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German Pages 373 [376] Year 2010
Yahya Elsaghe Krankheit und Matriarchat
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
53 ( 287 )
De Gruyter
Krankheit und Matriarchat Thomas Manns Betrogene im Kontext
von
Yahya Elsaghe
De Gruyter
ISBN 978-3-11-020727-9 e-ISBN 978-3-11-021586-1 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
in memoriam patris
Danksagung Besonderer Dank gebührt Gert Mattenklott †; Thomas Rütten, Newcastle upon Tyne; der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bad Godesberg; dem Thomas Mann-Archiv der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich; sowie allen, die bei der Erstellung und Korrektur des Manuskripts mitgeholfen haben: Hanspeter Affolter, Ulrich Boss, Patrick Bühler, Serena Failla, Benjamin Gerber, Florian Heiniger, Bettina Jossen, Patricia Langer, Franka Marquardt, Joanna Nowotny, Roland Reichen, Julian Reidy, Seline Reinhardt, Melanie Rohner, Martina Schönbächler.
Inhalt Einleitung .................................................................................................... 1 I Weiblichkeit, Krebs und ›Deutsche Republik‹ Zu den Besonderheiten der Handlungsparameter .......................... 9 1 Zur Problematisierung der sexuellen Differenz ................................. 11 1.1 Die Brechung der Geschlechterstereotype im frühen und frühesten Erzählwerk .......................................................... 15 1.2 Ken Keaton und die stereotypen Amerikaner des früheren Erzählwerks........................................................... 22 1.3 Die Umkehrung der Geschlechterrollen im Spätwerk .......... 29 1.4 Die Krise der Männlichkeit in der Betrogenen ........................... 45 1.5 Die Mediziner als Gegenstand der Institutionskritik ............. 52 2 Zum ›gendering‹ der Krankheit Die Betrogene im literaturgeschichtlichen Zusammenhang ................. 68 2.1 Theodor Storm: Ein Bekenntnis .................................................. 70 2.1.1 Storms Erzählung im zeit- und rechtsgeschichtlichen Kontext ......................................................................................... 71 2.1.2 Storms »Novella medici« und der medizinische Fortschritt ..................................................................................... 80 2.1.3 Das modern-medizinische Menschenbild und »die dunklen Regionen des Seelenlebens« ............................... 86 2.1.4 Die Spezifikation des ›weiblichen‹ Krebses und die Erkrankung des realen Autors ................................................... 96 2.2 Gottfried Benn: Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke ................................................................................. 105 3 Zur Topographie des Handlungsorts................................................. 117 3.1 Die territoriale Verdrängung der Krankheit im Vergleich mit Storms Bekenntnis ........................................ 117 3.2 Düsseldorf und die Aussparung von Großstadt und Industrie .............................................................................. 122
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Inhalt
3.3
Die mentalitätsgeschichtlichen Implikationen der Ortsverschiebung................................................................ 138 4 Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch Zu Thomas Manns Rückdatierung der Republik ............................. 143 4.1 Die strukturgebende Funktion des Ersten Weltkriegs in Thomas Manns Erzählwerk ................................................ 143 4.2 Von Deutscher Republik ............................................................... 147 4.3 »[D]ie Republik als innere Tatsache« und die Männlichkeitskrise der Betrogenen ............................................. 150
II »Verjüngung«, »Hetärismus« und sozialer »Rückschlag« Zur Funktion des Mythos ............................................................... 155 1 Die Reminiszenzen an Genesis 18 ..................................................... 157 1.1 Zur Herkunft und Bedeutsamkeit der lutherbiblischen Archaismen ................................................................................. 158 1.2 »Patriarchat und Widerstand« .................................................. 161 1.3 Das weibliche Gelächter und seine Negation ....................... 165 2 Die Apuleius-Reminiszenzen .............................................................. 170 2.1 Der Vorname »Rosalie« ............................................................ 170 2.2 Die Parallelen zu Amor und Psyche............................................ 175 2.3 Die Betrogene als Parodie............................................................. 181 2.4 Sehen versus Riechen................................................................ 187 3 Johann Jakob Bachofen und die Rezeptionsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche ................................................ 194 3.1 Das Märchen von Amor und Psyche in der deutschsprachigen Kultur des neunzehnten Jahrhunderts ............................................................................... 198 3.2 Bachofens Interpretation von Lampe und Blick .................. 206 3.3 ›Hetärismus‹ in der Betrogenen ................................................... 208 3.3.1 Krebs und ›Hetärismus‹ ............................................................ 212 3.3.2 »Der Sumpf und seine Gewächse« ......................................... 218 4 Thomas Manns politische Bachofen-Rezeption .............................. 223 4.1 Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis ..................... 231 4.1.1 Orts- und Personennamen: Die »Principe[ssa] X.« und die Männlichkeitskrise der Italiener ................................ 235 4.1.2 Die Nivellierung der italienischen Gesellschaft .................... 250 4.1.3 Die Orientalisierung Italiens .................................................... 256 4.2 Die Pariser Rechenschaft und Alfred Baeumlers Bachofen-Lektüre ...................................................................... 263 4.3 Doktor Faustus ............................................................................. 270 4.3.1 »[D]as Goldene Horn« .............................................................. 272
Inhalt
4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4
XI
Das italienische Kapitel XXIV ................................................ 283 ›Vorkrieg‹, Krieg und Republik ............................................... 290 Die aufgeführten und eingespielten Opern ........................... 299 Die ideologischen Implikationen der Betrogenen und die blinden Stellen der Apuleius-Reminiszenzen ......... 306
Zusammenfassung ................................................................................. 313 Anhang .................................................................................................... 317 Abbildungen ................................................................................................. 319 Bibliographie ................................................................................................ 325 Werkregister ................................................................................................. 354 Personenregister .......................................................................................... 356
Einleitung Die Betrogene, im Mai 1952 begonnen und im März darauf abgeschlossen, ist bekanntlich Thomas Manns letzte, wie ein generischer Untertitel der Handschrift, des Vorabdrucks 1 und der Erstausgabe lautete, »Erzählung«. Sie ist überhaupt das letzte Werk, das er vollendete. Sie ist sozusagen sein literarisch letztes Wort. Damit steht sie immer schon in der Tradition der ›last words‹ und ihrer besonderen Bedeutungsschwere. 2 Diese Tradition wird ja auch am Ende der »Erzählung« selbst fortgeschrieben mit den letzten Worten einer versöhnlich und »naturfromm[]« 3 Sterbenden, 4 die der Erzähler in direkter Rede zitiert und aus denen übrigens Christa Wolf einen ganzen Satz und Hexameter verbatim und ›leibhaftig‹ in ihre ihrerseits vorderhand letzte »Erzählung« übernommen hat: »Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens.«5 Von der neuzeitlich-säkularistischen Tradition des letzten Worts her also »eignet« der Betrogenen »etwas unübersehbar Vermächtnishaftes«.6 Oder wenigstens kann sie eine entsprechende Rezeptionshaltung hervorrufen. Dennoch gehört sie keineswegs zu den kanonisierten Texten des Autors. Man findet sie auf keiner auch der neusten Zusammenstellungen des deutschen Literaturkanons. 7 Sie wurde zwar verfilmt, aber vergleichsweise sehr spät, nämlich erst 1992. Jünger ist nur die Verfilmung von Mario und 1 2 3
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Thomas Mann, Die Betrogene. Erzählung, in: Merkur 63 (7.5), 1953, S. 401–417; 64 (7.6), 1953, S. 549–573; 65 (7.7), 1953, S. 657–671. Vgl. Karl S. Guthke, Last Words. Variations on a Theme in Cultural History, Princeton: Princeton University Press, 1992. Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, nach: Thomas Mann, Gesammelte Werke, Frankfurt a. M.: Fischer, 21974; hier Bd. 8, S. 892. Zitate aus dem Nachlaß werden in der Regel nicht weiter nachgewiesen und erfolgen mit freundlicher Erlaubnis des Thomas Mann-Archivs der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich. Vgl. Bd. 8, S. 950. Christa Wolf, Leibhaftig. Erzählung, München: Luchterhand, 2002, S. 164. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München: Winkler, 1984, S. 303. Vgl. z. B. Sabine Griese et al., Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen, Stuttgart: Reclam, 2007; Wulf Segebrecht, Was sollen Germanisten lesen? Ein Vorschlag, Berlin: Schmidt, 32006.
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Einleitung
der Zauberer, die Golo Mann aber schon in den Achtzigerjahren angeregt hatte 8 (einmal abgesehen von Heinrich Breloers, das heißt der schon vierten Verfilmung der Buddenbrooks, deren Premiere Ende 2008 stattfand; und zwar, was natürlich wiederum von der Kanonizität dieses Texts zeugt, in Gegenwart des deutschen Bundespräsidenten und etlicher anderer Honoratioren des politischen und kulturellen Establishments 9). In einem gewissen Gegensatz zu diesem Befund, vielleicht aber auch gerade wegen der erklärungsbedürftigen Diskrepanz, die sich zwischen dem verhältnismäßig bescheidenen Echo auf den Text und dessen werkgeschichtlich besonderem Status auftut, ist die Rezeptions- und Forschungsgeschichte so sorgfältig rekonstruiert und so genau analysiert wie bei keinem anderen Werk Thomas Manns. In zwei exemplarischen literatursoziologischen Studien hat Alan D. Latta die eher dürftige Resonanz auf Die Betrogene im wesentlichen damit erklärt, daß in dieser thematisch ein dreifacher Tabubruch vorliegt: Krebs; Klimakterium; Liebe und Sexualität zwischen älteren Frauen und jungen Männern.10
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Golo Mann, Brief vom 27. August 1988 an Eberhard Görner, in: Alfried Nehring, Der kleine Herr Friedemann. Film des deutschen Fernsehfunks, o. O. u. J. [o. P.]. Vgl. Stefan Grissemann, Lübecks Zuckerwatte, in: Der Bund, 22. Dezember 2008, S. 29; Jörg Vogler, Breloers Buddenbrooks uraufgeführt, www.tagesspiegel.de/kultur/kino/Buddenbrooks-Thomas-Mann-Heinrich-Breloer;art137,2686752 (22. Januar 2009). Breloers Film wie auch die selbstgratulatorische Rezeptionsgeste, zu der er den Bundespräsidenten hinriß – »Für uns Deutsche ist dieses Buch […] wie ein Spiegel unseres Wesens« – steht in einer längeren Tradition von Buddenbrooks- und Thomas Mann-Verfilmungen (Breloer selber gab zu Protokoll, wie wichtig für ihn Alfred Weidenmanns Buddenbrooks von 1959 waren: Martin Ebel, Aufstieg und Zerfall der Buddenbrooks, in: Tages-Anzeiger, 20. Dezember 2008, S. 45; ders. Gut gemachtes Ausstattungskino, in: Tages-Anzeiger, 20. Dezember 2008, S. 45): Vgl. Yahya Elsaghe, »Donnersmarck« und »Blumenberg«. Verschwinden und Wiederkehr jüdischer Charaktere in der Geschichte der Thomas Mann-Verfilmungen, in: KulturPoetik 5.1, 2005, S. 65–80. Wie Weidenmann und etliche andere Regisseure und Drehbuchautoren bedient Breloer das Bedürfnis, Thomas Mann und insbesondere die Buddenbrooks von der Shoah und ihrer Vorgeschichte zu dissoziieren. Z. B. redet Breloers Thomas Buddenbrook nur noch von »Halsabschneider[n]« und nicht mehr, in eins damit, auch von »Juden«, wie sie im Romantext ganz selbstverständlich mit den »Halsabschneider[n]« gleichgesetzt sind (Bd. 1, S. 454; vgl. Bd. 7, S. 319). Die Anerkennung der Hagenströmschen Erfolge, »man muß gerecht sein«, wird aus ihrem eindeutig antisemitischen Kontext herausgebrochen (Bd. 1, S. 118) und überhaupt die jüdische Markierung der Hagenströms fast vollständig retuschiert (nämlich bis auf die Besetzung der Rolle von Julchen Hagenström mit der als Jüdin öffentlich engagierten Ariella Hirshfeld [vgl. Stiftung Zurückgeben fördert jüdische Künstlerinnen, http://www.hagalil.com/archiv/2006/03/ stiftung-zurueckgeben.htm {24. Juni 2009}]). Vgl. Alan D. Latta, The Reception of Thomas Mann’s Die Betrogene: Tabus, Prejudices, and Tricks of the Trade, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12, 1987, S. 237–272; ders., The Reception of Thomas Mann’s Die Betrogene: Part II: The Scholarly Reception, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 18.1, 1993, S. 123–156.
Einleitung
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Angesichts einer etwas größeren Unbefangenheit, welche die Mentalitätsgeschichte des späteren zwanzigsten Jahrhunderts wenn nicht zur Krebskrankheit und zum Krebstod, so doch, infolge des Feminismus, zur weiblichen Sexualität und zum Verhältnis der Geschlechter mit sich brachte, müßte man eigentlich erwarten, daß sich die Rezeptionslage ihrerseits veränderte. Das trifft, allerdings in sehr bescheidenem Ausmaß, auch zu. Immerhin haben wenigstens zwei Wissenschaftlerinnen den Text unter feministischer Perspektive neu zu lesen begonnen. Auf einer Bielefelder Tagung feministischer Literaturwissenschaftlerinnen hat ihn Maria Kublitz 1984 einer »Neu-Befragung« unterzogen und »auch« sein »emanzipatorische[s] Potential[]« freizulegen versucht.11 Und Franziska Schößler hat in einem 2000 erschienenen Aufsatz die »Inversion« der Geschlechterrollen untersucht, die an der Betrogenen so erstaunlich lange niemandem besonders beachtens- oder erwähnenswert schien. 12 So gelesen ließe sich Thomas Manns letzte Novelle in eine adversative Beziehung zu seiner allerersten Erzählung bringen. Schon deren bibliographischen Daten sind hier signifikant. Gefallen erschien 1894 in der »realistische[n]«, heute müßte man sagen: naturalistischen »Wochenschrift« Die Gesellschaft: das heißt in einem für die Geschichte der deutschen Frauenbewegung epochalen Jahr, in dem sich ein nationaler ›Bund deutscher Frauenvereine‹ zusammenschloß; 13 und, wie bezeichnenderweise dann auch die bitterböse Novelle Luischen (1900), in einem Organ, das ein notorischer Misogyn gegründet hatte und herausgab, Michael Georg Conrad. Wie hier also nicht viel anders zu erwarten, hatte Thomas Mann in Gefallen der ›Bewegung‹ der deutschen Frauen gegenüber eine deutliche, deutlich polemische Stellung bezogen. Bereits auf der ersten Seite hatte er »die […] Berechtigung der Frauenemanzipation«14 zur Frage erhoben, auf welche die Erzählung dann die – eben entschieden abschlägige – Antwort gibt. Denn indem sie von der Demütigung eines »Dr. med. Selten«15 durch die Untreue einer Schauspielerin handelt, »Fräulein Weltner«,16 ein Säkularisat natürlich der Allegorie von der ›Frau Welt‹, führt sie die Gefahr vor, 11 12 13 14 15 16
Maria Kublitz, Thomas Manns Die Betrogene, in: Renate Berger et al. (Hgg.), Frauen – Weiblichkeit – Schrift. Dokumentation der Tagung in Bielefeld vom Juni 1984, Berlin: Argument, 1985 (Literatur im historischen Prozeß, Neue Folge, Bd. 14), S. 159–170, hier S. 160. Franziska Schößler, »Die Frau von funfzig Jahren«. Zu Thomas Manns Erzählung Die Betrogene, in: Sprachkunst 31.2, 2000, S. 289–306, hier S. 300. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München: Beck, 1995, S. 1093 f. Bd. 8, S. 11. Ebd. Bd. 8, S. 14, 22 f., 28.
