alfred Freiherr von 68-69, 135, 171, 235, 268 Wittels, Fritz 4, 48, 69, 96, 118 - 20, 121, 143-44, 171, 305, 517, 705 Wittgenstein, Ludwig 597, 696 Wolf, Hugo 15 .Wolfsmann' 65, 186, 425 Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl 17, 139, 143 Wundt, Wilhelm 135, 180, 205, 292, 345 Würzburg 16 Wyss, Dieter 108 Zeitschriften, Periodika und Buchreihen Almanach der Psychoanalyse 143 Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 12 Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 4 3 - 4 4 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 12 Archives Européennes des Sociologie 96 Das neue Tagebuch 157 Deutsche Zeitung 17 Die Aktion 61 Die psychoanalytische Bewegung 128 Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens 52 Imago 68-69,115,122,128,130,135,308, 396 Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse 97, 105, 122 Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 118, 128
736
Namenregister
Jahrbuch der Psychoanalyse 27, 40, 69 Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen 42 - 43, 72, 87, 106 Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie 6 Journal of the American Psychoanalytic Association 16, 40 Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 41 Neue Zeit 12 Nietzsche-Studien 7, 32, 55, 90, 205, 218, 221, 2 2 3 - 2 4 , 291, 362, 389, 427, 617 Psyche 5, 17, 108- 9, 111, 147, 342, 423, 663, 677 Revue philosophique 429 Sigmund Freud House Bulletin 40 Sozialpolitisches Zentralblatt 12
The Journal of Contemporary History 7 The Psychoanalytic Study of the Child 28 Wiener medizinische Wochenschrift 558 Wissenschaft und Weltbild 1 6 - 1 7 , 139, 143 Zeitschrift des österreichischen Vereins fur Bibliothekswesen 21 Zeitschrift für Sexualwissenschaft 238 Zentralblatt für Psychoanalyse 6 8 - 6 9 Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 64, 6 8 - 6 9 , 461 Zermelo, Ernst 396 Zimmer, Dieter E. 372 Zola, Emile 47 Zottl, Anton 122, 1 2 4 - 2 5 Zürich 89, 111 Zweig, Arnold VII, 31, 3 5 - 3 6 , 81, 147-SS, 157, 160, 166, 170-71, 238, 617 Zweig, Stefan 121-22, 148, 157, 160
Sachregister
Abreagieren 50, 377- 78, 427, 705 siebe auch Ressentiment Affekt 209, 230-31, 271, 279, 303, 334, 347, 360, 369, 377-78, 403, 409, 420-21, 423, 426, 440, 586, 589-93, 600, 611-12, 620, 639-40, 666 Aggression, Destruktion, Grausamkeit 66, 119, 129, 131, 164, 278, 286, 291, 295-311, 319,323 - 31,337- 39, 352, 354, 360, 368, 370, 385, 398, 409, 441 - 4 4 , 457, 460- 64,479,481 - 8 2 , 491-501, 519, 521, 540, 585- 88, 613, 615, 633, 705, 708 siehe auch Trieb [Aggressionstrieb; Destruktionstrieb] Aktiv-reaktiv 125- 26, 307, 351, 357, 377, 400-1, 439, 600, 611, 628-29, 632, 651, 655, 682,701-2 siehe auch Ressentiment Allmacht der Gedanken 137, 179- 88, 196- 202, 204, 207, 211-12,230, 232 - 33, 329, 341, 382-83, 484-85, 524-25, 653, 655, 667, 695 siehe auch Animismus Altruismus siehe Egoismus Ambivalenz 198, 242, 284, 292, 298-99, 302, 306, 444, 460, 490-92, 498, 587, 655 ,Amor fati' 402, 509, 515, 552- 54, 574, 601, 683 Anarchismus 58-59, 61, 142, 386-87, 431, 448, 465-67, 479-81, 483, 602, 668 siehe auch Moderne Anatomie siehe Wissenschaft [Anatomie] Angst, Furcht 179-88, 197-98, 204, 212, 264 - 67, 270 - 71, 287, 292, 295- 96, 301, 304 - 6, 329, 335, 337, 366, 369- 70, 376, 426, 433, 439, 441-43, 547, 587, 622 siehe auch Neurose [Angstneurose; Phobie] Animismus 137-38, 180- 88, 196-207,211, 213-14, 216-17, 224, 227, 229-30, 232-33, 239-40, 242, 260, 267, 281, 333, 484, 524, 655, 667, 682 Anorganisch 102, 330,395, 618, 623, 626, 643, 657, 700 siehe auch Organ, organisch
Anthropologie siehe Wissenschaft [Anthropologie] Anthropomorphismus 144, 180, 199-202, 217-18, 227, 240, 246, 251-57, 276, 281, 366, 383, 407, 484, 564, 613, 631, 634, 636-37, 700, 708 Antisemitismus 8, 10, 25, 33, 76, 154, 483 Archaisch 75,98,103,261,284, 385, 391,409, 437, 522, 587, 589, 655, 662 archaische Erbschaft 100, 368, 392, 437, 493, 521, 670 Archäologie siehe Wissenschaft [Archäologie] Askese 275, 303, 323, 363, 365, 369, 444, 541, 555, 603 asketisches Ideal 49, 68, 225, 230,343, 345, 355, 427, 488, 586, 590- 601, 606, 628 Ästhetik, Kunst, Künstler 4, 13-15, 23, 71, 73, 125, 139, 164, 212, 235, 246-47, 322, 327, 332, 346, 353 - 63, 380, 388, 400, 403, 426- 28, 431 - 3 2 , 474, 575, 600, 613, 667, 683, 700 - 2, 708 siehe auch Schein Astronomie siehe Wissenschaft [Astronomie] Atavismus 190, 195, 206, 228 - 30, 246, 264, 273, 437, 485, 668 Aufklärung 125, 154, 158, 212, 280, 348, 466, 709 Bewußtsein 34, 91, 126, 134-36, 148, 158, 191, 201, 243, 245, 249, 256- 57, 263, 266, 268, 279, 304, 307-8, 334, 336, 344-45, 348, 371, 376- 85, 463, 530, 534, 546- 51, 553-55, 559-71, 583, 611-13, 615, 620, 622, 624, 632, 635, 638, 640, 661-66, 670- 81, 686, 688, 691-92, 707-8 siehe auch Ich Bibel 89,417,445- 46,477,482, 517,523, 545 Biologie 59-60, 65, 123, 126, 198, 254, 281, 387, 389, 396, 461, 484, 540, 612, 615, 623, 627, 641-46, 654 - 55, 671-72, 698 - 99, 704, 708 .Blonde Bestie' 290-91 Chemie siehe Wissenschaft [Chemie] Chirurgie siehe Wissenschaft [Chirurgie]
738
Sachregister
Christentum, christlich 25, 53, 91, 130, 208-10, 224, 229, 252, 293, 301, 322, 343, 351, 354, 363, 386, 426, 431, 440, 445-56, 462- 64, 467- 72, 480, 482 - 83, 487 - 88, 508-9, 546, 551, 555, 572, 594, 598, 602 siehe auch Jesus von Nazareth (Christus); Paulus Dämonen, Dämonismus 184, 191, 197, 211, 242- 43, 292, 655 siehe auch Animismus Décadence 344, 427, 429-31, 439, 452, 466, 499 Degeneration, Degenereszenz 414, 417—19, 429-36, 558, 565, 628 Deutschnationalismus 8-9, 14-15, 26-27 Dualismus, Triebdualismus 321, 328 — 332, 354, 397, 460, 463, 500, 510, 550, 604, 609, 611, 614-15, 618, 623, 632, 643, 646, 658, 660, 666, 703, 707-8 siehe auch Monismus Egoismus-Altruismus 281, 285, 289, 317, 324, 401, 409, 417, 461, 463, 616, 705 Eltern 69, 137, 199-200, 238, 306, 319-20, 414, 416, 420, 424, 458-59, 492-93, 495, 521-22, 531, 670 siehe auch Ödipuskomplex Erinnern, Erinnerung siehe Gedächtnis Erkenntnis 188, 194-96, 199-202, 261-66, 332-37, 356, 484, 596, 600 siehe auch Philosophie [Erkenntnistheorie]; Selbsterkenntnis Eros siehe Trieb [Eros] Es, ,es denkt' 107- 17,120-21, 159-60, 162, 169, 320, 346, 353, 547, 553, 562-63, 622, 624, 656, 663 - 64, 669, 670- 72, 684 - 93 Ethnologie siehe Wissenschaft [Ethnologie] Evolutionstheorie siehe Wissenschaft [Evolutionstheorie] Fortschritt 158, 197, 206, 261, 308, 382-89, 403, 455, 479, 486, 508, 518, 541, 548, 627, 646 siehe auch Moderne; Philosophie [Geschichtsphilosophie] Französische Revolution 14, 289, 386, 465, 467, 480 siehe auch Moderne Furcht siehe Angst Gedächtnis, Erinnern, Vergessen 17, 20, 43 - 46, 217, 261, 291-92, 300, 368 - 82, 392, 403, 420-21, 437, 444, 453, 528-29,
531, 547, 561, 567, 575, 584, 588-89, 611, 668, 673 - 81 siehe auch Verdrängung Geschichte siehe Philosophie [Geschichtsphilosophie] Geschlechtlichkeit, genital, prägenital 37, 275, 318-20, 322, 327-30, 352, 354, 358-59, 363-64, 413-15, 422, 427, 450, 458-60, 614, 632, 642, 646, 648-49 siehe auch Sexualität; Trieb [Geschlechtstrieb] Gesundheit 189, 379, 407- 12, 413, 437, 523, 541-44, 557, 601-2, 604 Gewissen siehe Moral [Gewissen] Glück-Unglück 82, 207-8, 296, 344, 399, 440, 449, 475, 479, 486, 500, 539, 542, 603-4, 622, 649, 710 Gott, Götter 18, 69, 83, 110, 130, 136-37, 197- 200, 204, 211, 224, 232, 234, 248-250,252,260,269-71,279,286,288, 299, 301-2, 307, 310-12, 351-52, 356, 390, 400, 404, 416, 441-54, 459, 467, 471, 474-76, 480, 485-88, 494, 498, 501, 507, 525, 552, 566, 585-91, 595-96, 598, 604, 613, 649, 697 ,Tod Gottes' 393, 468- 76, 479, 486, 497-501, 507-10, 520, 523, 553, 601, 628, 709-10 Haß 17,279, 298 - 99, 324, 409,444, 460 - 64, 491, 615, 705 Hemmung 60, 62-63, 201, 305, 315-16, 320-21, 324, 333-34, 337, 340, 349-50, 374, 377, 390, 397, 442, 458, 462, 585, 622, 624, 632, 634-35, 659, 705 Hypnose 37, 133-34, 378-79, 428-30, 528-31, 533-35, 558, 580-82 siehe auch Psychotherapie Ich 103, 109-10, 143, 159-60, 183, 195, 236 - 37, 241-42, 246- 53, 257, 263, 266, 269, 274, 295, 297, 303, 309, 320-21, 325, 331-32, 336, 338, 346-49, 353, 373, 384-85, 409, 423-24, 459, 472, 484, 487, 490-92, 522, 541, 547, 551, 553, 562-63, 565, 568, 583, 602, 605, 615, 620-25, 630, 635-36, 638, 650, 652-53, 656, 663, 667- 72, 675- 81, 684 - 92, 702, 710 siehe auch Es; Selbst; Uber-Ich Ichideal 492 - 93, 522- 23 Ideal, Idealisierung, Idealismus 24, 29, 102, 148, 154, 203, 226, 258, 279, 321, 327, 352, 362, 388-89, 402, 411, 436, 456-57, 459, 462, 464, 467- 69, 472, 475, 479, 482,
