BAND 10 "Verwilderte Selbsterhaltung": Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno 9783050077635, 9783050034645

In seiner theoriegeschichtlichen Untersuchung rekonstruiert Karsten Fischer Entwicklungslinien zivilisationstheoretische

182 64 12MB

German Pages 175 [176] Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Blick zurück im Zorn: Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer
2. Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: Friedrich Nietzsche
3. „Am Anfang war der Mord" I: Die Zivilisationstheorie Sigmund Freuds
4. Rationalisierung des Tabu: Max Webers soziologische Wendung zivilisationstheoretischer Kulturkritik
5. „Am Anfang war der Mord" II: Theodor W. Adornos Radikalisierung zivilisationstheoretischer Kulturkritik
6. Sozial-ökologische Perspektiven
7. Literaturverzeichnis
8. Register
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BAND 10 "Verwilderte Selbsterhaltung": Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno
 9783050077635, 9783050034645

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Karsten Fischer .Verwilderte Selbsterhaltung"

POLITISCHE IDEEN

Band 10

Herausgegeben von Herfried Münkler Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Karsten Fischer

„Verwilderte Selbsterhaltung" Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fischer, Karsten: „Verwilderte Selbsterhaltung" : zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno / Karsten Fischer. - Berlin : Akad. Verl., 1999 (Politische Ideen ; Bd. 10) Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1998 ISBN 3-05-003464-5

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 1998/99 vom Fachbereich Sozialwissenschaften an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Herfried Münkler hat die Arbeit seit ihren ersten Anfängen in idealer Weise betreut, indem er mir stets mit seinem Rat zur Verfügung stand und mir wertvolle Hinweise und Motivation gegeben hat, gleichzeitig aber meinem Gedankengang und Schreibprozeß die größtmögliche Freiheit gewährt hat. In den Dank für diese Begleitung einbezogen sind die Teilnehmer seines Kolloquiums an der Humboldt-Universität, in dem ich Teile des Manuskripts vortragen und diskutieren durfte. Für solche Diskussionsgelegenheiten danke ich weiterhin den Veranstaltern und Teilnehmern der Conference on Philosophy and Social Sciences in Prag 1998 und der Tagung Friedrich Nietzsche und die Kritische Theorie im Rahmen der 7. NietzscheWerkstatt-Schulpforta 1998. Herbert Schnädelbach danke ich für die Übernahme der Begutachtung und für mehrere lehrreiche und motivierende Gespräche, in denen ich richtungsweisende Anregungen erhielt, gerade auch aufgrund einiger kritischer Einwände seinerseits. Es versteht sich, daß er, wie alle anderen hier erwähnten Lehrer, Freunde und Kollegen, in keiner Weise verantwortlich ist für verbliebene Unzulänglichkeiten und auch einige Eigensinnigkeiten meinerseits. Den weiteren Mitgliedern meiner Promotionskommission, Hartmut Böhme, GertJoachim Glaeßner und Hellmut Wollmann verdanke ich ebenfalls eine Reihe interessanter Einwände, insbesondere hinsichtlich der Aktualität und Plausibilität von Adornos zentralem Theorem eines Zusammenhangs zwischen Naturbeherrschung und Barbarei. Besondere Dankbarkeit gilt meinem ersten akademischen Lehrer und Freund Walter Schlangen. Ihm verdanke ich nicht nur wegweisende Anregungen und eine Fülle von Anleitungen und Hinweisen in zentralen Interpretationsfragen, sondern im akademischen wie persönlichen Sinn nicht weniger als das Zustandekommen der vorliegenden Arbeit. Für Hinweise bei der Durchsicht des Manuskripts danke ich Harald Bluhm, Wilhelm Lascho, Gregor Mauer und in besonderem Maße Hans Grünberger. Mischka Dammaschke vom Akademie-Verlag gebührt mein Dank dafür, daß er die Drucklegung der Arbeit mit viel Engagement und Umsicht unterstützt und verständig betreut hat. Die Erstellung der druckfertigen Textformatierung und des Registers sowie die Endkorrektur haben dankenswerterweise Ulf Jensen und Torsten Kahlert übernommen. Durch ein zweijähriges Promotionsstipendium der Stiftung der Deutschen Wirtschaft wurde die Arbeit finanziell gefördert. Meine Mutter Irene Fischer-Frauendienst konnte den Entstehungsprozeß dieser Dissertation nicht mehr erleben, hat aber großen Anteil an ihm. Astrid Thyssen hat meine Arbeit in der Weise begleitet, für die sich kein Dank aussprechen läßt - bei großen Vorzügen eines Anderen gibt es kein Mittel außer Liebe!

Inhalt

1.

2.

Blick zurück im Zorn: Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

9

Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: Friedrich Nietzsche

25

2.1.

Mythos und Aufklärung

29

2.2.

Die Entzauberung der Religion

33

2.3.

Nietzsches Dialektik der Aufklärung

36

2.4.

Die Dialektik der doppelten Naturbeherrschung

40

3.

„Am Anfang war der Mord" I: Die Zivilisationstheorie Sigmund Freuds

50

3.1.

Die zivilisatorische Reziprozität von innerer und äußerer Naturbeherrschung

52

3.2.

Eine zivilisationspsychologische Herleitung des kulturellen Gewaltverzichts: Totem und Tabu

57

3.3.

Die Fragilität sedimentierten Triebverzichts: Das Unbehagen in der Kultur

64

4.

Rationalisierung des Tabu: Max Webers soziologische Wendung zivilisationstheoretischer Kulturkritik

74

4.1.

Von der spekulativen Zivilisationspsychologie zur methodischen Kultursoziologie

75

4.2.

Sexualität und Schuld: Ein religionssoziologisches Paradigma von Kultur

80

4.3.

Eine Soziologische Dialektik der Aufklärung: Webers Dialektik der Rationalisierung

88

4.3.1. Intellektualisierung und Sinnsuche: Die Entzauberung der Welt

91

4.3.2. „Ein stahlhartes Gehäuse": Die bürokratisierte Welt der Moderne

97

8

5.

„Am Anfang war der Mord" II: Theodor W. Adornos Radikalisierung zivilisationstheoretischer Kulturkritik

5.1. Die Dialektik der Aufklärung im Mythos: Zur Zivilisationsgeschichte der Subjektivität 5.2.

101 105

Vom Insektenvertilgungsmittel zum Vernichtungslager: Die Rationalisierung des Tabu als Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung

118

5.3. Eine soziologische Physiognomik des Grauens: Die verwaltete Welt als Fortdauer der Vorgeschichte

144

6.

Sozial-ökologische Perspektiven

151

7.

Literaturverzeichnis

159

8.

Register

172

;

1. Blick zurück im Zorn: Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

Naturzerstörung und zwischenmenschliche Gewalt sind permanente Herausforderungen für die praktische Politik und bilden zentrale Themen für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Mitunter werden gar empirische Zusammenhänge zwischen beiden Problemfeldern gesehen. Beispielsweise könnten Umweltzerstörungen globale Migrationsbestrebungen verstärken, die wiederum kompromißlose Kämpfe um die Verteilung von Wohlstandsgütern nach sich ziehen. Die naheliegende Überlegung, ob ein zwingender Zusammenhang bestehen könnte zwischen der menschlichen Naturbeherrschung und teilweise grenzenloser Gewaltbereitschaft zwischen den vergesellschafteten Menschen, wird aber kaum thematisiert. Naturzerstörung und soziale Gewalt werden ganz überwiegend als vorübergehende Begleiterscheinungen eines bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstandes angesehen, etwa einer durch die industrielle Revolution initiierten „Moderne" mit ihren technischen Errungenschaften und sozialen Desintegrationserscheinungen. Aufgrund der Konstanz, mit der zerstörerische Naturbeherrschung und zwischenmenschliche Destruktion die Zivilisationsgeschichte begleiten, drängt sich jedoch die Überlegung auf, ob ihre Wurzeln womöglich bereits in frühgeschichtlichen Zivilisationsakten liegen. Dies würde bedeuten, beide Probleme nicht auf der historischen Ebene des jeweiligen Regierungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems mit seinen kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Standards, Wertorientierungen und Handlungsoptionen zu verorten, sondern auf einer tieferen, nur zivilisationstheoretisch zu erfassenden Ebene. Damit liegt es nahe, einen Zusammenhang zwischen menschlicher Naturbeherrschung und zwischenmenschlicher Gewalt zu erwägen: Hat es möglicherweise Auswirkungen auf das gesellschaftliche Verhalten der Menschen untereinander, daß der Schritt in die Zivilisation eine Unterwerfung der äußeren und der inneren Natur des Menschen mit sich bringt? Verursachen die Zivilisationsleistungen der gestaltenden Beherrschung des Lebensraumes und der kulturellen Begrenzung triebgesteuerten Handelns womöglich ungeahnte Folgekosten? Diese Fragen bilden, wie im Verlauf der Untersuchung gezeigt wird, einen Kern des sozialphilosophischen Denkens von Theodor W. Adorno. Ihm zufolge führt die im Zuge einer Kontrolle der inneren Natur des Menschen möglich gewordene zivilisatorische Unterwerfung der äußeren Natur zur Einengung des menschlichen Horizonts auf Selbsterhaltung und Herrschaft. Die als Naturbeherrschung verstandene und dementsprechend gewaltsam durchgeführte, gesellschaftlich organisierte Bearbeitung der natürlichen Lebensbedingungen führt zu immer geringerer Sensibilität der zivilisierten

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1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

Menschen für die von ihnen ausgeübte Gewalt, deren Anwendung die Menschheit im Verlauf des Zivilisationsprozesses legitimiert und normiert hat nach dem jüdischchristlichen Muster eines göttlichen Gebotes für den Menschen, sich die Erde Untertan zu machen.1 Der solchermaßen verinnerlichte und eingeübte, gewaltsame Herrschaftsanspruch des Menschen gegenüber seiner natürlichen Umwelt ermöglicht schließlich, so Adornos zivilisationspsychologische Hypothese, daß er auch im sozialen Umfeld praktiziert wird: Die Menschen empfinden ihr Zusammenleben dem erfolgreichen Modell ihrer Naturbeherrschung nach und organisieren Gesellschaft als Herrschaftshierarchie untereinander. Dabei lernen sie, die gegen die Natur verübte Gewalt mit zweckrationaler Kälte auch gegen Mitmenschen auszuüben. Die potentiell schrankenlose zwischenmenschliche Barbarei im Gesellschaftszustand, fur die Adorno zumeist das extreme Beispiel Auschwitz anführt, erscheint in dieser Perspektive nicht als Rückfall in vorzivilisatorische Zustände, sondern als Folge der Gewöhnung an die alltägliche Gewalt der Naturbeherrschung. Nicht als Zivilisationsbruch interpretiert Adorno zwischenmenschliche Gewaltausbrüche, sondern geradezu als Konsequenz eines selbstzerstörerischen Zivilisationsprozesses. Dieses Theorem kommt im Titel der vorliegenden Untersuchung, einem Zitat aus Adornos Negativer Dialektik, zum Ausdruck: Verwilderte Selbsterhaltung ist in Adornos Sicht jene menschliche Vernunft, die ihren natürlichen Ursprung als notwendiges Element menschlicher Selbsterhaltung verleugnet und, gerade indem sie sich als vermeintliche Überwindung naturhaften Verhaltens aufführt, regressiv verwildert zu einer um so hemmungsloseren Naturgewalt. Dieser Umstand widerspricht dem unsinnigen Mißverständnis, Adornos Anliegen bestehe in einer planen Naturromantik, welche, bis hin zum vegetarischen Pazifismus, die Versöhnung von Mensch und Natur durch Preisgabe der menschlichen Naturbeherrschung propagiere. Sein Interesse gilt nicht primär Tierschutzaspekten, sondern richtet sich auf die sozialwissenschaftlich relevante Vermutung, daß hemmungslose Naturbeherrschung desaströse Wirkungen auf das menschliche Zusammenleben zeitigt.2 Adorno bestimmt die unausweichliche Selbsterhaltung der menschlichen Gattung mittels ihrer schöpferischen Naturbearbeitung durchaus als konstitutives Rationalitätsmoment; seine Kritik richtet sich nicht gegen die für den Menschen notwendige und typische Naturbeherrschung, sondern gegen ihre sekundäre Rationalisierung und kulturelle Überhöhung, die statt der vorgeblichen Emanzipation von Naturzwängen deren Fortwirken in der Zivilisation heraufbeschwört. Entgegen einer romantisierenden Kritik der anthropogenen Naturbearbeitung reflektiert Adorno die Dialektik der Naturbeherrschung als regressiven, selbstzerstörerischen Umschlag menschlicher Naturbewältigung aufgrund der entgrenzenden Praktiken ihrer rationalisierenden kulturellen Rechtfertigung: „Absolute Naturbeherrschung ist absolute Naturverfallenheit".3 Der Begriff Rationalisierung erfüllt dabei seinen doppelten Sinn: Die Naturbeherrschung wird als rationell, als ökonomisch und praktikabel verstetigt, 1 Vgl. Horkheimer 1985 ff, Bd. 6: Zur Kritik der instramentellen Vernunft, S. 79, 115. Differenziert Böhme/Böhme 1983, S. 32 ff.;Groh/Groh 1991, S. 11 ff. u. zur Lippe 1974, S. 24. 2 Insofern besteht seine These audi nicht in der banalen Kantischen Behauptung, wer grausam gegenüber seinem Hund sei, sei es vermutlich auch gegenüber Mitmenschen, sondern Adorno interessiert eine zivilisationspsychologische Dynamik. 3 Adorno 1970 fr, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 628.

1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

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sobald sie als rational, als vernünftig legitimierbar gilt. Diese dialektische Kritik an der Naturverfallenheit schrankenloser, ideologisch legitimierter Naturbeherrschung, welche die Naturbearbeitung zur Naturzerstörung und die gesellschaftliche Herrschaft zur Barbarei werden läßt, kennzeichnet die Sonderstellung von Adornos Denkansatz, der unvereinbar ist mit allen Spielarten herkömmlicher Kultur-, Zivilisations- und Gesellschaftskritik.4 Er wendet sich gegen die zumal in der deutschen Tradition verbreitete pejorative Abgrenzung bloßer Zivilisation von einer auf diese Weise idealisierten Kultur* ebenso wie gegen eine rückwärtsgewandte, träumerische Kritik am historischen Zivilisationsprozeß. In letzterer sieht er einen Rückfall hinter jene „dialektische Idee von der Geschichte", die bereits Rousseau erreicht habe mit seiner an Voltaire gerichteten Bemerkung, es komme ein Augenblick, da die zivilisatorischen Übel so groß geworden seien, daß es zu ihrer Begrenzung notwendig sei, die Ursachen der Übel weiter anzuwenden.6 Adornos Kritik richtet sich gegen die irrigen Grundprinzipien des menschlichen Zivilisationsprozesses: „Nicht die Rationalisierung der Welt trägt Schuld an dem Unheil, sondern die Irrationalität dieser Rationalisierung."7 Folglich liegt der Kern des Problems nicht in der fortschreitenden Technisierung des auf Naturbeherrschung ausgerichteten Zivilisationsprozesses oder in dessen vordergründigen, politisch-ökonomischen Ausprägungen. Die Fragen reichen vielmehr „ins Urgestein der Gesellschaft", „sie verlieren sich im Trüben der Frühgeschichte": „Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte."8 Diese weitgehende Distanzierung Adornos vom Historischen Materialismus durch Umwandlung seiner bekannten, bündigen Formel deutet bereits an, daß Adornos Theorieansatz, entgegen seiner landläufigen Verortung als westlicher Marxismus, Neomarxismus oder Hegelmarxismus, nicht auf eine unmittelbare, Sozialrevolutionäre Gesellschaftskritik abzielt, geschweige denn auf eine romantisierende Zivilisationskritik oder eine konservative Kulturkritik mit nationalistischer beziehungsweise kulturalistischer Stoßrichtung, sondern auf eine Radikalisierung der Frage nach den menschheitsgeschichtlich zentralen Problemen von Naturzerstörung und zwischenmenschlicher Gewalt durch deren kausale Verknüpfung. In seiner Verwendung des Begriffe Zivilisation vermeidet Adorno nicht nur die traditionell deutsche Konstruktion eines Gegensatzes zu Begriff und bestimmten histo-

4 Vgl. Adornos Metakritik der Kulturkritik in Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 11 ff. 5 Vgl. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 697 und vor allem - überdeutlich in Adornos Sprachduktus - Institut für Sozialforschung 1956, S. 85 ff 6 Institut für Sozialforschung 1956, S. 90 f. Anm. 9. 7 Ebd., S. 87. 8 Adorno 1970 ff, Bd. 20: Vermischte Schriften, S. 316 f ; vgl. ebd., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 315; Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 374. Vgl. Marx / Engels 1956 ff, Bd. 13: Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 3 ff., 9. Mag es auch partielle Nähen Adornos zu Heidegger geben (vgl. Mörchen 1980-, Mörchen 1981; Garcia Düttmann 1991), so hegt doch ein wesentlicher Unterschied in der Zielrichtung der Kritik: Wahrend Heidegger indirekt technikkritisch und insofern modernitätskritisch argumentiert (vgl. Heidegger 1994, S. 27, 33, 62), ist dies, wie nachfolgend im einzelnen gezeigt wird, gerade nicht Adornos Perspektive. Wie Fetscher 1986, S. 243 f., betont, ist die Technikkritik ein generelles Unterscheidungsmerkmal zwischen konservativer Kulturkritik und dem Anliegen der Kritischen Theorie.

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1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

rischen Erscheinungsformen von Kultur.9 Ebensowenig verbindet er den Zivilisationstopos entwicklungsgeschichtlich mit einem Begriff politisch-sozialer Ordnung oder mit der philosophischen Fortschrittsidee, wie es der vorherrschenden französischen Verwendungsweise entsprach.10 Adornos Zivilisationsbegriff beruht vielmehr auf der kontrastiven Bestimmung von Barbarei. Hierzu rekurriert er auf die englische Begriffstradition im ausgehenden 18. Jahrhundert und beruft sich auf James Boswell, der in Auseinandersetzung mit Samuel Johnson den Terminus civilisation gegenüber civility bevorzugt, um mittels dessen Abstammung von to civilize den Gegensatz zu barbarity herzustellen." Entgegen jedem prozessualen Verständnis von Zivilisation, wie es noch bei Engels vorliegt, wenn dieser Zivilisation als „neuen Fortschritt der Teilung der Arbeit" und damit als höhere „Entwicklungsstufe der Gesellschaft" gegenüber der ,Barbarei" bestimmt,12 benutzt Adorno Zivilisation und Barbarei als asymmetrische Gegenbegriffe, d.h. als „binäre Begriffe von universalem Anspruch", „die darauf angelegt sind, eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen", deren Gegensatz „auf ungleiche Weise konträr" ist.13 Diese asymmetrische Gegenbegrifflichkeit von Zivilisation und Barbarei dient Adorno zur Beschreibung seines Themas, der Dialektik der Naturbeherrschung, und seines zentralen Theorems, daß exzessive zwischenmenschliche Gewalt eine zivilisationstheoretische Konsequenz der ideologisch legitimierten Naturbeherrschung bildet. Dazu greift er auf die ebenso naheliegende wie verbreitete anthropologische Annahme zurück, daß das menschliche Naturverhältnis durch die Ausübung einer zweifachen Kontrolle gekennzeichnet ist: Die Voraussetzung der Emanzipation des Menschen von seiner äußeren Natur ist die Beherrschung seiner inneren, triebhaften Natur. Erst die Souveränität über spontane, unkontrollierte Triebregungen ermöglicht rationale Planung und bringt die intellektuellen Vorzüge des homo sapiens zur Geltung, bei der Bewältigung natürlicher Umwelteinflüsse ebenso wie bei der Auseinandersetzung mit tierischen Konkurrenten im natürlichen Überlebenskampf. So ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation „die Geschichte der Entsagung" unter dem Imperativ der Selbsterhaltung, wobei die Kontrolle der triebhaften inneren Natur des Menschen nur durch Zwangsmittel dauerhaft sicherzustellen ist - ohne die Ausübung von Gewalt und Schrecken ist die Zivilisation nicht aufrechtzuerhalten.14 Wiewohl Adorno den Terminus Barbarei durchaus schillernd verwendet, indem er ihn auch in ästhetischen und bildungspolitischen Zusammenhängen polemisch einsetzt,15 dient er ihm vorrangig als Gegenbegriff zu demjenigen der Zivilisation. Die Barbarei ist die zwangsläufige Folgeerscheinung eines im Verlauf der Menschheitsgeschichte leerlaufen-

9 10 11

12 13 14 15

Ausdrücklich in Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 703. Vgl. hierzu Bollenbeck 1994, S. 85,164, 231 f., 270; Pflaum 1967 u. Fisch 1992. Moras 1930, S. 11. Vgl. ferner Starobinski 1990. Institut für Sozialforschung 1956, S. 84. Vgl. Fisch 1992, S. 736. Die ersten Verwendungen dieser Gegenüberstellung lassen sich der Sache nach bereits im frühneuzeitlichen Kolonialismus feststellen, vgl. Bollenbeck 1994, S. 51. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen, in: Marx/Engels 1956 ff., Bd. 21, S. 25 ff., 30 ff Koselleck 1989, S. 213. Horkheimer / Adorno 1944, S. 79; 51; 248. Vgl. u.a. Adorno 1970ff, Bd. 7: Ästhetische Theorie, S. 97; ebd., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 672.

1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

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den Zivilisierungsversuchs, dessen Scheitern Adorno angelegt sieht in seinem ureigensten Erfolgsprinzip. Barbarische Ausbrüche können demnach nicht als Rückfälle in eine überwundene Etappe der Kulturentwicklung verstanden werden. Sie sind nicht bloße Symptome des von Freud diagnostizierten Unbehagens in der Kultur infolge der kulturell diktierten Triebunterdrückung. Barbarei ist normal, „weil sie nicht in bloßen Rudimenten besteht, sondern in gleichem Maße wie die Naturbeherrschung immerfort reproduziert wird."16 Mit ihr wird nicht gleichsam ein Preis bezahlt für die durch Triebversagung ermöglichte Weltherrschaft der menschlichen Gattung, sondern sie korrespondiert der Durchführung fortschreitender menschlicher Naturbeherrschung: „Dem Fortschritt selber [...] ist als Ferment ein Zusatz von Barbarei beigemischt: man fegt aus."17 So ist die Barbarei für Adorno keine ausschaltbare Nebenwirkung der Zivilisation als eines Aktes doppelter Naturbeherrschung. Vielmehr ist sie eine Folge der Verinnerlichung des Gewaltprinzips, auf dem die Beherrschung der äußeren Natur beruht, und damit der Zivilisation stets originär zugehörig. Diese abstrakte Überlegung hat für Adorno einen sehr konkreten und unmittelbar realen Gehalt: „Mit Barbarei meine ich [...] das Äußerste: wahnhaftes Vorurteil, Unterdrückung, Völkermord und Folter; darüber soll kein Zweifel sein."18 Dabei muß in Rechnung gestellt werden, daß Adornos schillernde Semantik gedankliche Widersprüchlichkeiten produziert: Wenn ,3arbarei" den Gegenbegriff zu „Zivilisation" bilden soll, dürfte Adorno kaum mehr von „Regression" sprechen, und auch die „Verwilderung" der Selbsterhaltung ist demnach ein falsches Bild. Auf diese Unschärfen wird nachfolgend hingewiesen, wenn sie an flagranter Stelle auftreten; völlig vermeiden läßt sich ihre Reproduktion in der Interpretation nicht, was aber auch schadlos bleibt, sofern man sich der gelegentlichen Inkompatibilität zwischen Adornos dialektischen Denkstil und seiner pointierten Begrifflichkeit bewußt bleibt. In der Radikalität dieser zivilisationstheoretischen Perspektive ist ein kulturkritisches Element enthalten, das Adornos Ablehnung herkömmlicher Kulturkritik unterstreicht, so daß sich sein Ansatz als zivilisationstheoretische Kulturkritik charakterisieren läßt: Anders als die traditionelle Kulturkritik, deren Unbehagen zumeist einer bestimmten nationalen Kulturform oder einer vermeintlichen Krise der kulturellen Entwicklung gilt, hinterfragt Adorno sub specie aeternitatis grundsätzlich die Entwicklung von Kultur als zweiter Natur des Menschen19 und vermutet deren Probleme in urgeschichtlichen Bedingungen des 16 17 18 19

Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 86. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 120. Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 672 f Den von Hegel stammenden (vgl. Hegel 1970 ff., Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 46 (§ 4), S. 301 (§ 151); Bd. 12: Vorlesungen über die Phüosophie der Geschichte, S. 57) Begriff d a zweiten Natur hat Adorno von Lukäcs übernommen: „Die Praxis der Naturbeherrschung ist historisch und wird zur zweiten Natur, das ist der Tenor der Adornoschen Verwendung des Begriffe" (Schlüter 1987, Bd. 2, S. 462 f.). Die von Köhler 1974 hoch veranschlagten Übereinstimmungen zwischen Adorno und Lukäcs halten sich aber in engen Grenzen, nicht nur aufgrund von Lukäcs' verleumderischem Bonmot vom „Grand Hotel Abgrund" (Lukäcs 1971, S. 16; vgl. ursprünglich Lukäcs 1962, S. 219, mit Bezug desselben Begriffe auf Schopenhauer). Adorno selber bemerkt mit gelassener Polemik, Lukäcs habe „die subalternsten Einwände der Parteihierarchie unter Mißbrauch Hegelscher Motive gegen sich selbst zu eigen gemacht und jahrzehntelang in Abhandlungen und Büchern sich abgemüht, seine offenbar unverwüstliche Denkkraft dem trostlosen Niveau der sowjetischen Denkerei gleichzuschalten" (Adorno 1970 ff, Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 251).

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1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

gesamten Zivilisationsprozesses. Den Maßstab dieser zivilisationstheoretischen Kulturkritik, mit der Adorno jeglichen Abgrenzungsversuch zwischen Kultur und Zivilisation unterläuft, bildet das gängige Selbstverständnis menschlicher Kultur als einer dem homo sapiens vorbehaltenen, von den reinen Naturgesetzen emanzipierten, pazifizierten, intellektualisierten und moralisierten Lebensweise, die noch niemals dauerhaft verwirklicht werden konnte. Allein schon aufgrund dieses affirmativen Rekurses auf einen dezidierten KulturbegrifF unterscheidet sich Adornos Ansatz grundsätzlich von allen Formen herkömmlicher Zivilisationskritik. Indem diese den Sinn und die Möglichkeit von Kultur voraussetzt, wird sie, Adorno zufolge, zum Steigbügelhalter der Barbarei,20 weil sie verkennt, daß nicht ein bestimmter historischer Kulturzustand den Schritt zur Barbarei bedingt, sondern das zivilisatorische Prinzip überhaupt. Als reine Naturbeherrschung ist Kultur zur Naturverfallenheit verdammt. Literarisch ausgeschmückt bestimmt Adorno als Geburtsfehler der Kultur im Sinne der gesamten menschlichen Zivilisation die gewalttätige Naturbeherrschung, die sich mit dem menschlichen Selbstverständnis als Kulturwesen kaum vereinbaren läßt, so daß sie, mit einer apodiktischen Legitmation ausgestattet, kollektiv verdrängt wird und, aus dem kulturellen Unterbewußtsein heraus, subversiv den Übergang von der Zivilisation zur Barbarei bewirken kann. Die einzige Chance der Kultur, ihrem Anspruch zu genügen, läge in der selbstkritischen Reflexion ihres Charakters; unterbleibt eine solche Selbstreflexion der gewaltsamen Naturbeherrschung, ergibt sich die Barbarei als innere Konsequenz dieses Zivilisationsprinzips: „Was an Kultur Verfall dünkt, ist ihr reines zu sich selber Kommen."21 Adornos Interesse gilt also, um eine vortreffliche Formulierung Wolfgang Sofskys zu übertragen, dem „Stand der Destruktivkräfte".22 Alle zivilisatorischen Errungenschaften, alle Kulturerscheinungen sind Teil dieser Destruktivkräfte, weil das Prinzip der Selbsterhaltung, das Adorno nur ungenau und unzureichend vom Begriff der Naturbeherrschung unterscheidet,23 „die wahre Maxime aller westlichen Zivilisation" enthält,24 ja geradezu das „Naturgesetz alles Lebendigen" bildet.25 „Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung"26 reduziert sich „um der konsequenten Selbsterhaltung willen" auf

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Vgl. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 360 f.; ebd., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 11 ff. Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 17. So/sky 1996, S. 226. Ohne auf Adorno Bezug zu nehmen und demnach ohne eine Verbindung zwischen zivilisatorisch perfektionierter menschlicher Naturbeherrschung und zwischenmenschlicher Gewaltausübung zu insinuieren, reflektiert Sofsky die zivilisationspsychologischen Grundlagen und Mechanismen der letzteren so tiefgehend, daß die Herstellung von Bezügen zu Adornos Überlegung naheliegt, vgl. Sofsky 1996, S. 156, 160: „Die Praktiken der Treibjagd sind tief verwurzelt. Die Beute wird verfolgt, umstellt, niedergestreckt. [...] Geändert hat sich lediglich das Objekt, das Opfer der Jagd. Nachdem die Menschen den Zusand des Wildbeutertums verlassen haben, hetzen sie [...] andere Menschen. [...] Die Verfolgung des Artgenossen gehört zu den Grundmustern der Kulturgeschichte, bis zum heutigen Tag. [...] Nicht ohne Grund verglich ein amerikanischer Helikopterpilot das Massaker bei Mutiah Ridge in der Endphase des Golfkriegs mit einer Truthahnjagd." Vgl. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 444 f Horkheimer /Adorno 1944, S. 52. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 342. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 611.

1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

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rein instrumentelle Zweckrationalität;27 Vernunft übernimmt „die Rolle des Anpassungsinstruments".28 Adornos zivilisationstheoretische Annahme, daß infolge der kulturellen Selbstermächtigung des Menschen zu grenzenloser Naturbeherrschung ein ursprünglicher Zusammenhang besteht zwischen gewaltsamer Unterwerfung der Natur und exzessiver Gewaltbereitschaft unter den vergesellschafteten Menschen, läßt sich in ihrer Tragweite nachvollziehen, wenn man ihre Gegensätzlichkeit zu entsprechenden Überlegungen Immanuel Kants herausstellt, der ebenfalls die Bedeutung der menschlichen Naturbeherrschung reflektiert hat. Diametral zu Adornos späterer Befürchtung lobt und bestärkt Kant den Zivilisationsprozeß, sieht in ihm kein Gewaltpotential, sondern die Verheißung rechtlich verbriefter, reziproker Gewaltbegrenzung, und scheut nicht einmal vor dessen heilsgeschichtlicher Überhöhung zurück: „Der [...] letzte Schritt, den die den Menschen aber die Gesellschaft mit Thieren gänzlich erhebende Vernunft that, war: daß er (wiewohl nur dunkel) begriff) er sei eigentlich der Zweck der Natur, und nichts, was auf Erden lebt, könne hierin einen Mitwerber gegen ihn abgeben. Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte [...], ward er eines Vorrechtes inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen aberlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah. Diese Vorstellung schließt (wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegensatzes ein: daß er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe [...] Und so ist der Ausschlag einer durch Philosophie versuchten ältesten Menschengeschichte: Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange menschlicher Dinge im Ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtem zum Besseren allmählich entwickelt".29

Adorno teilt mit Kant die Konzentration auf Naturbeherrschung bei der Analyse des menschlichen Zivilisationsprozesses und der Evolution von Vernunft, weswegen er feststellen kann, „daß der kategorische Imperativ von Kant gar nichts anderes ist, als das ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip der Naturbeherrschung selber."30 Während jedoch Kant mit allem Optimismus und Pathos der Aufklärung in der die Naturbeherrschung vollendenden Kultur die Hoffnung auf immerwährenden Frieden zwischen den Menschen verbürgt sieht,31 bildet für Adorno das Prinzip blindwütiger Gewaltherrschaft über die Natur gerade die Ursache des Mißlingens der Kultur, ihrer Tendenz zur Selbstzerstörung, deren Ursache er in der menschlichen Urgeschichte verortet. Adornos Aufmerksamkeit und Kritik gilt dabei, wie gesagt, weder der unabänderlichen, existentiellen Tatsache menschlicher Naturbeherrschimg, noch ihren jeweiligen Techniken, sondern den zivilisationspsychologischen Konsequenzen ihrer Legitimationsstrategie. Nicht in der zum Überleben unvermeidlichen Ausübung von Gewalt gegen andere Lebewesen liegt die Selbstzerstörung des Zivilisationsprozesses begründet, sondern in den kulturpsychologischen Konsequenzen eines mit der ideologischen Legitimation zusammen-

27 28 29 30 31

Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 342. Horkheimer /Adorno 1944, S. 254. Kant 1912: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 107 ff, 114,123. Adorno 1996, S. 155. Kant 1912: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 107 ff, 121.

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hängenden Verleugnungsmechanismus, ohne den die menschliche Selbstermächtigung zur Naturbeherrschung niemals auskam. Die Mutmaßung Adornos, daß ein ursprünglicher zivilisationspsychologischer Zusammenhang besteht zwischen der ideologischen Selbstermächtigung des Menschen zu seiner Zivilisationsleistung gewaltsamer Unterwerfung der Natur und seiner blindwütigen Gewaltbereitschaft gegenüber seinen Artgenossen, wird sich im Verlauf der nachfolgenden Untersuchung als ein für seine Kultur- und Gesellschaftstheorie zentrales Theorem erweisen. Adornos Verbindung zwischen dem ihn primär umtreibenden Problem zwischenmenschlicher Gewalt und dem menschlichen Naturverhältnis verknüpft bislang weitgehend unverbunden gedachte sozialwissenschaftliche Problematiken, und schon allein dies begründet ein Interesse an den spekulativen zivilisationstheoretischen Überlegungen, die nicht als konträr, sondern als komplementär zu jenen Untersuchungen konkreten historischen Materials zu verstehen sind, bei denen empirische Falsifizierbarkeit als sinnvolles wissenschaftliches Validitätskriterium gegeben ist. Diese hier vorgeschlagene Lesart Adornos, derzufolge er gewissermaßen eine Kritik des kollektiven Unbewußten vornimmt, bedeutet eine Korrektur gängiger Interpretationsraster und theoriegeschichtlicher Verortungen. So läßt sich Sofskys Diktum vom „Stand der Destruktivkräfte" nicht zuletzt deshalb so gut zur Kennzeichnung von Adornos Erkenntnisinteresse nutzen, weil seine offensichtliche Persiflage des marxistischen Interesses am Stand der Produktivkräfte andeutet, daß Adornos Ansatz, wie bereits erwähnt, unzureichend erfaßt wird, wenn sein Anliegen und seine zentralen und charakteristischen Theoreme als Hegelmarxismus, Neomarxismus beziehungsweise westlicher Marxismus gekennzeichnet werden.32 Während die untereinander höchst unterschiedlichen, nicht nur in Fragen der praktisch-politischen Realisierung teilweise unvereinbaren und verfeindeten, marxistisch inspirierten Gesellschaftstheorien allesamt darin übereinstimmen, daß sie verschiedene soziale, politische und im weiteren Sinne kulturelle Phänomene auf ökonomische Faktoren zurückfuhren, nimmt Adorno gerade diesbezüglich eine andere Perspektive ein. Nicht eine ökonomisch strukturierte Repression, deren Vorhandensein er durchaus betont, bildet fur ihn die Wurzel des dialektisch verwobenen Problems von Barbarei und Naturbeherrschung, sondern die kulturpsychologische Wirkung der mannigfaltig verbrämten, frühgeschichtlichen Selbstermächtigung des Menschen zu schrankenloser Naturbeherrschung, ohne die sich in Adornos Sicht die wirtschaftlich strukturierte, im Spätkapitalismus verfestigte Herrschaft von Menschen über Menschen gar nicht erklären läßt. Anders als Marx und Engels interessiert sich Adorno in erster Linie für den zivilisatorischen Initiationsakt, die Naturbeherrschung ideologisch zu legitimieren und dies in der Folge kultureller Verleugnung anheimzustellen, so daß das kollektive Unbewußte die Kulturidee sukzessive zu unterminieren vermag. Folgerichtig bezichtigt er Marx der Kumpanei mit diesem folgenreichen Geburtsfehler des homo sapiens, und so verlängert 32 Natürlich soll und kann Adornos Orientierung an Hegeischen (vgl. vor allem Reusswig / Scharping 1988) und Marxschen Denkmotiven damit keineswegs in Abrede gestellt werden; insbesondere dient diese interpretatorische Neuorientierung nicht dem Versuch, die Kritische Theorie durch „Bereinigung" von ihren aus der Mode gekommenen marxistischen Elementen zeitgemäß und „anschlußföhig" zu machen.

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sich Adornos Frontstellung gegen die Kantische Anthropologie und bestimmte Einflüsse ihrer Moralphilosophie auf Marx. Die Aufgabe dialektischer Theorie sieht Adorno darin, „nicht dem Ökonomismus [zu] verfallen und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produktion"33 - für einen vermeintlichen Hegelmarxisten reichlich heterodox! Von dem hinsichtlich der Frage nach Adornos theoriegeschichtlichen Anknüpfungspunkten unzureichenden Verweis auf Hegel und Marx läßt sich ein Bogen schlagen zu einem noch wesentlich schwerwiegenderen interpretatorischen Irrweg. Es ist geradezu zum Gemeinplatz der Adorno-Rezeption geworden, die Radikalität seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik biographisch und psychologisch zu erklären mit der zeitgeschichtlichen Erfahrung des Faschismus, und hieraus umstandslos die geringe Plausibilität und noch geringere Aktualität von Adornos Theorie zu folgern. Symptomatisch für diese Position stellt beispielsweise Helmut Dubiel im Anschluß an sein Verdikt einer angeblich sozialwissenschaftlich blind machenden ^ephilosophierung" der Kritischen Theorie in den vierziger Jahren34 fest, daß eine „Inbeschlagnahme Adornos für eine verfallstheoretische Vernunftkritik einer unhistorischen Lesart seiner Theorie aufsitzt, weil sie verkennt, in welchem Maße diese auf die Bedingungen des faschistischen Spätkapitalismus bezogen war",35 weswegen sie „nicht mehr im unmittelbaren Sinn unsere Theorie" sein könne.36 Diese ohnehin fragwürdige psychologisierende Bezugnahme auf Adornos Biographie und die entsprechende Relativierung seiner brisanten Theoreme läßt sich nicht vereinbaren mit der angedeuteten Kritik Adornos am Marxschen Ökonomismus. Wären es wirklich die zeitgeschichtlichen Umstände gewesen, die Adornos analytische Befunde determinierten, so hätte es weitaus näher gelegen, die Erfahrung des Faschismus in marxistischer Manier mit konkreten sozioökonomischen Bedingungen zu erklären, oder gar mit einer notorisch faschistoiden Mentalität jener Deutschen, vor denen Adorno ins amerikanische Exil emigriert war. Anstelle solch konkreter Erklärungen abstrahiert Adorno jedoch weitestgehend von realgeschichtlich-empirischen Umständen und sucht die tieferen Gründe für die historische Entwicklung „im Trüben der Frühgeschichte".37 Diese zivilisationstheoretische Vertiefung der Thematik als eine durch politische Verzweiflung verursachte negativistische Aporie zu verharmlosen, scheint allenfalls zur Hervorbringung einer Adorno-Legende zu taugen, nicht aber als angemessene Interpretation, denn Adornos Negativismus ist „ein partieller und methodischer, nicht [...] ein metaphysisch-totalisierender".38 In diesen Zusammenhang gehört auch Adornos Konflikt mit der studentischen Protestbewegung Ende der sechziger Jahre. Berücksichtigt man den zivilisationstheoretischen Akzent von Adornos Kulturkritik, so erweist sich seine revolutionsfeindliche Einstellung39 33 34 35 36 37 38 39

Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 22. Dubiel 1978, S. 125. Dubiel 1983, S. 294. Dubiel 1990, S. 268. Ähnlich der Tenor bei Benhabib 1992 u. Habermas 1987 b, Bd. 1, S. 489 ff Adorno 1970 ff., S. 315. Schmid Noerr 1990, S. 44. Vgl. Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 794 ff Den vor allem von Lukäcs gegen die Frankfurter Schule erhobenen Vorwurf ängstlicher Revolutionsfeindlichkeit antizipierend, schrieb Adorno 1936 an Benjamin: „Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst. Darum brauchen

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nämlich keineswegs als resignativer Rückzug oder als Angst vor den praktischen Konsequenzen der eigenen theoretischen Courage. Vielmehr bildet sie die folgerichtige Einsicht aus Adornos von Nietzsche, Freud und Weber angeleitetem Befund, daß zwischenmenschliche Barbarei nicht auf historisch kontingente sozioökonomische Gründe zurückzufuhren ist, so daß die Lösung dieses Problems nicht von einem Wechsel des Wirtschaftssystems und der Gesellschaftsordnung erwartet werden kann. Die ausgetretenen Pfade der bisherigen Adorno-Rezeption schaffen offensichtlich mehr Probleme als sie lösen. Indem Adorno als Kulminationspunkt einer von Hegel und Marx ausgehenden sozialphilosophischen Traditionslinie interpretiert wird, dessen biographisch bedingter geschichtsphilosophischer Pessimismus ins Nichts führe, wird Adornos Denken analytische Kraft abgesprochen, es wird historisiert und gleichsam entsorgt. Hiergegen spricht nicht nur die eingangs angedeutete Aktualität Adornos; wie dargelegt, ist auch die theoriegeschichtliche Verortung irreführend. Daher bietet es sich an, die Demonstration der aktuellen Bedeutung von Adornos Ansatz durch die Ermittlung der gegenüber Hegel und Marx wesentlich bedeutsameren ideengeschichtlichen Einflußfaktoren anzugehen. Dies bedeutet, eine Rekonstruktion der bislang weitgehend unerkannt gebliebenen Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik vorzunehmen, die schrittweise von Nietzsche, Freud und Max Weber zu Adorno führt, und zwar nicht bloß im Sinne ideengeschichtlicher Einfluß- und Bezugnahmen, sondern als systematische Entfaltung eines einheitlichen Denkmotivs, das vor dem Hintergrund der vorstehend bereits skizzierten Theorie Adornos in der nachfolgenden ideengeschichtlich chronologischen Darstellung zu verfolgen ist. Mit Guy Oakes lassen sich drei Formen solcher theoriegeschichtlicher Verbindungen unterscheiden: Im Fall genetischer Abhängigkeit wird eine Idee, ein Theorem übernommen, wobei die Theorie des Rezipienten jedoch auch ohne den Rekurs denkbar und verstehbar ist. Im Fall hermeneutischer Abhängigkeit existiert ein epistemologischer Zusammenhang in dem Sinne, daß die Theorie des Rezipienten ohne den Rekurs unvorstellbar ist, ohne daß davon aber ihre Plausibilität abhängt. Im Fall logischer Abhängigkeit hängt die Gültigkeit der Theorie des Rezipienten ab von derjenigen der rezipierten, insofern hier der theoriegeschichtliche Vorläufer „die Prämissen enthält, deren Wahrheitsgeltung als notwendige Bedingung für die Plausibilität" der Theorie fungiert.40 Bei der hier rekonstruierten Entwicklungslinie wird sich eine logische Abhängigkeit der zivilisationstheoretischen Kulturkritik Adornos von den entsprechenden Theoremen Nietzsches, Freuds und Max Webers erweisen. Die Unterscheidimg verschiedener Abhängigkeitsgrade hat den Vorteil, daß nicht implizit behauptet wird, die Bestandteile der theoriegeschichtlichen Entwicklungslinie - in diesem Fall die Theorien von Nietzsche, Freud und Max Weber seien ebensosehr zentriert auf das zivilisationstheoretisch-kulturkritische Theorem eines ursprünglichen Zusammenhangs von Naturbeherrschung und Barbarei wie das Denken Adornos, von dem her die Rekonstruktion der Entwicklungslinie überhaupt erst ihr Erkenntnisinteresse bezieht. Wie sich zeigen wird, unternimmt Adorno eine radikalisierende Synthetisierung verschiedener Theoriesegmente Nietzsches, Freuds und Webers,

40

wir keine Angst vor ihr zu haben." (W. Benjamin 1972 ff, Bd. 1.3, S. 1005). Münkler 1989, S. 63, deutet dies psychologisch treffend: „Das Dementi ist ein Stück Bestätigung des Vorwurfe." Oakes 1990, S. 23.

1. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

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die dadurch - im Oakesschen Sinne - zu notwendigen Bedingungen werden für die Plausibilität und Konsistenz seiner eigenen These vom zivilisationspsychologischen Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Barbarei. Die Anknüpfungen Adornos an Nietzsche, Freud und Weber bilden freilich auch ein weiteres Indiz dafür, daß sein Denken nicht verstanden werden kann als kurzschlüssiger, verzweifelter Negativismus angesichts des Faschismus, sondern daß Adorno seine biographischen Erfahrungen mit interpretatorischer Vermittlung machte. Adorno hat in einer seiner postum edierten Vorlesungen selbst den Hinweis gegeben, daß er Nietzsche „am meisten von allen sogenannten großen Philosophen verdanke - in Wahrheit vielleicht mehr noch als Hegel".41 Wie im folgenden nachgewiesen wird, geht diese Verbundenheit Adornos mit dem Denken Nietzsches über die zahlreichen bereits bekannten Bezugnahmen und Anknüpfungen hinaus.42 Sie betrifft Adornos zentrale Frage nach einem ursprünglichen zvilisationspsychologischen Zusammenhang zwischen menschlicher Naturbeherrschung und zwischenmenschlicher Barbarei. Bei Nietzsche finden sich nämlich bereits jene Motive zivilisationstheoretischer Kulturkritik, die später Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung bestimmen. Dies beinhaltet nicht nur grundsätzliche thematische Übereinstimmungen nebst begrifflichen Ähnlichkeiten, wie sie etwa in der Problematisierung der doppelten Naturbeherrschung, des Leidens der Tiere in der Zivilisation, des Sieges der Rationalität über den Mythos und des machtorientierten, selbsterhaltenden Charakters jener Vernunft bestehen. Es handelt sich vielmehr um eine logische Abhängigkeit der Kritischen Theorie vom Denken Nietzsches im erläuterten, strengen Sinn, insofern Nietzsche das Kernelement der These von der sich dialektisch entwickelnden, in Barbarei zurückschlagenden Aulklärung vorwegnimmt.43 Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, daß sich Horkheimer und Adorno zwar im •/и/i'etfe-Kapitel der Dialektik der Aufklärung ausfuhrlich und zustimmend mit Nietzsches Moralkritik auseinandersetzen und ihn geradezu als geistesgeschichtlichen Gewährsmann vereinnahmen, die Vorwegnahme ihrer zentralen These durch Nietzsche aber nicht erwähnen. Es liegt nahe, den Grund hierfür in Horkheimers und Adornos Gespür für die nicht zuletzt von Lukäcs verschuldeten,44 damaligen Empfindlichkeiten insbesondere „anti41 42

43 44

Adorno 1996, S. 255. Vgl. vor allem Früchtl 1990; Habermas 1988; Maurer 1981/1982; Pütz 1974; Rath 1987; Rose 1978; Sünner 1986; Wischke 1994; Zitko 1991. Irreführend ist der Titel von Röttges 1972, der Nietzsche in erster Linie „vor dem Hintergrund der Kantischen und der Hegeischen Philosophie" untersucht (S. 27). Nähen zwischen Nietzsche und Adorno speziell in moralphilosophischer Hinsicht untersuchen Wischke 1994; Kohlmann 1997, S. 72 ff.; Schweppenhäuser 1993, S. 156 ff. Der hier unternommene Nachweis weitreichender Nähen zwischen Nietzsche und Adorno ist natürlich unvereinbar mit der von Walter Kaufmann so bezeichneten Nietzsche-Legende, derzufolge Nietzsche ein geistiger Vorläufer und Wegbereiter des Faschismus gewesen sein soll. Dieser Irrtum ist ideenhistorisch und philologisch hinreichend widerlegt worden, vor allem durch die exakten und materialreichen Studien von Kaufmann 1982, Ottmann 1987 und Riedel 1997. Vgl. Irion 1992, S. 138; Maurer 1981/1982, S. 69; Pütz 1974, S. 182 f. Vgl. zu Lukäcs' intellektueller Unredlichkeit gegenüber Nietzsche, vor allem in Die Zerstörung der Vernunft СLukäcs 1962, S. 270 ff.) Ottmann 1984. Adorno bemerkt treffend, in dem Buch Die Zerstörung der Vernunft manifestiere sich „die von Lukäcs' eigener." Lukäcs' Urteil über Nietzsche erfolge „im herablassenden Ton eines Wilhelminischen Provinzialschulrats" {Adorno 1970 ff., Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 252).

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faschistischer" Kreise gegenüber einer Nietzsche-Rezeption zu vermuten. Denn daß beide Autoren diesen zeit- und geistesgeschichtlichen Umständen große Bedeutung zugemessen haben, zeigt die vielsagende Passage am Schluß des JM/j'ette-Kapitels, in der es heißt, „die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben", habe „den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen."45 Die Wortwahl macht die Kritik an diesem Haß überdeutlich, der sich impulsiv „entzündet" hat und die Bereitschaft in sich schließt, die intellektuellen Antipoden zu verfolgen. Ebenso ist es angesichts des massiv fortschrittskritischen Anliegens der Dialektik der Aufklärung pure Ironie, wenn die sich als Jinks" und „antifaschistisch" verstehenden Kräfte als „die Progressiven" bezeichnet werden. Gleichzeitig macht diese Bitterkeit des Bedauerns über die im linken Lager verbreitete Nietzsche-Ignoranz deutlich, daß Horkheimer und Adorno keine politischen Alternativen sahen, was die Rücksichtnahme auf entsprechende Empfindlichkeiten nahelegte. Insofern bedeutet der Nachweis von Nietzsches Anteil an Adornos zivilisationspsychologischer These die Wiederentdeckung eines von jeher für Adorno zentralen Anknüpfungspunktes, dessen Bedeutung er offenbar mit Rücksicht auf den Zeitgeist der politischen Linken bis 1945 vorübergehend verborgen hat, bevor er sich später umso ausdrücklicher zu ihm bekannte. Die mittlerweile im einzelnen nachgewiesenen, weitreichenden Verbindungen zwischen Nietzsche und Freud46 sind bereits von Horkheimer und Adorno betont worden,47 und zwar mit einem so unverkennbar systematischen Interesse, daß es naheliegend war, „die eigentliche Aufgabe für die Rezeptionsgeschichte der Kritischen Theorie" darin zu sehen, das „Ineinander von Nietzsche und Freud herauszuarbeiten".48 Dies ist jedoch bislang ein Desiderat geblieben, weil Adornos psychologisches Interesse zumeist als ein im engen Sinne soz/a/psychologisches verstanden worden ist.49 Die für Adornos Theoriebildung charakteristische Verknüpfung von Denkmotiven Nietzsches und Freuds ist hiermit jedoch nicht zu erfassen. Obwohl Adorno beispielsweise der Massenpsychologie im Sinne der herkömmlichen Sozialpsychologie große Bedeutung beimißt und die Kulturindustrie-These ohne Nietzsches Einfluß kaum denkbar sein dürfte, besteht der Kern und die Pointe des Adornoschen Ineinanders von Nietzsche und Freud darin, daß Adorno ein Freudsches Theorem adaptiert, das dieser wiederum nicht ohne Nietzsches gedankliche Vorarbeit hätte entwickeln können, und zwar die zivilisationstheoretische Spekulation - in Freuds Worten: den „wissenschaftlichen Mythus"50 - aus Totem und Tabu, daß am Beginn des mensch-

45 46 47 48 49 50

Horkheimer /Adorno 1944, S. 142. Assoun 1980-, Figl 1996; Irion 1992; Kaiser-El-Safli 1987; Kaufmann 1978 und umfassend Gasser 1997. Horkheimer /Adorno 1944, S. 246 ff.; Adorno / Horkheimer / Gadamer 1950, S. 117 f. Lothar Baier in der Diskussion zu ΑΓ. Λ Fischer 1981/1982, S. 501. J. Benjamin 1977; J. Benjamin 1982; Bonß 1982. Freud 1974 ff, Bd. 9: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 126. Vgl. den mit der Frage Warum Krieg? befoßten Brief an Einstein (ebd., S. 283), in dem Freud die Frage stellt, ob nicht ,jede Naturwissenschaft auf eine solche Art von Mythologie" hinauslaufe, wie sie die psychoanalytischen Theorien zu sein schienen. Freud schließt mit der Frage „Geht es Ihnen heute in der Physik anders?", die einen an Einsteins spätere Bemerkung, je tiefer man in die Geheimnisse der Physik eindringe, desto eher glaube man an einen Ordner der Naturzusammenhänge denken läßt.

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liehen Zivilisationsprozesses ein überaus wirkungsmächtiger und für die gesamte Menschheit tiefenpsychologisch folgenreicher Mord stand: Nachdem in der Urhorde der eifersüchtige Brüderclan seinen Anführer, den Urvater ermordet hatte, legten sich die Täter das fortan tradierte und rituell befestigte, reziproke Gewaltverbot auf. Freud zufolge kommt es also zur Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt infolge deren - im wahrsten Sinne des Wortes - ursprünglicher Ausübung. Wie dargelegt werden wird, radikalisiert Adorno diese zivilisationspsychologische Annahme Freuds in Richtung einer kulturkritisch ambitionierten Zivilisationstheorie, indem er statt der Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt infolge des urgeschichtlichen Mordes am Urvater die Legitimierung gewaltsamer menschlicher Naturbeherrschung problematisiert, in der er den Umschlag in zwischenmenschliche Gewalt angelegt sieht. Während Freud dem vorgeschichtlichen Mord am Mitmenschen einhegende Wirkung auf Gewaltakte im Gesellschaftszustand zuschreibt, sieht Adorno in der ideologischen Selbstermächtigung des Menschen zum Mord an anderen Kreaturen eine Enthegung zwischenmenschlicher Gewaltpotentiale angelegt. Diese von Adorno vorgenommene Radikalisierung des Denkansatzes hin zu einer zivilisationstheoretischen Kulturkritik entsteht gleichwohl in logischer Abhängigkeit von den Überlegungen Nietzsches, Freuds und auch Webers. Von Entwicklungslinien zivilisationstheoretischer Kulturkritik zu sprechen, die von Nietzsche, Freud und Max Weber hin zu Adorno fuhren, wie es der Untertitel der vorliegenden Untersuchung behauptet, setzt voraus, daß sich auch in der Theorie Max Webers logische Abhängigkeiten im Oakesschen Sinne hinsichtlich der anderen Denkansätze ausmachen lassen, die - über partielle Bezugnahmen hinaus - eine theoriegeschichtliche Entwicklungslinie erkennen lassen. Was die Bedeutung Nietzsches für Webers Theoriebildung angeht, kann mittlerweile auf eine Vielzahl von Belegen verwiesen werden.51 Darüber hinausgehend ist nachfolgend zu zeigen, daß auch zwischen Freud und Max Weber bedeutsame Verbindungen hinsichtlich der zivilisationstheoretischen Denkrichtung bestehen, die den Fortgang der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik hin zu Adorno prägen: In Übereinstimmung mit Freuds Untersuchungen der Rolle von Tabuisierungen im Zivilisationsprozeß, auf deren Grundannahmen seine kultursoziologische Betrachtung ruht, ergänzt Weber nicht bloß den Aspekt der Rationalisierung, sondern reflektiert die Konsequenzen der Entzauberung der Welt oder - mit Nietzsche formuliert - des Todes Gottes. Auf diese Weise konnten Horkheimer und Adorno nicht nur in rationalitätstheoretischer Hinsicht an Weber anschließen, beispielsweise durch die Ausweitung der Kategorie Zweckrationalität zur instrumenteilen Vernunft.52 Vielmehr hatte Weber der Kritischen Theorie die Fruchtbarkeit eines zivilisationstheoretischen Ansatzes veranschaulicht. Dieser zeichnet sich nämlich einerseits durch einen weitreichenden Erklärungsanspruch aus, was der Suche Horkheimers und Adornos nach einer umfassenden Theorie entgegenkam, mit der nicht weniger geklärt werden sollte als die Frage, warum „die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in einer 51 52

Eden 1983; Fleischmann 1964; Germer 1994; Hennis 1987; Owen 1994; Scaff 1989; Schroeder 1987; Shapiro 1981; Stauth 1994; Stauth / Turner 1986; Strong 1992. Vgl. zu den Verbindungen zwischen Weber und der frühen Kritischen Theorie vor allem Bogner 1989; Hommerich 1986.

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1. Adornos zivilisationstheoretische

Kulturkritik

und ihre

Vorläufer

neuen Barbarei versinkt." 53 Andererseits stehen Webers Studien auch für die thematische Bandbreite zivilisationstheoretischer Überlegungen, was Adorno darin bestärken konnte, seine spekulative Zivilisationspsychologie soziologisch zu verlängern und damit partiell zu konkretisieren. Die in der vorliegenden Studie durchgeführte Rekonstruktion der Entwicklungslinien zivilisationstheoretischer Kulturkritik, die von Nietzsche, Freud und Max Weber zu Theodor W. Adorno fuhren, erfolgt als Nachweis der radikalisierenden Synthese, die Adorno zentralen Begriffen und Theoremen seiner Vorgänger angedeihen läßt. Im Zuge dieser Interpretation erweist sich, daß Adornos Gesellschafts- und Kapitalismuskritik wie auch seine Vernunftkritik gleichsam eine abgeleitete Funktion seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik bilden. Adornos Leitmotiv ist nicht die von Marx thematisierte Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, sondern die Dialektik der Naturbeherrschung im Sinne seiner These vom urgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und zwischenmenschlicher Barbarei. Dabei zeigt sich auch, daß sich Adorno gerade hinsichtlich dieser zivilisationstheoretischen Kulturkritik von Horkheimer unterscheidet, was Stefan Breuers Wort von den Differenzen im Paradigmakern der Kritischen Theorie bestätigt. 54 So treten im Verlauf der theoriegeschichtlichen

53 Horkheimer/Adorno 1944, S. 16. 54 Breuer 1985; Buck-Morss 1977, S. 68, 237 Anm. 39; Habermas 1987 b, Bd. 1, S. 489 Anm. 61; Honneth 1989, S. 46 ff.; Schmid Noerr 1985 ff., S. 426; Sohn-Rethel u.a. 1986; Vacatello 1972; Wiggershaus 1988, S. 11 f. Weitaus starker noch als diejenigen mit Horkheimer sind Adornos theoretische Differenzen mit Marcuse, hinter dessen Konzeption sich „unschwer die klappernde Mechanik des alten Produktivkräfte-Produktionsverhältnisse-Modells erkennen" läßt (Breuer 1977, S.186). Insbesondere Marcuses Hoffnung auf das emanzipatorische Potential einer sinnlichen Kultur, in der sich Mensch und Natur versöhnen können, läßt Raum für einen revolutionären Optimismus, der Adorno stets fremd blieb. Entgegen seinen eigenen freudomarxistischen Absichten unterscheidet sich Marcuse hiermit auch stark von Freud, der gerade die unversöhnbare, fragile, stets auf neue auszutarierende Konkurrenz von Triebstruktur und Kultur betont; vgl. vor allem Marcuse 1979, S. 139 ff. Daß die auch persönlichen Irritationen und Differenzen zwischen Adorno und Marcuse Ende der sechziger Jahre nicht aus heiterem Himmel kamen, enthüllt ein Brief an Horkheimer aus dem Jahre 1935, in dem Adorno sein Bedauern darüber ausdrückt, daß Horkheimer „philosophisch unmittelbar mit einem Mann" arbeitet, „den ich schließlich für einen durch Judentum verhinderten Faszisten halte" (Horkheimer 1985ff, Bd. 15, S. 347). Fraglich ist auch das Ausmaß von Adornos „Benjaminismus", derzufolge noch sein Spätwerk ein „Amalgam aus Lukäcs und Benjamin" darstellt (Jay 1982, S. 79, 71 f.; vgl. Buck-Morss 1977). Wie die zahlreichen - zumeist unausgewiesenen - Bezugnahmen auf ihn zeigen, war Benjamin zweifellos wichtig für Adorno, vgl. nur Adornos Brief an Horkheimer aus dem Jahr 1935, in dem er das Benjamin entlehnte „Motiv der Rettung des Hoffnungslosen als Zentralmotiv all meiner Versuche" bezeichnet (Horkheimer 1985, Bd. 15, S. 328; vgl. W. Benjamin 1972 ff, Bd. 1.1, S. 201). Offenbar war aber auch für Adornos Benjamin-Rezeption stets sein Anliegen zivilisationstheoretischer Kulturkritik entscheidend, vgl. einen Brief an Horkheimer aus dem Juni 1941, in dem Adorno postum Übereinstimmungen zwischen Benjamin und der Dialektik der Aufklärung konstruiert. Danach zeigen Benjamins geschichtsphilosophische Thesen ihn „näher bei unseren eigenen Intentionen" als alle anderen. „Das bezieht sich vor allem auf die Vorstellung der Geschichte als permanenter Katastrophe, die Kritik an Fortschritt und Naturbeherrschung und die Stellung zur Kultur." (Horkheimer 1985 ff, Bd. 17, S. 60). Daß Adorno hiermit Benjamins Anliegen verfremdet, zeigt insbesondere das Fragment Kapitalismus als Religion (W. Benjamin 1972 ff, Bd. VI, S. 100 ff.), in dem Benjamin große Distanz gegenüber Nietzsche und Freud durchblicken läßt, denen er kapitalistische Akzente unterstellt.

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Rekonstruktion Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich Begrifflichkeiten, Problembewußtsein, Fragestellungen und Theoremen auf, die schließlich eine andeutungsweise Bestimmung dessen ermöglichen, was zivilisationstheoretische Kulturkritik ausmacht. Im Anschluß an die Klärung der argumentativen Grundlagen der Kritischen Theorie Adornos wird es möglich, den Schritt von der theoriegeschichtlichen Rekonstruktion zur Bestimmung des systematischen Stellenwerts zivilisationstheoretischer Kulturkritik zu vollziehen. Dies bedeutet, jenseits der Frage, welche Plausibilität dieser Ansatz beanspruchen kann und welche Tragweite seinen Theoremen zukommt, im Sinne einer epistemologischen Analyse zu bestimmen, welche mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen typisch sind für das Auftreten und die Ausgestaltung zivilisationstheoretischer Kulturkritik: Weswegen entwickelte sich von Nietzsche bis hin zu Adorno das Bedürfiiis, einen kultur- und sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsel vornehmen zu müssen und die bestehenden philosophischen Deutungsmuster durch den Schritt in die spekulative Zivilisationstheorie ergänzen beziehungsweise ersetzen zu müssen? Weshalb erschien dieser Wechsel der Reflexionsebene zunehmend als Bedingung für die Erklärung grundlegender Probleme der sozialen Existenz des Menschen? Handelt es sich auch um eine Reaktion auf Kontingenzen und Paradoxien überkommener Theorieansätze? Mit diesen Überlegungen läßt sich auch dem Umstand entgegenarbeiten, daß Adornos radikalisierende Synthese von Denkmotiven Nietzsches, Freud und Webers natürlich deren jeweilige eigene Anliegen, Kontexte und Theoreme verdunkelt.55 Die Ansätze Nietzsches, Freuds und Webers müssen gegenüber ihrer selektiven Verwendung und Verfremdung 55

Andere Theoretiker, die sich vordergründig vergleichbaren Fragestellungen widmen, beziehen in Wirklichkeit konträre Positionen. So problematisiert Adorno gerade nicht, wie Günther Anders (Anders 1956), ein prometheisches Gefälle, das heißt eine Diskrepanz zwischen den weit entwickelten technischinstrumentellen Fähigkeiten der Menschen und ihrer demgegenüber unterentwickelten Fähigkeit, die Folgen ihres Handelns zu aberschauen. Auf einige Parallelen der Kritischen Theorie zu Norbert Elias (Elias 1997), möglicherweise gar bewußte Rezeptionen, hat Artur Bogner aufmerksam gemacht, (Bogner 1983; Bogner 1987; Bogner 1989). Das „paradigmatische Beispiel" von Elias' Ansatz, das Poe'sche Gleichnis vom Maelstrom (vgl. Bogner 1983, S. 545) erweist jedoch Elias' Vertrauen auf fortschreitende Naturbeherrschung (vgl. König 1993, S. 207 Anm. 4, S. 220; Krüger 1990, S. 318, 341). Auch hinsichtlich der Adorno zweifellos präsenten Ansätze von Mannheim und Plessner Uberwiegen die Unterschiede, vgl. Morrow 1994; Keul 1989; vgl. aber die von Greven 1994 und Honneth 1983 beobachteten, auf den ersten Blick überraschenden Nähen Adornos zu politisch konträren Denkern. Mit Gehlen (vgl. vor allem Gehlen 1983; Gehlen 1993; ausführlich Thies 1997) teilt Adorno zwar die Konzentration auf die ungebrochene Präsenz der menschlichen Urgeschichte (Schnädelbach 1986, S. 269; Honneth 1994, S. 82; Schnädelbach 1983, S. 263 ff.), nicht jedoch den Gedanken des ,Aufgehens in Institutionen" (Lepenies 1972, S. 252), und anders als bei Gehlen findet sich bei Adorno kein zum „transzendentalen Kulturalismus" gesteigerter „.Antinaturalismus"' (Lenk 1987). Gehlens Hinweis im Streitgespräch mit Adorno (Adorno / Gehlen 1974, S. 251), man sei sich „in tiefen Prämissen einig", ist folglich richtig, gilt aber auch nur für die Prämissen. Was Foucaults, von ihm selbst betonte Nähen zur Frankfurter Schule betrifft (Foucault 1994, S. 244 ff.; Foucault 1996, S. 79 ff; vgl. Dews 1989; Honneth 1989, S. 196 ff.; Marti 1988, S. 69 ff, 163 f.; McCarthy 1990; T. Schäfer 1995; Schnädelbach 1992, S. 300 ff), so ähnelt zwar Foucaults Thematisierung der Beherrschung innerer Natur durch disziplinarische Institutionen wie Kliniken, Schulen und Fabriken Adornos Überlegungen zur Verinnerlichung von Herrschaft (Taylor 1988, S. 199 f.). Anders als Adorno beginnt Foucault seine Kulturarchäologie jedoch nicht in der Urgeschichte und problematisiert auch weniger die äußere Naturbeherrschung.

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l. Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik und ihre Vorläufer

durch Adorno in ihrer Eigenständigkeit deutlich bleiben. Dies ist nicht zuletzt die Bedingung dafür, von der Exegese zur kritischen Beurteilung von Adornos Zivilisationstheorie zu gelangen. Insbesondere bei Max Weber spielt beispielsweise ein Motiv eine zentrale Rolle, das bei Adorno vergleichsweise in den Hintergrund tritt, und zwar der Entwurf einer kritischen Theorie der Moderne. Indem Adorno diese Perspektive zu einem bloßen Unterprogramm seiner Spekulation über urgeschichtliche Wurzeln aktueller Menschheitsprobleme macht, relativiert er naheliegenderweise auch seine Kritik an der Moderne und zumal an der modernen, aufklärerischen Rationalität.

2.

Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: Friedrich Nietzsche

Das Denken Friedrich Nietzsches ist von fundamentalem Endzeitbewußtsein bestimmt. Nietzsche versteht seine Zeit als finale Krise der abendländischen Kultur, die an der Auflösung verbindlicher Werte und damit aller Deutungs- und Handlungsmuster krankt kurz: am Nihilismus, denn Nihilismus bedeutet, „daß die obersten Werthe sich entwertherfDadurch wird die Orientierung des Menschen in der Welt unterminiert: „Der moderne Mensch entdeckt, daß seine Werte wertlos geworden sind, daß seine Ziele seinem Leben keinen Sinn verleihen und daß seine Vergnügungen ihn nicht glücklich machen. Ist es möglich, in dieser Welt eine neue Rechtfertigung für unsere Werte zu finden? Können wir ein neues Ziel finden, das dem menschlichen Leben Sinn verleiht?" Diese für die gesamte Menschheit existentiellen Fragen bilden Nietzsches Grundproblem.2 Nietzsches Diagnose ist jedoch nicht nur hinsichtlich Schärfe und Reichweite für die damalige Zeit neu und bis heute aktuell. Wichtig ist vor allem, weshalb und in welcher Weise er seine kultur-kritischen Befunde als „universalen Verfallsprozeß"3 präsentiert. Vordergründig richten sich Nietzsches Einlassungen gegen ein konkretes historisches Phänomen innerhalb der eigenen Nation, und zwar gegen das unter Bismarck neu gegründete deutsche Kaiserreich, insbesondere „gegen die nach 1871 im deutschen Bürgertum vorherrschende Überzeugung, der Bismarcksche Machtstaat sei zugleich ein Kulturstaat oder könne es doch zumindest werden."4 Hiergegen reklamiert Nietzsche einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen Politik und Kultur: „Die Cultur und der Staat - man betrüge sich hierüber nicht - sind Antagonisten: ,Cultur-Staat' ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch,-"5

Der machtpolitische Erfolg Bismarcks gilt Nietzsche gerade als Symptom für einen kulturellen Niedergang, und gemäß dieser inversen Korrelation zwischen Politik und Kultur könnte eine Auferstehung des Geistes" erst durch eine Erschütterung der 1871 erworbenen Machtposition erfolgen: 1 Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 350 (9 [35]). Nietzsche wird nach der historisch-kritischen Ausgabe in Originalorthographie zitiert. 2 Vgl. Kaufmann 1982, S. 142. 3 Heidbrink 1994, S. 125. 4 Münkler 1991, S. 34. Vgl. zu Nietzsches Einschätzung Bismarcks ebd., S. 36 f. u. Schieder 1963. 5 Nietzsche 1988, Bd. 6: Götzen-Dämmerung, S. 106.