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Einleitung
die schon unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen von vergleichsweise eigenständigen und selbstbestimmten Frauen ausgeht, welche aber gerade wegen ihrer relativen Ungebundenheit auch um so leichter zu verführen, desto stärker vom ›Fall‹ bedroht sein sollen. Die Relektüre der Betrogenen unter gendertheoretischem Gesichtswinkel soll im folgenden fortgesetzt und dieser Winkel soll dreifach erweitert werden. In Bezug auf die Textbasis wird die Fragestellung an diejenigen Segmente des Primärtexts herangetragen, die im Zusammenhang von Macht- und Herrschaftslegitimation im allgemeinen und bei der Rechtfertigung des Patriarchats im besonderen ohnehin von eigentlich vorrangiger Wichtigkeit wären: Die vielen im weitesten und im speziellen Sinn mythischen Zitate und Reminiszenzen, die biblischen und die klassisch-mythologischen, sind bisher nicht weiter befragt, ja zum größeren Teil noch gar nicht identifiziert worden. Thematisch sodann wird es darum gehen, die rein geschlechterspezifische Problematisierung der patriarchalen Ordnung mit der Kritik an deren akademischen und religiösen, ökonomischen, militärischen und politischen Institutionen zu konfrontieren, so mit der Repräsentation der modernen Medizin und ihrer verschiedenen Vertreter, der industriellen Produktionsweise, der Armee und des Kriegertums, der Monarchie und ihrer Ablösung durch eine republikanische Verfassung. Und schließlich sollen die so erzielten Ergebnisse kontextualisiert werden, einerseits in der motivgeschichtlich mittelbar und unmittelbar verwandten Literatur, andererseits und ganz besonders innerhalb des Gesamtwerks. Dabei wird nicht nur der offensichtliche Abstand in Betracht kommen, in dem der Text zu den frühen und frühesten Romanen und Erzählungen sich befindet; sondern interessieren werden vor allem auch die bislang unbeachteten Berührungsstellen, die sich bei solch einer Lektüre zwischen der geschlechterpolitischen Kulturdiagnostik der Betrogenen und dem übrigen Spätwerk, vor allem dem Doktor Faustus (1947), auch den späten Kapiteln der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954), aber eigentlich schon von Mario und der Zauberer (1930) an abzeichnen. Selbstverständlich finden sich problematische Geschlechter- und Paarbeziehungen schon in den frühesten Texten Thomas Manns, nicht nur in jenem Erstling. Sie lassen sich sozialgeschichtlich und individualpsychologisch leicht erklären: vor dem Hintergrund der sich wie gesehen zeitgleich formierenden Frauenbewegung einerseits und der Deklassierung und Entwurzelung des jungen Thomas Mann andererseits. 17 Die Griffigkeit gerade 17
Vgl. Yahya Elsaghe, Die kleinen Herren Friedemänner. Familie und Geschlecht in Thomas Manns frühesten Erzählungen, in: Christine Kanz (Hg.), Zerreissproben/Double Bind. Familie und Geschlecht in der deutschen Literatur des 18. und des 19. Jahrhunderts, Bern und Wettingen: eFeF, 2007, S. 159–180.
Einleitung
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auch des biographischen Erklärungsansatzes erweist sich ex negativo daran, daß die Geschlechterkonflikte im literarischen Œuvre zunächst seltener werden und an Intensität einbüßen in dem Maß, in dem es dem Autor seit dem Großerfolg der Buddenbrooks (1901) gelingt, seinen ökonomischen und sozialen Kapitalverlust aufzuwiegen; ganz zu schweigen vom Gewinn an kulturellem und überhaupt symbolischem Kapital. Ihren äußersten Punkt erreicht diese rückläufige Bewegung wahrscheinlich mit dem Tod in Venedig (1912), wo die Handlung ja ganz von männlichen Hauptrollen getragen wird und damit schon nur die Möglichkeit eines Geschlechterkampfs entfällt. Der Erste Weltkrieg aber, der in diesem Text buchstäblich vom ersten Satz an seine Schatten vorauswirft, und vor allem die Kriegsniederlage scheinen bei Thomas Mann wie bei so vielen seiner Zeitgenossen das Problem der Geschlechterrollen neuerlich zu verschärfen. Deren Erschütterung wird in Thomas Manns Texten der Nachbeziehungsweise Zwischenkriegszeit zunächst einfach dem allgemeinen Topos vom mundus inversus subsumiert. Das deutlichste, aber auch letzte literarische Beispiel dafür ist die »Inflationsgeschichte« 18 Unordnung und frühes Leid, das letzte essayistische der offene Brief Über die Ehe (beides 1925). Danach aber, von einem auf die Pariser Rechenschaft (1926) datierbaren Moment an, erfährt Thomas Manns Verständnis der Geschlechter und ihrer Sexualität eine grundlegende Veränderung, Erweiterung, ja Revolutionierung, die bis ins Spätwerk prägend wirkt. Zu diesem fortan also sehr stabilen Verständnis gelangte Thomas Mann (wie etwa auch Gerhart Hauptmann, 19 Arthur Schnitzler, 20 Hermann
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Brief vom 3. März 1926 an Hans Heinrich Borcherdt; in: Hans Wysling (Hg.), Thomas Mann, München: Heimeran, und Frankfurt a. M.: Fischer, 1975–1981 (Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/I–III), hier Bd. 14/II: 1918–1943, S. 63. Vgl. Ulrich Boss, Männlichkeiten in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften [erscheint voraussichtlich 2011]. Vgl. Arthur Schnitzler, Traumnovelle, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Hartmut Scheible, Bd. 1: Erzählungen, Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 2002, S. 621– 698, hier S. 667–672, die matriarchalen oder, in Johann Jakob Bachofens Terminologie, ›hetäristischen‹ Einschlüsse im Traum der Frau: die Orgie der »unendliche[n] Flut« von »tausend Paare[n]«; »unter all den […] Liebespaaren« ihre eigene Kopulation mit einem anonymen »Geliebten«, von dem sie »nicht sagen« »könnte«, ob es immer derselbe oder ein je und je anderer sei – eine Leerstelle, die in der Verfilmungsgeschichte bezeichnenderweise ganz unterschiedlich geschlossen wurde: erst, in Wolfgang Glücks Traumnovelle (1969), durch eine eindeutig monogame Szene; dann, in Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999), durch exzessive weibliche Promiskuität –; und v. a. die unter weiblichem »Lachen« erfolgte Exekution des Manns, der sich den sexuellen Anforderungen einer übermächtigen, auch im spatialen Arrangement weit über ihn ›erhabenen‹ »Fürstin« entzieht.
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Einleitung
Broch 21 oder Robert Musil22) über die seinerzeit wiederentdeckten und neu herausgegebenen Schriften Johann Jakob Bachofens. Das daran Faszinierende und Unerhörte lag offensichtlich in der Möglichkeit, Geschlechterdifferenz und Sexualität als etwas historisch Wandelbares zu begreifen beziehungsweise darzustellen. Als erste und im Grunde einzige Beispiele für Thomas Manns literarische Wahrnahme dieser Variabilität – außerliterarische Belege fehlen bemerkenswerterweise so gut wie vollständig – galten bisher die Josephsromane (1933–43), 23 deren Verhältnisse freilich ganz auf historische Distanz gehalten und unter der Kautele des ›beschworenen Imperfekts‹ bleiben. Die fast schon unerhörte Bewegung, in die die Vorstellungen der Geschlechteridentität während der Zwischenkriegszeit gerieten, wurde über Bachofen für Thomas Mann und seinesgleichen in ein umfassendes, wenn auch pessimistisches Geschichtsbild integrierbar. Das tatsächlich erste, von der Forschung bisher völlig übersehene Beispiel dafür ist Mario und der Zauberer, das letzte (oder letzte vollendete) aber eben die ein Vierteljahrhundert jüngere Betrogene (oder dann die späte Hälfte des Krull-Fragments). Daß sich Thomas Manns Verfahren, das Verhältnis der Geschlechter jeweils über Bachofen zeitdiagnostisch mit historisch aktuellen Umständen direkt zusammenzusehen, so lange halten konnte, nahezu drei Jahrzehnte, versteht sich durchaus nicht von selbst und bringt für das Verständnis eines späten Texts wie Die Betrogene sehr erhebliche Weiterungen mit sich.
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Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer, Euripides’ Bakchen, ein Prätext für Brochs Bergroman Die Verzauberung, in: Recherches germaniques 2008: Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks (hors série, Bd. 5), S. 75–118, hier S. 80 f. Vgl. Ulrich Boss, ›Mutterrecht‹ im Mann ohne Eigenschaften, in: Ulrich Beil, Michael Gamper und Karl Wagner (Hgg.), Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Musil und in seiner Zeit, 1900–1940, Zürich: Chronos, 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen) [im Druck]. Vgl. Monique Peltre, Thomas Mann et J. J. Bachofen, in: Études germaniques 26.4, 1971, S. 437–448; Manfred Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum Tod in Venedig, zum Zauberberg und zur Joseph-Tetralogie, Bern und München: Francke, 1972 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 2), S. 169–206; Elisabeth Galvan Morley-Fletcher, Zur Bachofen-Rezeption im Deutschland der Zwischenkriegszeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift. Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Geisteswissenschaftliche Reihe 41.6, 1992, S. 45–54; dies., Zur BachofenRezeption in Thomas Manns Joseph-Roman, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1996 (ThomasMann-Studien, Bd. 12), S. 62–76; Eckhard Heftrich, Matriarchat und Patriarchat. Bachofen im Joseph-Roman, in: Thomas Mann Jahrbuch 6, 1993, S. 205–221; Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer, 2008, S. 277–283 (zu den Meriten dieser Arbeit vgl. Hans Rudolf Vaget, [Rezension von:] Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 101.1, 2009, S. 130–133).
Einleitung
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Wie nämlich gegebenen Orts noch zu zeigen, gehört die BachofenRenaissance der Zwanzigerjahre wesentlich in den Umkreis der republikfeindlichen ›Reaktion‹, der auch von Thomas Mann so genannten ›Konservativen Revolution‹. 24 Thomas Manns Empfänglichkeit für Bachofen und vor allem für die zeitkritische Anwendung seiner Theorien ist damit ein Ausläufer seiner ›unpolitischen‹ Vergangenheit und ein Symptom seiner nachhaltigen Prägung durch sie. Seine früheren ideologischen Positionen, wie man sie aus den kollektiven Vorstellungen von den ›Manns‹ gerne heraushält – so läßt Breloer seinen vielbeachteten Dreiteiler Die Manns (2001) erst in den späteren Zwanzigerjahren einsetzen –, werden gerade über seine konstante Aneignung Bachofenscher Theoreme literarisch noch in die spätesten Texte verschleppt: das heißt in eine Zeit, zu der er sich in seinen außerliterarischen Äußerungen von allem antirepublikanischen und erst recht vom protofaschistischen Gedankengut so weit wie irgend nur möglich distanziert hatte.
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Bd. 11, S. 698.
I Weiblichkeit, Krebs und ›Deutsche Republik‹ Zu den Besonderheiten der Handlungsparameter
1 Zur Problematisierung der sexuellen Differenz Den besonderen Erwartungen, die Die Betrogene als quasi letztes Wort des Autors zu wecken vermag, wird sie doppelt und drei-, ja vierfach gerecht. In vierfacher Hinsicht ist sie ein innerhalb des Gesamtwerks singulärer Text. Erstens ist Die Betrogene unter Thomas Manns vielen Pathographien die weit und breit einzige Erzählung von einer Krebserkrankung. Sie enthält, zweitens, den einzigen Plot, der »in Düsseldorf« 1 und damit ausschließlich im Westen Deutschlands lokalisiert ist (oder des Deutschen Reichs, wie es seinerzeit nach wie vor hieß, da sich ja ›Deutsche Republik‹ gegen eine, wie sich zeigen wird, auch hier sehr einschlägige Nostalgie nicht durchzusetzen vermochte). Sie ist der einzige Text, der, drittens, mit einer Zeitangabe beginnt, und ganz streng genommen auch der einzige, der ausschließlich den ›roaring twenties‹, den ›Goldenen‹ Zwanzigerjahren gilt. Und viertens ist sie das einzige Werk des Autors, in dem eine weibliche Figur die Hauptrolle spielt (wenn man einmal von der etwas müßigen Frage absieht, wer diese Rolle in Lotte in Weimar besetzt, Goethe oder nicht doch auch, wie der Titel suggeriert, Charlotte Kestner-Buff). Diese vierte Eigenart scheint Teil und Ausdruck einer erstaunlich konsequenten Stürzung der überkommenen Geschlechterstereotype zu sein. Deren Vertauschung ist schon der Grundlineatur der Handlung einbeschrieben. Der aktive und der passive Part verteilen sich hier anders auf die Geschlechter, als es vom stereotypen Muster her zu erwarten wäre. Das Begehren geht hier ja von der Frau aus, und der Mann gibt deren Sexualobjekt ab. Daß diese Verteilung der ›Diathesen‹ die tradierten Rollenklischees verkehrt, versteht sich zwar von selbst. Aber es wird in einer Figurenrede des Texts auch eigens notiert. Rosalie von Tümmler bezeichnet ihre Position expresso verbo als eine ›männliche‹; und die Rolle des Geliebten legt sie auf die einer Frau, eines »Weib[s]« fest – ein vorsätzlich 2 1 2
Bd. 8, S. 877. Vgl. die Briefe vom 19. Oktober 1953 an Erich Drucker, vom 8. Januar 1953 an Hermann Hesse und vom 10. März 1954 an Klaus Mampell; Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/III: 1944–1955, S. 512, 521, 525.
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Problematisierung der sexuellen Differenz
archaistisches, in den Fünfzigerjahren aber natürlich schon negativ konnotierbares Wort 3 –: Ich begehre ihn […]. Diesmal bin ich’s, die begehrt, von mir aus, auf eigene Hand, und habe mein Auge auf ihn geworfen wie ein Mann auf das junge Weib seiner Wahl […]. 4
Ken Keaton, dem gegenüber Rosalie von Tümmler erotisch initiativ wird und den sie damit zum »Weib« erniedrigt, steht noch dazu sozial tief unter ihrem Adel. Ökonomisch gesehen ist sie, wie es der sich hier (im Sinne Jürgen H. Petersens 5) ›personal‹ verhaltende Erzähler ausdrückt, sein »boss[]«. 6 Und vor allem ist Ken eine ganze Generation jünger als Rosalie. Er »könnte« ihr »Sohn sein«. Diese »Tatsache, daß Ken« ihr »Sohn sein könnte« und daß ihre »mütterliche[n]«, aber gerade »im Punkte der Mütterlichkeit« doch auch wieder »fragwürdig[en]« 7 Gefühle für ihn virtuell unter das Inzesttabu fallen, hält ihr ihre eigene Tochter Anna ausdrücklich und mehrfach 8 vor und hätte es ihr übrigens in einer älteren Version des Texts noch eindringlicher vorhalten sollen: »›Er könnte dein Sohn sein‹ – das ist dein ewiger Kehrreim, dein nüchternes Staren[?]lied, das mich doch nicht ernüchtern kann – unter den neuen Umständen schon garnicht mehr. Hast du mir nicht selbst von der Vielartigkeit der Liebe gesprochen und davon, daß sie ein Name sei für Vieles? Daß Mutterliebe zum Sohn recht anders gefärbt sein könne, als die zu einer Tochter? Nun, wenn meine Ergriffenheit von dieser Sohnesgestalt ein Beispiel dafür ist, wie der Unterschied der Jahre mütterliche Gefühle mischt in die Leidenschaft – warum sollte er nicht eines abgeben für das Heimverlangen junger Männlichkeit nach dem Mütterlichen?« »Ich leugne nichts von dem, was du sagst, Mama.« […] »Und du wirst an meine Dankbarkeit glauben, liebste Mama«, erwiderte Anna mit niedergeschlagenen Augen, »für dein Vertrauen. Daß sich auch etwas Sorge hineinmischt, etwas Bedenklichkeit, wenn du willst, praktische Bedenklichkeit, um ein Wort zu wiederholen, das ich schon einmal gebrauchte, deine erhöhte Verfassung wird dich nicht hindern, das zu verstehen. Du sprichst von deiner Hoffnung und von allem, was dich dazu berechtigt, wobei du, finde ich, deine liebenswürdige Person selbst zu wenig in Anschlag bringst. Aber du unterläßt es, diese Hoffnung näher zu bestimmen und mir zu sagen, worauf sie zielt, worauf 3 4 5 6 7 8
Vgl. z. B. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm et al., Deutsches Wörterbuch, Leipzig: Hirzel, 1854–1971, Bd. 14, Abt. I, 1. Teil, Sp. 329–375, s. v. ›Weib‹; Lutz Mackensen (Hg.), Neues Deutsches Wörterbuch, Laupheim: Pfahl, 1952, S. 805, s. v. ›Weib‹. Bd. 8, S. 901 f. Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart und Weimar: Metzler, 1993, S. 68–78. Bd. 8, S. 908. Bd. 8, S. 899. Vgl. Bd. 8, S. 919, 924, 926.