Sachregister 486 - 87, 492- 501, 509-10, 513-14, 518, 522-23, 536, 538, 552, 556-57, 571, 574-75, 580, 601-2, 604-5, 609, 637 siehe auch Askese [asketisches Ideal]; Ich [Ichideal] Identifizierung 296, 298-99, 319-21, 329, 424, 462, 490 - 93, 521, 587, 670 Individuum, individuell 204, 274, 285- 87, 292, 300, 369, 403, 496, 639, 647, 649, 652 Individuum-Kultur 23, 59- 60, 282, 297-98, 319, 366-68, 390-91, 398, 437-38, 521, 527, 655 Instinkt 305 - 6, 310, 326, 328, 344, 414, 440, 442, 463, 586, 612-13, 618-19, 662 Intellekt 160, 199, 201-2, 216, 220, 229, 254-55, 272, 274, 342, 382-83, 399, 484, 565 - 66, 568, 600, 631, 638- 40, 700 siehe auch Leib Interpretation 215, 220- 30, 245 - 46, 251-56, 273 - 74, 342 - 43, 345, 354, 432-33, 488-89, 536, 596, 637-41, 654, 682-83, 700-1, 708 siehe auch Perspektivismus; Wille zur Macht Judentum, jüdisch 9 - 1 0 , 24-25, 33-35, 153-54, 289, 299, 311-12, 354, 386, 390, 438- 40, 443 - 56, 464, 467, 471, 587 Kapitalismus VII, 495 Kastration, Kastrationskomplex 77, 283, 305, 319, 329, 369-70, 373, 391, 402, 424, 444, 451-52, 492, 669 siehe auch Ödipuskomplex Kausalität 110, 204, 211, 228 - 29, 247- 57, 261-69, 285, 336, 433, 472, 564-65, 636-37, 663, 687, 693-94, 697, 700 Kind, Kindheit 75,98,100,106,137,181-82, 198-202,240,296-97,307,319, 358,381, 391, 416-17, 419 - 20, 429, 459 - 60, 492-93, 495, 522, 548, 587, 612, 668-69, 677 siehe auch Ödipuskomplex; Sexualität [kindliche Sexualität] Kommunismus 480- 83, 602 siehe auch Moderne Kosmologie siehe Wissenschaft [Astronomie, Kosmologie] Kraft, Kräfte 28-29, 109, 228, 250-51, 327 - 28, 365, 394 - 97, 617-18, 620- 24, 626- 39, 649, 652, 660, 673 siehe auch Triebtheorie [quantitativer Aspekt]; Wille zur Macht .Beweis der Kraft' 207, 210- 11, 225, 264, 335, 433, 497, 573
739
Krankheit 66, 160, 189, 211, 272, 311, 316, 344, 377, 379, 401, 407-12, 413, 437, 528-45, 547, 552, 558, 592, 602, 621 siehe auch Degeneration; Gesundheit; Neurose; Ressentiment Nietzsches Krankheit 49, 51-54, 71, 92, 145, 150- 52, 161, 236, 238 Kultur, Kulturgeschichte 4, 13, 23, 60 - 61, 104 - 5, 129- 32, 197 - 98, 206, 240, 277-312, 316, 319, 322-23, 325-26, 346- 51, 358, 366- 71, 382- 89, 391, 397- 404, 411, 437- 38, 462, 473, 481, 484-86, 493-501, 518, 521, 527, 543, 556, 646, 655, 667, 708 siehe auch Individuum [Individuum—Kultur]; Nihilismus; Philosophie [Geschichtsphilosophie]; Vater, Patriarchat; Ubermensch Natur-Kultur 180, 397- 400, 402 - 3, 500, 517-20, 539, 554, 601, 605, 624 Kunst, Künstler siehe Ästhetik Leben 20, 66, 89, 101-2, 159, 162, 202-3, 207, 222, 226, 255, 262, 271, 273, 279, 319, 328, 330, 340, 355-57, 379-81, 393, 395, 402-3, 412, 445, 452, 466-67, 477-78, 480, 482, 520, 539, 546, 554, 556-57, 564 - 65, 570, 572, 575, 601, 605, 611, 614, 623, 626, 630, 635, 644 - 60, 666, 684, 700, 709-10 siehe auch Tod; Trieb [Eros; Lebenstrieb]; Wille [Wille zum Leben]; Wille zur Macht Not des Lebens 216, 319, 343, 351, 398, 611, 650-51, 655, 666, 673 Not versus Überfluß des Lebens 398-402, 520, 709 Leib 162, 164, 253, 260, 268 - 76, 353, 432, 550-52, 554-59, 563-66, 630, 632, 638- 39, 657, 666, 684, 694, 707 siehe auch Psyche Leid, Leiden 179 - 80, 185, 197, 199, 202- 3, 207-10, 269-71, 274-75, 286, 290, 303-4, 309, 311, 323, 399, 401-2, 416, 439, 449, 452, 482, 484-85, 536, 539-40, 551, 554-55, 586, 589-93, 622 siehe auch Krankheit; Lust—Unlust Leidenschaft 102, 196, 313-15, 335, 346-47, 349-50, 353-54, 360, 363-64, 402-4, 409, 425-26, 451-52, 513, 517, 519, 554, 632, 661 Liberalismus 4, 8, 13 Libido siehe Sexualität
740
Sachregister
Liebe 17, 209-10, 249, 267, 314-15, 318, 322, 324, 327, 356, 409, 415, 445, 447, 456- 64, 469, 483, 615, 623, 642, 705 siehe auch Haß Logik 109, 214, 245, 247, 253-54, 686, 697- 99 siehe auch Urteilstheorie Lüge, Lügner 215-17, 223-24, 355-56, 428-29, 471, 570, 575, 600 siehe auch Schein; Wahrheit Lust-Unlust, Lustprinzip 43, 64, 101, 140, 162-63, 185,187-88, 193-202, 207-11, 213, 216, 225, 229 - 30, 241-42, 243, 264, 266, 270, 275, 315, 318, 329, 332-38, 341, 357 - 58, 375, 395, 399, 402, 414-15, 497, 519, 541, 554, 586, 589, 591, 595, 605, 616, 629-30, 635, 639, 642, 648-50, 653, 657- 60, 666 - 67, 673 - 75 siehe auch Psyche [psychische Energie]; Realität Macht 180-81, 192, 194, 197, 204, 207, 210, 213, 215-16, 264, 282- 83, 289, 298, 300-1, 307, 330, 356, 360, 365, 367, 439, 441, 447-48, 452, 592-93, 659, 682 siehe auch Allmacht der Gedanken; Wille zur Macht Masochismus 309, 407, 656 siehe auch Sadismus Materialismus 26-27, 29, 249, 481 - 8 2 Mechanik siehe Wissenschaft [Mechanik] Medizin siehe Wissenschaft [Medizin] Melancholie siehe Psychose [Melancholie] Mensch-Tier 204, 304, 308, 379, 387-88, 484, 507, 518, 548, 619, 627-28, 710 Metaphysik siehe Philosophie [Metaphysik] Metapsychologie 51, 135- 36, 139, 234, 276, 318, 351, 364, 408, 546, 619- 25, 641, 661-64, 671, 707 Mitleid 154, 286, 324, 409, 445, 448, 469, 622, 705 siehe auch Egoismus—Altruismus; Leid Moderne, moderne Ideen 60, 277, 280, 386 - 87, 403, 466 - 67, 479- 83, 602, 604 siehe auch Nihilismus Monismus 100, 221, 329, 609, 611, 615-18, 643, 659 Moral 61, 67, 71, 125-26, 146, 198, 217, 223 - 24, 250, 252, 259, 270 - 71, 277- 94, 344, 346, 350-51, 356, 362-63, 386, 401, 416, 431-32, 435-36, 447, 449, 452, 460, 466- 72, 480 - 81, 487- 89, 495- 500, 512-14, 519, 521, 543, 545, 547, 552-53,
555, 557-58, 570, 572, 596-99, 605-6, 625, 635, 639, 683, 7 0 8 - 9 siehe auch Ressentiment; Wahrhaftigkeit Gewissen, schlechtes Gewissen, Schuld, Verinnerlichung 75, 98- 99, 119, 125-26, 252, 279, 292, 295-312, 319, 322, 326, 350, 354, 366-70, 382, 398, 401, 407, 416, 440, 441-45, 453, 455-56, 519, 521-22, 558, 585-93, 594, 656, 670, 705-6, 708 siehe auch Uber-Ich Jenseits von Gut und Böse', Immoralismus, Unschuld 61, 70-71, 148, 224, 279, 392-93, 401-2, 416-17, 426, 448-49, 452, 478, 508-9, 522-23, 525, 552, 587, 649 .Sittüchkeit der Sitte' 285- 94, 300, 326, 366- 68, 403, 519, 694, 708 .Sklavenaufstand in der Moral' 291, 386, 438-40, 512 Mutter 73, 123, 238, 241, 281, 283, 293, 320, 390, 459, 492, 495 siehe auch Vater Mythologie 69, 72, 88—91, 136, 185,199, 234, 239, 257, 273, 525, 613, 626, 655, 704 Narzißmus 100, 103, 137, 143, 181-83, 185, 188, 198-200, 237, 240, 253, 269, 276, 320, 327 - 29, 331, 357, 388, 458, 484 - 88, 491, 522, 524, 562, 615-16, 643, 650, 672 Nationalsozialismus VII, 153 — 54 Neostrukturalismus VIII, 341 Neurologie siehe Wissenschaft [Neurologie, Neuropathologie] Neurose 51, 63, 66-67, 75, 92, 106, 147, 165, 182-95, 201, 208, 226, 237-38, 262, 264, 309, 316, 333, 337, 349, 357-58, 361, 375, 380, 385, 390 - 91, 397, 409-12, 417- 28, 437-38, 531, 539, 557-58, 560, 605, 611, 621-22, 628, 666- 72, 679, 703, 707 siehe auch Ödipuskomplex Abwehrneurose 420, 425, 529 Aktualneurose 419, 425, 529, 611, 634 Angstneurose 420, 634 Depression 208, 426-27, 471, 474, 479, 484, 555, 586, 591 siehe auch Psychose [Melancholie] Hysterie 37, 133, 139, 358, 362-63, 378, 417-18, 420 - 21, 425, 426- 34, 532, 558, 634, 653, 705 Kriegsneurose 655 narzißtische Neurose 425 nasale Reflexneurose 38 Neurasthenie 419-20, 426-27, 552, 557-58, 634
Sachregister Phobie 233, 282, 284, 390, 420, 425, 437, 634 Psychoneurose 284, 424 .religiöse Neurose' 363, 427 Schicksalsneurose 101, 395 Übertragungsneurose 425, 529, 531, 539 Zwangsneurose 59, 139, 184 - 88, 232, 309, 324, 337, 407, 420, 425, 460, 622, 634, 670 Nihilismus 84, 125, 163, 219, 230, 339, 345, 411, 425, 427, 438, 465- 89, 494 - 501, 508-9, 520-21, 523, 526, 543, 556, 573, 576, 579, 596, 656, 683, 707, 710 Ödipuskomplex V, 88, 98, 123, 238, 281-85, 293, 298, 302, 312, 318- 22, 346, 353, 358, 366, 368, 370, 373, 391, 408, 419, 423-24, 443, 489-96, 506, 521, 525, 584, 587, 599, 624, 655, 670, 707-8 siehe auch Verführungstheorie Ontogenese 100, 319, 391, 419, 670 siehe auch Phylogenese Organ, organisch, Organismus 17, 28, 102, 112, 179, 269, 330, 375, 395, 555, 563 - 66, 611, 619-20, 623, 626, 628, 630, 632-33, 635, 637 - 641, 643- 646, 649- 654, 657, 676, 685, 700 Organminderwertigkeit 62-63, 65 Paranoia siehe Psychose [Paranoia] Patriarchat siehe Vater Perspektivismus V, 35, 65, 89, 218, 221-22, 226, 229-30, 255-56, 273, 345, 351, 354, 363-64, 382, 411, 432-33, 476, 489, 565, 573 - 75, 599- 600, 632, 637- 41, 683, 687 - 88, 695, 699- 702, 708 Pessimismus 21, 34, 125, 207, 349, 401-2, 431, 475, 540, 551, 554, 656 siehe auch Schopenhauer, A. Phantasie 357, 421, 612, 674, 679, 682, 695 siehe auch Verführungstheorie und Wirklichkeit 666-69 Philosophie Bewußtseinsphilosophie 135,137,143,145, 236, 345, 684 siehe auch Bewußtsein Erkenntnistheorie 65, 142, 213-15, 220- 23, 229 - 30, 240- 57, 261, 273-74, 340-43, 345, 354-55, 381, 563- 69, 572 - 73, 600, 661-702, 708, 711 Freud und die Philosophie 15-20, 27-28, 38, 49, 81, 93-94, 120, 128, 132-46, 155, 172, 232-39, 345, 524, 633, 668 Geschichtsphilosophie 20, 196- 202, 212, 224, 366- 68, 376 - 77, 382- 97, 437- 38, 466- 68, 476, 501, 508- 9, 517-18, 548, 598-99