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2. Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: F. Nietzsche , Auf dem politischen Krankenbette veijüngt ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten."6

Auf den ersten Blick scheint Nietzsches Niedergangs- und Endzeitbewußtsein also durch eine zeitgeschichtliche Beobachtung motiviert zu sein.7 Die politische Zeitkritik ist jedoch lediglich eine Ableitung seines viel weitergehenden Interesses an verallgemeinerbaren Deutungen des Kulturprozesses.8 Indem Nietzsche Engagement und Erfolg in der Politik als Indikatoren kulturellen Verfalls deutet und die prinzipielle Unvereinbarkeit von Kultur und Machtpolitik behauptet, demontiert er nicht nur seinerseits ein altes und verbreitetes abendländisches Deutungsmuster. Jenseits vergänglicher politischer Entwicklungen - gerade dem Bismarck-Reich prophezeit Nietzsche eine kurze Halbwertzeit9 - interessieren ihn die Phänomene sub specie aeternitatis. Er stellt fest, das Gefühl der Macht sei des Menschen „stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur."10 Dieser Satz ist nur scheinbar ein Widerspruch zu der strikten Unterscheidung zwischen Kultur und Machtpolitik. Vielmehr unterscheidet Nietzsche hiermit von dem herkömmlichen politischen Machtbegriff einen wesentlich weiter reichenden, zum kulturgeschichtlichen Schlüsselbegriff erhobenen Machtbegriff: Wille zur Macht ist das Grundelement jedweden menschlichen Denkens und Handelns, „Leben selbst ist Wille zur Macht".11 Dieser Kernsatz Nietzsches enthält die Gründe, aufgrund derer er sich zu einer Ausweitung der bekannten zeitdiagnostischen Topoi genötigt fühlt. Nietzsches Grundproblem, die Unglaubwürdigkeit traditioneller Deutungs- und Handlungsmuster des Menschen infolge der Auflösung verbindlicher Werte, ist zwar ein Phänomen der Moderne, nicht aber ein Problem der Moderne, denn die Wurzeln dieses Zustands reichen bis in die Anfänge des Zivilisationsprozesses zurück und bestimmen die gesamte Menschheitsgeschichte. Die Moral ist, Nietzsche zufolge, an ihrer Unehrlichkeit zugrundegegangen, den eigenen Willen zur Macht zu leugnen und die Aufhebung des Machtstrebens zugunsten vermeintlicher Sittlichkeit zu proklamieren; denn alle Moraltheorien streben unverhohlen ihre philosophische Durchsetzung und praktische Umsetzung an und nähren so Nietzsches Verdacht, daß jegliche religiöse und philosophische Ethik nur eine alternative Strategie weltlichen Machtkampfes ist - ein Machtmittel der Machtlosen: Indem Stärke als moralisch böse und Schwäche als moralisch gut definiert wird, erzielen die Schwachen einen subversiven Machtzuwachs, sobald es ihnen gelingt, den moralischen Diskurs als relevantes Handlungskriterium zu etablieren. Die Diskreditierung des moralischen Weltverständnisses hat jedoch noch einen anderen Keim, der Nietzsche darin bestätigt, seinem kulturkritischen Anliegen eine zivilisations6 7 8

9 10 11

Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 300. Vgl. hierzu Heiter 1986. Vgl. zur damaligen „Kulturkrise" Lichtblau 1996, S. 13 ff. Hierin ist Nietzsche natürlich vor allem von Schopenhauer beeinflußt, den er gegen die Zeit las (Münkler 1986, S. 305). Vgl. zu Nietzsches politischem Denken, das insbesondere in demokratietheoretischer Hinsicht von seiner Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution bestimmt ist, vor allem Marti 1993 a. Nietzsche 1988, Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 383 (7[312]). Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 35. Nietzsche 1988, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 27. Vgl. hierzu Gerhardt 1996.

2. Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: F. Nietzsche

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theoretische Basis zu verschaffen. Nietzsche diagnostiziert quasi eine schleichende Infektion der Moral durch historisches Bewußtsein. Ihr Verfäll begann unweigerlich, als sie historisch wurde, als es möglich und notwendig wurde, eine Geschichte des moralischen Denkens zu schreiben, denn dadurch wurden die verbindlichen Handlungsnormen plural. Fortan ist jeder Moralentwurf, der notwendigerweise unbedingte Gültigkeit für sich beansprucht, mit der relativistisch wirksamen Tatsache konfrontiert, daß es eine Vielzahl solcher Moralentwürfe gibt. Historisches Bewußtsein wirkt destruktiv nicht nur auf moralische Universalitätsansprüche, sondern auf jeglichen Versuch, freiwillige Normbefolgung als obligatorisch zu postulieren. Demnach ist die historische Betrachtung keine bloße Anschauungskategorie, kein unschuldiger Modus wissenschaftlicher Erkenntnis, mit dem kulturelle Phänomene möglichst objektiv erfaßt und beschrieben werden, sondern sie ist selber ein ethisch folgenreicher, ihrerseits moralisch wirkender Teil der kulturellen Realität. Daraus folgert Nietzsche die Notwendigkeit, eine neue Form der Geschichtsschreibung zu betreiben: Historischen Sinn zu entwickeln bedeutet für ihn, tiefer anzusetzen und mit einer genealogischen Untersuchung neben der Geschichte der Phänomene auch - in Foucaults Worten - die Geschichte der Denksysteme, die zur Erfassung dieser Phänomene dienen, zu durchleuchten. Nietzsches Genealogie enthält insofern eine reflexive Metaebene: Indem sie den historischen Sinn zur Grundbedingung kulturellen Sinnverstehens erhebt, ist eine genealogische Analyse „eine Abstammungslehre kultureller Symbolik", die „Schlüsselterme historischer Erfahrung" exponiert: Gott, Freiheit, Wahrheit, oder - im Bereich der Moral - gut und böse, Schuld und Gewissen.12 Mit der Ermittlung solcher Grundbegriffe der Historie und des Historischen zielt Nietzsche mithin auf eine Geschichte der Geschichte ab.13 So wie sich die Philosophie, der Wille zur Wahrheit, nur als geistigster Wille zur Macht herausstellt,14 erweisen sich auch die historischen Fakten als bloße Argumente. Die „geschichtliche Wahrheit" funktioniert nicht nur als ideologisches Instrument, sie ist a priori nichts anderes als eine Machttechnik. Mit dieser Verlagerung der Beobachtungsperspektive auf die tiefstmögliche Ebene werden die Paradigmen der herkömmlichen Kulturgeschichte und Kulturtheorie für Nietzsche unbrauchbar. Sein genealogisches Interesse, das nicht mehr auf Tatsachen, sondern auf das Werden gerichtet ist, bedarf eines neuen Ansatzes, der die überkommenen Kategorien hinter sich läßt: „Alle Fragen des Ursprungs, der Herkunft und der Entstehung werden nun zum Thema einer über den Gegensatz von Natur und Kultur hinausgreifenden allgemeinen Naturgeschichte".15 Mit dieser allgemeinen Naturgeschichte überschreitet Nietzsche den Rahmen historischer Begriffsbildung und dringt in den nur mehr spekulativ erfaßbaren vorgeschichtlichen Bereich ein: ,Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen [...]. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnisvermögen geworden ist [...]. Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert

12 13 14 15

Lypp 1980, S. 204. Vgl. hierzu Schnädelbach 1974, S. 76 ff. Nietzsche 1988, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 22. Vgl. ebd., Bd. 3: Die fröhliche Wissenschaft, S. 349, 471 f. Freier 1984, S. 328.

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2. Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: F. Nietzsche haben. [...] Aber alles ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."16

Wenn nicht nur der Geschichtsprozeß, sondern auch der historische Diskurs ein Ausdruck des ewigen, universalen und omnipräsenten Willens zur Macht ist und somit nicht als Beobachtungsebene für das Wirken dieses Willens zur Macht taugt, muß Nietzsche zwangsläufig in eine urgeschichtliche Perspektive wechseln, um eine Beschreibung des vom Willen zur Macht durchzogenenen Geschichtsprozesses abgeben zu können. Und die Determinanten dieses Prozesses können nirgendwo anders liegen als in der Vorzeit, welche „übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist".17 Als nicht bloß anthropogenes, sondern für das Leben Uberhaupt charakteristisches Element muß der Wille zur Macht eine urgeschichtliche Wurzel haben, aus der seine historische Wirkung erwächst, und da der Wille zur Macht das Wesentliche der menschlichen Gattungsgeschichte ausmacht, „ist alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen."18 Es ist also nicht unmittelbar Nietzsches kulturkritisches Unbehagen, das ihn dazu veranlaßt, seine Befunde auf einem zivilisationstheoretischen Hintergrund zu spiegeln. Vielmehr ergibt sich Nietzsches zivilisationstheoretische Kulturkritik als methodische Notwendigkeit aus dem geschichts- und erkenntnistheoretischen Perspektivenwechsel, den die Entdeckung des Willens zur Macht bewirkt. Nietzsches kulturkritische Beobachtungen führen ihn zur Diskreditierung zentraler kulturtheoretischer Analyseinstrumente, was ihn zum Interesse an der Urgeschichte und damit zum Wechsel auf eine zivilisationstheoretische Beobachtungsebene motiviert. Die Fortdauer der Urgeschichte indessen vermag Nietzsche wiederum nur kulturkritisch einzuordnen, so daß sich jener Kreis schließt, der als zivilisationstheoretische Kulturkritik begrifflich zu erfassen ist. Das zentrale Paradigma bilden dabei Nietzsches Überlegungen zum Verhältnis zwischen Mythos und Aufklärung (2.1.), die er in einen zivilisationstheoretischen Zusammenhang mit seinen religionspsychologischen und -soziologischen Theoremen bringt. Demzufolge verursacht der abendländische Rationalisierungsprozeß Nietzsches Grundproblem, den Tod Gottes im Sinne der Entwertung der höchsten Werte und Ideale, die sich als Fiktionen erweisen (2.2.). Solange die Menschheit unter dieser Einsicht leidet und sich gestattet, nach der Maxime Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt19 zu handeln, weil sie noch nicht zu Übermenschen herangereift ist, droht die Aufklärung dialektisch umzuschlagen in „die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriegeführen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr Durcheinander-Rennen, von einander Ablernen, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in Noth, ihr Lustgeheul im Siege". Aufklärung regrediert zur „Fortsetzung der Thierheit"20 und „dient der kommenden Barbarei"21 (2.3.). Diese nicht erst mit der Moderne einsetzende, sondern dem Rationalisierungsprozeß von jeher inhärente, ein grundlegendes Merkmal des Zivilisationsprozesses bildende Dialektik der Aufklärung erläutert Nietzsche am Beispiel der doppelten 16 17 18 19 20 21

Nietzsche 1988, Nietzsche 1988, Nietzsche 1988, Nietzsche 1988, Nietzsche 1988, Ebd., S. 366.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 24 f. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 307. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 24 f. 4: Also sprach Zarathustra, S. 340; Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 399. 1: Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 378.

2. Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: F. Nietzsche

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Naturbeherrschung. So ermöglicht die für moralische Pflichtregeln konstitutive Erfindung des schlechten Gewissens die Beherrschung der inneren Natur des Menschen, welche die Voraussetzung bildet für die Beherrschung der äußeren Natur. Diese fur seine einzigartige Machtstellung in der Welt verantwortliche, zivilisatorische Zähmung durch „Verinnerlichung des Menschen"22 führt jedoch zur Dialektik der Naturbeherrschung·. Der „zur krankhaften Bestie"23 gewordene Mensch erfährt jene desaströse Auflösung seiner inneren Natur, die er der äußeren Natur hat widerfahren lassen (2.4.). Während der Mythos noch um diese Gefahr wußte,24 führt der unbeirrt fortschreitende, sich gegen jede Kritik immunisierende Rationalisierungsprozeß zu ökologischer Zerstörung ebenso wie zur Auflösung der für das menschliche Zusammenleben notwendigen Wertordnungen. Obwohl mit teilweise unterschiedlichen Begriffsverwendungen, insbesondere von Cultur, Civilisation und Barbarei, operierend, wird sich zeigen, daß Nietzsches zivilisationstheoretische Kulturkritik bereits wesentliche Theoreme bereitstellt, derer Adorno später im Oakesschen Sinne logischer Abhängigkeit bedarf, um seine These vom ursprünglichen zivilisationspsychologischen Zusammenhang zwischen menschlicher Naturbeherrschung und zwischenmenschlicher Barbarei zu entfeiten. Vor allem läßt sich erkennen, daß die Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik über Freud und Max Weber hin zu Adorno ihren Ausgangspunkt bei Nietzsche nimmt, der mit der Betonung der bestialischen Menschennatur und ihrer zivilisatorischen Krankheitsformen statt des herkömmlichen philosophischen Diskurses die Psychologie als „Weg zu den Grundproblemen"25 inthronisiert und damit Sigmund Freuds Psychoanalyse durch die Erzeugung der - in Foucaultscher Terminologie gesprochen - entsprechenden diskursiven Formation den Weg ebnet.

2.1. Mythos und Aufklärung Nietzsches Interesse am Mythos, das bereits seine frühen, in der Geburt der Tragödie gipfelnden philologischen und kulturgeschichtlichen Studien motiviert, resultiert aus seiner zivilisationstheoretischen Perspektive auf die Probleme der Moderne. Formal betrachtet, sind Mythen tradierte „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit", die einen hohen affektiven Wiedererkennungseffekt für die Kulturgemeinschaft haben. Dadurch sind sie besonders geeignet zur Beförderung von „Weltvertrauen" im umfassenden Sinne.26 Diese Wirkung als Element, ja als Garant der Weltorientierung wie auch der Sozialintegration erzielt der Mythos, indem er keine kausale Erklärung von Zuständen, Ereignissen und Handlungen bietet, sondern erzählt, welche Entsprechungen deutungsbedürftige Realitätsprobleme in mythischen Geschichten haben. Diese Realitätsprobleme erscheinen 22 23 24 25 26

Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 321 ff. Nietzsche 1988, Bd. 6: Götzen-Dämmerung, S. 99. Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 67. Nietzsche 1988, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 38 f. Blumenberg 1979, S. 40.

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gewissermaßen als Wiederholungsfälle eines elementaren und paradigmatischen Kulturgeschehens, das im Mythos tradiert wird. Dies garantiert die Sinnhaftigkeit der jeweiligen deutungsbedürftigen Umstände, denn wenn diese bei aller Verschiedenheit hinsichtlich ihrer grundsätzlichen kulturellen Bedeutung Entsprechungen zu jenen Erzählungen aufweisen, die den Sinnhorizont mindestens der Kulturgemeinschaft, meistens gar des gesamten Weltgeschehens beschreiben, dann ist das Problem allumfassender Sinnlosigkeit, des Nihilismus,27 undenkbar. Auf diese Weise wirkt der Mythos als erzählerische Deutung natürlichen und übernatürlichen Weltgeschehens kulturell sinn- und einheitsstiftend, auch wenn er das erst in der Moderne aufgetretene Sinnproblem gar nicht als solches im Blick hat: „Erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab."28 Wenn also, Nietzsche zufolge, die Kultur ihren „festen und heiligen Ursitz" im Mythos hat,29 erschöpft sich seine Bedeutung nicht rein funktional in sozialintegrativer Sinnstiftung, sondern der Mythos erzählt, nach den Worten Hans Blumenbergs, „die Geschichte der Geschichte a priori".30 In Nietzsches Lesart verweist dieser Aspekt auf die zivilisationstheoretische Dimension des Mythos. In dem die Mythologie ermöglichenden Willen zur Metaerzählung, um die postmoderne Terminologie Lyotards zu bemühen, erblickt Nietzsche nämlich wiederum nichts anderes als den jeden Erkenntnistrieb bestimmenden, sublimen Willen zur Macht?1 der insbesondere in der vorgeschichtlichen sozialen Urszene als Akt der Naturbeherrschung zur Geltung kam: „Durch den menschlichen Fabuliertrieb werden die Mythen wie ein feingewobenes, traumartiges Netz gesponnen, das, über die Dinge gespannt, zwar nicht deren restlose Unterwerfung garantiert, aber ein Mittel an die Hand gibt, mit der Natur und den darin waltenden Mächten zu verkehren."32 Auf eine einfache Gedankenkette gebracht, versteht Nietzsche demnach den Mythos als Mittel der Weltdeutung und die Weltdeutung als einen Akt der Naturbeherrschung, so daß der Mythos ein Element der menschlichen Weltbearbeitung ist. Und genau in diesem zentralen Merkmal gleicht der Mythos seinem vermeintlich schärfsten geistesgeschichtlichen Antipoden, der Aufklärung. In Gestalt ihres Protagonisten Kant wirft Nietzsche ihr vor, den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit als reinen Machtzuwachs initiiert zu haben, gerade in ihren vermeintlich fortschrittlichen moralischen Postulaten. Kant hat laut Nietzsche „seinen Umweg um die Moral nur desshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen".33

27 28 29 30 31

32 33

Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 125 f. (2 [127]). Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 145. Ebd., S. 146. Blumenberg 1979, S. 631. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 7: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, S. 473 (19 [175]): „Der Glaube an die Wahrheit ist dem Menschen nöthig. Die Wahrheit erscheint als sociales Bedürfiiiß: durch eine Metastase wird sie nachher auf alles angewandt, wo sie nicht nöthig ist. Alle Tugenden entstehn aus Nothdurften. Mit der Societät beginnt das Bedürfiiiß nach Wahrhaftigkeit. [... ] Der Trieb zur Erkenntniß hat eine moralische Quelle" - für Nietzsche heißt das: einen МгсЛ/grund. Lange 1983, S. 117. Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 188.

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Kants „moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend" zu entlarven34 und damit die Werte und Anschauungen der Aufklärung als sublimen Willen zur Macht zu erkennen, bedeutet einen weitreichenden Perspektivenwechsel. Anders als die Selbstdeutung der Aufklärung, die den Schritt von mythischen Weltbildern zur modernen, aufgeklärten und aufklärerischen Rationalität als Fortschrittsgeschichte darstellt, entdeckt Nietzsche mit dem Willen zur Macht nur eine einzige geschichtsprägende Kraft, der sowohl der Mythos wie auch die Aufklärung gleichermaßen verhaftet sind. Dies ist unvereinbar mit dem ethischen Anspruch und dem Geschichtsbild der Aufklärung - kurz: mit ihrem progressistisch-humanistischen Selbstverständnis. Wenn laut Nietzsche der Mythos ebenso wie die Aufklärung ein Element der Weltbeherrschung ist, dann sind bereits im Mythos aufklärerische Elemente vorhanden, und umgekehrt kann die Aufklärung nicht sicherstellen, den Mythos ein für allemal überwunden zu haben. Die naturbeherrschende Eigenschaft von Mythos und Aufklärung darf dabei nicht als Funktion im instrumenteilen Sinne verstanden werden. Sie besteht vielmehr in ihrer kognitiven Leistung, ,ßer Natur ein Gesetz aufzuerlegen" und gerade dies begründet die Dialektik von Mythos und Aufklärung. Wie nämlich einerseits der Mythos Aufklärung gegenüber animistischen Weltbildern betreibt, so erlebt in der Moderne die fortgeschrittene Aufklärung eine Verstetigung und Verselbständigung des Wissenszuwachses und damit der Naturbeherrschung. Diese erschwert die rationale Auswahl ihrer eigenen Zielvorgaben und schafft ein Bedürfiiis nach intellektueller Kontrolle, nach Sinndeutung ihrer selbst, so daß die sinnstiftende, ganzheitliche Weltdeutung des Mythos sie als stetige Verlockung begleitet. So wird mit dem modernen Versuch, Fortschritt als Wert mit eigenem Sinngehalt zu begreifen - mit anderen Worten: Technik und Wissenschaft als Ideologie (Habermas) zu verwenden - dem mythischen Sinnbedürfiiis indirekt und unfreiwillig nachgegeben. Die Wirkungsweise des Mythos läßt sich auf diese Weise jedoch nicht substituieren. Ein Zurückschlagen der Aufklärung in Mythologie vermag keine Verwandtschaft mit dem mythischen Denken herzustellen,36 denn das im Mythos enthaltene aufklärerische Element unterscheidet sich von der neuzeitlichen Aufklärung gerade hinsichtlich der naturbeherrschenden Komponente. Im Mythos ist die Naturbeherrschung noch begrenzt, gleichsam mimetisch eingehegt, denn laut Nietzsche weiß das mythische Denken um seine innere Beziehung zu seinen Gegenständen, die ihm durch die Akte der mythischen Erzählung hindurch zugehören. Der mimetische Rationalitätstypus des Mythos ermöglicht zwar aufklärerische Akte und fortschreitende Naturbeherrschung, jedoch mit dem ständigen Bewußtsein der Verwiesenheit des rational Handelnden auf seine Objekte. Die intuitive Einsicht des Mythos in die desaströsen Wirkungen einer verselbständigten Zweckrationalität betrifft insbesondere die menschliche Naturbeherrschung. Gleichzeitig thematisiert Nietzsche die Niederlage des

34 35 36

Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 264 (7[4]). Vgl. auch Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 12 ff; Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 24 ff, 107. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 113. Daher ist auch die Behauptung falsch, Nietzsche habe, in drei unterschiedlichen Phasen seines Lebenswerkes, zunächst eine Rückkehr zu antiken Mythen propagiert, sodann für die Aufklärung Partei ergriffen, und schließlich die Konzeption neuer, aufklärerischer Mythen betrieben. Vielmehr hat Nietzsche stets die dialektische Verbindung zwischen Mythos und Aufldärung erkannt, auch in seinem antikisierenden Frühwerk. Vgl. Salaquarda 1979, S. 177 f.; Lange 1983, S. 119.

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mythisch-mimetischen Denkens gegen die instrumenteile Vernunft, die eine zweckrationale Kontrolle über die Natur aufbaut: „Wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche? [...] Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe. ,Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur': solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu".37

Nietzsche weiteres Erkenntnisinteresse gilt folgerichtig der Frage, auf welche Weise und um welchen Preis die Aufklärung den Mythos beerbt. Die Niederlage des Mythos gegen das rationalistische Weltbild hängt unmittelbar mit dem menschlichen Naturverhältnis zusammen. Sobald der Mensch seine innere wie auch die äußere Natur nicht mehr als etwas weitgehend Unerklärliches und Unbeherrschbares erfährt, sondern als durch rationale Erkenntnis beherrschbare Natur, tritt Kontrolle an die Stelle von Mimesis und damit zweckrationale Erklärung an die Stelle einer ganzheitlichen mythischen Erzählung.38 An dieser sukzessiven Ersetzung mythischer durch rationalistische Weltdeutungen im Prozeß fortschreitender Naturbeherrschung beobachtet Nietzsche eine Art Rückkoppelungseffekt zwischen Weltbild und Naturbeherrschung: Einerseits ist die Rationalisierung die Voraussetzung und das Medium der Fortschritte menschlicher Naturbeherrschung; andererseits wirken diese Fortschritte auf das Weltbild zurück, indem sie, mit der Autorität des Erfolges, fortgesetzte Rationalisierung auf allen Gebieten η ahelegen, wodurch das mythische Denken immer weiter zurückgedrängt wird. Demnach bedeutet das rationalistische Weltbild keinen qualitativen Fortschritt, sondern eine einseitige Steigerung der schon vom Mythos betriebenen, dort aber noch abgefederten Naturbeherrschung. Es liegt nahe anzunehmen, daß fur eine nach diesem Muster verlaufende Rationalisierung Kosten anfallen, sowohl unmittelbar infolge der Naturbeherrschung als auch im Bereich der Sozialintegration. Eingangs ist erwähnt worden, in welcher Hinsicht und in welchem Maße Nietzsche eine Angewiesenheit der Kultur auf die vom Mythos bereitgestellten soziomoralischen Ressourcen annimmt. Dementsprechend sieht er umgekehrt ohne Mythos ,jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig" gehen: „erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab." Und indem Nietzsche den Verfallsprozeß nach dem Verlust des Mythos bereits durch die Wirkung des ersten theoretischen Menschen, Sokrates, in Gang gesetzt sieht, beschreibt er ihn als zivilisationstheoretisch zwangsläufig. Dadurch kommt er gar nicht umhin, die vermeintlich seit den Anfängen abendländischer Zivilisation ablaufende Autokatalyse auch an seiner eigenen, orientierungslosen und einem destruktiv wirkenden historischen Bewußtsein verhaftenden Gegenwart kulturkritisch zu diagnostizieren: „Man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist - das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend 37 38

Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 67. Vgl. Lange 1983, S. 112 f.

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nach Wurzeln [...]. Worauf weist das ungeheure historische Bedürfhiss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist, als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung-Haschen des Hungernden - und wer möchte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in .Historie und Kritik' zu verwandeln pflegt?"39

Diese Zwangsläufigkeit, mit welcher der Rationalisierungsprozeß alle vor und außer ihm liegenden Kulturphänomene heimsucht und destruiert, sieht Nietzsche auch bei jenem Problem am Werk, das sein kulturkritisches Hauptanliegen bildet: Die Entzauberung der Religion und der Tod Gottes im Sinne der Entwertung der höchsten Werte und Ideale.

2.2. Die Entzauberung der Religion Zwischen der Niederlage des Mythos gegen das rationalistische Weltbild und der Entzauberung der Religion sieht Nietzsche einen tiefgründigen Zusammenhang.40 „Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ergebnissen systematisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt."41

Vordergründig scheint sich Nietzsche hier eine terminologische Ungenauigkeit dergestalt zu erlauben, daß er die Begriffe Mythos und Religion undifferenziert in eins setzt, aber mindestens zwei unterschiedliche Begriffe von Religion benutzt, was scheinbar zu dem Widerspruch fuhrt, einerseits das Absterben der Religionen infolge abnehmenden Gefühls für den Mythos zu diagnostizieren und andererseits jene Religion, die einen Anspruch auf historische Grundlagen hat, zum Sieger dieses Entmythologisierungsprozesses zu erklären. Genau betrachtet und in den gedanklichen Kontext eingeordnet, enthält diese Passage jedoch keinen Selbstwiderspruch, sondern eine Beschreibung der Dialektik des jahrtausendelangen Rationalisierungsprozesses. Indem Nietzsche nämlich die Religion als Nachfolgeerscheinung des Mythos präsentiert, die sich von ihm durch ihren Anspruch auf historische Grundlagen unterscheidet, ihn dadurch überwindet und dem Untergang weiht, gleichzeitig aber Religion und Mythos identifiziert, wenn er im Absterben des Gefühls für den Mythos die tiefe Ursache für das Absterben auch der Religion sieht, macht Nietzsche jenes gegenüber dem Mythos rationalere, auf historische Grundlagen bedachte Element der 39 40

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Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 145 f. Nietzsche benutzt den später durch Max Weber prominent gewordenen Terminus Entzauberung noch nicht explizit zur Kennzeichnung des Rationalisierungsprozesses, spielt jedoch des öfteren mit dem Begriff und seinem Gegenstück Verzauberung, vgl. Nietzsche 1988, Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870-1873, S. 599; Bd. 4: Also sprach Zarathustra, S. 318; Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 178. Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 74.

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Religion dafür verantwortlich, daß die Religion schließlich ebenfalls dem jahrtausendelangen Entzauberungsprozeß anheim fällt und der fortschreitenden Aufklärung unterliegt. Nietzsche zufolge geht die Religion mithin an ihren eigenen geistesgeschichtlichen Entwicklungs- und Erfolgsbedingungen, an den Gründen ihres eigenen Triumphes über den Mythos, zugrunde, so daß man die Entzauberung der Religion gewissermaßen als Spätfolge der Niederlage des Mythos gegen das durch Sokrates, den ersten theoretischen Menschen, verkörperte, rationalistische Weltbild bezeichnen kann. Das Interesse Nietzsches richtet sich folglich nicht auf kulturspezifische Ausprägungsformen des Rationalisierungsprozesses, sondern mit der inneren Dialektik der Rationalisierung auf einen grundlegenden, zivilisationstheoretischen Aspekt. Dieser bekommt einen kulturkritischen Akzent, sobald Nietzsche sich der Frage zuwendet, welche soziologisch-kulturpsychologischen Wirkungen die Säkularisierung zeitigt. Der Entzauberung religiösen Welt- und Wertverständnisses stellt er in Rechnung, den Tod Gottes verschuldet zu haben, womit die Entzauberung eines höchsten Ideals und die Entwertung höchster Werte gemeint ist.42 Die berühmte Parabel Der tolle Mensch verwendet nicht nur höchste literarische Energie auf die Darstellung dieses Theorems, sondern verweist auch auf eine Reihe weiterer Motive aus Nietzsches Gesamtwerk, die bedeutsam sind hinsichtlich seiner Grundlegung zivilisationstheoretischer Kulturkritik. „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche Gott! Ich suche Gott!' - Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. [...] Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ,Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? audi Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!' -" 4 3

Die in der Parabel scheinbar zentrale Frage Nietzsches, wie wir es gemacht haben, das Meer auszutrinken und den ganzen Horizont wegzuwischen, ist in Wirklichkeit an dieser 42

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Die Metapher vom Tod Gottes resultiert also nicht aus religionskritischen beziehungsweise atheistischen Motiven, sondern dient Nietzsche dazu, die Tragweite jener moralphilosophisch bedeutsamen und kulturpsychologisch folgenreichen Entwicklung zu beschreiben, bei der mit dem Glauben an ein omnipotentes Wesen auch die Bereitschaft der Menschen verloren ging, den vermeintlich göttlich befohlenen moralischen Pflichten unbedingt zu gehorchen, mindestens aus Angst vor Bestrafung post mortem. Vgl. Kaufmann 1982, S. 112 ff. Nietzsche 1988, Bd. 3: Die fröhliche Wissenschaft, S. 480 ff.

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Stelle nur mehr eine rhetorische, die ihre Antwort bereits in der vorher zitierten Passage aus der Geburt der Tragödie erhalten hat: Das Messer, unter dem Gott verblutete, ist die vor nichts Halt machende, keine Autorität außer der vermeintlichen Wahrheit anerkennende und - um im Bild zu bleiben - intellektuell messerscharfe Aufklärung. Mit dem Anspruch auf historische Grundlagen fällt die Religion unter die strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus, dessen Wille zur Wahrheit die fraglose Gültigkeit der mit den mythischen Erzählungen transportierten Normen untergräbt. Mit dem Hinweis, wir alle seien die Mörder Gottes, läßt Nietzsche zugleich keinen Zweifel daran, daß es sich nicht um eine kontingente, kulturspezifische und eventuell revidierbare Entwicklung handelt, sondern um eine universelle, menschheitsgeschichtliche „Leistung", die aus dem zivilisatorischen Grundbedürfiiis nach immer weiter fortschreitender und immer weiter reichender Rationalisierung erwächst: „Die Krise der modernen Welt ist nur eine Episode im Verlauf eines endlosen Prozesses."44 Indem mit dem Tod Gottes nicht nur die transzendente Sinngebung abhanden gekommen ist, sondern gleichzeitig die vermutlich jahrtausendelang wirksame Begründung moralischer Normen qua göttlicher Autorität diskreditiert ist, hat die Entzauberung weitreichende Konsequenzen für das soziale Zusammenleben der Menschen. Die sinnhafte Orientierung in der Welt ist verloren gegangen, der moderne Mensch hat das Gefühl, fortwährend zu stürzen, wie durch ein unendliches Nichts zu irren. Die soziale Desintegration schreitet fort, das gesellschaftlich organisierte menschliche Zusammenleben scheint kälter geworden zu sein. Dies liegt unmittelbar in der Diskreditierung eines ganzheitlichen Weltbildes und seiner über rationale Kritik erhabenen, absolut verbindlichen Moralnormen begründet, denn wenn nichts wahr ist, ist alles erlaubt5: „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gaste? - [...] Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralfischen] Weltauslegung die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus .Alles hat keinen Sinn'"·*

Die einzige Chance, der fortschreitenden sozialen Desintegration Einhalt zu gebieten, bestünde, Nietzsche zufolge, darin, sich der Tötung Gottes nachträglich würdig zu erweisen, indem die Menschen selber zu Göttern, zu Übermenschen werden. Solange jedoch dieser Entwicklungsschritt, der als einziger die Aussicht bietet, der Gefahren einer dialektisch 44

Girard 1987, S. 270. Girard mißversteht die Parabel vom Tod Gottes jedoch als „.Theorie des religiösen Opfers'" (ebd., S. 269), womit die kulturkritische Dimension ausgeblendet wird (vgl. ebd., S. 258 ff., 264 f.). Damit bleibt er eine Erklärung schuldig, wie Nietzsche auf die Idee gekommen sein soll, den Mechanismus des rituellen religiösen Opfers als Gottesdienst umstandslos zu übertragen auf ein vermeintliches religiöses Opfer als Gottesmord. In Wirklichkeit dient Nietzsche der Hinweis auf die nach dem Tod Gottes erforderlichen Sühnefeiern zur Betonung des Ausmaßes der Tat; nicht umsonst spricht er von der Notwendigkeit der Erfindimg neuer heiliger Spiele. So erkennt Girard Nietzsches zivilisationstheoretischen Denkansatz und betont mit seinem Hinweis auf Totem und Tabu treffend die Verwandtschaft zentraler zivilisationstheoretischer Denkmotive Nietzsches und Freuds, stellt diese richtige Einsicht jedoch in einen falschen Zusammenhang. Ebenso irrig interpretiert Heim 1993, S. 355 f., Nietzsches Gott ist fof-Theorem freudianisch als Urvatermord(-Phantasie). 45 Nietzsche 1988, Bd. 4: Also sprach Zarathustra, S. 340; Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 399. 46 Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 125 f (2 [127]). Vgl. Gasser 1997, S. 465 ff., der das Gott ist toi-Theorem in Verbindung mit der Nihilismus-Problematik bringt.

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umschlagenden Rationalisierung Herr zu werden, noch nicht vollzogen ist, ja noch nicht einmal angestrebt wird, weil die Aufklärung ideologisch verklärt und an einer geistesgeschichtlich überwundenen religiösen Moralbegründung festgehalten wird, droht der Rückfall der Zivilisation in die Barbarei.

2.3. Nietzsches Dialektik der Aufklärung Die Entzauberung der Religion durch das rationalistische Weltbild und ihre desaströsen Wirkungen auf die soziomoralischen Fundamente menschlicher Gesellschaft haben Nietzsche auf den Gedanken gebracht, daß die Aufklärung ihre eigenen Grundlagen, den Willen zur Vernunft, die Bereitschaft zu rationalem Handeln und friedlicher Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch dieselben Eigenschaften unterminiert, die ihren historischen Sieg über das mythische Weltbild begründeten. Gleichwohl bleibt dieses Theorem für sich genommen abstrakt, zumal Nietzsche keineswegs der Rückkehr zu mythischen Erzählungen das Wort reden möchte. Ihre Brisanz erhält diese Einsicht in die Dialektik der Aufklärung dadurch, daß Nietzsche in der Folge - modern gesprochen deren kulturpsychologische und sozialwissenschaftliche Konsequenzen reflektiert, was ihn zu der im folgenden erläuterten Befürchtung kommen läßt, daß nicht lediglich eine dauernde Gefährdung der Aufklärung besteht, sondern vielmehr ein folgerichtiger Rückfall in barbarische Exzesse zu erwarten ist. Mit diesem Theorem bereitet Nietzsche einem Paradigmenwechsel in der Kulturtheorie den Weg. Die zu seiner Zeit bereits verbreitete und prominente, herkömmliche Kulturkritik hatte gemeinhin den vermeintlichen Niedergang eines bestimmten Gemeinwesens, zumeist einer Nation, inkriminiert. Beispielsweise wurde, einem seit Sallust bekannten abendländischen Topos zufolge, der Sittenverfall einer jungen Generation beklagt, oder - moderner - rassenhygienische Unterlegenheit angemahnt. Nietzsche hingegen lehnt Soziobiologismus strikt ab47 und reklamiert die unausweichliche petitio principii, wie Horkheimer und Adorno später formulieren werden, daß nur die immer weitere, stärkere Aufklärung als Mittel gegen deren Regression taugt.48 Nietzsche problematisiert den soziomoralischen Zustand des Bismarck-Reiches oder gar des gesamten Abendlandes nicht im Rahmen einer kulturspezifischen historischen Niedergangstheorie. Seine Einsicht in die Dialektik der Aufklärung thematisiert vielmehr ein Problem, das den gesamten Zivilisationsprozeß durchzieht und dessen Auftreten zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kulturen auf den Erkenntnis- und Entwicklungsstand der Wissenschaften zurückzuführen ist, und weniger auf quantitativ konkretisierbare sozialwissenschaftliche Daten. Laut Nietzsche ist die moderne, im szientistischen Sinne aufgeklärte und aufklärerische Wissenschaft nicht 47 Vgl. Ottmann 1987. 48 Irion 1992, S. 142, bescheinigt Nietzsche, er halte „der Aufklärung gerade dadurch die ihre destruktiven Potentiale aufdeckt." Vgl. die entsprechende Würdigung Nietzsches heimer/Adorno 1944, S. 127, und durch Adorno, Horkheimer und Gadamer in einem dem Jahr 1950 Über Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen (Adorno / Gadamer 1950, S. 118 f.).

Treue, daß er durch HorkGespräch aus Horkheimer /

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nur kein endgültiger Triumph über vorkritische Phasen menschlicher Wissensakkumulation, sondern sie provoziert geradezu die Regression in Mythologie, da sie einen Zustand hervorruft, den Günther Anders später - wie man sieht mit überstarken Anleihen bei Nietzsche - als prometheisches Gefalle bezeichnen wird:49 „Ueberstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine eigene. Miss nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als Wissender zu klettern, ist dein Verhängniss; Grund und Boden weichen ins Ungewisse für dich zurück; für dein Leben giebt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder neue Griff deiner Erkenntniss auseinanderreisst."50

Die Orientierungslosigkeit des Menschen in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation bleibt jedoch kein allgemeiner Zustand im Sinne einer kulturpsychologischen Rahmenbedingung, sondern fuhrt auf direktem Wege in jene Barbarei, die sich mit Blick auf die kriegerischen und sozialen Auseinandersetzungen des ausgehenden 19.Jahrhunderts mit einiger Plausibilität und Wahrscheinlichkeit prognostizieren ließ: „Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; [...]. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. [...] Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen. [...] Die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriegeführen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr Durcheinander-Rennen, von einander Abiemen, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in Noth, ihr Lustgeheul im Siege - alles ist Fortsetzung der Thierheit: als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet [...] werden sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie so lange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes wollte."51

Nietzsche entkleidet die bis in seine Zeit reichenden politischen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrhunderte - Nationenbildungen und -auflösungen mit der ideologischen Folge des Nationalismus, Kriege, Urbanisierung und steigende Mobilität - ihrer spezifischen historischen Gestalt und bringt sie auf einen zivilisationstheoretischen Nenner. Danach erscheinen die soziokulturellen Fehlentwicklungen als Regression in jenen Zustand der Unbewußtheit des Triebes, dessen Überwindung gerade den äußerlichen, vordergründigen Erfolg der menschlichen Zivilisation bedingte und ausmachte. Die kulturkritische Konkretisierung dieses Befundes in Gestalt des Verweises auf die aktuelle Barbarei in Kunst und Wissenschaft ist demgegenüber nachrangig, denn ästhetische Barbarei muß gegenüber der sozialen als vergleichsweise harmlos angesehen werden. Nietzsche macht die rationalistischen Wissenschaften jedoch auch für gewaltsame Barbarei verantwortlich. Indem sie die Gewässer der Religion haben abfluten lassen und damit alles Festgeglaubte aufgelöst haben, sind sie Wegbereiter des Nihilismus. Dieser durch die Entzauberung bewirkte Nihilismus bedeutet, kurz gefaßt, „daß die obersten Werthe sich entwerthen" - „es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das , Warum?'". Und im wahrsten Sinne des Wortes gemeingefährlich ist dieser Nihilismus, weil er stets seinem Maximum 49 Anders 1956. 50 Nietzsche 1988, Bd. 1: Unzeitgemässe Betrachtungen, S. 313. 51 Ebd., S. 366; 378 f.

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zustrebt, das er erreicht „als gewaltthätige Kraft der Zerstörung·, als aktiver Nihilism,"52 Auch dies ist freilich als eher indirekte Verstrickung der aufklärerischen Wissenschaften in die Barbarei anzusehen; Nietzsche geht aber noch einen Schritt weiter und macht sie unmittelbar verantwortlich für soziale Desintegration: „Wenn [...] die Lehren [...] von dem Mangel aller cardmalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier - Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte - in der jetzt üblichen Belehrangs-Wuth noch ein Menschen alter hindurch in das Volk geschleudert werden, so soll es Niemanden Wunder nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zu Grunde geht, zuerst nämlich auseinanderfällt und aufhört Volk zu sein: an dessen Stelle dann vielleicht Systeme von Einzelegoismen, Verbrüderungen zum Zweck raubsüchtiger Ausbeutung der Nicht-BrQder und ahnliche Schöpfungen militärischer Gemeinheit auf dem Schauplatze der Zukunft auftreten werden."53

Eine Menschheit, die nicht einmal mehr sich selbst als etwas besonders wertvolles respektieren kann, wird, so befürchtet Nietzsche, überhaupt nichts mehr respektieren und folglich alle Rücksichtnahme in der sozialen Interaktion fahren lassen. So entsteht aktiver Nihilismus als gewalttätige Kraft der Zerstörung aus dem Empfinden grenzenloser Kontingenz und Relativität der eigenen Existenz und Gattung heraus: „Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde - was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?... Wir sind des Menschen müde...". 54 Den Ausbruch eines bellum omnium contra omnes55 befürchtet Nietzsche bereits im Zeitraum eines Menschenalters, was mit dem Ersten Weltkrieg eintrat. Nietzsches Oxymoron einer vorgeblich aus Mitleid entspringenden Ethik des Völkermordes als praktischer Pessimismus infolge der religiösen Entzauberung56 wurde schließlich in der Epoche der Totalitarismen Realität. Konsequenterweise problematisiert Nietzsche aber auch die Dialektik seiner eigenen Aufklärung über die Aufklärung.57 Seine Entdeckung, daß alle bisherige „Wahrheit" Lüge war, insofern sie nur einem intellektuell drapierten Willen zur Macht diente, daß die Religion wenig Göttliches verehrte58 und daß die Moral - so die in der Genealogie der Moral mit für Nietzsche untypischer Systematik entfaltete Argumentation - nur „eine Äußerung von Macht oder Ohnmacht" darstellt,59 ist gleichbedeutend mit dem Nachweis der „Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen", wie es am Schluß des Jw/z'ei/e-Kapitels der Dialektik der Aufklärung heißen wird.60 Und so wenig es eine Alternative zur Aufklärung und zu dem Nachweis gab, daß die Antithese gut und böse eine Erfindung des Ressentiments der Schwachen ist und eine Sklavenmoral kennzeichnet, so bewirkt diese Entlarvung doch naheliegenderweise die

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Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 350 f. (9 [35]). Nietzsche 1988, Bd. 1: Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 319. Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 278. Vgl. ebd., Bd. 13: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, S. 46 ff. (11 [99] (351)). Nietzsche 1988, Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870-1873, S. 772; ebd., Bd. 7: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, S. 342 ff. (10 [1]). Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 100. Ottmann 1985 b, S. 24. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 6: Der Antichrist, S. 225. Münkler 1991, S. 26. Horkheimer /Adorno 1944, S. 142.

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Erosion der Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, das jahrtausendelang auf dieser Sklavenmoral basierte: „Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann ganzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt - sie ruhen allesamt auf der Lüge, es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik,-"61

Diese, sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts bestätigende Ahnung Nietzsches, daß er mit seinen Einsichten zu einem Verhängnis werden würde, wie er in Ecce Homo orakelt, zeigt in aller Deutlichkeit, in welchem Maße Nietzsches Kulturkritik die Konsequenz seiner zivilisationstheoretischen Überlegungen ist und nicht etwa deren Auslöser. Gleichzeitig garantiert die Einsicht in die Dialektik der eigenen Aufklärung, daß Nietzsche in der zitierten, gegen die „Belehrungswut" der Evolutionstheorie gerichteten Passage die Ambiguität seiner Entdeckung stets im Blick behält: Die evolutionstheoretische Relativierung des menschlichen Stellenwerts ist schädlich, aber nichtsdestotrotz richtig. So stark auch Nietzsches Kritik an einer Belehrungswut ist, die keine Einsicht in die Dialektik der Aufklärung erkennen läßt und dadurch autokatalytisch arbeitet, zeigt doch andererseits sein in diesem Zusammenhang keineswegs selbstverständlicher Einschub, daß die Inhalte dieser Belehrungen wahr seien, sein fragloses Festhalten am aufklärerischen Denken, zu dem es keine Alternative gibt. Diese Ambiguität wird regelmäßig verkannt, wenn die Nietzsche-Rezeption die plane Alternative aufwirft, ob er der Aufklärung die Treue bewahrt habe, oder ob er doch mit vor- und antiaufklärerischen Verlockungen geliebäugelt habe. In bemerkenswerter Ähnlichkeit zur vorherrschenden Adorno-Rezeption führt dies dazu, Nietzsches Denkmotive primär unter dem Topos der Rationalitätskritik zu verhandeln, obwohl diese, wie sich im nachfolgenden Kapitel zeigen wird, nicht das vorrangige Interesse seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik ausmacht. Alle düsteren Vorahnungen ebenso wie die Kritik am Zeitgeist und an der vorherrschenden unvernünftigen Vernunft resultieren nämlich daraus, daß Nietzsche eine Perspektive sub specie aeternitatis einnimmt, in der die Gefährdungen der Kultur und der sozialen Existenz als jederzeit möglicher, durch die Dialektik des Fortschritts bedingter Rückfall in die „Vorzeit"62 erscheinen. Nietzsche muß deshalb auf das Gedankenexperiment der sozialen Urszene zurückgreifen, um seinen Analysen und Prognosen jenen besonderen Nachdruck zu verleihen, der aus ihrer Präsentation als schlechthin zivilisationstheoretischer Umstand resultiert. Diese gewissermaßen transhistorische Perspektive63 ist geradezu eine denknotwendige Bedingung der Rationalitätskritik, die sich nur durchführen läßt, wenn man gegen die Unvernunft der herrschenden Vernunft eine andere, vernünftigere, aber geschichtlich bislang unwirksame Rationalität einklagt. Dies verhindert gerade, daß Nietzsches zivilisa-

61 Nietzsche 1988, Bd. 6: Ecce Homo, S. 366. Vgl. Baier 1984, S. 64 ff. 62 Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 307. 63 So eine Begriffsprägung von Ulridi Raulff bezüglich Wolfgang Sofskys Traktat über die Gewalt. Transhistorisch nennt er eine Perspektive, die „alle konkreten Bezüge abgestreift hat" und alle Ereignisse auf einem „Projektionsschirm" abbildet (Raulff 1996), den, so kann hinzugefügt werden, im vorliegenden Fall die zivilisationstheoretische Kulturkritik bildet.

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tionstheoretisch angelegte Kulturkritik in einer rationalitätskritischen Sackgasse landet. Jeglichen Ersatzhandlungen, zumal ideologischen Substitutionen des im Rationalisierungsprozeß verlorengegangenen Mythos, erteilt Nietzsche eine eindeutige Absage, so zum Beispiel einem Hegeischen Historizismus, der anstelle religiöser Demut Ehrfurcht vor der Macht der Geschichte postuliert, was nur zur Ehrfurcht vor jeder Macht führt: „Wer [... ] erst gelernt hat, vor der ,Macht der Geschichte' den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt [...] sein ,Ja' zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in welchem irgend eine ,Macht' am Faden zieht. Enthalt jeder Erfolg in sich eine vernünftige N o t wendigkeit, ist jedes Ereigniss der Sieg des Logischen oder der ,Idee' - dann nur hurtig nieder auf die Kniee und nun die ganze Stufenleiter der ,Erfolge' abgekniet! [...] Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt Acht auf die Priester der Ideen-Mythologie und ihre zerschundenen Kniee!"64

In der Folge erläutert Nietzsche die als Dialektik der Rationalisierung verstandene Dialektik der Aufldärung am Beispiel der menschlichen Zivilisationsleistung doppelter Naturbeherrschung, um diesen von der Frankfurter Schule später aufgegriffenen Gedankengang bereits in deren Terminologie zu formulieren.65 Dabei exemplifiziert er seinen zivilisationstheoretischen Ansatz an kultursoziologischen und -psychologischen Phänomenen, die später auch bei Freud und Max Weber eine zentrale Stellung einnehmen.

2.4. Die Dialektik der doppelten Naturbeherrschung Nietzsche lehnt es kategorisch ab, die menschliche Gattungs- und Zivilisationsgeschichte als Wirken eines Selbsterhaltungstriebes anzusehen: „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille zur Macht - : die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien! - wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza's -)." 66

Mag auch der Selbsterhaltungstrieb „ein Stück Mythologie"67 sein, so sieht Nietzsche im menschlichen Zivilisationsprozeß doch einen fundamentalen, aus dem Willen zur Macht resultierenden Instinkt am Werk: Die Beherrschung und Bearbeitung der Natur mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis hat hierin ihre ursprüngliche raison d'etre, allen späteren Stilisierungen eines menschlichen Weisheitsdranges zum Trotz:

64 Nietzsche 1988, Bd. 1: Unzeitgemässe Betrachtungen, S. 308 f. 65 Vgl. Irion 1992, S. 138; Maurer 1981/1982, S. 69; Pütz 1974, S. 182; Beyer 1990. 66 Nietzsche 1988, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 27 f.; vgl. ebd., S. 55; Bd. 3: Die fröhliche Wissenschaft, S. 585 f. 67 Nietzsche 1988, Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 95 (3 [149]). Vgl. ebd., S. 234 (6 [145]); S. 479(11 [108]).

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„.Wissenschaft' (wie man sie heute übt) ist der Versuch, für alle Erscheinungen eine gemeinsame Zeichensprache zu schaffen, zum Zwecke der leichteren Berechenbarkeit und folglich Beherrschbarkeit der Natur."68

Wenn die wissenschaftliche Rationalität in einem konstitutiven Zusammenhang mit der menschlichen Naturbeherrschung steht, ergibt es sich aus Nietzsches Aufmerksamkeit gegenüber der Dialektik der Aufldärung, daß er sich für die Mechanismen der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung interessiert. Dies führt ihn zurück zu dem Problem der Moral, dem er sich schon mit der Parabel vom Tod Gottes zugewandt hatte, als er die sukzessive Entzauberung des religiösen Weltbildes als entscheidenden Faktor für die Erosion sozialer Normen herausstellte. Nunmehr, mit Blick auf die Naturbeherrschungsthematik, vertieft Nietzsche seine Moraltheorie. Die im Tod Gottes- Theorem enthaltene Diagnose der Moderne erhält jetzt den zivilisationstheoretischen Rahmen einer Genealogie der Moral, die in transhistorischer Perspektive die Entstehung nicht nur bestimmter moralischer Normen, sondern des moralischen Urteilens überhaupt untersucht. Nietzsche zufolge ist das moralische Bewußtsein die Voraussetzung jeglicher menschlicher Naturbeherrschung. Die Beherrschung der äußeren Natur des Menschen, also der natürlichen Umwelt, Naturgewalten und -gefahren, wird nämlich erst möglich, sobald die Menschheit den qualitativen zivilisatorischen Unterschied gegenüber der Tierwelt ausgebildet hat: die Beherrschung seiner triebhaften inneren Natur, „denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche?"69 Dieser Schritt zur doppelten Naturbeherrschung ist gekennzeichnet durch die Erfindung des schlechten Gewissens, das die eigentliche zivilisationspsychologische Bedingung für die Verbindlichkeit moralischer Pflichtregeln bildet. Die Fähigkeit zu versprechen - mit anderen Worten: die moralische Selbstbindung - ist der Schlüssel zur menschlichen Naturbeherrschung qua Selbstbeherrschung, die wiederum erst weitere Zivilisationsschritte ermöglicht: Entwicklung der Menschheit. A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. Die Moral war nöthig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und , wildem Thier'. B. Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung."70

Streng genommen ist die innere Naturbeherrschung in einem zweifachen Sinne innerlich: Zum einen handelt es sich bei ihr um eine Kontrolle der inneren Natur des Menschen, und zum anderen erfolgt diese Kontrolle auch qua Innerlichkeit, indem nämlich das Individuum Selbstkontrolle ausübt und seine nach außen gerichteten, triebhaften Energien als moralisch-normative Gewissensfragen introjiziert. Die Erfindung moralischer Normen ist daher nicht bereits als Anzeichen zivilisatorischer Entwicklung zu sehen, sondern als deren elementare Voraussetzung. Die Moral entspringt einem urwüchsig-archaischen, tierischen Instinkt im Überlebenskampf und bleibt an die Bedingungen zweckrationaler Naturbeherrschung gebunden:

68 Nietzsche 1988, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, S. 209 (26 [227]). 69 Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 67. 70 Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 208 (5 [63]). Vgl. Baier 1984, S. 61 f.

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2. Die Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik: F. Nietzsche „Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen UnVerantwortlichkeit; wir tödten und verwunden zum Beispiel Insecten oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar Nichts dabei. [ . . . ] - Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Vernichtung, die Mittel sind oft grausam genug ohne dass wir diess eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so beuten wir sie aus: bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Thiere für eine andere Behandlung, nämlich die der Pflege und Zucht reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemässheit der primitiven Gemeinde-Moral, welche den gemeinsamen Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. [...] Zudem erweckt der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein [. . .]. So entsteht ein Ansatz vom moralischem Urtheilen und Empfinden".71

Erst die Verinnerlichung des Menschen durch die moralische Selbstbindung markiert jenen als Zivilisation bezeichneten Entwicklungsschritt, der den homo sapiens von allen übrigen Lebewesen unterscheidet und jene vorhistorische Ausbildung des seiner Freiheit und Subjektivität bewußten, selbstbeherrschten, souveränen Individuums möglich macht, für die der von Horkheimer und Adorno zum Prototyp erhobene Odysseus einsteht.72 „Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir ,Sittlichkeit der Sitte' genannt worden ist [...] - die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen an's Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum [...], kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf. Dieser Freigewordne, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens, dieser Souverain - wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gut sagen darf; wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt - er ,verdient alles Dreies - und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwendig in die Hand gegeben ist?"73

In dieser Beschreibung deutet sich bereits an, daß laut Nietzsche der Zivilisationsprozeß alles andere als rational und im engeren Sinne zivilisiert vor sich geht. Vielmehr wird er bestimmt von Härte und Tyrannei und gleicht einer sozialen Zwangsjacke. Dementsprechend sieht Nietzsche die Grausamkeit „im Wesen jeder Kultur" verwurzelt,74 und zwar als ihren gefeierten und genossenen Bestandteil: „Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen", und die „ganze Geschichte der höheren Cultur" besteht nicht etwa in einer sukzessiven Inkriminierung und Zurück71 Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches S. 577 f. „So wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen." (Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 37). 72 Deleuze / Guattari 1974, S. 244, bezeichnen die Genealogie der Moral daher als das „große Buch der modernen Ethnologie", wonach Nietzsche, wie Marti 1993 b, S. 883 herausstellt, auf Freud und auch auf Elias vorausdeutet. 73 Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 293 f. Vgl. Gasser 1997, S. 285 ff. 74 Nietzsche 1988, Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870-1873, S. 768. Vgl. ebd., Bd. 3: Morgenröthe, S. 30 ff.

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drängung von Grausamkeit, sondern in der einhegenden Ritualisierung geplanter und institutionalisierter Exzesse, in einer „Vergeistigung und Vergöttlichung'" der Grausamkeit. Mit Blick auf die Rechtsgeschichte, höfisches Leben und literarische Zeugnisse kommt er nicht umhin festzustellen, daß die Grausamkeit - „in einem bedeutenden Sinne genommen" - die höhere Kultur „sogar ausmacht".75 Nietzsche rekonstruiert mit diesen Überlegungen die Entstehungsbedingungen zivilisierter Kultur(en) und diagnostiziert das Fortdauern ihrer Urgeschichte in der fortgeschrittenen Kultur der Moderne. Insbesondere dem Straf- und Schuldrecht widmet er dabei große Aufmerksamkeit, und eines kräftigen Seitenhiebes auf Kant kann er sich auch in diesem Zusammenhang nicht enthalten: ,Дп dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt .Schuld', .Gewissen', .Pflicht', .Heiligkeit der Pflicht' ihren Entstehungsheerd, - ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, dass jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe? (selbst beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit...)" 76

Nietzsches zivilisationstheoretische Kulturkritik hat an dieser Stelle den Akzent, „genealogisch die grausamen Grundlagen menschlicher Gattung freizulegen und vermeintlich sakrosankte Werte auf höchst inhumane Praktiken zurückzuführen".77 Dies ist jedoch nur die vordergründige Ebene. Auf der zweiten Ebene problematisiert Nietzsche die von ihm genealogisch beschriebene Zivilisationsleistung der Naturbeherrschung, deren Dialektik er, übereinstimmend mit seiner Einsicht in die Dialektik der Aufklärung, nachweist. Einen Zusammenhang zwischen der Dialektik der Aufklärung und der Dialektik der Naturbeherrschung stellt Nietzsche her, indem er am Beispiel der Naturbeherrschung die Ausbildung der vermeintlich aufklärerischen Vernunft als pure Zweckrationalität beobachtet. Das Problem dieser rein instrumenteilen Vernunft besteht darin, daß sie gerade kein Verfallssymptom der Moderne nach einer jahrtausendelangen Zivilisationsgeschichte ist, sondern den Prozeß der Zivilisation, das heißt maßgeblich der menschlichen Naturbeherrschung ab ovo ausmacht. Die durch die Konzentration auf zweckrationale Weltbeherrschung gekennzeichnete, den gesamten Zivilisationsverlauf bestimmende Totalität der Tauschgesellschaft, wie sich mit einer Anleihe an die Terminologie der Frankfurter Schule sagen läßt, ist geradezu der Garant der einzigartigen menschlichen Weltbeherrschung, und zwar sowohl objektiv wie auch im Bewußtsein der Menschen: „Man hat noch keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen - das hat in einem solchen Masse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, das es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein."78

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Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 301 f. Ebd., S.300 ff. lrion 1992, S. 84. Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 306.

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Diese zivilisationstheoretische Überlegung und nicht etwa ein Interesse an Gegenaufklärung motiviert Nietzsche dazu, kulturkritisch die Unvernunft der herrschenden Vernunft zu bemängeln: „Dass die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, lässt sich endgültig dadurch beweisen, dass jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft nicht allzu vernünftig ist."79

Den Anlaß für diese Klage bildet weniger seine schwärmerische Vorliebe für eine utopische, ideale Rationalität, sondern seine Überlegung, daß das überkommene Zivilisationsmodell nicht nur im Bereich der äußeren Natur des Menschen - modern gesprochen: im ökologischen Bereich - Probleme aufwirft, sondern dergestalt auch im Bereich des menschlichen Zusammenlebens, daß die Menschen untereinander zu keiner wirklich vernünftigen Organisation ihrer sozialen Existenz fähig sind, sondern diese rein zweckrational und machtorientiert gestalten: „Wissenschaft - Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur - das gehört in die Rubrik .Mittel' aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso -wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze".80

Vor allem aber problematisiert Nietzsche eine unmittelbare, innere Dialektik der doppelten Naturbeherrschung. Ihr zufolge rächt sich die Beherrschung der äußeren Natur des Menschen, zu der er fähig wurde mittels seiner zivilisatorischen Zähmung, also qua Beherrschung seiner inneren Natur, in Gestalt einer Auflösung der menschlichen Natur. Wie der Mythos wußte, hat „der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren".81 Für Nietzsche scheitert das menschliche Zivilisationsmodell somit an seinem vermeintlichen äußerlichen Erfolg. Wie die natürliche Umwelt vom Menschen zerstört wird, so zerstört das menschliche Zerstörungspotential auch ihn selbst durch die schleichende Erosion seiner sozialen Überlebensfahigkeit, die sich einstellt, weil der Mensch nicht wirklich zurechtkommt mit seiner Verinnerlichung infolge des Triebverzichts und seiner Sonderstellung unter den Lebewesen: „Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Thier."*1

Diese Pathogenese des durch die doppelte Naturbeherrschung des Menschen gekennzeichneten Zivilisationsprozesses beschreibt Nietzsche als Unbehagen in und vor allem an der Kultur.83 79 80

81 82 83

Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 540. Nietzsche 1988, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, S. 194 (26 [170]). Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 540; Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, S. 194, 209. Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 67. Vgl. Kaulbach 1981/1982, S. 463. Nietzsche 1988, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, S. 125 (25 [248]). Vgl. ebd., Bd.5: Jenseits von Gut und Böse, S. 81; ebd., Zur Genealogie der Moral, S. 367. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 471: „Das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Cultur dem Menschen machen [...]."

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aus dem Geiste der Kulturkritik:

F. Nietzsche

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J c h nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, - jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand [ . . . ] - und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen - dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine , Seele' nennt. [...] Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte - die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken - brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung - Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des .schlechten Gewissens'. [...] Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und DaseinsBedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Fruchtbarkeit beruhte."84 Die Beherrschung der inneren Natur des Menschen erweist sich demnach realiter als Versuch ihrer vollständigen Umbildung durch Abschaffung aller aggressiven Potentiale. Die Eindämmung der natürlichen Aggressivität des Menschen führt, psychoanalytisch formuliert, zu einer Autoaggression, die in soziokultureller Hinsicht weit schädlicher ist als die ursprünglichen vindikativen Instinkte des Menschen, denn sie begünstigt jene Überdrüssigkeit des Menschen an sich selber, jenen aktiven Nihilismus, dem Nietzsche, wie bereits angeführt, eine „gewaltthätige Kraft der Zerstörung' attestiert. Irrig ist daher auch eine typische Nietzsche-Legende, die seinen Antihumanismus behauptet, welcher ihn mit einem amoralischen Recht des Stärkeren - der blonden Bestie liebäugeln lasse. Vielmehr bejaht Nietzsche die aggressiven Neigungen des Menschen nicht an und für sich, sondern hält sie für eine Vitalfunktion und eine unverzichtbare Bedingung gerade auch humanen Handelns. Nicht von anderen Schwachen und Ohnmächtigen nämlich kann den Schwachen geholfen werden, sondern nur von Starken, die ihre Hilfe dann jedoch nicht aus Mitleid, einem Affekt der Sklaven-Moral leisten, sondern aus ihrer Stärke, ihrem „Überfluss von Macht" heraus. 85 Die zivilisatorische Zähmung des Menschen erscheint Nietzsche geradewegs kontraproduktiv, ihren eigenen Zielen zuwiderlaufend. Nur um den Preis eines umso tieferen Rückfalls in die dem aktiven Nihilismus entspringende archaische Wildheit kann der

84 Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 321 ff. 85 Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 125 ff.; Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 209 f. Mitleid demaskiert Nietzsche als verdeckten Willen zur Macht, als „seelische Entlastungsfunktion", oder, in den Begriffen der Psychoanalyse, mit denen Nietzsche hier avant la lettre operiert, als „eine ,Reaktionsbildung'" (Baßler 1988, S. 67. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 275 ff.); Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870-1873, S. 783: „Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität, in Regungen Thaten und Werken hervorwachsen kann."

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Mensch versuchen, sich im Zuge des Zivilisationsprozesses endgültig und qualitativ von seinen animalischen Wurzeln zu entfernen. Es sind somit grundlegende, zivilisationstheoretische Umstände, in denen Nietzsche seine Kulturkritik verankert. Die Probleme, die der Menschheit aus ihrer Herrschaft über ihre natürliche Umwelt erwachsen, lassen sich nicht trennen von ihren soziokulturellen Problemen. Beide sind Folgen der menschlichen Hybris, als selbsternannter Herr der Erde einen äußerlich erfolgreichen, technischen Fortschrittsprozeß ohne Reflexion seiner Mechanismen und Kosten blindlings voranzutreiben, bei dem die Vernunft gegenüber einer Belehrungswut auf der Strecke bleibt, welche einer voyeuristischen Selbstverstümmelung des Menschen gleichkommt. „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Empfindsamkeit; [...] Hybris ist unsre Stellung zu uns, - denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf was liegt uns noch am ,Heil' der Seele!'"·6

Solange der fortschreitende Zivilisierungsprozeß selber dazu beiträgt, daß der Mensch, „gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend",87 zwischen archaischer Wildheit und zivilisierter Selbstbeherrschung im Grunde unentschieden und verunsichert changiert, kann die Zivilisation ohnehin nicht darauf hoffen, daß ihr Traum von einem endgültigen und irreversiblen Sieg über ihren triebhaften Untergrund in Erfüllung geht. Aber nicht die Fragilität der inneren Naturbeherrschung des Menschen beunruhigt Nietzsche vorrangig, sondern seine Einsicht in die Dialektik der doppelten Naturbeherrschung, derzufolge sich die auf der menschlichen Zweckrationalität basierende doppelte Naturbeherrschung umso stärker als Pyrrhus-Sieg erweist, je augenfälliger ihr äußerlicher, vordergründiger Erfolg ist. Den Kern von Nietzsches zivilisationstheoretischer Kulturkritik bildet sein „fundamentaler Zweifel am humanisierenden Wert des Erkennens",88 sein Verdacht, daß der nicht einmal auf das eigene Seelenheil Rücksicht nehmende menschliche Erkenntnis- und Aufklärungsdrang zum Todestrieb wird:89 „Unser Trieb zur Erkenntniss ist zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss [...] zu schätzen vermöchten [...]! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen [...]. Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! - auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! [...] Sind denn Liebe und Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei, - wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss!"90

Und so mutmaßt er, daß der Wille zur Wahrheit ein versteckter Wille zum Tode sein könnte.91 Hierbei hat Nietzsche die selbstzerstörerische Lebensfeindlichkeit im Sinn, die er 86 87 88 89

Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 357. Nietzsche 1988, Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870-1873, S. 760; vgl. ebd., S. 877. lrion 1992, S. 139. Vgl. zu dieser Vorwegnahme des Freud'schen Theorems lrion 1992, S. 69, 86 f., 139, sowie, außer den nachfolgend zitierten Passagen, Nietzsche 1988, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 207 f.; ebd.: Zur Genealogie der Moral, S. 410; Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 226 (6 [123]). 90 Nietzsche 1988, Bd. 3: Mörgenröthe, S. 264 f. 91 Nietzsche 1988, Bd. 3: Die fröhliche Wissenschaft, S. 576.