Problematisierung der sexuellen Differenz
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sie in der Wirklichkeit des Lebens hinauswill. Hast du die Absicht, dich wieder zu verheiraten? Ken Keaton zu unserem Stiefvater zu machen? Mit ihm vor den Traualtar zu treten? Es mag feig von mir sein, aber da der Unterschied eurer Jahre dem zwischen Mutter und Sohn gleichkommt, fürchte ich etwas das Befremden, das dieser Schritt erregen würde.« 9
Mit der Rede von der »Vielartigkeit der Liebe« und dergleichen mehr mobilisiert Anna unverkennbar das psychoanalytische Wissen ihrer Zeit. Sie stipuliert sogar so etwas wie einen Iokaste- oder Phädra-Komplex. Sie versucht so, die Leidenschaft ihrer Mutter und die Altersdifferenz zwischen dieser und dem Begehrten auf gesellschaftlich akzeptable Art aneinander zu vermitteln. Sie rät Rosalie, ihre »Zärtlichkeit […] aufs Mütterliche abzustellen«, ihre Liebe »im Mütterlichen anzusiedeln«, »keinen Augenblick aus den Schranken der Mutterliebe [zu] treten«,10 um so den bei »alle[n] gesitteten Völker[n]« respektablen, aber wesentlich asexuellen Status einer »Matrone« zu wahren;11 – »Ratschläge«, die »Mama Rosalie« mit »Verschmitztheit« »verspottet[]« und aus deren »Travestie« sie »zugleich […] ihren Nutzen« 12 und Lustgewinn zieht, indem sie unter dem Vorwand ihrer Befolgung den Geliebten in gespielt aggressiver Weise angeht und den Körper des wiederholt als »Söhnchen« Angeredeten an einer schon ziemlich erogenen Stelle berührt: Beim Abschied, als man einander gute Nacht sagte, sah Rosalie die Tochter einen Augenblick mit erregter Verschmitztheit an, ja, hielt zunächst noch den Blick auf sie gerichtet, während sie schon den jungen Mann am Ohrläppchen faßte und zu ihm sagte: »Und du, Söhnchen, nimm von Mama Rosalie einen ernsten Verweis und laß dir sagen, daß ihr Haus nur Leuten von gesetzten Sitten und nicht Nachtvögeln und Bierinvaliden offensteht, die kaum noch imstande sind, Deutsch zu sprechen oder nur aus den Augen zu sehen! Hast du’s gehört, Taugenichts? Bessere dich! Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht und verfahre fortan so wüst nicht mit deiner Gesundheit! Willst du dich bessern, dich bessern?« Immerfort zupfte sie ihn dabei am Ohrläppchen, und Ken gab dem leichten Zuge übertrieben nach, tat, als sei die Strafe wunder wie schmerzhaft und bog sich recht kläglich grimassierend unter ihrer Hand, wobei er seine hübschen, blanken Zähne entblößte. Sein Gesicht war ganz nahe dem ihren, und in dies nahe Gesicht hinein sagte sie noch: »Denn tust du’s wieder und besserst dich nicht, unartiges Söhnchen, so verweise ich dich aus der Stadt, weißt du das wohl? Ich schicke dich an einen stillen Ort im Taunus, wo zwar die Natur sehr schön ist, es aber keine Versuchungen gibt und du die Bauernkinder im Englischen unterrichten magst. Für diesmal nun 9 10 11 12
Thomas Mann, Tagebücher, hg. v. Peter de Mendelssohn und Inge Jens, Frankfurt a. M.: Fischer, 1977–1995, hier Tagebücher 1953–1955, S. 803 f. [Dokument 4]. Bd. 8, S. 919. Bd. 8, S. 892. Bd. 8, S. 920 f.
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schlaf deinen schwarzen Kater aus, Bösewicht!« Und sie ließ von seinem Ohr, nahm Abschied von der Nähe seines Gesichtes, sah Anna noch einmal mit bleicher Verschmitztheit an und ging. 13
Dabei usurpiert Rosalie übrigens auch hier wieder eine männliche Rolle und Rede. Denn das Bibelzitat, »Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht«, stammt aus einem dezidiert ›männlichen‹ Text. Nicht nur befindet sich sein Original in den sogenannten Sprüchen Salomonis, denen ihre legendär-männliche Autorschaft schon in den Titel geschrieben steht; sondern hier wiederum auch noch in der direkten Rede ›des‹ Vaters an seinen ›Sohn‹.14 All die Störungen der Geschlechterrollen freilich waren in einer »Anekdote« 15 schon angelegt, auf die Thomas Mann ganz unverzüglich aufmerksam wurde und die seine Novelle unmittelbar inspirierte: »eine ältere […] Aristokratin, die sich […] in den jungen Hauslehrer […] verliebt«. 16 Vorgegeben sind hier bereits die sexuelle Initiative der Frau; zweitens das zum Mann hin abfallende Niveau des Sozialprestiges; drittens die finanzielle Abhängigkeit des Manns von der Frau; viertens der Altersunterschied zwischen der »ältere[n]« Liebhaberin und dem »jungen« Geliebten. Bei der Füllung aber der vielen und großen Unbestimmtheitsstellen, die die spärliche Anekdote offenließ, kam in der Novelle noch ein Fünftes hinzu. Das weibliche Begehren richtet sich hier ausdrücklich allein auf die rein körperliche Attraktivität des sonst denkbar ›unbedeutenden‹ Mannes; »besonders was seine Schultern betr[i]f[ft]« 17 und seine »sehr ansehnliche[n], runde[n], kräftige[n], weiße[n] junge[n] Arme«.18 Der Mann wird tendenziell in einer Weise auf seine Körperlichkeit reduziert, wie man es sonst eben gerade von der Repräsentation und Prostituierung weiblicher Körper kennt. 19 Sein ›Körper‹ nimmt hier in gewissem Sinn die engste Bedeutung des Worts an, die ihm Gilles Deleuze und Félix Guattari gegeben 13 14
15 16 17 18 19
Bd. 8, S. 921. Spr 1,10; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 2, München und Leipzig: Müller, o. J., S. 510. Die – inzwischen revidierte – Übersetzung »Kind« ist ungenau. Im Hebräischen steht ›beni‹, ›mein Sohn‹, in der Septuaginta »ȣੂȑ«, in der Vulgata »fili«. Zürcher Bibel, Zürich: Theologischer Verlag, 12007, S. 852; Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 51997, S. 1275; Septuaginta, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1979, Bd. 2: Libri poetici et prophetici, S. 183; Biblia sacra. Iuxta vulgatam versionem, Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt, 21975, Bd. 2, S. 958. Bd. 11, S. 529. Tagebucheintrag vom 6. April 1952; Tagebücher 1951–1952, S. 198. Bd. 8, S. 895. Vgl. Yahya Elsaghe, Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ›Deutsche‹, München: Fink, 2000, S. 240. Bd. 8, S. 900. Vgl. z. B. Bd. 7, S. 659.
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haben. Er steht in Opposition zum »Gesicht«, das in diesem Verständnis eben kein Teil des Körpers ist, »nicht vom Körper codiert wird«, sondern einer eigenen, natürlich der physiognomischen Zeichenordnung unterliegt. 20 An Ken Keatons »Gesicht« aber gibt es »wenig« zu entziffern. 21 Es ist, und das sind die überhaupt ersten Worte, die der Erzähler über Keatons Person verliert, »herzlich wenig bemerkenswert«.22 Es ist »ein nicht sonderlich hübsches, […] harmlos freundliches Jungengesicht«.23 Und die Diskrepanz, in die Kens Mittelmäßigkeit und »primitive Harmlosigkeit« 24 zu der Heftigkeit des Begehrens geraten, dessen Objekt er wird, hat Thomas Mann schon in den Entwurfsnotizen festgehalten und darin noch dazu eigenhändig hervorgehoben: »ihre [scil. Rosalies] ekstatische Leidenschaft, ihre Liebe, die durch die Person des Geliebten nicht gerade sehr gerechtfertigt ist«.
1.1 Die Brechung der Geschlechterstereotype im frühen und frühesten Erzählwerk Die in der Konfiguration der Betrogenen also gleich fünffache Vertauschung der geschlechtsstereotypen Merkmale ist innerhalb des Gesamt- und besonders innerhalb des Spätwerks nicht gar so beispiellos wie das Faktum, daß sie in der Erzählregie hier auch noch in der Hauptrolle der Frau kulminiert. In den Konfigurationen schon des Frühwerks sind die Männer ›der‹ Frau (allenfalls auch dem Jungen), die (beziehungsweise den) sie begehren, – sind kurzum die Begehrenden den Begehrten an sozialem Kapital jeweils deutlich unterlegen. Angefangen bei Thomas Manns überhaupt erstem Buch, Der kleine Herr Friedemann (1898): Der titelgebenden Novelle liegt nicht umsonst als leitender Subtext das Märchen von der Schneekönigin zugrunde (ebenso wie dann auch Teilen der Buddenbrooks und der Königlichen Hoheit). 25 Die unglückliche Liebe Johannes Friedemanns – den bereits sein biblischer Vorname als Opfer einer ihrerseits besonders hochgestellten, der in gewissem Sinn überhaupt ersten femme fatale markiert,
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Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin: Merve, 1992, S. 233. Bd. 8, S. 893. Ebd. Bd. 8, S. 895. Bd. 8, S. 901. Vgl. Michael Maar, Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg, München und Wien: Hanser, 1995, S. 142 f., 183–186.
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der seit Oscar Wildes nur wenige Jahre älterem Drama so genannten Salome –, Gerda von Rinnlingen also gehört zum Adel. Schon nur sozial ist sie damit dem sie Begehrenden fast bis zur Unerreichbarkeit entrückt und ihm jedenfalls haushoch überlegen. Denn Johannes Friedemann kommt aus einem seinerzeit besonders gefährdeten Segment des Wirtschaftsbürgertums.26 Seine Familie ist wie die der Buddenbrooks in vollem »Verfall« begriffen. Darauf weist übrigens wieder schon allein sein Name. Den Nachnamen »Friedemann« hat Thomas Mann zwar nicht erfunden. Er hat ihn vielmehr aus dem Lübeck seiner formativen Jahre übernommen. Denn ein »Friedemann, Heinr. Ed., Schuhmachermstr., Fischstr. 80«, war dort realiter ansässig.27 Doch mit solch einem positivistischen Nachweis seiner Herkunft wäre der Name noch nicht verstanden, ebensowenig wie etwa der der Hagenströms in den Buddenbrooks 28 oder der der Jimmerthals im Tonio Kröger (1903). 29 Zu fragen bliebe, was an dem Namen »Friedemann« Thomas Mann für seine Zwecke so sinnig und stimmig erschien, warum er im gegebenen Kontext gerade auf ihn zurückgriff und welche Bedeutung er ihm durch diesen Rückgriff abgewann. Der Nachname »Friedemann«, bisher nicht oder nur sehr unbefriedigend kommentiert, gibt seine Bedeutung erst dann frei, wenn man ihn neben die musikalische Begabtheit 30 des so Heißenden hält und ihn dann mit dem berühmtesten oder einzig berühmten Träger eines entsprechenden Namens, Vornamens zusammenbringt: Wilhelm Friedemann Bach oder einfach »Friedemann Bach«, wie sein Name in Albert Emil Brachvogels einst berühmtem Romantitel lautete. 31 Friedemann Bach wird in der Vorstellung Thomas Manns, der Brachvogels gleichnamigen Roman zumindest dem Namen und Titel nach nachweislich kannte, 32 von diesem »[k]ulturhistorische[n] Roman« 33 und dessen seinerzeit breiter Rezeption her als Inbegriff eines verkommenen Sohns gegolten haben. Sein aus der Art seines Vaters und seiner jüngeren Brüder geschlagenes Leben konnte sich 26 27 28 29
30 31 32 33
Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München: Beck, 1990, S. 250–252, 391 f. Lübeckisches Adreß-Buch. 1879, Lübeck: Schmidt & Erdtmann, o. J. (Nachdruck Lübeck: Max Schmidt-Römhild, 1978), S. 82. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 188–190. Vgl. Yahya Elsaghe, Exil und Stereotypen. Thomas Manns Schweizer vor und nach der Emigration, in: Thomas Sprecher (Hg.), Thomas Mann und das »Herzasthma des Exils«. (Über-)Lebensformen in der Fremde. Die Davoser Literaturtage 2008, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2010 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 41), S. 111–132, hier S. 111 f. Vgl. Bd. 8, S. 81. Vgl. A. E. Brachvogel, Friedemann Bach. Roman, Berlin: Otto Janke, 1858. Vgl. den Brief vom 24. Juni 1942 an Margarete Woelfel (Thomas Mann-Archiv). A. E. Brachvogel, Friedemann Bach. Kulturhistorischer Roman, Berlin: Th. Knaur, o. J.
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zur Entstehungszeit und im Entstehungsmilieu des Kleinen Herrn Friedemann einer ganz bestimmten Interpretation anbieten, ja mußte sich ihr fast aufdrängen. Diese freilich war Brachvogel selbst noch nicht verfügbar. 1858, ein Jahr vor On the Origin of Species, erzählte Brachvogel Friedemann Bachs Leben noch den Mustern entlang, die ihm der Entwicklungsroman seit Karl Philipp Moritz, die deutsch-französischen Animositäten und die adelsfeindlichen Ressentiments der vor einem Jahrzehnt gescheiterten Revolutionäre vorgaben. Mit dem Aufkommen jedoch des Sozialdarwinismus ließ sich die Familiengeschichte der Bachs unversehens ganz anders interpretieren. Wie zu erwarten, sollte etwa die deutsche Musikwissenschaft der Dreißigerjahre in ihnen denn die »Kernkraft des deutschen Volkes« repräsentiert sehen. 34 Was aber im besonderen Friedemann Bach betrifft, so war er bequem, wenn nicht unweigerlich mit der Facette zu assoziieren, die den frühen Thomas Mann am sozialdarwinistischen Gedankengut so sehr faszinierte. Vor dem Hintergrund der Entartungstheorie dürfte Friedemann Bachs Biographie, in der Form, in der sie über Brachvogels Roman ins kollektive Gedächtnis gedrungen war (und die sich übrigens, aus trüben Quellen geschöpft, von den historisch ermittelbaren Tatsachen mitunter ziemlich weit entfernt 35), geradezu zwangsläufig als ein Musterbeispiel für die Degeneration oder den »Verfall« ganzer »Familie[n]« erschienen sein, wie ihn Thomas Mann in den Buddenbrooks und eben auch im Kleinen Herrn Friedemann novellistisch gestaltete. Die unglückliche Liebe des epitheto constante »kleine[n]« Herrn Friedemann hat also soziale und soziobiologische Weiterungen, ebenso wie ihre diversen Wiederholungen und Variationen: In der zweitletzten Erzählung desselben Zyklus beispielsweise (der im selben Jahr erschien, in dem es erstmals einer Frau in Deutschland zu promovieren gelang), Der Bajazzo, begehrt ein wieder ›entarteter‹ Besitzbürger und Früh- oder Frühstrentner eine Frau aus dem arrivierten und aufstrebenden Bildungsbürgertum, die endlich prompt noch in den Adel einheiratet. 36 Thomas Manns frühe Liebes- und Leidensgeschichten scheinen daher zunächst einfach die Existenzängste eines verkrachten Gymnasiasten, wilden Studenten und 34
35 36
Joseph Müller-Blattau, Johann Sebastian Bach. Leben und Schaffen, Leipzig: Reclam, o. J. [1935], S. 3. Zum Fortwirken der völkisch-nationalistischen Bach-Rezeption in der Verfilmungsgeschichte des Thomas Mannschen Œuvres vgl. Elsaghe, »Donnersmarck« und »Blumenberg«, S. 70 f. Vgl. Friedrich Blume, [Artikel:] Bach, Wilhelm Friedemann, in: ders. (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Bd. 1, Kassel und Basel: Bärenreiter, 1949–1951, Sp. 1047–1056, hier Sp. 1053 f. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 724, 733–735.