741
Metaphysik 51, 130, 135-36, 138, 164, 218-21, 226, 232-37, 244-53, 257, 259- 63, 266- 76, 355 - 57, 384- 85, 393, 408, 469, 474, 476, 625-26, 631, 633, 637, 641, 687-90, 694, 697, 704 Nietzsche und die Philosophie 203, 254, 257, 264-65, 272, 360, 376, 384, 431-32, 435 - 36, 470, 524, 543, 552, 557, 564, 633-34, 697, 701 Philosophie des Unbewußten 17, 21, 383, 563, 684 siehe auch Unbewußt Transzendentalphilosophie 244 — 45, 247, 567- 69, 662- 64, 672, 678 - 81, 691-92, 699 siehe auch Kant, I. Phylogenese 75, 100, 297, 319, 346, 391, 419, 493, 500, 521, 669-70, 709 Physik siehe Wissenschaft [Physik] Physikalismus 27-29, 31, 680-81 Physiologie 18, 27-28, 32, 34, 267-68, 272, 360, 362, 417, 426-36, 546, 551-52, 555, 557-60, 565, 586, 591-92, 612, 617, 628, 654, 672, 680, 704 Politik VII, 4, 8-10, 14-15, 215-16, 343, 448, 452, 483, 494 Priester 208,310,365,427,440,442,452, 530, 577, 580-81, 583-93 siehe auch Askese [asketisches Ideal] Primärprozeß—Sekundärprozeß 201, 315, 318, 333, 610, 621, 634, 665, 667, 671 siehe auch Lust; Psyche [psychische Energie]; Realität Priorität (bez. Gedanken) 5, 62, 81, 93-97, 106, 108, 113-16, 120- 21, 170, 172, 413, 706-7 Projektion 51, 136, 183-84, 207, 233-34, 237- 57, 263 - 66, 269- 71, 275 - 76, 335, 367, 407, 567, 695, 705, 708 Psyche, psychisch 28, 112, 134, 179, 181, 200-2, 205, 233, 235, 241, 252, 260, 305, 345, 371-74, 489, 555, 560-62, 565, 569, 612, 619- 24, 640, 653, 658, 666, 669, 673, 692, 704, 707 endopsychische Mythen 234 endopsychische Substanzen 51, 136, 257 endopsychische Wahrnehmung 51, 54, 136, 234, 236 psychische Energie 315, 333, 409-10, 523-24, 541, 583, 610,615, 620- 22, 633 - 34, 660, 674 Konstanzprinzip 303, 610, 627, 658 Nirwanaprinzip 126, 395, 610, 658-59
742
Sachregister
Stabilitätsprinzip 395, 627, 658 Trägheitsprinzip 610, 655 Entstellung 192, 215 Erleichterung 184, 194, 213, 217, 243, 266, 270, 333, 336 Fehlleistungen 190, 262, 333, 408, 560 Instanzen 107, 185, 297, 308, 382, 385, 521, 562, 624, 652, 665, 670 Konflikte 183-85, 191-92, 215, 225, 242-43, 299, 315, 357, 407, 409, 423-24,490,496, 541, 561,611,615, 621, 624-25, 631, 646, 652, 665, 667 Mechanismen siehe Abreagieren; Ambivalenz; Hemmung; Identifizierung; Moral [Gewissen, ... Verinnerlichung]; Projektion; Rationalisierung; Reaktionsbildung; Sublimierung; Verdrängung; Verkehrung ins Gegenteil; Wendung gegen die eigene Person; Wiederkehr des Verdrängten Organisation 329 - 30, 347, 349, 364, 423-25, 460, 492, 667, 669 Systeme 107, 371-72, 561, 621, 665, 676, 679 Zensur 192,196,215,407,423-24, 521, 533, 582, 664 - 65, 671 psychischer Abwehrmechanismus 46, 185, 195, 237, 242-43, 270, 276, 538, 695, 708 Apparat 107, 114, 141, 195, 234, 243, 372, 610, 620, 627, 641, 673, 676, 680 psychophysischer Parallelismus 560, 662 psychosomatisch 112 Umwertung aller psychischen Werte 38, 168 Psychiatrie siehe Wissenschaft [Psychiatrie] Psychoanalyse als Sexualtheorie 31S-22, 413-14, 419-25 siehe auch Sexualität als Theorie des Unbewußten 371-74, 559-60, 661-66 siehe auch Unbewußt als Therapie siehe Psychotherapie als Traumtheorie 190-96, 661-62, 665 siehe auch Traum als Triebtheorie 610-12, 614-15, 618- 24, 642-46, 657-59 siehe auch Trieb; Triebtheorie als Wissenschaft IX, 137-43, 162, 219, 340 - 42, 535- 38, 593 - 601, 642 Psychoanalytische Bewegung IX, 60—61, 63, 118, 146, 577 Psychologie 38, 216, 218, 248-49, 251-52, 257-58, 265, 278-79, 292, 304, 340, 348,
369, 434-36, 442, 457, 481, 484, 528, 535, 545, 559, 568-69, 571-73, 592, 612, 672, 704 siehe auch Metapsychologie; Psyche Ichpsychologie 348 Individual- u. Massenpsychologie 368, 437, 494 Moralpsychologie 435, 559, 592 Panpsychismus, Psychologismus 114—15, 158, 201, 341, 593, 615 Physio-Psychologie 218, 220, 434, 436, 545-46, 558, 612, 704 Sozialpsychologie 310, 587, 676 Triebpsychologie 220, 222, 342, 359 Völkerpsychologie 292 Psychose 54, 152, 190, 425-26, 540, 558 siehe auch Neurose Manie 491, 524 Melancholie 309, 407, 409, 426, 490- 94, 497-98, 508, 523, 622, 670, 709 Paranoia 106, 139, 145, 182- 88, 232- 34, 237-39, 242-43, 420, 473, 477, 615, 708 Psychotherapie 123-24, 132, 147, 189, 347 - 48, 378 - 79, 383, 420, 425, 527- 42, 561-63, 574-75, 578-84, 589-94, 601-3, 656, 664, 668, 671-72, 683, 707, 710 Abstinenzregel 536, 590, 596 Agieren 123, 379, 531, 540, 561 analytische Grundregel 379, 532- 33, 540, 581-82, 584, 664 