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in einer Verleugnung des Willens zur Macht sieht, und die vor allem zur Entstehung jenes aktiven Nihilismus beiträgt, der als gewalttätige Kraft der Zerstörung die soziale Koexistenz der Menschen bedroht. Die Krankhaftigkeit des zivilisatorisch gezähmten Menschen äußert sich nämlich unausweichlich in Lebensmüdigkeit im wörtlichen Sinne, im „Wunsche nach dem ,Ende"'.92 Nachdem dem Menschen seine spontanen vindikativen Neigungen durch kulturelle Normen verboten worden sind und die Befolgung dieser Gebote durch die Erfindung des Gewissens nicht mehr bloß äußerlich kontrolliert, sondern zur Selbstkontrolle introjiziert wurde, mußte der Mensch einen zerstörerischen Haß auf seine unterdrückten Ursprünge, auf alles Urtümliche, Vor-Zivilisatorische ausbilden. Der Genealogie dieses Nihilismus aus Ressentiment93 gilt Nietzsches Aufmerksamkeit sein gesamtes Werk hindurch, bis hin zur expliziten Abhandlung in der Genealogie der Moral. Dabei zeigt er immer engere Verbindungen zwischen Selbsthaß und Fremdhaß, Autoaggression und Zerstörungswut, bis er sie schließlich gar als deckungsgleich identifiziert. Der „Wille zur Zerstörung' ist folglich zu betrachten „als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts."9* Einmal durch falsch verstandene Zähmung pervertiert, degenerieren Instinkt und Triebleben des Menschen heillos, wie sich am Beispiel des politischen Triebes beobachten läßt. Als solcher sinnvoll und notwendig, droht seine Überladung, wodurch er „gegen sich selbst zu wüthen anfängt und seine Zähne in das eigne Fleisch schlägt". „Kriege und Parteikämpfe" sind die Folgen.95 Für Nietzsche ist dies ein Beleg für den Todestrieb der Kultur. Am Beispiel des Politischen läßt sich zeigen, inwiefern „der Trieb oft selbst dem eignen Zwecke des Triebs schädlich" ist.96 Die Beobachtung des 20. Jahrhunderts, daß politisch-religiöse Ideologien mit dem Anspruch auf grundlegende soziale Innovation oder gar eschatologische Erlösung auftreten, aber bloß zu grenzenloser gewaltsamer Zerstörung führen, ist in transhistorischer Perspektive weit weniger erstaunlich als für einen ideologiekritisch motivierten, im engeren Sinne geistes- bzw. kulturhistorischen und eben nicht zivilisationstheoretischen Ansatz. Nietzsches Einsichten gemäß ist Ideologie schließlich nichts weiter als eine überladene Ersatzhandlung für einen gestörten Instinkt, deren nicht nur in der Umsetzung ihrer Ziele liegende Schwierigkeiten mit Realität gerade eine umso verbissenere Fixierung auf die zur Weltanschauung überhöhten Absichten bewirkt. Universaler, irrationaler Zerstörungswut sind keine Grenzen gesetzt, denn dem ihre Quintessenz enthaltenden, letzten Satz aus der Genealogie der Moral zufolge will der Mensch lieber noch Nichts wollen, als nicht wollen .. ."97 Je weiter Nietzsches Analysen des menschlichen Zivilisationsprozesses vordrangen und je stärker er sich dabei genötigt sah, die Gegenstände seiner kulturkritischen Anliegen in zivilisationstheoretischen Umständen zu verorten, desto stärker wurde auch seine Abneigung gegen einfache Patentrezepte zur Überwindung der Probleme. In seinem Frühwerk erschien ihm noch das altgriechische Zivilisationsmodell als beispielhaft. Die Griechen

92 93 94 95 96 97

Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 366. Vgl. ebd., S. 270 ff. Nietzsche 1988, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 215 (5 [71] 11). Nietzsche 1988, Bd. 7: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, S. 169 f. (7 [121]). Ebd., S. 143 (7 [25]). Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 412.

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nämlich verleugnen den Naturtrieb nicht, auch nicht seine destruktiven Resultate, sondern bemühen sich um seine rituelle Einhegung. Auf diese Weise nutzen sie mit der Erfindung von Kulten und Riten eine Errungenschaft der Zivilisation, um deren Fortbestand insgesamt zu sichern. Indem man keine völlige Ausrottung des Archaischen anstrebte, bewahrte man auch das zivilisatorische Entwicklungsniveau vor seiner drohenden Regression in Gestalt des dialektischen Umschlags der doppelten Naturbeherrschung, in deren Verlauf das Ressentiment eine todestriebige, untergründige Autoaggressivität ausbildet, deren Ausbruch in soziale Gewalt nicht ausbleibt: „Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Thierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, [...] welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. [...] Gerade die Dichter [...] wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, dass es sich massige und nicht Alles todtschlage oder innerlich giftig mache".98

Nur eine Zeitlang aber liebäugelte Nietzsche damit, als Konsequenz aus der Dialektik der Aufklärung das menschliche Verhältnis zur Wissenschaft zu ändern und nach altgriechischem Modell den Mythos als Korrektiv einzusetzen.99 Ohne diese Ideen aus seinem Frühwerk ausdrücklich zu widerrufen, setzt er später andere Akzente. Seine Einsicht, daß auch seine eigene Aufklärung über die Aufklärung100 eine Dialektik aufweist, die zumal in politischer Hinsicht verhängnisvoll werden kann, verbietet nämlich nicht nur kurzschlüssige Aufrufe zur Umkehr. Vielmehr ergibt sich aus der Entdeckung eines dialektischen Verlaufs des Zivilisationsprozesses, daß keine isolierten Vorgänge und Faktoren kritisiert oder affirmiert werden können. Danach verbietet sich sowohl eine Rehabilitierung des Mythos auf Kosten der Rationalität als auch eine romantische Natursehnsucht. Beide ließen außer Acht, aus welch vitalen Gründen die Menschheit ihr Heil in Naturbeherrschung und Aufklärung gesucht hat: ,J5eid dankbar! - Das grosse Ergebniss der bisherigen Menschheit ist, dass wir nicht mehr beständige Furcht vor wilden Thieren, vor Barbaren, vor Göttern und vor unseren Träumen zu haben brauchen."101

Die Universalität dieser dialektisch umschlagenden menschlichen Erfolgsgeschichte verstellt jede Alternative zum Fortschreiten auf der Bahn des Zivilisationsprozesses. Die Irreversibilität der anthropogenen Entwicklungsgeschichte läßt zu ihrer Korrektur allenfalls partiell retardierende Momente zu: „Es steht Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der dicadence ( - dies meine Definition des modernen .Fortschritts' ...). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. -" 102

Paradoxerweise gibt es gerade aufgrund der Problematik des Fortschrittsmodells keine Alternative zum Fortschritt. Der Zivilisationsprozeß läßt sich nur durch eine Steigerung 98 99 100 101 102

Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches S. 473 f. Vgl. ebd., S. 209; ebd., Bd. 4: Also sprach Zarathustra, S. 376. Vgl. Ottmann 1985 b, S. 24. Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 20. Nietzsche 1988, Bd. 6: Ecce Homo, S. 144.

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seines Erfolgsprinzips positiv beeinflußen - durch die Steigerung aufklärerischen Denkens. So sieht Nietzsche einzig in der rationalen Kraft der Selbstreflexion eine Chance zur Bewahrung der menschlichen Kultur vor ihren Gefährdungen: „Gerade weil wir diese Perspective [den „Verfall der allgemeinen Erdcultur", K.F.] in's Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen."103

Die ,„neue Aufklärung'", die Nietzsche vorschwebt, ist daher eine eminent politische; sie fordert die „Herrschaft des Aufgeklärten, des Übermenschen."104 Aus diesem Interesse fordert Nietzsche die Etablierung einer Psychologie, die „als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind." Insofern nur sie jene zivilisationspsychologischen Bedingungsfaktoren beschreiben kann, die laut Nietzsche fur den durch doppelte Naturbeherrschung gekennzeichneten Emanzipationsprozeß des Menschen und seine aktuellen soziokulturellen und politischen Auswirkungen verantwortlich sind, ist die Psychologie „der Weg zu den Grundproblemen".105 Die Arbeit an dieser Inthronisierung der Psychologie wurde von einem Schüler Nietzsches fortgesetzt, der jedoch Nietzsches Wunsch nach , Jüngern", die ihn zuvor verleugnet hätten,106 Folge leistete: Sigmund Freud.

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Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 206. Ottmann 1985 b, S. 26. Hierin sieht Ottmann eine Überwindung des unbedingten Willens zur Macht (ebd., S. 31; vgl. Kaulbach 1981/1982, S. 449 f.). Es sei „Nietzsches Absicht gewesen, den .Willen zur Macht' zu einem zweifachen Einverständnis zu bewegen: zu einem Einverständnis mit einer unverfügbaren Geschichte wie mit einer unverfügbaren Natur." Nietzsches Übermensch ist demnach mehr „Mitspieler der Natur" als „.Herr der Erde'" (Ottmann 1987, S. 392 ff.). Dies ist sicher zutreffend und ein wichtiger Hinweis angesichts der zum Teil immer noch tendiziösen, in falsch verstandener Richtung „antifaschistischen Nietzsche-Rezeption". Auf eine ausführliche Weiterführung einer ökologischen Lesart Nietzsches wird jedoch an dieser Stelle verzichtet, da ihre Aktualität zu offensichtlich mit Nietzsches Anliegen ausgangs des 19. Jahrhunderts kontrastiert, als ökologische Probleme noch nicht im globalen Maßstab erkennbar waren. Nietzsche 1988, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 38 f. Nietzsche 1988, Bd. 6: Der Antichrist, S. 261.

3. „Am Anfang war der Mord" /: Die Zivilisationstheorie Sigmund Freuds

In seiner 1925 verfaßten „Selbstdarstellung" bestreitet Freud, Nietzsches Schriften bereits gekannt zu haben, als er die zentralen Gedanken der Psychoanalyse entwickelte: Nietzsche, den anderen Philosophen [neben Schopenhauer, K.F.], dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich [... ] lange gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit."1

Die von Freud zugegebene weitreichende Deckungsgleichheit vieler Theoreme Nietzsches mit der Psychoanalyse müßte einen schier unglaublichen und ideengeschichtlich einmaligen Fall von Kongenialität, ja gedanklicher Kongruenz bilden, und es bedarf keiner großen Vertrautheit mit der Freudschen psychoanalytischen Methode, um dieses kunstvolle Dementi Freuds gerade als unfreiwillige Bestätigung des großen Einflusses zu erkennen, den Nietzsche auf ihn hatte, denn zu banal und offensichtlich ist Freuds Schritt in die logische Falle: Wie hätte er, der aus Sorge um seine Unbefangenheit auf das Studium Nietzsches verzichtet haben will, überhaupt zu dieser Sorge kommen sollen, wie hätte er Entsprechungen zwischen Nietzsches Ahnungen und Einsichten und seinen eignen Theoremen vermuten können, wenn nicht durch intensiveren Kontakt mit den Schriften Nietzsches?2 Bereits in der Studienzeit erhielt Freud Kenntnis von Nietzsche.3 Schon in Nietzsches 1878 erstmals erschienenem Werk Menschliches, Allzumenschliches finden sich regel1 Freud 1940ff, Bd. 14: „Selbstdarstellung", S. 86. 2 Vgl. entsprechend bereits Dorer 1932, S. 62 f. Gasser 1997, S. 5 f., streift diese Überlegung, entschließt sich aber, sie nicht wirklich ernst zu nehmen und ist insgesamt, nach minutiöser, gut siebenhundertseitiger historischer und theoretischer Analyse, bemüht, die Unterschiede zwischen Nietzsche und Freud stärker zu betonen als die Gemeinsamkeiten, um Freud von jedem Plagiatsverdacht freizusprechen. Es ist aber gar nicht einzusehen, wieso die einzige Alternative darin bestehen soll, Freud entweder zu glauben, daß er Nietzsche bewußt gemieden habe oder ihn als Plagiator zu diskreditieren. Unausgewiesene Lektüre und unterschwellige Beeinflussungen, wie sie uns im Falle Webers und Adornos wiederum mit Bezug auf Freud begegnen werden und die Ausbildung der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik insgesamt charakterisieren, bilden keinen moralisierbaren Plagiatstatbestand. Die Größe und wissenschaftliche Bedeutung Freuds nähme durch den Nachweis seiner Beeinflußung durch Nietzsche keinen Schaden, zumal erst Freud tiefenpsychologische Intuitionen wissenschaftlich systematisierte. 3 Gasser 1997, S. 7 ff; Gay 1995, S. 58; Montinari 1991, S. 96; Venturelli 1984, S. 473 ff. Eine besonders wichtige, personal vermittelte Verbindung zu Nietzsche erhielt Freud später über Lou Andreas-Salomd, vgl. Gasser 1997, S. 74 ff; Gay 1995, S. 220 f.

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rechte Antizipationen der späteren Entdeckungen Freuds. So stellt Nietzsche elaborierte Überlegungen zur „Logik des Traumes" an, operiert mit dem Begriff „Sublimierung" und bemerkt, ein Witz sei „das Epigramm auf den Tod eines Gefiihls" - ein Gedanke, den Freud fast 30 Jahre später in seiner Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten reformulieren sollte.4 Für die hier erörterte Fragestellung ist jedoch weniger die Vorbereitung zentraler individualpsychologischer Theoreme und psychoanalytischer Grundbegriffe durch Nietzsche relevant, als vielmehr die nachfolgend rekonstruierte Art und Weise, in der Freud Nietzsches Forderung realisiert, die Psychologie zur „Grundwissenschaft" zu erheben und in Übereinstimmung mit dessen Denkmotiven die Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik weitertreibt. Während Nietzsche die Begriffe Kultur und Zivilisation uneinheitlich gebrauchte, indem er sie teils synonym und teils als Gegensatzpaar verwendete, lehnt Freud es ausdrücklich ab, zwischen Zivilisation und Kultur zu differenzieren.5 Anders als Nietzsche kannte Freud bereits Stoßrichtung und Wirkung des spezifisch deutschen und zumal in Kaiserreich und Weimarer Republik verbreiteten Topos, die angeblich höhere Kultur, die natürlich mit der deutschen Kulturtradition identifiziert wurde, zu kontrastieren mit einer bloßen Zivilisation, die insbesondere den westlichen Nachbar- und Konkurrenzvölkern Frankreich und Großbritannien und zunehmend auch den Vereinigten Staaten von Amerika attestiert wurde. Diese verbreitete und folgenreiche deutschnationale Konstruktion einer Antithetik zwischen Kultur und Zivilisation insinuiert, daß die westliche Zivilisation kaum mehr sei als eine Uberwindung des rohen Naturzustandes, während insbesondere mit der deutschen Kultur alles das zu verbinden sei, was den bildungsbürgerlichen Vorstellungen einer wirklichen geistigen Höherentwicklung des Menschen gegenüber seinen animalischen Ursprüngen genügt: Wissenschaft, Bildung, schöne Künste und eine bürgerlich-patriotische Gesinnung.6 Dieser über das Terminologische weit hinausgehenden Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation widerstreitet Freud nicht nur akklamatorisch, sondern mit dem Kerngehalt seiner Theorie, welche die Uberwindung der archaischen, animalischen Wurzeln des Menschen im Zivilisationsprozeß für ausgeschlossen hält und deren untergründige Fortexistenz in jedweder menschlichen Kultur untersucht. Indem er die Persistenz und Aktualität urzeitlicher Mechanismen in der modernen Gesellschaft betont, setzt Freud die von Nietzsche ausgehende Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik fort.

4 Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 32 ff.; S. 23 f.; S. 466; Freud 1974 ff., Bd. 4, S. 9 ff Vgl. zur Antizipation der Psychoanalyse bei Nietzsche Assoun 1980, S. 52 ff, 226 ff, 281 ff; Figl 1996- Irion 1992, bes. S. 49; Kaiser-El-Safti 1987, S. 268 ff, 307; Kaufmann 1978; Roazen 1991, S. 332 f , sowie, mit berechtigtem Anspruch auf Vollständigkeit, Gasser 1997, S. 179 ff. 5 Freud 1974 ff., Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 140; Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 605; Bd. 9: Warum Krieg?, S. 285. 6 Vgl. hierzu insgesamt Bollenbeck 1994. Ein herausragendes Zeugnis dieser Geisteshaltung bilden Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (Mann 1988).

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3.1. Die zivilisatorische Reziprozität von innerer und äußerer Naturbeherrschung Die von Nietzsche thematisierte doppelte Naturbeherrschung - also die Abhängigkeit der äußeren Naturbeherrschung von der durch das Individuum selbst geleisteten Triebkontrolle, der inneren Naturbeherrschung - bestimmt auch das Freudsche Kulturmodell.7 Nietzsche versteht die innere Naturbeherrschung qua Selbstkontrolle als zivilisatorische Ermöglichungsbedingung der menschlichen Herrschaft über seine natürliche Umwelt und stellt bei seiner Problematisierung des dialektischen Umschlagens der doppelten Naturbeherrschung insbesondere auf die vermeintlich verfehlte Triebkontrolle ab. Freud übernimmt von Nietzsche die These von der konstitutiven Bedeutung der inneren Naturbeherrschung für die äußere, geht jedoch von einer reziproken Funktion beider für die menschliche Zivilisation aus, derzufolge die Machtposition des Menschen gegenüber Naturgewalten und anderen Kreaturen Rückwirkungen auf die sozialen Beziehungen mit seinesgleichen hat. Als Kultur definiert Freud „all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet".8 Die „Hauptaufgabe der Kultur, ihr eigentlicher Daseinsgrund" besteht folglich darin, „uns gegen die Natur zu verteidigen"9 - allgemeiner formuliert: in der Erlangung und Aufrechterhaltung des menschlichen Machtvorsprungs auf Erden. Möglich ist diese Zivilisationsleistung des Menschen aber nur dadurch, daß er sich unkontrolliertes Triebhandeln versagt und so zu einem zweckrational kalkulierten Umgang mit seinen äußeren Lebensbedingungen fähig wird. Dazu gehört insbesondere der Gewaltverzicht im sozialen Leben, die Bereitschaft, Verteilungskonflikte hinsichtlich Gütern, die nicht zuletzt der Ausbeutung natürlicher Ressourcen entstammen, friedlich zu lösen. Einer Bemerkung Freuds zufolge war derjenige, der erstmals statt eines Speers ein Schimpfwort nach seinem Feind schleuderte, der wahre Begründer der Kultur.10 Die äußere und die innere, durch Gewaltverzicht untereinander gekennzeichnete Naturbeherrschung machen demnach die beiden kulturrelevanten Leistungen des Menschen aus: „Die menschliche Kultur [...] umfaßt einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, andererseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln."11

In Übereinstimmung mit Nietzsche bestimmt also auch Freud die „Selbstdomestikation der Menschen" als conditio sine qua поп der Kulturentwicklung.12 Die Kultur erscheint

7 8 9 10 11 12

Vgl. zu seiner Entwicklung Erdheim 1990. Freud 1974ff, Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 139 f. Ebd., S. 149. Gay 1995, S. 614. Freud 1974 ff., Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 140. Rath 1988, S. 221.

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gleichsam als sedimentierter Triebverzicht, der möglich wird, indem die elementaren Triebbedürfiiisse und -neigungen verdrängt, unterdrückt oder sublimiert werden: „Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder Einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden."13

Das Freudsche Modell des Zivilisationsprozesses ist „das des Tauschs der Freiheit einer uneingeschränkten Trieberfiillung gegen die Sicherheit einer eingeschränkten Trieberfullung".14 In dieser Hinsicht weist die Freudsche Kulturtheorie, ebenso wie diejenige Nietzsches, Parallelen zu Thomas Hobbes' hypothetischer Rekonstruktion der sozialen Urszene und der Gründe für den Eintritt in den Gesellschaftszustand auf. Wie Nietzsche, der ausdrücklich auf den bellum omnium contra omnes Bezug nimmt,15 spricht Freud von der Notwendigkeit, die natürliche „Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen" kulturell einzuhegen und stellt mit dem berühmten Hobbes zugeschriebenen Plautus-Zitat die rhetorische Frage: ,flomo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?"16 Neben die gewissermaßen sicherheitspolitische Funktion der menschlichen Vergemeinschaftung tritt zudem eine ökonomische, die dieselbe Triebkontolle erfordert: „Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken. Also die ewige, urzeitliche, bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot."17

Wenn man von einer natürlichen Feindseligkeit des Menschen seinen Artgenossen gegenüber ausgeht, muß die zum Gewaltverzicht fuhrende Selbstdomestikation der Triebversuchungen als eine um so größere, aber auch fragile und evolutionär unwahrscheinliche Leistung angesehen werden. Freud ist auf die Frage verwiesen, welcher Mittel sich die Kultur bedient, „um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten". Diese Überlegung verfolgt er in Analogie zu seiner Theorie der Über-Ich-Bild\mg und identifiziert dadurch die individuelle Entwicklungsgeschichte mit derjenigen der Gattung: „Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als ,Gewissen' gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Ober-Ich und dem ihm unterworfenen Ich 13 Freud 1974 ff.Bd. 9: Die „kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität, S. 18. Sublimierung ist, den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie zufolge, die Regulierung des Sexualtriebs und bezeichnet den Vorgang, durch den er auf ein neues, nicht sexuelles Ziel abgelenkt wird und sich auf ein neues, nicht sexuelles Objekt richtet {Freud 1940 ff., Bd. 5, S. 27 ff!). Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 23 f. 14 Schmid Noerr 1993, S. 329. Vgl. Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 243. 15 Nietzsche 1988, Bd. 7: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, S. 344-10 [1]. Vgl. Hobbes 1984, S. 96 ff. 16 Freud 1974 ff, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 249; 241. Vgl. zu den Nähen zwischen Freud und Hobbes Waibl 1980. 17 Freud 1974 ff, Bd. 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 308.

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3. „Am Anfang war der Mord" I: Sigmund Freud heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfiiis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt."1'

An dieser Passage ist dreierlei auffällig. Zum einen personalisiert Freud die Kultur geradezu zu einem handelnden Subjekt. Genauso wie das Ausleben aggressiver Triebenergien ein - wie auch immer naturwüchsig determiniertes - menschliches Verhalten ist, so ist es auch sein Triebverzicht, seine Entscheidung für zivilisiertes Verhalten, für die Kultur. In Freuds Formulierung aber erscheint die Kultur beinahe als gegenüber dem Menschen verselbständigte Kontrollkraft wider den Rückfall in vorzivilisatorische Wildheit. Gegenüber dieser Sprachwahl - an anderer Stelle formuliert Freud, der „Prozeß der Kulturentwicklung" sei „einem organischen Vorgang vergleichbar"19 - ist zu betonen, daß es die Konsequenz des Freudschen Modells ist, daß die Kultur gerade nicht über Selbstschutzmechanismen verfugt, die unabhängig vom Bewußtseinsstand der ihr unterworfenen Menschen funktionieren, sondern immer von der Dezision für Triebverzicht abhängt. Bereits an dieser Stelle behauptet Freud also eine Übereinstimmung von Phylogenese und Ontogenese gemäß dem biogenetischen Grundgesetz Ernst Haeckels.20 Freud erweitert die Behauptung einer „Analogie zwischen dem Kulturprozeß und dem Entwicklungsweg des Individuums" sogar noch um die Behauptung, „daß auch die Gemeinschaft ein Überleb ausbildet, unter dessen Einfluß sich die Kulturentwicklung vollzieht."21 „Immer klarer erkannte ich, daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Ober-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt."22

Dies verstärkt die Dringlichkeit der vorstehenden Betonung, daß es die Pointe des Freudschen Modells ausmacht, gerade keine essentielle, organizistisch verstandene Unabhängigkeit der quasi-selbstbewußten Kultur zu proklamieren, sondern deren Fragilität und Abhängigkeit von einem stets aufs neue zu reproduzierenden Konsens der Menschen, den erreichten Zivilisationsstand bewahren und Triebverzicht üben zu wollen. 18 Freud 1974 ff, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 250. Ursprünglich ist also das Gewissen „Ursache des Triebverzichts, aber später kehrt sich das Verhältnis um. Jeder Triebverzicht wird nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge [...]: Der (uns von außen auferlegte) Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert." (Ebd., S. 255). 19 Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 605. 20 Freuds Parallelisierung von Phylogenese und Ontogenese, zu der er sich in den Drei Abhandlungungen zur Sexualtheorie ganz ausdrücklich bekennt (Freud 1940 ff., Bd. 5, S. 29 f.), ist ein beliebter Kritikpunkt. Görlich / Lorenzer, S. 190, bezeichnen sie gar als Mystifikation. Im Gegensatz hierzu verteidigt Schülein 1975, S. 128 ff., unter Verweis auf Freuds Schrift Über den Gegensinn der Urworte (Freud 1940 ff, Bd. 8, S. 213 ff.) die Logik des Ansatzes. Vgl. Irion 1992, S. 186 ff. u. Ricoeur 1993, S. 199, der von der „globalen Erkenntnis eines Zusammenfallens von Einzelerfahrung und Universalschicksal" als Freuds tiefer Motivation fllr eine Verschränkung von Ontogenese und Phylogenese spricht. Vgl. ebd., S. 413 ff.; zum zeitgeschichtlichen und biographischen Hintergrund Freuds ferner Schneider 1994 und zur Idee einer Übereinstimmung von Phylo- und Ontogenese Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 224 f. 21 Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 266. 22 Freud 1940ff, Bd. 16: Nachschrift (zur Selbstdarstellung) 1935, S. 32 f.

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Auffällig ist das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen den kulturtheoretischen Überlegungen Freuds und entsprechenden Theoremen Nietzsches, das beinahe dazu verleiten könnte, von einer Paraphrasierung der Genealogie der Moral durch Freud zu sprechen. Nahezu alle wesentlichen Elemente der Freudschen Theorie, mit welchen Mitteln die Wahrung der Kultur gegen ihre archaische Regression erfolgt, sind bereits bei Nietzsche aufzufinden. So erscheint sowohl Freud als auch Nietzsche die Introjektion der Triebenergie als entscheidende Erfolgsbedingung für die Selbstdomestikation des Menschen, der, um in dem von Freud gewählten Bild zu bleiben, um so dauerhafter und gründlicher „entwaffnet" wird, als er diese Pazifizierung qua Gewissenssteuerung selber vornimmt. Für die Bezeichnung dieses Vorgangs als Verinnerlichung des Menschen reklamiert Nietzsche die Urheberschaft, und Freud übernimmt diesen Begriff sinngleich. Mit der Introjektion der Aggressionsenergie gegen das Ich ist die stärkste Triebhemmung zu erzielen, die überhaupt denkbar ist, denn durch sie wird nur die Aggressionsrichtung verändert, während deren Stärke unverändert bleibt, so daß es das Erfolgsrezept dieser Verinnerlichung ausmacht, keine kompensatorische Gegenenergie zum menschlichen Aggressionstrieb aufbauen zu müssen. Die Kultur nutzt nach Art bestimmter Selbstverteidigungstechniken den Schwung der angreifenden destruktiven Triebe und wendet sie gegen diese selbst. Wie Nietzsche subsumiert auch Freud diesen Mechanismus unter den Begriff des Gewissens, das er lediglich im Rahmen seines psychischen Instanzenmodells als Ober-Ich weitergehend systematsiert und terminologisch neu faßt.23 Auch hinsichtlich der konkreten psychischen Wirkung des Gewissens besteht Übereinstimmung zwischen Nietzsche und Freud: Es ist ein Schuldbewußtsein, das die Wirkung des Über-Ichs - in Nietzsches Sprache: des schlechten Gewissens - ausmacht, und es äußert sich für gewöhnlich als Strafbedürfiiis.24 Insoweit es die tiefenpsychologische Grundlage des Triebverzichts bildet, ist das Schuldgefühl gar „das wichtigste Problem der Kulturentwicklung".25 Schließlich folgt Freud Nietzsche auch darin, die Minderung der Aggressionslust des Individuums als dessen Schwächung zu bezeichnen. Dies ist jedoch lediglich eine sprachliche Übereinstimmung, denn im Unterschied zu Nietzsche hält Freud diese Überlebenstaktik der Kultur für positiv und unproblematisch. Während Nietzsche die kranke Bestie Mensch für das weitaus gefährlichste Wesen hält und an dessen Pathologie die Dialektik der doppelten Naturbeherrschung exemplifiziert, sieht Freud zu fortschreitender innerer und äußerer Naturbeherrschung keine Alternative. Hiermit wird klar, worin Freuds Modell von Nietzsches Ansatz abweicht: Freud teilt zwar mit Nietzsche den zivilisationstheoretischen Ansatz, der die seit jeher bekannten Kulturphänomene und -probleme des menschlichen Naturverhältnisses und zwischenmenschlichen Umgangs auf einer tieferen, transhistorischen Ebene erfassen möchte als die herkömmlichen Kulturtheorien dies vermögen; Freud verkehrt aber die kulturkritische Ausrichtung dieser zivilisationstheoretischen Perspektive, indem er keinen dialektischen Verlauf des Prozesses erkennt. Während Nietzsche den dialektischen Umschlag der äußerlich erfolgsträchtigen Elemente des Zivilisationsprozesses selber thematisiert und zur Kritik an aktuellen Kulturerscheinungen 23 24 25

Vgl. Nietzsches „Hypothese über den Ursprung des .schlechten Gewissens'", in: Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 321 ff. Vgl. ebd., S. 375. Freud 1974, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 260.

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kommt, insofern er diesen nachweist, eine Erscheinungsform der Dialektik menschlicher Naturbeherrschung zu sein, hält Freud die Wirkungsweise des Kulturprozesses für unproblematisch. Seine kulturkritische Konsequenz aus der mit Nietzsche geteilten zivilisationstheoretischen Perspektive besteht vielmehr darin, die ungenügende Verwirklichung zivilisatorischer und zivilisierender Faktoren zu bemängeln. Freuds Perspektive ist nicht das dialektische Umschlagen der siegreichen doppelten Naturbeherrschung, sondern die stetige Gefährdung ihres Erfolges und die Reproduktion ihrer Erfolgsbedingungen. Freud behauptet gar eine positive Reziprozität zwischen den beiden Aspekten menschlicher Naturbeherrschung. Danach ist die Kontrolle und Nutzung der natürlichen Umwelt des Menschen nicht nur abhängig von einer gelungenen Triebkontrolle des Menschen und deren vorrangigem Effekt einer friedlichen Organisation der menschlichen Koexistenz, sondern Ausmaß und Ausgestaltung der äußeren Naturbeherrschung haben direkte Rückwirkungen auf die soziale Existenz der Menschen. Sie kann deren Gewaltfreiheit sowohl begünstigen wie auch gefährden, insofern die Menschen die durch „die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte [...] neugewonnenen Machtmittel immer auch in den Dienst ihrer Aggression stellen und gegeneinander verwenden." Ob sie zum Gewinn oder zum Risiko werden, ist historisch kontingent, und Freud sieht sich nicht einmal in der Lage, Bedingungsfaktoren für den einen beziehungsweise den anderen Fall anzugeben. In jedem Fall macht er seine Einschätzung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung vom Stand der reziprok aufeinander verwiesenen beiden Seiten der menschlichen Naturbeherrschung abhängig. Damit bleibt nicht nur die zwischenmenschliche Gewaltausübung ein nie vollständig lösbares Problem, sondern jegliche weitere Kulturentwicklung sieht Freud in existentieller wie essentieller Abhängigkeit von den reziproken zivilisationstheoretischen Faktoren der doppelten Naturbeherrschung: , 3 s liegt mir [...] daran, Sie aufmerksam zu machen, daß das Verhältnis des Menschen zur Beherrschung der Natur, der er seine Waffen zum Kampf gegen seinesgleichen entnimmt, notwendigerweise auch seine ökonomischen Einrichtungen beeinflussen muß. [...] Die Zukunft wird es lehren, vielleicht wird sie zeigen, daß der Versuch vorzeitig unternommen wurde, daß eine durchgreifende Änderung der sozialen Ordnung wenig Aussicht auf Erfolg hat, solange nicht neue Entdeckungen unsere Beherrschung der Naturkräfte gesteigert und damit die Befriedigung unserer Bedürfnisse erleichtert haben. Erst dann mag es möglich werden, daß eine neue Gesellschaftsordnung nicht nur die materielle Not der Massen verbannt, sondern auch die kulturellen Ansprüche des Einzelnen erhört. Mit den Schwierigkeiten, welche die Unbändigkeit der menschlichen Natur jeder Art von sozialer Gemeinschaft bereitet, werden wir freilich auch dann noch unabsehbar lange zu ringen haben."26

Anders als Nietzsche ist Freud also weit davon entfernt, eine Hybris im menschlichen Naturverhältnis zu entdecken. Die menschliche Machtausübung gegenüber seiner natürlichen Umwelt erscheint ihm nicht nur an und für sich unproblematisch,27 sondern er erhofft von ihrer weiteren Ausdehnung sogar positive Wirkungen im soziokulturellen Bereich: „Es ist einer der wenigen erfreulichen und erhebenden Eindrücke, die man von der Menschheit haben kann, wenn sie angesichts einer Elementarkatastrophe ihrer Kulturzerfahrenheit, aller inneren

26 27

Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 607 f Vgl. Schülern 1975, S. 167.

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Schwierigkeiten und Feindseligkeiten vergißt und sich der großen gemeinsamen Aufgabe, ihrer Erhaltung gegen die Obermacht der Natur, erinnert."28

Diese Utopie Freuds erinnert an die spätere Illusion seines Briefpartners aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, Albert Einstein, der annahm, im Schatten der Atombombe rücke die Menschheit zusammen. Cum grano salis war Einsteins Fehleinschätzung zu Beginn des Kalten Krieges die Zukunft einer Illusion Freuds. Wie die Beherrschung seiner triebhaften Natur die Voraussetzung für die Errichtung der menschlichen Herrschaft über die natürliche Umwelt bildet, vermag dieses Machtstreben, Freud zufolge, auch die Bereitschaft der Menschen zur friedlichen Koexistenz untereinander und damit zum Verzicht auf aggressive Konfliktaustragung zu begünstigen: „Nachdem der Urmensch entdeckt hatte, daß es - wörtlich so verstanden - in seiner Hand lag, sein Los auf der Erde durch Arbeit zu verbessern, konnte es ihm nicht gleichgültig sein, ob ein anderer mit oder gegen ihn arbeitete. Der andere gewann für ihn den Wert des Mitarbeiters, mit dem zusammen zu leben nützlich war."29

Aufgrund der Reduzierung seines Kulturbegrifls auf einen „Mechanismus der Naturbeherrschung und der sozialen Regularität"30 thematisiert Freud keine Dialektik der doppelten Naturbeherrschung, sondern eine Reziprozität zwischen beiden Teilaspekten derselben, wonach die äußere Naturbeherrschung prinzipiell positiv als ergänzender Faktor der Gewalttabuisierung erscheint. Ungeachtet der Überlegungen zu den kulturellen Mechanismen der Gewalteinhegung erfordert es die zivilisationstheoretische Perspektive, die Freud einnimmt und zu der sein Denkansatz keinerlei adäquate Alternative zuläßt, zu erwägen, wie überhaupt das Gewalttabu als grundlegendes Charakteristikum des Zivilisationsprozesses entstanden sein könnte und auf welche elementaren zivilisationspsychologischen Mechanismen noch heute zu achten ist. Die zivilisationspsychologische Herleitung des kulturellen Gewalttabus unternimmt Freud in seinem 1913 vollendeten Essay Totem und Tabu - einem hinsichtlich seiner sozialwissenschaftlichen Relevanz bislang vernachlässigten Text.

3.2. Eine zivilisationspsychologische Herleitung des kulturellen Gewaltverzichts: Totem und Tabu In Totem und Tabu versucht Freud zu bestimmen, warum und auf welche Weise der gerade seiner tierischen Wiege entwachsene Mensch den Schritt in die Zivilisation tat, indem er sich jene Tabus auferlegte, die für alle menschlichen, und das heißt nicht mehr instinkt-

28 29 30

Freud 1974 ff, Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 150. Freud 1974 ff, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 229. Später erotisiert die Kultur diese Vorteile, um sie dauerhaft sicherzustellen, vgl. ebd., S. 249. Schmid Noerr 1993, S. 341.

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gebundenen und rein triebgesteuerten Gesellschaften, typisch und notwendig sind - vor allem das elementare Tabu gegenseitiger Gewaltausübung.31 In Anlehnung an verschiedene ethnologische Studien, insbesondere einige Arbeiten von W. Robertson Smith und James G. Frazer, entwickelte Freud die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen Totemismus und Tabu in sogenannten primitiven Kulturen: „Die ältesten und wichtigsten Tabuverbote sind die beiden Grundgesetze des Totemismus: das Totemtier nicht zu töten und den sexuellen Verkehr mit dem Totemgenossen des anderen Geschlechts zu vermeiden. Das müßten also die ältesten und stärksten Gelüste der Menschen sein."32

Denn, so Freuds von Nietzsche übernommene, psychologisch einleuchtende Erklärung: Wo ein Verbot ausgesprochen ist, muß es sich auf ein starkes Begehren richten: „Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten, es schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag."33

Naheliegenderweise haben die Tabuvölker zu ihren Tabuverboten „eine ambivalente Einstellung; sie möchten im Unbewußten nichts lieber als sie übertreten, aber sie furchten sich auch davor".34 Diese Einsichten in die Eigenart des Tabus bestärken Freuds Nietzscheanisches Verständnis von der Entstehung und Wirkungsweise des Gewissens: „Man kann ohne Dehnung der Begriffe von einem Tabugewissen und von einem Tabuschuldbewußtsein nach Übertretung des Tabu sprechen. Das Tabugewissen ist wahrscheinlich die älteste Form, in welcher uns das Phänomen des Gewissens entgegentritt. [...] Gewissen ist die innere Wahrnehmung von der Verwerfung bestimmter in uns bestehender Wunschregungen; [...]. Diesen nämlichen Charakter zeigt aber das Verhalten der Wilden gegen das Tabu; das Tabu ist ein Gewissensgebot, seine Verletzung läßt ein entsetzliches Schuldgefühl entstehen, welches ebenso selbstverständlich wie nach seiner Herkunft unbekannt ist."35

Bis hierhin sind Freuds Erkenntnisse ebenso plausibel wie unspektakulär und bestätigen lediglich seine bereits früher ausgearbeiteten allgemeinen zivilisationstheoretischen Annahmen. An dieser Stelle stellt er jedoch eine Verbindung her zu einem zentralen psychoanalytischen Theorem, dem Ödipuskomplex, woraus sich ein neuer, weitreichender Interpretationsansatz hinsichtlich der zivilisationspsychologischen Genealogie des Gewalttabus ergibt. Nach Freud ist der Ödipuskomplex - der Wunsch des männlichen Kindes,36 den Vater zu beseitigen, um die Mutter ganz zu besitzen - aufgrund seiner narzißtischen Vor31

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33

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Geschichte, Theorie, Kontext und Rezeption von Totem und Tabu werden ausführlich, zuverlässig und verständig dargestellt von Wallace 1983\ vgl. ferner Gasser 1997, S. 280 f f , der einen Vergleich zu Nietzsches Theorem der Sittlichkeit der Sitte herstellt. Freud 1974 ff., Bd. 9: Totem und Tabu, S. 323 f. Vgl. ebd., S. 296: In der Regel ist der Totem „ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht." Freud 1974 ff., Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 56. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 11 (1 [19]): „Wenn es nicht verboten ist: ,du sollst nicht morden!' - in ganzen Perioden hat das innere Gefühl nichts gegen den Mord einzuwenden." Freud 1974ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 323. Ebd., S. 357 f. Freuds schwierige und ungleich umstrittenere Übertragung dieses Theorems auf die weibliche Sexualentwicklung muß und kann an dieser Stelle ausgespart werden.

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aussetzung, der Kastrationsangst, das heißt der Furcht, vom eifersüchtigen Vater für den Wunsch mit Kastration bestraft zu werden, die wichtigste Quelle des Schuldbewußtseins und damit der Entwicklung des Gewissens, des Über-Ichs. Schließlich gibt der Sohn den aussichtslosen Kampf mit dem Vater nach und nach auf und identifiziert sich mit ihm. Gemäß seiner bereits erwähnten Neigung, Phylogenese und Ontogenese zu verschränken, überträgt Freud dieses psychoanalytische Theorem zur individuellen psychosexuellen Entwicklung und Sozialisation auf den Zivilisationsprozeß.37 Einer Analyse von Sandor Ferenczi verdankte Freud die Kenntnis eines Falles von positivem Totemismus bei einem Kinde, das seine ödipale Eifersucht auf den Vater und seine Kastrationsangst auf ein nach einem zufälligen Erlebnis gewähltes tierisches Objekt übertrug und diesem gegenüber alle an sich auf den Vater gerichteten Verhaltensweisen auslebte: intensives Interesse, vor allem aber Schlachtungsphantasien und -rituale. Der kleine Ärpäd ließ dabei insbesondere eine starke Gefuhlsambivalenz erkennen, wenn er - wie es auch bei Schlachtungsritualen von Naturvölkern zu beobachten ist - den geschlachteten Tieren (Hühnern) gegenüber libidinös reagierte und Entschuldigungsrituale andeutete.38 Freud schließt daraus psychoanalytisch, daß das Totemtier den Vater repräsentiert und die Kinder, die „Primitiven der Gegenwart",39 einen gattungsgeschichtlich verwurzelten, tiefenpsychologischen Mechanismus in ihrer Individualentwicklung wiederholen. Durch dieses Theorem erklärt sich der zumal in archaischen und mythisch orientierten Kulturen bedeutsame Opferritus, bei dem bevorzugt ein Totemtier getötet wird, sowie die soziokulturelle Funktion von Festen, insbesondere ihre bereits von Nietzsche beschriebene Tendenz zum Exzeß und zu wie auch immer sublimierter Grausamkeit: „Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes. Nicht weil die Menschen infolge irgendeiner Vorschrift froh gestimmt sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzeß liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt. Was soll aber die Einleitung zu dieser Festesfreude, die Trauer über den Tod des Totemtieres? Wenn man sich über die Tötung des Totem, die sonst versagt ist, freut, warum trauert man auch über sie? [...] Die Psychoanalyse hat uns verraten, daß das Totemtier wirklich der Ersatz des Vaters ist, und dazu stimmte wohl d a Widerspruch, daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß seine Tötung zur Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet und es doch betrauert."40

Freuds eigentliches Interesse gilt aber nicht dem Totemismus als solchem, sondern den „Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen", und so hofft er, über die Ermittlung der urgeschichtlichen Entstehungsbedingungen des Totemismus eine Rekonstruktion der sozialen, genauer gesagt der zivilisatorischen Urszene vornehmen und damit die Frage klären zu können, wie das für die menschliche Kultur konstitutive Gewaltverbot zivilisationspsychologisch zustande kam. 37 Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalayse, S. 522, äußert die Vermutung, daß „in den Urzeiten der menschlichen Familie [...] die Kastration vom eifersüchtigen und grausamen Vater wirklich an den heranwachsenden Knaben vollzogen" wurde - „die Beschneidung, die bei den Primitiven so häufig ein Bestandteil des Mannbarkeitsrituals ist, sei ein gut kenntlicher Rest von ihr". 38 Ferenczi 1970, S. 164 ff. Vgl. Freud 1974ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 415 ff 39 Freud 1974 ff., Bd. 9: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 530. 40 Freud 1974ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 425.

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3. „Am Anfang war der Mord" I: Sigmund Freud „Wenn das Totemtier der Vater ist, dann fallen die beiden Hauptgebote des Totemismus, die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus [...] und mit den beiden Urwünschen des Kindes [...]. Sollte diese Gleichung mehr als ein irreleitendes Spiel des Zufalls sein, so müßte sie uns gestatten, ein Licht auf die Entstehung des Totemismus in unvordenklichen Zeiten zu werfen. Mit anderen Worten, es müßte uns gelingen, wahrscheinlich zu machen, daß das totemistische System [und also das Gewalttabu, K.F.] sich aus den Bedingungen des Ödipuskomplexes ergeben hat."41

Einen entscheidenden Bestandteil dieses Erklärungsversuchs findet Freud in Darwins Theorem einer menschlichen Urhorde. Ihm zufolge lebte die Menschheit in ihrer postanimalischen Frühzeit unter der Herrschaft eines starken Männchens, welches alle heranwachsenden Söhne aus Eifersucht getötet oder vertrieben hat. Der „entscheidende Schritt zur Änderung dieser ersten Art von ,sozialer' Organisation soll gewesen sein, daß die vertriebenen, in Gemeinschaft lebenden Brüder sich zusammentaten, den Vater überwältigten und ihn nach der Sitte jener Zeiten roh verzehrten."42 Das war das Ende der patriarchalischen Urhorde. In der Folge trat nun aber bei dem über seinen Urvater siegreichen Brüderclan ein psychischer Mechanismus zutage, der eine einfache Umstrukturierung der Machtverhältnisse nach überkommenem Schema, das heißt die Machtübernahme durch ein neues patriarchalisches Männchen, verhinderte. Die Wirksamkeit dieses Mechanismus vermag das schon aus Aischylos' Orestie bekannte und für Freud wesentliche Problem zu erklären, was „den Vatermord als wiederholbares Verbrechen" unterbindet und wie aus dem Vatermord das Verbot des Brudermordes entstehen konnte.43 Es

41 42

Ebd., S. 416 f., 425. Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 530. Freuds Behauptung der historischen Realität dieses Urverbrechens ist heftig kritisiert worden, vgl. stellvertretend Freeman 1969. Diese Hypothese ist jedoch für Freuds Argumentation keineswegs wesentlich und die Kritik an ihr daher obsolet, vgl. Gay 1995, S. 377: „Schuldgefühle können durch weniger phantasievolle, wissenschaftlich annehmbarere Mechanismen weitergegeben werden. Neurotiker phantasieren, wie Freud in Totem und Tabu hervorhob, von ödipalen Tötungen, fuhren sie aber nie aus. [...] Hätte er seine verblüffende Geschichte nicht als Tatsache dargestellt, sondern als Phantasie, welche die jungen Männer in ihrer Konfrontation mit ihren Eltern durch die Jahrhunderte heimsuchte, so wäre er ohne seine Lamarcksche These [des kollektiven Menschheitsgedächtnisses, K.F.] ausgekommen. Die Allgegenwärtigkeit des Familienerlebnisses, der intimen Rivalitäten und gemischten Gefühle - kurz, der allgegenwärtige Ödipuskomplex - wäre ausreichend gewesen, um das ständige Auftreten von Schulgefühlen zu erklären und sie vollkommen in seine Theorie der Psyche einzugliedern." Mit gleichem Tenor Kroeber 1939/1940, S. 447 (vgl. kontrastiv noch Kroeber 1920)\ Fox 1973, S. 230 ff. Vgl. ferner Muensterberger 1974 b und Muensterberger 1974 c. In diesem Fall wäre die zivilisatorische Urszene aus Totem und Tabu vergleichbar mit dem Hobbesschen Naturzustand (Schmid Noerr 1993, S. 332), der auch keine historische Realität beschreiben soll, sondern „ein bloßes Konstrukt der resolutiv-kompositiven Methode" darstellt, das als notwendige Fiktion das absolutistische Herrschaftsmodell via negativa begründen soll (Münkler 1993, S. 10 f.). Vgl. Jones I960 ff., Bd. 2, S. 413 ff. In Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1974 ff, Bd. 9, S. 258) scheibt Freud schließlich gar selber, es sei nicht entscheidend, ob der Vater real getötet werde, denn bereits der Wunsch schaffe das kulturkonstitutive Schuldbewußtsein. Abwegig ist hingegen der Versuch einer sozialkritischen Umdeutung durch Görlich / Lorenzer 1987, S. 190, die Totem und Tabu als Porträt eines gesellschaftlich aktuellen familialen Terrorssystems mit einem brutalen Vater verstehen wollen.

43

Vgl. Ricasur 1993, S. 219.

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handelt sich um die vom individualpsychologischen Ödipuskomplex bekannte, fortwährend ambivalente Gefühlshaltung der Söhne gegenüber dem Vater: „Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. [...] Sie haßten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch."44

Entsprechende psychische Konsequenzen mußte der Mord an dieser fur den Brüderclan so zentralen Figur zeitigen: Infolge ihrer Reue widerriefen sie - wie der kleine Arpäd in Ferenczis Analyse - rituell ihre Tat, „indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten", und verzichteten auf die Früchte und ein wesentliches Motiv ihrer Tat, „indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten". „So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes die beiden fundamentalen Tabu des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des Ödipuskomplexes übereinstimmen mußten": die Schonung des Totemtieres und das Inzestverbot. Die Exogamie ist dabei hinsichtlich ihrer zivilisationspsychologischen Gewichtigkeit nachrangig, denn das Motiv bildete der drohende Machtkampf der Brüder untereinander: „Die beiden Tabu des Totemismus, mit denen die Sittlichkeit der Menschen beginnt, sind psychologisch nicht gleichwertig. Nur das eine, die Schonung des Totemtieres, ruht ganz auf Gefühlsmotiven; der Vater war ja beseitigt, in der Realität war nichts mehr gutzumachen. Das andere aber, das Inzestverbot, hatte auch eine starke praktische Begründung. Das sexuelle Bedürfiiis einigt die Männer nicht, sondern entzweit sie. Hatten sich die Brüder verbündet, um den Vater zu überwältigen, so war jeder des anderen Nebenbuhler bei den Frauen. Jeder hätte sie wie der Vater alle für sich haben wollen, und in dem Kampfe aller gegen alle wäre die neue Organisation zugrunde gegangen. Es war kein Überstarker mehr da, der die Rolle des Vaters mit Erfolg hätte aufnehmen können. Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig, als [...] das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um derentwillen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten."45

Vor allem dieses Motiv der reziproken Absicherung gegen ein Gewaltpotential, dem auch der Stärkste der Horde nicht gewachsen wäre, wenn sich die anderen gegen ihn verbünden, wie es der Brüderclan gegen den Urvater unternommen hatte, zeigt, daß es sich bei der auf diese Weise entstandenen ersten und rudimentären zivilisatorischen Vergemeinschaftung um eine „Art von Gesellschaftsvertrag" durchaus im Hobbesschen Sinne handelt: „Indem die Brüder sich einander so das Leben zusichern, sprechen sie aus, daß niemand von ihnen vom anderen behandelt werden dürfe wie der Vater von ihnen allen gemeinsam. Sie schließen eine Wiederholung des Vaterschicksals aus. Zum religiös begründeten Verbot, den Totem zu töten, kommt nun das sozial begründete Verbot des Brudermordes hinzu."46 „Es entstand die erste Form einer sozialen Organisation mit Triebverzicht, Anerkennung von gegenseitigen Verpflichtungen, Einsetzung bestimmter, für unverbrüchlich (heilig) erklärter Institutionen, die Anfänge also von Moral und Recht."47

Zur Vermeidung einer realen Wiederholung des kulturell konstitutiven Mordes bedarf es jedoch dessen ritueller Wiederholung. So wie die kannibalische Verzehrung des ermor44 45 46 47

Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 426 f ; vgl. ebd.: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 530. Freud 1974 ff., Bd. 9: Totem und Tabu, S. 427 f. Ebd., S. 429. Freud 1974 ff, Bd. 9: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 530.

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deten Vaters einen Akt der Identifikation bedeutete, indem sich jeder der Brüder symbolisch „ein Stück seiner Stärke" aneignete, ist fortan „die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, [...] die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion."48 Von diesem gemeinsamen Verzehr des sonst verehrten Totemtieres durfte sich niemand ausschließen, denn die rituelle Wiederholung des Mordes am Urvater im Festakt dient der Bekräftigung, gewissermaßen der soziomoralischen Reproduktion des infolge des Verbrechens ausgesprochenen Gewaltverbotes und aller weiteren, hiervon abgeleiteten Normen, auf denen die soziale Ordnung basiert.49 Es bleibt hiernach noch ein langer Weg von der archaischen Fraternisierung, die den gegenseitigen Gewaltverzicht nur aufgrund der Einsicht in die andernfalls gegebene allgegenwärtige eigene Lebensgefahr vereinbarte, bis zu seiner kulturellen Kodifizierung als universell gültiger, menschlicher Disposition entzogener moralischer Norm: „Die sozialen Brudergefühle, auf denen die große Umwälzung ruht, bewahren von nun an Ober lange Zeit den tiefstgehenden Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft. [...] Es wird dann noch lange währen, bis das Gebot die Einschränkung auf den Stammesgenossen abstreifen und den einfachen Wortlaut annehmen wird: Du sollst nicht morden. Zunächst ist an die Stelle der Vaterhorde der Brüderclan getreten, welcher sich durch das Blutband versichert hat. Die Gesellschaft ruht jetzt auf der Mitschuld an dem gemeinsam verübten Verbrechen, die Religion auf dem Schuldbewußtsein und der Reue darüber, die Sittlichkeit teils auf den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft, zum anderen Teil auf den vom Schuldbewußtsein geforderten Bußen."50

Mit dieser Beschreibung der Länge des Weges, den die Menschheit zurücklegen mußte, bis aus der ersten Vereinbarung, untereinander auf Gewalt zu verzichten, eine kulturelle Fundamentalnorm wurde, ist Freud dem Gedankengang Nietzsches aufs engste gefolgt. Erst durch Nietzsches Genealogie der Moral wurde die Entdeckung gemacht, daß die Behauptung moralischer Ge- und Verbote nur eine besonders subversive Artikulation des Willens zur Macht ist, die den Schwachen zur Erlangung von Stärke dient. Wie jede andere Norm ist somit auch das Gebot Du sollst nicht morden eine rein menschliche Erfindung, die lediglich in ihrer Überzeugungskraft und Wirksamkeit gestärkt wird, wenn sie als Pflicht göttlicher Provenienz präsentiert wird. In Nietzsches zivilisationstheoretischer Perspektive, die als Genealogie moralischer Normen prinzipiell jenseits von gut und böse, dem binären Code der Moral, operiert, ist der Begriff des Verbrechens nicht sinnvoll, weil er überhaupt erst jener Festlegung entstammt, deren Zustandekommen, nicht aber deren Gültigkeit Nietzsche interessiert. Danach ist es eine Ungenauigkeit, wenn Freud den Mord am Urvater als Verbrechen bezeichnet, denn zu ihrem archaischen, prähistorischen Zeitpunkt war diese Tat natürlich. Erst durch ihre Konsequenzen, die zum einen dem aus dem Ödipuskomplex resultierenden Schuldbewußtsein und Reuebedürfiiis geschuldet sind, zum anderen dem bereits von Hobbes thematisierten Problem, daß kein Einzelner seiner Machtüberlegenheit sicher sein kann, wird der Mord mittels der im Opferritual verstärkten und reproduzierten Vereinbarung zur moralisch verwerflichen Tat. Nietzsches Ahnung, welch

48 Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 426. 49 Vgl. Freud 1974 ff, Bd. 9: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 576. 50 Freud 1974ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 429 f.

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zentrale Bedeutung Schuld und Reue fur die ausschließlich einem menschlichen Bedürfiiis entspringende moralische Weltdeutung und ethische Verhaltensweise haben, wird so durch Freuds Entdeckung des Ödipuskomplexes und seiner zivilisationspsychologischen Wirkungen im engeren Sinne kulturtheoretisch systematisiert. Daß sich hinter der Diskrepanz zwischen Nietzsches Aphoristik und Freuds wissenschaftlicher Systematik allergrößte Nähen hinsichtlich der bei Freud zur Vollendung gelangten zivilisationstheoretischen Perspektive verbergen, wird zudem anschaulich, wenn man die zentrale These von Freuds elaboriertem, auf Jahrzehnten empirischer Psychoanalyse fußendem Essay Totem und Tabu einer frühen Bemerkung Nietzsches aus einer nachgelassenen Schrift gegenüberstellt, derzufolge „die edlere Kultur ihren ersten Siegeskranz vom Altar der Mordsühne" nimmt, so wie sich auch „vom Morde und der Mordsühne aus der Begriff des griechischen Rechtes entwickelt hat".51 Indem er die Religion als nüchterner Analyse zugänglichen, bloßen Ausdruck von „Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse" darstellt,52 befördert Freud ferner Nietzsches Entzauberung des religiösen - und damit entscheidend auch des moralischen - Weltbildes, ohne jedoch Nietzsches Bewußtsein für die fatale Dialektik dieses Prozesses zu teilen. Totem und Tabu zufolge ist also nichts Harmloseres als ein Mord „der Gründungsakt der Zivilisation".53 Freud pointiert dieses Theorem mit dem berühmten Faust-Zitat Im Anfang war die Tat.5* Weitaus treffender noch ist jedoch die Formel Am Anfang war der Mord der Mord am Mitmenschen, dessen tiefenpsychologisch-traumatische Folgen die zivilisationspsychologische Ursache der kulturkonstitutiven Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt ausmachen. Auf das in dieser Formel komprimierte Theorem wird bei Adorno zurückzukommen sein. Freud schließt aus seinen zivilisationstheoretischen Überlegungen aber auch auf massive Probleme und Gefährdungen der Kultur, weswegen sich sein, verglichen mit Nietzsche, vordergründig weniger skeptischer Ansatz durchaus der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik zuordnen läßt. Freuds kulturkritische Besorgnis gilt vor allem der Fragilität des in der Kultur sedimentierten Triebverzichts, dem Unbehagen in der Kultur, dessen Verbreitung und Ausbruch nicht weniger bedeuten würde als einen Zusammenbruch des zivilisatorischen Gewalttabus und damit der Grundbedingung aller menschlichen Kultur und sozialen Existenz. Wie nachfolgend gezeigt wird, handelt es sich bei diesem Gefahrenszenario insofern um eine kulturkritische Besorgnis, als Freud nicht nur ein Unbehagen an der Kultur thematisiert, sondern, seinem Aufsatztitel entsprechend, ein Unbehagen in der Kultur, womit er auch eine geschärfte Aufmerksamkeit für soziologische Aspekte der Problematik antizipiert, die für die weitere Denkbewegung zivilisationstheoretischer Kulturkritik kennzeichnend sein wird.

51 Nietzsche 1988, Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870-1873, S. 785. 52 Freud 1940ff, Bd. 16: Nachschrift (zur Selbstdarstellung) 1935, S. 32 £ 53 Gay 1995, S. 374. 54 Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 444. Vgl. Goethe 1985, S. 40.

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3.3. Die Fragilität sedimentierten Triebverzichts: Das Unbehagen in der Kultur Wie bereits dargelegt, betont die Freudsche Kulturtheorie eine positive Reziprozität zwischen innerer und äußerer Naturbeherrschung, wonach die jeglichen Gewaltverzicht überhaupt erst ermöglichende Triebkontrolle als conditio sine qua поп des Zivilisationsprozesses die Voraussetzung der äußeren Naturbeherrschung bildet, umgekehrt aber auch von dieser profitieren kann, wenn die Menschen, um der Herrschaftsausiibung gegenüber ihrer Umwelt willen, auf Machtkämpfe untereinander verzichten. Während die äußere Naturbeherrschung ein gemeinsames Ziel aller Menschen bildet, das sie gerne verfolgen, ist es zumeist kollektiv verdrängt, daß dies erst durch den naturgemäß ungeliebten Triebverzicht möglich wird. Die Erfolgsverbindung zwischen innerer und äußerer Naturbeherrschung ist daher stets bedroht durch die niemals besiegten, sondern bloß unterdrückten antikulturellen Triebwünsche: „Die menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschränkung unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron der Herrscherin. Unter den so dienstbar gemachten Triebkomponenten ragen die der Sexualtriebe - im engeren Sinne durch Starke und Wildheit hervor. Wehe, wenn die befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die Herrin mit Füßen getreten werden."55

Bis in die Metaphorik hinein übereinstimmend, reformuliert Freud mit dieser Problematisierung Überlegungen Nietzsches, und mühelos ließe es sich Freud zuschreiben, wenn Nietzsche aus seiner Beobachtung, „im Wesen jeder mächtigen Religion" liege „dieselbe Grausamkeit, die wir im Wesen jeder Kultur fanden", folgert: „Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt: als welchen eine wohlthätige Macht die Augen verblendet hat, so daß sie, von den Rädern des Wagens fast zermalmt, doch noch rufen ,Würde der Arbeit! Würde des Menschen!'"56

In Freuds Sicht befriedigt also die eindrucksvolle Machtfülle gegenüber seiner natürlichen Umwelt den Menschen; deren wenig attraktive Voraussetzung hingegen, der Triebverzicht, bleibt stets eine Zumutung und läßt sich nie garantieren, so daß Freud von einer Bestimmung der Kultur als zweiter Natur des Menschen, wie Hegel sie vorgenommen hat,57 weit entfernt ist. Die im Verlauf des sich „seit unvordenklichen Zeiten" hinziehenden Zivilisationsprozesses erworbene ,JCultureignung" des Menschen58 hält Freud vielmehr gerade deshalb für äußerst fragil, weil er die Überbrückung der Kluft zwischen Kulturanspruch und Kulturfähigkeit der Menschen für ebenso unerreicht wie unerreichbar hält. 55 Freud 1940 ff, Bd.14: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, S. 106. 56 Nietzsche 1988, Bd. 7: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, S. 340 f. (10 [1]) Vgl. ebd, S. 140 (7 [16]). 57 Hegel 1970 ff., Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 57; Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 46 (§ 4), S. 301 (§ 151). Vgl. zum Begriff der zweiten Natur bei Adorno, der Elemente von Hegel, Lukäcs und Benjamin aufnimmt, vor allem Rath 1982, S. 65 ff.; Rath 1984, Sp. 491. Zum Begriff der zweiten Natur bei Nietzsche vgl. Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 45. 58 Freud 1974ff, Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 42.

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„Der Mensch ist sozusagen eine Art ,Prothesengott' geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen."59

Dieses Problem besteht nicht nur aus dem vordergründigen Umstand, daß die Kultur einen sedimentierten Triebverzicht bedeutet, der den in dieser Kultur lebenden, zivilisierten Menschen so mißliebig ist, daß der Fortbestand der Kultur andauernd gefährdet ist durch das Hervorbrechen ihrer Antipoden, der untergründig fortexistierenden unbeherrschten Triebe, vor allem durch die primäre Feindseligkeit der Menschen untereinander. Vielmehr produziert die Kultur gerade auch im Erfolgsfall, der Aufrechterhaltung des Triebverzichts, ein Unbehagen bei den ihr Unterworfenen, denn schließlich treten die Triebstauungen und Befriedigungsdefizite erst auf, wenn die kulturelle Triebversagung funktioniert. Dabei ist durchaus nicht nur sexueller Verzicht für dieses Unbehagen verantwortlich, sondern ebenso der mit kultureller Sexualmoral verwobene Verzicht auf Gewaltausübung gegen Mitmenschen. Wie Freud aus Totem und Tabu folgert, sind schließlich die modernen, äußerlich zivilisierten Menschen immer noch, „wie die Urmenschen", nach ihren „unbewußten Wunschregungen eine Rotte von Mördern":60 „Nun, was wir filr die Sexualtriebe erkannt haben [daß die „auferlegten Triebbeschränkungen eine schwere psychische Belastung bedeuten", K.F.], gilt im gleichen, vielleicht in noch höherem Maße, für die anderen, die Aggressionstriebe. Diese sind es vor allem, die das Zusammenleben der Menschen erschweren und dessen Fortdauer bedrohen; Einschränkung seiner Aggression ist das erste, vielleicht das schwerste Opfer, das die Gesellschaft vom Einzelnen zu fordern hat. [...] Das Ich fühlt sich nicht wohl dabei, wenn es sich den destruktiven Tendenzen der Aggression unterwerfen muß, die es gern selbst gegen andere betätigt hätte. Es ist wie eine Fortsetzung jenes Dilemmas vom Fressen und Gefressenwerden, das die organische Lebewelt beherrscht, aufs psychische Gebiet."61

Dem maßgeblich auf Triebsublimierung basierenden Prozeß der Kulturentwicklung verdankt die Menschheit demnach „das Beste, was wir geworden sind, und ein gut Teil von dem, woran wir leiden."62 Die in der „Nichtbefriedigung von mächtigen Trieben" bestehende „,Kulturversagung"', die „das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen" beherrscht, ist nämlich „die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben", der Grund für Das Unbehagen in der Kultur,63 oder, wie Nietzsche, wiederum beinahe gleichlautend, dieselbe Überlegung formulierte, für „das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Cultur dem Menschen machen".64 Aufgrund dieses Unbehagens in der Kultur sieht Freud die positive Reziprozität zwischen äußerer und innerer Naturbeherrschimg, derzufolge die Herrschaft über die natürliche Umwelt des Menschen dessen Motivation zu friedlicher Koexistenz sichern soll, außer Kraft gesetzt. Die Erfolge in der menschlichen Naturbeherrschung drohen undankbar mißachtet zu werden angesichts der Tatsache, daß sie keine Verringerung der Zwanges zur Triebversagung mit sich bringen, im Gegenteil. Folglich reicht der ursprüngliche ökonomische Zweck menschlicher Vergemeinschaft zur Bewahrung der Kultur nicht aus. Mit 59 60 61 62 63 64

Freud 1974 ff, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, 222. Freud 1974 ff., Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 57. Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 543. Freud 1974ff, Bd. 9: Warum Krieg?, S. 285. Freud 1974ff, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 227 f. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 471.

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fortschreitender Dauer des Zivilisationsprozesses muß er ergänzt werden durch Mittel, die vom Wert der kulturellen Errungenschaften überzeugen können: „Mit der Erkenntnis, daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht und darum unvermeidlich eine Opposition bei den von diesen Anforderungen Betroffenen hevorruft, wurde es klar, daß die Güter selbst, die Mittel zu ihrer Gewinnung und Anordnungen zu ihrer Verteilung nicht das Wesentliche oder das Alleinige der Kultur sein können. Denn sie sind durch die Auflehnung und Zerstörungssucht der Kulturteilnehmer bedroht. Neben die Güter treten jetzt die Mittel, die dazu dienen können, die Kultur zu verteidigen, die Zwangsmittel und andere, denen es gelingen soll, die Menschen mit ihr auszusöhnen und für ihre Opfer zu entschädigen. Letztere können aber als der seelische Besitz der Kultur beschrieben werden."65

Diesem von ihm offensichtlich als zentral empfundenem Thema des seelischen Besitzes der Kultur widmet sich Freud gleichwohl nicht weiter. Vielmehr befürchtet er die fortdauernden „Schwierigkeiten, welche die Unbändigkeit der menschlichen Natur jeder Art von sozialer Gemeinschaft bereitet", auch noch für den ohnehin utopischen Fall, daß eine Gesellschaftsordnung gefunden würde, die „nicht nur die materielle Not der Massen verbannt, sondern auch die kulturellen Ansprüche des Einzelnen erhört."66 Mit der unüberwindlichen menschlichen Aversion gegen den durch den Zivilisationsprozeß erzwungenen permanenten Triebverzicht hat Freud natürlich mehr ausgelotet als das Unbehagen in beziehungsweise an der Kultur, nämlich die „ständig drohende Möglichkeit eines Rückfalls in Barbarei."67 Über der ungeliebten, weil versagungsvollen Kultur schwebt ständig das Damoklesschwert ihrer Regression in vorzivilisatorisch-archaische Zustände. Insofern die Zivilisation gleichsam das Sediment des menschlichen Triebverzichts bildet, bleibt sie ebenso fragil wie die introjizierte, zur Se/fosfkontrolle ausgebildete innere Naturbeherrschung. Nietzsches Satz, Kultur sei nur „ein dünnes Apfelhütchen über einem glühenden Chaos",68 könnte gleichlautend auch von Freud formuliert worden sein. Es sind aber nicht, wie bei Nietzsche, die Mechanismen der doppelten Naturbeherrschung und damit die Erfolgsbedingungen des Zivilisationsprozesses selber, deren Umschlagen in Destruktion Freud befürchtet. Anstelle der Hypertrophie der zivilisatorischen Zähmung der Bestie Mensch problematisiert Freud unzureichende Naturbeherrschung, ein Versagen der kulturellen Selbstkontrolle des Menschen aufgrund der Stärke seiner triebhaften inneren Natur und ihrer naturgemäß destruktiven Bestandteile. Letzteren widmet Freud eine weitreichende metapsychologische Überlegung, die zum Ergebnis kommt, daß sich unter den menschlichen Trieben auch ein überaus macht- und bedeutungsvoller Todestrieb findet. Die Kultureignung des Menschen bestimmt Freud als „Fähigkeit zur Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einflüsse der Erotik".69 Den Sexualtrieben im weitesten 65 Freud 1974 ff., Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 144. Vgl. ebd.: Das Unbehagen in der Kultur, S.218f. Hieraus ergibt sich auch Freuds Absage an materialistisch-sozialrevolutionäre Konzepte, vgl. ebd.: Die Zukunft einer Illusion, S. 141: „Konnte man zunächst meinen, das Wesentliche an dieser [der menschlichen Kultur, K.F.] sei die Beherrschung der Natur zur Gewinnung von Lebensgütern und die ihr drohenden Gefahren ließen sich durch eine zweckmäßige Verteilung derselben unter den Menschen beseitigen, so scheint jetzt das Schwergewicht vom Materiellen weg aufs Seelische verlegt." 66 Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 607 f. 67 Schmid Noerr 1993, S. 326. 68 Nietzsche 1988, Bd. 10: Nachgelassene Fragmente 1882-1884, S. 362 (9 [48]). 69 Freud 1974ff, Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 42.