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halbwaisen Muttersohns ›widerzuspiegeln‹, der mit dem Umzug nach München ein Gutteil seines sozialen Kapitals und durch das Testament seines Vaters die Aussichten auf ökonomische Kapitalien weitgehend eingebüßt hatte: »Was mich betrifft«, lautet die Grußformel eines Briefs vom August 1899, »so bin ich nichts«.37 Nicht umsonst also konnte Thomas Mann von den »Männerchen« seines Frühwerks samt und sonders behaupten, daß sie »gar niemande[m]« glichen als ihm »selber«.38 Trotzdem greift solch ein individualpsychologischer Ansatz etwas zu kurz. Denn das Phänomen, das er zu erklären versucht, aber eben nur zur einen Hälfte erklärt, scheint die biographischen Gegebenheiten zu überdauern, die ihm zugrunde liegen. Das einseitig-unglückliche Begehren der dekadenten Bürger nämlich touchiert die soziale Schranke zur Nobilität auch noch in Erzähltexten aus einer Zeit, zu der deren Autor seinen Statusverlust mit kulturellem und symbolischem, auch handfest ökonomischem Kapitalgewinn mehr als nur kompensiert hatte. Im Tod in Venedig zum Beispiel begehrt »Gustav Aschenbach oder von Aschenbach« 39 einen offensichtlich geborenen Adligen. Wenn die bei Thomas Mann unglücklich Liebenden mit ihrem unerfüllten Begehren regelmäßig die Standesgrenze zum Adel tangieren, dann muß das also noch andere als biographisch-psychologische Gründe haben, nämlich sozialgeschichtliche. Die in den unglücklichen Liebesgeschichten des frühen und früheren Erzählwerks erhärtete Solidität des Standesunterschieds reflektiert die Grenzen, die der sozialen Mobilität des wilhelminischen Bürgertums, des Bürgers, gesetzt waren. Und vor allem gibt sie etwas von dem ideologischen Überbau zu erkennen, der diesen Standesunterschied mit legitimierte. Daß die erotische Aura der begehrten Frauen (und Jungen) an deren Standes- oder Klassenstatus gebunden bleibt, verrät etwas von der ›neofeudalistischen‹ Ideologie des Wilhelminismus. Diese taxierte das Individuum oder ›Subjekt‹ primär ja nicht nach seiner Leistung (›achievement‹), sondern zuerst und zuletzt nach seiner Herkunft oder ›Geburt‹ (›ascription‹). 40 Die Priorität des Herkunftsprinzips, das einem Schulversager aus guter Familie viel weiter entgegenkommen mußte als der bürgerlichmeritokratische Leistungsgedanke, scheint in Thomas Manns Texten wie gesagt weit über die Zeit hinaus erhalten zu bleiben, da er gewissermaßen 37 38 39 40
Brief vom 8. Juli 1899 an Kurt Martens, in: Thomas Mann, Briefe I. 1889–1913, hg. v. Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini, Frankfurt a. M.: Fischer, 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 21), S. 108–109, hier S. 109. Bd. 10, S. 22. Bd. 8, S. 444; im Original keine Hervorhebung. Talcott Parsons, The Social System, Glencoe (Illinois): Free Press, 1951, S. 117–119.
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zu ihren Profiteuren gehörte oder sie ihm seine Selbstachtung zu retten half. So erscheint sie eben untergründig auch noch im letzten Text, den Thomas Mann unter der Monarchie schrieb oder vollendete, im Tod in Venedig. Darin versucht er übrigens wie nun auch sonst,41 den unüberwindlichen und für ihn jetzt wohl auch schmerzlich fühlbar gewordenen Widerspruch von Herkunfts- und Leistungsprinzip aufzuheben, indem er zu diesem Zweck die sophistische, aber durch die Autorität Goethes 42 geschützte Formel von den »natürliche[n] Verdienste[n]« aufbietet. 43 Daß das sexuelle Begehren beziehungsweise seine Vergeblichkeit bei Thomas Mann die längste Zeit an die Stratifikation der wilhelminischen Gesellschaftsordnung gebunden blieb, läßt sich auch ex negativo aufzeigen: einerseits an der einzigen, geradezu ›märchenhaft‹ glücklichen Liebesgeschichte, die er unter den Bedingungen dieser Ordnung je erzählte; andererseits an dem Erzählwerk, das er nach deren Zusammenbruch schrieb. In Königliche Hoheit (1909), bei der Heirat eines deutschen Prinzen mit der Tochter eines deutsch-amerikanischen Milliardärs und »Railway Kings«, 44 »Eisenbahnkönig[s]«, 45 handelt es sich, wie der Romantext fast schon penetrant deutlich macht, nicht einfach nur um ein ›match making‹ von Hochadel und Großkapital und schon gar nicht um eine eigentliche Mesalliance, sondern um die Verbindung zweier ›vermöge‹ ihrer vergleichbar exponierten Stellung Ebenbürtiger. Und von den Erzähltexten, die Thomas Mann während der Weimarer Republik schrieb, hat sehr bezeichnenderweise überhaupt nur einer diese Republik zum Gegenstand, und zwar die wirtschaftlich besonders verheerende »Unordnung« der Hyperinflation, obwohl er bereits nach der Währungsreform entstand. Vor dem ökonomischen Hintergrund des Wertesturzes rückt die Republik in Unordnung und frühes Leid als ganze in ein resignatives Licht. Die republikanischen Verhältnisse erscheinen in toto als verkehrte Welt. Als verkehrt und pervertiert gestalten sich auch die Geschlechteridentitäten – Männer schminken sich 46 – und insbesondere die Klassenverhältnisse 41 42 43 44 45 46
Bd. 2, S. 613; Bd. 5, S. 1262; Bd. 6, S. 114 f.; Bd. 7, S. 330; Bd. 9, S. 101, 735; Bd. 10, S. 559. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil, in: ders., Werke, hg. i. A. der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar: Böhlau, 1887–1919, Abt. I, Bd. 28, S. 45. Bd. 8, S. 503. Thomas Mann, Königliche Hoheit. Roman. Kommentar von Heinrich Detering, Frankfurt a. M.: Fischer, 2004 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 4.2), S. 413 f.; im Original keine bzw. andere Hervorhebung. Bd. 2, S. 152; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 637. Zur ›ungeschminkten‹ Homosexualität auch des »Wandervogel-Typ[s]« (ebd.) vgl. Bd. 10, S. 195 f., mit Sander L. Gilman, Franz Kafka. The Jewish Patient, New York und London: Routledge, 1995, S. 158.
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samt ihren Abstrahlungen in Bekleidungs-, Tanz- und Musikkultur, die die äußere Voraussetzung für das »frühe[] Leid« bildet und in deren, wenn auch dezent verhaltener Kritik ältere Überfremdungsängste und Xenophobismen mit dem modernen Antiamerikanismus zusammenfinden: 47 »Shimmys, Foxtrotts und Onesteps […], diese Double Fox, Afrikanischen Shimmys, Java dances und Polka Creolas – wildes […] Zeug […], von fremdem Rhythmus, ein monotones, mit orchestralem Zierat, Schlagzeug, Geklimper und Schnalzen aufgeputztes Neger-Amüsement«. 48 Ein Lied von einem »Joli tambour«, das in seiner Fremdsprachigkeit natürlich seinerseits Teil einer sukzessiven Einbuße der Eigenkultur, der eigenen Sprache und Sprachfamilie ist – erst mutmaßlich »Schwedisch«Germanisch, dann eben Französisch-Indogermanisch und endlich auch »[n]och etwas Ungarisches […], in der wildfremden Originalsprache vorgetragen« 49 –, läuft auf eine extreme Mesalliance hinaus: »Sire, mon roi, donnez-moi votre fille –«. 50 Die eingespielte Operette Der Fürst von Pappenheim zelebriert, wie ein »revolutionärer« und homosexueller »Hofschauspieler«,51 eine hochstaplerische Verballhornung der feudalistischen Nomenklatur. Denn in Hugo Hirschs Operette von 1923 ist der sich als solcher ausgebende »Fürst von Pappenheim« ›nur‹ ein »Egon Fürst«, angestellt bei einer Firma namens »Pappenheim« und als Angestellter Repräsentant eines Berufsstands, den Siegfried Kracauer wenige Jahre später als den für das »neueste[] Deutschland« und seine »Strukturwandlungen der Wirtschaft« schlechthin charakteristischen identifizieren sollte.52 Die eigentliche Geschichte aber des »frühe[n] Leid[s]«, die Leidenschaft einer Sechsjährigen für einen erwachsenen Mann, ist zwar assoziativ mit der Isotopie des mundus inversus verbunden. Aber an und für sich bleibt sie eigentlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Zerrüttung vollständig dissoziiert. Oder anders und vielleicht besser gesagt, wäre sie gerade nur in dieser einen Hinsicht unproblematisch. Die Binnenordnung der bürgerlichen Klassengesellschaft bliebe ja von der Liebe einer Professorentochter zu einem »stud. ing.« 53 vollkommen unberührt. Erst unter den Bedingungen der Republik also, so scheint es, entfällt das wesentliche ›glass ceiling‹, an dem die unglücklich Liebenden und Verliebten 47 48 49 50 51 52 53
Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 235 f. Bd. 8, S. 647; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 641 f.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 642; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 638; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 209 f. Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neusten Deutschland. Mit einer Rezension von Walter Benjamin, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971, S. 12. Bd. 8, S. 621, 641, 649.
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sonst zu scheitern haben und das denn hier in Gestalt sehr unterschiedlicher Lebensalter unverzüglich durch ein anderes, nun wirklich ganz unüberwindliches Hindernis substituiert wird. – Erst im Exil, unter der amerikanischen Demokratie, besinnt sich Thomas Mann auch auf die besseren und ›Goldenen‹ Jahre der Weimarer Republik. In der Betrogenen als dem überhaupt einzigen Text, der ausschließlich diesen vergleichsweise guten Jahren gewidmet ist, erscheint denn auch endlich ein Begehren, das von der ›upward mobility‹ des deutschen Bürgertums wie allerdings auch von diesem selbst abgespalten bleibt. Der Begehrte hat kein symbolisches Kapital wie ein Tadzio, eine Gerda von Rinnlingen oder auch ein Hans Hansen. Der Gegensatz, in dem die betreffende Lücke im Merkmalssatz des Geliebten zu dem der früheren Sexualobjekte steht, wird in der Betrogenen gewissermaßen sogar thematisch; und zwar in einem großen Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter. Die Tochter, die auch sonst im Gespräch ganz ungewöhnlicherweise und zum Zeichen der verkehrten Welt die konservativen Positionen von »Anno dazumal« 54 vertritt, argumentiert dabei im Grunde noch dem neofeudalistischen Standes- und Klassendenken entlang. Sie versucht der Mutter deren Liebe gerade dadurch auszureden, daß sie auf diese Lücke hinweist: Es sei »nichts Besonderes an ihm«. Dem entgegnet die Mutter in zweifacher Weise, die zu beiden Hälften ein durch das Exil vollkommen verändertes, um nicht zu sagen: geläutertes Verhältnis zur Demokratie und zu den USA erkennen läßt: »[…] Du nennst ihn nett, nennst ihn eben nur ansprechend und willst damit sagen, daß er ein Durchschnittsmensch und nichts Besonderes an ihm ist. Aber er ist ja ein ganz außergewöhnlicher Mensch, dessen Leben ans Herz greift. Bedenke seine schlichte Herkunft, wie er sich mit eiserner Willenskraft durchs College gearbeitet und dabei in der Geschichte und in den Leibesübungen alle seine Mitschüler übertraf […] […] Immer spielst du auf seine Durchschnittlichkeit an und willst ihn mir damit ausreden, daß du ihn, wenn nicht direkt, so doch andeutungsweise als simpel, als einen einfältigen Jungen hinstellst. Aber du vergißt, daß Einfalt etwas Erhabenes und Siegreiches sein kann, und daß seine Einfalt den großen demokratischen Geist seines weiten Heimatlandes zum Hintergrund hat…« 55
Zum einen wird der Einwand von der »Durchschnittlichkeit« mit einem Argument aufgefangen, das mit dem genealogischen Herkunftsdenken radikal bricht, dieses nicht mehr über ›natürliche‹ oder ›angeborene‹ Verdienste oder sonstwelche Sophismen an das Leistungsprinzip zu vermitteln versucht. Dieses bürgerlich-meritokratische Prinzip ist hier vielmehr 54 55
Bd. 8, S. 927. Bd. 8, S. 913 f.
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das einzige, das wirklich noch zählt. Einzig und gerade »seine schlichte Herkunft« macht den (wenn auch krankhaft) Begehrten zum »ganz außerordentliche[n] Menschen«, weil er es eben dieser Herkunft zum Trotz »mit […] Willenskraft« zu einer ›tertiären‹ Ausbildung brachte (wie sie seinerzeit auch in den USA ein Minderheitsprivileg war56). Zum andern hingegen wird seine »Durchschnittlichkeit« doch auch wieder nicht geleugnet, aber zum Guten umgewertet. Sie ist jetzt Ausdruck eines nun explizit »großen demokratischen Geist[s]«; und dieser »demokratische[] Geist« steht in Beziehung zur Weite seiner geographischen »Herkunft«. Die Vorstellung vom ›open space‹, die freilich, genauer genommen, als Topos amerikanischer Selbstbeschreibungen noch vor Kens Geburt obsolet geworden war, 57 wird hier (und wurde auch schon in den Entwurfsnotizen) mit dem »Geist« der Demokratie in eine offenbar selbstverständliche, aber, weil die Tochter ihre Mutter unterbricht, nicht weiter erläuterte Beziehung gebracht. Wenn man versucht, die Leerstelle der Auslassungspunkte zu füllen, die diese Unterbrechung markieren, dann muß der hier vorausgesetzte Zusammenhang wohl etwa so aussehen: Demokratie, als Ebenbürtigkeit aller verstanden, ist das soziale Äquivalent geographischer Weite und dünner Besiedlung. Im Umkehrschluß sind gesellschaftliche Stratifikationen und steile Hierarchien die Kehrseite räumlicher Begrenzung und begrenzter Raumressourcen, die eine vertikale Ordnung gewissermaßen wie von selbst hervorbringen; eine Gleichung, wie sie von einem Stadtstaat wie Lübeck her gesehen besonders naheliegen mochte und wie sie denn in Texten wie den Buddenbrooks, Der kleine Herr Friedemann oder Tonio Kröger besonders zum Tragen kommt, deren Handlung je supplierbar im ›alten‹ Lübeck spielt.
1.2 Ken Keaton und die stereotypen Amerikaner des früheren Erzählwerks Es spricht also Bände, wenn in der Betrogenen mit Ken Keaton ein Amerikaner und ›self-made man‹ die Stelle des Begehrten und Deuteragonisten einnehmen kann oder wenn er dem Hans Hansen von einst äußerlich und 56
57
Vgl. William H. Jeynes, American Educational History. School, Society, and the Common Good, Thousand Oaks (Kalifornien) et al.: Sage, 2007, S. 202; Wilson Smith und Thomas Bender (Hgg.), American Higher Education Transformed, 1940–2005, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2008, S. 86 f. Vgl. Urs Stäheli, Spektakuläre Spekulation. Das Populäre in der Ökonomie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 182 f.
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bis in die Reduplikativität seines Namens gleicht wie keine zweite Figur des Gesamtwerks. Symptomatisch dafür scheint schon zu sein, daß er sich in seiner unerhörten Stellung sozusagen nicht zurechtzufinden weiß. Jedenfalls macht der Erzähler seltsam widersprüchliche Angaben darüber, ob, wie und wann der Begehrte realisiert, »daß er […] an dieser grauhaarigen, aber reizvollen Europäerin eine Eroberung gemacht hat[]«. 58 Erst kommt er gar »nicht darauf«, »ihre Empfindungen« für ihn »richtig zu deuten«.59 Dann aber, keine drei Wochen später (»[e]ine Woche« plus »[a]cht Tage« plus »drei Tage« 60), soll ihm alles schon »längst zu seinem Vergnügen klar geworden« sein. 61 Die Betrogene, die Thomas Mann ja als amerikanischer Staatsbürger schrieb und denn auch auf amerikanischem Territorium zu schreiben wenigstens noch begann, reflektiert mit der Figur des Ken Keaton die Exilerfahrung. Dieser steht den amerikanischen Figuren des früheren und frühen Erzählwerks diametral gegenüber, die dort je nur als Statisten und noch dazu in stark abnehmender Frequenz auftauchen: vier in der dänischen Pension des Tonio Kröger; einer im Bäderhotel des Tods in Venedig; kein einziger im Davoser Sanatorium des Zauberbergs (1924), trotz dessen sonst ja bis in den Nahen und Fernen Osten internationaler Besetzung und obwohl das »Waldsanatorium Prof. Jessen« zu Katia Manns Zeiten, nach Ausweis der Fremdenlisten der Davoser Blätter, durchaus auch amerikanische Kundschaft hatte, so in Gestalt eines »Frl Emma Berger, Milwaukee«. 62 Mag sein, daß dieses »Frl« sogar das ›Vorbild‹ abgab für die eine und einzige amerikanische Figur, die im Roman quasi ohne vorzukommen vorkommt, das heißt paradoxerweise nur als abwesende vorkommt. Diese eine nämlich ›erscheint‹ nur in der makabren Gestalt sozusagen eines Gespensts oder Phantoms. Denn Hans Castorp bezieht im Ersten Kapitel das Zimmer einer soeben pünktlich und rechtzeitig verstorbenen Amerikanerin. Der ganze Zauberberg beruht somit gewissermaßen auf einer Ausgrenzung des Amerikanischen, auf dessen Verdrängung ins ›Unheimliche‹. Und jedenfalls scheint diese ›gespenstische‹ Ausgrenzung nicht zufällig zu sein. Denn unter der Überschrift »Fragwürdigstes« wiederholt sie sich im letz58 59 60 61 62
Bd. 8, S. 932. Bd. 8, S. 908. Bd. 8, S. 920 f., 932. Bd. 8, S. 932; im Original keine Hervorhebung. Davoser Blätter, 7. September 1912 [o. P.]. Vgl. Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, Frankfurt a. M.: Fischer, 21996, Bd. 2, S. 1460; Thomas Sprecher, Davos im Zauberberg. Thomas Manns Roman und sein Schauplatz, Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 1996, S. 323, Anm. 238.