negative therapeutische Reaktion 540, 561, 593, 656 Übertragung, Gegenübertragung 60, 88, 147, 531, 535-38, 545, 581-82, 584, 590, 596, 600 Widerstand 149, 379-80, 385, 530-32, 535, 537, 540-41, 545, 561, 578, 580-81, 584, 622, 664, 672 Rationalisierung 98-99, 173, 193, 213, 233, 245, 705 Reaktionsbildung 185, 278, 317-18, 321, 324, 364, 418, 462-63, 519, 622, 705 Realität, Realitätsprinzip 137, 142, 181-84, 199-202, 211, 214, 217, 222, 227, 230, 235, 241-43, 245-47, 254, 260, 266, 273, 333, 341, 353 - 62, 422- 24, 484 - 85, 514, 525, 537 - 38, 541, 552- 54, 562, 564, 568, 574, 602, 605, 609, 611, 635, 652-53, 661-702, 708 siehe auch Philosophie [Erkenntnistheorie]; Schein
Sachregister Reformation 289, 386 Regression 103, 144, 159, 183, 185, 187, 198, 318, 373, 385, 391, 524, 555, 665, 667-68, 674 Reiz 201, 243, 334, 371-72, 374, 377, 561, 610-11, 618, 620, 628- 29, 630, 658- 60, 673-77 Religion 129- 31, 137, 139,164 - 65, 196- 99, 200-1, 206, 207-12, 217, 228-30, 234-35, 249, 252-53, 257, 270, 272-74, 284, 309, 310-12, 333, 335, 337, 346, 356, 358, 380, 388, 427, 438-56, 459, 482-83, 485- 88, 494 - 95, 499 - 500, 527, 555 - 56, 576 - 77, 579- 89, 594, 598, 602, 655, 709 siehe auch Christentum; Gott; Judentum; Theologie Renaissance 289-90, 386 Ressentiment 271, 289, 307, 354, 377, 380, 387, 411, 427, 439- 40, 447, 463 - 64, 467, 483, 508, 512-13, 586, 590- 91, 628 - 29, 705 Romantik VII, 91, 158- 59, 165, 212, 389, 402, 525, 612-13, 686 Sadismus 50, 187, 309, 329, 331, 491, 656 anal-sadistisch 185, 187, 329, 460 oral-sadistisch 460 sadomasochistisch 83 Schein 64 - 65, 214, 222- 23, 247, 273 - 74, 352, 354 - 57, 360, 433, 472, 476, 568, 570, 574-75, 683, 695 siehe auch Perspektivismus; Wahrheit; Wille zur Macht Schuld siehe Moral [Gewissen, ... Schuld] Seele, seelisch siehe Psyche Selbst, das S. 51, 236, 269, 551, 565, 601, 684, 686
siehe auch Leib Selbsterkenntnis 54-56, 96, 136, 145-46, 160, 172, 236, 348, 383-84, 534-35, 537 - 38, 546- 50, 559- 63, 567- 71, 574-75 Sexualität, Ubido 37, 62- 66, 81, 87- 88, 91, 100, 102-3, 126, 137, 181-88, 199, 216, 275, 283-84, 293, 308, 316, 318-33, 337, 358-59, 365, 398, 409-10, 413-25, 437, 457- 61, 490- 500, 521, 523 - 24, 542, 550, 611-12, 614-18, 632 - 34, 642- 50, 659-60, 666-67, 703 Bisexualität 413, 434 Homosexualität 51, 145, 182- 83, 236- 38, 316, 411,418, 458, 615 kindliche Sexualität 137, 185- 87, 284, 318- 20, 329, 336, 413-16, 421, 424, 452, 458, 460, 492, 642, 707
743
Perversionen 316, 318, 361, 411, 413, 418, 425, 458 Sexualimmoralismus 60—61, 91 Sozialismus 8, 14, 154-55, 386, 465, 467, 479-82, 576, 602 siehe auch Moderne Sprache, Grammatik 69, 196, 216-17, 221, 224, 289, 307 - 8, 348, 433, 582, 613, 631, 640, 659, 661, 684, 686 - 89, 693, 696- 99 siehe auch Logik Subjekt-Prädikat 109-10, 247- 50, 266, 564, 678, 691, 693, 696 Subjekt, Subjektbegriff 244 - 51, 433, 635, 663, 685- 702 siehe auch Philosophie [Erkenntnistheorie; Metaphysik]; Sprache Subjekt-Objekt 143, 182, 198, 200, 251, 340, 567, 668, 672- 84, 688 - 89, 692, 694, 7 0 1 - 2 Sublimierung 61, 69, 75, 85, 102, 187, 278, 300, 303, 313 - 65, 387- 88, 398 - 99, 403 - 4, 407, 409, 415, 418, 458 - 63, 470, 487, 513, 518- 19, 598, 613, 621, 624, 627, 705-6, 708, 710 Symptom 185- 95, 215, 223 - 27, 344, 357, 390, 408, 420, 424 - 25, 427, 429, 432, 435, 533 - 34, 541, 559, 592, 605, 611, 661, 667-68 siehe auch Neurose System (gedankliches S.) 66, 135, 139-43, 145, 180-81, 193, 213, 232-34, 236, 272, 346, 482, 510 siehe auch Psyche [psychische Systeme] Teleologie 71, 252, 255, 257, 365, 392, 415, 470, 518, 595, 616, 629-30, 635, 639, 645-49, 651, 654 Theologie 88, 129-30, 146, 219, 249, 272, 469, 526, 552, 556, 576, 578-79, 589, 605, 702 Therapie 420, 544 - 45, 601 siehe auch Psychotherapie Physiothérapie 434, 528, 554 - 59, 639, 710 Tod 101-2, 179-80, 197, 200, 211, 229, 260, 267, 321, 325, 330, 370, 395-96, 449, 525, 633, 643 - 46, 655- 60, 710 siehe auch Trieb [Todestrieb]; Wille [Wille zum Tod] ,Tod Gottes' siehe Gott [,Tod Gottes*] Totem, Totemismus 282- 84, 293, 299, 390, 437, 454, 587 Trauer 490- 91, 497- 98, 508, 523 - 24 siehe auch Psychose [Melancholie]
744
Sachregister