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Sinne, die als Lebenstriebe fungieren, sieht Freud einen Ichtrieb entgegengesetzt, der lebensfeindlich operiert: den Todestrieb.70 Die zunächst irritierende Annahme dieses Triebes ergibt sich konsequent aus der psychoanalytischen Triebtheorie, derzufolge ein Trieb „ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandest ist.71 „Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nun sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod".12

Dieser geräuschlos arbeitende73 Wiederholungszwang, eine jenseits des Lustprinzips arbeitende „,ewige Wiederkehr des Gleichen'", wie Freud in direkter Anspielung auf Nietzsche schreibt,74 zielt allgemein darauf ab, „Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören", in letzter Konsequenz das Leben selber.75 Die kulturtheoretische Bedeutung dieses Theorems liegt in Freuds Unterscheidung zwischen einem nach innen, gegen das Selbst gerichteten Zerstörungsdrang, dem eigentlichen Todestrieb, und einer nach außen gewendeten Vernichtungswut, dem Destruktionstrieb.16 Während der Todestrieb strikt autodestruktiv arbeitet, richtet sich der Destruktionstrieb stattdessen auf die Vernichtung von Subjekten und Objekten in der Umwelt des todestriebigen Menschen und fungiert so nicht zuletzt als Element der äußeren Naturbeherrschung: „Gemäßigt und gebändigt, gleichsam zielgehemmt, muß der Destruktionstrieb, auf die Objekte gerichtet, dem Ich die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse und die Herrschaft über die Natur verschaffen."77

Indem sich ein Teil von ihm in den Destruktionstrieb abspaltet, wird der normalerweise autodestruktive Todestrieb doch noch „in den Dienst des Eros gezwängt, indem das Lebe70 Freud 1974 ff, Bd. 9: Jenseits des Lustprinzips, S. 253; vgl. ebd.: Warum Krieg?, S. 282. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Todestrieb-Theorems Irion 1992, S. 166 ff, der nachweist, daß es durchaus nicht plötzlich oder aufgrund biographischer Erfahrungen Freuds entstanden ist, sondern einer logischen Entwicklung im Verlauf des Lebenswerkes entstammt und auch von anderen Psychoanalytikern ähnlich entwickelt wurde, vgl. Spielrein 1912. Wie viele zentrale Theoreme Freud steht auch dieses in enger Verbindung zur Philosophie Arthur Schopenhauers (vgl. Zentner 1995), dessen Pessimismus Freud „in der Dualität von Eros und Thanatos auf die Möglichkeiten und Grenzen zivilisatorischer Entwicklung" anwendet (Münkler 1986, S. 307). Vgl. ferner Schmid Noerr 1992; Schmidt-Hellerau 1995; Widmer 1984. 71 Freud 1974 ff., Bd. 9: Jenseits des Lustprinzips, S. 246. 72 Ebd., S. 248. 73 Freud 1940ff, Bd. 14: „Selbstdarstellung", S. 84. 74 Freud 1974ff, Bd. 9: Jenseits des Lustprinzips, S. 232. 75 Freud 1940 ff, Bd. 17: Abriß der Psychoanalyse, S. 71. 76 Hinsichtlich des Todestriebes ist Freud ausnahmsweise terminologisch ungenau, vgl. Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, Bd. 9, S. 246 f sowie Freud 1940 ff, Bd. 17: Abriß der Psychoanalyse, S. 71, wo er die eigene Unterscheidung zwischen dem autodestruktiven Todestrieb und dem nach außen gerichteten Destruktionstrieb unterläuft. Vgl. Schmidt-Hellerau 1995, S. 305 und zur heterodoxen, Freud korrigierenden Begründung des psychoanalytischen Theorems, daß die Autoaggression das Prinzip der Aggression überhaupt darstellt, Schmid Noerr 1987, S. 694 f. 77 Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 249.

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3. „Am Anfang war der Mord" I: Sigmund Freud

wesen anderes, Belebtes wie Unbelebtes, anstatt seines eigenen Selbst vernichtete":78 „Das Lebewesen bewahrt sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört."79 Als gegen die Außenwelt gewendeter „Abkömmling und Hauptvertreter" des Todestriebes80 kehrt der Destruktionstrieb in gewisser Weise die - in Nietzsches Worten - Verinnerlichung des Menschen durch die Erfindung des schlechten Gewissens als dem wichtigsten Element der zivilisatorisch unabdingbaren inneren Naturbeherrschung um, insofern es zur Bestandssicherung nicht nur der Kultur, sondern des Lebens überhaupt notwendig ist, autodestruktive Tendenzen der menschlichen Triebnatur zu konterkarieren, indem die destruktiven Neigungen vom Ich weg nach außen gerichtet werden. Freud beschreibt mit dem Destruktionstrieb die vital und zivilisatorisch lebensnotwendige Externalisierung der ursprünglich autokatalytisch todestriebigen, triebhaften menschlichen Aggression und bescheinigt dem Destruktionstrieb somit eine zivilisationspsychologisch positive Funktion: „Verhinderte Aggression scheint eine schwere Schädigung zu bedeuten; es sieht wirklich so aus, als milßten wir anderes und andere zerstören, um uns nicht selbst zu zerstören, um uns vor der Tendenz zur Selbstdestruktion zu bewahren."81

Dies erinnert in starkem Maße an Nietzsches Warnung vor der kranken Bestie, zu der der Mensch werde, wenn man ihn einer falsch verstandenen zivilisatorischen Zähmung unterwürfe. Anders als Nietzsche will Freud mit dieser Überlegung jedoch nicht um Verständnis für das Unbehagen in der Kultur und die von den Zivilisationsbedingungen verursachte Erkrankung des Menschen werben. Vielmehr betont er die objektive funktionale Bedeutung des Destruktionstriebes für die menschliche Kultur. Obwohl er seine Theorie des Todesbeziehungsweise Destruktionstriebes nicht ausdrücklich als solche präsentiert, leistet Freud - der selber stets unsicher gegenüber seinem in psychoanalytischen Kreisen bis heute nicht sehr geliebten Todestrieb-Theorem blieb - mit diesem Ansatz nicht weniger als eine zivilisationstheoretische Erklärung der Entstehung und funktionalen Erforderlichkeit destruktiver Energien für die menschliche Kultur. Auf den ersten Blick scheint Freud hiermit Nietzsches Problematisierung der kulturellen Triebkontrolle insofern unterlaufen zu haben, als das Leiden des Menschen an der Triebversagung mit der Abspaltung des Destruktionstriebes vom Todestrieb gleichsam ein Ventil erhält. Damit erübrigt sich für Freud die Sorge vor einer Dialektik der doppelten Naturbeherrschung, derzufolge die mit Triebverzicht erkaufte zweckrationale Herrschaft über die natürliche Umwelt des Menschen in soziale Pathologien zurückschlägt. Die Hypothese von Todes- und Destruktionstrieb spricht nämlich für eine positive Wirkung der äußeren Naturbeherrschung auf die Reproduktion des kulturellen Triebverzichts und bestärkt so Freuds optimistisches Modell einer Reziprozität zwischen innerer und äußerer Naturbeherrschung. Eine Veränderung oder gar Reduzierung der inneren Naturbeherrschung, wie Nietzsche sie forderte, erscheint danach völlig verfehlt; Freuds Anliegen besteht vielmehr in deren Stärkung. Freuds ursprüngliches zivilisationstheoretisches Problem bestand jedoch nicht in einer möglichen Autodestruktivität des Menschen aufgrund des Todestriebes, sondern in der 78 79 80 81

Ebd., S. 246 f. Freud 1974 ff., Bd. 9: Warum Krieg?, S. 282. Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 249. Freud 1974ff, Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 538.

3. „Am Anfang war der Mord" I: Die Zivilisationstheorie Sigmund Freuds

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Eindämmung jener aggressiven Potentiale des Menschen, die das friedliche Zusammenleben im Kulturzustand gefährden. Im Zusammenhang der Erörterung des Todes- und Destruktionstriebes hat Freud nun die nach außen, gleichermaßen gegen Subjekte und Objekte gerichtete Aggressivität als positiven Faktor interpretiert. Gleichwohl vermag dies die zwischenmenschliche Aggressivität nicht grundsätzlich zu rehabilitieren. Freud hält an seiner im wesentlichen aus Totem und Tabu gewonnenen Einsicht fest, daß das Grundproblem der Zivilisation darin besteht, daß die Mordlüsternheit der menschlichen Urgeschichte nicht überwunden, sondern nur rituell eingehegt und kulturell übertüncht ist. Dabei konzediert er durchaus, daß die fortschreitende Herrschaft über die natürliche Umwelt ein Gefährdungspotential fur die Kultur birgt, ohne aber diesen Gedanken weiterzufuhren oder gar zur Einsicht in die Dialektik der Naturbeherrschung zu gelangen. „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. [...] Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten."82

Angeleitet durch die zeitgeschichtliche Erfahrung des Ersten Weltkrieges stellt Freud in seinem Briefwechsel mit Einstein die eher rhetorische Frage, ob nicht gerade „die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluß des Destruktionstriebs ist"83 - eine Vermutung, die wenig Raum dafür läßt, jenseits der individuellen menschlichen Triebökonomie eine positive Funktion des Destruktionstriebes für den Kulturprozeß insgesamt zu erhoffen. Vielmehr sieht sich Freud durch die Entdeckung des Todes- und Destruktionstriebes darin bestätigt, einen Kulturkampf zwischen konstruktiven und destruktiven triebhaften Kräften am Werk zu sehen, so daß „der Sinn der Kulturentwicklung" im „Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb" liegt.84 Die Überlebensfrage der Zivilisation lautet für Freud deshalb, ob die Gefährdung friedlicher sozialer Existenz durch archaische Regression, durch den Rückfall in den durch allgegenwärtige triebhafte Feindseligkeit untereinander gekennzeichneten Naturzustand, verhindert werden kann. „Alles, was die Kulturentwicklung fordert, arbeitet auch gegen den Krieg."85 Folgerichtig verbietet sich jeglicher Versuch, regressiv, etwa durch Freisetzung von Triebenergien und somit antikulturell, den Weltlauf positiv beeinflussen zu wollen. Freud proklamiert die prinzipielle Irreversibilität des menschlichen Zivilisationsprozesses, wenn nicht mit seinen Problemen und vermeintlichen Nachteilen auch seine allseits bejahten Vorteile abgeschafft werden sollen. Aus triebtheoretischen Gründen gibt es keinerlei Alternative zum Bearbeiten der Scholle im Rahmen einer radikal-diesseitigen, antiutopischen Weltsicht. Wie Nietzsche sieht Freud keinerlei Möglichkeit, Krebs zu sein: „Der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung, ist in der Regel durch die Widerstände, welche die Verdrängungen aufrechthalten, verlegt, und somit bleibt nichts anderes übrig, als in der anderen,

82 83 84 85

Freud Freud Freud Freud

1974 ff., Bd. 1974ff, Bd. 1974 ff., Bd. 1974ff, Bd.

9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 270. 9: Warum Krieg?, S. 283. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 249. 9: Warum Krieg?, S. 286.

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3. „Am Anfang war der Mord" I: Sigmund Freud noch freien Entwicklungsrichtung fortzuschreiten, allerdings ohne Aussicht, den Prozeß abschließen und das Ziel erreichen zu können."86

Die menschliche Kulturleistung läßt sich demnach kaum material bestimmen, sondern besteht in der Bewahrung ihrer selbst, in ihrer Selbsterhaltung, das heißt in der Aufrechterhaltung des Triebverzichts und der Einhegung der kulturfeindlichen Triebregungen. Der Beherrschung der äußeren Natur schreibt Freud dabei eine wichtige Funktion zu; sie ist für ihn nicht nur unproblematisch, sondern geradezu eine Bedingung gelungener Triebsublimierung und damit gesicherter Kultur. Anders als Nietzsche, der auf eine Versöhnung der menschlichen Zivilisation mit der Natur hofft, propagiert Freud eine Bewahrung der Kultur gegen die Natur, der sie abgerungen ist und deren permanente innovative Beherrschung der Überlagerung innerkulturellen Konfliktpotentials infolge des Unbehagens in der Kultur dienen soll. Das von Nietzsche als aktiver Nihilismus problematisierte, bis zur Barbarei reichende kulturelle Gewaltpotential betrachtet Freud als Problem, das kaum jemals auszuschalten, wohl aber im Kulturprozeß zu minimieren ist. Während Nietzsche das Problem menschlicher Destruktivität genealogisch betrachtet und seine Wurzeln in einem pathologischen Zivilisationsprozeß angelegt sieht, sieht Freud, an dieser Stelle statischer denkend, hierin ein Defizit, das nicht von der Kultur selber zu verantworten und nur durch ihren weiteren zivilisatorischen Fortschritt einzudämmen ist. Insbesondere die Überlegungen zum Todestrieb, der bei Nietzsche die Folge eines vom Zivilisationsprozeß zu verantwortenden Nihilismus ist, während Freud ihn als natürlichen Bestandteil des menschlichen Triebhaushalts sieht, verdeutlichen diesen Unterschied zwischen Nietzsches und Freuds zivilisationstheoretischer Perspektive. Freud kehrt Nietzsches „Grundsatz", daß „das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, [...] zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht" hat,87 geradewegs um. Für Freud, der keine Dialektik der Aufklärung am Werk sieht, erübrigt sich dementsprechend auch die fur Nietzsche so zentrale Auseinandersetzung mit der menschlichen Vernunft. Unbeirrt propagiert Freud eine „Erziehung zur Rationalität" und eine rein rationale, aufgeklärte Begründung kultureller Normen. Gegen die Macht der menschlichen Affekte und Eigeninteressen setzt Freud auf die Unwiderstehlichkeit des Intellekts, gegen eine Regression in mythische Erzählungen auf den „Gott Logos":88 „Der gemeinsame Zwang einer solchen Herrschaft der Vernunft wird sich als das stärkste einigende Band unter den Menschen erweisen und weitere Einigungen anbahnen."89

Eine Bestimmung des theoriegeschichtlichen Standorts Freuds in der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik wird nun möglich, wenn man bedenkt, daß Freud gleichzeitig Nietzsches Auffassung beipflichtet, daß die Wurzel des menschlichen Erkennt-

86 Freud 1974 ff, Bd. 3: Jenseits des Lustprinzips, S. 251 f. 87 Nietzsche 1988, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, S. 125 (25 [248]). 88 Freud 1974 ff, Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 187. Vgl. Freud 1940 ff, Bd. 8: Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie, S. 111; ebd., Bd. 14: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, S. 106 f. 89 Freud 1974 ff, Bd. 1: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 598.

3. „Am Anfang war der Mord" I: Die Zivilisationstheorie Sigmund Freuds

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nisdranges praktischer, naturbeherrschender Art ist und daß sich verschiedene Rationalitätsstufen in der Weltbildentwicklung unterscheiden lassen: „Die Menschheit hat [...] drei große Weltanschauungen im Laufe der Zeiten hervorgebracht: die animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche. Unter diesen ist die erstgeschaffene die des Animismus, vielleicht die folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die das Wesen der Welt restlos erklärt. [...] Man darf nicht annehmen, daß die Menschen sich aus reiner spekulativer Wißbegierde zur Schöpfung ihres ersten Weltsystems aufgeschwungen haben. Das praktische Bedürfnis, sich der Welt zu bemächtigen, muß seinen Anteil an dieser Bemühung haben. Wir sind darum nicht erstaunt zu erfahren, daß mit dem animistischen System etwas anderes Hand in Hand geht, eine Anweisung, wie man verfahren müsse, um der Menschen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu werden."90 „In diesen Zusammenhang fltgen sich Mythus, Religion und Sittlichkeit als Versuche, sich fttr die mangelnde Wunschbefriedigung Entschädigung zu verschaffen."91

Keineswegs ist also für Freud „von Anfang an [...] das Prinzip der Kultur die Rationalisierung".92 Vielmehr teilt Freud Nietzsches genealogischen Blick auf den Zivilisationsprozeß in toto, den er ja durch seine extensive Rekonstruktion der anthropologischen Urszene erweitert hat, und unterscheidet verschiedene Stufen der durch Triebverzicht gekennzeichneten Kulturentwicklung, die durch das jeweilige mythische, religiöse beziehungsweise rationale Weltbild bestimmt sind: „Der Verzicht ist ein im Laufe der Kulturentwicklung progressiver gewesen; die einzelnen Fortschritte desselben wurden von der Religion sanktioniert; das Stück Triebbefriedigung, auf das man verzichtet hatte, wurde der Gottheit zum Opfer gebracht; das so erworbene Gemeingut für ,heilig' erklärt."93

Daß der Zivilisationsprozeß lange Zeit auf mythologischen Elementen basierte, ist für Freud beinahe selbstverständlich. Daher ist es erstaunlich, wie konsequent er Nietzsches Einsicht in die Dialektik der Aufklärung, die Problematisierung des Sieges der Aufklärung über den Mythos und der Entzauberung der Religion, ignoriert. Auch wenn Freud auf eine rationale Substitution der affektive Bindungen zur versagungsvollen Kultur schaffenden mythischen Rituale setzt, müßte er aufgrund seiner starken Besorgnis um den fragilen Kulturzustand doch problematisieren, daß der Zerfall einheitsstiftender Mythen und Rituale im Prozeß der Aufklärung eine Gefährdung der Kultur darstellt. Freud erkennt auch durchaus, daß mit der Generalisierung und Universalisierung des Gebotes Du sollst nicht töten dessen rituelle Erneuerung unmöglich geworden, gleichsam wegrationalisiert ist, denn dadurch ist die natürliche, im Aberglauben an die faktische Macht und Kraft des Rituals liegende Scheu vor dem Töten abhanden gekommen, die sich in den Bußritualen ausdrückte, die Naturvölker ausführen, wenn sie ein Tier oder gar einen Menschen getötet haben. Mit diesen Ritualen bekräftigten sie, daß die Tat grundsätzlich verboten und nur in einem bestimmten Ausnahmefall zulässig und durch Bußübungen entschuldbar ist: „Hinter diesem Aberglauben verbirgt sich ein Stück ethischer Feinfühligkeit, welches uns Kultur90 Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 366 f. Offensichtlich steht hier Comtes Dreistadiengesetz Pate. Vgl. Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 592. 91 Freud 1940ff, Bd. 8: Das Interesse an der Psychoanalyse, S. 416. 92 So die abwegige Formulierung bei Schülein 1975, S. 176. 93 Freud 1974 ff, Bd. 9: Die „ k u l t u r e l l e " Sexualmoral und die moderne Nervosität, S. 18. Vgl. Freud 1940 ff., Bd. 7: Zwangshandlungen und Religionsübungen, S. 139.

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menschen verlorengegangen ist",94 konzediert Freud. Daß die Zunahme dieser Rationalisierungseffekte im Verlauf des fortschreitenden Zivilisationsprozeßes für die Kultur gefährlicher wurde, problematisiert er jedoch nicht. Nietzsches Ahnung, daß der geforderte Triebverzicht nach dem Tode Gottes immer schwerer zu reproduzieren sein würde,95 weil seine, von Freud durchaus als solche erkannte, religiöse Begründung, seine Heiligung als Opfer, hinfällig wurde, bleibt eine blinde Stelle in Freud Zivilisationstheorie, die ansonsten doch so stark von Nietzsche inspiriert ist. Gleichwohl .nimmt Freud eine Erweiterung der zivilisationstheoretischen Perspektive vor, die Nietzsche nachdrücklich zur Pointierung und Radikalisierung kulturkritischer Anliegen genutzt hatte. Nietzsches uneingelöstes Postulat, die Psychologie müsse zur Grundwissenschaft werden, realisiert Freud im Zuge seiner systematischen Ausarbeitung der Psychoanalyse, insbesondere durch die Studie über Totem und Tabu und die Entdeckung des Todes- und Destruktionstriebes, die ein erhebliches kulturtheoretisches Erklärungspotential bergen.96 Danach besteht das Grundproblem der Zivilisation darin, daß die Mordlüsternheit, welche die menschliche Urgeschichte, insbesondere das Urerlebnis des Mordes am Urvater kennzeichnete, nicht überwunden, sondern nur rituell eingehegt und kulturell übertüncht ist - die zu allen Zeiten wieder mögliche Vorzeit hatte Nietzsche dies genannt.97 Folglich lassen sich alle historisch kontingenten, gesellschaftsspezifischen Ausformungen menschlicher Gemeinschaftsbildung aus zivilisationstheoretischer Perspektive einheitlich deuten: „Die Klassenbildung in der Gesellschaft [ist, K.F.] auf Kämpfe zurückzuführen, die sich seit dem Beginn der Geschichte zwischen den um ein Geringes verschiedenen Menschenhorden abspielten",98 und „alle Kulturgeschichte zeigt nur, welche Wege die Menschen zur Bindung ihrer unbefriedigten Wünsche einschlagen unter den wechselnden und durch technischen Fortschritt veränderten Bedingungen der Gewährung und Versagung von Seiten der Realität."99 Wie die Urmenschen sind also auch die heutigen Menschen immer noch ihren unbewußten Wunschregungen nach „eine Rotte von Mördern",100 so daß es nicht verwunderlich, sondern zivilisationstheoretisch erklärlich ist, daß „das, was unsere Kinder in der Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden" ist.101 Diese 1915 getroffene Feststellung bietet Freud nicht nur einen Erklärungsansatz für zentrale Gegenwartsphänomene, wie beispielsweise das unerwartete Hereinbrechen eines verheerenden Krieges in eine scheinbar zivilisatorisch arrivierte Kulturregion, das als Ausprägung des Destruktionstriebes deutlich wird. Sie beinhaltet auch eine unmittelbar kulturkritische Komponente, über die das vermeintlich zivilisationstheoretisch verabschiedete sozialwissenschaftliche Interesse an den Phänomen 94 95 96

97 98 99 100 101

Freud 1974ff, Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 55. Vgl. Irion 1992, S. 214. Vgl. Freud 1940 ff, Bd.8: Das Interesse an der Psychoanalyse, S. 414 f.: „Durch die [...] Übertragung ihrer Gesichtspunkte, Voraussetzungen und Erkenntnisse wird die Psychoanalyse befähigt, Licht auf die Ursprünge unserer großen kulturellen Institutionen, der Religion, der Sittlichkeit, des Rechts, der Philosophie zu werfen." Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 307. Freud 1974 ff.\ Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 603. Freud 1940 ff., Bd. 8: Das Interesse an der Psychoanalyse, S. 415. Freud 1974 ff, Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 57. Ebd., S. 52.

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zurückkehrt. Wie Nietzsche geißelt nämlich auch Freud die ,JCulturheuchelef', ein hohes Sittlichkeitsideal aufzustellen, aber weder dessen Bestandsbedingungen angemessen zu reflektieren noch ausreichende Bemühungen für den Fortbestand zivilisierter Existenz zu unternehmen.102 Damit artikuliert Freud eine kulturkritische Besorgnis, die sich nicht nur auf das Unbehagen an der Kultur richtet im Sinne der Unzufriedenheit mit der zivilisatorischen Existenz überhaupt, sondern ebensosehr auf ein Unbehagen in der Kultur im engeren Sinne, das heißt ein Aufbegehren gegen konkrete Probleme einer historisch spezifischen politisch-ökonomischen Gesellschaftsformation. Diesen ansatzweise sozialwissenschaftlichen Blickwinkel nimmt Freud im Rahmen seiner Massenpsychologie und mit seiner Forderung ein, zur Tiefenanalyse der von ihm als Reflexe urgeschichtlicher Erfahrungen problematisierten Phänomene bedürfe es einer „Pathologie der kulturellen Gemeinschaften".103 Aber wie Nietzsche seine Idee, die Psychologie zur Grundwissenschaft zu machen, nur postulierte und nicht selber systematisch realisierte, so geht es Freud mit der sozialwissenschaftlichen Perspektive, die er sogleich darauf reduziert, nichts anderes sein zu können, „als angewandte Psychologie."104 Dadurch ist es Freud prinzipiell unmöglich zu erwägen, ob nicht die Gefährdung der Kultur von innen, durch das menschliche Aggressionspotential, das Ergebnis eines dialektischen Umschlagens des auf Naturbeherrschung fixierten Zivilisationsprozesses, mit anderen Worten: „ein Erzeugnis dieser Kultur selbst" sein könnte.105 So bleibt die Problematisierung, daß Kultur und Gesellschaft zu einem ebenso blinden Zwangsmechanismus werden können wie die stets untergründig präsente Triebnatur des Menschen, wonach die Sozialwissenschaften gerade hinsichtlich der zivilisationstheoretischen Perspektive Eigenständigkeit gegenüber der Psychologie beanspruchen können, dem Fortgang der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik vorbehalten. Dabei ist es zunächst an Max Weber, das bei Freud in den Hintergrund getretene Nietzscheanische Motiv der Dialektik des Rationalisierungsprozesses wiederaufzunehmen und eine kultursoziologische Reflexion der Wert- und Sinnprobleme nach dem Tod Gottes vorzunehmen.

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Freud 1940 ff., Bd. 14: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, S. 106. Vgl. ebd., Bd. 8: Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie, S. 111. Insofern kann man Nietzsche als „ideengeschichtliche Vorstufe der Freudschen Kulturkritik" bezeichnen (Irion 1992, S. 136). Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 269. Vgl. ebd.: Massenpsychologie und IchAnalyse, S. 119, wo er das moderne Massenphänomen mit den aus Totem und Tabu gewonnenen Theoremen erklärt: „Der unheimliche, zwanghafte Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zurückgeführt werden. Der Führer der Masse ist noch immer der geftlrchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüchtig [...]. Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht." Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 606. Schmid Noerr 1993, S. 333.

4.

Rationalisierung des Tabu: Max Webers soziologische Wendung zivilisationstheoretischer Kulturkritik

Wie eingangs mit Verweis auf Guy Oakes' Unterscheidung zwischen genetischer, hermeneutischer und logischer Abhängigkeit in der Theorieentwicklung in Aussicht gestellt, zielt der Nachweis einer Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik nicht bloß darauf ab, die Wiederkehr bestimmter Motive in anderen, veränderten Theoriekontexten nachzuweisen. Gemeint ist hiermit vielmehr die schrittweise Ausgestaltung eines Denkweges hin zu Adorno, dessen Theorie sich schließlich in logischer Abhängigkeit von Nietzsche, Freud und Weber befindet, das heißt hinsichtlich ihrer Plausibilität abhängig ist von derjenigen ihrer Vorläufer, die wesentliche systematische Prämissen von Adornos Ansatz enthalten. Es ist ebenfalls bereits betont worden, daß die von Oakes vorgeschlagene Unterscheidung verschiedener Abhängigkeitsgrade den Vorteil hat, keine aufeinander aufbauende logische Abhängigkeit jedes der nachfolgenden Theoretiker von seinen Vorgängern behaupten zu müssen. Während diese erst bei Adorno vorliegt, handelt es sich, wie im Falle Nietzsches und Freuds gesehen, zunächst um modifizierende Weiterentwicklungen einer bestimmten Sichtweise soziokultureller Probleme. Gerade diese Übereinstimmungen hinsichtlich der Problemperspektive sind aber ein bemerkenswertes Anzeichen für die kontinuierliche Entwicklung eines Ansatzes zivilisationstheoretischer Kulturkritik im politischen, kultur- und sozialphilosophischen Denken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Erst als sich jenseits der Wiederkehr einzelner Denkmotive eine Entsprechung zwischen Nietzsche, Freud und Weber in der grundsätzlichen Fragestellung, in der Art und Weise, die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Phänomene als in zivilisationstheoretischen Umständen verwurzelte kulturelle Probleme kritisch zu thematisieren, ausgebildet hatte - mit anderen Worten: als die epistemologische Grundlage der zivilisationstheoretischen Kulturkritik geschaffen war - , waren für Adorno theoriegeschichtlich die systematischen Voraussetzungen gegeben, im Sinne logischer Abhängigkeit alle vorhandenen Theoriesegmente radikalisierend zu synthetisieren. Nachfolgend gilt es demnach zu zeigen, daß Max Weber nicht nur, wie mittlerweile hinlänglich bekannt, Einsichten Nietzsches aufgenommen und weiterentwickelt hat,1 sondern im strengen Sinne die Fortentwicklung des Denkweges von 1 Vgl. vor allem Eden 1983; Germer 1994; Hennis 1987; Lichtblau 1996; Owen 1994; Peukert 1989, S. 12 ff., 93; Scaff 1989, S. 130 ff., 189 iE (zum Verhältnis Freud - Nietzsche ebd., S. 79 f., 229 f.); Shapiro 1981; Stauth 1994; Stauth / Turner 1986. Lediglich Wolfgang Schluchter hegt Vorbehalte gegenüber dem Nachweis von Webers ausgeprägter Nietzsche-Rezeption, vgl. Schluchter 1991, S. 191 f. Anm. 41, S. 201 f. Anm. 57, wo er insbesondere gegen Hennis einwendet, „Weber habe die kritische

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Nietzsche über Freud zu Adorno befördert hat, indem er die von Nietzsche geforderte und von Freud systematisierte kulturpsychologische Perspektive in soziologische Richtung verlängert - allerdings ohne dem in der Denkbewegung zwischen Nietzsche und Freud entstandenen Ansatz einer zivilisationstheoretischen Fundierung kulturkritischer Anliegen und sozialwissenschaftlicher Befunde untreu zu werden. Dies bedeutet, das Augenmerk auf einen der wenigen verbliebenen weißen Flecken der Weber-Interpretation zu richten, und zwar darauf, wie Weber an den mit der Freudschen Zivilisationstheorie erreichten Entwicklungsstand zivilisationstheoretischer Kulturkritik anknüpft, die bei Freud unterbelichtete Nietzscheanische Einsicht in die Dialektik der Rationalisierung erneuert und gleichzeitig um soziologische Aspekte vertieft.2 Hierzu ist es zunächst erforderlich zu untersuchen, wie Weber das von ihm empfundene Spannungsverhältnis zwischen psychologischer und soziologischer Methodik handhabt.

4.1. Von der spekulativen Zivilisationspsychologie zur methodischen Kultursoziologie Der Raum, den Weber der Psychologie, genauer gesagt seiner Vorstellung von Psychologie im Rahmen seiner kulturwissenschaftlichen Methodologie, insbesondere seiner Objektivitäts- und Werturteilslehre einräumt, läßt erste Konturen seiner Haltung zu Freud deutlich werden. Auf den ersten Blick scheint nicht sehr viel für einen konstruktiven Vergleich zu sprechen oder gar auf gegenseitige Beeinflussungen zwischen Weber und Freud hinzudeuten, erfolgen doch die Abgrenzungen, die beide für ihre Disziplinen, Soziologie bzw. Psychologie, vornehmen mit einer gewissen Geringschätzung auf Kosten der jeweils anderen: Während Freud, in Verlängerung von Nietzsches Forderung, die Psychologie zur Grundwissenschaft zu erheben, meint, „auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt", könne „nichts anderes sein als angewandte Psychologie",3 liest sich eine fast ein Vierteljahrhundert früher gemachte ironische BePerspektive Nietzsches völlig aus den Angeln gehoben" und urteilt, „wäre es nicht so, brauchte man sich für sein Forschungsprogramm kaum zu interessieren." Schluchters hierin zum Ausdruck kommende Abneigung gegen Nietzsche ist jedoch ein wenig überzeugender Einwand gegen Webers offensichtlichen Nietzscheanismus; vgl. für eine ausgewogene Position bereits Mommsen 1974, S. 129 ff., 254 Anm. 41. Seine Nietzsche-Lektüre verdankt Weber überdies in erheblichem Maße Georg Simmels Studie Schopenhauer und Nietzsche (Simmel 1907, jetzt in: Simmel 1995, S. 167 ff), vgl.hierzu vor allem Scaff 1987, S. 260 ff. 2 Es existieren verschiedene Studien, die Webers Charismabegriff mit Freud in Verbindung setzen bzw. zu ergänzen suchen, vgl. Bocock 1978, S. 135 f.; Camic 1980; Cavalli 1987, S. 318 f.; Choluj 1995, S. 257; San Juan, Jr. 1967; Mc Intosh 1970. Die Herrschaftssoziologie ist jedoch im vorliegenden Zusammenhang von nachgeordnetem Interesse. Vgl. zur Vertrautheit Webers mit Freud hinsichtlich weiterer, hier weniger einschlägiger Denkansätze Albrow 1990, S. 99, 125, 215; Gerth / Mills 1970, S. 88; Levine 1985; Parsons 1964; Parsons 1980; Parsons 1981; Parsons 1982; Sica 1988. Uninteressant für die vorliegende Fragestellung ist natürlich Webers persönliche Psychopathologie, die Mitzman 1970 thematisiert. 3 Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 606.

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4. Rationalisierung des Tabu: Max Webers soziologische Wendung

merkung Webers beinahe wie eine Vorahnung und vorauseilende, polemische Zurückweisung des Freudschen Vereinnahmungsversuchs: „Der Laienglaube: weil die Geschichte es mit .geistigen Vorgängen' zu tun habe, also [...] ,νοη psychologischen Voraussetzungen ausgehe', so müsse sie sich in besonders einzigartigem Maß auf .Psychologie' im Sinne irgend einer Fachdisziplin stützen, - ist ganz genau so begründet wie die Annahme: weil die Großtaten der ,historischen Persönlichkeiten' heute ausnahmslos an das , Medium' von Schallwellen oder Tinte gebunden sind, so seien die Akustik und die Physik der tropfbaren Flüssigkeiten ihre Grundwissenschaften, oder: weil die Geschichte sich auf dem Planeten Erde abspielt, müsse dies die Astronomie, oder, weil sie vom Menschen handelt, die Anthropologie sein."4

Weber argumentiert, die verstehende Soziologie sei aufgrund ihres Interesses am Handeln im Sinne eines Sichverhaltens zu „Objekten" gerade „nicht Teil einer ,Psychologie'"5 und erläutert, „wie irrig es ist, als die letzte ,Grundlage' der verstehenden Soziologie irgendeine ,Psychologie' anzusehen".6 Weber bestimmt aber nicht nur einen anderen Gegenstandsbereich der Soziologie gegenüber der Psychologie. Vielmehr hält sein methodologisch pointiertes Argument für die Psychoanalyse gleichsam Zuckerbrot und Peitsche bereit. Einerseits nämlich betont er immer wieder seine Hoffnung auf eine nach seinen Begriffen wissenschaftlich brauchbare Psychologie.7 So sei es „gar nicht abzusehen, warum nicht z.B. die exakte psychologische Analyse etwa der religiösen Hysterie einmal gesicherte Ergebnisse zeitigen könnte."* Dies ist jedoch keine Anerkennung der bereits geleisteten psychologischen Arbeit, sondern deren einen Paradigmenwechsel fordernde Kritik. Weber betont mehrfach, „die exakte wissenschaftliche religionspathologische Arbeit" stecke, „soweit die in meinem Fall interessierenden Fragen in Betracht kommen, bekanntlich leider noch in den Anfangen" und „der wirklich gesicherte Begriffsvorrat der Psychologie" reiche „vorerst noch nicht aus, um für die Zwecke der historischen Forschung auf dem Gebiet unserer Probleme unmittelbar nutzbar gemacht zu werden, ohne die Unbefangenheit des historischen Urteils zu trüben".9 Und Weber geht noch einen Schritt

4 Weber 1987, S. 51 f. Schluchter 1991, Bd. 2, S. 476 Anm. 247, betont Webers „terminologische Bedenken gegen den Ausdrude .Psychologie' für die Analyse deijenigen Tatbestände, die nach dem Ζweck-Mittel-Schema, also pragmatisch, erfaßt werden können. Das heißt aber nicht, daß er nicht selber eine .Psychologie' hätte, freilich eine, die sowohl von der ,Triebpsychologie' wie von der Experimentalpsychologie der Zeit verschieden war. Karl Jaspers nannte sie Weltanschauungspsychologie. Eine gründliche Untersuchung von Webers Stellung zur Psychologie fehlt bislang." 5 Weber 1988 e: Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 429. Vgl. ebd., S. 432: „Die rationale Ueberlegung eines Menschen: ob ein bestimmtes Handeln bestimmt gegebenen Interessen nach den zu erwartenden Folgen förderlich sei oder nicht und der entsprechend nach dem Resultat gefaßte Entschluß werden uns nicht um ein Haar verständlicher durch .psychologische' Erwägungen. [...] Bei der soziologischen Erklärung von Irrationalitäten des Handelns dagegen kann die verstehende Psychologie in der Tat unzweifelhaft entscheidend wichtige Dienste leisten." Vgl. ebd.: „Energetische" Kulturtheorien, S. 413 f. 6 Weber 1980, S. 9. Vgl. Levine 1985, S. 179 f.; Naegeler 1988. 7 Vgl. Weber 1987, S. 34; Weber 1988 e\ Die Grenznutzlehre und das ,psychophysische Grundgesetz', S. 392 sowie Dahmer 1982, S. 175 ff. 8 Weber 1988 e: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, S. 78. 9 Weber 1987, S. 34; Weber 1988 a, S. 17 ff., 133 f. Anm. 1. Dort findet sich aber auch der auf Willy Hellpach gemünzte Hinweis, „ernster" zu nehmen seien „Ansätze zur Verwertung psychopathologischer

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weiter, indem er das Defizit, aus der psychologischen Forschung „nichts von Belang zur Befriedigung meines kausalen Bedürfnisses entnehmen" zu können,10 unter Berufung auf den ihm bekannten Psychologen Willy Hellpach einem methodischen Problem der Psychoanalyse zuschreibt, nämlich der Abhängigkeit der Einsichten von der Person des Analysierenden und somit der mangelnden Kontrollierbarkeit, Objektivierbarkeit und begrifflichen Umsetzbarkeit." Daher ist Weber auch skeptisch gegenüber bestimmten Theoremen Nietzsches, bei denen er klar erkennt, in welchem Maße sie die systematische Tiefenpsychologie antizipiert haben: „Ganz wesentliche Teile der verstehend psychologischen Arbeit bestehen ja zurzeit gerade in der Aufdeckung ungenügend oder gar nicht bemerkter und also in diesem Sinne nicht subjektiv rational orientierter Zusammenhänge, die aber dennoch tatsächlich in der Richtung eines weitgehend objektiv ,rational' verständlichen Zusammenhangs verlaufen. Sehen wir von gewissen Teilen der Arbeit der sog. Psychoanalyse hier ganz ab, welche diesen Charakter haben, so enthält z.B. auch eine Konstruktion wie Nietzsches Theorie des Ressentiment eine Deutung, welche aus dem Pragma einer Interessenlage eine - ungenügend oder gar nicht bemerkte, weil aus verständlichen Gründen ^ e i n g e standene' - objektive Rationalität des äußeren oder inneren Sichverhaltens ableitet."12

Webers eigentliches Kritikbedürfiiis aber ist noch ein anderes. Die ihm selbstverständliche Feststellung, die Psychologie werde „als empirische Disziplin erst durch Ausschaltung von Werturteilen" möglich,13 ist die Grundlage einer offenen Polemik gegen die sexualrevolutionären, libertinären Auswüchse der psychoanalytischen Bewegung, aber auch gegen ihren Begründer. In seiner Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentag 1910 in Frankfurt mahnt Weber: „Denken Sie doch daran, daß ganz bestimmte Theorien medizinischer Art, ganz bestimmte psychiatrische Theorien, heute auf dem offenkundigen Weg zur Sektenbildung begriffen sind, daß eine bestimmte, von einem berühmten Wiener Psychiater geschaffene Theorie dazu geführt hat, daß eine Sekte sich gebildet hat [...]. Der ,komplexfreie' Mensch als das Ideal und eine Lebensführung, durch die dieser komplexfreie Mensch geschaffen und erhalten werden kann, ist Gegenstand dieser Sektenwirtschaft, die allerverschiedensten Lebenszweige finden ihre Reglementierung von diesen Idealen aus".14

Der Grund von Webers Ärger hieß Otto Gross,15 aber viel interessanter und wichtiger für den vorliegenden Zusammenhang ist Webers Haltung zu Sigmund Freud selber, und in einem berühmten Brief an Else Jaffe, eine zeitweilige Geliebte von Gross, in dem Weber die Ablehnung eines dem Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik angebotenen

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Begriffe für die Deutung gewisser historischer Massenerscheinungen" - wie Freud sie später in Massenpsychologie und Ich-Analyse systematisch entwickelt hat, möchte man anfügen. Weber 1987, S. 34. Weber 1988 e: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, S. 111 Anm. 1. Vgl. zu Webers Beschäftigung mit Hellpach Frommer 1994, S. 249, 253. Weber 1988 e: „Energetische" Kulturtheorien, S. 434. Weber 1988 e: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, S. 57; vgl. ebd., S. 53. Weber 1988 d: Geschäftsbericht und Diskussionsreden auf den deutschen soziologischen Tagungen (1910, 1912), S. 446. Vgl. zu Webers Auseinandersetzung mit Gross und ihren Hintergründen Choluj 1995; Green 1976, S. 63, 74; Schluchter 1991, Bd. 1, S. 188 ff; Schwentker 1988; Strong 1988, S. 643 f.

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Aufsatzes von Gross begründet, äußert er sich tatsächlich explizit über seine Beschäftigung mit Freud: „Die Theorien von S. Freud, die ich jetzt auch aus seinen größeren Schriften kenne, haben sich im Lauf der Jahre (zugestandenermaßen) stark gewandelt und sind, nach meinem (laienhaften) Eindruck, noch jetzt keineswegs in ihre endgültige Fassung gebracht, - wichtige Begriffe, wie z.B. der des ,Abreagierens', sind gerade neuestens leider bis zur völligen Veschwommenheit verstümmelt und verwässert worden [...]. Gleichwohl unterliegt es keinem Zweifel, daß Freud's Gedankenreihen für ganze Serien von kultur-, speziell religions- historischen und sittengeschichtlichen Erscheinungen zu einer Interpretationsquelle von sehr großer Bedeutung werden können, - wenn auch freilich, von der Warte des Kulturhistorikers aus abgeschätzt, ganz entfernt nicht von so universeller, wie der sehr begreifliche Eifer und die Entdeckerfreude von Freud und seinen Jüngern dies annimmt. Vorbedingung wäre die Schaffung einer exakten Casuist ik.'M Wie seine allgemeinen Aussagen über die Psychologie changiert auch Webers Urteil über Freud zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und polemischer Ablehnung. Einerseits betont er ausdrücklich, daß er „die Freud'sehen Entdeckungen, wenn sie sich endgültig bewährten, [...] ganz gewiß zu den wissenschaftlich wichtigen" zähle, und bringt lediglich Vorbehalte gegen die zu kleine Materialbasis vor. Andererseits verspottet Weber das Freudsche „Curverfahren" als eine „Repristination der Beichte", äußert das Urteil, man erführe dadurch „im Prinzip [ . . . ] keinesfalls etwas Neues", 17 und meint, gut ein Jahr nach dem Brief an Else Jaffö, triumphierend ein zunehmendes „Verblassen der Thesen Freuds" konstatieren zu können. 18 Webers Haltung gegenüber Freud bleibt zutiefet ambivalent, und zwar nicht aufgrund einer oberflächlichen, kursorischen Lektüre, sondern nachdem er, wie Marianne Weber berichtet, sich in die Lehren Freuds „vertieft" und ihre Bedeutung erkannt hat, 19 und dies, wie an dem Aufsatz über Roscher und Knies ablesbar ist, spätestens seit 1903. 20 Webers 16

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Weber 1990: Max Weber an Else Ja®, Heidelberg, 13. September 1907, S. 394 ff. Vgl. ebd., S. 396 Anm. 5, den Hinweis auf Webers Rede auf dem ersten deutschen Soziologentag 1910 in Frankfurt/M., wo seine Bemerkung, „daß jede Art von Kultur in der Einschaltung von Hemmungen zwischen Empfindung und Abreaktion ihre Basis findet" (Weber 1988 d, S. 445), auf Webers Lektüre von Freuds 1908 erschienener Arbeit Zwangshandlungen und Religionsübung hindeutet, vgl. auch Weber 1988 e: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, S. 78. Das Theorem des Abreagierens findet sich schließlich wieder an einer für Weber so zentralen Stelle wie der Protestantischen Ethik, wo er das Verschwinden der Privatbeichte im Calvinismus als psychologischen Entwicklungsreiz für die ethische Haltung der Calvinisten interpretiert: „Das Mittel zum periodischen .Abreagieren' des affektbetonten Schuldbewußtseins wurde beseitigt." (Weber 1988 a, S. 97). Kaye 1992, S. 50 f., formuliert sogar pointiert (aber unzutreffend), Weber habe das kulturtheoretische Potential des Freudschen Ansatzes vor Freud selber erkannt. Weber 1990: Max Weber an Else Jaffi, Heidelberg, 13. September 1907, S. 403, 396, 400,401. Weber 1988 d: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, S. 249. Vgl. Weber 1988 e\ „Energetische" Kulturtheorien, S. 414 f. Anm. Marianne Weber 1950, S. 414 f. Vgl. Strong 1988, S. 642. Vgl. Choiuj 1995, S. 243. Die Freud-Rezeption ist für den JafR-Brief rekonstruiert in Weber 1990, S. 394 f. Anm. 3 u. 4, S. 400 Anm. 13 ff. Ferner ist bereits nachgewiesen, daß Weber ab 1908 den Terminus ideogen verwendet, der aus den von Josef Breuer und Sigmund Freud verfaßten Studien über Hysterie (Leipzig/Wien 1895) stammt, wo Breuer ideogen im Sinne von durch Vorstellungen bedingt verwendet; vgl. Weber 1990·. Max Weber an Robert Michels, Heidelberg, 16. August 1908, S. 641 Anm. 11; Weber 1988 e: Die Grenznutzlehre und das ,psychophysische Grundgesetz', S. 391. Weiterhin findet sich der Begriff ideogen in Weber 1988 c: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, S. 115.

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Unbehagen richtet sich dabei vor allem gegen die Ableitung einer „Sexualethik" aus den psychoanalytischen Erkenntnissen. Webers sachliche, aber im Ton ironische Rezension von Christian von Ehrenfels' Sexualethik21 richtet sich mittelbar auch gegen Freud, dessen Aufsatz Die „kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität von Ehrenfels' Arbeit angeregt worden war. Webers Verdacht, daß Freud diesen Auswüchsen zumindest nicht genügend Einhalt geboten habe, besteht zwar zu Unrecht, denn es bestehen starke Übereinstimmungen zwischen Webers Wertfreiheitspostulat und Freuds Überzeugung, die Psychoanalyse sei „unfähig, eine ihr besondere Weltanschauung zu erschaffen."22 Gleichwohl überwiegen die methodologischen Unvereinbarkeiten, denn Weber, der eine nach seinen Begriffen wissenschaftlich exakte Psychologie durchaus bejaht,23 insistiert auf einem szientistischen Psychologiebegriff und einer kulturwissenschaftlichen Methodik, die unvereinbar ist mit Freuds Offenheit für eine kulturtheoretische „Vision", unabhängig davon, ob ihr Inhalt „als historisch anzunehmen ist oder nicht".24 Da Weber und Freud in diesen methodologischen Fragen Gegenpole bilden, erscheinen kulturtheoretische Überstimmungen auf den ersten Blick unwahrscheinlich, zu stark kontrastiert Freuds Bereitschaft zur Bildung eines wissenschaftlichen Mythos auf der Basis spekulativer zivilisationspsychologischer Hypothesen mit Webers unbedingtem Willen zu methodisch erzeugter Objektivität. Sollten sich aber doch Bezugnahmen oder gar Entsprechungen zwischen Freud und Weber, die beide in starkem Maße von Nietzsche beeinflußt sind, hinsichtlich der Thematisierung kulturtheoretischer Probleme zeigen, wäre dies als Anzeichen dafür zu deuten, daß sich die von Nietzsche eingenommene Perspektive zivilisationstheoretischer Kulturkritik im Sinne der Neigung, kulturkritische Befunde in eine zivilisationstheoretische Perspektive zu rücken und zentrale soziokulturelle Probleme sub specie aeternitatis zu betrachten, jenseits methodologischer Ideale als epistemologische Grundlage kulturtheoretischen Denkens etabliert hat. Die Wirkungsmächtigkeit dieses Ansatzes, aktuelle Probleme mit kulturkritischem Impetus als Ausprägungen zivilisationstheoretischer Umstände zu thematisieren und ihnen folglich anthropogene Ausmaße zuzuschreiben, wäre schließlich offensichtlich, wenn sich zeigen würde, daß sich zwei Theoretiker von so gegensätzlicher intellektueller Sozialisation wie Freud und Weber auf ähnliche Weise von dieser Perspektive anleiten ließen.

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Weber 1908. Freud 1974 ff, Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 608. Vgl. Levine 1985, S. 189; Strong 1988, S. 644. Frommer 1994, arbeitet heraus, daß Webers Psychophysik-Aufsatz (Weber 1988 c, S. 61 ff.) „Ansätze zu einer positiven Bestimmung des Erfassens nicht-rationalen Handelns" enthalte (S. 242), und daß Webers Ansatz „als .verstehende Soziologie' im Kontext sozialpsychologischer und mikrosoziologischer Forschungskonzepte Stellenwert gebührt" (S. 256). Demnach legen Webers Psychophysik-Studie und spätere Schriften eine „.psychologiefreundliche' Interpretation nahe": Weber habe „das psychologische Verstehen weder als reines Einfühlen noch als Defizienzmodus pragmatischen Verstehens eines bewußt zweckrational geleiteten Handelns konzipiert, sondern als deutendes Verstehen, das unbewußt affektive Handlungsmotivationen auf der Basis spezifischer Kenntnisse [...] erfaßt und erklärt" (Frommer 1986, vgl. Frommer / Frommer 1990). Freud 1940ff, Bd. 14: „Selbstdarstellung", S. 93 f.

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4.2. Sexualität und Schuld: Ein religionssoziologisches Paradigma von Kultur Erschwert wird die theoriegeschichtliche Spurensuche nach Übereinstimmungen zwischen Freud und Max Weber durch den Umstand der Zeitgenossenschaft, der wechselseitige Bezugnahmen denkbar macht. Freud, der die meisten seiner kulturtheoretischen Schriften erst nach Webers Tod verfaßt hat, war vertraut mit Webers religionssoziologischen Arbeiten und hat, ohne dies kenntlich zu machen, auf die 1904-1905 erschienene Protestantische Ethik und die 1921 publizierte Studie über Das antike Judentum Bezug genommen. Letzterer schreibt jedenfalls Ernest Jones starke Auswirkungen vor allem auf Freuds zwischen 1934 und 1938 entstandene Arbeit Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu.25 Demzufolge übernahm Freud Webers Thesen, die jüdische Abkunft von Moses sei „eine späte und künstliche Konstruktion",26 die Beschneidungssitte sei von den Ägyptern nicht nur auf die Syrer und Phönizier, sondern auch auf die Israeliten übergegangen,27 und die urprünglichen Leviten seien persönliche Anhänger von Moses gewesen.28 Die Möglichkeiten einer Beeinflussung Webers durch Freud sind geringer. Lebenszeitlich bedingt reduzieren sie sich auf die drei - überdies alle nach dem zitierten Brief Webers an Else Jaffe erschienenen - Schriften Freuds Die „ kulturelle " Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) sowie Totem und Tabu (1912-1913). Insbesondere letztgenannte Arbeit bietet etliche Anhaltspunkte für Bezugnahmen Webers auf Freud, die eine Fortfuhrung der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik bedeuten. Nietzsches und Freuds Betonung, daß die Beherrschung der inneren Natur eine entwicklungsgeschichtliche Voraussetzung für die zivilisatorische Beherrschung der äußeren Natur bildet, ist für Weber bereits zu einer stillschweigenden Voraussetzung geworden. Während Freud die abendländische Naturbeherrschung zivilisationstheoretisch verallgemeinert, wenn er feststellt, die „erste Waffe" des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt sei „die Magie, die erste Vorläuferin unserer heutigen Technik" gewesen,29 differenziert Weber verschiedene religiös geprägte Kulturen: In Asien, speziell in Indien, macht er Gnosis im Sinne „mystischer und magischer Herrschaft über sich und die Welt" als Bedingung der menschlichen Naturbeherrschung und damit auch der sozialen Herrschaftsorganisation aus;30 den auf im empirischen Sinne rationale Wissenschaftlichkeit ausgerichteten Okzident sieht er hingegen geprägt durch die im Puritanismus vervollkommnete christliche Askese, deren dringendstes religiöses Anliegen „die

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Jones I960 ff., Bd. 3, S. 432 if. Weber 1988 c, S. 131; Weber 1980, S. 270. Weber 1988 c, S. 100 f. Ebd., S. 182, in Anlehnung an Studien Eduard Meyers über Die Israeliten und ihre Nachbarstämme und Die Entstehung des Judentums (beide Halle 1906). Freud 1974 ff, Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 592. Vgl. Freud 1940 ff, Bd. 14: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, S. 106 f. Weber 1988 b, S. 365.

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Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses" darstellt, und zwar mit Ziel der doppelten Naturbeherrschung: „Sie war zu einer systematisch durchgebildeten Methode rationaler Lebensführung geworden, mit dem Ziel, den status naturae zu überwinden, den Menschen der Macht der irrationalen Triebe und der Abhängigkeit von Welt und Natur zu entziehen, der Suprematie des planvollen Wollens zu unterwerfen, seine Handlungen beständiger Selbstkontrolle und der Erwägung ihrer ethischen Tragweite zu unterstellen".31

Während Buddhismus und Hinduismus einen prinzipiell eher weltflüchtigen Akzent haben, der die Welt- und damit die Naturbeherrschung limitiert, kommt mit der protestantisch-calvinistischen Prädestinationslehre ein in der jüdisch-christlichen Tradition theologisch angelegter, bis dahin jedoch unterentwickelter, extremer Weltbeherrschungsaspekt zur Geltung. Er „motiviert dazu, die ,Welt' im Namen Gottes zu beherrschen, um sich des Gnadenstandes würdig zu erweisen, in den Gott die sündige menschliche Kreatur aus freiem Willen aufgenommen hat."32 Bereits an dieser Stelle ist erkennbar, daß Weber dem von Nietzsche propagierten und von Freud fortgeführten Theorem der doppelten Naturbeherrschung folgt, und zwar indem er es als regelrecht axiomatische Basis seiner Überlegungen akzeptiert. Gleichzeitig nimmt er mit seinen religionssoziologischen Analysen eine erhebliche kulturhistorische Konkretion und Weiterentwicklung der abstrakten zivilisationstheoretischen Annahmen vor. Die Annahme eines urwüchsig „pragmatischen diesseitigen Handelns, das auf Erfolg im Umgang mit der Umwelt" abzielt, bildet den Kern von Webers anthropologischer Theorie.33 Anders als Nietzsche, dessen Begriflswahl in dieser Hinsicht höchst widersprüchlich ist, und anders als Freud, der es ausdrücklich ablehnt, die zur damaligen Zeit im deutschen Sprachraum verbreitete Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation vorzunehmen, vermeidet Weber den Begriff Zivilisation weitestgehend, ohne sich zu dieser Begriffswahl zu äußern. Der Sache nach entspricht dies Freuds Position, da der Verzicht auf den Zivilisationsbegriff logisch nur sinnvoll möglich ist, wenn mit ihm nichts anderes oder gar gegensätzliches verbunden wird als mit dem Begriff Kultur?4 Indem er bereits mit konkreten kultursoziologischen Untersuchungen einsetzt, akzeptiert Weber als Prämisse seiner Überlegungen stillschweigend jenes zivilisationstheoretische Problem, das bei Nietzsche angedacht und bei Freud zum Zentralthema ausdifferenziert ist, nämlich die Frage, wie es den Menschen erstmalig gelungen ist, ihre triebhaften Aggressionen untereinander so weit zu unterdrücken beziehungsweise zu sublimieren, daß sie ihre Herrschaft über die äußere Natur dauerhaft etablieren konnten, mit anderen Worten, wie sie das Mordtabu erfinden und verstetigen konnten. Schließlich ist jene fundamentale Kulturleistung des Menschen ein schlechthin zentrales Motiv aller von Weber untersuchten Religionen.

31 Weber 1988 a, S. 116 f. 32 Schluchter 1980, S. 21. 33 Tenbruck 1975, S. 685 f. Vgl. Winckelmann 1980, S. 52 Anm. 138. 34 Goudsblum 1984, S. 134, hingegen erklärt Webers Verzicht auf den Zivilisationsbegriff „unter anderem mit seinem geringen Vertrauen in die Theorien Freuds" (vgl. ebd., S. 142), ohne daß klar wird, was beides miteinander zu tun haben soll.

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Zur Klärung der Frage, wie die Menschheit überhaupt auf die Idee kam, sich namentlich durch die Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt zu zivilisieren, unternahm Freud die hypothetische Rekonstruktion der kulturellen Urszene. Solch hypothetische Überlegungen lassen sich bei Max Weber aufgrund seiner angedeuteten methodischen Ideale natürlich keinesfalls finden. Wie sehr er solche Konstruktionen ablehnt, zeigt seine lapidare, nach einer unmittelbaren Replik auf Freuds Ansatz klingende Bemerkung, daß wir „die subjektiven Vorgänge im .Urmenschen'" nicht kennen und wissenschaftlich seriös kein anthropologisches, Lamarcksches Erbgut vermuten können.35 Gleichwohl wäre dieser Hinweis und das in ihm steckende Plädoyer für eine Beschränkung auf empirisch kontrollierbare Theoreme überflüssig, wenn dies nicht ein Bedauern über diese Grenze wissenschaftlicher Aussagen enthielte. Mit anderen Worten: Der historisch forschende Kultursoziologe Weber wäre an einer zivilisationsgeschichtlichen Rekonstruktion ab ovo sehr interessiert, wenn sie denn nur nach seinem Wissenschaftsbegriff möglich wäre. Denn daß die historisch verfahrende Kultursoziologie zu einem regressus ad originem führt, erkennt Weber durchaus, wenn er mit der Frage fortfährt, wie in einer Welt „der Eingestelltheit auf das ,Regelmäßige' als das ,Geltende' irgendwelche ,Neuerungen'" überhaupt entstehen können. In dieser Abstraktheit, die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen begrifflich erfassend, wie es in der rubrizierenden Sprache von Wirtschaft und Gesellschaft heißt, kann Weber die seinem methodischen Purismus drohende Spekulation noch relativ leicht abwehren, indem er darauf verweist, daß „nach allen Erfahrungen der Ethnologie [...] die wichtigste Quelle der Neuordnung der Einfluß von Individuen zu sein" scheine.36 Sobald seine Analyse substantieller wird, kehren jedoch in der Rechtssoziologie dieselben Fragen α fortiori zurück: „Die urwüchsige Konzeption von Rechtsnormen könnte [...] rein theoretisch am einfachsten so gedacht werden: daß anfangs rein faktische Gewohnheiten des Sichverhaltens infolge der psychischen ,Eingestelltheit' 1. als .verbindlich' empfunden und mit dem Wissen von ihrer überindividuellen Verbreitung 2. als .Einverständnisse' in das halb oder ganz bewußte .Erwarten' eines sinnhaft entsprechenden Handelns anderer hineingehoben werden, denen dann 3. die sie gegenüber den .Konventionen' auszeichnende Garantie von Zwangsapparaten zuteil wird. Allein schon rein theoretisch fragt es sich dann: wie kam Bewegung in eine träge Masse derart kanonisierter .Gewohnheiten', welche ja aus sich heraus, gerade weil diese als .verbindlich' galten, nichts Neues gebären zu können scheint?"37

Offensichtlich stellen sich Webers scheinbar so nüchterner, historisch-empirischer Analyse hier unabweisbare, durchaus im engeren Sinne psychologische Fragen, die entweder spekulative Elemente hineintragen oder als unlösbar offen gelassen werden müssen. Weber hingegen wählt einen eigentlich nicht vorhandenen dritten Weg: Er macht gleichsam einen Sprung aus der in Frage stehenden, wissenschaftlich dunklen menschlichen Vor- und Frühgeschichte in den kultursoziologisch rekonstruierbaren historischen Kulturprozeß. In ihm erscheinen Neuerungen in Gewohnheiten und Normen bedingt durch „ein neuartiges Handeln, welches zu einem Bedeutungswandel von geltendem Recht oder zur Neuschaf35 36 37

Weber 1980, S. 188. Weber 1988 a, S. 15 f. Weber 1980, S. 188. Weber beruft sich hier abermals auf Willy Hellpach. Weiterhin dürften vor allem Otto Stoll, Wilhelm Wundt und Karl Jaspers Webers dies bezügliche Überlegungen beeinflußt haben. Weber 1980, S. 441 f. Vgl. zu den Zusammenhängen zwischen Religions- und Rechtssoziologie Treiber 1984.

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fung von Recht führt."38 Urheber solchen Handelns und damit die wichtigste Quelle der Neuordnung soll ja, ethnologischen Einsichten zufolge, der Einfluß von Individuen sein. Um jegliche Spekulation zu vermeiden, verzichtet Weber darauf, in Freudscher Manier die Anfänge von Moral und Recht schlechthin und damit die zivilisatorische Initialzündung ermitteln zu wollen und konzentriert sich stattdessen auf die historiographisch überlieferten kulturellen Entwicklungsprozesse.39 Webers Konzentration auf die kulturgeschichtliche Entwicklung seit der zivilisatorischen Initialzündung läßt jedoch eine Frage offen, die für sein Untersuchungsinteresse wesentlich ist, und zwar diejenige nach der primären, ursprünglichen Motivation, Moralnormen und Rechtssätze überhaupt zu befolgen. Weber muß die zivilisationstheoretischen Annahmen und Theoreme, die er nicht explizit thematisiert, voraussetzen beziehungsweise implizit, sozusagen verdeckt erörtern, um überhaupt die kategoriale Grundlage für seine historische Kultursoziologie zu erhalten.40 Diese verdeckte Erörterung erfolgt im Rahmen seines soziologischen Interesses an den Religionen als kulturgeschichtlichen Phänomenen. Weber teilt demnach mit Freud die analytische Suchmaske, Religion als originäres und insoweit charakteristisches Kulturmerkmal, als das Kulturparadigma schlechthin zu verstehen. Seine Zugangsweise ist jedoch exakt spiegelverkehrt: Freud nimmt keine verdeckte Erörterung dieser Thematik vor, sondern ist an dem empirischen Kulturphänomen der Religion nur mit Blick auf dessen zivilisationstheoretische Relevanz interessiert; Weber konzentriert sich umgekehrt ganz auf das Verstehen der historisch dokumentierten Kulturentwicklung und gerät dabei unfreiwillig in zivilisationstheoretische Gefilde. Wie bereits erörtert, ergibt sich für Freud aus den Befunden von Totem und Tabu ein enger Zusammenhang zwischen den Kulturleistungen des Menschen, die eine gemeinsame sexuelle Wurzel haben. „Religion, Moral und soziales Empfinden - diese Hauptinhalte des Höheren im Menschen - sind ursprünglich eins gewesen. Nach der Hypothese von Totem und Tabu wurden sie phylogenetisch am Vaterkomplex erworben, Religion und sittliche Beschränkung durch die Bewältigung des eigentlichen Ödipuskomplexes, die sozialen Gefühle durch die Nötigung zur Überwindung der erübrigenden Rivalität unter den Mitgliedern der jungen Generation."41

Eine konstitutive Bedeutung für den Zivilisationsprozeß kommt dabei der Religion zu, deren Mechanismen nicht nur, wie in Totem und Tabu aufgezeigt, den ursprünglichen Kulturakt ausmachten, als der Brüderclan den Vatermord ritualisierte und durch religiöse Überhöhung das Mordtabu schuf. Vielmehr bleiben die sich fortan ausdifferenzierenden Religionen zur Verstetigung dieser primären Kulturleistung erforderlich, weil sie zu dem

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Weber 1980, S. 442. Vgl. Weber 1980, S. 417, wo er im „Dualismus des Rechts der Verbände" den „Anfang aller Rechtsgeschichte" [Hervorhebung von mir, K.F.] verortet, anstatt den Anfängen des Rechts überhaupt nachzuspüren. Vgl. entsprechend ebd., S. 392 f., zur Entstehung des Strafrechts u. ebd., S. 412, zum Endogamieverbot. Turner 1987, S. 224, betont „an implicit philosophical anthropology in Weber's account of rationalization". Vgl. Hennis 1987, S. 98 f , 101; Tenbruck 1975, S. 685 f Freud 1974 ff., Bd. 3: Das Ich und das Es, S. 304.

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für die Aufrechterhaltung der Zivilisation erforderlichen Triebverzicht beitragen, „indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen."42 In gleicher Form schreibt auch Max Weber der Religion eine zentrale Rolle bei der Verstetigung, ja Institutionalisierung dieses Triebverzichts dergestalt zu, daß sie dem Gläubigen die Möglichkeit bietet, seinen ungeliebten Triebverzicht als religiöses Opfer zu erbringen und ihm so durch die rituelle Sinnstiftung doch noch Befriedigung abzugewinnen: „Die Beziehungen der Religiosität zur Sexualität sind, teils bewußt, teils unbewußt, teils direkt, teils indirekt, ganz außerordentlich intime. [...] Zunächst ist der sexuelle Rausch in typischer Art Bestandteil des primitiven religiösen Gemeinschaftshandelns des Laien: der Orgie. [...] Die sexuelle Rauschorgie kann nun [...] zur ausgesprochen oder unausgesprochen, erotischen Gottes- oder Heilandsliebe sublimiert werden. [...] Andererseits ist aber zweifellos, daß auch ein erheblicher Bruchteil gerade der antierotischen mystischen und asketischen Religiositäten eine stellvertretende Befriedigung sexual bedingter physiologischer Bedürfnisse darstellt."43

Bis in die Formulierungen hinein folgt Weber hier dem kulturtheoretischen Ansatz Sigmund Freuds, den er zwar offensichtlich historisch konkreter und spezifischer und mit weit größerem Interesse an kultursoziologischen Exemplifikationen durchdenkt, aber bis in das sowohl für Freud wie auch fur Nietzsche zentrale Theorem der Sublimierung hinein übernimmt.44 Wenn er „den historischen Umweg einer Rekonstruktion von Religion" nimmt, um „sich dem Phänomen der modernen Kultur" zu nähern,45 ist Weber schon durch diese Systematik seiner Fragestellung auf jene zivilisationstheoretischen Annahmen verwiesen, die er explizit so wenig zu erörtern bereit ist. Die Entsprechungen zwischen Freud und Weber liegen jedoch nicht nur auf dieser gleichsam vertikalen Linie einer parallelen Fragestellung, sondern setzen sich fort auf der quasi horizontalen Ebene der soziologischen Exemplifikationen zivilisationstheoretischer Grundannahmen. Den diesbezüglichen Andeutungen Freuds entsprechend, erfolgen diese bei Weber nämlich ebenfalls entlang der Topoi Totemismus, Tabu, Opfer und Schuld. Anders als Freud, der sich gar nicht so sehr für soziologische Belege seiner anthropologischen Makrotheorie interessiert, betont Weber, daß im Okzident keine Tabuschranken und totemistischen Grundlagen von Sippenverbänden nachweisbar seien. Vielmehr sei die totemistische Sippenexogamie ein kulturgeschichtlich spätes Produkt vor allem dort, wo es 42

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Freud 1940ff., Bd. 7: Zwangshandlungen und Religionsübungen, S. 139. Vgl. ebd., S. 137; ebd., Bd. 8: Das Interesse an der Psychoanalyse, S. 418 f.; Freud 1974 ff., Bd. 1: Vorlesungen zur Einfuhrung in die Psychoanalyse, S. 48; ebd.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 543. Weber 1980, S. 362. Vgl. Weber 1991, S. 225. Bocock 1978, S. 52, spricht von Webers „apparent willingness, following Freud, to acknowledge the pervasive role of sexuality in social action beyond the sphere of religion" und konstatiert: „Weber's analysis is at other points very like that of Freud. [...] Weber is also explicit in seeing religion and sex as linked psychologically." (Ebd., S. 137). Vgl. ebenso Kaye 1992, S. 52. Weber interessieren dabei nicht die „noch ziemlich strittigen neurologischen", sondern „die ,sinnhaften' Zusammenhänge" (Weber 1980, S. 362; vgl. ebd., S. 307), was sich als Seitenhieb auf die Psychoanalyse verstehen läßt. Gleichzeitig aber verwendet Weber in diesem Zusammenhang den Begriff Sexualneurastheniker (ebd., S. 364), was den Freudschen Überlegungen zur Ähnlichkeit von Zwangshandlungen und Religionsübungen sehr nahe kommt. Jaeger 1992, S. 382. Vgl. Breuer 1991, S. 31; Tenbruck 1975, S. 670.