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ten Kapitel. Ellen Brand nämlich, das Medium der spiritistischen Sitzungen, soll »in ihrem Elternhause zu Odense« 63 eine dafür genau einschlägige »Erscheinung« gehabt haben. »[F]rühmorgens« habe Ellen »ihre in Amerika verheiratete […] Schwester Sophie stehen sehen […]. Doch dann hatte sich erwiesen, daß in dieser selbigen Morgenstunde Schwester Sophie in New-Jersey […] gestorben war.« 64 Die Assoziation Amerikas mit dem ganz Anderen des Todes, wie sie natürlich ihrerseits einen Unterschied zur Betrogenen ausmacht, ist hier in der Tat ›fragwürdigst‹. Sie ist angestrengt und sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste gewollt. Sie ist mit einem Plausibilitätsverlust verbunden und mit einer eigentlich offenkundigen Unstimmigkeit erkauft. Denn eine »selbige[] Morgenstunde« kann es in Odense und »New-Jersey« natürlich nie und nimmer geben. Die Nonchalance, mit der hier die Zeitzonen kassiert und die Eigenwesentlichkeit Amerikas ganz handgreiflich ignoriert wird, scheint symptomatisch zu sein für überhaupt alle Amerikaner, die vor dem Exil in Thomas Manns Erzählwerk auftauchen, aber nota bene immer schon in männlicher Gestalt: von Ellen Brands Schwager in »New-Jersey« über »de[n] Amerikaner[]«, der in der Halle des Bäderhotels den Völkerkatalog eröffnet und sich dort, im Tod in Venedig, durch sein grammatisches Genus von der sonst indifferenten oder aber weiblichen Sexuierung seiner Umgebung unterscheidet – »die […] russische Familie, englische Damen, deutsche Kinder mit französischen Bonnen« 65 –, bis zurück zu den »drei […] amerikanische[n] Jünglinge[n]« 66 des Tonio Kröger und ihrem Hauslehrer »oder« »Gouverneur«.67 (So nennt ihn der Erzähler mit einem seltsamerweise gallisierenden, in dieser Bedeutung freilich im Amerikanisch-Englischen auch damals schon hoffnungslos archaistisch-anachronistischen Fremdwort.68) Die Amerikaner, die in Thomas Manns frühem und frühestem Erzählwerk in persona auftreten, bezeichnen jeweils eine größtmögliche Differenz zu der Stelle, die in der Betrogenen dann der Amerikaner Ken Keaton besetzen wird und die in diesem früheren Erzählwerk eben ein Hans Hansen oder auch der polnische Adlige Tadzio einnimmt. Die Amerikaner des Tonio Kröger, am Schluß eines Personenkatalogs so eingeführt, daß man auf 63 64 65 66 67 68
Bd. 3, S. 916. Zu Odense und seiner Assoziiertheit mit Hans Christian Andersen vgl. Maar, Geister und Kunst, S. 252 f. Bd. 3, S. 916. Bd. 8, S. 469; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 324; vgl. S. 327. Bd. 8, S. 324. Vgl. Oxford English Dictionary, Bd. 6, Oxford: Clarendon Press, 21989, S. 713, s. v. ›governor‹.
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ihr Portrait nicht weiter gespannt zu sein braucht – »Dann waren nur noch drei große amerikanische Jünglinge […]« 69 –, diese »amerikanische[n] Jünglinge« also bilden in ihrer Fadheit und Langweiligkeit sozusagen die Steighöhe zur eigentlichen Klimax des Plots, die der Kursiv- beziehungsweise, in der Fraktur des Erstdrucks, der Sperrsatz als solche eigens ausweist: »[…] und die Amerikaner tranken heißes Wasser und machten lange Gesichter dazu. / Da geschah dies auf einmal: Hans Hansen und Ingeborg Holm […].« 70 Dieselbe Fall- oder Steighöhe bezeichnet dann auch wieder ›der‹ Amerikaner im Tod in Venedig, über den es weiter nichts zu sagen gibt, als daß er eine »trockene und lange Miene« hat. 71 »[D]ie trockene und lange Miene des Amerikaners« markiert den äußersten Abstand zum erotischen Faszinationszentrum, obwohl und gerade weil ›der‹ Amerikaner hier den Personenkatalog nicht etwa wieder beschließt, sondern ihn ganz im Gegenteil eröffnet. Über »die« »russische Familie, englische Damen, deutsche Kinder« und »französische[] Bonnen« nämlich läuft der betreffende Passus auf den »slawische[n] Bestandteil« der Hotelgesellschaft und endlich auf die »polnisch[e]« Sprache zu, eben auf die damit gleichsam konzentrisch eingekreiste Figur des Begehrten, zu dem ›der‹ zuerst aufgezählte Amerikaner dadurch eben in größtmögliche Entfernung gerät. 72 Soweit sie überhaupt welche tragen, sind die Merkmale dieser frühen Amerikaner von einer schlechterdings schulbeispielhaften Klischiertheit, während Ken Keaton, obgleich er sich in seiner »Durchschnittlichkeit« für eine solche Stereotypisierung noch so vortrefflich eignete, gerade ein individuelles »Gesicht« erhält. Er bekommt eine individuelle Lebens- beziehungsweise Vorgeschichte, wie sie den frühen Amerikanern je vorenthalten bleibt. Wenn in der Betrogenen die topisch-antiamerikanistischen Stereotypen überhaupt noch abgerufen werden, dann in einer sich selbst relativierenden, sich gleichsam selbst immunisierenden Form, in der Volte nämlich eines artikulierten jugendlich-amerikanischen Selbsthasses, wie ihn Thomas Mann durchaus nicht zu erfinden brauchte, sondern aus seiner Korrespondenz nachweislich kannte. 73 So ist etwa der Topos von ›der‹ amerikanischen Geschichtslosigkeit und Vergangenheitsvergessenheit einem in den Mund gelegt, der von der Geschichte des Handlungsorts mehr
69 70 71 72 73
Bd. 8, S. 324; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 327. Bd. 8, S. 469. Ebd. Vgl. den Tagebucheintrag vom 12. März 1945; Tagebücher 1944–1.4.1946, S. 174; und den Brief vom 16. März 1945 an Daniel D. MacMasters (Thomas Mann-Archiv).
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weiß als eine ganze deutsche Familie »zusammengenommen«,74 die auch noch dem Adel angehört: das heißt ausgerechnet der »Klasse«, von der Maurice Halbwachs zur erzählten Zeit feststellte, daß sie »lange Zeit der Grundpfeiler des Kollektivgedächtnisses gewesen ist«.75 Demgegenüber sind Thomas Manns frühe Amerikaner ›stereotyp‹ in dem genauen Sinn, in dem Walter Lippmann 1922 diese drucktechnische Metapher neu prägte. 76 Im Gästekatalog des Tods in Venedig werden alle anderen und alle möglichen Amerikaner auf eine für den völkertypologischen Diskurs charakteristische Weise unter eine einzige, eben stereotype Vorstellung subsumiert, wenn mit immer schon bestimmtem, also kollektiv gemeintem Artikel von der »trockene[n] und lange[n] Miene des Amerikaners« die Rede ist. 77 Genau reziprok zu dieser ›Vereinfachung‹ des Verschiedenen, aber womöglich noch bezeichnender für die ihr zugrunde liegende Logik verhält es sich bei den Portraits von Thomas Manns allerersten Amerikanern, nämlich jenen »drei […] Jünglinge[n]«. Diese sind vollkommen identische Kopien oder Abdrücke einer und derselben Matrize. Sie gleichen sich ›aufs Haar‹. Sie haben alle drei dieselbe »rotgelbe[]« Haarfarbe: nicht etwa einfach eine ›gut‹ germanisch »blonde[]« wie Ken Keaton oder eben auch Hans Hansen.78 Alle drei sind nur eben »groß[]«:79 nicht etwa »vorzüglich gewachsen« 80 wie Ken Keaton oder Hans Hansen. 81 Und sie »ha[b]en« beziehungsweise »mach[]en« dieselben »lange[n] Gesichter«, 82 wie ›der‹ Amerikaner auch im venezianischen Bäderhotel wieder eines zur Schau tragen wird: während Ken Keatons »freundliches Jungengesicht«, »das dank einem Anfluge angelsächsischen Gepräges denn doch […] nicht ganz gewöhnlich wirkt[]«, zwar nicht geradezu so »hübsch und wohlgestaltet« ist wie dasjenige Hans Hansens, »aber auch nicht unangenehm[]«. 83 Wie sie symbiontisch-klonhaft gleich sind und aussehen, so tun sie auch immer und simultan dasselbe. Sie spielen mit ihrem Hauslehrer »tag-
74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
Bd. 8, S. 899. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 308. Walter Lippmann, Public Opinion, New York: Free Press, 1997, S. 54 f. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Abt. II, 2. Teil, Sp. 2455, s. v. ›Stereotyp‹. Bd. 8, S. 469; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 272, 895. Bd. 8, S. 324. Bd. 8, S. 895. Bd. 8, S. 272. Bd. 8, S. 324, 327. Bd. 8, S. 272, 895; im Original keine Hervorhebung.
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über […] Fußball«.84 Und sie pflegen »heißes Wasser« zu trinken,85 obwohl es sich bei diesem scheinbar stereotypen Verhalten um etwas eigentlich gänzlich Atypisches handelt – Wasser konnte in den Vereinigten Staaten seit eh und je nicht kalt genug serviert werden 86 –, vermutlich um eine Verwechslung. Denn im England des frühen zwanzigsten Jahrhunderts scheint es eine entsprechende diätetische Maßregel tatsächlich gegeben zu haben. 87 Dagegen werden an Ken Keatons Benehmen akkurat die tatsächlichen Eigentümlichkeiten des amerikanischen Verhaltenskodex »beobachtet[]«: die »Sitte«, »das Fleisch zuerst in kleine Stücke« zu schneiden und das Speisemesser dann nicht mehr zu benutzen; und wiederholt ein Entschuldigungsritual: »daß er, wenn er […] ein wenig aufstoßen muß[], die Hand vor den Mund legt[] und ›Pardon me!‹ sagt[]«.88 In den Blick rücken hier also – wie übrigens auch in den späteren Kapiteln des Felix Krull 89 – durchaus »nicht unmanierliche[]« 90 Verhaltensweisen. Diese ließen sich dem Stereotyp vom unterzivilisierten Amerikaner gerade nicht mehr integrieren. Vielmehr widerlegen sie es. Denn auf der Trajektorie des sogenannten Zivilisationsprozesses,91 also der fortlaufend hinausgeschobenen Schamgrenzen und der sukzessiven Entfremdung der Tischsitten von den facta brutissima der Ernährung, bedeuten solche »Gewohnheiten« gegenüber den deutsch-europäischen Standards selbstverständlich je einen markanten Fortschritt: Eine weitere Funktion oder Nebenerscheinung des Verdauungsvorgangs fällt unter das Tabu der 84
85 86 87 88 89 90 91
Bd. 8, S. 324. Vermutlich ist damit eine Lehnübersetzung oder Lehnbedeutung aus englisch ›football‹ gemeint, wie es seinerzeit für die supplierbare Klasse wahrscheinlich wäre, und nicht »Fußball« im modernen Sinn der Sportart, die in Deutschland freilich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu allgemeiner Popularität gelangte. Seinerzeit, um 1900, galt Fußball als ein proletarisch oder aber ›jüdisch‹ besetztes Spiel, als eines nämlich, das die von deutschen Turnvereinen ausgeschlossenen Juden aus England gleichsam mitgebracht hatten. Vgl. Naomi Lubrich, Wann ist ein Fußballer ein Jude? Geschichte einer glücklichen Misere, in: Jürgen Mittag und Jörg-Uwe Nieland (Hgg.), Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen: Klartext, 2007, S. 69–81, hier S. 70 f.; dies. [Naomi Bodemann-Ostow], Fußlümmelndes Stauchbeinspiel. Judentum und Fußball gestern und heute, in: Museumsjournal des Jüdischen Museums Berlin 2, November 2000, S. 10 f., hier S. 10. Bd. 8, S. 324, 327. Vgl. Marc Valance, Eisgekühlt, Zürich: Vontobel, 2007 (Vontobel-Schriftenreihe, Bd. 1790), S. 18. Vgl. Encyclopaedia Britannica, Bd. 26, Cambridge et al.: Cambridge University Press, 111911, S. 799, s. v. ›Therapeutics‹. Bd. 8, S. 895, 908. Bd. 7, S. 503. Bd. 8, S. 895. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997 (Gesammelte Schriften, Bd. 3.1 f.).
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Körperscham, wie es Entschuldigungen für dessen Verletzung voraussetzen. Und der »Fleisch«-Konsum ist seiner blutigen Grundlage noch einen Schritt weiter entfremdet, wenn das Messer so bald als möglich aus der Hand gelegt wird. – Symptomatischer vielleicht als alles andere ist für die späte Aufwertung ›des‹ Amerikaners das Verhältnis, das der Erzähler nun zu dessen Sprache gewinnt. Dieses Verhältnis allein schon, in seinem Kontrast zum gerade auch hier herablassenden Erzähler des Frühwerks, gibt zu verstehen, daß ein Amerikaner oder doch ein Autor Die Betrogene geschrieben hat, der ›die eigene Rede des andern‹ nun aus langjähriger Immersionserfahrung kennengelernt hat. Versuchten sich in Tonio Kröger jene »amerikanische[n] Jünglinge« in Aalsgard befremdlicherweise nicht etwa im Dänischen, sondern, in Gegenwart nur gerade eines einzigen Deutschen und ohne diesen zu adressieren, bemühten sie sich kläglich um einzelne deutsche Brocken – »›Please, give me the wurst-things there!‹ […] ›That’s not wurst; that’s schinken!‹« 92 –: scheiterten also diese amerikanischen Anverwandlungen des Deutschen schon am Alltäglich-Banalsten, so eignet sich nun, in der Betrogenen, der deutsche Erzähler umgekehrt das Amerikanisch-Englische an. In Akten extremer ›interner Fokalisation‹ oder ›erlebter Rede‹, in denen er eben nicht nur seine Perspektive, sondern auch seine Sprache der Figur des Amerikaners bis zu einer virtuellen Konvergenz annähert, unterläßt er es sogar wiederholt, dessen Sprache von der eigenen auch nur durch Anführungszeichen abzugrenzen, so daß eines dieser als solche interpunktorisch gar nicht mehr ausgewiesenen Zitate in der Erstpublikation sogar ans Ende des ersten Teils zu stehen kam: Deutschland! Das war sein Lieblingsland, obgleich er wenig weit darin vorgedrungen war und eigentlich nur die Ortschaften am Bodensee und dann, dies allerdings sehr genau, das Rheinland kannte. Das Rheinland mit seinen lieben, lustigen Leuten, so aimable [sic!], besonders wenn sie ein bißchen »knüll« seien; mit seinen altehrwürdigen Städten voller Atmosphäre, Trier, Aachen, Koblenz, dem heiligen Köln, – man solle nur einmal versuchen, eine amerikanische Stadt »heilig« zu nennen – Holy Kansas City, haha! Der Goldschatz, gehütet von den Nixen des Missouri-River, hahaha – Pardon me! 93
92 93
Bd. 8, S. 324. Bd. 8, S. 898 f., bzw. Vorabdruck, in: Merkur 63 (7.5), S. 417; »Pardon me!«, »Holy Kansas City« und »Missouri-River« hier hervorgehoben; ebenso »amiable« statt »aimable« (in der ersten Buchausgabe noch die korrekte englische Form »amiable«: Thomas Mann, Die Betrogene. Erzählung, Frankfurt a. M.: Fischer, 1953, S. 41).