Traum 17, 26-27, 30, 75, 89, 101, 103-6, 134, 146, 190- 96, 201, 213, 226, 259- 63, 266-68, 357, 385, 391, 395, 408, 535, 537, 551, 560-61, 605, 612, 615, 655-56, 661, 665, 703 .sekundäre Bearbeitung' 193 - 94, 196, 201, 213-15,223,233,245,261 -62,333,408 siehe auch Interpretation; Wahrheit Traumarbeit 188, 192-96, 201, 213, 262, 333, 661, 665 Traumgedanken 191-96, 665 Verdichtung, Verschiebung 38, 50, 192, 201, 333, 622, 665, 671 Trieb 13, 62- 67, 75, 99, 100- 2, 140 - 41, 143, 158, 162, 164, 182-83, 185-86, 196, 199, 220, 250, 262, 268, 274, 277- 85, 295- 97, 304 - 5, 313 - 65, 369 - 70, 390, 395, 397-98, 409, 413-15, 423-26, 440, 444, 456- 64, 481, 498, 513, 518-19, 540, 547, 549- 51, 570 - 71, 610- 60, 661, 664, 670 - 71, 673 - 75, 683 - 84, 686, 699, 703 - 4, 708 siehe auch Affekt; Biologie; Instinkt; Leidenschaft; Lust; Reiz; Sublimierung; Wille zur Macht Aggressionstrieb 62- 66, 78, 131, 321, 329 - 31, 338, 500, 624, 629 Aneignungstrieb 340 Arterhaltungstrieb 643 Behauptungstrieb 65 Bemächtigungstrieb 102, 187, 216, 324, 328-31, 337, 550, 618, 643 Destruktionstrieb 66, 72, 78, 102, 131, 295, 299, 324-31, 338, 365, 550, 618, 643, 675, 708 egoistischer Trieb 485, 499, 614 Erkenntnistrieb 335, 337-46, 383, 614 Eros 66, 281, 295, 299, 321, 324, 330, 332, 338, 395, 398, 459 - 60, 493, 501, 605, 618, 623 - 24, 632 - 33, 643 - 46, 658, 675, 708 Forschertrieb 331, 336-38 Geltungstrieb 102, 330 Geschlechtstrieb 314-15, 322-23, 335, 359, 414-15, 458-59, 614, 647 Hungertrieb 650 Ichtrieb 615, 642-43 Jagdtrieb 338, 614 Kunsttrieb 613-14 Lebenstrieb 158, 295, 329-31, 618, 644-45, 656, 659 Machttrieb 78, 329, 331 Nahrungstrieb 338, 614 Naturtrieb 351, 619 Objekttrieb 615
Partialtrieb 102, 318, 322 - 23, 328- 30, 336-37, 413, 463-64, 482, 550, 614, 617-19, 630, 632,642, 646, 660,707-8 Schautrieb 187 Selbsterhaltungstrieb 102, 281, 327-29, 550, 612, 614-18, 641-50, 699, 704 Selbstvernichtungstrieb 500 Selbstzerstörungstrieb 339 Sexualtrieb 318-32, 364-65, 398-99, 413-14, 461, 550, 612, 614-18, 624, 641-44, 704, 708 Spieltrieb 614 Spürtrieb 614 Todestrieb 66, 72, 78, 101-2, 126, 158, 281, 295, 321, 324, 329-32, 361, 395- 97, 398 - 99, 460, 493, 540, 605, 610, 618, 623 - 24, 632, 643 - 46, 655-56, 658-60, 7 0 7 - 8 Trieb nach Auszeichnung 304 Trieb zur Gattungserhaltung 646—49, 699 Trieb zur Grausamkeit 328, 614 Trieb zur Höherentwicklung 387-88 Trieb zur Lüge 614 Trieb zur Metaphernbildung 216- 18, 227, 613 Uberwältigungstrieb 303, 340 unegoistischer Trieb 614 Ursachentrieb 262-64 Vervollkommnungstrieb 102, 387-89, 395, 517-19 Wahrheitstrieb 215-16, 251, 497, 614 wissenschaftlicher Trieb 338 Wißtrieb 187, 216, 324, 331, 337-46, 461, 614, 682 Triebtheorie dynamischer Aspekt 546, 620, 623 - 25, 630 - 33, 652 quantitativer Aspekt 315-18, 333, 361, 408-10, 417, 463, 540, 546, 610-11, 620 - 23, 626, 633 - 36, 657- 60 siehe auch Psyche [psychische Energie] Über-Ich 119, 185, 192, 291, 295- 99, 303 - 4, 308-9, 320-21, 325, 368, 370, 373, 382, 423, 437, 462, 492- 93, 496, 521-23, 562, 587, 624 - 25, 656, 670 - 71, 676 Übermensch 34, 38, 83, 89, 99, 102-3, 106, 119, 168, 180, 204, 281-82, 291, 387-89, 404, 479, 505- 26, 576, 606, 700, 710 siehe auch Gott [,Tod Gottes*]; Nihilismus; Wiederkehr des Gleichen Unbewußt, das Unbewußte 17, 34, 39, 61, 65, 75, 89, 91, 112, 119, 134-36, 139, 143, 158, 162, 164, 182-84, 196, 201, 209, 217, 225, 248, 250, 253, 256- 57, 262, 276, 279,
Sachregister 304, 309, 333, 335, 337, 344 - 46, 357, 422- 24, 440, 444, 463, 484, 489, 490- 91, 528-41, 545, 552-53, 555, 583, 589, 594, 600, 612-13, 615, 620-21, 624, 648, 653, 655-56, 664-65, 676 siehe auch Bewußtsein; Trieb; Verdrängung Bewußtmachung des Unbewußten 383 - 85, 528 - 29, 540, 546- 50, 571 Das Unbewußte und das ,Es' 107-9, 684 - 93 und das Gedächtnis 371 — 82 und das Ich 346-49, 562-63, 669-72 und der Leib 269-72, 550-52, 554 -57, 563- 66 und der Traum 191-96, 266- 68 und die Projektion 234-57, 259-72, 275-76 und die Realität 179-202, 422-24, 484 -85, 666- 69 Theorie des Unbewußten 371—374, 559-60, 661-66 Unschuld siehe Moral [Jenseits von Gut und Böse', Immoralismus, Unschuld] Urteilstheorie 248, 337, 672- 77, 698, 701 Utilitarismus 259, 281, 289, 439, 616-17, 652- 54, 657, 699 Vater, Urvater, Patriarchat 69, 75, 103, 119, 123,159, 168, 198, 238, 282- 85, 288, 291, 293, 296 - 97, 298 - 99, 302, 305 - 6, 320, 346, 388, 391-92, 443- 44, 453 - 56, 459, 492- 94, 517, 522, 587- 88, 599, 709 siehe auch Ödipuskomplex und vaterlose Gesellschaft 494-500 Verdrängung 5, 50, 60, 68, 100, 136, 158, 182-88, 225, 237-38, 253, 270, 274-75, 284, 294, 311, 