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nicht zu großen politisch-militärischen und städtischen Verbandsbildungen gekommen sei. Dementsprechend fänden sich in den antiken Religionen allenfalls verkümmerte Ansätze totemistisch-tabuistischer Sozialorganisation,46 so daß „der Glaube an die einst universelle Geltung und erst recht die Ableitung fest aller sozialen Gemeinschaften und der gesamten Religion aus dem Totemismus [...] als eine gewaltige Uebertreibung heute wohl durchweg aufgegeben" sei und lediglich „für die magisch geschützte und erzwungene Arbeitsteilung der Geschlechter und die Berufsspezialisierung und damit für die Entwicklung und Reglementierung des Tausches als regulärer Binnenerscheinung (im Gegensatz zum Außenhandel)" als Motiv eine Rolle gespielt habe.47 Angesichts dieser methodischen und inhaltlichen Differenz zu Freud ist es um so auffälliger, daß Weber dennoch mittels der Phänomene von Totemismus und Tabu diejenigen zivilisationstheoretischen Probleme gleichsam verdeckt erörtert, die sich ihm uneingestandenermaßen unabweisbar gestellt hatten, nämlich die Frage, wie in einer Welt der Eingestelltheit auf das Regelmäßige als das Geltende irgendwelche Neuerungen entstehen, und damit die Frage nach der ursprünglichen Motivation, Moralnormen und Rechtssätze überhaupt zu befolgen. Vergleicht man Webers Argumentation an dieser Stelle mit Freuds und Tabu, so kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, daß Weber die um Freuds Theorem entstandene Diskussion kannte, ohne seine Kenntnis auszuweisen. Ein Indiz hierfür bildet neben der bereits zitierten, Freud widersprechenden Bemerkung, daß der Glaube an die einst universelle Geltung und für die Entstehung sozialer Gemeinschaften und Religionen konstitutive Bedeutung des Totemismus aufgegeben sei, Webers Hinweis, daß „ueber die Entwicklung dieser weithin über die Erde verbreiteten totemistischen Verbrüderungen [...] ungeschlichteter Streit" herrsche, der sich neben der andauernden Diskussion über Freuds Totem und Tabu vor allem auf den von Freud stark rezipierten James G. Frazer mit seinen Arbeiten Totemism and Exogamy und The Golden Bough bezieht, der Weber vertraut war.48 Ganz ausdrücklich betont Weber die Herkunft kultureller Normen aus einer Rationalisierung des Tabu: „Die Rationalisierung des Tabu fuhrt eventuell zu einem System von Normen, nach denen ein- für allemal gewisse Handlungen als religiöse Greuel gelten, für welche irgendeine Sühne [...] eintreten muß, wenn nicht der böse Zauber alle Volksgenossen treffen soll, und es entsteht so ein System tabuistisch garantierter Ethik [...]. In einer anscheinend nicht hinlänglich aufzuklärenden Art haben sich nun tabuartige Normen speziell mit der Bedeutsamkeit gewisser in einem einzelnen Objekt, besonders in Tieren, hausender Geister für bestimmte soziale Kreise verknüpft. [...] Zu den verbreitetsten hieraus sich entwickelnden sozialen Institutionen gehört der sog. Totemismus·. eine spezifische Beziehung zwischen einem Objekt, meist einem Naturobjekt, im reinsten Typus: einem Tier, und einem bestimmten Menschenkreise, dem es als Symbol der Verbrüderung, ursprünglich wohl: der durch gemeinsame Verzehrung des Tieres erworbenen, gemeinsamen Besessenheit von dessen ,Geist', gilt."49

46 47 48 49

Weber 1980, S. 745. Ebd., S. 265. Vgl. Küenzlen 1978, S. 223. Vgl. auch die ausführliche Studie Küenzlen 1980. Weber 1980, S. 264 f. Vgl. ebd., S. 219 f , 392 f , 412.

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Weber lehnt es zwar ab, den Totemismus als universelle Grundlage menschlicher Zivilisationsbildung zu verstehen, teilt jedoch mit Freud dasselbe Begriffsverständnis50 und bemüht unter Verweis auf den unauflöslichen Zusammenhang mit dem Totemismus das an altisraelischen wie frühneuzeitlichen Rechtsnormen exemplifizierte Phänomen charismatischer Tabuierungsgewalt,51 um sein unterschwelliges zivilisationstheoretisches Grundproblem zu klären, weswegen Rechtsnormen überhaupt befolgt werden. Diesem Erklärungsansatz nach müssen die Grundlagen von Rechts- und Moralgeltung zurückgeführt werden auf eine Rationalisierung von Tabus in Richtung einer normativen Systematik, die bestimmte tabuisierte Handlimgen als religiös und somit fremdbestimmt verboten definiert. Diese Freud so stark entsprechende Deutung ist gleichzeitig eine unmittelbare Anknüpfung an Nietzsche, denn Weber rekurriert mit diesem Ansatz auf das Phänomen von Schuld und Sühne als sozialintegrativen Kategorien. Beide weisen in dieser Funktion jeweils eine individuelle und eine öffentliche Komponente auf. So dient die Kategorie der Schuld einerseits der Erzeugung und Stabilisierung individuellen Gewissens im sozialen Interesse automatischer und fragloser Normbefolgung sowie andererseits der öffentlichen Stigmatisierung als generalpräventivem Disziplinierungsmoment. Die Kategorie der Sühne wiederum bedeutet einerseits ein Instrument öffentlicher Macht, insofern sie die Option der Sanktionierung bzw. Strafe enthält. Andererseits verbürgt der Gedanke der Sühne die Reversibilität des Fehlverhaltens und die Resozialisierbarkeit des Täters und fungiert so für die Individuen als versöhnendes Identifikationsmittel mit der als strafende Instanz auftretenden normsetzenden Gesellschaft. Eine zentrale Rolle in diesem Verfahren der Rationalisierung religiöser Tabuisierung zu einem System sozialmoralischer Normen spielt für Weber das Opfer, dessen religiöse Bedeutung als Sublimierung des Triebverzichts er bereits betont hat. Darüber hinaus schreibt er dem Opferritual nun auch die Funktion zu, über die Sicherstellung der individuellen Bereitschaft zu „zivilisiertem" Verhalten hinaus als symbolische Reproduktion sozialen Verhaltens überhaupt zu füngieren. „Auch das Opfer taucht zunächst auf als magisches Mittel. Teils direkt im Dienst des Götterzwangs [...]. Noch wichtiger und wahrscheinlich auch alter ist aber das andere Motiv: das Opfer, speziell das Tieropfer, soll eine ,communio', eine als Verbrüderung wirkende Tischgemeinschaft zwischen den Opfernden und dem Gott herstellen: eine Bedeutungswandlung der noch älteren Vorstellung, daß das Zerreißen und Essen eines starken, später eines heiligen, Tieres dessen Kraft den Essenden mitteile. [...] Eine Abwendung vom Magischen bedeutet dagegen die Vorstellung des Opfers entweder als eines Tributs [...] oder vollends als einer selbst auferlegten ,Strafe' zur rechtzeitigen Abwendung der Rache des Gottes als Bußopfer. [...]. ,Do ut des' ist der durchgehende Grundzug. Dieser Charakter haftet der Alltags- und Massenreligiosität aller Zeiten und Völker und audi allen Religionen an."52

Hiermit ist eine weitere, bis in die Begrifflichkeit reichende, enge Verbindung zu Freud hergestellt, der „das Opfer - die heilige Handlung eäo' έξϊ-^ί" - bestimmt als „Darbringung an die Gottheit, um sie zu versöhnen oder sich geneigt zu machen", so daß das 50

Vgl. Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 296: In der Regel ist der Totem „ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht." 51 Weber 1980, S. 264. Vgl. ebd., S. 249 f die Rückführung des die Entstehung von Rechtsnormen bedingenden mythologischen Denkens auf symbolistisch rationalisierte Magie. 52 Ebd., S. 258 f.

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Opfer als „ein Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gotte" zu verstehen ist, mit dem eine Bekräftigung der menschlichen Vergesellschaftung und ihrer zivilisatorischen Errungenschaften vorgenommen wird.53 Bis hierhin hat sich gezeigt, daß Weber, der sich, anders als Nietzsche und Freud, vordergründig nicht zu einer die Empirie überschreitenden, hypothetischen Rekonstruktion der menschlichen Urgeschichte bereitfindet, gleichwohl aufgrund der Tiefenschärfe seiner Fragestellung und seines systematischen Anspruchs zivilisationstheoretische Annahmen tätigen muß, die den von Freud im Zusammenhang mit seiner These aus Totem und Tabu formulierten weitgehend entsprechen, so daß eine Fortsetzung der von Nietzsche begonnenen und von Freud systematisierten zivilisationstheoretischen Perspektive bei Max Weber festgestellt werden kann. Gleiches wird sich nun aber auch noch hinsichtlich des mit der Wahl dieses Blickwinkels untrennbar verbundenen kulturkritischen Akzents herausstellen. Mit dem Verständnis des Opfers als eines kulturellen Rituals zur Sicherstellung der Akzeptanz des zivilisatorischen Gewalttabus und weiterer, abgeleiteter sozialer Normen taucht nämlich auch für Weber ein Problem auf, das bereits Nietzsche umgetrieben hat, nämlich die Frage, wie nach dem Tod Gottes jener kulturelle Konsens weitreichenden Triebverzichts reproduziert werden soll. Indem Weber einen in der Moderne kulminierenden fortschreitenden Erosionsprozeß diagnostiziert, benennt er für dieses Fragilitätsproblem der Zivilisation weniger prinzipielle, im Wesen der Kultur als permanenter Triebversagung liegende zivilisationspsychologische Gründe, als die Freud das Unbehagen in der Kultur versteht, sondern denkt historischer und kommt auf diese Weise zu einer Reformulierung von Nietzsches kulturkritischem Befund einer autokatalytischen Dialektik der Aufklärung, die er mit seinen kultursoziologischen Analysen gleichzeitig in sozialwissenschaftliche Richtung weitertreibt.54

53 Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 418. 54 Hinsichtlich dieser soziologischen Konkretisierung ist audi Georg Simmel von Bedeutung, der zwar weniger „gegen den Geist der Epoche gerichtet" war als Weber (Scaff 1987, S. 259), aber in der Philosophie des Geldes das Problem thematisiert, daß in der technisierten Moderne paradoxerweise aus den Beherrschern der Natur deren Diener würden (Simmel 1989 b, S. 673 f.) und in seiner Schrift Über sociale Differenzierung (Simmel 1989 a, S. 109 ff.) bereits einen zentralen soziologischen Topos der Nachkriegszeit thematisiert; vgl. Dahme 1988; Frisby 1988; Nedelmann 1988; Schluchter 1996; Weiß 1988. Vgl. zu den von Frisby 1984, S. 9 ff., behaupteten Nahen zwischen Benjamin und Simmel einen Brief Benjamins an Adorno vom 23.02.1939 (Adorno - Benjamin 1994, S. 405), in dem es über Simmel heißt: „Sollte es nicht Zeit werden, einen der Ahnen des Kulturbolschewismus in ihm zu respektieren? [...] Letzthin nahm ich seine .Philosophie des Geldes' vor. [...] Man kann [...] in dem Buch, wenn man von seinem Grundgedanken abzusehen entschlossen ist, sehr Interessantes finden. Mir war die Kritik der Werttheorie von Marx frappant." [Hervorhebung von mir, K.F.].

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4.3. Eine Soziologische Dialektik der Aufklärung: Webers Dialektik der Rationalisierung Als „treibende Kraft aller Religionsentwicklung", die ihm als Kulturparadigma dient, bestimmt Weber, hierin ganz aristotelisch, „die Erfahrung von der Irrationalität der Welt":55 Die Fähigkeit des Erstaunens über den Gang der Welt ist Voraussetzung der Möglichkeit des Fragens nach ihrem Sinn. Das starke Bedürfiiis nach Sinn und Verstehbarkeit des Weltgeschehens, das zugleich die problematische Erfahrung seiner Enttäuschung birgt, ergibt sich Weber zufolge in frühen Phasen des Rationalisierungsprozesses als Resultat der Erfahrung steigender Beherrschbarkeit und Gestaltbarkeit der Lebensbedingungen, wie sie sich insbesondere in der Ausbildung des bürgerlichen Handwerks bemerkbar macht: „In das Resultat der Arbeit des Töpfers, Webers, Drechslers, Tischlers geht außerordentlich viel weniger an unberechenbaren Naturereignissen ein, vor allem auch von den als undurchschaubare, nur phantastisch deutbare Neuschöpfung der Naturgewalten wirkenden organischen Zeugungsvorgängen, als in die Landarbeit. Das dadurch bedingte Maß von relativer Rationalisierung und Intellektualisierung paart sich [...] mit dem Verlust der unmittelbaren Beziehung zu der plastischen und vitalen Realität der Naturgewalten. Aus ihrer Selbstverständlichkeit gerissen werden sie nun zum Problem. Die rationalistische, stets zur religiösen Spekulation führende Frage nach einem ,Sinn' des Daseins jenseits seiner selbst taucht auf."56

Die Religion bietet einen überzeugenden und umfassenden Bezugsrahmen für die Sinnfrage und macht sie dadurch beantwortbar. Gleichwohl verschärft sich bald das zunächst abstrakte, aus intellektueller Neugier und der Erfährung zunehmender Beherrschbarkeit der Welt erwachsene Sinnproblem, und zwar durch die alltägliche Erfahrung unverdienten Leidens. Sie erneuert die Sinnfrage, indem sie sie zu einer Wertfrage erweitert und so eine immer weiter fortschreitende „Entwertung der Welt" bewirkt, insofern die universelle Verbreitung nicht als gerecht bzw. verdient erkennbaren Leidens nur verstehbar und erklärbar gemacht werden kann „durch das andere, noch irrationalere Problem der Herkunft der Sünde" bzw. der Schuld. Nur eine fundamentale Schuldhaftigkeit der Leidenden kann das Leiden als sinnvoll erweisen; „eine zum Sündigen geschaffene Welt mußte aber ethisch noch unvollkommener erscheinen als eine zum Leiden verurteilte."57 Weber liefert hiermit gewissermaßen die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Erklärung für Nietzsches Religionstypologie und seine Beobachtung aus der Genealogie der Moral,5* daß der Gedanke der Sünde „dem Würdegeföhl feudaler Herrenschichten" ebenso widerspricht wie er „dem genuinen Bauern" unverständlich ist: „Nach , Erlösung' begehren diese agrarischen Schichten weder, noch wußten sie recht: wovon sie ,erlöst' zu werden wünschen sollten. Ihre Götter sind starke Wesen mit Leidenschaften ähnlich denen der Menschen, je nachdem tapfer oder heimtückisch, freundlich oder feindlich gegeneinander und

55

Weber 1994: Politik als Beru£ S. 82. Vgl. die hierzu kontrastive Erklärung bezüglich des Judentums in Weber 1988 c, S. 239 f. 56 Weber 1980, S. 703. 57 Ebd., S. 229. 58 Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 245 ff.

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gegen die Menschen, jedenfalls aber gänzlich unmoralistisch wie diese audi, der Bestechung durch Opfer und dem Zwang durch magische Mittel unterworfen, welche den Menschen, der diese kennt, noch starker machen als sie. Zu einer ,Theodizee' und überhaupt zu einer ethischen Spekulation über die kosmische Ordnung liegen hier noch gar keine Motive vor".39

Das Ende der jenseits von gut und böse orientierten antiken Religionen durch „das Hineintragen moralisierender Wertungen in die Religiosität", das Nietzsche als Wirkungsweise und subversive Machtstrategie des ressentimentgeladenen Christentums interpretierte, sieht Weber verknüpft mit der „berufsmäßigen stetigen Art der Kundenarbeit des Handwerkers" und „seiner stärker der rationalen Ordnung bedürftigen sozialen Verflochtenheit". Laut Weber entstehen also erst „mit einer gewissen Entwicklung gewerblicher Arbeit, meist direkt mit derjenigen der Städte" „die , Verinnerlichungen' und Rationalisierungen des Religiösen, d.h. insbesondere die Hineinlegung ethischer Maßstäbe und Gebote, die Verklärung der Götter zu ethischen Mächten, welche das ,Gute' wollen und belohnen und das ,Böse' strafen, daher auch selbst sittlichen Forderungen gerecht werden müssen, die Herausbildung vollends des Gefühls der ,Sünde' und der Sehnsucht nach ,Erlösung'".60 Weber folgt offensichtlich genauestens Nietzsches zivilisationstheoretischem Theorem der Verinnerlichung und den entsprechenden Analysen Freuds zur Introversion, fundiert sie jedoch gesellschaftsgeschichtlich. Die aus diesem Prozeß resultierende „ethische Verwerfimg der empirischen Welt" muß sich aber alsbald zu einer Entwertung und Verwerfung der Kultur schlechthin auswachsen, denn in der natürlichen Existenz läßt sich keine Schuldhaftigkeit denken. Folglich liegt es nahe, die Kulturleistungen und die offensichtlich widernatürliche, den eigenen Triebregungen entgegenstehende soziale Ordnung für das Leiden verantwortlich zu machen und die zivilisatorisch-kulturellen Normen in Frage zu stellen, teilweise durchaus durch deren Radikalisierung zu einer fundamentalistischen Brüderlichkeitsethik, deren mangelnde Realisierbarkeit nicht der ihr konträren menschlichen Natur, sondern der bestehenden Kultur angelastet wird: „Nun konnte eine Gedankenreihe in den religiösen Horizont treten, welche von weit größerer Bedeutung war als Unvollkommenheit und Vergänglichkeit der Weltgüter im allgemeinen, weil sie geeignet war, gerade die üblicherweise höchstgestellten .Kulturgüter' unter Anklage zu bringen. Ihnen allen haftete ja die Todsünde einer unvermeidlichen spezifischen Schuldbelastetheit an. [...] Religiöse Schuld konnte nun nicht nur als gelegentliches Akzidens, sondern als ein integrierender Bestandteil aller Kultur, alles Handelns in einer Kulturwelt und, schließlich, allen geformten Lebens überhaupt erscheinen. Gerade alles Höchste, was diese Welt an Gütern zu bieten hatte, schien dadurch mit der größten Schuld belastet."61

Indem Weber religiöse Schuld nunmehr gar als integrierenden Bestandteil aller Kultur begreift und so von einem konstitutiven Zusammenhang von Kultur und religiöser Schuld ausgeht, weist seine Kulturtheorie eine beachtliche und kaum zufällige Parallele zu derjenigen Freuds auf, der mit seinem „wissenschaftlichen Mythus" aus Totem und Tabu die Entstehung der Zivilisation aus dem Mordtabu in der ritualisierten Reue des Brüder59 Weber 1980, S. 229; vgl. ebd., S. 288. 60 Ebd., S. 703 f. 61 Weber 1991, S. 230. Folglich war „die Frage der certitudo salutis selbst [...] für jegliche nicht sakramentale Erlösungsreligion [...] schlechthin zentral [...]. Hier entsprangen alle psychologischen Antriebe rein religiösen Charakters." (Weber 1988 a, S. 103 Anm. 2; vgl. Weber 1988 b, S. 219).

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clans über den Mord am Urvater begründet sieht.62 Mehr noch: Indem Weber das Problem betont, daß die Erfindung religiöser Schuld zwar als Theodizee funktioniert, nicht jedoch als Soziodizee, folgt er Nietzsches Hinweis, daß die aus diesem Denken abgeleiteten Normen, beispielsweise die prätendierte Brüderlichkeitsethik langfristig selbstzerstörerisch wirken. Dies reformuliert gleichzeitig Freuds Diagnose eines Unbehagens in der Kultur auf soziologischer Ebene. Während bei Freud jedoch dieses Unbehagen in erster Linie aus den Ansprüchen der fortexistierenden Triebnatur resultiert, differenziert Weber das Problem, indem er es nicht anthropologisch, sondern als Ergebnis eines kontingenten geistes- und sozialgeschichtlichen Prozesses begreift. Dadurch hat sich Weber die Voraussetzung geschaffen, an Nietzsches Behauptung eines dialektischen Verlaufe der durch naturbeherrschende Rationalität gekennzeichneten gesamten zivilisatorischen Entwicklung anzuknüpfen, von der Freud abgerückt war. Dies beinhaltet vor allem auch eine Rückkehr zu Nietzsches Theorem, daß das Gewaltproblem im Gesellschaftszustand kein archaischer Regreß ist, wie Freud suggeriert, sondern ein Ergebnis des Zivilisationsprozesses selber und insbesondere seiner Legitimationsideologien, welche die zivilisatorische Emanzipation von den natürlichen Ursprüngen irrationalerweise nachträglich diskreditieren: „Die äußere Ordnung der sozialen Gemeinschaft, je mehr sie zur Kulturgemeinschaft des staatlichen Kosmos wurde, war offensichtlich überall nur mit brutaler, um Gerechtigkeit sich nur nominell und gelegentlich, jedenfalls nur soweit die eigene ratio es zuließ, kümmernder Gewalt aufrechtzuerhalten, die aus sieb unvermeidlich immer neue Gewalttaten nach außen und innen und überdies noch unaufrichtige Vorwände für solche erzeugte, also: offene oder, was schlimmer scheinen mußte: pharisäisch verhüllte Lieblosigkeit bedeutete. Der versachlichte ökonomische Kosmos, also gerade die rational höchste Form der für jede innerweltliche Kultur unentbehrlichen materiellen Güterversorgung, war ein Gebilde, dem die Lieblosigkeit von der Wurzel aus anhaftete. Alle Arten des Handelns in der geformten Welt schienen in die gleiche Schuld verstrickt. [...] Alle .Kultur' erschien, so angesehen, als ein Heraustreten des Menschen aus dem organisch vorgezeichneten Kreislauf des natürlichen Lebens, und eben deshalb dazu verdammt, mit jedem Schritt weiter eine nur immer vernichtendere Sinnlosigkeit, der Dienst an den Kulturgütern aber, je mehr er zu einer heiligen Aufgabe, einem .Beruf gemacht wurde, ein um so sinnloseres Hasten im Dienst wertloser und überdies in sich überall widerspruchsvoller und gegeneinander antagonistischer Ziele zu werden."63

Auf eine Formel gebracht, besagt Webers durchaus dialektisch gedachter Befund, daß die Rationalisierung der ursprünglich primär qua Tabuisierung gesetzten Normen zu einem ethischen System im Zuge der mit dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung einhergehenden sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung das Problem ausmacht. Weber erkennt also das unterschwellige tiefgründige Unbehagen, das den Rationalisierungsprozeß aus immanenten Gründen von Beginn an begleitet. Hieran zeigt und erklärt sich Webers allgemeiner Kulturbegriff^ denn im Objektivitätsaufeatz heißt es, für „Kulturmenschen" sei es kennzeichnend, „begabt" zu sein „mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen."64 Diese für den Kulturprozeß konstitutive Sinnproblematik, die sich mit seinem Fortschreiten sukzessive verschärft, bis die Welt schließlich in der Moderne zu einem bürokratischen stahlharten 62 Rehberg 1986, S. 112 Anm. 67. Vgl. Bocock 1978, S. 135; Hennis 1987, S. 98 ff.; Nelson 1981, S. 7; Rehberg 1983; Tenbruck 1975, S. 685 f. 63 Weber 1991, S. 230. 64 Weber 1988 e: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 180.

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Gehäuse wird, zur verwalteten Welt, wie es bei Adorno heißen wird, erörtert Weber anhand seines Theorems der Entzauberung der Welt. Insofern er sie einerseits als einen seit Urzeiten ablaufenden und in der Moderne nur kulminierenden Intellektualisierungsprozeß versteht, ist die Entzauberung ein Ausdruck der Dialektik der Rationalisierung, denn sie ist eine Ausgeburt fortschreitender Rationalisierung und der immanenten Dialektik dieses Fortschritts. Andererseits ist Webers von den bei Nietzsche und Freud vorfindlichen Motiven zivilisationstheoretischer Kulturkritik angeleiteter Blick nunmehr so stark auf die Moderne gerichtet und an kultursoziologischem Material interessiert, daß man Webers implizites Theorem einer Dialektik der Rationalisierung als eine soziologische Dialektik der Aufklärung bezeichnen kann.

4.3.1. Intellektualisierung und Sinnsuche: Die Entzauberung der Welt Webers kultursoziologisches Interesse gilt den Bedingungen und Wirkungen Jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen".65 Die Untersuchung dieses „spezifisch gearteten .Rationalismus' der okzidentalen Kultur"66 habe dabei „das Spezifische der einmaligen Entwicklung zu ermitteln" und nicht etwa allzeit und universell vorhandene Merkmale des Kapitalismus.67 Obwohl Weber, anders als Nietzsche und Freud, keinen anthropologischen Determinanten nachspürt, konstatiert er gleichwohl, daß dieses kultursoziologisch spezifische Interesse an der abendländischen „Entwicklung des ,kapitalistischen Geistes' [...] als Teilerscheinung in der Gesamtentwicklung des Rationalismus zu verstehen" sei und „aus dessen prinzipieller Stellung zu den letzten Lebensproblemen ableitbar sein" müsse.68 Welches aber sind diese letzten Lebensprobleme und wodurch werden sie zu solchen? Das zentrale Charakteristikum des jahrtausendelangen Intellektualisierungsprozesses bildet die langsam fortschreitende Entzauberung der Welt, genauer: des Weltbildes. Gekennzeichnet ist diese Entzauberung, die Ablehnung aller magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel, durch die „ A b l e h n u n g der sakramentalen Magie als Heilsweg", und eingesetzt hat dieser Prozeß „mit der altjüdischen Prophetie [...] im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken", bis er im Calvinismus seinen Abschluß 65 66 67 68

Weber 1994: Wissenschaft als Beruf; S. 9. Vgl. hierzu Riemer 1975. Weber 1988 a, S . l l . Weber 1987, S. 169. Weber 1988 a, S. 61. Der bei Weber begrifflich durchaus mehrdeutige Rationalismusbegriff (Tenbruck 1975, S. 669 ff. Vgl. Weber 1988 a, S. 11, 62; Weber 1991, S. 20; Weber 1980, S. 15 f.) beinhaltet drei Elanente: „Rationalismus bedeutet zum einen die Fähigkeit, Dinge durch Berechnung zu beherrschen. Er ist Folge von empirischem Wissen und Können, ist also wissenschaftlich-technischer Rationalismus im weitesten Sinn. Rationalismus bedeutet zum anderen Systematisierung von Sinnzusammenhangen, intellektuelle Durcharbeitung und wissentliche Sublimienmg von .Sinnzielen'. Er ist Folge einer ,inneren Nötigung' des Kulturmenschen, die Welt als einen sinnvollen Kosmos nicht nur zu erfassen, sondern auch zu ihr Stellung zu nehmen, ist also metaphysisch-ethischer Rationalismus im weitesten Sinn. Rationalismus bedeutet aber schließlich auch Ausbildung einer methodischen Lebensführung. Er ist Folge der Institutionalisierung von Sinn- und Interessenzusammenhängen, ist also praktischer Rationalismus im weitesten Sinn. Alle drei Rationalismen variieren mit gesellschaftlichen Umstanden und stehen in wechselnden Konstellationen zueinander." (Schluchter 1980, S. 10.).

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fand.69 Demnach bedeutet Entzauberung „das Wissen davon oder den Glauben daran: [...] daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne."70 Ganz ähnlich Freud, der die Magie als erste Waffe des Menschen in der Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt und somit als Vorläuferin unserer heutigen Technik bezeichnet, betont Weber die konstitutive Bedeutung der Naturbeherrschung fur den menschlichen Zivilisationsprozeß und den Anteil der insoweit zweckgebundenen, der Naturbeherrschung dienenden Rationalität hieran.71 Die Entzauberung birgt aber vor allem eine Verschärfimg der Sinnproblematik. Die Suche nach Sinn ist ja, Weber zufolge, ohnehin als Resultat fortschreitender relativer Rationalisierung und Intellektualisierung zu verstehen, aufgetreten durch den „Verlust der unmittelbaren Beziehung zu der plastischen und vitalen Realität der Naturgewalten", welche, „aus ihrer Selbstverständlichkeit gerissen", nun problematisiert werden konnten und mußten. Dieser irritierende Entwicklungsschritt hatte zwangsläufig „stets zur religiösen Spekulation" geführt. In deren Bezugsrahmen war die Sinn frage durch die Idee der Sünde beantwortbar geworden. Mit der Verbindung zwischen Kultur und religiöser Schuld war jedoch gleichzeitig ein tiefes Unbehagen an der Kultur ins Werk gesetzt. Die kulturellen bzw. zivilisatorischen Errungenschaften befanden sich fortan gleichsam in einem Zweifrontenkrieg zwischen den natürlich-triebhaften Bedrohungen einer vorzivilisatorischen Regression und einer - modern gesprochen - fundamentalistischen Infragestellung ihres Wertes durch die religiöse Dimension, die konsequentes Fragen und Infragestellen nur durch einen eschatologischen Rekurs befriedigen kann, um es in christlichen Kategorien zu sagen. Angesichts dieser Ausgangslage müssen die Auswirkungen des Entzauberungsprozesses um so einschneidender sein: „Wo immer [...] rational empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Medianismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulates: daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor. Denn die empirisch und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung entwickelt prinzipiell die Ablehnung jeder Betrachtungsweise, welche überhaupt nach einem ,Sinn' des innerweltlichen Geschehens fragt. Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins

69 70

Weber 1988 a, S. 94 f. Vgl. Weber 1991, S. 193. Weber 1994: Wissenschaft als Beruf; S. 9. Vgl. Weber 1988 e: Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 473 f. 71 Freud 1974 ff, Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 592. Vgl. Freud 1940 ff., Bd. 14: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, S. 106 f. Vgl. audi Webers Hinweis, „an magischen Vorstellungen orientiertes Handeln" sei „subjektiv oft weit zweckrationaleren Charakters als irgendein nicht magisches .religiöses' Sichverhalten, da die Religiosität ja gerade mit zunehmender Entzauberung der Welt zunehmend (subjektiv) zweckirrationalere Sinnbezogenheiten (.gesinnungshafte' oder mystische z.B.) anzunehmen genötigt" sei (Weber 1988 e: Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 433), mit Freud Satz, betrachte man „die Triebverdrängung als ein Maß des erreichten Kulturniveaus", so müsse „man zugestehen, daß audi unter dem animistischen System Fortschritte und Entwicklungen vorgefallen sind, die man mit Unrecht ihrer abergläubischen Motivierung wegen geringschätzt." (Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 385).

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Irrationale verdrangt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin."72

Mit dieser Betonung des Unbedingtheitsanspruchs der Rationalität und ihrer Unabhängigkeit von der Sinnfrage stimmt Weber mit der von Freud vor allem in Die Zukunft einer Illusion betonten, krassen Alternative wissenschaftlich-rational versus religiös-irrational offensichtlich überein. So stellt er auch eher beiläufig fest, es gebe „durchaus keine ungebrochene, als Lebensmacht wirkende, Religion, welche nicht an irgend einer Stelle das ,credo non quod, sed quia absurdum', - das ,Opfer des Intellekts', - fordern müßte."73 Die Pointe von Webers Problematisierung der Sinnfrage besteht darin, erkannt zu haben, daß sich das Problem aus prinzipiellen Gründen für die Aufklärung an und für sich genauso wenig stellt wie für die Religionen, solange sie noch voraufklärerisch unhinterfragte Geltung besaßen. Erst aus der Spannung zwischen beiden, im Zuge der Rationalisierung der Religion, die mit ihrer Infragestellung und Diskreditierung gleichbedeutend ist, stellt sich die Frage nach dem Sinn, die sogleich zum kulturpsychologischen Problem wird, denn eine der religiösen vergleichbar befriedigende Antwort wird in der Moderne nicht mehr zu finden sein: ,Abraham oder irgendein Bauer der alten Zeiten starb ,alt und lebensgesättigt', weil er im organischen Kreislauf des Lebens stand, weil sein Leben auch seinem Sinn nach ihm am Abend seiner Tage gebracht hatte, was es bieten konnte, weil für ihn keine Rätsel, die er zu lösen wünschte, übrig blieben und er deshalb ,genug' daran haben konnte. Ein Kulturmensch aber, hineingestellt in die fortwährende Anreicherung der Zivilisation mit Gedanken, Wissen, Problemen, der kann ,lebensmüde' werden, aber nicht lebensgesättigt. Denn er erhascht von dem, was das Leben des Geistes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil, und immer nur etwas Vorläufiges, nichts Endgültiges, und deshalb ist der Tod für ihn eine sinnlose Begebenheit. Und weil der Tod sinnlos ist, ist es auch das Kulturleben als solches, welches ja eben durch seine sinnlose Fortschrittlichkeit' den Tod zur Sinnlosigkeit stempelt."74

Die schon aus der argumentativen Systematik erkennbare Anknüpfung Webers an Nietzsche, der festgestellt hatte, mit der Niederlage des mythischen gegen das rationalistische Weltbild und der Entzauberung der Religion seien „alle Ziele [...] vernichtet",75 wird um so deutlicher, wenn Weber in gänzlich unverhüllter Paraphrase Nietzsches „die Losgerissenheit von den ethischen und kirchlichen Gewissensbindungen" als „innere Situation des ,Jenseits von Gut und Böse'" bezeichnet.76 Webers von Nietzsche inspiriertes, 72 73 74 75 76

Weber 1991, S. 227. Das bedeutet: Je rationaler das Weltverständnis wurde, desto transzendenter wurde der anfangs durchaus diesseitige (vgl. Weber 1980, S. 245) Inhalt des Religiösen (Weber 1991, S. 232). Weber 1991, S. 228. Vgl. Schluchter 1980, S. 20. Weber 1994: Wissenschaft als Beruf S. 10. Vgl. Weber 1991, S. 231. Nietzsche 1988, Bd. 10: Nachgelassene Fragmente 1882-1884, S. 154 (4 [137]). Weber 1987, S. 298. Nietzsches Ressentiment-Theorem billigt Weber begrenzte Gültigkeit zu, vgl. Stauth / Turner 1986, S. 88 f.: Weber „beraubt zunächst den Begriff des Ressentiments der Tiefe seiner sozial- und psychoanthropologischen Bedeutung, den er bei Nietzsche hat, und läßt ihn eigentlich nur noch als ganz individualpsychologische Grundlagen-Kategorie, wie sie etwa in der Psychoanalyse Freuds fruchtbar geworden ist, gelten." Um so mehr übernimmt er - unausgewiesenermaßen Nietzsches Analyse des religiösen Priestertums, vgl. Weber 1991, S. 3 ff.; Weber 1980, S. 256 ff., 301 ff., 536 f. Webers Hinweis auf „Selbstkontrolle" und „Selbstbeherrschung" als dem entscheidenden ethischen Entwicklungsschritt des Judentums, der durch die Prophetie bewirkt wurde, während vorher, wie in Indien und China, magische Kulte das Naturverhältnis steuerten (Weber 1988 c, S. 166 f.,

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kulturkritisches Anliegen besteht also darin, die soziokulturellen Konsequenzen des Wertund Sinnverlustes nach dem Tod Gottes zu bestimmen, gewissermaßen den Preis der Rationalisierung zu ermitteln.77 Denn wie und vor allem weshalb soll man ohne die Annahme eines sanktionierenden Gottes moralisch handeln? Mehr noch, erst die Erkenntnis des Todes Gottes, der Entzauberung des religiös bestimmten Weltbildes macht die Moral überhaupt zum Problem und „schließlich zu einem ganz profanen Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung."78 Wiewohl er sich, im Gegensatz zu Freud, vorgeblich nicht für individuelle Problematiken interessiert, machen diese Überlegungen das individuelle Sinnproblem zum Dreh- und Angelpunkt von Webers kulturkritischen Besorgnissen. Unversehens ist Weber also mit seinen kultursoziologischen Frageinteressen zu einer zivilisationstheoretisch argumentierenden Kulturkritik gelangt, die er zu einer bei Nietzsche bloß rudimentär vorhandenen Theorie der Moderne ausarbeitet. Die kultursoziologisch im einzelnen nachgewiesene, zivilisationstheoretische Dimension des durch Jahrtausende fortgesetzten Entzauberungsprozesses79 bildet laut Weber eine direkte Bedingung jener innerweltlichen Askese, welche die okzidentale, anthropologisch prototypische Naturbeherrschung ermöglichte: „Die radikale Entzauberung der Welt ließ einen anderen Weg als die innerweltliche Askese innerlich nicht zu", so daß sich beispielsweise der „Charakter der täuferischen Sittlichkeit" psychologisch in dem Gedanken des schweigenden Harrens airf die Wirkung des Geistes findet, dessen Zweck „die Ueberwindung des Triebhaften und Irrationalen, der Leidenschaften und Subjektivitäten des ,natürlichen' Menschen" ist.80 Dieser „Geist der christlichen Askese" ist schließlich das Fundament der rationalen Lebensführung „auf Grundlage der Berufsidee" als einem „der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes" wie „der modernen Kultur" überhaupt.81 In diesem Sinne sieht Weber die „Hinwegentwicklung vom unbefangenen Naturalismus des Geschlechtlichen [...] in ihren Gründen und in ihrer Bedeutung einbezogen in die universellen Zusammenhänge der Rationalisierung und Intellektualisierung der Kultur."82 Dadurch, daß Weber aus diesem zivilisationstheoretischen Befund kulturkritische Überlegungen ableitet, indem er die problematischen Konsequenzen der Entzauberung für die menschliche Wertsetzung und Sinn findung thematisiert, knüpft er an gleichlautende Überlegungen Nietzsches an und radikalisiert Freuds Analyse, die in diesem Punkt wesentlich affirmativer ausgefallen war. War die von Weber eingangs dargestellte Entwertung der

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202 ff., 421), entspricht Nietzsches Beschreibung der griechischen Entwicklung {Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 473 f.), allerdings um eine bei Nietzsche unterentwickelte soziologische Dimension ergänzt. Weber 1980, S. 298 ff., 536 f., offenbart aber audi ein interessantes MißVerständnis Nietzsches, indem er fälschlich den Buddhismus als Nietzsches „Hauptbeispiel" für die Ressentiment-Entwicklung ausgibt und Nietzsches kulturkritisches Interesse an einer Exemplifizierung am Judentum verkennt (vgl. Weber 1991, S. 3 ff). Vgl. Germer 1994, S. 65; Hennis 1987, S. 98 f., 101 \Peukert 1989, S. 12 ff, 93. Stauth / Turner 1986, S. 83. Weber 1994, S. 9. Weber 1988 a, S. 158; vgl. ebd., S. 200. Ebd., S. 202. Weber 1991, S. 223. Vgl. Weber 1980, S. 330 u. hierzu Gerhards 1989, S. 351 f. Vgl. zum Zusammenhang von Rationalisierung und Sublimierung Kaye 1992, S. 52 ff; Martindale 1985, S. 304 f.; Schluchter 1991, Bd. 2, S. 516.

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kulturellen Errungenschaften durch die religiöse Perspektive auf das Sinnproblem noch eine partielle und gleichsam eingehegte gewesen, bewirkt die fortschreitende Intellektualisierung eine regelrechte Lebensmüdigkeit des modernen Menschen in der durch Entzauberung sinnentleerten Welt. Das Unbehagen in der Kultur ist solchermaßen verändert und verstärkt zu einem Unbehagen am Dasein in der modernen Welt überhaupt.83 Anders als Freud diagnostiziert Weber kein Ungenügen der bisherigen Kulturleistungen, das deren Bestand gefährdet, weil die „Hilfsorgane", die sich der „Prothesengott" Mensch angelegt hat, „nicht mit ihm verwachsen" sind.84 Nicht die Gefahr einer Regression ist das Entscheidende, sondern das autodestruktive Potential des Kulturalisierungsprozesses selber, der sich bei den ihn tragenden Menschen diskreditiert, indem er durch sein ureigenstes Prinzip, die immer fortschreitende Rationalisierung und Intellektualisierung, existentielle Orientierungslosigkeit und damit ein fundamentales Unbehagen an allen Kulturerscheinungen begünstigt - ein Befund, der Freuds Sorge vor dem menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb, gewissermaßen dem soziokulturellen Aspekt des Todestriebes, gleichwohl zusätzliche Nahrung verschafft. In Webers Sicht des okzidentalen Rationalisierungsprozesses ist Nietzsches Einsicht in die Dialektik der Aufklärung aufgrund seiner Entdeckung des Todes Gottes und der mit ihm zusammenhängenden Wertund Sinnprobleme bereits zum soziologischen Grundtatbestand geronnen. Die auf Nietzsche gemünzte Formulierung Horst Baiers, die Gesellschaft sei ein langer Schatten des toten Gottes,*5 trifft insofern mutatis mutandis genauso auf Weber zu. Während Freud die Säkularisierung des Weltbildes als Möglichkeit zur Steigerung der doppelten Naturbeherrschung versteht und der Religion gerne den Totenschein ausstellen möchte, reflektiert Weber, in dieser Hinsicht stärker in der Nachfolge Nietzsches, vor allem die Ambivalenz des Rationalisierungsprozesses. Weber treibt die Nietzscheanische Ahnung um, daß der von Freud kaum mit dem Religionszerfall zusammengedachte Triebverzicht nach dem Tod Gottes wesentlich schwerer zu reproduzieren sein dürfte,86 weil die für Weber genau wie für Freud zentrale zivilisationspsychologische Voraussetzung entfällt, daß der Mensch seinen Triebverzicht als rituelles religiöses Opfer verstehen und dadurch quasi im Triebhaushalt kompensieren kann.87 Hierin zeigt sich ein vordergründig paradoxer Umstand: Weber teilt mit Freud die zentrale zivilisationstheoretische Grundannahme, daß das Opfer konstitutive Bedeutung für den Kulturprozeß hat, wobei Freud dieses 83 Vgl. Kaye 1992, S. 64; Nelson 1981, S. 3, 9. Scaff 1989, S. 73 ff., spielt mit dem Titel Culture and its Discontents für das Kapitel seines Weber-Buches unmittelbar auf Freud an. Strong 1988, S. 641, verweist auf den Anfang von Politik als Beruf und betont, die Ähnlichkeiten zwischen Freud und Weber resultierten „aus der Tatsache, daß sowohl Weber als auch Freud die Ursache für das Verstehen der menschlichen Gesellschaft in der Tatsache suchten, daß Menschen ihrer Welt Sinn geben [...]. Ich habe den Eindruck, daß die Ursache dafür sowohl bei Weber als audi bei Freud aus der gemeinsamen Erfahrung des Zusammenbruchs der verfügbaren Strukturen des Verstehens, der Europa im letzten Teil des 19. Jahrhunderts ereilt, erwächst und aus der diese begleitenden Erkenntnis, daß Menschen die Frage nach dem Sinn stellen." (S. 658; vgl. ebenso Roazen 1971, S. 201 f.) Raulff 1995 spricht von Max Webers dramatisch erlittenem Unbehagen in der Kultur. Vgl. audi Scaff 1988, S. 185 ff. 84 Freud 1974 ff., Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 222. 85 Baier 1981/1982. 86 Irionl992, S. 214. 87 Vgl. Freud 1940 ff, Bd. 7: Zwangshandlungen und Religionsübungen, S. 139; Weber 1980, S. 362; Weber 1991, S. 225.

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Theorem ausfuhrlich expliziert, während Weber nur eine implizite Erörterung dieser, für seinen spekulationsfeindlichen Wissenschaftsbegriff problematischen Thematik vornimmt. Gleichwohl denkt Weber diese Überlegung weiter als Freud, dem die Ambivalenz der Entzauberung ja um so mehr hätte auffallen müssen, je stärker er den von ihm als unabdingbar betonten Triebverzicht mit religiösen Ritualen verknüpft sieht. Webers Analyse des selbstzerstörerischen Potentials des Rationalisierungsprozesses, seine Erkenntnis, daß die fortschreitende Aufklärung so irreversibel wie alternativlos ist, jedoch gerade vermittelst ihrer positiven Folgen selbstdestruktiv wirkt, reformuliert mithin Nietzsches Einsicht in die Dialektik der Aufklärung und konkretisiert sie gleichzeitig soziologisch als Dialektik der Rationalisierung.88 Es liegt nahe, auf der Basis dieses Befundes eine „,Flucht ins Irrationale' als Konsequenz der ,sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung'" zu vermuten,89 oder, mit Horkheimers und Adornos Worten, einen Rückschlag der Aufklärung in Mythologie: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf'.90 Gegenüber den Theorien Nietzsches und Freuds spielt bei Weber jedoch der Aspekt der Naturbeherrschung weder als negativer noch als positiver Faktor des Rationalisierungsprozesses eine zentrale Rolle. Bei der Bestimmung der soziomoralischen Säkularisierungskosten abstrahiert Weber vom originär naturbeherrschenden Charakter der Zweckrationalität und aller weiteren Elemente des Entzauberungsprozesses, die er selber in seiner kultursoziologischen Analyse im einzelnen benennt. Im Rahmen seiner kulturkritischen Theorie der Moderne konzentriert er sich stattdessen ganz auf einen im engeren Sinne soziologischen Aspekt, nämlich das im Zuge des Rationalisierungsprozesses zu Tage getretene Phänomen der Herrschaft im entwickelten Kapitalismus. Dieser Herrschaft von Menschen über Menschen schreibt er eine totalisierende Tendenz zu, „indem sie in die Basisorganisation der Gesellschaft, ihren Produktions- und Reproduktionsprozeß einwandert". Jener „Strukturwandel, dieser absolute Bruch mit den Vergesellschaftungsformen der traditionalen Welt" ist die eigentliche Wurzel von Webers Skepsis gegenüber den Folgen des Rationalisierungsprozesses und nicht, wie bei Nietzsche, eine mit der Hypostasierung naturbeherrschender Zweckrationalität zusammenhängende, unmittelbar geistesgeschichtliche Dialektik der Aufklärung. Wenn der Schwerpunkt von Webers zivilisationstheoretischer Kulturkritik auf der Problematik liegt, „daß die Macht des Fortschritts sich bislang im Fortschritt der Macht erschöpfte",91 bildet die Naturbeherrschung für ihn lediglich die anthropologische Basis dieses soziologischen Umstandes 92 Um so stärker richtet sich Webers Augenmerk auf die Mutation der modernen Welt zu einem stahlharten Gehäuse als dem soziologischen Ausdruck der Dialektik der Rationalisierung. 88 89 90 91 92

Vgl. Bogner 1989, S. 158 f.; Germer 1994, S. 156; Hennis 1987, S. 202 Anm. 21; Owen 1994, S. 123 ff.; Schluchter 1979, S. 35 f.; Stauth 1994, S. 172; Weiß 1981, S. 16 f. Breuer 1991, S. 220. Weber 1994: Wissenschaft als Beruf; S. 17; vgl. hierzu Mommsen 1983, S. 398. Breuer 1978, S. 433,410. Vgl. Stauth / Turner 1986, S. 92; Hommerich 1986, S. 112 f.

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4.3.2. ,ßin stahlhartes Gehäuse": Die bürokratisierte Welt der Moderne Mit seiner kulturkritischen Diagnose, daß die Welt zu einem stahlharten Gehäuse geworden sei, verstärkt Weber die Verschränkung seiner zivilisationstheoretischen Perspektive mit seinen kultursoziologischen Analysen. Die Verantwortlichkeit für die Errichtung dieses Käfigs schreibt er vorrangig der im calvinistischen Protestantismus und im Puritanismus zur Vollendung gereiften, innerweltlichen Askese als einer kultursoziologisch notwendigen Konsequenz der in zivilisationstheoretischen Umständen wurzelnden Entzauberung der Welt zu.93 Und insofern Weber die Entstehung des stahlharten Gehäuses aus der, solchermaßen mittelbar in zivilisationstheoretischen Faktoren wurzelnden, innerweltlichen Askese kulturkritisch als Pathogenese der Moderne interpretiert, schließt sich jener Kreis, der Webers Einordnung in die Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik erfordert. Weber generalisiert seine Beobachtung sozialer Desorientierungserscheinungen und antiaufklärerischer Versuchungen zu einer Fortschrittskritik, in der sich seine kultursoziologischen Einzeltheoreme zu einer beinahe geschichtsphilosophischen Theorie des okzidentalen Rationalisierungsprozesses verbinden.94 Der nüchterne Analytiker Weber scheut im Zusammenhang seiner scheinbar leidenschaftslosen Darstellung Die protestantischen Ethik und der „Geist" des Kapitalismus nicht einmal fatalistische Anklänge, wenn er es dem „Verhängnis" zuschreibt, daß aus dem Mantel der Sorge um die äußeren Güter mit anderen Worten: aus der Notwendigkeit der Selbsterhaltung und ihrer zivilisationsgeschichtlichen Überformungen und Übertreibungen - „ein stahlhartes Gehäuse" wurde. „Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist - ob endgültig, wer weiß es? - aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. Auch die rosige Stimmung ihrer lachenden Erbin: der Aufklärung, scheint endgültig im Verbleichen und als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der ,Beruispflicht' in unserem Leben um. [...] Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber - wenn keins von beiden - mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die .letzten Menschen' dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ,Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.'"95

Die Geschichte des okzidentalen Rationalismus und der Ausbildung des spezifisch westlichen Kapitalismus schildert Weber dergestalt als Verfallsprozeß. Die wirtschaftliche Ordnung der Gesellschaft erscheint ihm als „ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist", so daß, entgegen dem Versprechen der Auf93 94

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Weber 1988 a, S. 158; vgl. ebd., S. 200. Insofern läßt sich Webers vergleichende Universalgeschichte als Versuch verstehen, die zivilisationstheoretische Spekulation, die er aus methodologischen Gründen ablehnt, aber als unvermeidlich erkennt, gewissermaßen in einer komparatistischen Engführung aufzuheben. Weber 1988 a, S. 203 f.

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klärung, selbstbestimmtes, nur in autonomer Rationalität wurzelndes Handeln hervorzubringen, „dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns" aufgezwungen werden.96 Gekennzeichnet ist die Existenz des stahlharten Gehäuses durch reine Zweckrationalität und die „ A l l e i n h e r r s c h a f t bureaukratischer Lebensideale", die von einer solchen Omnipräsenz sind und totalisierend alle Lebensbereiche durchdringen, daß keinerlei alternative Lebensgestaltung innerhalb der sozialen Existenz mehr möglich ist. Was der Begriff darüber hinaus genau bezeichnet, läßt Weber aber in einer für ihn untypischen Weise offen. Diese Offenheit ist charakteristisch für kulturkritische Einlassungen, die eher auf Evidenz als auf analytische Deduktion setzen, und so dient auch Weber der schillernde Begriff des stahlharten Gehäuses der Veranschaulichung vermeintlich drastischer Konsequenzen des Rationalisierungsprozesses. Erstens problematisiert Weber die Hypostasierung der im Wortsinn ursprünglich notwendigen Selbsterhaltung zu einem antiintellektuellen Materialismus, der nur noch äußere Güter als wertvoll anzuerkennen vermag und schon insofern keine Basis fur soziomoralische Diskurse mehr bietet. Theoriegeschichtlich auf Adorno vorausgreifend könnte man dies als Diagnose einer Verwilderung der Selbsterhaltung begreifen. Hiermit direkt zusammenhängend artikuliert Weber zweitens ein unmittelbar Nietzscheanisches Unbehagen am modernen Menschen, der zu einem reinen „Ordnungsmenschen" geworden ist.97 Die negative Utopie von Fachmenschen ohne Geist und Genußmenschen ohne Herz paraphrasiert Nietzsches Zarathustra, der die Vereinseitigung umgekehrter Krüppel geißelt.98 Webers besonderes Mißfallen richtet sich auf das Selbstbewußtsein dieses degenerierten Typus des modernen Menschen, der seine pathologischen Züge als nie vorher erreichte Stufe des Menschentums stilisiert und damit jene Eigenschaften, die seinen eigenen Verfall befördern werden, als Tugend mißversteht und ideologisch gegen Kritik immunisiert. In dieser legitimatorischen Ideologie wittert Weber, drittens, vor allem eine Ermöglichungsbedingung des Rückschlags der Aufklärung in Mythologie, so daß er weder politisch verführungskräftige neue Propheten noch eine regressive Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale, noch einen allgemeinen Narzißmus ausschließen möchte.99 Mit dieser Analyse der politischen Gefährdungen einer zum stahlharten Gehäuse gewordenen, durch reine, enthemmte und ziellose Zweckrationalität gekennzeichneten verwalteten Welt, in der alle Orientierungen des Individuums einem totalisierenden ökonomischen Impetus unterliegen, unternimmt Weber eine soziologische Konkretisierung der bei Freud vergleichsweise abstrakten Problematisierung politisch folgenreicher, suggestiver Massenpsychologie. In dieser Hinsicht ist Webers soziologische Dialektik der Aufklärung intentional vor allem eine Soziologische Atifklärung, aus der die Einsicht in ihre immanente Dialektik herausdestilliert werden muß. Ohne dies zu thematisieren, vermutlich gar ohne es zu 96 97 98 99

Ebd., S. 37. Weber 1988 d. Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins filr Sozialpolitik (1905, 1907, 1909, 1911), S. 414. Weber 1988 a, S. 204; Nietzsche 1988, Bd. 4: Also sprach Zarathustra, S. 178. Weber 1980, S. 687. Vgl. Breuer 1978, S. 410 f.; Breuer 1991, S. 192 f.; Nelson 1981, S. 4. Treffend formuliert Bocock 1978, S. 58 f.: „With rationalization as sublimation, political values and modes of thought are consciously cultivated, glorified and consecrated so that devotion to the polity, particularly in times of war, can be perceived as a competing source of salvation from a meaningless world." Vgl. Weber 1991, S.229 ff.

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reflektieren, behauptet Weber mit diesen kulturkritischen Überlegungen gleichzeitig implizit eine Abhängigkeit individuellen Denkens und Handelns von gesellschaftlichen Präformationen, wie sie in ähnlicher und noch gesteigerter Form später von der Kritischen Theorie behauptet wird100: „Kein Schatten von Wahrscheinlichkeit spricht dafilr, daß die ökonomische .Vergesellschaftung' als solche entweder die Entwicklung innerlich ,freier' Persönlichkeiten oder aber .altruistischer' Ideale in ihrem Schöße bergen müsse."101

Webers Besorgnis richtet sich aber gleichzeitig und gleichermaßen gegen kurzschlüssige, regressive Konsequenzen. Ein Ausweichen vor den Konsequenzen des irreversiblen Rationalisierungsprozesses, vor „den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen" und der „Stumpfheit des Alltages",102 mithin eine „Flucht ins Irrationale" als Konsequenz der „sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung"103 lehnt Weber strikt ab. Er fordert vielmehr, dem „Schicksal unserer Zeit, [...] daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit",104 ins Auge zu sehen, es auszuhalten}05 Webers Feststellung, es sei „das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, [...] wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen",106 gemahnt überdeutlich an Nietzsche, der die autonome Wertsetzung und Sinnschöpfung als wichtigste Forderung an den Ubermenschen stellt. Denn nichts als Schwäche sieht Weber darin, die Erfordernisse der modernen Welt nicht erfüllen zu können und sich beispielsweise in Erlebnishunger zu flüchten.107 Was Weber dem Irrweg einer rückwärtsgewandten und geradewegs kontraproduktiven „Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft" entgegensetzt,108 ist eine trotzige, „explizite Entscheidung fur die Kulturtradition des

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Aus der Diskussion zu einem Referat von Jacob Taubes auf der DGS-Tagung 1969 ist protokolliert, daß Adorno die Kritik an dem, was er selbst verwaltete Welt zu nennen pflegte, tatsächlich für ein zentrales Motiv Webers hielt: „Er [Adorno, K.F.] glaubt, daß bei Weber, wenn auch verkappt, das Problem der Regression des Menschen durch die Bttrokratisierung drastischer vorhanden ist [...]. Die in Wirtschaft und Gesellschaft entwickelten Züge des Examens- und Fachmenschens, die er dem Absterben des gebildeten Menschen gesellt, sind wohl so etwas wie die Liquidierung des autonomen Subjekts, wenngleich es Weber nicht mit diesen Kategorien ausgesprochen hat. Die ganze Aufmerksamkeit unserer Wissenschaft [...] muß darauf gerichtet sein, sagte Adorno abschließend, die Möglichkeiten zu analysieren, wie wir aus jenem Gehäuse, welches bei Weber Stahlgehäuse genannt wird, herauskommen können." (Adorno 1969, S. 142 f.). Weber 1988f.: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Russland, S. 64 f. Für Germer 1994, S. 152, ist es die Diagnose der Zweckrationalität, des stahlharten Gehäuses, die „Weber zum Kulturkritiker" macht. Vgl. Alexander 1987, S. 187, 192 f., 197. Völlig unverständlich ist die krasse Fehlinterpretation von Francis 1966, S. 113, der meint, weder kulturelle noch gesellschaftliche Desorganisation bereiteten Weber Sorgen; er sei „nicht einmal auf versteckte Weise Kulturkritiker." Weber 1991, S. 225. Weber 1980, S. 508. Weber 1994, S. 22. Vgl. Schluchter 1980, S. 36. Weber 1988 e: Die „Objektivität" sozialwissenschafUicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 154. Weber 1994: Wissenschaft als Beruf; S. 17. Ebd., S. 12.

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modernen okzidentalen Rationalismus", zu der keine Alternative sichtbar ist.109 Mit dieser Betonung der Irreversibilität des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, der gerade aufgrund seiner immanenten Dialektik nur um den Preis um so desaströserer Pathologien hinterschritten werden kann, befindet sich Weber wiederum in großer Obereinstimmimg mit dem Begründer der Psychoanalyse.110 Es erscheint somit durchaus wahrscheinlich, daß Weber Freuds Kulturtheorie doch stärker rezipiert hat, als seine größtenteils feindseligen Bemerkungen gegen die Psychoanalyse und die fehlenden expliziten Bezugnahmen dies auf den ersten Blick vermuten lassen. Jedenfalls bestehen so starke Parallelen bezüglich der zivilisationstheoretischen Perspektive, daß die nicht zuverlässig zu klärende Frage, ob Weber Totem und Tabu bewußt rezipiert und verarbeitet hat, offen gelassen werden kann.111 Auch ohne entsprechenden philologischen Nachweis zeigt sich hinreichend deutlich, daß die prima facie nüchtern kultursoziologischen Theoreme Max Webers eine Fortsetzung der von Nietzsche ausgehenden und durch Freud weiterentwickelten Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik darstellen, insofern Weber Nietzsches Einsicht in die Dialektik der Rationalisierung wiederaufiiimmt, die in Freuds Zivilisationstheorie aus dem Blick geraten war. Gleichzeitig sind es Freudsche Überlegungen, die Weber veranlassen, die sowohl bei Nietzsche wie auch bei Freud unterentwickelte soziologische Perspektive in die zivilisationstheoretische Kulturkritik einzuführen. Angesichts der von Weber so scharf erkannten, durch Nietzsche angeleiteten Beobachtung, daß die auf Naturbeherrschung fixierte Rationalisierung des Weltbildes alle menschlichen Wert- und Sinnsetzungen unterminiert, ist Webers Insistieren auf der Irreversibilität der Rationalisierung und sein Postulat heroischen Aushaltens ihrer Konsequenzen aber auch nicht minder aporetisch als Freuds entsprechende Überlegungen oder Nietzsches Stilisierung dionysischen Übermenschentums.112 Mit der Kultursoziologie Max Webers liegen nunmehr jedoch alle Theoriesegmente bereit, derer Adorno bedarf, um unter verstärkender Wiederaufnahme spekulativer zivilisationspsychologischer Überlegungen eine radikalisierende Synthetisierung der bei Nietzsche, Freud und Weber entwickelten Denkmotive vorzunehmen und die Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik so auf ihren Kulminationspunkt zu fuhren. 109 110

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Schluchter 1980, S. 234 Anm. 169. Vgl. Brubaker 1984, S. 112: „In his emphasis on the inevitability of conflict and tension in social life, Weber stands allied in moral temperament with his contemporary Sigmund Freud. Both reject conceptions of a happy and harmonious social existence as illusory and disdain the impulse toward reconciliation and reunion as immature. Both combine an unwavering commitment to scientific rationality with a keen awareness of its limited moral significance. Both aim to advance individual autonomy, to help individuals .reach heightened levels of self-conscious free-choice' through a strenuous .training in lucidity'. At the centre of their austere moral visions is not a new type of society but a new type of individual: one who harbours neither nostalgia for a golden past nor hope for a redeeming future but who, possessing a .trained relentlessness in viewing the realities of life', is able to measure up to the .demands of the day'". Vgl. ebenso Kaye 1992, S. 47; Levine 1985, S. 190; Strong 1988, S. 659; Wallach Bologh 1990, S. 13; 193. Bocock 1978, S. 77 f., 136, bezeichnet das Verhältnis zwischen Freuds und Webers Theorien als complementary und hält die Freudsche Psychoanalyse für congruent mit Webers Soziologie. Vgl. Stauth / Turner 1986, S. 92; Stauth 1994, S. 169, 179 u. Breuer 1994, S. 188 ff.

5. „Am Anfang war der Mord" II: Theodor W. Adornos Radikalisierung zivilisationstheoretischer Kulturkritik

Mit den zivilisationspsychologischen und soziologischen Facetten, die Freud und Max Weber der von Nietzsche so dramatisch thematisierten Kulturkrise geben, ist gewissermaßen die Urgeschichte der Kritischen Theorie Adornos umrissen,1 die zentrale Motive dieser Denkbewegung für ihre eigenen kulturkritischen und gesellschaftstheoretischen Analysen nutzbar macht.2 Adorno übernimmt und verstärkt insbesondere Nietzsches Problematisierung der Dialektik der Aufklärung im Mythos (5.1.)· Demzufolge enthält bereits der auf Naturbeherrschung ausgerichtete Mythos aufklärerische Elemente, die im Zuge der fortschreitenden Rationalisierung seine Niederlage gegen das rationalistische Weltbild befördern. Die Aufklärung hingegen scheitert an ihrem totalisierenden Anspruch, ihrer ursprünglich gegen den Mythos gerichteten vernichtenden Kritik, die schließlich die Aufklärung selber heimsucht. Horkheimers und Adornos Betonung, daß Nietzsche „wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt" hat,3 bedeutet demnach die Anerkennung, daß Nietzsche, „der konsequenteste Aufklärer", sich nicht darüber täuschte, „daß durch schiere Konsequenz Motivation und Sinn von Aufklärung verschwinden."4 Nietzsches selbstreflexive Problematisierung hatte bereits aufgrund dieses Umstands den Ausklang der Zivilisation in Barbarei befürchtet. Die Aussicht, als konsequenter Aufklärer zum Schicksal zu werden, wie Nietzsche es sich in Ecce Homo bescheinigt,5 indem mit dem Aussprechen der Einsicht in die Dialektik der Aufklärung nihilistische Epidemien zum Ausbruch kommen, die bis zu einer „Ethik" des Völkermordes fuhren können,6 motiviert Horkheimer und Adorno zu der petitio principii, an der Untrennbarkeit der „Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken" festzuhalten.7 Wie schon Nietzsche es ausschloß, Krebs sein zu können,8 betont Adorno, daß die Selbstreflexion der Aufklärung nicht deren Widerruf sei.9 Die aporetische Perspektive der Dialektik der Aufklärung, die sich schon allein deshalb nicht irrationalistischer Vernunftkritik zurechnen läßt, bleibt, daß nur „die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung [...] 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. den Begriff bei Lichtblau 1996, S. 44. Vgl. zum biographischen und intellektuellen Hintergrund Adornos Müller-Doohm 1997. Horkheimer /Adorno 1944, S. 67 f. Adorno 1970 ff, Bd. 7: Ästhetische Theorie, S. 418. Nietzsche 1988, Bd. 6: Ecce Homo, S. 365 ff. Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 100. Horkheimer /Adorno 1944, S. 18. Nietzsche 1988, Bd. 6: Götzen-Dämmerung, S. 144. Adorno 1970 ff., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 160.

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die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen" vermöchte.10 Ebenso ist die Bedrohung der Zivilisation durch Barbarei, so zwangsläufig sie nach Adornos geschichtsphilosophischer Darstellung auch erscheint, kein Grund zur kampflosen Hinnahme dieser Verfallserscheinung: „Daß die Kultur bis heute mißlang, ist keine Rechtfertigung dafür, ihr Mißlingen zu befördern.11 Adorno folgt Nietzsche aber nicht einfach in dem aporetischen, weil infolge seiner rationalen Erzeugung zirkulären Befund, daß die menschliche Vernunft „nicht allzu vernünftig ist."12 Vielmehr ist Adornos Rationalitätskritik primär eine Kritik der sich als irrational erweisenden Rationalisierung: „Der Rationalismus einer Gesinnung, die es sich verbietet, über Praxis als Zweck-Mittel-Relation hinauszublicken und sie ihrem Zweck zu konfrontieren, ist irrationalistisch."13

Infolge einer bestimmten, selektiven, um nicht zu sagen tendenziösen Lektüre der entsprechenden Theoreme Freuds und Webers konzentriert sich Adornos Problematisierung der Dialektik der Aufklärung von vornherein auf die Dialektik der doppelten Naturbeherrschung. Diese ist für ihn nicht mehr bloß eine vorrangige Exemplifikation der universellen Pathogenese zivilisatorischer Rationalität, als die Nietzsche sie, aufgeschreckt durch die moderne Wert- und Sinnkrise nach dem Tod Gottes, im Rahmen seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik behandelt. Während Nietzsche die aus der dialektisch umschlagenden Aufklärung resultierende Gefahr barbarischer Exzesse unmittelbar aus dem endgültigen Triumph der szientistischen Wissenschaften hervorgehen sieht, knüpft Adorno an die soziologische Konkretisierung der Problematik durch Max Weber an, indem er einen Zusammenhang insinuiert zwischen der „Blindheit der Beherrschung der äußeren Natur, die nicht danach fragt, was dieser angetan wird" und der „Organisation als Beherrschung von Menschen".14 Für Adorno ist „das System, das der Aufklärung im Sinne liegt", nicht bloße Entmythologisierung, sondern a priori jene „Gestalt der Erkenntnis, die [...] das Subjekt am wirksamsten bei der Naturbeherrschung unterstützt."15 Die Dialektik der Aufklärung umschreibt demnach „den Preis des Fortschritts, all das Verderben [...], das Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung bereitet"16 und das in der dialektischen Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das heißt repressiver Sozialorganisation besteht, mithin dem „Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung".17 Freud, der von Rationalisierung nur äußerst zurückhaltend gesprochen hat, nimmt Adorno als Kronzeugen dafür in Anspruch, mit diesem Begriff die „Vernunft im Dienst der Unvernunft" zu bezeichnen.18 Und nachdem auf diese Weise die von Nietzsche her bekannte Dialektik der Naturbeherrschung als irrationale Rationalisierung bestimmt ist, 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Horkheimer/Adorno 1944, S. 217. Adorno 1970 ff., Bd. 4: Minima Moralia, S. 49. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 540. Adorno 1970 ff, Bd. 9: Ästhetische Theorie, S. 473. Vgl. Institut für Sozialforschung 1956, S. 87. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 445. Horkheimer/Adorno 1944, S. 90. Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 611. Horkheimer / Adorno 1944, Dialektik der Aufldärung, S. 178. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 576.