Geschlechterrollen im Spätwerk
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1.3 Die Umkehrung der Geschlechterrollen im Spätwerk Obwohl Ken Keaton im Vergleich mit Thomas Manns früheren Amerikanern also sehr erheblich aufgewertet ist, bleibt er der deutschen Aristokratin, die ihn begehrt, an sozialem und symbolischem Kapital selbstverständlich weit unterlegen. Insofern, als das Begehren der Hauptfigur hier demnach einem Sozialgefälle folgt, parallel und nicht mehr gegenläufig dazu, bezeichnet Die Betrogene innerhalb des Gesamtwerks wie gesagt einen Paradigmenwechsel und -bruch. Weil es sich hier aber ganz ausnahmsweise um eine weibliche Hauptfigur handelt, bleibt eine andere Regelmäßigkeit des Gesamtwerks von diesem Bruch vollkommen unberührt. Die Umkehrung der typischen oder idealtypischen Geschlechterrollen bleibt in der Betrogenen als solche erhalten, wenn sie sich hier wie im Spätwerk überhaupt nicht noch verschärft. Beispiele für Inversionen dieser Art ließen sich etwa in den Vertauschten Köpfen 94 (1940) oder in den späten Kapiteln der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull finden: Madame Houpflé – »die Herrin« 95 mit dem ausdrücklich kleidsamen Damenbart »auf der Oberlippe« 96 –, die unter ihrem »Mädchennamen Diane Philibert« schreibt, coram publico also »sous ce nom de plume« ihren Ehestand schlankerhand annulliert, 97 und ausnehmend verächtlich von ihrem Mann und dessen Potenzproblemen spricht, – diese Domina sucht sich hier einen »nichtigen […] Dümmling«, »ganz gemeinen Domestikenjungen«, »petit esclave stupide«,98 der ebenfalls ihr »Sohn sein könnte«. Mit diesem virtuellen Mutter-Sohn-Verhältnis, auf das der Altersunterschied zwischen ihr und Felix hinausläuft, und mittels eines an Anna von Tümmlers Argumentation erinnernden Psychologismus motiviert sie vermutenderweise sogar gleich selbst ihre Päderastie, nämlich als Symptom »[v]ielleicht« eines unerfüllt gebliebenen Kinderwunschs, einer ungestillten »Sehnsucht nach dem Sohn«, einer »versetzte[n] Mutterliebe«. 99 Die »majestätische[]« 100 Dona Maria Pia, ein Doppelname, mit dem Thomas Mann in der Handschrift den von der Oper her wohl berühmte94
Vgl. Yahya Elsaghe, Zu Thomas Manns ›mythischer‹ Selbstidentifikation mit Goethe in Lotte in Weimar, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 102/103, 1998/1999, S. 157–177, hier S. 166 f. 95 Bd. 7, S. 435. 96 Bd. 7, S. 419. 97 Bd. 7, S. 443. 98 Bd. 7, S. 442 f. 99 Bd. 7, S. 445. 100 Bd. 7, S. 561.
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sten Namen einer ›iberischen‹ »Donna« ersetzte: »Elvira« – Maria Pia (von Savoyen) hieß zur erzählten Zeit und am Handlungsort der letzten KrullKapitel die Königinmutter 101 –, Dona Maria Pia also regrediert ihrerseits einmal auf ihren ›Mädchen‹-, ihren vorehelichen Namen. »[D]em Matronenalter« nahe, 102 betrügt sie ihren ›kauzigen‹ Mann, Kuckuck, ihrerseits über die Generationengrenze hinweg. Zu diesem Ende, das bekanntlich das furiose Finale des ganzen vollendeten ›Ersten Teils‹ bildet – »Holé! Heho! Ahé!« 103 –, schläft sie gleich selber mit dem Geliebten ihrer eigenen Tochter, nachdem sie ihn zuvor wie einen Schuljungen abgekanzelt und kleingemacht hat. Dieselbe oder eine doch frappant ähnliche Konfiguration wie die der Betrogenen findet sich sodann in der der Betrogenen unmittelbar vorangegangenen Pathographie des Autors, wenngleich noch an entlegenerer Stelle und gerade nicht beim Hauptpersonal. Zu den Nebenhandlungen des Doktor Faustus gehört nämlich auch die Geschichte »von einem Fräulein der besten Gesellschaftskreise«.104 Erzählt wird sie bezeichnenderweise im Zusammenhang mit der Beschreibung von Adrian Leverkühns letzter oder vorletzter, seinem Eltern- oder besser gesagt seinem Mutterhaus so »kurios[]« 105 gleichender Wohnung, die dieser ewige Junggeselle und Muttersohn – seit seinem Wegzug aus Kaisersaschern wohnt Leverkühn immer nur bei Frauen und Mutterfiguren – 1912 bei der Familie Schweigestill oder eigentlich nur bei »Mutter Else«106 und ihrer Tochter Clementine nimmt. Denn ihr Mann, »Herr Schweigestill« – »mein Max«, wie ihn die imperiosa coniux nennt 107 –, bleibt erst mit seinem Sohn außer Haus und läßt sich während der ganzen Zeit, über vierundzwanzig Kapitel hin und gut achtzehn Jahre lang, in diesem »zweite[n] Elternhaus« 108 Leverkühns kein einziges Mal blicken; sondern man kann ihn beziehungsweise seinen Pfeifenrauch nur riechen: Und wie an der Betrogenen noch zu zeigen, ist diese Ersetzung des Augen- durch den ›primitiveren‹ Geruchssinn gar nicht so unwichtig.
101 Vgl. Reinhard Pabst, Thomas Manns Lissabon, Vortrag, Zürich, 4. Dezember 2007, vs. Hans Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, Bern und München: Francke, 1982 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 5), S. 376 (Anm. 25), 521. 102 Bd. 7, S. 561. 103 Bd. 7, S. 661. 104 Bd. 6, S. 278. 105 Bd. 6, S. 39. 106 Bd. 6, S. 297; vgl. S. 308, 337, 459, 631. 107 Bd. 6, S. 276; im Original keine Hervorhebung. 108 Bd. 6, S. 611.
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Bis auf den Altersunterschied, der dort die »ältere […] Aristokratin« vom »jungen Hauslehrer« zusätzlich trennen wird, weist diese Nebengeschichte des Doktor Faustus in nuce alle Grundzüge der Betrogenen auf, soweit sie direkt die Geschlechterrollen und deren Verkehrung betreffen (und übrigens auch das nur für die Frau tödlich schlimme Ende): Das »Fräulein«, Tochter eines »hochgestellte[n]« »Gerichtspräsident[en]«, die bei den Schweigestills von ihrem unehelichen Kind entbunden wurde – ebenfalls einer Tochter –, sei halb gegen den Willen des Begehrten, weit über die Klassengrenze hinweg und hinab, ein Verhältnis mit einem Angestellten ihres Vaters eingegangen. In einer Art von rein sexueller Obsession habe sie dessen Chauffeur verführt. 109 Dieser, »Carl«, 110 wie er anstandslos bei seinem Vornamen genannt wird, dessen auch noch im Felix Krull 111 ›imperiales‹ Konnotat hier natürlich ins Ironyme kippt, sei »nur gerade« seines »schmuck[en]« Äußeren wegen begehrenswert gewesen.112 Näher am Zentrum der Romanhandlung liegt die damit immerhin vergleichbare Affäre zwischen Ines Institoris-Rodde und Rudi Schwerdtfeger. Mit diesem betrügt Ines Helmut Institoris fast von allem Anfang an. 113 Und als er, Rudi, sich ihrem »Besitzverlangen« 114 zu entziehen versucht, tötet sie ihn auf eine grobschlächtige, geschlechtertypologisch sprechende Weise. Sie erschießt ihn mit einem »Revolver«. 115 Den Tausch der Geschlechterrollen, als dessen Opfer er sich, seinen »Körper«, ganz bewußt wahrnimmt, bringt Schwerdtfeger Adrian Leverkühn gegenüber selber auf den Begriff. Er sagt ihm eines »außerordentlich« schönen Tages und unter vier Augen (und doch auch nicht bei Tag und gerade nicht unter vier ›Augen‹ – denn der Raum ist wegen des angegriffenen Zustands seines lichtempfindlichen Bewohners »mit Läden und Vorhängen so vollständig« verdunkelt, daß darin »zunächst« »vollkommene Nacht« »die Augen« »deck[t]« –): 116 Es verkehre irgendwie das Besitzverhältnis und führe zu einem unerfreulichen Übergewicht der Frau in der Liebe, so, daß er sagen müsse, Ines gehe mit seiner Person, seinem Körper um, wie eigentlich und richtigerweise der Mann umgehe 109 Bd. 6, S. 278–280. Vgl. z. B. zum Detail der Schildkröte Johann Jakob Bachofen, Urreligion und antike Symbole. Systematisch angeordnete Auswahl aus seinen Werken […], hg. v. Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig: Reclam, 1926, Bd. 1, S. 502, Bd. 2, S. 38; von Thomas Mann angestrichen. 110 Bd. 6, S. 279. 111 Bd. 7, S. 272, 489, 601, 607, 609, 622. 112 Bd. 6, S. 278. 113 Vgl. Bd. 6, S. 440, 382–398. 114 Bd. 6, S. 444. 115 Bd. 6, S. 596. 116 Bd. 6, S. 463.
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mit dem einer Frau, – wozu noch ihre krankhafte und krampfhafte, dabei ganz ungerechtfertigte Eifersucht komme auf den Alleinbesitz seiner Person […]. 117
Die Position eines Mannes usurpiert Ines Institoris offenbar auch durch die Gedichte, die sie schreibt. In dem einzigen jedenfalls, das der Erzähler davon zitiert, setzt sie ihr ›lyrisches Ich‹ ganz explizit an die Stelle eines ›Manns‹; und in einer ziemlich durchsichtigen Schachtsymbolik phantasiert sie diesen Mann als Penetrator der (grammatisch) weiblichen Seele: »Ich bin ein Bergmann in der Seele Schacht«…118 Auch sonst im Doktor Faustus wird die ›Verkehrung‹ der Geschlechterrollen von der Handlungsebene auf die Ebene fiktionaler Binnentexte und ganz besonders der Opernlibretti abgespiegelt und in den aus diesen abgerufenen Segmenten wiederholt. So setzt Leverkühn, von früh auf mit dem Gesamtwerk vertraut gemacht, 119 von allen Dramen Shakespeares allein Love’s Labour’s Lost in Musik. Es handelt sich dabei um ausgerechnet diejenige Komödie, in welcher die weiblichen Charaktere das letzte Wort behalten. Gegen die Gattungskonvention stunden sie die Erfüllung der Ansprüche, die die Männer an sie stellen, ad infinitum: »Our wooing«, entgegnet Biron (alias Berowne) der Schlußrede, mit der die schlagfertigste ›dieser Damen‹ solch eine Stundung vollzieht, »doth not end like an old play; […] these ladies’ courtesy / Might well have made our sport a comedy.« 120 Die für den noch viel weniger komischen Verlauf der Romanhandlung entscheidende Ansteckung erfolgt ihrerseits im Zeichen weiblicher Machtfülle; und das obwohl die Infektion, als Folge einer sexuellen Dienstleistung, die ›der‹ Mann gegen Geld zu beziehen ›vermag‹, de facto bruto eigentlich auch als besonders handgreifliches Beispiel patriarchaler Ausbeutungsverhältnisse passieren könnte. Verdeckt wird das factum brutum unter anderem schon durch einen »musikalischen Vorwand«, unter dem Leverkühn die »ziemlich weite Reise« zum Ort der Infektion geheimhält und von dem der Erzähler ausdrücklich »nicht mit Sicherheit […] bezeugen« kann, ob er ganz erfunden ist oder gleichsam eine halbe Wahrheit enthält: »Es fand nämlich damals, Mai 1906, unter des Komponisten eigener Leitung« (und übrigens, wie Thomas Mann vielleicht wußte, im Beisein Adolf Hitlers 121) »in Graz, der Hauptstadt Steiermarks, die österreichische Première der ›Salome‹ statt, 117 118 119 120
Bd. 6, S. 465 f.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 263. Vgl. Bd. 6, S. 97. William Shakespeare, Love’s Labour Lost, in: ders., The Dramatic Works, hg. v. Joseph Rann, Oxford: Clarendon Press, 1786–[1794], Bd. 1, S. 529–628, hier S. 626. 121 Vgl. Eckhard Heftrich, Über Thomas Mann, Bd. 2: Vom Verfall zur Apokalypse, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1982 (Das Abendland, Neue Folge, Bd. 14), S. 179; 304 f., Anm. 8.
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zu deren überhaupt erster Aufführung Adrian einige Monate früher« (wie Thomas Mann selber) »nach Dresden gefahren war«.122 Der »musikalische[] Vorwand«, unter dem es zur syphilitischen Ansteckung kommt, hat seinen tieferen, sozusagen handlungslogischen Sinn. Denn zwischen Oscar Wildes Drama und der Oper, zu der dieses Richard Strauss in Berlin inspirierte, als er es wahrscheinlich 1903 in Max Reinhardts legendärer Inszenierung sah, 123 erlangte die Gestalt der Salome eine ganz bestimmte Bedeutung, wie sie eben auch für den Kleinen Herrn Friedemann einschlägig ist und darin den Vornamen des Protagonisten zum Sprechen bringt. Ein besonders krasses, aber doch auch repräsentatives Beispiel für diese Bedeutung der Salome ist etwa Oskar Panizzas seinerzeit schwer skandalöse »Himmelstragödie« Das Liebeskonzil von 1894 (die übrigens ähnlich wie, nur viel offensichtlicher als der Doktor Faustus in die lange Reihe der Adaptionen und Persiflagen von Goethes kanonischstem Drama gehört). 124 Angelegt war die spezifische Bedeutung der Salome allerdings schon in Wildes maßgeblicher ›Quelle‹. Schon in den Evangelien verbündet sich die hier freilich noch namenlose Tochter mit ihrer Mutter erfolgreich gegen den Patri- und Tetrarchen Herodes.125 Und schon hier gelangt sie zur Macht über Leben und Tod des Täufers, dessen abgetrennten Kopf sie sich zum Zeichen ihrer beziehungsweise der absoluten Herrschaft ihrer Mutter auch hier schon ›servieren‹ läßt. Wilde aber hat diesen jetzt eindeutig ›sadistischen‹ Exzeß sexuell motiviert oder doch dessen Rätselhaftigkeit sexualpathologisch untertieft. So erst konnte Salome im genauen Wortverständnis zum ›Prototyp‹ 126 der femme fatale werden, wie Johannes Friedemann oder Adrian Leverkühn einer erliegt, und dieser eben unter dem also desto sinnreicheren »Vorwand« gerade solch eines Premierenbesuchs. Dabei kommunizierte die seinerzeit so genannte ›Salomania‹, zu der Strauss wesentlich beitrug, natürlich untergründig wie Thomas Manns erste Erzählung mit der zeitglei122 Bd. 6, S. 205. 123 Vgl. William Mann, Richard Strauss. Das Opernwerk, München: Beck, 1967, S. 41; Derrick Puffett (Hg.), Richard Strauss. Salome, Cambridge et al.: Cambridge University Press, 1989 (Cambridge Opera Handbooks), S. 4. 124 Oskar Panizza, Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen, hg. v. Michael Bauer, München: Luchterhand, 1997. Vgl. Hans Rudolf Vaget, The Spell of Salome: Thomas Mann and Richard Strauss, in: Claus Reschke und Howard Pollack (Hgg.), German Literature and Music. An Aesthetic Fusion: 1890–1989, München: Fink, 1992 (Houston German Studies, Bd. 8), S. 39–60, hier S. 52 f. 125 Vgl. Megan Becker-Leckrone, Salome©: The Fetishization of a Textual Corpus, in: New Literary History 26.2, 1995, S. 239–260, hier S. 254 f. 126 Richard Bizot, The Turn-of-the-Century Salome Era: High- and Pop-Culture Variations of the Dance of the Seven Veils, in: Choreography and Dance 2.3, 1992, S. 71–87, hier S. 71.
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chen Emanzipationsbewegung beziehungsweise mit den Ängsten, die diese hervorrief. 127 Eine analoge, ursprünglich ebenfalls biblische Geschlechterkonfiguration, in der also ebenfalls eine sexuell initiative Frau dem von ihr angegangenen Mann endlich äußerste Gewalt antut, wird nach Leverkühns so sinnreich bemäntelter Ansteckung in einer anderen Oper wieder eingespielt. Und zwar wird sie zur selben erzählten Zeit und in demselben, ganz wörtlichen Sinn ›eingespielt‹ wie jene Operette Fürst von Pappenheim, zu der in der verkehrten Welt von Unordnung und frühes Leid »[h]ie und da zwei junge Mädchen zusammen, zuweilen sogar zwei junge Männer« miteinander tanzen. 128 Auf dem Grammophon des reichen, aber ziemlich unbedarften Fabrikanten Bullinger, 129 zu dessen Salon-Habitués Leverkühn zählt, hört man sich eines Abends Camille Saint-Saëns’ Oper Samson et Dalila an, aus der übrigens Jean-Claude Guiguet, sehr beachtenswerterweise, in seine Verfilmung der Betrogenen eine Arie der Dalila integriert hat: »Printemps qui commence« – »S’adressant à Samson, tournée vers lui« – »A lui ma tendresse«… 130 »Beim Fabrikanten Bullinger in der Widenmayerstraße«, wie Thomas Mann das einschlägige Notizblatt überschrieb, ist es eine sehr ähnliche, »die DesDur-Arie der Delila«, ihrerseits an Samson gerichtet, deren hier zitiertes Librettofragment ebenfalls schon auf jenem Notizblatt steht: »Sie haben nicht zufällig«, fuhr Adrian fort, »die Des-Dur-Arie der Delila aus ›Samson‹ von Saint-Saëns in Ihrer Sammlung?« Die Frage war an Bullinger gerichtet, dem es die größte Genugtuung bereitete, zurückrufen zu können: »Ich? Die Arie nicht haben? Mein Lieber, Sie denken wohl dies und das von mir! Hier ist sie, – und gar nicht ›zufällig‹, wie ich Sie versichern kann!« Darauf Adrian: »Ah, gut. Es kommt mir in den Sinn, weil Kretzschmar – das war mein Lehrer, ein Organist, ein Fugenmensch, müssen Sie wissen – ein eigentümlich leidenschaftliches Verhältnis zu dem Stück, ein wahres faible dafür hatte. Nebenbei konnte er auch darüber lachen, aber das wollte nichts gegen seine Bewunderung sagen, die vielleicht nur dem Beispielhaften der Sache galt. Silentium.« Die Nadel griff an. Bullinger senkte den schweren Deckel darüber. Durch das Schallgitter strömte ein stolzer Mezzosopran, der sich um gute Aussprache nicht viel kümmerte: Man verstand das »Mon cœur s’ouvre à ta voix« und dann kaum 127 Vgl. Bizot, The Turn-of-the-Century Salome Era, S. 85. 128 Bd. 8, S. 647. Zur Auflösung des Paartanzes vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1866– 1918, Bd. 1, S. 112. 129 Vgl. Albert von Schirnding, Die Propheten von der Martiusstraße. Ein München-Kapitel in Thomas Manns Doktor Faustus, Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, und Stuttgart: Steiner, 2003 (Abhandlungen der Klasse der Literatur, 2003, Bd. 2), S. 17. 130 Ferdinand Lemaire, Samson et Dalila. Opéra en 3 actes. Poème de Ferdinand Lemaire, musique de Camille Saint-Saëns, Paris: Durand, o. J. [1948], S. 23 f.