314, 321, 324, 336-37, 348 - 49, 357, 361, 364, 373 - 82, 387, 390-91, 397, 408-10, 418, 420, 423-24, 425- 26, 463, 489, 492, 518-19, 521, 528-29, 533-34, 541, 546-47, 561-63, 571, 583, 589, 596, 611, 619, 622, 624, 661-66, 671-72, 683 - 84, 705 siehe auch Wiederkehr des Verdrängten Verführungstheorie 186, 420- 23, 666, 668- 69 Vergessen, Vergeßlichkeit siehe Gedächtnis Verinnerlichung siehe Moral [Gewissen, ... Verinnerlichung] Verkehrung ins Gegenteil 185, 409, 462, 705 siehe auch Egoismus—Altruismus Vernunft 98- 99,104,110, 142- 43,154,158, 199, 212, 214, 246- 50, 254, 269, 274, 280, 286, 335, 343 - 44, 346, 384 - 85, 387, 432, 440, 472, 478, 508, 518, 551-52, 563 - 66, 568, 597, 638, 664, 696- 702
745
Wahnsinn 34, 98, 121,190, 286, 287-88, 311, 407, 442 siehe auch Krankheit; Neurose; Psychose Wahrhaftigkeit 280, 291, 470- 72, 480, 487- 88, 514, 535, 571-72, 598, 683 Wahrheit 89,130, 142- 43,160, 163 - 65,189, 194-202, 207-18, 221-31, 243, 245-47, 251-56, 264, 270, 272- 74, 311-12, 335, 341-43, 354 - 56, 423, 433, 467- 78, 481, 488- 89, 497- 98, 539, 543, 564 - 67, 570, 575, 588, 594 - 600, 638, 666, 673, 678, 695-702, 711 siehe auch Trieb [Wahrheitstrieb]; Wille [Wille zur Wahrheit] Weltanschauung (animistische, religiöse, wissenschaftliche, psychoanalytische W) 137, 180, 184, 196- 200, 210, 217, 219, 229, 311, 333, 349, 411, 484-85, 525, 584, 602, 710 Wendung gegen die eigene Person 309, 491 Wert, Werte 218- 22, 224, 226, 228, 247, 254 - 57, 288- 94, 299, 324, 343, 351, 361, 364 - 65, 411, 416, 439, 446, 456, 467- 69, 474, 491-94, 508, 512, 515, 525, 536 - 37, 552, 555, 564, 570, 596- 98, 616, 634, 639- 41, 683, 699- 702, 708 - 9 siehe auch Interpretation Entwertung der Werte 467- 68, 472-500, 598, 601-3, 709 Umwertung der Werte 38, 50, 61, 148, 222 - 23, 289- 91, 439, 445 - 46, 451-52, 455, 468, 478 - 79, 508, 512-14, 557 Wiederholungszwang 100-1, 378, 385, 395-96, 561, 655 Wiederkehr des Gleichen 53, 70, 99-101, 106, 168, 392- 97, 402, 416, 450, 476- 78, 498, 509-10, 513, 518, 522-24, 553, 626 Wiederkehr des Verdrängten 100, 350, 363, 370 - 71, 390- 92, 454, 520, 705 Wille 68, 125- 26, 160, 191, 225, 228, 247- 52, 263, 266, 272- 75, 279, 336, 359, 384, 401, 479, 547-48, 550-51, 555, 564, 566, 598, 600, 619, 631, 635- 38, 662 siehe auch Wille zur Macht Freiheit des Willens 250, 252, 256, 286, 292, 367- 69, 403, 416, 619, 664 Wille zum Leben 273, 400- 1, 414, 553, 565, 616, 647, 651, 709 Wille zum Nichts 231, 334, 466, 501, 592, 596, 611,657 Wille zum Schein 65, 355, 362 Wille zum Tod 224, 497, 570, 658 Wille zum Untergang 426 Wille zur Berechnung 368, 397
746
Sachregister
Wille zur Herrschsucht 451 Wille zur Lust 414, 658 Wille zur Täuschung 355, 568, 574, 600 Wille zur Vernichtung 452, 554 Wille zur Wahrheit 224, 340, 343, 355- 56, 359, 471-73, 487- 89, 497- 98, 570, 594 - 601, 701 Wille zur Zeugung 335, 461 Wille zur Macht 64 - 67, 99, 102, 106, 126, 148 - 49, 162, 168 - 69, 214, 218- 31, 244 - 45, 251, 253 - 56, 270, 273 - 74, 279, 281, 303, 317, 326- 31, 334, 340, 342, 354 - 55, 356, 365, 390, 400, 408, 414, 435, 438, 446, 460-62, 464, 466, 476, 480, 482, 489, 507, 546 - 47, 550- 51, 553, 565- 66, 568, 599-600, 616-18, 625-41, 643, 65054,657,660,682,685,695,700-1,708 Wissenschaft 130, 133, 137, 142-43, 146, 159,164, 199202,210-12,217,219,224, 227-31, 237, 250-53, 258-59, 264, 317, 338, 342-46, 355, 357, 359, 380, 382-83, 411, 433, 435, 457, 471, 483 - 89, 495, 500, 525-26, 535, 538, 548, 565, 573, 576, 593-600, 606, 617, 633-34, 667, 681-83, 703-4, 709, 711 siehe auch Biologie; Physiologie; Psychoanalyse als Wissenschaft; Psychologie
Anatomie 11, 18, 672, 680 Anthropologie 162- 64, 249 - 50, 430, 619 Archäologie 370, 561 und Genealogie 294, 709 Astronomie, Kosmologie 101, 394 — 97, 484, 553, 626 Chemie 18, 28-29, 408, 560, 627, 633-34 Chirurgie 11, 533-34, 545 Ethnologie 88, 180, 205-6, 281-82, 285, 292, 655, 704 Evolutionstheorie 247, 391, 617, 649- 54, 699, 704 siehe auch Darwin, C. R.; Haeckel, E.; Lamarck, J. B.; Roux, W Mechanik 228, 551, 617, 626-28, 635-37, 651-52, 704 mechanistisch 229, 433, 563 Medizin 7, 12-13, 15, 17, 38, 52-53, 112, 132, 134, 139-40, 162, 346, 427, 435, 528, 535, 543, 578, 617, 704 Neurologie, Neuropathologie 37, 133, 421, 426, 558 Physik 28,133,141, 257,335,395-97,598, 627, 631, 655 Psychiatrie 11, 89, 236, 419, 426, 704 Zoologie 11, 16, 18, 2 7 - 2 8