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vermag Adorno wiederum die soziologische Perspektive Max Webers einzubinden, der zufolge die Rationalität der Gesellschaft „nur eine Zweck-Mittel-Rationalität" ist, „also eine, die zwischen den je gesetzten Zwecken und den dazu verwandten Mitteln gilt, ohne daß sie sich auf die Zwecke selber, nämlich eben jenen Zweck einer befriedigenden und beglückenden Erhaltung der Gattung insgesamt, überhaupt bezöge." Diese geschichtsphilosophische Ausweitung des Weberschen Zweckrationalitätsbegriffs bietet Adorno eine Erklärung für die ausufernde Reproduktion der gesellschaftlichen Irrationalität und schließt gleichzeitig den Kreis seiner radikalisierenden Synthese der von Nietzsche, Freud und Weber entwickelten Elemente zivilisationstheoretischer Kulturkritik. Die Vorherrschaft zweckrationalen Verhaltens gilt Adorno nämlich als „tiefste Erklärung, warum in dieser Gesellschaft die sogenannten psychologischen Momente [...] eine derartige Bedeutung haben".19 Diese wird Adorno in Umformung der zentralen These Freuds von der Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt infolge des zivilisatorisch konstitutiven Mordes am Urvater zum Herzstück seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik machen: Nicht, wie Freud, eine Tabuisierung von Gewalt nach ihrer erstmaligen Ausübung am Mitmenschen und anschließenden rituellen Einhegung erkennt Adorno in der Zivilisationsgeschichte, sondern eine Enttabuisierung von Gewalt infolge ihrer nicht mehr mythisch eingehegten, sondern ideologisch legitimierten und damit enthegten Ausübung an der Kreatur (5.2.). Der hiermit behauptete kollektiv unbewußte Vernichtungswille in der auf bedingungslose, zweckrationale Naturbeherrschung ausgerichteten Zivilisation gilt Adorno als elementare Ermöglichungsbedingung dafür, daß unter spezifischen historischen Umständen Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich beweisen konnte.20 Von dieser Physiognomik des Grauens ausgehend,21 vermag Adorno schließlich, Max Webers Problematisierung des bürokratisierten, stahlharten Gehäuses der Moderne zur Theorie der verwalteten Welt erweiternd, den Schritt zur Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft, die gleichwohl als Fortdauer der Vorgeschichte begriffen wird, zu vollziehen (5.3.).22 Alle diese thematischen Elemente von Adornos zivilisationstheoretischer Kulturkritik sind enthalten in dem Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, das die Odyssee als Urgeschichte der Subjektivität interpretiert.23 Die Herausbildung des souveränen, selbst19 20 21 22 23

Adorno 1993, S. 223 f. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 359. Vgl. zu diesem Begriff und seiner Herleitung Müller-Doohm 1996, S. 105 ff., 136. Adorno 1970ff., Bd. 4: Minima Moralia, S. 266. Horkheimer / Adorno 1944, S. 101. Habermas 1992, S. 101, beruft sich auf Gretel Adorno hinsichtlich d a Feststellung, daß der Titelessay und das Sade-Kapitel der Dialektik der Auflclärung „überwiegend auf Horkheimer, die Kapitel über Odysseus und die Kulturindustrie in erster Linie auf Adorno zurückgehen." Daß das Antisemitismus-Kapitel ebenfalls stärker auf Adorno zurückgeht, zeigt die Beilage zu einem Brief Adornos an Horkheimer vom 18.09.1940 (Horkheimer 1985 ff., Bd. 16, S. 760 ff.). Es erscheint nicht übertrieben, wenn Breuer 1985, S. 369 ff, die Dialektik der Aufklärung in stärkerem Maße für Adornos Werk hält - ein Urteil, das sich schon aufgrund des Sprachduktus aufdrängt. Buck-Morss 1977, S. 68, 237 Anm. 39, bestätigt dies mit dem Hinweis auf die Herkunft der Odysseus-Interpretation aus Adornos Naturgeschichte des Theaters (Adorno 1970 ff, Bd. 16: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften П, S. 309 ff) und interpretiert gar die Dialektik der Aufklärung als bloße Vorstudie zu Adornos Negativer Dialektik-, Adorno habe schließlich bereits Teile von Horkheimers Kritik der instrumenteilen Vernunft verfaßt, die, zusammen mit seinem Aufsatz Vernunft und Selbsterhaltung von 1942 {Horkheimer 1985 ff, Bd. 5, S. 320 ff), Horkheimers Abkehr vom

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bestimmten Individuums, dessen Prototyp Odysseus ist, ist symptomatisch für die Dialektik der Aufklärung im Mythos: Indem der Mythos bereits aufklärerische Elemente enthält, wirkt er autokatalytisch, gleichzeitig enthält die auf diese Weise zur Geltung gebrachte und zivilisationsgeschichtlich durchgesetzte Rationalität bereits den Keim ihres Rückschlags in mythische Irrationalität. Der von Odysseus in verschiedenen Varianten praktizierte Einsatz zweckrationaler Kalkulation gegen die Macht des Mythos, aber innerhalb seines Wirkungszusammenhangs, besiegt ihn durch das Eingehen auf seine Spielregeln. Gegen Polyphem wie auch gegen die Sirenen obsiegt Odysseus, indem er nicht aus dem Geltungsbereich des Mythos flieht, sondern die rationalen Momente, über die er seinerseits eine mythische Figur - verfugt, innerhalb des mythischen Geschehens zur Geltung bringt. Es bedarf danach keiner direkten Zerstörung des Mythos mehr. Die partielle Aktivierung seiner immanenten rationalen Potentiale setzt gleichsam eine Kettenreaktion in Gang, an deren Ende der Mythos am unaufhaltsamen Fortgang seiner eigenen, tödlich infizierten Logik zugrunde geht. Telos dieses Durchsetzungsprozesses ist bedingungslose Naturbeherrschung, als deren Medium die auf Zweckrationalität begrenzte Vernunft fungiert. Es ist gewissermaßen „das Schema der odysseischen List", die Naturbeherrschung durch Mimesis an die naturhaften Momente zu vollziehen.24 Deren Macht wird auf diese Weise um so wirkungsvoller und endgültiger gebrochen, als sie, scheinbar unangetastet, als Teilelemente einem universalen Rationalisierungsprozeß einverleibt werden. Die Beherrschung der äußeren Natur erfolgt dabei, wie schon Nietzsche, Freud und Max Weber dachten, durch Kontrolle der inneren Natur des Menschen. Diese Naturbeherrschung qua Rationalisierung, mit der die bürgerliche Gesellschaft auf ihren Begriff gebracht ist, unterliegt jedoch der Dialektik der Aufklärung. Das souveräne Individuum als das Ergebnis der „Transformation des Opfers in Subjektivität"25 erfährt an sich im Augenblick seines Triumphes und aufgrund des vollständigen Triumphes jene Auflösung von Individualität, welche die verwaltete Welt bereit hält, und die zweckrationale Naturbeherrschung schlägt in irrationales, destruktives Chaos um. Damit übernimmt Adorno nicht nur äußerlich in Gestalt des Opfer-Motivs Überlegungen Nietzsches, Freuds

24 25

interdisziplinären Materialismus und damit die Bedingung der theoretischen Allianz mit Adorno bildet (Cerutti 1986, S. 257). Diese allseits bestätigte Einschätzung (vgl. Habermas 1987 b, S. 489 Anm. 61; Honneth 1989, S. 46 ff; Jay 1982, S. 75, 78; Schmid Noerr 1985ff., S. 430; Wiggershaus 1988, S . l l , 66) widerspricht dem harmonistischen, Kongenialität suggerierenden, offiziellen Selbstverständnis Horkheimers und Adornos (vgl. das Vorwort zur Kritik der instrumenteilen Vernunft (Horkheimer 1985 ff, Bd. 6, S. 26), Adornos Widmung der Minima Moralia (Adorno 1970 ff, Bd. 4, S. 17) und das Vorwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung von 1969 (Horkheimer / Adorno 1944, S. 13)). In Wirklichkeit sind sich beide nicht einmal einig über ihre theoretischen Gewährsleute: Horkheimer zufolge verdankt die Dialektik der Aufklärung Hegel „das Meiste" (Horkheimer an Paul-Rüdiger Abele am 15.05.1953, in: Horkheimer 1985 ff, Bd. 18, S. 251), Adorno hingegen bekennt, er verdanke Nietzsche „in Wahrheit vielleicht mehr noch als Hegel" (Adorno 1996, S. 255). Und in den frühen sechziger Jahren notiert Friedrich Pollock aus einem Gespräch mit Horkheimer gar dessen heimliches Unbehagen über zentrale Motive von Adornos Denken: „Adorno sagt zu jeder seiner Analysen audi das Gegenteil. Aber trotz dieser auf die Spitze getriebenen Dialektik bleibt das, was er sagt, unwahr. Denn die Wahrheit läßt sich nicht sagen. Und persönlich bleibt er unbeteiligt. Es kommt aber darauf an, das, was man an Wahrheit hat, irgendwie zu realisieren." (Horkheimer 1985 ff, Bd. 14, S. 339). Horkheimer/Adorno 1944, S. 81. Ebd., S. 80.

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und Webers, sondern hat den bis dahin noch vorsichtig formulierten Gedanken der Fortwirkung urgeschichtlicher Mechanismen zum theoretischen Kernelement erhoben. Diese zivilisationstheoretische Annahme einer Kontinuität der menschlichen Vorgeschichte „im späten Kapitalismus" hat bei Adorno a priori eine kulturkritische Stoßrichtung, denn die im Verlauf des Zivilisationsprozesses sukzessive zum Ausdruck kommende „Widervernunft" findet keinen geringeren Ausdruck als die „Ausrottung der Menschen", in welcher die Pathogenese der bedingungslosen, zweckrationalen Naturbeherrschung mit zivilisationspsychologischer Folgerichtigkeit kulminiert.26

5.1. Die Dialektik der Α ufldärung im Mythos: Zur Zivilisationsgeschichte der Subjektivität Adorno dokumentiert nur lakonisch sein Einverständnis mit Nietzsches Deutung des Mythos als einer kulturellen Sinn- und Einheitsstiftung qua narrativer Tradierung jener Deutungsmuster, durch die aktuelle Realitätsprobleme in einen kollektiven kulturellen Horizont einzuordnen und somit als aller Bedrohlichkeit zum Trotz sinnvoll zu begreifen sind. Der Mythos garantiert ein Weltbild von holistischer Homogenität. Diese Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit des mythischen Denkens geht unwiderbringlich verloren mit dem Einbruch rationaler Kalkulation in den Mythos.27 Mit ihr wird es überhaupt erst möglich, zwischen verschiedenen Weltbildern, mythischen und rationalen zu differenzieren. Der Begriff des Mythos selber ist das Ergebnis reflexiver und insoweit rationaler Begriffsbildung, mit der zugleich seine Entzauberung vollzogen ist. Adorno unternimmt keinerlei Versuch, diesen Umstand zu kaschieren: „Entmythologisierung ist Scheidung, der Mythos die trügende Einheit des Ungeschiedenen." Was mit der Entmythologisierung des Weltbildes verloren ging, könnte durch nichts deutlicher werden als durch die unmißverständliche Einnahme der unhintergehbaren rationalen Perspektive, außerhalb derer der Mythos gar nicht auf seinen Begriff zu bringen wäre; einmal entzaubert läßt sich das Sinnpotential des Mythos nicht mehr erfassen, sondern nur noch zivilisationstheoretisch funktional rekonstruieren: „Mythisch ist die Zelebration des Sinnlosen als Sinn; die rituale Wiederholung von Naturzusammenhängen in symbolischen Einzelhandlungen, als wären sie dadurch Übernatur."28

26 27

28

Ebd., S. 78 f. Es ist demnach kein „Defizit der Aufklärung", „für den Sinn, den noch das mythische Weltverständnis in der unproblematischen Erfahrung einer kosmischen Einheit erzeugen konnte, kein aufgeklärtes Korrelat hervorgebracht zu haben; und zwar aus Gründen, die der Aufklärung selbst wesentlich sind." (Thyen 1989, S. 72). Die Kompensation des mythischen Sinnpotentials ist der Aufklärung prinzipiell unmöglich. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 124 f Nicht zuftllig stehen diese Bemerkungen im Zusammenhang von Adornos Heidegger-Kritik. Vgl. zu Adornos Mythosbegriff vor allem Thyen 1989, S. 82 ff u. Hubig 1979, beide mit kritischem Akzent, sowie Kager 1988, S. 33 ff Für die Plausibilität der hier betonten zivilisationstheoretischen Kulturkritik Adornos ist die Nachvollziehbarkeit des Mythosbegrifls der Dialektik der Aufklärung nicht unabdingbar, so daß auf eine genauere Auseinandersetzung verzichtet wird.

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Adorno bestätigt also implizit Nietzsches und Webers Befund einer seit vorgeschichtlichen Zeiten als Damoklesschwert über dem Zivilisationsprozeß schwebenden Sinnkrise, die sich in der Moderne endgültig zum Nihilismus ausgewachsen habe. Adorno setzt die Gültigkeit dieser Diagnose für seine Überlegungen im Oakesschen Sinne logischer Abhängigkeit voraus und konzentriert sich ganz auf eine Radikalisierung der Ursachenforschung, die bereits Nietzsche der Sache nach als Dialektik der Aufklärung beschrieben hatte. Genauer müßte man von der Dialektik der Aufklärung im Mythos sprechen, denn mit der Aufklärung wird kein dem Mythos prinzipiell fremdes Element kulturgeschichtlich zur Geltung gebracht, sondern die Entmythologisierung des Weltbildes erfolgt durch Übersteigerung der im Mythos enthaltenen rationalen Elemente. Die Entmythologisierung geschieht demnach als Autokatalyse des Mythos, und die Dialektik der Aufklärung ereignet sich bereits im Mythos. Dessen aufklärerische Elemente beschädigen mit ihrer entzaubernden Wirkung nämlich nicht nur sich selber, sondern bilden den Keim dafür, daß die Geschichte der Aufklärung von vornherein als Pathogenese partikularer Rationalität abläuft, die mit der Erfolgsbedingung ihrer Entmythologisierung, der Steigerung gesellschaftlicher Naturbeherrschimg, ein rein zweckrationales Prinzip hypostasiert, das bereits der Mythos enthielt. Solchermaßen wesentlichen Bestandteilen des Mythos verhaftet, ist die Regression der aufklärerischen Rationalität in mythische Irrationalität naheliegend. Mit dieser radikalisierenden Variation von Nietzsches Überlegung dokumentiert Adorno, daß er die Urgeschichte der Subjektivität nicht als historischen Verlauf rekonstruiert, sondern als Strukturmerkmal des Zivilisationsprozesses. Wie dargestellt, hatte Nietzsche die Weltdeutung durch den Mythos als Mittel der Naturbeherrschung verstanden, hinsichtlich derer die durch Verinnerlichung gekennzeichnete Kontrolle der menschlichen Natur die Voraussetzung für die Beherrschung der äußeren Natur bildet. Die Beherrschung der inneren Natur des Menschen geißelte er zugleich als pathogenes Opfer, und obwohl Freud und Weber diese Bewertung keineswegs teilten, systematisierten sie gleichwohl die bei Nietzsche angedeutete Überlegung, daß nicht nur der individuelle Triebverzicht eine zivilisatorische Grundbedingung bildet, sondern daß die psychischen Mechanismen von Schuld und Sühne und die rituelle Bekräftigung des Opfergedankens im kulturellen Kollektiv zivilisatorische Grundbedingungen bilden. Ohne dies ausdrücklich auszuweisen, knüpft Adornos Problematisierung der Dialektik der Aufklärung, zu der sich der Sache nach schon Nietzsche und Weber veranlaßt sahen, aufs Engste an diese Theoreme an und veranschaulicht sie exemplarisch an Homers Odysseus-Epos: „Mythische Unausweichlichkeit wird definiert durch die Äquivalenz zwischen jenem Fluch, der Untat, die ihn sflhnt, und der aus ihr erwachsenden Schuld, die den Fluch reproduziert. Alles Recht in der bisherigen Geschichte trägt die Spur dieses Schemas. Im Mythos gilt jedes Moment des Kreisläufe das voraufgehende ab und hilft damit, den Schuldzusammenhang als Gesetz zu installieren. Dem tritt Odysseus entgegen. Das Selbst repräsentiert rationale Allgemeinheit wider die Unausweichlichkeit des Schicksals. [...] Er tut der Rechtssatzung Genüge derart, daß sie die Macht aber ihn verliert, indem er ihr diese Macht einräumt. Es ist unmöglich, die Sirenen zu hören und ihnen nicht zu verfallen: es läßt sich ihnen nicht trotzen. [...] List ist aber der rational gewordene Trotz. Odysseus versucht nicht, einen andern Weg zu fahren als den an der Sireneninsel vorbei. Er versucht auch nicht, etwa auf die Überlegenheit seines Wissens zu pochen und frei den Versucherinnen zuzuhören, wähnend, seine Freiheit genüge als Schutz. [...] Er hat eine Lücke im Vertrag aufgespürt, durch die er bei der Erfüllung der Satzung dieser entschlüpft. Im urzeitlichen Vertrag ist nicht vorgesehen, ob

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der Vorbeifahrende gefesselt oder nicht gefesselt dem Lied lauscht. [...] Der gefesselt Hörende will zu den Sirenen wie irgendein anderer. Nur eben hat er die Veranstaltung getroffen, daß er als Verfallender ihnen nicht verfällt."29

Odysseus vermag diese Naturbeherrschung durchzufuhren, indem er das Opfer bringt, auf die Reize des mythischen Zaubers zu verzichten. Diese Selbstkontrolle in zweckrationaler Absicht besiegt den Mythos, denn dessen Kraft wird nicht ausgewichen, was ihm zumindest spätere Erfolge bei anderer Gelegenheit ermöglichen würde. Vielmehr wird der Untergang des Mythos unumkehrbar,30 weil er mit den eigenen Mitteln und nach den eigenen Spielregeln und somit gleichsam ohne Rehabilitationschance überwunden wurde. Es ist ein für allemal ein Mittel gefunden, mythischer Macht zu entrinnen, und in den verschiedenen Abenteuern der Odyssee werden andere Gefahren mythischen Ursprungs auf ähnliche Weise gemeistert. Die Selbstkontrolle, das Opfer der Entmythologisierung und damit des Verzichts auf die mythischen Verheißungen, ist demnach das zentrale Element jener zweckrationalen Subjektivität, deren Erfolgsgeschichte mit Homers Epos einsetzt. Mit ihr wird demonstriert, daß Naturbeherrschung nicht jenseits des Mythos beginnt, sondern durch seine mimetische Überlistung: „Das Schema der odysseischen List ist Naturbeherrschung durch solche Angleichung. In der Einschätzung der Kräfteverhältnisse, welche das Überleben vorweg gleichsam vom Zugeständnis der eigenen Niederlage, virtuell vom Tode abhängig macht, ist in nuce bereits das Prinzip der bürgerlichen Desillusion gelegen, das auswendige Schema für die Verinnerlichung des Opfers, die Entsagung. Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten drauBen sich selbst entzaubert. [...] Es ist die Formel für die List des Odysseus, daß der abgelöste, instrumentale Geist, indem er der Natur resigniert sich einschmiegt, dieser das Ihre gibt und sie eben dadurch betrügt."31

Damit ist die „Transformation des Opfers in Subjektivität" erfolgt.32 Das Opfer, im magischen Weltverständnis noch ein Akt mit ritueller Kraft, wird, ganz im Sinne Nietzsches und Freuds, verinnerlicht, und von nun an hat das zweckrational agierende Subjekt als Herr über die Natur grenzenlose Macht - die Zivilisationsgeschichte hat begonnen: „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung."33

Mythos und Aufklärung sind demnach unmittelbar verschlungen im Akt naturbeherrschender Selbstkontrolle: „Im Mittelpunkt [der Odyssee, K.F.] stehen die Begriffe Opfer und Entsagung, an denen Differenz so gut wie Einheit von mythischer Natur und aufgeklärter Naturbeherrschung sich erweisen."34

Wie Anke Thyen herausstellt, bildet das Motiv der Introversion des Opfers „den eigentlich systematischen Ausgangspunkt der Dialektik der Aufklärung als einer Dialektik des 29 30 31 32 33 34

Horkheimer/Adorno Ebd., S. 83. Ebd., S. 81. Ebd., S. 80. Ebd., S. 79. Ebd., S. 21.

1944, S. 82 f.

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Opfers. Wann immer von der Dialektik der Aufklärung die Rede ist, wird die Kategorie des Naturzusammenhangs thematisch. Was aber ,Natur' ist, bleibt unter Bedingungen der Entzauberung notwendig unbestimmbar."35 Diese Dialektik des Opfers als systematischer Ausgangspunkt der Dialektik der Aufklärung verweist auf Adornos eigentliches Anliegen, die Theorie einer Dialektik der Naturbeherrschung zu entwerfen.36 Intentional gegen das Opfer als mythisches Ritual gerichtet, vermag die odysseische List die Rationalität des Opfers als grundlegendes zivilisatorisches Motiv nicht abzuschaffen, sondern bloß zu wandeln. Odysseus muß, um die äußere Natur unterwerfen zu können, seine innere Natur beherrschen, er muß insoweit ein „Opfer für die Abschaffung des Opfers" bringen. Odysseus bringt das Opfer des „Selbst, das immerzu sich bezwingt und darüber das Leben versäumt, das es rettet und bloß noch als Irrfahrt erinnert."37 Die trickreiche Naturbeherrschung als mimetische Angleichung an den Mythos, deren Träger das rational kalkulierende Subjekt ist, bewirkt aber zugleich die Hypostasierung dieser zweckrationalen Subjektivität; das Opfermotiv schlägt dialektisch um in die Verfestigung eines neuen Herrschaftsprinzips: „Alle Entmythologisierung hat die Form der unaufhaltsamen Erfahrung von der Vergeblichkeit und Überflüssigkeit von Opfern. Erweist das Prinzip des Opfers um seiner Irrationalität willen sich als vergänglich, so besteht es zugleich fort kraft seiner Rationalität. Diese hat sich gewandelt, sie ist nicht verschwunden. [...] Die Abdingung des Opfers durch selbsterhaltende Rationalität ist Tausch nicht weniger, als das Opfer es war. Das identisch beharrende Selbst, das in der Oberwindung des Opfers entspringt, ist unmittelbar doch wieder ein hartes, steinern festgehaltenes Opferritual, das der Mensch, indem er dem Naturzusammenhang sein Bewußtsein entgegensetzt, sich selber zelebriert."38

In welch starkem Maße zumindest dieser Teil der Dialektik der Aufklärung auf Adorno zurückgeht und von ihm zeitlebens aufrechterhalten wurde, zeigt der Umstand, daß sich diese kompliziert hergeleitete Formulierung in knapper Thesenform in Adornos späterer Miszelle über Fortschritt wiederfindet: „Absolute Naturbeherrschung ist absolute Naturverfallenheit und entragt noch dieser in der Selbstbesinnung, Mythos, der diesen entmythologisiert."39 Adorno folgt Freud und Max Weber genauestens, wenn diese im Opfer als heiliger Handlung ёою' αξϊ+ςί die Absicht einer Kommunikation mit dem angebeteten Gott betonen,40 konzentriert sich jedoch in Fortführung von Webers Einsicht in die Dialektik der Rationalisierung von Tabunormen von vornherein auf die Problematik dieses zivilisatorischen Motivs: 35 36

37 38 39

40

Thyen 1989, S. 69. Hinsichtlich Adornos Natur- und Naturbeherrschungsbegriff unergiebig sind hingegen Duarte 1989; Link 1986, S. 81 ff. Vgl. Schmid Noerr 1990, S. 50, dessen Interpretation deshalb auch nicht, wie er selber denkt, unvereinbar ist mit der Betonung der systematischen Bedeutung des Opfer-Theorems der Dialektik der Außlärung. Horkheimer / Adorno 1944, S. 79. Ebd., S. 77 f. Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 628. Das optimistisch-postulatorische Moment dieses Satzes verweist auf die entsprechende Stelle in der Dialektik der Außlärung, in der es heißt, Odysseus' „herrschaftliche Entsagung, als Kampf mit dem Mythos", sei „stellvertretend ftlr eine Gesellschaft, die der Entsagung und der Herrschaft nicht mehr bedarf (Horkheimer / Adorno 1944, S. 79; vgl. ebd., S. 63). Freud 1974 ff., Bd. 9: Totem und Tabu, S. 418; Weber 1980, S. 258 f.

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„Uralt muß die Erfahrung sein, daß die symbolische Kommunikation mit der Gottheit durchs Opfer nicht real ist. Die im Opfer gelegene Stellvertretung [...] ist nicht zu trennen von der Vergottung des Geopferten, dem Trug der priesterlichen Rationalisierung des Mordes durch Apotheose des Erwählten."41

Die Charakterisierung der Theorie Adornos als Dialektik der Aufklärung im Mythos erfordert weiterhin die Berücksichtigung des Umstands, daß der Triumph der Aufklärung in Gestalt des zweckrational Naturbeherrschung vollziehenden Subjekts nicht nur durch subversive List innerhalb des Mythos erfolgt. Daß Adorno den Sieg der Aufklärung über den Mythos gleichsam als Implosion des Mythos beschreibt, liegt entscheidend in jener These begründet, die als die wohl berühmteste der Dialektik der Aufklärung gelten muß: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück."42 Diese Überlegung findet sich bereits bei Nietzsche, der die naturbeherrschende Funktion des Mythos betont und das aufklärerische Element historischer Systematisierung als den Anfang vom Ende des mythischen Weltbildes ermittelt.43 Entsprechend heißt es in der Dialektik der Außlärung: „Die Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon deren eigenes Produkt. In der wissenschaftlichen Kalkulation des Geschehens wird die Rechenschaft annulliert, die der Gedanke in den Mythen einmal vom Geschehen gegeben hatte. Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären. Mit der Aufzeichnung und Sammlung der Mythen hat sich das verstärkt. Sie wurden früh aus dem Bericht zur Lehre."44

Die Vermutung eines dialektischen Rückschlagens von Aufklärung in Mythologie entspringt jedoch bei Nietzsche primär der Auflösung der mimetischen Begrenzung der Naturbeherrschung im Mythos durch die rückhaltlos und rücksichtslos vernichtende Kritik der puren Rationalität. Während Nietzsche der Naturbeherrschung im mythischen Weltbild damit eine gewisse Unschuld zuspricht und insofern ganz unmittelbar die Dialektik der Aufklärung problematisiert, denkt Adorno den Prozeß radikaler als einen zwischen Mythos und Aufklärung ablaufenden, als „Dialektik von Mythos und Aufklärung",45 an dessen Ende die Aufklärung, nachdem sie den Mythos ausgehöhlt hat, aufgrund ihres unaufhaltsam totalisierenden Wesens die eigenen Grundlagen untergräbt und zur mythischen Irrationalität regrediert: „Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind. [...] Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfingt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann. [...] Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, um so unerbittlicher hält

41

Horkheimer / Adorno 1944, S. 74. Vgl. zu Adornos Opferbegriff Köhler 1974, S. 90 ff.; Schmucker 1977, S. 22 ff., sowie kritisch vor allem Thyen 1989, S. 106 ff. 42 Horkheimer / Adorno 1944, S. 21. 43 Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 74. 44 Horkheimer / Adorno 1944, S. 30. 45 Ebd., S. 21. Interessante Bezüge zu Richard Wagners Ring des Nibelungen konstruiert Ackermann 1981, S. 61 ff.

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Wiederholung unter dem Titel Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt."44

Adorno geht es jedoch nicht im unmittelbaren Sinne um eine Vernunftkritik.47 Nicht zufälligerweise verzichtet er im klaren Bewußtsein der petitio principii, der Dialektik der Aufklärung eine gesteigerte Fortsetzung der Aufklärung entgegenzusetzen, zunächst auf eine Erörterung dieser rationalitätstheoretischen Problematik. Bis dieser die Methodologie der Negativen Dialektik entgegengesetzt wird und selbst noch in dieser, beschäftigt Adorno die zivilisationstheoretische Kulturkritik offenbar weitaus mehr als die aporetische Vernunftkritik.48 Wie Alfons Söllner herausgestellt hat, ist die Gleichung, schon der Mythos sei Aufklärung und Aufklärung schlage in Mythologie zurück, nur aus ihrem herrschaftstheoretischen Sinn verständlich, „demzufolge der Mensch von Anfang an ein abstraktes Verfügungsverhältnis gegenüber der Natur errichtet hat, das sich durch die Weltgeschichte durchhält und steigert. Dieses Verhältnis ist in sich dialektisch, es zielt auf die Befreiung des Menschen von den Zwängen der Natur, errichtet aber dadurch ein Herrschaftsverhältnis zweiter Ordnung, eine ,zweite Natur', nämlich die Repression der inneren Triebnatur des Menschen und die gesellschaftliche Herrschaft des Menschen über den Menschen."49 Adorno expliziert die Urgeschichte der Subjektivität als Urgeschichte der Selbsterhaltung durch Naturbeherrschung - und das heißt als Urgeschichte der instrumenteilen Vernunft.50 Diese Formulierung von Anke Thyen legt es aber mit Blick auf Söllners Feststellung nahe, die Rationalitäts- und Subjektivitätsproblematik gewissermaßen als nachgeordnete Teilaspekte innerhalb von Adornos zentralem Thema, dem dialektischen Umschlagen der Naturbeherrschung in zwischenmenschliche Gewalt zu verstehen. Und anders als beispielsweise in der Kritischen Theorie Herbert Marcuses problematisiert Adorno in dieser Hinsicht vor allem die Beherrschung der äußeren Natur, der menschlichen Umwelt. Adorno ist nämlich nicht wie Nietzsche der Meinung, der zivilisatorisch gezähmte Mensch sei eine kranke Bestie, weswegen sich zivilisationstheoretisch inspirierte Kulturkritik um der Verhinderung von Barbarei willen gegen die falsch verstandene Zähmung zu richten und eine Befreiung der menschlichen Triebnatur anzustreben habe. Vielmehr ist die mit der Zivilisationstheorie Sigmund Freuds erreichte Einsicht in die destruktiven Wirkungen aggressiver und vindikativer Neigungen des Triebwesens Mensch, die es nicht freizusetzen, sondern einzuhegen gilt, nicht mehr kulturkritisch zu hinterschreiten. Adornos Augenmerk gilt der Frage nach den sozialpathologischen Konsequenzen einer absoluten Verfügungsgewalt über die äußere Natur, die zivilisationsgeschichtlich möglich wurde durch die als Dialektik des Opfers auftretende, verdrängende Unterwerfung der inneren 46 47

Horkheimer / Adorno 1944, S. 33 f. Carsten Schlüter-Knauer hat deshalb vorgeschlagen, Adornos Rationalitätskritik als Kritik der apologetischen Vernunft zu verstehen, das heißt, vereinfachend zugespitzt, als Kritik an einer sich absolut setzenden und gegen Kritik immunisierenden instrumenteilen Vernunft (Schlüter 1987; Schlüter 1990, S. 79 f.; vgl. auch Schlüter-Knauer 1995 ä). 48 Schließlich kann Adorno kaum entgangen sein, daß die in der Dialektik der Aujklärung angesprochene petitio principii durch seine öffentliche Aufklärungsarbeit als Intellektueller im Nachkriegsdeutschland, diskurstheoretisch formuliert, regelrecht zum ,performativen Widerspruch" wurde. 49 Söllner 1979, S. 191. 50 Thyen 1989, S. 98.

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Natur des Subjekts unter zweckrationale Selbstkontrolle, mit der die instrumentelle Vernunft dominant wird. Adorno fragt nach sozialpathologischen Auswirkungen der zerstörerischen Herrschaft des Menschen über seine natürliche Umwelt und radikalisiert damit die kulturkritische Deutung eines von Nietzsche über Freud bis zu Max Weber einheitlichen zivilisationstheoretischen Befundes.51 Diese Überlegung entwickelt er, indem er zunächst jener vermeintlichen Rationalität, die als reine Rationalisierung in bloßer Naturbeherrschung besteht, ihre Irrationalität vorhält und diese als Herrschaftsinstrument enthüllt. Der Dialektik der Aufklärung liegt nach Adornos Verständnis ein umfassender Begriff von Aufklärung als der „Gesamtbewegung der abendländischen Entmythologisierung" zugrunde und damit ein Begriffsverständnis, das, wie Adorno ausdrücklich betont, engstens an Max Webers Theorem der Entmagisierung beziehungsweise Entzauberung der Welt orientiert ist.32 Weber hatte, wie erläutert, die sukzessive Rationalisierung der ursprünglich qua Tabuisierung gesetzten Nonnen zu einem ethischen System problematisiert und damit ein tiefliegendes Unbehagen am zivilisatorischen Rationalisierungsprozeß artikuliert. Mit dieser Problematisierung und auch mit deren Exemplifikation am Phäno51

Vgl. Söllner 1979, S. 193. Diese Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik markiert die Trennlinie zwischen Adorno und Horkheimer. Beispielsweise behielt Horkheimer, obwohl er Adornos Freud-Rezeption entscheidend vermittelt haben dürfte, zeitlebens ein sehr eingeschränktes, selektives Freud-Verständnis. So äußerte er, einer Vorlesungsnachschrift von Alfred Schmidt zufolge, in den späten fünfziger Jahren gar, Freuds geschichtsphilosophischer Theorie gehe es (nur) darum, „das Entstehen des Monotheismus in der abendländischen Welt zu erklären" - eine beinahe ridiküle Verkürzung von deren Anliegen. Zur Freudschen Kulturtheorie M t Horkheimer demnach audi nur die unzutreffende Platitüde ein, „daß sie wenig durchgebildet ist und nur die Bedeutung eines Modells hat." (Horkheimer 1985 ff., Bd. 13, S. 345 f.). Horkheimers Bezugspunkt bildet Schopenhauer, ttber den nach eigenem Bekenntnis auch seine Freud-Rezeption erfolgte (Horkheimer 1985 ff., Bd. 7, S. 454 ff.). Horkheimer ist folgerichtig nicht primär an dem dialektischen Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und zwischenmenschlicher Barbarei interessiert, dem Adorno nachgeht, sondern durch ein Schopenhauersches Mitleid mit der Tierwelt motiviert. So schreibt er am 12.03.1947 an Herman Igersheimer: „Was mich noch mehr als die Misere der Menschen bedrückt, ist [...] das Leiden der Tiere inmitten der menschlichen Gesellschaft. Der Hunger der Menschen hat wenigstens die Gabe, laut zu werden, die langen Züge aber, die in allen Kontinenten die Nächte und Tage hindurch zusammengepferchte, halbverschmachtende Tiere auf endlosen Fahrten in die Schlachthäuser liefern, die Laboratorien, in denen wir unsere Triumphe erzielen, kurz, das lautlose Grauen, das der Mensch zu dem schon bestehenden noch hinzufügt, und auf dem sich die ganze Zivilisation notwendig aufbaut, beschämt und rührt midi fast noch tiefer an als die Kämpfe der Menschen untereinander." (Horkheimer 1985 ff., Bd. 17, S. 797). Insofern ist die Feststellung von Rolf Wiggershaus zutreffend, daß die These der Dialektik der Außlärung in Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft „mit undialektischer Direktheit herausgestellt wurde" (Wiggershaus 1988, S. 384). Und so wenig zwischen Horkheimer und Adorno Einigkeit über Freud bestand, dessen Theorie Adorno doch für so „durchgebildet" hielt, daß er ihr „allerweiteste Verbreitung" wünschte (Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 674), so wenig bestand sie über Schopenhauer. In einem Gespräch aus der Entstehungszeit der Dialektik der Auflclärung wird dies beinahe anekdotisch deutlich: Adorno beginnt dort mit der angesichts seines Verhältnisses zu dieser philosophischen Strömung nur scheinbar harmlosen Bemerkung, Schopenhauer sei der Ahnherr der Existentialphilososphie. Horkheimer stellt daraufhin treffend fest: „Sie lehnen Schopenhauer ab", was Adorno zu einem vernichtenden Urteil ermutigt: „Das Verdikt, das Schopenhauer über die Welt ergehen läßt, ist begriffliche Wiederholung der Gewalt, die die Menschen der Natur widerfahren lassen." (Horkheimer 1985ff, Bd. 12, S. 594 ff.) Vgl. Schmid Noerr 1995. 52 Adorno 1995, S. 102,168.

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men des Opfers bewegt er sich seinerseits stark in Freuds Gedankenspur. Gleichzeitig vertieft er diese um Ansätze zu einem dialektischen Verständnis, indem er daraufhinweist, daß es der zum Tod Gottes fuhrende Rationalisierungsprozeß selber ist, der die Wirkungsmacht kultureller Rituale wie des Opfers untergräbt. Ohne die Sinnproblematik noch einmal explizit aufzugreifen, folgt Adorno dieser Überlegung und ihrer Veranschaulichung am Opfermotiv,53 vor allem aber denkt er sie noch radikaler als Weber. Während jener bei einer kulturhistorisch orientierten, soziologischen Dialektik der Außlärung stehenbleibt, verlegt Adorno diese in ihren eigenen Begriff und abstrahiert damit von kontingenten historischen Entwicklungen: „Die Irrationalität der partikular verwirklichten ratio innerhalb des gesellschaftlich Totalen ist der ratio nicht äußerlich, nicht lediglich von ihrer Anwendung verschuldet. Vielmehr ihr immanent. Gemessen an einer vollen Vernunft, enthüllt die geltende sich bereits an sich, ihrem Prinzip nach, als polarisiert und insofern irrational. Aufklärung unterliegt wahrhaft der Dialektik: diese findet statt in ihrem eigenen Begriff."54

Adornos Konzentration auf die zivilisatorische Urgeschichte, die der Feststellung historischer Unterschiede und Besonderheiten gerade in puncto Entmythologisierung keineswegs entgegensteht,55 ergibt sich mithin zwangsläufig aus seiner rationalitätstheoretischen Dialektik, und insofern spricht Herfried Münkler zutreffend von einer „vor allem dem - sekundär dialektisierten - Rationalitätstheorem Max Webers geschuldeten Geschichtstheorie".56 Weiterhin ist Adorno zu dieser Verlagerung der Ursachenforschung hinsichtlich moderner Sozialpathologien in die Prähistorie genötigt aufgrund seines Befundes, daß es die hypostasierte Naturbeherrschung ist, die für die Regression der Vernunft auf pure Rationalisierung verantwortlich ist. Hierin liegt zugleich die größte Diskrepanz zu Weber, der, anders als Nietzsche und auch als Freud, die menschliche Naturbeherrschung lediglich als anthropologischen Grundtatbestand betrachtet und nicht weiter problematisiert. Die Rekonstruktion der Denkbewegung von Nietzsche, Freud und Weber zu Adorno ermöglicht es, den Gang der „systematisch angelegten Reduktion von ,Zweckrationalität' auf ,instrumentelle Rationalität'"57 bei Adorno im einzelnen nachzuvollziehen. Wiewohl Adorno terminologisch mit dem explizit spinozistisch verstandenen Begriff der Selbsterhaltung eine Kategorie einfuhrt, die Nietzsche mit ebenso ausdrücklichem, aber kritischem Verweis auf Spinoza ablehnt,58 folgt er Nietzsche inhaltlich mit der Feststellung, daß die ratio „im selbsterhaltenden Interesse" entsprang.59 Hiermit übernimmt Adorno Nietzsches für die Entstehung zivilisationstheoretischer Kulturkritik ausschlaggebenden, 53 54 55 56 57 58

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Vgl. nur den beiläufigen Hinweis, Rationalität sei „immer ein Maß an vergeblichem Opfer" (Adorno 1970 ff., Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 48). Adorno 1970 ff., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 311 f. Vgl. Horkheimer /Adorno 1944, S. 115. Münkler 1990, S. 191. Vgl. Schnädelbach 1992, S. 244. Wenig erhellend ist hingegen der Begriff Webermarxismus (Bolz 1989, S. 118). Thyen 1989, S. 65. Vgl. zur Kritik hieran ebd., S. 223 ff. sowie Hubig 1979. Horkheimer /Adorno 1944, S. 52; Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 342; Nietzsche 1988, Bd. 3: Die fröhliche Wissenschaft, S. 585 f.; Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 27 f.; 55; Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, S. 95 (3 [149]); S. 234 (6 [145]); S. 479 (11 [108]). Adorno 1970ff, Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 307. Vgl. Lüdke 1981, S. 34 ff

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weitreichenden Paradigmenwechsel, die bis dahin als Wahrheitsinstrument und -maßstab hochgehaltene Aufklärung als sublime Machtstrategie im Dienst konsequentester Naturbeherrschung zu entlarven. Das freie, autonome Individuum ist in dieser Perspektive ein Mittel zum soziologisch überaus handgreiflich ablesbaren Herrschaftszweck: „Das System, das der Aufklärung im Sinne liegt, ist die Gestalt der Erkenntnis, die mit den Tatsachen am besten fertig wird, das Subjekt am wirksamsten bei der Naturbeherrschung unterstützt. Seine Prinzipien sind die der Selbsterhaltung. Unmündigkeit erweist sich als das Unvermögen, sich selbst zu erhalten. Der Bürger in den sukzessiven Gestalten des Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators, ist das logische Subjekt der Aufklärung."60

Adorno teilt sogar Nietzsches ausdrückliche Konzentration auf Kant bei der Entwicklung dieser aufklärerischen Aufklärungskritik, wenn er feststellt, „daß der kategorische Imperativ von Kant gar nichts anderes ist, als das ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip der Naturbeherrschung selber", so daß „die Kantische Moral ihrerseits eigentlich nichts anderes ist als Herrschaft", mit der die wahre Freiheit und Autonomie von Individuen stets aufs Neue konterkariert wird.61 Folgerichtig gleicht Adornos Klage, Rationalisierungen seien „die Narben der ratio im Stande der Unvernunft" aufs Wort einer entsprechenden Feststellung Nietzsches,62 und so fällt Adornos Topos der „Unvernunft der herrschenden Vernunft" kaum zufällig im Zusammenhang einer würdigenden Erwähnung von Nietzsches Dekadenz, in Turin Mitleid mit einem geschundenen Pferd gezeigt zu haben.63 Für dieses Nietzscheanische Theorem der in den „Dienst der Unvernunft" geratenen Vernunft nimmt Adorno nun ausgerechnet Freud als theoriegeschichtlichen Ahnherren in Anspruch, der diesen Umstand mit dem Begriff der Rationalisierung belegt haben soll.64 In Wahrheit finden sich bei Freud keine Stellen, in denen er eine solche Rationalitätsbeziehungsweise Rationalisierungskritik auch nur annährend so deutlich ausspräche, wie Adorno es ihm beiläufig und ohne Nachweis unterstellt: „Die Unsicherheit des eigentlichen Zwecks der Anpassung, die Unvernunft vernünftigen Handelns also, die die Psychoanalyse aufdeckt, spiegelt etwas von objektiver Unvernunft wider. Sie wird zur Anklage der Zivilisation."65

60 Horkheimer / Adorno 1944, S. 106. 61 Adorno 1996, S. 155 ff. Vgl. Horkheimer / Adorno, S. 48: „Naturbeherrschung zieht den Kreis, in den Kritik der reinen Vernunft das Denken bannte [. ..]: die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig." Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 12 ff.; 188; Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 24 ff, 107; Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 264 (7[4J). 62 Adorno 1970 ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 64. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 540: „Dass die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, lässt sich endgültig dadurch beweisen, dass jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft - , nicht allzu vernünftig ist." Vgl. Adorno 1970 ff., Bd. 9: Ästhetische Theorie, S. 102: „Rationalisierung ist noch nicht rational". 63 Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 625 ff Vgl. zu diesem Topos Horkheimer / Adorno 1944, S. 114; 240; Adorno 1970 ff, Bd. 5: Drei Studien zu Hegel, S. 70 f.; Bd. 6: Negative Dialektik, S. 311 f.; Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 445; Institutfür Sozialforschung 1956, S. 87. 64 Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 576. 65 Adorno 1970ff., Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 40.

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Vielmehr ist die Idee einer Irrationalität der naturbeherrschenden Rationalität nur schwer vereinbar mit Freuds optimistischer Vorstellung von einer positiven, gesellschaftlich pazifizierenden Reziprozität zwischen der Beherrschung innerer und äußerer Natur, und der Begriff der Rationalisierung als kultursoziologisches Merkmal gelangt erst mit Max Weber zu breiter Anerkennung und Verwendung. Gerade dieses Mißverständnis Adornos, das eher eine Instrumentalisierung darstellen dürfte, weil es auf so geschickte Weise eine Idee Nietzsches in Zusammenhang mit einem Freud unterstellten Begriff Webers bringt, der die sozialwissenschaftliche Verlängerung des ursprünglichen Theorems gewährleistet, enthüllt die Bedeutung der sich von Nietzsche über Freud bis zu Weber ausdifferenzierenden Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik für Adorno. Sein Interesse an der ausdrücklichen Einbeziehung des am wenigsten vernunftkritischen Denkers, Freud, in diesen gedanklichen Zusammenhang muß darin gesehen werden, daß neben Nietzsches die Kritische Theorie so weitreichend antizipierenden Grundannahmen und Webers Rationalisierungstheorem die zivilisationspsychologischen Einsichten Freuds ein unabdingbares Element für Adornos radikalisierte Version zivilisationstheoretischer Kulturkritik bilden. Adorno benötigt Freuds Theoreme nämlich nicht nur als Folie und Voraussetzung für seine eigene, im nächsten Kapitel erläuterte zivilisationspsychologische Spekulation, mit der er Totem und Tabu fürwahr von den Füßen auf den Kopf stellt. Vielmehr verbindet er sie mit seinem soziologischen Interesse an Max Webers Zweckrationalitätsbegriff, insofern die Vorherrschaft zweckrationalen Verhaltens für Adorno die Erklärung zentraler kulturpsychologischer Mechnismen liefern soll.66 Ganz selbstverständlich akzeptiert Adorno mit einer beiläufigen Bemerkung in der Negativen Dialektik Freuds Materialismus, daß „Vernunft genetisch aus der Triebenergie als deren Differenzierung sich entwickelt" habe und wendet diesen Befund polemisch gegen den Idealismus, der dies leugnen müsse.67 Die These der Dialektik der Aufklärung, die in ihrer Reduktion auf Naturbeherrschung zur reinen Zweckrationalität verkommene Vernunft sei unvernünftig, „weil Vernunft selbst zum bloßen Hilfemittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur wurde",68 ist totalisierend und daher griffig. Adornos Kritik daran, daß „die sich durchsetzende allgemeine Vernunft [...] bereits die eingeschränkte" sei,69 liest sich jedoch differenzierter, wenn man berücksichtigt, daß er sich außerhalb der Koautorschaft mit Horkheimer für die gesellschaftliche und politische Tiefendimension dieses Umstands ebenso interessiert wie für ihre geschichtsphilosophische Ausdeutung: „Die Oberzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch. Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen. Sie und die Zweckrationalität ihres praktischen Handelns klaffen weit auseinander, aber Irrationalität ist stets auf dem Sprung, auch diese Zweckrationalität, im politischen Verhalten, zu überfluten."70

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Adorno 1993, S. 223 f. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik S. 229. Horkheimer / Adorno 1944, S. 53. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 311. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 587. Während Horkheimer zumeist seinen Begriff der instrumenteilen Vernunft verwendet, hat Adorno offenbar eine größere Vorliebe für den Weberschen Begriff der Zweckrationalität, den er sogar noch nach der weiten Verbreitung von Horkheimers Sprachschöpfung gebraucht.

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Diese aus der Dominanz der Zweckrationalität resultierenden Probleme hatten in ähnlicher Form bereits Weber beunruhigt, der durch den ungeheuren Kosmos der wirtschaftlichen Ordnung der Gesellschaft die aufklärerische Verheißung rationalen Handelns hintertrieben sieht und politische Gegenaufklärung für eine wesentliche Gefahr hält. Offenbar ist also Adornos Interesse für die in der Urgeschichte liegenden Wurzeln der Naturbeherrschungsproblematik, die Weber aussparte, durchaus unmittelbar verbunden mit seiner soziologischen Aufmerksamkeit für die aktuellen Probleme der Moderne. Die selektive Rezeption der Vorstufen zivilisationstheoretischer Kulturkritik bei Nietzsche, Freud und Weber dient Adorno, soviel ist bereits an dieser Stelle erkennbar, tatsächlich zu deren radikalisierender Synthetisierung im Rahmen einer Makrotheorie und nicht etwa zu einer Verdrängung des Sozialen.11 Und so ist es auch kein kurzschlüssiger Sprung von der abstrakten Geschichtsphilosophie in fragwürdige Deutungen sozialer und politischer Entwicklungen, sondern eine aus denselben kulturtheoretischen Grundannahmen gespeiste Erinnerung an die inzwischen von der Geschichte realisierten Schreckensvisionen Nietzsches und Webers, wenn Adorno das Zurückschlagen der Aufklärung in Mythologie an der faschistischen Propaganda und ihren desaströsen Wirkungen festmacht. Nichts liegt schließlich näher, als aus Webers Warnung vor den entzauberten alten Göttern, die „in Gestalt unpersönlicher Mächte" ihren Gräbern entsteigen und nach Gewalt über unser Leben streben,72 angesichts der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ex post auf eine gewisse prophetische Begabung zu schließen.73 Adorno hat auch durchaus nicht bloß handgreiflichen Terror vor Augen, wenn er die Flucht des ohnmächtigen, weil in Zweckrationalität erstarrten Subjekts aus der „zur zweiten Natur versteinerten Gesellschaft [...] in die vermeintlich erste" konstatiert.74 Vielmehr erkennt er, an Nietzsches Warnung vor der zur Vergötterung jedweder Macht führenden Religion der historischen Macht" anknüpfend, sie beinahe nur paraphrasierend, den politisch-religiösen Rausch als unabdingbare Voraussetzung für die Realisierung totalitären Terrors: „Im Begriff des Weltgeistes war das Prinzip der göttlichen Allmacht zum einheitssetzenden säkularisiert, der Weltplan zur Unerbittlichkeit des Geschehenden. Der Weltgeist wird wie die Gottheit verehrt; ihrer Personalitat und all ihrer Attribute von Vorsehung und Gnade wird sie entkleidet. Damit vollstreckt sich ein Stück Dialektik der Aufklärung: der entzauberte und konservierte Geist bildet sich dem Mythos an oder regrediert bis zum Schauder vor einem zugleich Übermächtigen und Qualitätslosen. Solchen Wesens ist das Gefühl, vom Weltgeist berührt zu sein oder sein Rauschen zu vernehmen. Es wird zum Verfallensein ans Schicksal."75

Mit dieser Überlegung bestätigt Adorno die Selbsteinschätzung, Nietzsche näher zu stehen als Hegel.76 Ebenfalls in enger Anlehnung an Nietzsche begründet Adorno, wie bereits angedeutet, seine Kritik der Aufklärung aber vor allem mit der Dominanz des Herrschafts71

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So die - souveränerweise später selber abgeschwächte (ebd., S. 389) - Kritik von Honneth 1989, S. 70. Wie Schmid Noerr 1990, S. 42, bemerkt, ist ein solcher Verdrängungsvorwurf nur möglich um den Preis einer anderen Verdrängung, und zwar derjenigen der Naturproblematik aus der Gesellschafts analyse. Weber 1994: Wissenschaft als Beruf; S. 17. Vgl. Habermas 1988, S. 134. Adorno 1970 ff, Bd. 9: Ästhetische Theorie, S. 102 f. Adorno 1970ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 300. Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 1: Unzeitgemässe Betrachtungen, S. 308 f Adorno 1996, S. 255.

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prinzips, das mit der historischen Wirklichkeit des Bürgers zur absoluten Dominanz gelangt sei.77 In dieser dialektischen „Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft", jenem „Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung",78 sieht er die Stiftung der unglückseligen Verbindung zwischen dem aus der leerlaufenden Aufklärung entstehendem mythischen Bann und der „herrschaftlichen Rationalität".79 Es ist die Suche nach den Wurzeln dieser Fehlentwicklung, die Adorno dazu bringt, von der in der Odyssee aufzufindenden Urgeschichte der Subjektivität noch einen Schritt weiter zurück zu machen und sich in Fortsetzung der entsprechenden Überlegungen Nietzsches, Freuds und Webers zivilisationstheoretisch spekulativ der Urgeschichte der menschlichen Naturbeherrschung zuzuwenden. In deren mit der Regression der Rationalität zu zweckrationaler Rationalisierung verbundener Pathogenese vermutet er die Gründe für die in den Bereich politischsozialer Herrschaftsverhältnisse hineinreichenden Fehlentwicklungen. Diese Dialektik der Naturbeherrschung sieht Adorno in originärem Zusammenhang mit der an der Odyssee exemplifizierten Dialektik der Aufklärung im Mythos·. ,Дп der Klassengesellschaft Schloß die Feindschaft des Selbst gegens Opfer ein Opfer des Selbst ein, weil sie mit der Verleugnung der Natur im Menschen bezahlt ward um der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Maischen willen. Eben diese Verleugnung, der Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität: mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar."80

Der erkenntnisleitende Fokus von Adornos kritischer Theorie der Gesellschaft besteht demnach in der Naturgeschichte im Sinne der Naturhaftigkeit aller Geschichte als von innen her unbeherrschtem Herrschaftsprozeß.81 Wie Jürgen Habermas bemerkt hat, reformuliert die den Titel der vorliegenden Untersuchung enthaltende Passage aus der Negativen Dialektik „in einem Atemzug" diesen Zentralgedanken der Dialektik der Aufklärung82: „Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur."13

77 Horkheimer /Adorno 1944, S. 106. 78 Ebd., S. 198. 79 Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 268. 80 Horkheimer / Adorno 1944, S. 78. 81 Schmid Noerr 1990, S. 41. 82 Habermas 1987 a, S. 167. 83 Adorno 1970 ff., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 285.

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Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß Adorno keine destruktive Fundamentalkritik der Vernunft vornimmt oder auch nur intendiert. Schließlich maß er einen positiven Vernunftbegriff zurückbehalten, gerade um seine kulturkritischen Absichten überhaupt verfolgen zu können, denn ,ДиНиг, Kritik und Vernunft sind unabhängig voneinander nicht zu haben."84 Es ist der zivilisationstheoretische Fokus der Naturgeschichte, der Adornos Vernunftkritik wie auch seine soziologischen Überlegungen bestimmt und ihn zu einer Kritik der Pathogenese des Zivilisationsprozesses als einer Rationalität der Naturbeherrschimg, die mit ihrem zunehmendem Rationalisierungserfolg zur Naturverfällenheit regrediert, veranlaßt. Hiermit ist der Widerspruch zu Freuds Glauben an das Zusammenrücken der Menschheit aufgrund der gemeinsamen Anstrengung äußerer Naturbeherrschung auf die Spitze getrieben: „Die Absurdität des Zustands, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet."85

Adornos Urteil über den Zivilisationsprozeß ist dementsprechend düster, und aus der Perspektive der Naturgeschichte läßt sich die komplizierte, mehrschichtig angelegte Diagnose einer Dialektik der Aufklärung auf einen Nenner bringen: „Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt."86

Der als Titel der vorliegenden Untersuchung gewählte Begriff verwilderte Selbsterhaltung impliziert auch die kulturkritische Dramatik, zu der seine zivilisationstheoretischen Befunde Adorno treiben. Verwildert ist die Selbsterhaltung, in der die ganz auf Rationalisierung konzentrierte Rationalität schließlich aufgeht, nicht nur gegenüber dem ursprünglichen Vernunftideal und -anspruch. Vielmehr meint Adorno einen manifesten Umschlag der Zivilisation in archaische Wildheit, den „Rückfall in die Barbarei."87 „Trotz allen Erfahrungsmaterials haben die Menschen bis heute ihre eigenen Angelegenheiten nicht mit der gleichen Rationalität ordnen können, mit der sie Produktions-, Konsum- und Vernichtungsgüter herstellen,"88 und so sehen sie sich bedroht von dem „Verderben [...], das Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung bereitet".89 Insoweit hat die Problematisierung der Dialektik der Aufklärung eine unmittelbar kultur- und sozialkritische Stoßrichtung. Schon bei Francis Bacon soll, der Dialektik der Aufklärung zufolge, „der Verstand, der den Aberglauben besiegt, [...] über die entzauberte Natur gebieten." Mit durch Nietzsche geschultem Blick sieht Adorno hierin als unausweichliche Konsequenz den Zusammenhang zwischen Naturbeherrschimg und despotischen Formen gesellschaftlich-politischer Herrschaft angelegt: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt."90

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Schnädelbach 1996, S. 326. Horkheimer / Adorno 1944, S. 62. Ebd., S. 216. Adorno 1970 ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 492. Ebd., S. 491. Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 611. Horkheimer / Adorno 1944, S. 26.

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Die Frage, weshalb und mit welcher Notwendigkeit die Naturbeherrschimg in repressive zwischenmenschliche Herrschaft umschlägt, wieso also aus der Unausweichlicheit der instrumenteilen Aneignung von Natur die Unausweichlichkeit von gesellschaftlicher Herrschaft folgt, findet in der Dialektik der Aufklärung aber noch keine befriedigende systematische Beantwortung.91 Erst in den Minima Moralia und in der Negativen Dialektik finden sich hierzu Erklärungsansätze, die sich in Beziehung zu entsprechenden Andeutungen in der Dialektik der Aufklärung setzen lassen. Hierzu konzentriert sich Adorno nim ganz auf jene zivilisatorische Urszene, der schon das Interesse Nietzsches, Freuds und uneingestandener-, aber notwendigerweise - auch Max Webers gegolten hatte. Um durch radikal isierende Synthese von deren Theoremen seine These vom konstitutiven Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Barbarei zu entwickeln, greift Adorno auf Freuds Ahnung aus Totem und Tabu zurück, daß am Anfang der Menschheitsgeschichte ein zivilisationspsychologisch folgenreicher Mord stand. Durch Auswechslung der Tatbeteiligten, ihrer Motive und psychischen Reaktionen wendet Adorno diese Hypothese gänzlich gegen Freuds optimistische Hoflnung auf gesellschaftlichen Fortschritt durch fortschreitende Naturbeherrschung.

5.2.

Vom Insektenvertilgungsmittel zum Vernichtungslager: Die Rationalisierung des Tabu als Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung

Es hat sich bereits bei der Rekonstruktion der Dialektik der Aufklärung im Mythos gezeigt, daß Adorno an der Figur des Odysseus den von Nietzsche, Freud und Weber als zentral betrachteten zivilisatorischen Vorgang beschreibt, daß der Mensch um der Unterwerfung der äußeren Natur willen seine innere Natur beherrscht. Das Motiv der Introversion des Opfers nimmt eine Schlüsselstellung in der zivilisationstheoretischen Kulturkritik Adornos ein und verweist darauf daß deren Zentralperspektive die Naturgeschiche bildet. In gradliniger Nachfolge Nietzsches, Freuds und Webers versteht Adorno den kulturellen Triebverzicht, die Kontrolle der inneren Natur also „zugleich als Voraussetzung wie als Folge der Beherrschung äußerer Natur".92 Adorno verbindet jedoch verschiedene Reflexionsstufen der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik miteinander, denn anders als Freud betont er nicht nur die Funktionalität der Triebkontrolle für die menschliche Herrschaft über seine natürliche Umwelt, sondern betont, daß in der fortgeschrittenen Naturbeherrschung der Triumph der Aufklärung über mythisches Weltverständnis zum Ausdruck kommt, jene Rationalisierung des Weltbildes, deren Dialektik bereits Nietzsche und Max Weber problematisiert hatten. Der schillernde Begriff der Naturbeherrschung meint folglich nicht „den Prozeß der Aneignung eines an sich gleich91 92

Söllner 1979, S. 195. Schmid Noerr 1990, S. 47.

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gültigen Materials, als der er am Ende dieser Entwicklung aufgefaßt wird, sondern die Reduzierung der Natur auf ihre Beherrschbarkeit und Ausbeutbarkeit, die Austreibung eines ihr immanenten Wertes und Sinns, die Entzauberung. Dementsprechend wäre auch die Beherrschung innerer Natur nicht als bloße .Repression' eines ,organischen Antriebspotentials' zu verstehen, sondern als zivilisatorische Entzauberung" des vormals, im mythischen Weltbild, als „beseelt" gedachten menschlichen Körpers.93 Zum gleichgültigen, rein funktional bedeutsamen Objekt menschlicher Beherrschungsfähigkeiten ist die Natur erst im fortgeschrittenen Stadium ihrer konsequenten Entmythisierung geworden, wenn der Mensch kein mimetisches, persönliches Verbundenheitsverhältnis mehr zu ihr hat, sondern ein rein zweckrationales, bei dem er sich selbst als im Akt der Beherrschung außerhalb im Sinne von oberhalb der Natur stehender Herrscher versteht und legitimiert. Die Technisierung der avancierten Naturbeherrschung in der wissenschaftlichtechnischen Moderne ist daher nicht als autonomer Entwicklungsprozeß zu verstehen, in dessen Verlauf oder gar erst in dessen Folge sich das zweckrationale Naturverständnis ausbildete. Vielmehr ist die Grenzenlosigkeit der technisierten Naturbeherrschung erst ermöglicht worden durch die Austreibung jeglichen Sinnes und Eigenwertes aus der Natur. Komprimiert veranschaulichen (und damit notwendigerweise vereinfachen) läßt sich diese bereits von Freud angedeutete Überlegung94 mit dem Hinweis, daß moderne Schlachthäuser erst denkbar geworden sind, sobald die Praxis von Naturvölkern, sich bei getöteten Tieren rituell zu entschuldigen und mit Bußfeiern die Tat als an sich verbotene Ausnahme zu memorieren, als Aberglaube entzaubert und damit abgeschafft worden ist, woraufhin sich das rationale Verständnis legitimer quasi-industrieller Tierproduktion ausbilden kann.95 „Die Idee der Naturbeherrschung setzt den ,Tod der Natur' und die Selbstdistanzierung des Menschen von der Natur voraus."96 Wenn Adorno also Nietzsche, Freud und Max Weber nicht nur hinsichtlich der Vorstellung einer entscheidenden Bedeutung der inneren Naturbeherrschung für die äußere Naturbeherrschung folgt, sondern auch die vor allem Nietzsche und Weber umtreibende Diagnose des modernen Wert- und Sinnproblems infolge des im abendländischen Rationalisierungsprozeß angelegten Tod Gottes übernimmt und auf das Problem äußerer Naturbeherrschung ausweitet, stellt sich die Frage, ob auch der zweckrationalen Unterwerfung der Natur Säkularisierungskosten in Rechnung gestellt werden müssen. Die Gefahr der Barbarei im Gesellschaftszustand war zumal für Nietzsche und Freud ein zentrales Thema, wobei sie unterschiedliche Ursachen vermuteten. Nietzsche befürchtete barbarische Exzesse bis hin zu einer nihilistischen, grausenhaften Ethik des Völkermordes97 als der letzten Konsequenz der dialektisch umschlagenden Aufklärung. Wesentlich einfacher gedacht, warnte Freud vor Aufhebungen der Triebbeschränkung, auf der die Kultur vital basiert. Max Weber thematisierte zwar Barbarei nicht ausdrücklich; die Heimsuchung der in ein stahlhartes Gehäuse eingepferchten Fachmenschen ohne Geist und Genußmenschen 93 Ebd., S. 63. 94 Freud 1974 ff., Bd. 9: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 55. 95 Vgl. zur Lippe 1974, S. 24 f. 96 Böhme / Böhme 1983, S. 33, die diesen Schritt in der höfischen Welt und der entwickelten Stadtkultur des 16. und 17. Jahrhunderts vollzogen sehen. 97 Nietzsche 1988, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, S. 100.

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ohne Herz durch auferstandene alte Götter und Versuchungen dürfte jedoch von diesem Krisenszenario nicht grundverschieden sein. Von keinem der drei wurde jedoch die Unterwerfung der natürlichen Umwelt als unmittelbares Problem der soziokulturellen Existenz des Menschen und damit als mögliche Quelle der Barbarei eruiert. Diesen Schritt vollzieht erst Adorno. Er arrangiert die von Nietzsche, Freud und Weber zur Verfügung gestellten Begriffe und Modelle neu und radikalisiert dadurch den Denkansatz zivilisationstheoretischer Kulturkritik. Nach Adorno ist „die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen" als Reproduktion der „Herrschaft über die Natur [...] innerhalb der Menschheit":98 , Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein."99

Hiermit wird Freuds Perspektive gleichsam dialektisch aus den Angeln gehoben, hatte dieser doch eine positive Reziprozität zwischen innerer und äußerer Naturbeherrschung angenommen und in der Kontrolle und Nutzung der natürlichen Umwelt des Menschen die Chance zu friedlicher sozialer Koexistenz gesehen, wobei es stets historisch kontingent bleibt, ob diese Chance genutzt wird oder nicht. In jedem Fall aber besteht die kulturelle Aufgabe in fortgesetzter innerer Naturbeherrschung, zu deren motivationaler Aufrechterhaltung die Unterwerfung der äußeren Natur einen Beitrag leisten kann. Falls diese Aufgabe erfüllt wird, besteht die Zivilisation fort, falls nicht, zerfällt sie in archaische Barbarei, so Freuds plane Alternative. Adorno hingegen sieht nicht Kontingenz, sondern historische Folgerichtigkeit am Werk, und zwar diejenige einer Dialektik der Naturbeherrschung, der zufolge die Regression zur Barbarei um so stärker droht, je konsequenter und rücksichtsloser die innere Natur um der Herrschaft über die äußere willen unterdrückt wird.'00 Adornos Schritt von der durch Homers Odyssee repräsentierten Urgeschichte der Subjektivität zur Urgeschichte der menschlichen Naturbeherrschung überhaupt ist insoweit motiviert durch die Suche nach den Wurzeln der pathogenen Verschlingung von Attfklärung und Herrschaft. Zudem ist Adorno zu dieser Vertiefung der urgeschichtlichen Perspektive auch aus methodischen Gründen angehalten. Die Dialektik der Attfldärung erzählt mit der Odyssee in aufklärerischer Absicht die Geschichte eines Mythos, der durch Überlistung der mythischen Gewalt Aufklärung betreibt, dadurch den Mythos dauerhaft 98 99 100

Horkheimer/Adorno 1944, S. 133. Ebd., S. 35. Insoweit irrt Söllner 1983, S. 342, hinsichtlich Freud und Adorno, wenn er „Anerkennung und forschende Versöhnung vor allem mit der inneren Natur" für Adornos zentrales Anliegen hält, „ein Programm, dessen SinniMigkeit natürlich damit steht und fällt, ob man die von Freud überkommene Psychoanalyse überhaupt für gesellschaftstheoretisch und -forscherisch hoffähig hält." Eine Versöhnung mit der inneren Natur ist vielmehr das Anliegen Herbert Marcuses, der auf das emanzipatorische Potential einer sinnlichen Kultur vertraut, in der sich Mensch und Natur sollen versöhnen können (Marcuse 1979, S. 139 ff.). Freud hingegen liegt an dem produktiven, kulturschaffenden Aushalten des Triebkonflikts, am Gelingen der Sublimierung, und Adorno wiederum fokussiert die Probleme der äußeren Naturbeherrschung. Überdies ist Marcuse mit seiner Utopie einem Marx'sehen Veränderungsoptimismus näher als Adorno und - entgegen seinem Selbstverständnis - damit gerade weiter entfernt von dem zum bescheidenen Bearbeiten der Scholle mahnenden und TrieberfMung für unerreichbar haltenden Skeptiker Freud.

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schädigt und auf diese Weise die Totalisierung der Aufklärung und folglich ihren dialektischen Umschlag befördert. Damit verfällt Adorno aber nicht nur der von ihm und Horkheimer ausdrücklich konzedierten, quasi äußerlichen petitio principii, gerade eingedenk der Dialektik der Aufklärung am aufklärenden Denken festzuhalten, sondern er unterliegt einer Aporie, die unmittelbar in der Erzähllogik selber liegt: Indem die von der Odyssee repräsentierte Dialektik der Aufklärung im Mythos rekonstruiert wird in aufklärerischer Absicht, unterliegt die Rekonstruktion selber, die auf den Mythos abhebende Erzählstruktur der Dialektik der Aufklärung, und nicht nur die - zurecht - trotzig festgehaltene aufklärerische Intention, ihrerseits der Dialektik der Aufklärung, weil diese sich eben schon im seinerseits stets Aufklärung vollziehenden Mythos ereignet. Der Rekurs auf die in der Odysseus-Erzählung versinnbildlichte Urgeschichte der Subjektivität vermag diese nicht zu transzendieren. Ihre Rekonstruktion durch Interpretation des Mythos bleibt dessen totalisierender Wirkung unterworfen. Adornos für die zivilisationstheoretische Kulturkritik innovative Problematisierung der äußeren Naturbeherrschung als sozialem Gefahrenherd ist schon aus diesem Grunde darauf verwiesen, die Rekonstruktion der Urgeschichte der Subjektivität durch die Einbeziehung der tieferen Ebene, der Urgeschichte der menschlichen Herrschaft über seine äußere Natur, zu überbieten. Dies tut Adorno, indem er Freuds Denkmodell aus Totem und Tabu, daß am Anfang der Menschheitsgeschichte ein zivilisationspsychologisch folgenreicher Mord stand, abwandelt - bemerkenswerterweise, anders als bei anderen Schriften Freuds, auf die Adorno ausdrücklich hinweist, ohne jeden Beleg. Entgegen Freud und Weber, die eine grundsätzlich positive Einstellung zum Phänomen der äußeren Naturbeherrschung haben, greift Adorno mit seiner Vermutung eines Zusammenhangs zwischen dem menschlichen Verhalten insbesondere gegenüber der Tierwelt und dem zwischenmenschlichen Verhalten im Gesellschaftszustand auf Gedanken Nietzsches zurück, der die menschliche Selbstlegitimation, als „höheres Wesen" anderen Lebewesen Macht bis zur Grausamkeit widerfahren zu lassen, nicht etwa, wie Kant, als moralische Entwicklungsstufe des Menschen versteht, sondern, mit der bereits oben zitierten Bemerkung, als Beleg für den Charakter der Moral als Willen zur Macht: „Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Vernichtung, die Mittel sind oft grausam genug ohne dass wir diess eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so beuten wir sie aus: bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Thiere für eine andere Behandlung, nämlich die der Pflege und Zucht reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemässheit der primitiven GemeindeMoral, welche den gemeinsamen Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. [...] So entsteht ein Ansatz vom moralischem Urtheilen und Empfinden".101

Die Urgeschichte der menschlichen Herrschaft über die Tierwelt ist für Nietzsche kein mit Schopenhauerschem Mitleid sentimental zu beklagender Umstand,102 sondern ein zivilisationstheoretisch aussagekräftiges Beispiel fur die Genealogie der Moral, die nicht zu

101 102

Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 577 f.; vgl. ebd., S. 86, 98. „Mitleid setze ich voraus: es ist eine Gehirn- und Nervenkrankheit, grausam zu sein." Nietzsche 1988, Bd. 10: Nachgelassene Fragmente 1882-1884, S. 117 (4 [34]).