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noch etwas, aber der Gesang, leider von einem etwas winselnden Orchester begleitet, war wundervoll in seiner Wärme, Zärtlichkeit, dunklen Glückesklage, wie die Melodie, die ja in beiden gleichgebauten Strophen der Arie erst in der Mitte zu ihrem vollen Schönheitsgange ansetzt und ihn betörend vollendet, besonders das zweite Mal, wo die Geige, nun doch ganz klangvoll, die üppige Gesangslinie genußreich mitzieht und ihre Schlußfigur in wehmütig zartem Nachspiel repetiert. Man war ergriffen. Eine Dame tupfte sich mit dem gestickten Ausgeh-Tüchlein ein Auge. »Blödsinnig schön!« sagte Bullinger, einer unter Ästheten seit längerem beliebten und stehenden Redensart sich bedienend, die das schwärmerische Urteil »schön« derb-kennerhaft ernüchterte. Man konnte wohl sagen, daß sie hier ganz exakt und nach dem Wortsinn am Platze war, und das mochte es sein, was Adrian erheiterte. »Nun also!« rief er lachend. »Sie verstehen nun, daß ein ernster Mann imstande ist, die Nummer anzubeten. Geistige Schönheit ist das zwar nicht, sondern exemplarisch sinnliche. Aber vor dem Sinnlichen soll man sich am Ende weder fürchten noch schämen.« 131
Der Stoff der hier »zufällig« beziehungsweise ganz »und gar nicht ›zufällig‹« nur eben anzitierten Oper, daß nämlich Dalila den Helden Samson wiederholt verführen und ihm das Geheimnis seiner Stärke entwinden kann, ihm das Haar scheren und die Augen ausstechen läßt, hat in sexualibus einen geradezu ›archetypischen‹, soll einfach heißen einen Valeur, der sich immer wieder spontan einzustellen vermag. Die Frau ›kastriert‹, sie ›penetriert‹ den Mann in einer kaum noch übertragenen Bedeutung dieser Verben (wenn man wieder davon absieht, daß sie die Philister dafür bezahlen und man in ihr also wie in Leverkühns femme fatale auch bloß ein Medium und Opfer mann-männlicher Machenschaften sehen kann). In diesem Geschlechtertausch besteht möglicherweise eine subliminal robuste Bedeutungsschicht, die im Lauf der Rezeptionsgeschichte nicht abgetragen werden konnte. Der »Sexual-verkehr«,132 der hier angelegt ist, oder vielmehr dessen Latenz bietet damit eine Möglichkeit, zu erklären, warum gerade dieser biblischen Erzählung eine solche Rezeptionskarriere zuteil werden sollte und weshalb sie gewissermaßen zwanghaft immer wieder von neuem vergegenwärtigt sein wollte.
131 Bd. 6, S. 548 f. 132 Bernhard Greiner, Das Bild und die Schriften der ›Blendung‹: Über den biblischen Grund von Canettis Schreiben, in: Franz Link (Hg.), Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments. Zweiter Teil: 20. Jahrhundert, Berlin: Duncker & Humblot, 1989 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 5.2), S. 543–562, hier S. 549; Hervorhebung des Originals.
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Wie Mieke Bal gezeigt hat, indem sie das Gemälde psychoanalytisch ›las‹, 133 ist der ›Sexualverkehr‹ in Rembrandts Triumph der Dalila (oder Die Blendung Samsons) 134 von 1636 geradewegs ins Bild gesetzt, wo Dalila übrigens gegen den Bibeltext die Schere selber führt (und zwar in der rechten, ›männlichen‹ Hand). Der selbe ›Sexualverkehr‹ scheint in Elias Canettis Autobiographie bei der Beschreibung dieses Bildes 135 wieder am Werk zu sein. Und jedenfalls ist er in Bernhard Greiners Interpretation dieser Beschreibung wiederum schlechthin zentral. 136 Zweieinhalb Jahrhunderte nach Rembrandt sodann und etliche hundert Jahre vor Canetti, Greiner und Bal, aber ziemlich genau gleichzeitig mit Camille Saint-Saëns’ Oper, 1869, erscheint »Simson zu Delilas Füßen« 137 in der literarischen Beschreibung eines anderen, vermutlich frei erfundenen Gemäldes, dessen Sujet denn auch explizit mit dem Index des ›Unhistorischen‹, Zeitlosen, eben ›Archetypischen‹ versehen ist. Und zwar erscheint der prägnante Moment in dem Trivialtext, nach dessen Verfasser Richard von Krafft-Ebing die masochistische Ausprägung solchen ›Sexualverkehrs‹ benannte (genauer gesagt und natürlich nicht von ungefähr nach der mütterlich-weiblichen, slawisch-exotischen Hälfte des Autornamens 138). In Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz, nämlich in exakt dem Moment, da sich Severin von Kusiemski seiner Domina mit Haut und Haar verschreibt – übrigens nach dem immer wieder evozierten Muster des Faustischen Teufelspakts 139 –, fällt ihm »der durchaus unhistorische Charakter« eines »Deckengemäldes« und dessen »geradezu unheimliches Gepräge« ins Auge.140 Das also gleichsam zeitlos unheimliche und folgerichtig auch ganz zuletzt nochmals explizit erwähnte Bild, ›unter‹ dessen Signatur der Pakt steht und dessen Choreographie all die Fesselungsszenen und anderen Demütigungen des Manns reinszenieren, 141 hält den 133 Mieke Bal, Reading »Rembrandt«. Beyond the Word-Image Opposition. The Northrop Frye Lectures in Literary Theory, Cambridge et al.: Cambridge University Press, 1991, S. 326–360. 134 S. Abb. 1. 135 Vgl. Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931, München und Wien: Hanser, 1980, S. 134 f. 136 Vgl. Greiner, Das Bild und die Schriften der ›Blendung‹, S. 543–562. 137 Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel, 1997, S. 135. 138 Vgl. Albrecht Koschorke, Leopold von Sacher-Masoch. Die Inszenierung einer Perversion, München und Zürich: Piper, 1988, S. 16, 62. 139 Vgl. von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, z. B. S. 42 (»Meine Stube glich […] jener des Doktor Faust«), 69 (»Heute ließ sie mich die Szene zwischen Faust und Mephistopheles lesen«), 75 (»meine Seele dem Teufel verschrieben«), 103, 112, 136. 140 Von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, S. 88. 141 Vgl. z. B. von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, S. 99, 134.
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›Augenblick‹ fest, in dem »Delila« sich »lächelnd zu Simson herab[beugt]« und in dem »ihr Auge […] jenem Simsons« »begegnet«, »das noch im letzten Blicke […] an dem ihren hängt«.142 In einem anderen Münchener Salon des Doktor Faustus, dem Salon Schlaginhaufen (alias, in einer älteren Variante: »Schwäbeli«, so daß der Gastgeber auf dieser Konzeptionsstufe schon ex nomine deminuiert und lächerlich erschienen wäre), bringt die Sopranistin Tanja Orlanda Wagners Tristan und Isolde zu Gehör oder nahezu schon zu einer Art szenischer Aufführung. Damit schlechterdings ›übermannt‹ sie den Erzähler. Sie bringt ihn fast zum Weinen und zwingt ihn beinahe auf die Knie vor sich, »der […] triumphierend Lächelnden«.143 Tanja Orlanda, deren mutmaßliches ›Vorbild‹ eine notorische Ehebrecherin war und Thomas Manns eigenes Familienleben tangierte, 144 singt einen Part der Isolde, Zweiter Aufzug, Erster Auftritt. Thomas Mann übrigens zitiert hier offenbar aus dem Gedächtnis. Denn das Zitat, um das im Hinblick auf die mythologischen Reminiszenzen der Betrogenen einfach einmal schon konstatiert zu haben, ist ganz leicht inakkurat. Seine nur geringfügige Ungenauigkeit ist deshalb doch auffällig und allein schon deshalb erklärungsbedürftig, weil dadurch die Gedächtnisstütze eines weiteren Stabreims gerade verloren geht: »›Die Fackel‹« – eigentlich müßte es heißen: »Die Leuchte« 145 –, »›und wär’s meines Lebens Licht, lachend sie zu löschen zag’ ich nicht‹ (wobei die Sängerin das theatralische Tun durch eine energisch niederstoßende Bewegung ihres Armes markierte)«.146 Auf der Ebene der tragischen Opernhandlung erscheint in Gestalt der »Wagner-Heroine« 147 wieder, was auf der Handlungsebene und im Gesellschaftsmilieu der kunstbeflissenen Salons Ines Institoris ebenso »energisch« begeht. Ines verhält sich ganz genau wie die Isolde der Oper beziehungsweise des höfischen Romans (oder dann auch wieder 2005, im Rückgriff auf dessen also sehr stabiles Muster, vermittelt über Gaetano Donizettis L’elisir d’amore, Nola Rice in Woody Allens Match Point). Ines 142 Von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, S. 88. 143 Bd. 6, S. 369. 144 Vgl. Inge Jens und Walter Jens, Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 32003, S. 30 f. 145 Richard Wagner, Tristan und Isolde, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. VolksAusgabe, Bd. 7, Leipzig: Breitkopf & Härtel und Siegel, 6o. J., S. 1–81, hier S. 35; im Original keine Hervorhebung (freundlicher Hinweis von Albert von Schirnding, Harmating, vom 2. März 2000). Zur intertextuellen Motivierbarkeit der Fehlleistung vgl. Thomas Mann, Notizbücher 7–14, hg. v. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Frankfurt a. M.: Fischer, 1992, S. 121. 146 Bd. 6, S. 369; im Original keine Hervorhebung. 147 Bd. 6, S. 268.
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wendet sich ja ihrerseits, kaum daß sie mit Institoris zum »Pärchen« bestimmt ist, 148 »sofort einem anderen« zu. 149 Wie Ines Institoris im Medium ihrer Gedichte durch die Männlichkeit ihres lyrischen Ich den Widerstand gegen die Geschlechterordnung phantasiert, den sie realiter in ihrem Leben, außerhalb ihres Ehelebens leistet, so ist hinwiederum die »heroische« Sopranistin Tanja Orlanda, welche die Arie der Isolde mit aller »Wucht« ihrer »Person« und der ganzen »Macht« ihres »Organs« so eindringlich interpretiert, eine auch jen- oder besser gesagt diesseits ihrer Rolle »gewaltige Frau«.150 Auch sonst im Doktor Faustus, etwas genauer besehen, wimmelt es fast schon von Frauen, die ›männliche‹ Rollen usurpieren. Der Roman ist voll von ökonomisch selbständigen Witwen – Isabeau Ferblantier etwa oder Madame de Tolna, eine »Mutter-Figur[]« und »Schutzgöttin« 151 aus »der Sphäre […] des Ewig-Weiblichen« 152 –, vor allem aber von dominanten »Matrone[n]« und übermächtigen Mutterfiguren. Neben Elsbeth Leverkühn, die und deren Fürsorglichkeit ihr fünfundvierzigjähriger Sohn buchstäblich mehr fürchtet als den Tod, 153 sind die eindringlichsten Beispiele dafür wohl Else Schweigestill, Leverkühns »hôtesse maternelle et vigoureuse«,154 oder auch seine italienische »Padrona«, 155 »eine stattliche Matrone«, 156 die der Erzähler in der Handschrift einmal explizit mit Elsbeth Leverkühn und Else Schweigestill vergleichen sollte; 157 so wie er Else Schweigestill wiederum, und zwar gleich anläßlich schon ihres ersten ›Entgegentretens‹, mit demselben Adjektiv, »stattlich«, bedenkt: 158 Dieses allerdings hat Thomas Mann hier erst nachträglich in den handschriftlichen Text eingefügt, nachdem er möglicherweise das Portrait der »stattliche[n]« Italienerin bereits oder, wer weiß, sogar eben erst geschrieben hatte. Die »stattliche Matrone« wohnt – oder vielmehr »waltet[]« sie (wie zuletzt auch wieder Elsbeth Leverkühns »Schwiegertochter«)159 – in einem 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159
Bd. 6, S. 382; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 395. Bd. 6, S. 368 f. Bd. 6, S. 521. Zu »Egeria« vgl. Johann Jakob Bachofen, Gesammelte Werke, hg. v. Karl Meuli, Basel: Schwabe, 1943–1967, Bd. 6, S. 339. Bd. 6, S. 517. Vgl. Bd. 6, S. 671–673. Bd. 6, S. 530. Bd. 6, S. 291. Bd. 6, S. 282. Vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Kommentar von Ruprecht Wimmer, Frankfurt a. M.: Fischer, 2007 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.2), S. 518. Bd. 6, S. 274. Bd. 6, S. 674; im Original keine Hervorhebung.
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»palazzo- oder kastellartige[n] Bau«.160 Diesen teilen sie und ihre Tochter mit ihren ledigen Brüdern, die »wohl« »nie ein Weib berührt« haben, 161 und mit ihrem »am Stocke gehende[n]« Schwager, der, »grau und mild«, seiner Frau »gewiß nur im caritativsten Sinn des Wortes etwas zuliebe« tut. 162 Genauer gesagt »waltet[]« die »Padrona« im eigentlichen, auch sozial-repräsentativen Zentrum des »ernste[n] […] Bau[s]«, in einer »romantisch[]« überdimensionierten, ihrerseits »düster[en]« und bedrohlichen Küche, die als solche traditionell natürlich einen stark weiblich besetzten Bereich markiert. 163 »Mutter Manardi, Mère Manardi«, 164 nennt ihr Kostgänger wie dann auch Else Schweigestill rundheraus »Mutter«, 165 sie ihn mitunter in deminuierter, ihn verkleinernder Form und offenbar in mokanter Absicht »Poveretto!« 166 Die »Ihren« sollen sie »Nella« nennen. Aus dieser Rufform versucht der Erzähler eigens ihren ›wahren‹ Vornamen zu erschließen. Und der konjizierte Name ist ihm immerhin eine Parenthese wert, die er dem eigentlichen Portrait der mutmaßlich so Genannten gerade noch voranschickt: »Signora Manardi, von den Ihren Nella genannt – ich glaube, sie hieß Peronella –, eine stattliche Matrone römischen Typs […].« 167 Dabei ist seine Konjektur gleichsam überständig und um so signifikanter. Denn sehr wenig später nimmt er den hier nur vorsichtig erwogenen Vornamen ganz ohne solchen Vorbehalt in den Mund: »Signora Peronella«. 168 Die literarisch wichtigste oder einzig bekannte Trägerin dieses Namens findet sich in Giovanni Boccaccios Decamerone beziehungsweise in »A. G. Meißner[s]« deutscher Übersetzung, in der Thomas Mann Boccaccio las und die übrigens einen seinerseits bemerkenswerten Verfasser hat: August Gottlieb Meißner war von Ausbildung Jurist und gilt zugleich als Begründer einer literarischen Untergattung, der deutschen ›Kriminalgeschichte‹ (ein offenbar auch von ihm geprägter Begriff). 169 Er hatte also ein gleich doppeltes Interesse an Störungen der ›symbolischen Ordnung‹, des ›im Namen des Vaters‹ erlassenen Gesetzes. 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169
Bd. 6, S. 281. Bd. 6, S. 293. Bd. 6, S. 284, 293. Bd. 6, S. 281–285. Bd. 6, S. 520. Bd. 6, S. 297. Ebd. Bd. 6, S. 282. Bd. 6, S. 283. Vgl. Jörg Schönert, Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis, Tübingen: Niemeyer, 2007 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 87), S. 63.