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ändern vermochte, daß die Menschen dauerhaft „den höchsten Genuss ihrer Macht" durch religiös legitimierte, „überflüssige Grausamkeit und Thierquälerei" auslebten.103 Adorno teilt diese Perspektive, das Verhalten des Menschen gegenüber der Tierwelt nicht nur als Indikator, sondern als bestimmenden Faktor des kulturellen Verhaltens insgesamt und insbesondere der im sozialen Leben wirksamen normativen Leitlinien menschlicher Zivilisation zu verstehen. In den psychologischen Auswirkungen des Wunschtraums der Jahrtausende, „grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln", das heißt in der naturbeherrschenden Zweckrationalität,104 erkennt Adorno ein Verhaltensmuster, das für den Menschen in der wissenschaftlich-technisierten Zivilisation charakteristisch ist: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. [...] Die Behavioristen haben ihn [diesen Gegensatz, K.F.] bloß scheinbar vergessen. Daß sie auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie [...] in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht. [...] Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier, aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist. Der Mangel an Vernunft hat keine Worte. Beredt ist ihr Besitz, der die offenbare Geschichte durchherrscht."105

Offensichtlich entspringen diese Überlegungen nicht bloß einer eminent tierfreundlichen Motivation, sondern zielen darauf ab, die äußere Naturbeherrschung als kulturellen Faktor der sozialen Existenz der Menschen zu verstehen. Mit dem Hinweis, daß die herkömmliche Psychologie auf den modernen, nach jahrtausendelang eingeübter gewaltsamer Naturbeherrschung regredierten und zerstörten Menschen gar nicht mehr paßt, sondern nur mehr auf die Tiere als den Opfern dieser menschlichen Zivilisationsleistung, verweist Adorno auf eine Spekulation über jene in der Urgeschichte der menschlichen Gattung liegenden zivilisationspsychologischen Mechanismen, die eine zuverlässig funktionierende Abgrenzung zwischen Gewalt gegenüber der Natur und Gewaltbereitschaft im sozialen Leben unterminieren. Indem er die als Höherwertigkeit gemeinte Unterschiedenheit des Menschen von allen anderen Lebewesen betont, die sich der Mensch in der als Nutzung verstandenen, wissenschaftlichen Herrschaftsausübung über Tiere zubilligt, schließt Adorno systematisch aus, daß es sich um eine Problematisierung des gerne als gegenseitiges Fressen und Gefressenwerden beschriebenen Naturgesetzes handeln könnte. Vielmehr geht es um das von Nietzsche als universell enthüllte, auch die vermeintlich sublimsten intellektuellen Errungenschaften bestimmende Machtgefühl und Machtbedürfnis, das sich bei dem von der Naturunterworfenheit emanzipierten Menschen einstellt und rational legitimiert und verstärkt wird. Adorno hatte bereits, Nietzsche paraphrasierend, festgestellt, Kants kategorischer Imperativ sei gar nichts anderes „als das ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip der Naturbeherrschung", und hiermit die Irrationalität der sich auf zweckrationale Naturbeherrschung beschränkenden Rationalität 103 104 105

Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 57. Horkheimer/Adorno 1944, S. 280. Ebd., S. 277 f

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bemängelt.106 Wohin der dialektische Umschlag dieser ganz auf Selbsterhaltung konzentrierten Vernunft fuhrt, mußte in dieser nur geringfügigen Variation von Nietzsches Entdeckung des zivilisatorisch fundamentalen, sogar für die Philosophie geltenden Willens zur Macht und der Dialektik einer machtvergessenen, aber um so machtversesseneren Aufklärung, noch abstrakt und unbestimmt bleiben. Mit der Problematisierung der äußeren Naturbeherrschung als unmittelbarem Ausdruck der Dialektik der Aufklärung hat Adorno nun aber ein weitreichendes, konkretes Szenario vor Augen, wie die auf Selbsterhaltung beschränkte Vernunft verwilderte und fortan einen Zivilisationsfaktor bildete, der das destruktive Umschlagen der Kultur in Barbarei beförderte. Die Kantische Ethik erscheint Adorno als philosophische Systematisierung jener Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, die, einmal intellektualisiert und legitimiert, in Versuchslaborien immer wieder aufs Neue blutig reformuliert wird: „Die ethische Würde bei Kant ist eine DifFerenzbestimmung. Sie richtet sich gegen die Tiere."107 Bereits Nietzsche hatte gleichlautend festgestellt, der kategorische Imperativ rieche nach Grausamkeit,108 und tatsächlich hatte Kant ja die bewußt rein zweckrationale Nutzung des Schafes als Lieferant seines Pelzes als letzten Schritt dargestellt, „den die den Menschen über die Gesellschaft mit Thieren gänzlich erhebende Vernunft that".109 Die erhabene Unerbittlichkeit des Sittengesetzes ist demnach, Adorno zufolge, jener „rationalisierten Wut aufs Nichtidentische" geschuldet, welche die „Signatur eines jeglichen Idealismus" bildet und „Kants Humanität" ebenso entstellt wie Fichtes Erkenntnistheorie und Hegels Liberalismus. Einzig Nietzsches „Kehre des abendländischen Denkens", die irrationale Verhärtung der Vernunft ausgesprochen zu haben, besteht vor Adornos Rekonstruktion der Philosophiegeschichte als Naturgeschichte, derzufolge Aggression gegen die Natur ein notwendiges künstliches Produkt der sich abgrenzenden Zivilisation bildet: „Das System, in dem der souveräne Geist sich verklärt wähnte, hat seine Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung. Raubtiere sind hungrig; der Sprung aufe Opfer ist schwierig, oft gefährlich. Damit das Tier ihn wagt, bedarf es wohl zusätzlicher Impulse. Diese fusionieren sich mit der Unlust des Hungers zur Wut aufs Opfer, deren Ausdrude dieses zweckmäßig wiederum schreckt und lähmt. Beim Fortschritt zur Humanität wird das rationalisiert durch Projektion. Das animal rationale, das Appetit auf seinen Gegner hat, muß, bereits glücklicher Besitzer eines Überichs, einen Grund finden. Je vollständiger, was es tut, dem Gesetz der Selbsterhaltung folgt, desto weniger darf es den Primat sich und anderen zugestehen; sonst würde der mühsam erreichte Status des ζωον πολνπκον, wie es neudeutsch heißt, unglaubwürdig. Das zu fressende Lebewesen muß böse sein."110

Dieses „anthropologische Schema",111 das die Verwilderung der rationalisierten Selbsterhaltung beschreibt, entspricht dem Grundgedanken der Dialektik der Aufklärung, daß die Austreibung alles Voraufklärerischen am Ende auch vor der Aufklärung selber nicht halt 106

107 108 109 110 111

Adorno 1996, S. 155 ff. Vgl. Horkheimer / Adorno, S. 48; Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 12 f f ; 188; Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse, S. 24 ff., 107; Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 264 (7[4J). Adorno 1994, S. 123 f Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 300. Kant 1912: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 107 ff, 114, 123. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 33. Ebd. Zur Anthropologie als Anhaltspunkt der Kritischen Theorie vgl. Burger 1986.

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macht, bis schließlich die obsiegende Irrationalität der aufklärerischen Bereinigung im intellektuellen Bereich einen unbegrenzten praktisch-sozialen Vernichtungswillen zur Seite stellt. Ausdrücklich thematisiert Adorno mit der Beherrschung der äußeren Natur eine in der menschlichen Urgeschichte angelegte Entwicklung, und zwar charakterisiert er diese mittels Begriffen der Freudschen Psychoanalyse, die er in seine zivilisationstheoretische Perspektive integriert. Wichtiger als die Identifikation des Über-Ich mit dem zivilisatorischen Entwicklungsschritt hin zur Humanität ist dabei der psychologische Mechanismus der Projektion.112 Mit ihm kennzeichnet Adorno die Methode des Rationalisierungsprozesses, die Natur, die unterworfen, „gefressen" werden soll, als „böse", weil unvereinbar mit der kulturellen Rationalität zu deklarieren, weil ohne solche moralische Legitimation die hemmungslose Herrschaftsgewalt mit dem Selbstverständnis einer humanen, fortgeschrittenen Kultur nicht vereinbar wäre. „Der Furcht wähnt er [der Mensch, K.F.] ledig zu sein, wenn es nichts Unbekanntes mehr gibt. Das bestimmt die Bahn der Entmythologisierung, der Aufklärung, die das Lebendige mit dem Unlebendigen ineinssetzt wie der Mythos das Unlebendige mit dem Lebendigen. Aulklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist."113

Diese in Angst gründende zivilisatorische Strategie gewinnt eine Eigendynamik. Um ihre Wirkung überhaupt zu erzielen, muß Natur zum prinzipiellen Gegensatz der Kultur gemacht werden, damit zum schlechthin Bösen, das um den Bestandes der humanen Kultur willen zu vernichten ist, und die zu solchem Vernichtungsfeldzug berufene verwilderte Selbsterhaltimg erlebt alsbald ihren dialektischen Rückschlag. Ursprünglich war Selbsterhaltung qua Naturbeherrschung ein anthropologisch notwendiges und normales Faktum. Adorno stimmt absolut überein mit Nietzsches Mahnung, dankbar zu sein für das dank der Rationalisierung des Weltbildes erreichte Ende der beständigen Furcht vor wilden Tieren, Barbaren, Göttern und unseren Träumen.114 Die Verwilderung, mit der die fortgeschrittene Zivilisation auf jenen Zustand regrediert, gegen den sie intentional gerichtet ist, ergibt sich vielmehr aus der spezifischen Legitimationsideologie, totalisierend nichts anderes als das eigene Prinzip zuzulassen und mit der Dämonisierung der Natur deren vor Vernichtung nicht haltmachende uneingeschränkte Beherrschung vorzunehmen. Nicht gegen die Naturbeherrschung an sich richtet sich Adornos Kritik, sondern gegen ihre Entgrenzung zur Industrialisierung, mit der sie umschlägt. Dialektisch erfolgt dieser Umschlag, weil er nicht einfach eine Effizienzeinbuße bei der Naturbeherrschung ausmacht im Sinne eines Machtausbruchs der unterdrückten Natur. Vielmehr provoziert die verabsolutierte Naturbeherrschung destruktive innerkulturelle, soziale Erscheinungen, „denn die Herrschaft über Menschen und die Herrschaft über Natur sind ja durch die ganze Geschichte in einer verhängnisvollen Weise verquickt, und das eine ist außerordentlich schwer, wenn überhaupt, von dem anderen abzutrennen."115

112 113 114 115

Vgl. die vorgeblich orthodox Freudianische, in Wirklichkeit eigenwillige Erläuterung des Begriffe der pathischen Projektion in Horkheimer / Adorno 1944, S. 222 f. Horkheimer /Adorno 1944, S. 38. Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 20. Adorno 1973f., S. 37.

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„Wahr ist, daß die Gesellschaft sich nicht gegen die Natur behaupten, sich nicht hatte am Leben erhalten können ohne Organisation, und daß sie es heute weniger als je vermöchte. Kein primitiver Steg ware sonst je gebaut, kein Lagerfeuer am Verlöschen gehindert worden. Aber diese Notwendigkeit ist kein bloßes Verhängnis, das abrollt, um schließlich die Menschen unter sich zu begraben. Vernunft hat Anteil an ihr. Sie mißt sich an den Aufgaben von kollektiver Selbsterhaltung und Naturbeherrschung. [...] Der Gedanke an die Vernünftigkeit der Zwecke, und zwar an die Vemünftigkeit des Ganzen, wird verderbt zur letztlich zufälligen Vernünftigkeit der Mittel, wären sie auch bloß zur Vernichtung ersonnen. [...] Die Blindheit der Beherrschung der äußeren Natur, die nicht danach fragt, was dieser angetan wird, geht über auf die Organisation als Beherrschung von Menschen [...]. Indem die Gesellschaft in der Beherrschung einzelner Felder immer vernünftiger wird und immer besser funktioniert, kehrt sie immer mehr das Moment ihrer Unvernunft hervor. Sie gefährdet das Ganze, den eigenen Fortbestand."116

Das Schicksal der Vernunft, als verwilderte Selbsterhaltung die Ausweitung der enthegten zweckrationalen Naturbeherrschung zu grenzenloser sozialer Herrschaft zu befördern und dabei auch die Vernichtungsbereitschaft gegenüber der Natur ins soziale Leben zu transportieren, ist demzufolge ein konkretes Beispiel fur die zur Irrationalität zurückführende Dialektik der Aufklärung im Mythos. „Rein natürliche Existenz, animalische und vegetative, bildete der Zivilisation die absolute Gefahr. [...] An den Wendestellen der westlichen Zivilisation [...], wann immer neue Völker und Schichten den Mythos entschiedener verdrängten, wurde die Furcht vor der unerfaßten, drohenden Natur [...] zum animistischen Aberglauben herabgesetzt und die Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck gemacht. Ist am Ende Selbsterhaltung automatisiert, so wird Vernunft von denen entlassen, die als Lenker der Produktion ihr Erbe antraten und sie nun an den Enterbten furchten."117

Weshalb aber soll dieser Zusammenhang zwischen Herrschaft über die äußere Natur und sozialer Herrschaft unbedingt bestehen und aufweiche Weise soll er sich konkret destruktiv bemerkbar machen? Kant hatte, wie bereits eingangs dargestellt, seine Apotheose der naturbeherrschenden Vernunft mit der Hoffnung auf das zwischenmenschliche Gewalttabu im Gesellschaftszustand verknüpft. Die Vorstellung von der legitimen Nutzung des Schafes als bloßem Mittel zur menschlichen Kleidungsbeschaffung soll „(wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegensatzes" einschließen, daß der Mensch sich dem Mitmenschen gegenüber anders verhalten müsse als dem Schaf gegenüber.118 Freud hatte dies bereits weniger optimistisch beurteilt und das kulturelle Gewalttabu nicht in der aufgeklärten Vernunft verortet, sondern in dem urgeschichtlichen Mord am Urvater, dessen traumatische Folgen zum fortan rituell tradierten, reziproken Gewaltverbot zwischen den Tätern führten. An die Stelle der Vernunft tritt damit die Mordsühne. Adorno geht noch einen Schritt weiter und verkehrt die Kantische Perspektive und Hoffnung in ihr genaues Gegenteil: „Das autonome Sittengesetz schlägt antinomistisch um, reine Herrschaft über Natur in Pflicht zum Ausrotten, die stets schon dahinter lauerte."119

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Adorno 1970ff., Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 444 f. Horkheimer / Adorno 1944, S. 54 f. Kant 1912: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 114. Adorno 1970 ff, Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 318.

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Diese bündige Feststellung beruht indessen auf einer äußerst komplexen Überlegung. Adorno erzählt mit Freudschen Termini gleichsam eine andere Urgeschichte von traumatischen Folgen eines zivilisatorisch konstitutiven Mordes als Freud selber. Dessen zivilisationspsychologische Herleitung des kulturellen Gewaltverzichts wird so zum Muster für Adornos gegenteiligen Befund einer Rationalisierung des Tabu als Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung, der den Kern seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik ausmacht: „Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthalt bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt - ,es ist ja bloß ein Tier' - , wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ,Nur ein Tier' immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber die Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der ,pathischen Projektion', daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann."120

Entgegen Freuds Hoffnung auf eine für die Kultur und die friedliche soziale Existenz der Menschen positive Wirkung der gemeinsamen Anstrengung, die äußere Natur zu unterwerfen, schreibt Adorno der Naturbeherrschung genau die entgegengesetzte Rückwirkung zu: Sie verursacht Barbarei, und zwar nicht als anthropologische Konstante, sondern aufgrund ihrer Rationalisierung. Dieses an Webersche Termini anknüpfende Theorem basiert in erster Linie darauf Freudsche Begriffe von psychischen Mechanismen neu zu arrangieren, um so zu einer anderen, radikaler kulturkritischen Deutung des zivilisatorischen Geschehens zu gelangen. Weber hatte religiöse Schuld als integrierenden Bestandteil aller Kultur begriffen und damit, ohne sich an der Freudschen Spekulation über die zivilisatorische Urszene aus Totem und Tabu zu beteiligen, ein dem Freudschen entsprechendes Kulturentstehungsmodell vertreten. Gleichzeitig hatte Weber aber Freuds Diagnose eines Unbehagens in der Kultur gleichsam soziologisch verlängert, indem er, Nietzsches Einsicht in die Dialektik der Aufklärung folgend, das Problem sozialer Desintegration bis hin zu der von Adorno so genannten Barbarei nicht nur als gelegentlichen Ausbruch der unterdrückten menschlichen Triebnatur im Sinne eines archaischen Regresses erörtert, wie Freud dies tut, sondern als Ergebnis des Zivilisationsprozesses selber. Weber problematisiert insbesondere das Scheitern des kulturellen Selbstverständnisses infolge einer Dialektik der Rationalisierung, der die ursprünglich qua Tabuisierung erfolgten Kulturbegründungen unterliegen: Je rationaler Auffassung und Ausübung der Kultur werden, desto stärker erscheint sie als widernatürlich und damit als Ausdruck jener Sinnlosigkeit, die sich mit der immer weiter fortschreitenden Versachlichung der Lebenszusammenhänge ohnehin einstellt. Offensichtlich reformuliert Adorno diese Motive der Widernatürlichkeit der Kultur und der Rationalisierung von Tabunormen. Webers Diagnose, daß die sich im Laufe des Rationalisierungsprozesses einstellende Einsicht in die unausweich-

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Adorno 1970ff., Bd. 4: Minima Moralia, S. 116 f.

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liehe Widernatürlichkeit der Kultur zum Grund des Unbehagens in der Kultur wird, beleuchtet Adorno von der Innenseite, indem er untersucht, auf welche Weise die herrschende Rationalität aus Gründen der Selbsterhaltung offensiv ein Selbstbild als Antinatur entwirft. Anders als Weber kommt Adorno dabei nicht zu dem Ergebnis, daß diese Rationalisierung des Weltbildes an der Sinnproblematik scheitert, sondern er ermittelt die Folgen übersteigerter Rationalisierung. Die Rationalisierung von Tabus ist in dieser Perspektive gleichzeitig Entzauberung wie auch Auflösung der Tabunormen, so daß die Rationalisierung des Tabu zur Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung wird. Adorno zufolge scheitert die rationale Begründung des auf äußere Naturbeherrschung konzentrierten Zivilisationsprozesses an ihren eigenen Ideologemen und zieht das in der Naturbeherrschung enthaltene Gewaltpotential auf sich selber. Genau genommen meint Adorno mit Dialektik der Außlärung die soziale Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung als zivilisationspsychologische Wirkung der Dialektik der Rationalisierung. Mit dieser These eines zivilisationspsychologisch konstitutiven Zusammenhangs zwischen der Unterwerfung der äußeren Natur und der bis zur Barbarei reichenden, herrschaftlich organisierten Gewalt gegen Menschen markiert Adorno einen qualitativen Unterschied zur bisherigen Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik. Über die Möglichkeit zum Pogrom, so betont Adorno, wird in dem Moment entschieden, in dem der zivilisierte Mensch den mitleidheischenden Blick des von ihm tödlich verwundeten Tiers - der Kantischen Empfehlung gemäß - mit dem rationalen Kalkül abweist, es handele sich ja bloß um ein Tier. Diese Selbstlegitimation existiert natürlich nicht erst seit der Aufklärung, sondern seit urgeschichtlichen Zeiten, in Freuds Worten, seit jener „Vorzeit", die seit der Entdeckung der Evolution eine unabweisbare Annahme ist und deren „Niederschläge" in Gestalt verdrängungsähnlicher Vorgänge der weiteren Kultur noch lange anhaften.121 Konträr zum Weltverständnis von Naturvölkern bildete sich das Bewußtsein, es sei womöglich gar göttlich befohlen, zumindest aber vernünftigerweise erlaubt, sich rücksichtslos und ausnahmslos die Erde Untertan zu machen, wobei es nicht die Ausübung dieser restlosen Naturbeherrschung ist, sondern das sie legitimierende Bewußtsein, dem Adornos Sorge gilt. Mag das Selbsterhaltungsinteresse beispielsweise der Nahrungsaufnahme auch die äußerliche Tötungsmotivation bilden - entscheidend ist für Adorno, daß sich der Mensch hierfür eine überbordende Legitimation verschafft, welche die Selbsterhaltung verwildern läßt. Der Mensch, der einen Rest von archaischem Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit aller irdischen Lebewesen nicht ausschalten kann, muß sich um so trotziger zum Totalitätsanspruch des zweckrationalen Denkens zwingen. Genau dadurch aber sieht ihn Adorno dazu verdammt, die Grausamkeiten am Tier an anderen Menschen zu wiederholen, und zwar aufgrund einer Verkettung psychischer Mechanismen, die Adorno allesamt der Freudschen Psychoanalyse entlehnt. Die These, die Menschen müßten Grausamkeiten an ihren Mitmenschen verüben, um die fragile Legitimation ihrer gewaltsamen Naturbeherrschung, den Satz Es ist ja bloß ein Tier, zu bestätigen, ist gleich in mehreren Hinsichten voraussetzungsvoll. Zunächst einmal dokumentiert sie, daß bei Adorno eine Vorstellung ausgereift ist, die bei Nietzsche zwar angedacht und bei Freud unterschwellig bedeutsam ist, niemals aber in dieser Eindeutigkeit 121

Freud 1974 ff, Bd. 9: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 528. Vgl. ebd.: Die Zukunft einer Illusion, S. 177.

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und Zuspitzung formuliert wurde: Adorno geht von der massiven Wirkung eines kollektiven Unbewußten in der Kultur und auf die Kultur aus, das alle grundlegenden Verhaltensweisen determiniert.122 Als Bestandteil dieses kollektiven Unbewußten betrachtet Adorno offenbar das ungeachtet des Rationalisierungsprozesses fortbestehende rudimentäre Bewußtsein des Menschen für seine Zugehörigkeit zur Natur und damit für seine kreatürliche Gemeinsamkeit mit dem Tier, wodurch die Legitimation der zweckrational exekutierten Naturbeherrschung fragil bleibt und im psychischen Geschehen zu problematischen Eigendynamiken führt.123 Adorno sieht das kollektive Unbewußte mit psychischen Abwehrmechanismen verknüpft, die er aus Freuds Individualpsychologie entlehnt und in einer Direktheit für zivilisationspsychologische Überlegungen dienstbar macht, die für Freud stets eine große Versuchung bildete, der er jedoch in dieser Form niemals nachgegeben hat. Hierbei handelt es sich vor allem um die Mechanismen der Projektion und der Verleugnung beziehungsweise Verdrängung. Die Projektion exemplifiziert Freud als „Feindseligkeit, von der man nichts weiß und auch weiter nichts wissen will", und die folglich „aus der inneren Wahrnehmung in die Außenwelt geworfen" und „dabei von der eigenen Person gelöst und der anderen zugeschoben" wird.124 In diesem Sinne läßt sich die Rationalisierung der Naturbeherrschung als Projektion verstehen, bei der die Aggressivität der Zivilisation der Natur gegenüber projiziert wird als Vernichtungsmaßnahmen rechtfertigende Feindseligkeit der Natur. Ein von der Urhorde an bestimmender Ausdruck solcher Projektionen besteht etwa darin, daß die im Unbewußten als Befriedigung über den möglicherweise gar willentlich herbeigeführten - Tod eines Mitmenschen „peinlich verspürte Feindseligkeit" abgewehrt wird, „indem sie auf das Objekt der Feindseligkeit, auf 122

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Freud ist stets und ausdrücklich äußerst zurückhaltend geblieben gegenüber dem Begriff des kollektiven Unbewußten (vgl. Freud 1974 ff, Bd. 9: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 577), benutzt ihn aber der Sache nach durchaus, wenn er etwa feststellt, auch in den Massen bleibe „der Eindruck der Vergangenheit in unbewußten Erinnerungsspuren erhalten" (ebd., S. 542). Diese Zwiespältigkeit Freuds dürfte ihren Grund in dem Renegaten Jung und seiner Archetypenlehre haben. Adorno hat dieses gleichsam innerschulische Abgrenzungsproblem nicht, verteidigt aber Freud, die „Psychoanalyse in ihrer strengen Gestalt" (Adorno 1996, S. 123; 203 f ) , nicht nur gegen Die revidierte Psychoanalyse (Adorno 1970 ff., Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 20 ff.), sondern vermeidet jegliche Bezugnahme auf die für Jung charakteristische Kasuistik der Archetypenlehre und meint treffend, in Freuds Arbeit über den Mann Moses sei „die gesamte, spätere Theorie von Jung über das .kollektive Unbewußte' bereits enthalten." Vgl. audi Bourdieu 1970, S. 115 ff. Vgl. Heim 1993, S. 348 f.: „Die archaischen und vormodernen Gesellschaften suchten in mythischer und religiöser Weltdeutung die Ohnmacht gegenüber den Unwägbarkeiten einer unbeherrschbaren natürlichen Umwelt im wesentlichen dadurch zu bewältigen, daß sie der bedrohlichen Naturgewalt die Züge des Menschlichen übertrugen. Diese Übertragung konnte nur um den Preis einer Entdifferenzierung zwischen den Ordnungen der Natur und der Kultur geschehen. Dies ermöglichte der Medianismus anthropomorpher Projektion; Natur und Kultur schmelzen in einem einheitlichen Projektionsschirm zusammen. Die Welt war der Inbegriff dessen, was die Menschen auf die Natur projizierten, um ihrer Angst Herr zu werden. Weil ein unterentwickelter Stand der Produktivkräfte diese Herrschaft noch nicht erlaubte, sahen sich die Menschen gezwungen, den überwältigenden Einbruch einer unbeherrschten Natur mit der angstentlastenden Funktion eines mythisch-religiösen und metaphysischen Weltverständnisses aufzufangen." Dies wird rationalisiert, die Natur zum Gegensatz der Kultur dämonisiert, aber notwendigerweise unvollständig, so daß der neuerliche, von Adorno beschriebene Projektionsmechanismus eintritt. Freud 1974 ff, Bd. 9: Totem und Tabu, S. 353.

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den Toten, verschoben wird. [...] Der Überlebende verleugnet nun, daß er je feindselige Regungen [...] gehegt hat."125 Hiermit ist ein weiterer psychischer Mechanismus erwähnt, dem in Adornos Verwendungsweise zentrale Bedeutung zukommt: Freud zufolge ist die Verleugnung ein Vorgang, bei dem versucht wird, ein teilweise bewußtes Problem vor der weiteren Enthüllung durch das Bewußtsein zu schützen, indem seine Existenz und Bedeutung verleugnet wird. Hierin liegt der von Freud sorgsam beachtete Unterschied zur Verdrängung, die in Kraft tritt, noch bevor rudimentäre Bewußtwerdungen erfolgt sind und dementsprechend gründlicher wirken kann. Wenn, wie Adorno denkt, der Blick des tödlich verwundeten Tiers beim menschlichen Täter ein rudimentäres Bewußtsein aktiviert, daß es sich um eine nur ausnahmsweise erlaubte Tat handeln muß, dessen Ausschaltung durch eine Wiederholung der Tiertötung im Mord am Mitmenschen erfolgt, muß es sich demnach um eine Verleugnung handeln, denn wäre es eine Verdrängung, gäbe es kein Bewußtsein, das der Blick des Tiers anrühren könnte. Adorno kann und muß die Freudsche Differenzierung zwischen Verdrängung und Verleugnung zugunsten der Konzentration auf das letztere einebnen, weil es ihm ganz um den Prozeß der Rationalisierung geht.126 Kollektiv unbewußte Verhaltensweisen können, wenn sie kulturell tradiert und sozial eingeübt sind, nur mehr verleugnet, nicht aber verdrängt werden. Stellt man nun die Verbindung zum Mechanismus der Projektion her, besagt Adornos Annahme, daß die von der Rationalisierung des Weltbildes erforderte Feindseligkeit der Natur gegenüber, wie sie sich in der Abwertung des Lebewesens als Legitimation für seine Tötung ausdrückt, der Verleugnung unterliegt. Diese vermag aus dem Unbewußten heraus im Sinne der von Freud thematisierten Wiederkehr des Verdrängten - korrekt müßte man umformulieren: Wiederkehr des Verleugneten - destruktive Wirkung zu erzielen. Mag Adornos, dem variantenreichen Rekurs auf Freudsche Theoreme geschuldete These in diesem ersten Punkt, der Verleugnung der qua Projektion ideologisch legitimierten Gewaltherrschaft über die Natur, noch plausiblerweise Evidenzvermutungen für sich beanspruchen können, so scheint dies erheblich bedenklicher hinsichtlich des zweiten Bestandteils der These, demzufolge die Wiederkehr des Verleugneten zur Fragilität dieser Legitimationsleistung und zur barbarischen Wiederholung der Tiertötung am Mitmenschen führt. Wiederum liegt es für Adorno „im Mechanismus der ,pathischen Projektion'", daß die Tötung des Tieres in den Mord am Menschen überzugehen vermag. Ist nämlich erst einmal, einer imaginären Skala von Lebensberechtigung gemäß, die Abwertung bestimmter Lebewesen rationalisiert worden, bedarf es nur mehr der Umdeutung der Kriterien und der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen von Lebewesen, um das der Natur gegenüber längst eingeübte Gewaltpotential auch auf Mitmenschen zu richten, die, dem Denkschematismus zivilisatorischer Rationalisierung entsprechend, als kulturferner, naturnäher und damit potentiell bedrohlich gedacht werden. Die Identifikation von Mitmenschen mit jenen Tieren, deren in Todesangst verzweifelten Blick man, das Mitleid verleugnend, als nicht mitleidwürdig einstuft, ermöglicht es psychologisch, sie genauso zu behandeln wie die Tiere. Mehr noch, je stärker die Rudimente des Unrechtsbewußtseins 125 126

Ebd., S. 351 f. Ein weiterer Unterschied zu Freud besteht darin, daß Adorno den kollektiven Rationalisierungsakt als der Tat vorgängig denkt, was sich mit der insoweit doch wesentlich stärker individualpsychologischen Freudschen Perspektive nicht zusammenbringen läßt.

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sind, und das sind sie im Fall von Menschen natürlicherweise, desto stärker reagiert die Psyche auf die Wiederkehr des Verleugneten und sucht durch Mord „den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann."127 Vordergründig paradoxerweise fuhrt also gerade das im Fall einer Tötung von Menschen stärkere Unrechtsbewußtsein dazu, daß diese um so eher wie Tiere behandelt werden. Dem Mechanismus der Projektion gemäß kann die Feindseligkeit des Mordaktes verleugnet werden, indem der Ermordete als feindselige Bedrohimg betrachtet wird. In diesem Sinne kann die Einübung der mit den Legitimationsideologien zusammenhängenden, von Adorno beschriebenen psychischen Mechanismen bei der Tiertötung tatsächlich als zivilisationspsychologische Voraussetzung für regelrechte Menschenvernichtung betrachtet werden, die exekutiert wird, ohne als moralisches oder kulturelles Problem empfunden zu werden, denn im hierbei gegebenen Fall von Verleugnung muß nicht nur die Gefahr der Erinnerung an das Unrecht beseitigt und das Opfer restlos vernichtet werden, sondern dieser Vorgang muß auch noch rationalisiert werden. Ein Beispiel für diesen Mechanismus ist die berüchtigte Rede Heinrich Himmlers bei der SS-Gruppenführertagung in Posen im Oktober 1943, in der er spürbar mit dem Impuls eines rudimentären Unrechtsbewußtseins kämpft, über den er sich hinweghilft mit der Suggestion, das rationelle Handeln bürge für seine moralische Vertretbarkeit.· „Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar. Wir Deutschen, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstelimg zum Tier haben, werden ja audi zu diesen Menschentieren eine anstandige Einstellung einnehmen [...]. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, warn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte".128

Die bekannte Einsicht, daß Tierliebe mitunter vorzüglich zu Menschenhaß paßt, kann hier offensichtlich Anwendung finden, beschreibt aber nur die Oberfläche des Phänomens. Adornos weiterreichende Vermutung lautet, daß die Rationalisierung des Tötungstabus, das sich natürlicherweise zunächst, in der zivilisatorischen Urgeschichte, auf Tiere ebenso erstreckte wie auf Menschen, zu dessen Außerkraftsetzung führte, da es die Eigenart der Rationalisierung ausmacht, dem psychischen Mechanismus der Projektion entsprechend, die restlose, bis zur Vernichtung reichende Unterwerfimg der als feindselig dämonisierten Natur ideologisch zu legitimieren. Diese Legitimation bleibt jedoch fragil, und die Verleugnung der rudimentären Erinnerung an das Tötungstabu provoziert die Wiederkehr des Verleugneten. Einmal durch solche Rationalisierung außer Kraft gesetzt, bedarf es nunmehr lediglich eines gängigen Aggressionsschemas, der Herabstufung von Mitmenschen als tierähnlich, um die grenzenlose Gewaltbereitschaft gegenüber der Natur im sozialen

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Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 116 f. Rede Heinrich Himmlers bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 04.10.1943, zit. n. Hofer 1957, S. 113 f. Entsprechend beklagte der SS-Obersturmbannführer Strauch angesichts des Vorwurfe der unmenschlichen Barbarei, „daß es bedauerlich sei, daß wir über diese üble Arbeit [die Judenvernichtung, K.F.] hinaus auch noch mit Schmutz Übergössen würden." (zit. n. Hofer 1957, S. 279).

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Leben zu reproduzieren. Mehr noch, die Wiederkehr des verdrängten Tabus initiiert, Adorno zufolge, einen Wiederholungszwang: Die am Tier verübten Grausamkeiten müssen am Menschen wiederholt werden, um die rudimentäre Ahnung von der Illegitimität der Beruhigung, es handele sich bloß um ein Tier, durch manische Gewaltexzesse abermals zu verleugnen, wodurch der pathologische Prozeß verstetigt wird. Hiermit dehnt Adorno ein weiteres Freudsches Theorem auf anthropologische Probleme aus, und zwar die Annahme eines Todestriebes, der dem dämonischen Charakter des Wiederholungszwangs entspringt.129 In der sukzessiven Effizienzsteigerung der Gesellschaft durch fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche hatte Adorno nicht einfach ein Zeichen für die Unvernunft der herrschenden Vernunft, für die Irrationalität der Rationalisierung gesehen, sondern eine existenzielle Selbstgefährdung.130 Der Wiederholungszwang, Grausamkeiten am Tier als innere Logik der Rationalisierung am Menschen wiederholen zu müssen, müßte demnach, wenn man nunmehr die Architektur von Adornos zivilisationstheoretischer Kulturkritik in toto betrachtet, als autoaggressives Verhalten gedeutet werden, als pathologische Wendung aggressiver Energien gegen das kulturelle Selbst. In dieser offenbart sich „der gesellschaftliche Prozeß als einer zur Selbstvernichtung",131 und zwar seit der zivilisatorischen Urgeschichte. Denn „nicht bloß die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung gehört der Rationalität seit Anfang zu, keineswegs nur in der Phase, in der jene nackt hervortritt."132 Eine Unterscheidung zwischen der intellektuellen Rationalisierung des Weltbildes und der rücksichtslosen Unterwerfung von Lebewesen läßt sich laut Adorno ebenso wenig vornehmen wie diejenige zwischen weltanschaulich legitimierter Grausamkeit gegenüber Tieren und besinnungsloser Gewalt gegen Mitmenschen, denn die menschliche Humanität, die bereits Nietzsche als Vorurteil karrikiert hatte, schlägt aufgrund der sie begründenden Differenzbestimmung in ihr Gegenteil um. Aus diesem Grunde betont Adorno immer wieder die Verantwortlichkeit des für diese Dialektik der rationalisierten Naturbeherrschung symptomatischen Kantischen 129

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Freud 1974 ff, Bd. 3: Jenseits des Lustprinzips, S. 245 ff.; Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 539. Vgl. die ausdrückliche Bezugnahme auf das TodestriebTheorem bei Horkheimer / Adorno 1944, S. 258 f., 264. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 444 f. Adorno 1970 ff, Bd. 9: Ästhetische Theorie, S. 335. Gleichwohl ist Adorno gegenüber geschichtsphilosophischem Fatalismus nicht abgeneigt: „Denn soviel ist in der Tat am Anthropomorphismus richtig, daß die Naturgeschichte gleichsam mit dem glücklichen Wurf der ihr im Menschen gelungen ist, nicht gerechnet hat. Seine Vernichtungsfähigkeit verspricht so groß zu werden, daß - wenn diese Art sich einmal erschöpft hat - tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab, und wenn die Erde dann noch jung genug ist, muß - um ein berühmtes Wort zu variieren - auf einer viel tieferen Stufe die ganze chose noch einmal anfangen." (Horkheimer / Adorno 1944, S. 255). In Horkheimer 1985 ff, Bd. 5, S. 255, bezieht Gunzelin Schmid Noerr in einer kommentierenden Anmerkung die Anspielung auf das berühmte Wort zurecht auf Marx' Die deutsche Ideologie (Marx / Engels 1956 ff, Bd. 3, S. 34 f.), vernachlässigt aber den ebenso nahe liegenden Bezug zu Nietzsche (Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 209), der wiederum von Freud variiert wird in seinem Brief an Lou Andreas-Salomö vom 25.11.1914 (Freud /Andreas-Salome 1966, S. 22 f), in dem er schreibt: „Wir haben abzutreten, und der oder das große Unbekannte hinter dem Schicksal wird ein solches Kulturexperiment einmal mit einer anderen Rasse wiederholen." Auch in dieser Hinsicht bewahrt die Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik mithin Einheitlichkeit. Horkheimer/Adorno

1944, S. 22.

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Weltbildes, in äußerster Form polemisch zugespitzt in dem Vorwurf, die eingangs zitierte „idealistische" Haltung zum Tier, die seine rein instrumenta le Nutzung als Ausdruck menschlicher Vernunft betrachtet, sei mit dem faschistischen Menschenhaß vergleichbar: „Die ethische Würde bei Kant ist eine Differenzbestimmung. Sie richtet sich gegen die Tiere. Sie nimmt tendenziell den Menschen von der Schöpfung aus und damit droht ihre Humanität unablässig in Inhumanität umzuschlagen. Fürs Mitleid läßt sie keinen Raum. Nichts ist dem Kantianer verhaßter als die Erinnerung an die Tierähnlichkeit des Menschen. Deren Tabuierung ist allemal im Spiel, wenn der Idealist auf den Materialisten schimpft. Die Tiere spielen fürs idealistische System virtuell die gleiche Rolle wie die Juden fürs faschistische. Den Menschen ein Tier schimpfen - das ist echter Idealismus."133

An diesen Überlegungen zur destruktiven Dynamik des rationalisierten Weltbildes, das kollektiv unbewußte psychische Mechanismen in Gang setzt, wird bereits deutlich, daß Adornos Erkenntnisinteresse nicht ursächlich Naturschutzaspekten gilt, sondern einer Theorie sozialer Barbarei, „der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit",134 die er jedoch für untrennbar von einer Kritik des menschlichen Umgangs mit der äußeren Natur hält. Wie schon durch Adornos Bezugnahme auf das Pogrom als Ausdruck der dialektisch umschlagenden Naturbeherrschung deutlich wird, gibt es auch keinen Zweifel, daß seine Überlegung darauf abzielt, insgesamt zu erklären, weshalb zwischenmenschliche Gewalt nicht einfach eine zivilisatorische Begleiterscheinung blieb, sondern sich zu einer einzigartigen Vernichtungsmaschinerie auswachsen konnte: „Das InsektenvertilgungsmitteL, das vom Anbeginn auf die Vernichtungslager hinauswollte, wird zum Endprodukt der Naturbeherrschung, die sich selbst erledigt. Inhalt des Lebens ist nur noch: daß nichts Lebendiges sei. Alles was ist, soll einem Leben gleichgemacht werden, das selber der Tod ist, die abstrakte Herrschaft."135

Adorno betrachtet die als ideologische Legitimation kaschierte, auf Verleugnung beruhende, industrialisierte, und das heißt im doppelten Sinne rationalisierte Tiertötung hinsichtlich ihrer kollektiv unbewußten psychischen Folgen als hinreichende zivilisationspsychologische Voraussetzung für die industrialisierte Menschenvernichtung durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Diese können sich jene Wut aufs Opfer zunutzemachen, die nicht nur ein dem Rationalisierungsprozeß geschuldetes kulturell-barbarisches Reizreaktionsschema bildet, sondern es zudem den Tätern ermöglicht, eigene Sozialisationsdefizite und, psychoanalytisch gesprochen, eigene Ich-Schwäche zu überkompensieren.136 Dieser „verzweifelte Vernichtungswille [...] gegen alles, was die Lockung der Natur, des physiologisch, biologisch, national, sozial Unterlegenen verkörpert", kennt keine Grenze. Und da keine Rückkehr zur verleugneten und beschädigten Natur mehr möglich ist, bedeutet der Rückschlag der Zivilisation auf Natur die Regression zur Barbarei:

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Adorno 1994, S. 123. Horkheimer / Adorno 1944, S. 22. Adorno 1970 ff, Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 315. Vgl. Horkheimer / Adorno 1944, S. 133: „Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit." Diesem Aspekt widmen sich ausführlich die Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung.

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„Die verhaßte übermächtige Lockung, in die Natur zurückzufallen, ganz auszurotten, das ist die Grausamkeit, die der mißlungenen Zivilisation entspringt, Barbarei, die andere Seite der Kultur. ,Alle!' Denn Vernichtung will Ausnahmslosigkeit, der Vernichtungswille ist totalitär, und totalitär ist nur der Wille zur Vernichtung. [...] Die Zeichen der Ohnmacht, die hastigen unkoordinierten Bewegungen, Angst der Kreatur, Gewimmel, fordern die Mordgier heraus. [...] Das reizt den Starken, der die Stärke mit der angespannten Distanzierung zur Natur bezahlt und ewig sich die Angst verbieten muß, zu blinder Wut. Er identifiziert sich mit Natur, indem er den Schrei, den er selbst nicht ausstoßen darf, in seinen Opfern tausendfach erzeugt. [... ] So führt Zivilisation als auf ihr Ergebnis auf die furchtbare Natur zurück."137

Mit Bezugnahme auf Freuds Überlegungen über Das Unheimliche138 konkretisiert Adorno hiermit seine Vermutung, der verhärtete manische Blick des Mörders entspringe der Angst, welche die Zivilisation vor ihrem Anderen, der Natur, durch Projektion schürt,139 und der zu verleugnenden rudimentären Ahnung, daß diese Kontrastierung eine Verwandtschaft verbirgt, die nur mehr in der archaischen Begleitmusik von Vernichtungsexzessen Spuren hinterläßt: „Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut. [...] Auf das zwangshafte Moment, auf die Wut des Quälers und des Gequälten, die ungeschieden in der Grimasse wieder erscheinen, spricht die eigene Wut im Zivilisierten an. [...] Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte zeigt die Kehrseite desselben gesellschaftlichen Sachverhalts. Das Geheul ist so kalt wie das Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der Natur und machen ihn zum Element ihrer Technik."140

Die Unterwerfung des Menschen unter die kalten Skeletthände rationaler Ordnungen, wie es bei Max Weber heißt,141 fuhrt dazu, daß der manische Mord als Verdrängung des eigenen Unbehagens in der Kultur erfolgt und als letzte Möglichkeit, dem irregeleiteten, sich verabsolutierenden und nurmehr als Differenz begreifenden Zivilisationsprozeß formal zu genügen: „Wer nicht kalt ist, sich kalt macht wie nach der vulgären Sprachfigur der Mörder das Opfer, muß sich verurteilt fühlen" von den zivilisatorischen Ansprüchen.142 Mit dieser Überlegung folgt Adorno Freuds Skepsis angesichts des im Kulturzustand erforderlichen Ausmaßes an Triebkontrolle und teilt auch die Furcht vor der „Zerstörungslust der Zivilisierten [...], die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten."143 Adorno stellt aber nicht, wie Freud, primär auf die individualpsychologische Problematik eines für die Kultur schlechthin erforderlichen Triebopfers ab, die in der gesellschaftlichen Summe kulturrelevant wird. Er hinterfragt vielmehr jene das

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Horkheimer / Adorno 1944, S. 135 ff. Freud 1940ff., Bd. 12, S. 227 ff. Böhme / Böhme 1983, S. 18, charakterisieren diesen Mechanismus wie folgt: „Zwischen Vernunft und der von ihr beherrschten inneren und äußeren Natur besteht eine Angstspannung. [...] Die reale Angst, die den vorrationalen Menschen in seinem Verhalten zu Naturmächten, zu überwältigenden eigenleiblichen Regungen und zu potentiell bedrohlichen Gegenübern erfüllt, weicht einer irrationalen inneren Angst vor dem Verdrängten, die nur auftiebbar scheint um den Preis des Untergangs des Selbst, in welchem der Mensch sich in Besitz genommen zu haben vermeint." Horkheimer / Adorno 1944, S. 211 f. Vgl. Müller-Doohm 1996, S. 108. Weber 1991, S. 225. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 340. Vgl. Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 262: „Sie morden, damit ihnen gleicht, was lebendig ihnen dünkt." Vgl. Müller-Doohm 1996, S. 109. Horkheimer / Adorno 1944, S. 201 f.

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zivilisatorische Selbstverständnis ausmachende, sich verhärtende zweckrationale Naturbeherrschungslogik, die als verwilderte Selbsterhaltung in jene Barbarei umschlägt, der die Zivilisation zu entgehen trachtete. Die gesamte Überlegung des Zitats aus den Minima Moralia, daß über die Möglichkeit des Pogroms entschieden wird in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft - die zum schließlichen manischen Vernichtungsexzeß gegenüber Menschen fuhrende Pathogenese der Projektion einer aggressiven Natur und der Verleugnung des Gedächtnisses einer Zone von Unrechtsbewußtsein bezüglich sinnloser Vernichtung natürlicher Lebewesen - findet sich wieder in einer Überlegung der Negativen Dialektik, in der sich vollständig die zivilisationstheoretische Dimension von Adornos Kulturkritik enthüllt: „Ein Hotelbesitzer, der Adam hieB, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hofaus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Miß-lingen. Sie kann das Gedächtnis jener Zone nicht dulden, weil sie immer wieder dem alten Adam es gleichtut, und das eben ist unvereinbar mit ihrem Begriff von sich selbst. Sie perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundescheiße. Jahre später als jene Stelle geschrieben ward, hat Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern."144

Auschwitz als Synonym für die Barbarei im Sinne des Äußersten: „wahnhaftes Vorurteil, Unterdrückung, Völkermord und Folter",145 bildet jedoch nicht einfach die verzweiflungsbedingte Motivation Adornos, sondern das Phänomen des Antisemitismus insgesamt dient ihm als Exemplifikation seines zivilisationspsychologischen Theorems, das auf die sozial destruktive, in Barbarei regredierende Dynamik der in der zivilisatorischen Urgeschichte angelegten pathischen Projektion und Verleugnung zentriert ist: „Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde. [...] Im läppischen Zeitvertreib des Totschlags wird das sture Leben bestätigt, in das man sich schickt. [... ] Ehe Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. [... ] Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüste der Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion. [...] Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. [...] Der Mechanismus, den die totalitäre Ordnung in Dienst nimmt, ist so alt wie die Zivilisation. [...] Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben den schwächsten Nachbarn als unerträglichste Bedrohung empfunden, ehe sie Ober ihn herfielen. Die Rationalisierung war eine Finte und zwangshaft zugleich. [...] In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren."146

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Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 360. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 672 f. Horkheimer / Adorno 1944, S. 200, 215 ff. Beispiele für die Wahrnehmung vermeintlicher Tierähnlichkeit von Mitmenschen, die als Untermenschen betrachtet und behandelt werden sollten, sind

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Die historisch kontingenten, beispielsweise in spezifischen soziologischen und nationalstaatlichen Traditionen liegenden Bedingungsfaktoren fur den Ausbruch zwischenmenschlicher Barbarei werden mit diesem Erklärungsansatz keineswegs bestritten. Adorno beansprucht jedoch, einen in der zivilisatorischen Urgeschichte angelegten, kollektiv unbewußten psychischen Mechanismus zu beschreiben, der die Voraussetzung dafür bildet, daß jene historisch spezifischen Bedingungsfaktoren überhaupt zu einem jegliche kulturellen Schranken durchbrechenden barbarischen Exzeß werden können. Ein weiteres Beispiel für den von Adorno als Prinzip der Naturbeherrschung dargestellten Mechanismus der Projektion von Feindseligkeit auf das verhaßte Objekt bildet Hitlers bekannte Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, in der es heißt: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum inner- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!"147

Die Freudsche Entdeckung der Projektion als eines psychischen Abwehrmechanismus erweist sich für Adorno als kollektives Bewußtseinsmerkmal, das als isoliertes Schema der Selbsterhaltung „alles zu beherrschen droht, was über diese hinausgeht: die Kultur".148 Die Projektion bildet also einen ausschlaggebenden Faktor bei der Verwilderung der Selbsterhaltung. Der endgültige menschliche Triumph über die natürliche Umwelt erweist sich demnach als Pyrrhus-Sieg: „Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt."149 Gegenüber Nietzsches und Freuds Problematisierung des innerpsychischen Triebkonflikts weitet Adorno mithin den Blick auf die äußere Natur aus. Anders als Freud, dessen Termini er dabei gleichwohl stark in Anspruch nimmt, problematisiert Adorno einen Zusammenhang zwischen der Rationalisierungsleistung hemmungsloser Unterwerfung der äußeren Natur und dem Auftreten zwischenmenschlicher Barbarei im Gesellschaftszustand. Freuds Hoffnung, daß die Kulturaufgabe, die menschliche Übermacht der Natur gegenüber zu verteidigen, gemeinschaftsstiftend und pazifizierend wirke,150 wird in Adornos radikalisierender Synthese der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik genau umgekehrt. Adorno übernimmt das Theorem Freuds, daß die Zivilisationsgeschichte mit einem zivilisationspsychologisch folgenreichen Mord begann, meint aber einen anderen Mord mit gegensätzlichen Konsequenzen. Während Freud den einmaligen und hernach per Ritualisierung kulturell eingehegten Mord am Mitmenschen thematisiert, den er als Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt einstuft, problematisiert Adorno den sinnentleert automatisierten und in der Folge industrialisierten „Mord" an nicht-menschlichen Kreaturen, dem er infolge der erörterten, von Freud entlehnten, kollektiv unbewußten, tiefenpsychologischen Mechanismen eine qua Rationalisierung enttabuisierende Wirkung auf die zwischenmenschliche Gewaltbereitschaft

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ebenso in zahlloser Form bekannt wie im speziellen diejenigen für das antisemitische Motiv, das Judentum stehe filr blutige, archaische Rituale. Zit. n. Hofer 1957, S. 277. Horkheimer /Adorno 1944, S. 225. Ebd., S. 216. Freud 1974 ff., Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 150.

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5. „Am Anfang war der Mord" II: Theodor W. Adorno

zuschreibt. Konstatiert Freud eine Tabuisierung des Destruktiven als Kennzeichen des mit dem Mord am Urvater initiierten Zivilisationsprozesses, so konstatiert Adorno eine ideologische Legitimierung des Destruktiven durch den zum sinn- und gefühllos mechanisierten Tiermord fuhrenden Rationalisierungsprozeß.m Als verwilderte Selbsterhaltung schlägt die instrumentalistisch auf Rationalisierung heruntergekommene Rationalität in Irrationalität um, und die intendierte Selbsterhaltung verkehrt sich kontraproduktiv in die Selbstvernichtung der Gattung. Während für Freud die barbarische Regression das Anormale ist, ist für Adorno die Barbarei, genau genommen, gar keine Regression, sondern ein normales Phänomen des sich selbst erledigenden, von Naturbeherrschung besessenen zivilisatorischen Rationalisierungsprozesses: „Normal ist die Barbarei, weil sie nicht in bloßen Rudimenten besteht, sondern in gleichem Maße wie die Naturbeherrschung immerfort reproduziert wird."152

Mit der Fokussierung der schließlich autodestruktiv umschlagenden Rationalisierung des Tabu als eines Ausdrucks der Dialektik der Aufklärung hat Adorno ein von Nietzsche und Max Weber thematisiertes Element in die Überlegung eingebracht, das er mit psychoanalytischen Kategorien Freuds, in dessen Zivilisationstheorie kein Platz für dialektische Annahmen ist, kombiniert. Danach steht die von Nietzsche und Weber problematisierte Entzauberung des Weltbildes in konstitutivem Zusammenhang mit denjenigen tiefenpsychologischen Mechanismen, die Adorno plausiblerweise für eine Ermöglichungsbedingung zwischenmenschlicher Barbarei hält. Kurt R. Eissler formuliert diese Überlegung wie folgt: „Damit ein Mensch fähig ist, kaltblütig zu töten - oder um überhaupt ein Mitgeschöpf töten zu können - , muß das Ich eine beträchtlidie Entwicklung erreicht haben. Es mag sein, daß der erste Mord eine große Entdeckung darstellte: solange der Mensch in seinem Mitmenschen nur ein Spiegelbild sah, war er unfähig, das zu töten, was schließlich sein eigenes Bild war."1S3

Daß eine starke Ich-Entwicklung als Voraussetzung dato zu sehen ist, daß der Mensch als Kulturwesen den Mord als Handlungsoption erkennt, und nicht etwa als Folge dieser Entdeckung, bestätigt Adornos zivilisationspsychologische Überlegungen, insbesondere seine Hypothese, daß die Projektion von Feindseligkeit auf das Tier, die an dem als Tier verfemten Menschen wiederholt wird, die entscheidende Bedingung von Barbarei ausmacht. Adorno ist jedoch auffällig bemüht, seine Radikalisierung der Freudschen Theoreme als Konformität mit der Psychoanalyse auszugeben: „Unter den Einsichten von Freud, die wahrhaft auch in Kultur und Soziologie hineinreidhen, scheint mir eine der tiefsten die, daß die Zivilisation ihrerseits das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt. Seine Schriften ,Das Unbehagen in der Kultur' und , Massenpsychologie und Ich-Analyse' verdienten die allerweiteste Verbreitung gerade im Zusammenhang mit Auschwitz. [...] 151

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Anders als Heim 1993, S. 362, meint, verfolgt Adorno insofern eben nicht die frühesten Spuren des modernen Menschen in den Labyrinthen der Odyssee, während Freud in Totem und Tabu das Bild der Urgeschichte einer Menschheit zeichnete, die ihren ersten Ahnherrn morden mußte, um die Ketten der Natur allmählich abzulegen: Adorno thematisiert kein Scheitern der archaischen Herausforderung in der Moderne, sondern eine zum Scheitern verurteilte Urgeschichte und kehrt dadurch Freuds zivilisationstheoretische Perspektive, deren Fokus er übernimmt, um. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 86. Eissler 1992, S. 59.

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Wenn im Zivilisationsprozeß selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desperates, dagegen aufzubegehren."154

Freud sieht die Barbarei gerade nicht im Zivilisationsprozeß selbst angelegt, sondern im Untergrund der Zivilisation, in den raterdrückten Trieben, von deren permanenter Unterdrückung die Aufrechterhaltung der Kultur lebt. Diese ständig aufs neue erforderliche Kulturleistung der Triebsublimierung macht daher ein „Aufbegehren" auch nicht desperat, sondern notwendig. Adorno intendiert aber offenbar eine Irreführung hinsichtlich seiner theoriegeschichtlichen Wurzeln, wozu paßt, daß er seine offensichtliche Orientierung an Totem und Tabu verschweigt und mit Massenpsychologie und Ich-Analyse eine andere Spur legt, die auf seine eigenen Interessen an einer soziologischen Ausdeutung der zivilisationstheoretischen Kulturkritik hindeutet.155 Denn was ihn an Freud ausdrücklich interessiert, ist dessen „Interesse überhaupt an der Geschichte der Zivilisation als einer Geschichte der Versagung und der Verdrängung",156 wobei er in der von der Psychoanalyse aufgedeckten identischen Wiederholung psychologischer Reaktionen ein geschichtliches Stadium dokumentiert sieht, „in dem die archaischen Züge der Zivilisation wieder hervortreten", so daß Freuds Einsichten zur „Anklage der Zivilisation" würden.157 Wenn sich aber die zivilisationstheoretische Kulturkritik als bestimmendes Motiv auch für Adornos konkreter soziologische Theoreme erweist, ist es, wie eingangs bereits betont, irreführend, diese, wie bisher vorherrschend, als weitgehend sozioökonomische Ansätze in der Tradition des westlichen Marxismus zu interpretieren.158 Vielmehr kritisiert Adorno, wie bereits einleitend angedeutet, an Marx und Engels die Konzentration auf politische Ökonomie und das gering ausgebildete Bewußtsein für die Fortdauer der Vorgeschichte159 im „Spätkapitalismus". Adorno historisiert und kontextualisiert kurzerhand die Theorie

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Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 674 f. Vgl. ebd., Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 36 f.: „In der Tat gibt es für Freud nach den ersten Entwicklungsphasen nichts eigentlich Neues mehr. Die identische Wiederholung psychologischer Reaktionen kennzeichnet ein geschichtliches Stadium, in dem die archaischen Züge der Zivilisation wieder hervortreten." Eine ausdrückliche Bezugnahme auf Totem und Tabu erfolgt lediglich in Adorno 1970 ff., Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 61, und zwar kritisch. Adorno 1993, S. 35. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 36 f., 40. In einem Brief an Hermann Mörchen vom 25.03.1972 (Horkheimer 1985 ff., Bd. 18, S. 798) betont Horkheimer: „Wie sehr sowohl Adorno wie ich selbst einige theoretische Aspekte des Marx'schen Werkes akzeptierten, so kann doch keine Rede davon sein, daB wir uns etwa philosophisch sogenannter marxistischer Tradition verschrieben hätten." Alfred Schmidt formuliert, für die Kritische Theorie höre „der historische Materialismus [... ] aufj die richtige Erklärung der menschlichen Dinge zu sein." (Schmidt 1968, S. 358). Vgl. auch Heidbrink 1994, S. 184. Abwegig ist hingegen die Behauptung von Buck-Morss 1977, S. 62, die Dialektik der Aufklärung habe "an affinity to Marxism which, it could be argued in the case of Adorno, marked a turn toward Marx rather than away from him." Ebenso irrig Breuer 1984, S. 339 f., der glaubt, trotz seines Festhaltens an der „geschichtsphilosophischen Konstruktion einer ,Logik des Zerfalls'" habe Adorno „sich gleichzeitig [...] in seinen konkreten Analysen so stark an der von Marx entwickelten Gesellschaftstheorie orientiert, daß man die urgeschichtliche Argumentation im Hinblick auf die Struktur der hochkapitalistischen Gesellschaft getrost ausblenden kann." Eine einseitige Betonung der Traditionslinie Hegel - Feuerbach - Marx Lukäcs kennzeichnet auch die gleichwohl wichtige Studie von Köhler 1974. Vgl. Adorno 1970ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 266.

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von Marx und Engels und zeiht ihren Versuch, die politische Ökonomie zur sozialwissenschaftlichen Schlüsselkategorie zu erheben, des Anachronismus: „Marx hütet sich zwar, mißtrauisch gegen alle Anthropologie, den Antagonismus ins Menschenwesen oder in die Urzeit zu verlegen, die eher nach dem Topos des goldenen Zeitalters entworfen wird, insistiert aber um so zäher auf seiner historischen Notwendigkeit. Ökonomie habe den Primat vor der Herrschaft, die nicht anders denn ökonomisch abgeleitet werden dürfe. Mit Fakten ist die Kontroverse kaum zu schlichten; sie verlieren sich im Trüben der Frühgeschichte. [...] Was Marx und Engels dazu bewog, gleichsam noch den Sündenfall der Menschheit, ihre Urgeschichte, in politische Ökonomie zu übersetzen, obwohl doch deren Begriff) an die Totalität des Tauschverhältnisses gekettet, selber ein Spätes ist, war die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Revolution. [...] Tangiert aber wird durch die Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts die Idee der geschichtlichen Totalität als einer von kalkulabler ökonomischer Notwendigkeit."'60 „Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm."161

Während Marx laut Adorno „das Programm absoluter Naturbeherrschung, ein Urbürgerliches", von Kant und dem deutschen Idealismus empfangen und geschärft zur Forderung, die Welt zu verändern anstatt sie bloß zu interpretieren, unterschrieben habe,162 will Adorno vermeiden, „dem Ökonomismus" zu verfallen „und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produktion".163 Adorno klagt gegen eine von Marx und Engels angeleitete sozio- beziehungsweise politökonomische Perspektive die fur ihn wichtigere, von Nietzsche, Freud und Weber vorbereitete Einsicht ein, daß nur eine fundamental zivilisationstheoretisch ansetzende Betrachtung die schwerwiegenden Probleme der Menschheit mit Naturbeherrschung und sozialer Barbarei hinreichend zu erklären vermag, und nicht eine vordergründige, bestimmte Wirtschaftsformen historisch kontingenter staatlicher Gebilde problematisierende Theorie. Bei der Formulierung dieses Gedankens nimmt Adorno sogar ganz ausdrücklich Bezug auf Nietzsches Übermensch-Ideal: „Eine philosophische Konstruktion der Weltgeschichte hätte zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Naturherrschaft immer entschiedener durchsetzt und alles Innermenschliche integriert. Aus diesem Gesichtspunkt wären auch Formen der Wirtschaft, der Herrschaft, der Kultur abzuleiten. Nur im Sinn des Umschlags von Quantität zu Qualität kann der Gedanke des Übermenschen Anwendung finden."164

Marx und Engels sind „Baconisten", die mit geradezu odysseischer List die Unterwerfung unter die Natur um deren Beherrschung willen lehren. In dieser anthropozentrischen, soziozentrischen und prometheischen Perspektive wird die Natur zweckrational zum bloßen Mittel degradiert, was nicht nur mit einem vordergründigen ökologischen Problembewußtsein unvereinbar ist, sondern erst recht von jener Einsicht in die Dialektik der

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Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 315 f.. Vgl. ebd., S. 347 ff. u. Beier 1977. Adorno 1970ff, Bd. 11: Noten zur Literatur, S. 284. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 242. Vgl. ebd., S. 75, wo als Grund des philosophischen Idealismus Naturbeherrschung selbst genannt wird. Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 22. Vgl. Marx / Engels 1956 ff, Bd. 4: Manifest der Kommunistischen Partei, S. 467. Horkheimer /Adorno 1944, S. 254.

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Aufklärung getroffen wird,165 die Adorno in der Nachfolge Nietzsches zu der These vom zivilisationspsychologisch konstitutiven Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Barbarei ausweitet. Was Adorno an Marx interessiert, sind also nicht primär seine Theorien zu Arbeit und Produktivität, auch nicht sein EntfremdungsbegrifF,166 und erst recht nicht sein Naturverständnis, sondern die Idee der Warenzirkulation und des Fetischcharakters der Ware:167 „Nur indem der Prozeß, der mit der Verwandimg von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert."168

Zur Marxschen Geschichtsphilosophie verhält sich Adornos Ansatz „als eine Art immanenter Kritik", insofern er die „Geschichte der Produktion als Teil eines umfassenden Prozesses der Destruktion" ansieht.169 Adorno interessiert nicht primär der Umstand, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die historisch höchste Entwicklung der Produktivkräfte realisiert ist, sondern ihn beschäftigt, um die Formulierung Wolfgang Sofekys nochmals zu bemühen, der Stand der Destruktivkräfte,170 Alle geschichtlichen Kräfte und Faktoren erscheinen als Ausdruck jener zweckrationalen Beherrschung äußerer Natur, die umschlägt in gewaltsame Herrschaft von Menschen über Menschen: „Die Objektivität des geschichtlichen Lebens ist die von Naturgeschichte. [...] Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewufitlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort. [...] Der Wechsel der jeweils konstitutiven ökonomischen Formen vollzog sich gleich dem der aber die Jahrmillionen hochkommenden und aussterbenden Tierarten."171

Jegliche konkreten historischen Ausprägungen menschlicher Selbsterhaltung durch die im doppelten Sinne rationalisierte Unterwerfimg der natürlichen Umwelt müssen demnach interpretiert werden hinsichtlich des in ihnen zum Ausdruck kommenden offensichtlichen oder unterschwelligen zivilisationspsychologischen Reflexes auf die fortdauernde Urgeschichte. Was beispielsweise in der Perspektive des Historischen Materialismus als ökonomisches Wirkungsgesetz erscheint, ist für Adorno lediglich die ökonomische Ausprägung der verwilderten Selbsterhaltung:

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Ottmann 1985 a, S. 224, 227 f. Vgl. zu Natur und Naturbeherrschung bei Marx ferner Schmidt 1962; Schnädelbach 1997-, Lohmann 1991, S. 107; König 1985, S. 461 ff. Vgl. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 174, 216, 274; vgl. Adorno 1993, S. 77 f. Schnädelbach 1992, S. 178 f., weist zudem daraufhin, daß der Begriff Verdinglichung bei Marx zwar vorkommt, als kulturkritischer Signalbegriff aber von Nietzsche stammt und von Georg Simmel aufgegriffen wurde: Adornos ,Ди1Шгклйк als Verdinglichungskritik ist deswegen näher bei Nietzsche als bei Hegel und Marx". Zur Warenzirkulation vgl. Marx/Engels 1956 ff., Bd. 23: Das Kapital, S. 109 ff.; zum FetischismusKonzept von Marx Böhme 1997, der es instruktiv mit den entsprechenden Freudschen Theoremen kontrastiert. Adorno 1970ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 260. Vgl. ebd., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 349. SchmidNoerr 1989, S. 77. Sofsky 1996, S. 226. Adorno 1970ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 347 ff.

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„Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte" 172

Wenn Adorno also, durchaus einem breiten Konsens folgend, den materiellen Kern von Kultur überhaupt als kollektive Einverleibung dessen, was als Ertrag von Arbeit der Natur abgerungen worden ist,173 begreift und diese Naturbeherrschung aufgrund der zivilisationspsychologischen Konsequenzen ihrer ideologischen Legitimierung als destruktiv für die Kultur versteht, erhalten seine Überlegungen unmittelbar eine kulturkritische Stoßrichtung. Diese tangiert nach dem Historischen Materialismus nun mutatis mutandis auch Hegel: „Sein Weltgeist ist die Ideologie der Naturgeschichte. [...] Am Gedanken wäre es statt dessen, alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur".174

Gegen den Historizismus der Idee des Weltgeistes, um einen Begriff Poppers zu verwenden, hatte Adorno bereits die Nietzscheanische Warnung ausgesprochen, daß Ehrfurcht vor der Macht der Geschichte zu Ehrfurcht vor jeder Macht führe. Angesichts der Radikalisierung zivilisationstheoretischer Kulturkritik durch dialektisiertes Neuarrangement zentraler Motive Nietzsches, Freuds und Webers, zu der sich Adorno genötigt fühlt, entspringt seine Kritik an Hegels und Marx' Auffassungen aber nicht nur einem Dissens in Grundannahmen und Einzelfragen, wie der Auffassung vom Geschichtsprozeß, der Natur und ihrer Beherrschung durch den Menschen, dem Stellenwert ökonomischer Fragen und anderen mehr. Vielmehr tauscht Adorno gleichsam die qualitativen Vorzeichen aus. Ein mit geschichtlicher Notwendigkeit ablaufender fortschrittlicher Weltlauf, sei es zur Entfaltung des Geistes oder der klassenlosen Gesellschaft, ist für Adorno eine abwegige Annahme. Vielmehr sieht er durch die menschliche Urgeschichte zivilisationspsychologische Mechanismen in Gang gesetzt, die durch alle bisherigen Menschheitsentwicklungen hindurch fortwirken. Allenfalls in Umkehrung der hegelmarxistischen Perspektive ließen sich universalgeschichtliche Thesen formulieren: Solange alle Geschichte der in sozialer Gewalt gipfelnden Dialektik der Naturbeherrschung unterliegt, vollzieht sie bloß den notwendigen Verfall der Kultur zur Barbarei. Wenn alle Geschichte „immer dasselbe war, Vorgeschichte",175 weil die Menschen an ihrer erfolgreichen Naturbeherrschung scheitern, dann deuten historisch bereits erfolgte Desaster des menschlichen Strebens nach Zivilisierung bereits auf nachfolgende hin: „Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch. [...] Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. [...] Zu definieren wäre der Weltgeist, würdiger Gegenstand von Definition, als permanente Katastrophe."176

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Adorno 1970 ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 373 f. Breidecker 1990, S. 219. Adorno 1970ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 353. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 373 f. Adorno 1970 ff, Bd. 6: Negative Dialektik, S. 315. Bogner 1989, S. 75, bemerkt (mit Blick auf die Dialektik der Aufklärung), daß sich „eine radikalere Kontinuitätshypothese [...] gar nicht konzipieren" läßt. Insofern ist Adornos Perspektive keine apokalyptische, denn diese ist die einer „Theologie der

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Gegenüber der Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung tritt die Bedeutung der jeweiligen historischen Besonderheit barbarischer Exzesse zurück: „Der heraufziehenden Katastrophe korrespondiert eher die Vermutung einer irrationalen Katastrophe in den Anfingen" 177 als diejenige sozioökonomischer Repression, so bedeutsam die kontingenten historischen Einzelumstände für die Ausprägungsform der urgeschichtlichen Katastrophe gleichwohl sind. Adorno verläßt damit die im herkömmlichen Sinne geschichtsphilosophische Orientierung des Hegelmarxismus und verlegt sich auf eine transhistorische Perspektive. Damit folgt er dem von Nietzsche beschrittenen Weg, der den Anfangspunkt der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik markiert. Nietzsche hatte die Genealogie als reflexive Metaebene eingeführt, mit der sich die nicht nur im historischen Geschehen, sondern in der historischen Perspektive selber liegenden Machttechniken erfassen lassen, und dieses Interesse an einer Geschichte der Geschichte führte ihn dazu, eine auf die zivilisationstheoretischen Merkmale der menschlichen Urgeschichte eingehende Metaperspektive einzunehmen. Diesem Ansatz entsprechend zielt Adorno nicht auf den Nachweis eines ewigen historischen Gesetzes ab, wie es der Historische Materialismus reklamiert, sondern auf die Ermittlung der zivilisationspsychologischen Mechanismen, denen der historische Kulturprozeß unterworfen ist. Adorno will demnach „nicht einfach die Geschichte der Zivilisation selbst erzählen", sondern „etwas, was diese Geschichte selbst deutet und erklärt: die Geschichte dieser Geschichte, die wahre Geschichte des Geschichtlichen, die immer noch aktuelle Urgeschichte." Diese prognostische Elemente einschließende „Hintergrundgeschichte", diese „Geschichte hinter der Geschichte in aufklärerischer Absicht", bezeichnet Herbert Schnädelbach als Sozialmythos,178 was um so treffender erscheint als sich hiermit die Nähe zu Freuds wissenschaftlichem Mythus aus Totem und Tabu179 ausdrücken läßt. Während die Behauptung einer geschichtsphilosophischen Zwangsläufigkeit des Umschlagens der Naturbeherrschung in Barbarei einen Rückfall in hegelmarxistische Denkmuster bedeuten würde, entwickelt Adorno die von Nietzsche vorgezeichnete Überlegung weiter und reflektiert mittels variierter und neu kontextualisierter Freudscher Theoreme

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Hoffnung, welche die Geschichte nicht in der ,Logik des Zerfalls' (Adorno), sondern im Licht des Heils rekonstruiert", wie Böhme 1988, S. 389, richtig feststellt. Adorno 1970 ff., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 317. Es ist angesichts dieser Zitate unbegreiflich, wie immer wieder behauptet werden kann, infolge theologischer Motive bilde ein paradiesischer vorzivilisatorischer Urzustand Adornos utopisches Ideal, das darin bestehe, daß „wir im versöhnten Zustand mit Tieren, Pflanzen und Steinen reden." (Habermas 1987 a, S. 176 f.; vgl. Habermas 1988, S. 133; ebenso Dubiel 1978, S. 61, 71). Adorno thematisiert keinen Sündenfall im vorgeschichtlichen Paradies, sondern die in der Urgeschichte angelegte Katastrophe, die in der sich dialektisch entfaltenden Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung besteht. Richtig erkennen dies Grenz 1974, S. 163 f.; Kager 1988, S. 238 f. Anm. 37, 240 f. Anm. 47; Schmid Noerr 1990, S. 60. Ebenso grenzt die Unterstellung theologischer Motive (Bolz 1989, S. 182) bei einem konsequenten Atheisten wie Adorno geradezu an Verleumdung; allenfalls der Begriff metaphysisch-theologischer Pessimismus (Jay 1981, S. 323 f.) erscheint tragbar. Adornos Denken eignet, einer Formulierung Herfried Münklers zufolge, ein paganer negativer Messianismus: Man weiß nicht, wer der Messias ist und ob er kommt, man weiß nur, daß er notwendig ist. Schnädelbach 1992, S. 234 ff. Freud 1974 ff, Bd. 9: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 126.

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über die zivilisationspsychologische Folgerichtigkeit dieses Prozesses. In dieser Folgerichtigkeit des Umschlagens ideologisch legitimierter Naturbeherrschung in soziale Barbarei liegt auch der Grund dafür, daß Adorno hinsichtlich der kulturkritischen Konsequenzen aus den zivilisationstheoretischen Deutungen Freud, Weber und sogar Nietzsche überbietet. Kultur gilt ihm als „überhaupt mißlungen",180 weil sie die Wurzel ihrer Regression zur Barbarei in sich trägt: „Was an Kultur Verfall dünkt, ist ihr reines zu sich selber Kommen."181 Wenn totalitäre Herrschaft demzufolge, anders als Freud - den Adorno gleichwohl ungeniert für diese Überlegung vereinnahmt - dachte, keine Wiederkehr des Archaischen ist, sondern seine Reproduktion in und durch die Zivilisation selber, ist klar, „daß die totalitäre Herrschaft der Menschheit nicht von außen durch ein paar Desperados angetan ward, [...] sondern daß inmitten der Kultur die Kräfte von deren Zerstörung heranreiften."182 „Die Todeslager als Betriebsunfall des zivilisatorischen Siegeszuges" zu registrieren,183 fiele hinter die dialektische Einsicht zurück, daß die Barbarei normal ist, weil sie „in gleichem Maße wie die Naturbeherrschung immerfort reproduziert wird."184 Die Konsequenz aus diesem Befund läßt sich nur paradox formulieren: Ziel alles Handelns, zumal des politischen im weitesten Sinn, muß es sein, dafür zu sorgen, daß „die Menschheit nicht in die Barbarei zurückfällt, aus der sie noch gar nicht herauskam."183 Einen innovativen Schritt für die Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik bedeutet Adornos Einsicht in die Pathogenese ideologisch legitimierter Naturbeherrschung vor allem aufgrund seiner These, daß die menschliche Selbstermächtigung zum sinnlosen Tiermord und die Verleugnung dieses kollektiven psychopathologischen Mechanismus zu verstehen ist als Ausdruck eines „paranoischen Wahns, der die Natur entvölkert und am Ende die Völker selbst."186 Der dialektische Umschlag der Naturbeherrschung in barbarische Herrschaft von Menschen über Menschen reproduziert dabei nicht bloß innerkulturell die gegen die natürliche Umwelt eingeübte Gewalt, sondern übersteigert diese: „Panik bricht nach Jahrtausenden von Aufklärung wieder herein über eine Menschheit, deren Herrschaft über Natur als Herrschaft über Menschen an Grauen hinter sich läßt, was je Menschen von Natur zu fürchten hatten."1'7

Der Schritt vom Insektenvertilgungsmittel zum Vernichtungslager markiert demnach einen qualitativen Unterschied, jedoch ist der von der totalitären Ordnung genutzte Mechanismus ein urgeschichtlicher, und so „fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit, in deren stumpfer und planloser Gewalt die wissenschaftlich ausgeheckte teleologisch bereits mitgesetzt war."188 Wie bei Nietzsche, der „die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriegeführen" und

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Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 140 f. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 17. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 414; 470. Adorno 1970ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 265. Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 86. Adorno 1970ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 383. Horkheimer /Adorno 1944, S. 223. Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 271. Ebd., S. 266.

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viele soziokulturelle Phänomene mehr als „Fortsetzung der Thierheit" interpretiert,189 erfolgt also auch bei Adorno die Analyse „von Kriegen und ähnlichen Naturkatastrophen der Gesellschaft"190 im wahrsten Sinne sub specie aeternitatis.191 Der Sachverhalt der Naturbeherrschung bildet für Adorno nicht nur einen anthropologischen Tatbestand, sondern „das Gesellschaftliche par excellence."192 Seine aus Theorieelementen Nietzsches, Webers und vor allem Freuds synthetisierte Hypothese eines konstitutiven zivilisationspsychologischen Zusammenhangs zwischen Naturbeherrschung und Barbarei bestimmt die Interpretation konkreter historischer und aktueller Phänomene des Sozialen in Gestalt der erkenntnisleitenden Fragestellung, wie sich die Herrschaft über die Natur innerhalb der Menschheit reproduziert.193 Getreu seiner Grundannahme, daß das Insektenvertilgungsmittel vom Anbeginn auf die Vernichtungslager hinauswollte, ist Adornos Eindruck vom Zweiten Weltkrieg „nicht der von Kämpfen", sondern der einer ,Insektenvertilgung im tellurischen Maßstab."194 Dementsprechend tritt, wie Michael Schäfer schreibt, der Nationalsozialismus „auf der Grundlage des psychoanalytischen Motivs der Wiederkehr des Verdrängten [...] als die extreme und fortgeschrittene Form technologischer Naturbeherrschung in Erscheinung".195 Folglich ist die Gefahr barbarischer Exzesse, sogar eines 189 190 191

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Nietzsche 1988, Bd. 1: Unzeitgemässe Betrachtungen, S. 366; 378 f. Adorno 1993, S. 241. Es ist völlig unbegreiflich, wie Benhabib 1992, S. 91 f., zu der Auflassung gelangen kann, bei Adorno entfalle die „Krisendiagnose" als „Funktion der Kritischen Theorie". Breuer 1985, S. 372, erkennt Adornos Nähe zu Nietzsche und Freud in dieser Hinsicht richtig, urteilt dann aber, Adornos „Rekurs auf .archaische Willkürakte von Machtergreifung'" sei „so mystifizierend und spekulativ wie Nietzsches Erörterungen aber die Genealogie der Moral. Eine Geschichtstheorie allein aus der Perspektive von Auschwitz ist so unhaltbar wie eine solche, die darin nur einen Betriebsunfall zu sehen vermag." Die vorstehenden Ausführungen dürften gezeigt haben, daß Adornos zivilisationstheoretische Kulturkritik weder auf archaische Willkürakte von Machtergreifung rekurriert, noch „eine Geschichtstheorie allein aus der Perspektive von Auschwitz" entwerfen will, abgesehen davon, daß Nietzsches Genealogie der Moral nicht „mystifizierend und spekulativ" ist. Köhler 1974, S. 107. Horkheimer / Adorno 1944, S. 133. Es kann daher keine Rede sein von einer „geschichtsphilosophischen Sackgasse", in die die kritische Theorie „mit Adornos Negativismus" aufgrund der Tatsache geraten sei, „daß Adorno an der Aufgabe einer Gesellschaftsanalyse überhaupt scheitern mußte, weil er zeitlebens einem totalisierenden Modell der Naturbeherrschung verhaftet blieb und dementsprechend das .Soziale' an Gesellschaften nicht zu erfassen vermochte" (Honneth 1989, S. 382, 8). Adornos Negativismus ist vielmehr „ein partieller und methodischer", kein „metaphysisch-totalisierender" (SchmidNoerr 1990, S. 44; vgl. Schnädelbach 1987, S. 179 ff; Schnädelbach 1992, S. 231 ff., 250; Thyen 1989, S. 222 ff.; Mirbach 1979). Adorno „die endgültige Verdrängung des Sozialen" aus der Gesellschaftstheorie vorzuwerfen (Honneth 1989, S. 70), ist daher „eine Überpointierung", die daraus resultiert, daß Adornos Denken „auf eine technizistische Variante des marxistischen Basis-ÜberbauModells" verengt wird (Schmid Noerr 1990, S. 41), anstatt sie als nur rudimentär marxistische, entlang der Überlegungen von Nietzsche, Freud und Max Weber entwickelte zivilisationstheoretische Kulturkritik zu verstehen. Adorno 1970 ff, Bd. 20: Vermischte Schriften, S. 812. M. Schäfer 1994, S. 99, dessen instruktive Studie auch richtig die miteinander verflochtenen Denkmotive von Nietzsche, Freud und Weber erkennt, aber Adornos verschlungener Freud-Rezeption nicht nachgeht und sich stattdessen zu dem Urteil versteigt, es solle „der Rationalität und in der Folge dann der Moderne und der Aulklärung der Prozeß gemacht werden" und dies sei „ein Prozeß, der letztendlich nur der Gegenaufklärung dient" (ebd., S. 185). Schäfer spricht sich völlig zurecht für eine Rehabilitierung des animal rationale (Schnädelbach) aus, wirft Adorno aber zu Unrecht Gegenauf-

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5. „Am Anfang war der Mord" II: Theodor W. Adorno

faschistischen Rückfalls, zivilisationspsychologisch betrachtet objektiv und „nicht primär in den Menschen gelegen",196 was nicht im mindesten der von Adorno immer wieder betonten Singularität des Holocaust widerspricht.197 Mit diesen Überlegungen kommt Adorno einer Erfüllung des Freudschen Postulats, es bedürfe einer Pathologie der kulturellen Gemeinschaften198 recht nahe. Es bleibt abschließend zu skizzieren, in welcher Weise Adorno seine zivilisationstheoretische Kulturkritik soziologisch konkretisiert, wenn er die Entstehung einer total verwalteten Welt als Fortdauer der Vorgeschichte diagnostiziert. Hierbei rekurriert er auf Motive Max Webers, dessen an Nietzsche orientierte Problematisienmg des modernen Wert- und Sinnproblems gegenüber Adornos Psychopathologie der menschlichen Urgeschichte in den Hintergrund getreten war. Für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist dieser Aspekt von Interesse als andeutungsweise Exemplifikation, wie Adorno seinen Sozialmythos (Schnädelbach) für sozialwissenschaftliche Einsichten über Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft nutzbar macht.199

5.3. Eine soziologische Physiognomik des Grauens: Die verwaltete Welt als Fortdauer der Vorgeschichte Bei seiner Erörterung der psychischen Voraussetzungen für die Ausübung barbarischer Gewalt gegenüber Mitmenschen hatte Adorno die Kälte der Menschen als zentralen Faktor genannt. Die zivilisatorische Forderung permanenten Triebverzichts, rationellen, nicht aber rationalen Handelns und reibungslosen Funktionierens produziert nicht nur ein Unbehagen in der Kultur, das sich gegen diese zu wenden vermag, sondern die Kälte ist eine regelrechte Uberlebensstrategie der Menschen, die es ermöglicht, den gesellschaftlichen Funktionsansprüchen zu genügen. Somit ist einerseits die Neigung, sich kalt zu machen wie „nach der vulgären Sprachfigur der Mörder das Opfer", die Bedingung für die Bereitschaft, auch die in der Sprachfigur ausgedrückte Tat auszuüben.200 Andererseits ermöglicht nur eine Anpassung an die Kälte in Kultur und Gesellschaft, sich mit deren Ansprüchen überhaupt zu arrangieren: „Wer sich einbildet, er sei, als Produkt dieser Gesellschaft, von der bürgerlichen Kälte frei, hegt Illusionen wie über die Welt so über sich selbst; ohne jene Kälte könnte keiner mehr leben."201

196 197 198 199 200 201

klärung vor; vgl. Adorno 1970 ff., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 160: „Selbstreflexion der Aufklärung ist nicht deren Widerruf: dazu wird sie dem gegenwärtigen status quo zuliebe korrumpiert." Vgl. Söllner 1983, S. 341, der darauf hinweist, daß sogar die Dialektik der Aufklärung eher eine Erweiterung als eine Verengung des Vernunftbegriffs vornehme. Adorno 1970 ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 568. Adorno 1970ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 266. Vgl. Müller-Doohm 1996, S. 110. Freud 1974ff, Bd. 9: Das Unbehagen in der Kultur, S. 269. Vgl. zu Adornos Soziologie im einzelnen die umfassende Studie von Müller-Doohm 1996. Adorno 1970 ff., Bd. 6: Negative Dialektik, S. 340. Vgl. Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 262. Vgl. Müller-Doohm 1996, S. 109. Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 778.

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Es läßt sich um so weniger leichthin gesellschaftskritisch über mangelnde Humanitäts- und Identifikationsbereitschaft klagen, als Adorno die Wurzeln dieses im „Spätkapitalismus" zweifellos weit gediehenen Zustande nicht in einer bestimmten Wirtschaftsform oder politischen Verfaßtheit angelegt sieht, sondern, seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik entsprechend, in der menschlichen Urgeschichte, von der an die Kälte der Menschen untereinander und anderen Lebewesen gegenüber jede gesellschaftliche Formation prägt: „Das Bestürzende ist [...]- bestürzend, weil es so hoffnungslos erscheinen läßt, dagegen anzugehen-, daß dieser Trend mit dem der gesamten Zivilisation verkoppelt ist. Ihn bekämpfen heißt soviel wie gegen den Weltgeist sein [...]. Wäre sie [die Kälte, K.F.] nicht ein Grundzug d a Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen [...]. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt - und wohl seit Jahrtausenden - beruht nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion, sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen. Was dem widerspricht, der Herdentrieb der sogenannten lonely crowd, der einsamen Menge, ist eine Reaktion darauf ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können. [...] Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können."202

Adorno folgt in der soziologischen Konkretisierung seiner zivilisationspsychologischen Überlegungen konsequent seiner These, daß die Bedingungen für die historisch erfolgte zwischenmenschliche Barbarei und damit auch für ihre Wiederholbarkeit objektiv und innerhalb des kollektiv unbewußten Schemas ideologisch legitimierter, grenzenloser Naturbeherrschung folgerichtig ist. Gleichwohl ebnet Adorno damit weder alle Unterschiede zwischen verschiedenen historischen Formen gesellschaftlicher Herrschaft ein, noch verzichtet er auf eine Tiefenanalyse, wie sich die seit der zivilisatorischen Urgeschichte eingeübte Kälte in der modernen Gesellschaft dokumentiert. Vielmehr gibt er seiner FreudRezeption eine Weberianische Wendung, indem er die Fortsetzung der Vorgeschichte in der verwalteten Welt thematisiert und aus der Freudschen Zivilisationstheorie die kulturkritische Komponente des Weberschen Rationalisierungstheorems herausdestillieren will: „Freuds These vom Unbehagen in der Kultur [...] ist [...] umfassender noch, als er sie verstand; vor allem deshalb, weil unterdessen der zivilisatorische Drude, den er beobachtet hat, sich bis zum Unerträglichen vervielfachte. Damit haben auch die Tendenzen zur Explosion, auf die er aufmerksam machte, eine Gewalt angenommen, die er kaum absehen konnte. Das Unbehagen in der Kultur hat jedoch - was Freud nicht verkannte, wenn er dem audi nicht konkret nachging - seine soziale Seite. Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, daß man herauskann. Das verstärkt die Wut gegen die Zivilisation. Gewalttätig und irrational wird gegen sie aufbegehrt."203

202

203

Ebd., S. 686 f. Vgl. Adorno 1970 ff, Bd. 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, S. 384, mit Bezug auf Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant 1912, S. 15 ff.) in Gestalt des Motivs der Vergesellschaftung der Ungeselligen. Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 676 f.

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Adornos Bezugnahme auf Freud ist hier abermals höchst eigenwillig. Im Fall seiner These vom konstitutiven Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Barbarei, die er einer Umformung des Freudschen Denkmodells aus Totem und Tabu verdankte, hatte er Freud selber diese These unterstellt, aber die zu Totem und Tabu fuhrenden Spuren verwischt. Nun unternimmt er den nicht minder befremdlichen Versuch, Freud anerkennend zu attestieren, einerseits das Potential seiner eigenen Entdeckung eines Unbehagens in der Kultur nicht voll umrissen zu haben und andererseits einen soziologischen Aspekt dieser Problematik erkannt, aber nicht verfolgt zu haben. Die Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt wiederum ist eine Diagnose, die ihre Herkunft von Max Weber um so weniger verleugnen kann, als das Bild von dem netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang sich offensichtlich bemüht, Webers Bild vom stahlharten Gehäuse auf eine Weise zu variieren, die einen hohen Wiedererkennungseffekt garantiert. Mit diesem kulturkritischen Unbehagen Webers an der modernen Gesellschaft ergänzt Adorno das Freudsche Zivilisationsmodell. Als Resultat des Unbehagens in der Kultur hatte Freud in erster Linie eine antikulturelle Rebellion gefürchtet, die Regression zur Barbarei. Weber hingegen hatte stärker das vordergründig kulturell kompatible Funktionieren innerhalb der Kultur problematisiert, das als besinnungsloses Vegetieren von Fachmenschen ohne Geist und Genußmenschen ohne Herz zum Rückfall in mythische Verlockungen in Gestalt einer Wiederkehr alter Götter führen könne. Adorno kombiniert beides. Anders als Freud sieht er in der Barbarei keine Regression, sondern eine zivilisationspsychologische Folgerichtigkeit der ideologisierten gesellschaftlichen Naturbeherrschung. Die sekundäre Dialektisierung von Webers Rationalisierungstheorem (Münkler) erfolgt bei Adorno jedoch als Variation des Denkmodells von Totem und Tabu, daß am Beginn des Zivilisationsprozesses ein folgenreicher Mord stand. Damit distanziert sich Adorno von einer Theorie der Moderne, die Weber, ganz in Nietzsches Tradition stehend, vorschwebte. Nicht der moderne Sinn- und Wertverlust infolge des durch den Rationalisierungsprozeß begünstigten Todes Gottes interessiert Adorno, sondern die ab ovo ablaufende Dialektik rationalisierter Naturbeherrschung. Die Kombination dieser Theoreme besteht bei Adorno darin, den Weberschen Befund total werdender Bürokratisierung zivilisationstheoretisch als urgeschichtlich angelegte, folgerichtige Entwicklung menschlicher Vergesellschaftung kulturkritisch zu deuten. Die verwaltete Welt zeichnet sich demnach durch eine totale Uniformierung aller Lebensbereiche und schließlich auch der Individuen aus, die am Ende reflexionslos funktionieren und so die enthumanisierende Wirkung ihres Lebenszusammenhangs reproduzieren. „Es gibt gleichsam keine Auswegmöglichkeiten mehr, und deshalb tendieren die Menschen dazu, von sich aus nochmals alle jene Prozesse der Verwaltung in sich selber zu wiederholen, die ihnen von außen angetan werden. Jeder Einzelne wird gewissermaßen zum Verwaltungsfunktionär seiner selbst...1,204

Soziale Herrschaft erfolgt in ihren bedrohlichsten Ausprägungen gar nicht mehr durch unmittelbare Repression, sondern als soziale Integration. Indem sie auf den bereits von Nietzsche beschriebenen Mechanismus der Verinnerlichung aufbauen, können Herrschaftssysteme weitaus sicherer und langfristiger funktionieren als durch direkten oder 204

Adorno / Horkheimer / Kogon 1950, S. 124.

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indirekt manipulativen Zwang:205 „Die Gesellschaft ist integral, schon ehe sie totalitär regiert wird."206 Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß damit eine Reproduktion auch und gerade der sozial destruktiven Prozesse möglich wird bis hin zur planvoll, aber gefiähl- und reflexionslos, regelrecht unbeteiligt exekutierten Barbarei als dem tödlichsten aller soziokulturellen Probleme, die aus der Verfestigung bürokratischer Herrschaft zur verwalteten Welt, in der „Neutralisierung universal" ist,207 resultieren. Die von Freud geforderte Theorie der Pathologien kultureller Gemeinschaften entwirft Adorno also mit Max Webers Begriffen als Urgeschichte der gesellschaftlichen Uniformierung, derzufolge die entindividualisierende Tendenz zur total verwalteten Welt das Ende vom Lied jener Zivilisationsgeschichte der Subjektivität ist, deren Beginn die Dialektik der Atifklärung in Homers Odyssee verortet. Den Grund für den „Übergang der ganzen Welt, des ganzen Lebens, in ein System von Verwaltung, in eine bestimmte Art der Steuerung von oben"208 sieht Adorno, auch in soziologischer Hinsicht konsequent naturgeschichtlich denkend, in der zu urgeschichtlichen Zeiten verwilderten Selbsterhaltung: „Das Prinzip der Individualität war widerspruchsvoll von Anbeginn. Einmal ist es zur Individuation gar nicht wirklich gekommen. Die klassenmäßige Gestalt der Selbsterhaltung hat alle auf der Stufe bloßer Gattungswesen festgehalten "209

Die Desintegrationserscheinungen der modernen Gesellschaft erscheinen in dieser Perspektive als die entscheidenden Ausdrucksformen der urgeschichtlichen Katastrophe, als die sich die ideologisch legitimierte Naturbeherrschung für Adorno herausgestellt hat, nachdem er die Freudsche Überlegung vom zivilisatorisch konstitutiven Mord variiert und den mit Projektion und Verleugnung behafteten sinnlosen Mord am Tier problematisiert hat. Die Auflösung von Individualität in der verwalteten Welt ist insofern eine moderne Entwicklung, aber eine, die lediglich archaische Reflexe reproduziert: „In der Erkrankung des Individuums wirkt der geschärfte intellektuelle Apparat des Menschen gegen Menschen wieder als das blinde Feindwerkzeug der tierischen Vorzeit, als das bei der Gattung er gegen die ganze übrige Natur zu funktionieren nie aufgehört hat."210

205 206 207 208

Schmid Noerr 1992, S. 51. Adorno 1970ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 233. Adorno 1970 ff, Bd. 20: Vermischte Schriften, S. 704. Vgl. ebd., Bd. 9: Ästhetische Theorie, S. 339. Adorno / Horkheimer / Kogon 1950, S. 122 f. Adorno nimmt hier Bezug auf sein Ferdinand Kürnberger entlehntes Bonmot Das Leben lebt nicht, das zusammen mit seinem schlechthin zentralen, Hegels Phänomenologie des Geistes verkehrenden Motiv (Schnädelbach 1991, S. 57 f.), daß das Ganze das Unwahre sei (vgl. zur Entwicklung und Formulierung dieses Gedankens Horkheimer / Adorno 1944, S. 277; Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 55; Bd. 5: Drei Studien zu Hegel, S. 35, 61, 82; Bd. 6: Negative Dialektik, S. 145; Bd. 8, S. 586; Bd. 9: Ästhetische Theorie, S. 91; Bd. 20, S. 158), einer Überlegung Nietzsches stark ähnelt: „Womit kennzeichnet sich jede litterarische dicadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr. [...] Das Leben , die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Extuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. [... ] Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.-" (Nietzsche 1988, Bd. 6: Der Fall Wagner, S. 27).

209

Horkheimer /Adorno 1944, S. 182.

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Daß Adorno hiermit das urgeschichtlich angelegte Ende jener Individualität als Subjektivität thematisiert, deren Beginn er am Beispiel der odysseischen List als Grundschema der abendländischen Zivilisation exemplifiziert hatte, ist nur scheinbar widersprüchlich und bildet den letzten Mosaikstein seiner zivilisationstheoretischen Kulturkritik. Sie sollte nämlich nicht als narrative, geschichtsphilosophische Rekonstruktion der Zivilisationgeschichte in toto verstanden werden, sondern als theoretisches Strukturmodell211 für die zivilisationspsychologischen Prozesse, die durch jene ideologische Legitimierung der Naturbeherrschung evoziert werden, die als Dialektik der Rationalisierung sozialpathologische Konsequenzen zeitigt. Etwas anderes wäre unvereinbar mit Nietzsches Metakritik des Historischen und der Geschichtsphilosophie, der Adorno, wie erläutert, in Abwandlung folgt, indem er, entgegen der Verlockung des Historischen Materialismus, auf eine „Geschichte hinter der Geschichte in aufklärerischer Absicht" abzielt.212 Schon dadurch, daß es sich um grundlegende psychische Mechanismen handelt, deren fortwährende Präsenz und Wirkungsmacht im kollektiven Unbewußten Adorno vermutet, ist es ausgeschlossen, daß er ein Modell des Geschichtsverlaufs im engeren, geschichtsphilosophischen Sinn entwerfen will, was es tatsächlich widersprüchlich machen würde, in der zivilisatorischen Urgeschichte gleichzeitig die odysseische Begründung von Subjektivität und ihr durch Bürokratisierung besiegeltes Ende festzumachen. Adorno beschreibt eine Dialektik des grundlegenden zivilisatorischen Prinzips hemmungsloser Naturbeherrschung, die nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt, sondern sich stets aufs neue reproduziert. Wie schon bei Nietzsche schließt dies die Anerkennung eminenter historischer Unterschiede gerade auch hinsichtlich des Gewaltpotentials von Gesellschaftssystemen keineswegs aus. Adorno geht es nicht darum, die Dialektik der Aufklärung als äonenlangen historischen Verlaufsprozeß der Zivilisation zu rekonstruieren, sondern er will sie als ein den verschiedensten Kulturetappen innewohnendes Selbstgefährdungspotential kennzeichnen. Damit ist auch der Unterschied zu Freud in der - wie sich nur mehr gleichsam allegorisch sagen läßt- „historischen Verortung" der basalen, urzeitlichen Zivilisationsprinzipien und -mechanismen unbedeutend. Während Freud mit der Urhorde eine fürwahr archaische Urszene bemüht, rekurriert Adorno mit der Odyssee auf einen Text der abendländischen Hochkultur. Innerhalb eines theoretischen Strukturmodells fällt diese für eine historische Theorie maßgebliche Diskrepanz nicht ins Gewicht. Mit einem solchen Strukturmodell des Zivilisatims/wräz/ps - nicht: des Zivilisationsverlattfs - und seiner kollektiv unbewußten psychischen Mechanismen verdrängt Adorno nicht etwa die soziologische Perspektive, sondern reflektiert, durchaus auch auf Marxsche Kategorien zurückgreifend, gesellschaftliche Abläufe und Kernelemente als Ausdruck der verwilderten Selbsterhaltung'. „Vermittelt durchs Prinzip des Selbst ist die gesellschaftliche Arbeit jedes Einzelnen in der bürgerlichen Wirtschaft; sie soll den einen das vermehrte Kapital, den anderen die Kraft zur Mehr-

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212

Ebd., S. 220. Schnädelbach 1991, S. 59, zieht zwischen diesen beiden Alternativen die Grenze, an der sich die Aktualität der Dialektik der Aufklärung entscheidet, ist aber skeptischer, daß Adorno diese Gratwanderung erfolgreich bewältigt hat, als ich es hier zwecks Austestung der Plausibilitäten zivilisationstheoretischer Kulturkritik heuristisch unterstelle. Schnädelbach 1992, S. 234 ff.

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arbeit zurückgeben. Je weiter aber der Prozeß der Selbsterhaltung durch bürgerliche Arbeitsteilung geleistet wird, um so mehr erzwingt α die Selbstentäußerung der Individuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben."213

Die Anpassung der Individuen an die kalte Rationalität der verwalteten Welt als elementare Bedingung fur planvollen barbarischen Mord im gesellschaftlichen Maßstab bei gleichzeitiger formaler Aufrechterhaltung des Kulturzustands, erhält somit eine soziologische und sozialpsychologische Konkretisierung. Adorno betont einen „Vorrang der Gesellschaft über die Psychologie", sieht diesen jedoch gerade bedingt durch kollektiv unbewußte Prozesse,214 so daß stets zu berücksichtigen bleibt, daß es bei Adorno einen zwar nicht terminologisch ausgewiesenen, jedoch der Sache nach vorhandenen Unterschied gibt zwischen Individual- und Sozialpsychologie einerseits und seinen eigenwilligen Variationen Freudscher Theoreme zu Elementen einer Zivilisationspsychologie andererseits. „Nur indem der Prozeß, der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert. Seine Durchorganisation verlangt den Zusammenschluß von Toten. Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: [... ] Selbsterhaltung verliert ihr Selbst. [... ] Nur eine Menschheit, der der Tod so gleichgültig geworden ist wie ihre Mitglieder: eine die sich selber starb, kann ihn administrativ über Ungezählte verhängen."215

Die Reflexion gesellschaftlicher Prozesse mittels der auf Marx verweisenden Kategorien der Arbeit, des Tauschverhältnisses, der Produktionsverhältnisse und des Kapitals in diesem Zusammenhang verhindert gerade jegliches orthodoxe oder affirmative Anknüpfen an diese Begriffe. Arbeit ist für Adorno „das verselbständigte und freilich dann seinem Wissen von sich selbst entfremdete Prinzip der Naturbeherrschung", und entgegen der Marxschen Hoffnung auf sozialen Fortschritt durch eine Neuorganisation der gesellschaftlichen Arbeit setzt Adorno auf deren Einsparung:,JE ine der Arbeit ledige Menschheit wäre der Herrschaft ledig."216 Diese Position grenzt ihn nicht nur von Marx und Engels ab, sondern ebenso quasi zur anderen Seite, in Richtung beispielsweise einer regressiven Technikkritik, wie sie bei Heidegger anzutreffen ist217 und heute aus ganz anderen politischen Motiven mitunter eigentümliche Neuauflagen erfährt.218 Die vermeintliche Unkontrollierbarkeit entfesselter Technik als charakteristisches Problem der Moderne ist gerade keines, das Adornos auf das Trübe der Vorgeschichte gerichtetem Ansatz auf den Nägeln brennt: „Ob die moderne Technik der Menschheit schließlich zum Heil oder Unheil gereicht, das liegt nicht an den Technikern, nicht einmal an der Technik selber, sondern an dem Gebrauch, den die Gesell-

213 214 215 216

217 218

Horkheimer /Adorno 1944, S. 52. Adorno 1970 ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 89, 87. Adorno 1970ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 260 ff. Adomo 1970ff, Bd. 5: Drei Studien zu Hegel, S. 27, 30. Martin Jay berichtet, Adorno habe in einem persönlichen Gespräch mit ihm Marx vorgeworfen, dieser habe die Welt in eine gigantische Arbeitsanstalt verwandeln wollen (Jay 1984, S. 86: „Marx himself according to Adorno, had wanted to turn the world into a ,giant workhouse'".). Vgl. Heidegger 1994, S. 27, 33, 62. Vgl. etwa Breuer 1992.

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schaft von ihr macht. [...] Die Fragen, um die wir uns hier bemühen, reichen ins Urgestein der Gesellschaft".219

Vielmehr sieht er ein Denken, das Technik zum Grundproblem hypostasiert, verschwistert mit deren unreflektiert zweckrationaler Verwendung, die sie vom Mittel zum Zweck und damit zum Instrument der Barbarei werden läßt: „Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten und darüber zu vergessen, daß sie der verlängerte Arm der Menschen ist. Die Mittel - und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch - werden fetischisiert, weil die Zwecke - ein menschenwürdiges Leben - verdeckt und vom Bewußtsein der Menschen abgeschnitten sind. [...] Keineswegs weiß man bestimmt, [...] wo die Schwelle ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener Überwertung, die schließlich dazu führt, daß einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergißt, was in Auschwitz mit ihnen geschieht."220

Im Rahmen von Adornos zivilisationstheoretischer Kulturkritik ist Gesellschaft mithin zu einem reinen „Funktionsbegriff' geworden.221 Gerade dies ermöglicht aber gesellschaftstheoretische Einsichten in ihre Funktionslogik und deutet daher nicht auf die Antiquiertheit, sondern auf die Aktualität seiner Überlegungen hin.222

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Adorno 1970 ff., Bd. 20: Vermischte Schriften, S. 316 f. Und ganz ironisch heißt es in der Ästhetischen Theorie (Adorno 1970 ff., Bd. 9, S. 107): „Technik, die, nach einem letztlich der bürgerlichen Sexualmoral entlehnten Schema, Natur soll geschändet haben, wäre unter veränderten Produktionsverhältnissen ebenso fähig, ihr beizustehen". Adorno 1970ff, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 686. Müller-Doohm 1996, S. 193. Vgl. Breuer 1992, S. 65 ff., der in einem instruktiven Vergleich zwischen Adorno und Luhmann als den „beiden avanciertesten Sozialtheorien der Gegenwart" (S. 103) die Systemtheorie allerdings etwas zu sehr aus dem Bemühen um eine Rehabilitierung der Kritischen Theorie heraus betrachtet (ebd., S. 96, 102).

6. Sozial-ökologische Perspektiven

Die theoriegeschichtliche Rekonstruktion der Entwicklungslinien zivilisationstheoretischer Kulturkritik von Nietzsche, Freud und Max Weber zu Theodor W. Adorno hat gezeigt, daß Adorno sein Theorem eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen Naturbeherrschung und Barbarei in logischer Abhängigkeit von Theorieelementen Nietzsches, Freuds und Webers entwickelt. Deren ursprüngliche Problematisierungen respektive Denkansätze arrangiert Adorno neu und radikalisiert sie auf diese Weise, wobei seine eigenen Thesen die Gültigkeit der Überlegungen seiner theoriegeschichtlichen Vorläufer voraussetzen. Nietzsches, Freuds und Webers Theorien enthalten die Prämissen, „deren Wahrheitsgeltung als notwendige Bedingung für die Plausibilität" von Adornos Ansatz fungiert.1 Eine solche Prämisse, die sowohl methodische wie auch inhaltliche Bedeutung hat, bildet zunächst Nietzsches Entdeckung des Willens zur Macht, der den innersten Antrieb jedes Willens zur Wahrheit und damit auch des Interesses an der Historie bestimmt. Nietzsche ist danach genötigt, mit einer Metaperspektive zu arbeiten, die er in der genealogischen Perspektive findet, welche es ihm ermöglicht, eine Geschichte der Geschichte in den Blick zu nehmen. Damit ist die herkömmliche Kulturgeschichte transzendiert. Für Nietzsche ist „alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen",2 und so unterliegt seiner kulturkritischen Theorie der Moderne eine zivilisationstheoretische Basis. Diesem kulturtheoretischen Paradigmenwechsel folgt Adorno, der ebenfalls „die immer noch aktuelle Urgeschichte" als „Hintergrundgeschichte"3 rekonstruieren will. Dabei rekurriert er auf Freuds Totem und Tabu, demzufolge sich die Zivilisation einem psychologisch folgenreichen Mord der Urhorde am Urvater verdankt. Diese Hypothese variiert Adorno, indem er einen anderen zivilisationspsychologisch folgenreichen Mord problematisiert, und zwar denjenigen des seine Naturbeherrschung zweckrational betreibenden und gefühllos ideologisch legitimierenden Menschen am Tier, der infolge psychischer Mechanismen, die Adorno ebenfalls von Freud entlehnt, ein destruktives Gewaltpotential im zwischenmenschlichen Umgang begünstigen soll. Dieser Sozialmythos Adornos (Schnädelbach) steht somit in logischer Abhängigkeit von Freuds wissenschaftlichem Mythus. Eine logische Abhängigkeit Adornos von Nietzsche und Max Weber besteht ferner hinsichtlich des Befundes einer Dialektik der Aufklärung. Adorno greift auf dieses für 1 0akesl990, S. 23. 2 Nietzsche 1988, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, S. 24 f. 3 Schnädelbach 1992, S. 235.

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6. Sozial-ökologische Perspektiven

Nietzsche zentrale Motiv zurück, das er zugleich radikalisiert, indem er eine Dialektik der Aufklärung im Mythos thematisiert. Dadurch wird die transhistorische Perspektive Nietzsches verstärkt, weil kein historischer Fer/au/beschrieben wird, sondern ein Strukturmodell entworfen wird, das erklärt, auf welche Weise Rationalisierungen des Weltbildes ablaufen und wirken. Die von Nietzsche und Weber erörterte moderne, nihilistische Wertund Sinnkrise infolge der Entzauberung der Welt, des Todes Gottes, setzt Adorno dabei als gültig voraus, ohne sie im einzelnen nochmals aufzugreifen. Überhaupt interessiert ihn, genau wie Nietzsche, die Dialektik der Auiklärung nicht primär aufgrund einer unmittelbar vernunftkritischen Motivation, sondern vor allem als Dialektik der Rationalisierung. Adorno übernimmt Webers Gedanken einer Rationalisierung des Tabu und reformuliert ihn im Kontext seiner Transformation von Totem und Tabu. Entgegen Nietzsche, der die zivilisatorische Zähmimg der inneren Natur der Bestie Mensch geißelte, und entgegen Freud, der sich kulturell positive Wirkungen davon versprach, daß die Menschen gemeinsam die äußere Natur unterwerfen, problematisiert Adorno die Beherrschung der äußeren Natur. In Anlehnung an die Hypothese aus Totem und Tabu geht auch Adorno davon aus, daß am Anfang der Mord war, aber er betont nicht, daß der Mord am Urvater das zivilisatorische Gewaltverbot motiviert, sondern meint, daß der ideologisch legitimierte Mord an der nicht-menschlichen Kreatur das kulturelle Gewalttabu zivilisationspsychologisch konterkariert. Aus der von Freud beschriebenen Tabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt infolge der psychischen Konsequenzen des Mordes am Urvater macht Adorno eine Enttabuisierung zwischenmenschlicher Gewalt aufgrund der psychischen Konsequenzen jener Tötung von Tieren, die das rudimentäre Bewußtsein ihrer Problematik durch ideologische Selbstermächtigung zur menschlichen Weltherrschaft verleugnet. Die Problematisierung einer solchen Rationalisierung von Tabuvorstellungen bildet das zivilisationspsychologisch enorm verfremdete, aber gleichwohl fundamentale Motiv Webers, das Adorno in seine Freud-Rezeption einbezieht. Hinsichtlich der soziologischen Konkretisierung dieser Überlegungen befindet sich Adornos theoretisches Strukturmodell in logischer Abhängigkeit von Webers Vision einer verwalteten Welt, die er als gültig voraussetzt und lediglich, wiederum auf Motive Nietzsches und Freuds zurückgreifend, als Symptom der fortdauernden Urgeschichte und als Bedingung des durch Auschwitz repräsentierten Tiefpunkts zwischenmenschlicher Barbarei verschärfend uminterpretiert. Angesichts dieser logischen Abhängigkeiten Adornos von Theorieelementen Nietzsches, Freuds und Webers sind einer abschließenden Definition zivilisationstheoretischer Kulturkritik enge Grenzen gesetzt. Insofern sie sich in einer Entwicklungslinie schrittweise ausdifferenziert, gilt für sie vielmehr Nietzsches Wort, daß sich nur definieren lasse, was keine Geschichte habe.4 Ein einheitliches Kennzeichen dieses Denkansatzes besteht aber darin, soziokulturelle Pathologien durch Rekurs auf urzeitliche Konstanten zivilisatorischer Entwicklung zu deuten und nicht etwa politisch-ökonomische Umstände für allein ausschlaggebend zu halten, sondern eine Makrotheorie zu entwerfen, die einen Deutungsrahmen fiir historisch spezifische Phänomene im politischen oder ökonomischen Bereich bildet. Wie am Beispiel Nietzsches und Webers zu sehen ist, bildet diese Perspektive keineswegs einen unvereinbaren Gegensatz zu einer Theorie der Moderne, zielt aber eben

4 Nietzsche 1988, Bd. 5: Zur Genealogie der Moral, S. 317.

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auch nicht wesentlich darauf ab.5 Demnach ist es einleuchtend, daß aktionistische, revolutionäre Konsequenzen nicht zum Repertoire dieser Denkbewegung gehören. Wenn es sich bei zentralen soziokulturellen Problemen um urzeitliche Reflexe handelt, ist es sinnlos, Abhilfe von einer Änderung des Regierungs- oder Wirtschaftssystems zu erwarten. Sowohl Nietzsche als auch Freud und Max Weber hätten daher zweifellos den auf die studentische Protestbewegung gemünzten Satz Adornos unterschrieben, Philosophie könne „von sich aus keine unmittelbaren Maßnahmen oder Änderungen empfehlen. Sie ändert gerade, indem sie Theorie bleibt."6 Diese Haltung ergibt sich folgerichtig aus den Entstehungsbedingungen zivilisationstheoretischer Kulturkritik. Nietzsche unternimmt den Schritt in die spekulative Zivilisationstheorie infolge seines Bedürfnisses, die überkommenen kulturtheoretischen Deutungsmuster durch eine transhistorische Metaperspektive zu ersetzen, mit der die im aktiven Nihilismus gipfelnden Probleme der rationalisierten sozialen Existenz des Menschen erklärt werden sollen. Unter Rückgriff auf Theoreme Freuds und Webers verstärkt Adorno diese transhistorische Perspektive Nietzsches, indem er ein Strukturmodell der Dialektik der Rationalisierung entwirft, in dessen Rahmen partielle historische Erklärungen der Probleme von Naturbeherrschung und Barbarei zwar ihr Recht behalten, jedoch stets auf die Hypothese eines in der menschlichen Urgeschichte angelegten zivilisationspsychologischen Zusammenhangs zwischen beiden Phänomenen zu beziehen sind. Eine Rückkehr zu weniger fundamentalen kulturtheoretischen beziehungsweise zivilisationskritischen Ansätzen ist hiernach ebenso ausgeschlossen wie das Engagement für sozialrevolutionäre Ziele, die in der Konzentration auf vordergründige politische oder sozioökonomische Fragen die problematischen zivilisationspsychologischen Mechanismen perpetuieren. Das vorstehend rekonstruierte Theorem Adornos, es bestehe ein konstitutiver zivilisationspsychologischer Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Barbarei, kann naheliegenderweise keiner empirischen Uberprüfung unterzogen, sondern muß in abstracto auf seine Plausibilität hin überprüft werden.7 Kaum bestreitbar dürfte aber sein, daß Adornos Überlegung eine gewisse Evidenzvermutung beanspruchen kann, denn wie Freuds Spekulation in Totem und Tabu gewinnt auch Adornos Hypothese ihre argumentative Kraft „gerade dadurch, daß sie einer Reihenfolge von Konsequenzen auch logisch einen Ursprung und einen Anfang zuweist, der im nachhinein, im Rückblick auf eine Geschichte

5 Irreführend ist es demnach, Adorno die Problematisierung einer Dialektik der Moderne (vgl. Brunkhorst 1990) zu unterstellen. 6 Adorno 1970 ff, Bd. 20: Vermischte Schriften, S. 408. Vgl. Freud 1974 ff., Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 608; Bd. 9: Die Zukunft einer Illusion, S. 141. Für Webers Objektivitätsideal versteht sich diese Zurückhaltung von selbst, und bei Nietzsche legt sie neben den zivilisationstheoretischen Gründen auch sein intellektueller Aristokratismus nahe. 7 Indem Hartmut und Gernot Böhme gleichsam in der kulturhistorischen Tiefendimension am Beispiel der höfischen Gesellschaft nachweisen, „daß Naturbeherrschung aus sozialer Herrschaft herstammt" (Böhme / Böhme 1983, S. 42), kehren sie die Prioritätsfrage um. Dies widerspricht jedoch nicht der transhistorischen, auf ein zivilisationspsychologisches Strukturmodell abzielenden Überlegung Adornos, sondern bestätigt vielmehr komplementär das Interesse an möglichen Zusammenhängen zwischen Naturbeherrschung und politisch-sozialen Pathologien.

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mit zuweilen katastrophaler Ereignishaftigkeit, stimmig genug wirkt."8 Adornos Thesen „erklären viel, auch ohne immer gleich die empirische Absicherung parat zu haben."9 Unmittelbar aktuelle Relevanz besitzen Adornos Überlegungen angesichts der barbarischen Gewaltexzesse im ehemaligen Jugoslawien, die - ganz zu schweigen von den seit Jahrzehnten zur Randnotiz verkommenen Genoziden und alltäglichen Horrorereignissen überall auf der Welt - seit Beginn der neunziger Jahre Europa erschütterten. Die Irritation des Abendlandes, das sich auf der Bahn historischen Fortschritts zum ewigen Frieden wähnte, zumindest aber in einer von Frieden, Vernunft und Kooperationsbereitschaft gekennzeichneten neuen Weltordnung (George Bush), artikuliert sich in schillernden Reflexionen über Das Böse, gegenüber deren nicht nur spekulativen, sondern mitunter unausgesprochen metaphysischen Neigungen die in der vorliegenden Arbeit untersuchten zivilisationstheoretischen Spekulationen geradezu szientistisch seriös erscheinen.10 Gleichzeitig wird Adornos Begriff der Barbarei, mit dem er „das Äußerste: wahnhaftes Vorurteil, Unterdrückung, Völkermord und Folter" bezeichnet,11 nüchtern deskriptiv in die Sozialwissenschaften reintegriert. Der Terminus Barbarei beschreibt danach „das Absterben einer Gesittung" und den „unter Umständen ganz unspektakulärefn] Verlust nominell vielleicht durchaus weiterhin ,vorhandener' Normen an operativer Geltungskraft im tatsächlichen Leben der Gesellschaft."12 Zumeist aber überwiegt eine evolutionistische Perspektive, derzufolge es sich bei dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien wie auch bei extremistischen, rassistischen oder vandalistischen Gewaltexzessen in demokratisch verfaßten europäischen Staaten um unzeitgemäße Rückfälle in grundsätzlich überwundene historische Entwicklungsstufen handeln soll. Solches Denken motiviert zu einem vorgeblich pragmatischen Problem-Management, das es sich zur Aufgabe macht, lediglich die Störfälle des vermeintlich linear fortschreitenden und nur gelegentlich massiv gestörten Zivilisationsprozesses einzuhegen. Dieser geschichtsphilosophische Verdrängungsmechanismus firmiert unter dem Begriffpolitischer Realismus. Doch - mit einem Wort Adornos: ,Perlei Realismus ist unrealistisch"}3 Dem ungeachtet permanenter menschlicher Gewaltexzesse fortbestehenden Geschichtsoptimismus als der Grundlage eines politischen Realismus" hat Wolfgang Sofsky in seinem Traktat über die Gewalt ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: „Die Beteuerung, in einem Zeitalter sittlichen Fortschritts zu leben, zeugt nicht nur von Vermessenheit, sondern auch von historischer Verblendung. Sie gehört zur Mythologie der modernen Zivilisation."14 Angesichts der vielbeklagten Hilflosigkeit sogar der Vereinten Nationen gegenüber fundamentalen Verletzungen des von ihnen kodifizierten Gewaltverbots erweist sich die verbreitete Meinung, theoretische Reflexion sei eine unzeitgemäße Luxuserscheinung, wenn praktisches Handeln gefordert ist, als ein geradezu fetales Mißverständnis seitens der politisch Handelnden, deren Aktionen ohne Verständnis tieferer Problemzusammenhänge zwangsläufig wirkungslos bleiben. Die Alternative zu der sich als pragmatisch und ideologiefrei rühmenden „gängigen politischen 8 9 10 11 12 13 14

Heim 1993, S. 364 f., mit Bezug auf Freuds Totem und Tabu. Schnädelbach 1991, S. 58. Vgl. Colpe / Schmidt-Biggemann 1993; Kolakowski 1997; Safranski 1997; Watson 1997. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 672 f. Offe 1996, S. 267. Adorno 1970 ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 10 [Hervorhebung von mir, K.F.]. Sofsky 1996, S. 223.

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Praxis des Sichdurchwursteins"15 besteht dann aber gerade nicht in radikalen Veränderungspostulaten,16 sondern in einer überfälligen Reflexion der kognitiven, psychologischen und ethischen Grundbedingungen des unhinterfragt affirmierten und in diesem Sinne zur Ideologie gewordenen Zivilisationsprozesses.17 Es erscheint daher von Interesse, Adornos Theorem eines zivilisationspsychologischen Zusammenhangs zwischen fortschreitender Naturzerstörung und zwischenmenschlichen Gewaltexzessen als Erklärungsangebot ernst zu nehmen, wenn man es, einem Wort Herbert Schnädelbachs zufolge, in einen „Modus des Verdachts" übersetzt und nicht als „Großnarration" an der falschen Stelle ernst nimmt. Gerade wenn man nicht an prophetische Gaben glaubt, sondern zutreffende Vorhersagen lediglich für einen Ausdruck von Urteilsvermögen hält, muß es nachdenklich machen, daß eine düstere Prognose, die Adorno vor rund fünfzig Jahren anläßlich der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Rahmen der gerade gegründeten Vereinten Nationen gestellt hat, eine Erfahrung der neunziger Jahre bündelt: „Durch die Erhebung [des Genozids, K.F.] zum Begriff ist die Möglichkeit [eines Genozids, K.F.] gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt."18

Auch für den ökologischen Diskurs im engeren Sinne ist Adornos Denkansatz innovativ. Denn nicht nur die Deutungsversuche zwischenmenschlicher Barbarei sind bislang un-

15 Schlüter-Knauer 1995 b, S. 82. 16 Vgl. Adorno 1970 ff., Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 24: „Seitdem jedes avancierte wirtschaftspolitische Gremium es für selbstverständlich halt, daß es darauf ankomme, die Welt zu verändern, und es für Allotria erachtet, sie zu interpretieren, M t es schwer, die Thesen gegen Feuerbach schlicht zu unterstellen." 17 Wie wenig angeblich zentrale westliche Kulturerrungenschaften im täglichen Handeln berücksichtigt werden, erwies sich symptomatisch im Fall der Rinderkrankheit BSE, als die Gattimg Mensch, die das Problem verursacht hatte, indem sie im Zuge industrialisierter Tierproduktion Pflanzenfresser mit Tiermehl gefüttert hatte, zum eigenen Schutz die prophylaktische Ausrottung aller potentiell infizierten und damit audi vieler gesunder Tiere erwog, ohne audi nur auf den Gedanken zu kommen, daß dies ein ethisches Problem sein könnte, dessen konsequente Ignorierung die Glaubwürdigkeit jeglichen moralischen Argumentierens beschädigt (vgl. Ross 1996). Ganz zu schweigen von der generellen, Ignoranten Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber den durch exzessive anthropogene Umweltverschmutzung verursachten Leiden anderer Lebewesen, drängen sich weitere konkrete Beispiele für den Mitleid- und verantwortungslosen Umgang mit Fauna und Flora in so großer Zahl auf, von tierquälerischen Schlachtvieh-Transporten bis hin zur quälerischen Haltung und Tötung von Tieren aufgrund von Aberglauben an erotisierende Wirkungen bestimmter Körpersubstanzen, daß jede weitere Vertiefung dieser Problematik unterbleiben kann. 18 Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 287. Angesichts des (berechtigten) offensichtlichen Unwillens, die der gewaltsamen NATO-Intervention im Kosovo angeblich zugrundeliegenden politischmoralischen Prinzipien zukünftig auch in anderen Krisenregionen unbedingt durchzusetzen, wird der Tenor dieses zum Zeitpunkt seiner Einbeziehung auf die Ereignisse beispielsweise in Bosnien und Ruanda gemünzten Zitates durch die danach eingetretenen Ereignisse keineswegs widerlegt.

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befriedigend, wie der mystifizierende Rekurs auf „das Böse" zeigt, sondern auch die ökologische Diskussion ist bis dato über die Unterscheidung zwischen anthropozentrischer und biozentrischer Perspektive nicht entscheidend hinausgekommen. Während der anthropozentrische Ansatz ganz auf die Beeinträchtigung des Menschen durch Umweltschäden abstellt und so verstärkten Umweltschutz mit unmittelbarem menschlichen Eigeninteresse begründet, reklamiert die biozentrische Perspektive ein von menschlichen Interessen unabhängiges Lebens- und Unversehrtheitsrecht nicht-menschlicher Lebewesen oder gar des Abstraktums Umwelt als ganzer. So wenig überzeugend der ökologische Naturalismus des Biozentrismus ist, so offensichtlich sind die Unzulänglichkeiten anthropozentrischen Denkens, sobald beispielsweise für das Überleben bedrohter Tierarten Argumente vorgebracht werden sollen, die über den bekanntlich äußerst fragilen, ästhetischen Gefallen der Menschen hinausgehen. Mit Adornos Theorie lassen sich diese konzeptionellen Sackgassen vermeiden. Ihr zufolge gibt es ein unmittelbares menschliches Interesse an rücksichtsvoller Behandlung der belebten, nicht-menschlichen Umwelt, das nicht, wie in der biozentrischen Umwelttheorie, rein altruistischer Art ist, sondern aus der Befürchtung resultiert, daß die Menschen dauerhaft unfähig zu friedlichem und humanem Verhalten untereinander bleiben werden, solange sie nicht-menschliche Kreaturen in einer Weise behandeln, die nicht nur, wie bereits Nietzsche betonte, der Menschlichkeitsidee zutiefst widerspricht,19 sondern kollektiv unbewußte psychische Mechanismen aktiviert, die zur trotzigen Wiederholung der Grausamkeiten an Menschen führen können.20 Tier- und Naturschutz erscheinen hiernach - cum grano salis - geradezu als zivilisationspsychologische Bedingungsfaktoren der menschlichen Sozialexistenz und aus unmittelbarem menschlichen Eigeninteresse angezeigt. Insofern bestätigt Adorno das Interesse der biozentrischen Umwelttheorie an Naturschutz gegenüber reinem Umweltschutz, ohne aber einem ökologischen Naturalismus zu verfallen.21 Gerade die Behauptung eines zivilisationspsychologischen Zusammenhangs zwischen Naturbeherrschung und exzessiver zwischenmenschlicher Gewalt, auf den ersten Blick das Irritierendste an Adornos Theorie, unterläuft somit die unbefriedigende Argumentation, das Ziel des Umwelt- und Naturschutzes müsse gegen andere Ziele, wie zum Beispiel die Förderung unterentwickelter Gesellschaften abgewogen werden, weil eine gleichzeitige Verfolgung beider Anliegen oftmals schwierig sei. Umgekehrt kann Adorno auch nicht auf die Rolle eines rein ökologischen Propheten reduziert werden, für die er denkbar ungeeignet ist.22 Anders als

19 Nietzsche 1988, Bd. 3: Morgenröthe, S. 234: „Ein Thier, welches reden konnte, sagte: .Menschlichkeit ist ein Vorurtheil, an dem wenigstens wir Thiere nicht leiden.'" 20 Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 116 f. Für psychopathologische Fälle ist ein entsprechender Mechanismus mittlerweile nachgewiesen: Kriminologen haben beobachtet, daß Serienmörder ihre Wut meist zunächst an Tieren auslassen. Aufgrund dieser Erkenntnis hat der Staat Kalifornien kürzlich ein Gesetz verabschiedet, nach dem verurteilte Tierquäler zu psychatrischer Behandlung gezwungen werden können, vgl. F.A.Z. 1998. 21 „Der Naturschutzpark rettet nicht die Natur und stellt sich über kurz oder lang im gesellschaftlichen Getriebe bloß als Verkehrshindernis heraus." (Adorno 1970 ff, Bd. 8: Soziologische Schriften, S. 454. Vgl. Horkheimer / Adorno 1944, S. 283 f. sowie Adorno 1970 ff, Bd. 4: Minima Moralia, S. 128 ff). 22 Vgl. zu Möglichkeiten und Grenzen einer ökologischen Inanspruchnahme der Kritischen Theorie vor allem Fetscher 1986, S. 236 ff; Jay 1984; Schmid Noerr 1990, S. 18, 75 ff; Schweppenhäuser 1996, S. 102.

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Horkheimer interessiert ihn nicht das Schicksal der Natur oder der Tierwelt als solcher, sondern Adorno beschäftigt die Vermutung, daß die hemmungslose Zerstörungswut des Menschen auf der Erde vor allem aufgrund der psychologischen Wirkungen der Legitimationsideologien, mit denen er sich beruhigt und zu weiterer Naturbeherrschung antreibt, massive sozialpathologische Auswirkungen bis hin zur Barbarei hat. Diese Hypothese läßt sich als sozial-ökologisch kennzeichnen, weil sie betont, daß das ökologische Verhalten des Menschen von seinem sozialen Verhalten nicht zu trennen ist.23 Die Konsequenzen, die sich aus Adornos Sozialmythos (Schnädelbach) vom konstitutiven Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Barbarei ergeben, sind mithin auf den ersten Blick bescheiden, tatsächlich aber äußerst weitreichend, denn sie betreffen das kulturelle Selbstverständnis. Adorno problematisiert gerade nicht die Ausübung der Naturbeherrschung, die sich nur um den Preis romantisierender Utopien von einer irrealen paradiesischen Versöhnung zwischen Mensch und Tier anfechten ließe. Die sozialpathologischen Konsequenzen, die er im Blick hat, verortet er vielmehr in der ideologischen Selbstermächtigung des Menschen zu einer schlechthin grenzenlosen Naturbeherrschung,24 so daß die vorrangige Aufgabe in einer Kritik der apologetischen Vernunft (Carsten Schlüter-Knauer) als Kritik an einem in aller Selbstherrlichkeit autodestruktiven Kulturverständnis zu sehen ist. Adornos Einsicht, daß Philosophie gerade ändert, indem sie Theorie bleibt, bewahrheitete sich in diesem Fall. Beispielsweise würde es sich im Bereich der Entwicklungspolitik anstelle der ebenso gängigen wie offensichtlich illusionären Hoflhung auf konstruktive gesellschaftliche Entwicklung infolge fortschreitender tech-

23

Vgl. zu dem bereits mehrfach „vorbelasteten" Begriff Sozialökologie, der hier bewußt mit Bindestrichen verwendet wird, um den Zusammenhang zweier eigenständiger Problemfelder anzuzeigen, Hassenpflug 1993. 24 Bezüglich Claude Levi-Strauss spricht Thum 1990 von zivilisationskritischer Kulturtheorie, was sowohl Nähe als auch Unterschiede zu zivilisationstheoretischer Kulturkritik signalisiert. Anders als Adorno tendiert Levi-Strauss zu ZivilisationslaiHik im Sinne der Anpreisung archaischer Lebensweisen; vgl. aber die frappante, große Nähe zu Adornos Überlegung in Levi-Strauss 1980, S. 247 f., 250: „Wogegen ich rebelliere und was ich für schädlich halte, das ist jener schamlose Humanismus, der teils aus der jüdischchristlichen Tradition, teils aus der Renaissance und dem Cartesianismus stammt und den Menschen zum Gebieter, zum absoluten Herrn der Schöpfimg macht. Ich glaube, all die Tragödien, die wir erlebt haben, erst mit dem Kolonialismus, dann mit dem Faschismus und zuletzt mit den Vernichtungslagern, stehen nicht im Gegensatz oder im Widerspruch zu dem angeblichen Humanismus in der Form, wie wir ihn seit mehreren Jahrhunderten praktizieren, sondern sie sind [...] fast seine natürliche Folge. Denn es läuft ja auf ein und dasselbe hinaus, wenn der Mensch erst die Grenze seiner Vorrechte zwischen sich und den anderen Arten zieht und dann diese ins Innere der eigenen Spezies verschiebt, bestimmte Kategorien als allein wahrhaft menschlich anerkennt, im Unterschied zu anderen Kategorien, die als minderwertig eingestuft werden, nach demselben Schema wie bei der Unterscheidung zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen. Das ist die wahre Erbsünde; sie treibt die Menschheit zur Selbstzerstörung. Die Achtung des Menschen vor dem Menschen kann sich nicht auf eine besondere Würde gründen, die die Menschheit sich selbst zuschreibt, denn dann kann stets ein Teil der Menschheit behaupten, diese Würde in höherem Maß zu besitzen als die übrigen. Man maßte vielmehr von einer prinzipiellen Demut ausgehen: Wenn der Mensch andere Lebensformen achtet, schützt er sich vor der Gefahr, nicht alle menschlichen Lebensformen gleichermaßen zu achten. [...] Sorge um den Menschen ohne gleichzeitige solidarische Sorge um alle anderen Lebensformen, das bedeutet, ob man es will oder nicht, die Menschheit zur Selbstunterdrückung und Selbstausbeutung zu führen." Vgl. Honneth 1989, S. 390; Gronemeyer 1989 m.w.N.

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nischer Naturbeherrschung anbieten, ein sorgsames, rücksichtsvolles Naturverhältnis als Bedingung gerade auch für eine beständige gesellschaftliche Kultivierung anzustreben.25 Bedenkt man diese Aktualität der zivilisationstheoretischen Kulturkritik Adornos in sozial-ökologischer Hinsicht, so erscheint es jedenfalls angebracht, jenseits der falschen Alternative zwischen einer orthodoxen und einer bloß historisierenden Rezeption auf sein Werk jene Maxime anzuwenden, die er selber in den Drei Studien zu Hegel formulierte: „Im Nachleben der philosophischen Werke, der Entfaltung ihres Gehalts, befreit sich stufenweise, was sie ausdrücken, von dem, was sie bloß dachten."26

25

Vergesellschaftung der Natur ist nach Adorno jedenfalls nicht als soziale Evolution der praktischen Vernunft (Eder 1988) zu denken. Vgl. Leiss 1994. 26 Adorno 1970 ff., Bd. 5: Drei Studien zu Hegel, S. 125.

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8. Register

Ackermann, Peter 109 Adorno, Theodor W. 9ff; 29; 36; 38; 42; 50; 63f; 74f; 87; 96; 99f; 15Iff Albrow, Martin 75 Alexander, Jeffrey C. 99 Anders, Günther 23; 37 Assoun, Paul-Laurent 20; 51 Bacon, Francis 117 Baier, Horst 39; 41; 95 Baier, Lothar 20 Baßler, Wolfgang 45 Beier, Christel 138 Benhabib, Seyla 17; 143 Benjamin, Jessica 20 Benjamin, Walter 17; 22; 64; 87 Beyer, Uwe 40 Bismarck, Otto Fürst von 25 Blumenberg, Hans 29f Bocock, Robert 75; 84; 90; 100 Böhme, Hartmut 10; 119; 133; 139; 153 Böhme, Gernot 10; 119; 133; 141; 153 Bogner, Artur 21; 23; 96; 140 Bollenbeck, Georg llf; 51 Bolz, Norbert 112; 141 Bonß, Wolfgang 20 Boswell, James 12 Bourdieu, Pierre 128 Breidecker, Volker 140 Breuer, Joseph 78 Breuer, Stefan 22; 84; 96; 100; 103; 137; 143; 149f Brubaker, Rogers 100 Bronkhorst, Hauke 153 Buck-Morss, Susan 22; 103; 137 Burger, Hotimir 123 Bush, George 154

Camic, Charles 75 Cavalli, Luciano 75 Cerutti, Furio 104 Choluj, Bozena 75; 77f Colpe, Carsten 154 Comte, Auguste 71 Dahme, Heinz-Jürgen 87 Darwin, Charles 60 Deleuze, Gilles 42 Dews, Peter 23 Dorer, Maria 50 Duarte, Rodrigo Antonio de Paiva 108 Dubiel, Helmut 17; 141 Eden, Robert 21; 74 Eder, Klaus 154 Ehrenfels, Christian v. 79 Einstein, Albert 20; 57; 69 Eissler, Kurt R. 136 Elias, Norbert 23; 42 Engels, Friedrich llf; 13; 131; 138; 139; 149 Erdheim, Mario 52 Ferenczi, Sändor 59; 61 Fetscher, Iring 11; 156 Feuerbach, Ludwig 137 FigJ, Johann 20; 51 Fisch, Jörg 11 Fischer, Kurt Rudolf 20 Fleischmann, Eugene 21 Fleiter, Michael 26 Foucault, Michel 23; 27 Fox, Robin 60 Francis, Emerich 99 Frazer, James G. 58; 85

173

8. Register Freeman, Derek 60 Freier, Hans 27 Freud, Sigmund 18; 20f; 23; 29; 35; 42; 49f; 5Off; 74ff; 1 0 Щ 151ff Frisby, David P. 87 Frommer, Sabine 77; 79 Früchtl, Josef 19 Gadamer, Hans-Georg 20; 36 Garcia DQttmann, Alexander 11 Gasser, Reinhard 20; 35; 42; 50f; 58 Gay, Peter 50; 52; 60; 63 Gehlen, Arnold 23 Gerhards, Jürgen 94 Gerhardt, Volker 26 Germer, Andrea 21; 74; 94; 96; 99 Gerth, Hans 75 Girard, Ren6 35 Goethe, Johann Wolfgang 63 Görlich, Bernard 54; 60 Goudsblom, Johan 81 Green, Martin 77 Grenz, Friedemann 141 Greven, Michael Th. 23 Groh, Dieter 10 Groh, Ruth 10 Gronemeyer, Reimer 157 Gross, Otto 77 Guattari, F61ix 42 Habermas, Jürgen 17; 19; 21; 31; 103f; 115f; 141 Haeckel, Ernst 54 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13; 17; 18; 19; 64; 104; 137; 139f; 147 Heidbrink, Ludger 25; 137 Heidegger, Martin 11; 149 Heim, Robert 35; 128; 136; 154 Hellpach, Willi 76f; 82 Hennis, Wilhelm 21; 74; 83; 90; 94; 96 Himmler, Heinrich 130 Hitler, Adolf 135 Hobbes, Thomas 53; 62 Hofer, Walther 130; 135 Homer 106f Hommerich, Brigitte 21; 96 Honneth, Axel 22f; 104; 115; 143; 157 Horkheimer, Max 10; 12f; 19f; 21f; 36; 38; 42; 96; lOlff

Hubig, Christoph 105; 112 Irion, Ulrich 67; 72f

19f; 36; 40; 43; 46; 51; 54;

Jaeger, Friedrich 84 Jaspers, Karl 76; 82 Jay, Martin 22; 104; 141; 149; 156 Johnson, Samuel 12 Jones, Ernest 60; 80 Jung, Carl Gustav 128 Kager, Reinhard 105; 141 Kaiser-El-Safti, Margret 20; 51 Kant, Immanuel 15; 31; 43; 113; 121; 123; 125; 132; 145 Kaufinann, Walter 19f; 25; 34; 51 Kaulbach, Friedrich 44; 49 Kaye, Howard L. 78; 84; 94f; 100 Keul, Hans-Klaus 23 Köhler, Hans-Joachim 13; 109; 137; 143 König, Helmut 23; 139 Kolakowski, Leszek 154 Koselleck, Reinhart 12 Kroeber, A. L. 60 Krüger, Hans Joachim 23 Küenzlen, Gottfried 85 Kürnberger, Ferdinand 147 Lange, Wolfgang 30; 31; 32 Leiss, William 154 Lepenies, Wolf 23 Levine, Donald N. 75f; 79; 100 L£vi-Strauss, Claude 157 Lichtblau, Klaus 26; 74; 101 Link, Thomas 108 Lohmann, Georg 13 9 Lorenzer, Alfred 54; 60 Lüdke, W. Martin 112 Luhmann, Niklas 150 Lukäcs, Georg 13; 17; 19; 64; 137 Lyotard, Jean-Fran