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Am Siebten Tag, dessen zweiter Erzählung Thomas Mann den Namen »Peronella« entnahm, werden Ordnung und Gesetz in regelmäßig ganz besonderer Weise verletzt. Nach dem Summar der Meißnerschen Übersetzung »[e]nthält« der »Siebente[] Tag« lauter »Erzählungen von den Ränken, welche Weiber zur Befriedigung […] ihrer Lüste den Männern […] gespielt haben«.170 Von den übrigen Erzählungen des Decamerone unterscheidet sich der Siebte Tag damit deutlich, selten deutlich: natürlich weder durch die »Ränke[]« noch durch die »Befriedigung der Lüste«; wohl aber durch das einheitlich festgelegte ›gendering‹ des einen wie des anderen. Es geht am Siebten Tag je um die weiblichen »Lüste« und immer nur um solche »Ränke[]«, die »Weiber […] den Männern […] gespielt haben«. Auf Kosten dieser »Männer[]« ausschließlich wird hier gelacht, genau so oder ähnlich wie in Love’s Labour’s Lost. Ein weniger repräsentatives als vielmehr besonders drastisches Beispiel dafür, in Thomas Manns Ausgabe übrigens auch vergleichsweise drastisch illustriert, ist nun die zweite Erzählung des Siebten Tags. Es handelt sich dabei, wie öfter,171 um eine Adaption aus den Metamorphosen des Apuleius von Madaura. Hier wie dort, im neunten Buch der Metamorphosen, geht es um ein eklatantes Exempel weiblicher Lüsternheit und sexueller Untreue. Die Frau, eine anonyme »uxorcula« 172 beziehungsweise eben eine gewisse Peronella, setzt sich in ihrer Begehrlichkeit je über die eheliche Loyalitätspflicht sehr dreist und krude hinweg. Sie demütigt ihren allzu vertrauensseligen, nichtsahnenden und dümmlichen Mann, ohne daß dieser von seiner hier recht eigentlichen Erniedrigung auch nur das geringste ahnte. Während er, um ein Faß zu reinigen, buchstäblich vor ihr herumkriecht, koitiert sie mit ihrem Liebhaber a tergo (»wie […] parthische[] Stuten«). 173 Die Übermächtigkeit der Frauen, wie sie aus dem Vornamen Nella Manardis spricht, ist im Doktor Faustus erst recht durch die schwachen, verzwergten und erbärmlichen Figuren ins Profil getrieben, welche auf der 170 Giovanni Boccaccio, Das Decameron, München: Allgemeine Verlagsanstalt, 1924, Bd. 2, S. 217. 171 Vgl. Martin G. Eisner und Marc D. Schachter, Libido Sciendi: Apuleius, Boccaccio, and the Study of the History of Sexuality, in: Publications of the Modern Language Association of America 124.3, 2009, S. 817–837. 172 Apuleius, Metamorphoses, hg. v. J. Arthur Hanson, Cambridge (Massachusetts) und London: Harvard University Press, 1989 (Loeb Classical Library, Bd. 44, 453), Bd. 2: Books VII–XI, S. 132. 173 Boccaccio, Das Decameron, Bd. 2, S. 229. Zur obszönen Bedeutung der Anspielung vgl. P[ublius] Ovidius Naso, o. T., hg. v. Rudolph Merkel, Bd. 1: Amores; Epistulae; De medicamine faciei liber; Ars amatoria; Remedia Amoris, Leipzig: Teubner, 1859, S. 173 (I, V. 209 f.), S. 229 (III, V. 785 f.).
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anderen Seite die männlichen Charaktere darin abgeben. Um von Gestalten wie Bullinger und Namen wie »Schwäbeli« einmal ganz zu schweigen: Der Geliebte jenes »Fräulein[s]« und Chauffeur ihres Vaters war bekanntlich »gar nichts Besonderes, nur gerade schmuck«. Ihr Vater war nicht eben nur bürokratisch-hierarchisch »hochgestellt[]«, sondern im Oxymoron zweier Beiworte, von denen das physisch herabsetzende mehrfach wiederholt wird, ein »kleiner, hochgestellter Vater«, ein »kleine[r] hohe[r] Beamte[r]«, kurzum »ein kleiner Mann«.174 Mit wiederholtem Epitheton »klein«, »klein angelegt[]«,175 ist auch Helmut Institoris: »zierlich[]«,176 »mäßig[]«, 177 »körperlich durchaus unherrlich[]« und mit »übrigens […] trippelnde[m] Gang«;178 ›kurz‹ ein »Schwachmatikus«, 179 ein »Mann […] in Männchengestalt«. 180 Als »Bräutigam« und »Gemahl« ist er »ungenügend[]«,181 als Liebhaber »von niemandem hoch veranschlagt[]«. 182 Seine »Liebkosungen«, in deren »glücklose[r] Lust« seine Frau »abgewandten Gesichtes« 183 ihre drei Kinder, Töchter nota bene, in »einer halben, im Grunde kränkenden Glückserfahrung« von ihm empfängt, bilden aber doch den »ärmliche[n] Boden«, auf dem Ines’ »Leidenschaft« und »erweckte Weiblichkeit« »wucher[t]«.184 »[K]lein[]« 185 (wie ja schon und vor allen anderen ›Herr‹ Friedemann) ist ferner der in den Notizen ausdrücklich »mangelhafte[] Ersatz«, mit dem sich Ines für ihre glücklose Ehe schadlos zu halten versucht und der sich von einer eigentlichen Mitschuld an ihrem Ehebruch freispricht. Er »habe sie nicht verführt, sondern sie« ihn. 186 Die »Hörner« des Ehemanns »sind ausschließlich ihr Werk«.187 Und jedenfalls wurde er zu seinem Verhältnis mit Ines von deren Schwester wie geradezu üblich mit Imperativen und Dressurinterjektionen regelrecht abkommandiert: »Rudolf, hopp!« »Na, hopp!« »Hopp, Mensch […]!« 188
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Bd. 6, S. 278 f.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 435, 598. Bd. 6, S. 511. Bd. 6, S. 395. Bd. 6, S. 383. Bd. 6, S. 388. Bd. 6, S. 439. Bd. 6, S. 395, 511. Bd. 6, S. 440. Bd. 6, S. 439 f. Bd. 6, S. 395, 439 f. Bd. 6, S. 394. Bd. 6, S. 465. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 387, 439.
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Diesem dubiosen Ehebrecher wird seinerseits das Prädikat eines vollwertigen »Mann[s]« vorenthalten, dessen Position eingebüßt zu haben er bei seiner Jeremiade von der »Überlegenheit« und dem »Übergewicht der Frau in der Liebe« selber beklagt. Seiner »kleine[n]« Statur und seiner »kindischen« 189 Art nach titulieren ihn der Erzähler und die Figuren nur als »Jüngling« 190 und »Jungen«, 191 ›Burschen‹192 und »Knaben«. 193 Außerdem leidet Schwerdtfeger an einem, dem selben »physiologische[n] Funktionsdefekt« 194 übrigens wie Ken Keaton. Ihm fehlt eine Niere. Von der stattgehabten »Organ-Resektion« 195 erfährt man im Zusammenhang mit der »›Mobilisierung‹ zum Kriege«. 196 Und dieser Zusammenhang ist ganz offensichtlich gesucht und kalkuliert. Denn für den Handlungsverlauf und seine Motivation wäre das Detail hier vollkommen verzichtbar. Als Orchestermitglied nämlich wäre Rudi ohnehin oder soll er jedenfalls dem Text zufolge »vom Kriegsdienst« ohnehin »ausgenommen gewesen« sein. 197 »[D]er gute Rudi«, wie ihn der Erzähler herablassend und zurücksetzend nennt, ist also »gar kein Held und Überwinder«.198 Schwerdtfegers Nachname, sofern er denn wenigstens halbwegs martialisch klingt und nicht einfach Subalternität denotiert oder gar einen anzüglichen Nebensinn mit sich führt, mutiert damit letztlich zu einem Ironym (wie der Name »Schlaginhaufen«, wenn sein seniler Träger obendrein noch an starker Altersschwerhörigkeit leidet 199). Dasselbe gilt für Rüdiger Schildknapp, dessen Nachname von einer wieder nur subalternen, sozusagen halbbatzigen Martialität ist und dessen Vorname auch schon mit demjenigen Rudi Schwerdtfegers kommuniziert. Rüdiger Schildknapp hat seinerseits etwas Knaben- oder ›Knappen‹-haftes. Er ist seinerseits »boyish« 200 (und teilt übrigens auch für seinen Teil einiges Auffällige mit Keaton: das Angelsächsische beziehungsweise Anglophile zum Beispiel, das Frauenheldentum oder auch den immer gleichen »salonwidrigen Alltagsaufzug[]« 201).
189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200
Bd. 6, S. 553. Bd. 6, S. 387. Bd. 6, S. 395, 442. Vgl. Bd. 6, S. 385. Bd. 6, S. 386. Bd. 6, S. 444. Ebd.; vgl. Bd. 6, S. 403. Bd. 6, S. 399. Bd. 6, S. 403. Bd. 6, S. 385. Bd. 6, S. 367. Bd. 6, S. 224, 602 (auch Bd. 10, S. 539). Vgl. Heinz Gildhoff, Thomas Mann und die englische Sprache, in: Thomas Mann Jahrbuch 14, 2001, S. 143–167, hier S. 152. 201 Bd. 6, S. 225; vgl. Bd. 8, S. 907.
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Schon zu dem, wie es im Text mit einem grammatisch neutralen Ausdruck heißt: »Familienhaupt[]«, von dem der ironisch sprechende Geschlechtsname zusammen mit einem »seelische[n] Knacks« auf Rüdiger Schildknapp kam, paßte die immerhin partiell kriegerische Bedeutung des Geschlechtsnamens nicht im mindesten;202 handelte es sich bei Schildknapp Senior doch bloß um einen mittleren Postbeamten, geschlagen mit notorischen Minderwertigkeitskomplexen. Auf die bellizistische Bedeutungshälfte oder Halbbedeutung seines von ausgerechnet solch einem Vater wohl oder übel ererbten Namens besinnt sich Rüdiger zwar, wenn er das Reitertum seiner ›reisigen‹ Vorfahren geradezu im »Blutserbe« zu haben glaubt. 203 Sonst aber ist er nur ein »Krippenreiter«, 204 Parasit, ›Mitesser‹. Mit der inszenierten »Sportlichkeit seiner Erscheinung« hat es nichts auf sich. Er ist im Grunde »ein Blender«.205 In Wahrheit neigt er zu Tuberkulose. Er leidet unter »entkräftenden« »Unterleibserkältung[en]«, 206 die ihn »flanellene Leibbinde[n]« zu tragen zwingen. 207 Zeitlebens laboriert er schwer an heillos »verfallenden Zähnen«.208 Wie seine ›Unterleibs‹-›Binden‹ diskreditieren diese, psychoanalytisch gelesen, 209 auf sexualsymbolischer Ebene die Männlichkeit, in deren Pose er sich gefällt. Und »[s]einem Glück bei Frauen«, kann denn auch der Erzähler immerhin süffisant anzudeuten sich nicht enthalten, entspricht »nicht […] das Glück, dessen sie sich bei ihm erfreu[]en«.210 Ihre »tiefgefühlte[] Bewunderung […] für […] lange Beine« nutzt er allein dazu, ihnen kleinere und kleine Geschenke abzuschmarotzen. 211 Und besonders pikant ist dabei der Umstand, daß es sich bei den Geberinnen regelmäßig um »jüdische[] Verlegersfrauen und Bankiersdamen«, beim Beschenkten aber um einen ausgepichten Antisemiten handelt.212 Die reine Vorgeblichkeit und Anmaßung von Schildknapps Ritterlichkeit erweist sich sehr bezeichnenderweise, wie ja auch Schwerdtfegers körperliche Defizienz, im Zusammenhang mit dem Ernstfall, in dem sein nur 202 203 204 205 206 207 208 209
Bd. 6, S. 223. Bd. 6, S. 226. Bd. 6, S. 227. Bd. 6, S. 225. Bd. 6, S. 570; vgl. S. 225. Bd. 6, S. 460. Bd. 6, S. 601. Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. v. Anna Freud, Edward Bibring und Ernst Kris, London: Imago, und Frankfurt a. M.: Fischer, 1940–1968 (Nachdruck Frankfurt a. M: Fischer, 1999), Bd. 2/3, S. 390–398, v. a. S. 391 f.; Bd. 9, S. 184; Bd. 11, S. 158, 167. 210 Bd. 6, S. 226. 211 Bd. 6, S. 227. 212 Ebd.
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phantasiertes Kriegertum einmal wirklich gefordert wäre. Schildknapp wird »vorläufig« nicht (und natürlich auch später nicht) für den Weltkrieg eingezogen. 213 Auch Leverkühn ist so selbstverständlich »vom Dienst befreit«, daß sich der Erzähler bei den »Gründen« dafür gar nicht weiter aufzuhalten braucht (»aus irgendwelchen Gründen, sei es wegen Schmalheit […]«). 214 »Fast bei allen« Männern aus dem Roman-Milieu »stellt[] sich irgendein gesundheitlicher Schaden heraus«. 215 Sie sind so gut wie alle Syphilitiker oder Asthmatiker, tuberkulös oder mit sonstwelchen Gebresten geschlagen. Nur gerade der Erzähler Zeitblom zieht ins »Feld[]«, wenn auch nicht einmal für ein Jahr und nur »als Vize-Wachtmeister der Reserve«.216 Zwar wird er sogar »mit dem Kreuze« ausgezeichnet. 217 Doch »verdient« hat er sich dieses ausdrücklich nicht in den »Kämpfen«. Vielmehr ist sein Eisernes Kreuz die Auszeichnung für im Grunde nur allzu zivilistische und denkbar unheroische »Unbequemlichkeiten«.218 Er erhielt es für »die Attrappierung einer Typhus-Infektion«; 219 und diese hatte ihre peinliche und unappetitliche Ursache »offenbar« in einem »unzureichend[en]« »Entlausungsdienst«.220 Aber schon zuvor, als er noch »affektiert lapidare Siegesnachrichten nach Hause« schicken konnte, bestand »die Hauptanforderung« an seine »Männlichkeit« und seinen »Heldenmut« nicht etwa in den Schlachten, »Schlachtenserie[n]« selbst, sondern nur eben darin, den Anblick der ›seriellen‹ »Mordbrennerei mit Festigkeit zu ertragen«. 221 Dabei wird der ›Erbfeind‹ synekdochal oder fast schon allegorisch in Gestalt »eines […] Weibes« repräsentiert. Im Gesamtwerk wie natürlich ebenso in der nationalistischen Ideologie, die seinen Autor notgedrungen mit prägte, ist solch eine weibliche Sexuierung Frankreichs zwar gang und gäbe – auch in der Betrogenen 222 –; nur daß sie hier gerade nicht mehr auf eine ›Kastration‹ oder Verharmlosung ›des‹ Feinds hinauswill. Ganz im Gegenteil nimmt das »gallische[] Weib[]« hier »mit erhobenen Fäusten«
213 214 215 216 217 218 219 220 221 222
Bd. 6, S. 404. Bd. 6, S. 182. Bd. 6, S. 403. Bd. 6, S. 398; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 404. Ebd. Ebd. Bd. 6, S. 414. Bd. 6, S. 412. Vgl. Yahya Elsaghe, »›Merde!‹ […] und ›Hol’s der Geier!‹« Zur Imagination der deutschen Westgrenze in Thomas Manns Alterswerk, in: Rüdiger Görner und Suzanne Kirkbright (Hgg.), Nachdenken über Grenzen, München: Iudicium, 1999, S. 143–159, hier S. 153.
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seinerseits unheimliche und bedrohliche Züge an, wie sie für gewisse Frauenfiguren gerade auch des Spätwerks charakteristisch sind: Mit bemerkenswerter Leichtigkeit und Deutlichkeit rufe ich mir noch heute das Bild eines hageren gallischen Weibes zurück, auf einer Anhöhe stehend, die unsere Batterie umfuhr, und an deren Fuß die Reste eines zerschossenen Dorfes qualmten. »Ich bin die Letzte!« rief sie mit tragischer Gebärde, wie sie einer deutschen Frau nicht gegeben gewesen wäre, uns zu. »Je suis la dernière!« Und mit erhobenen Fäusten den Fluch über unsere Köpfe hinausschleudernd, wiederholte sie dreimal: »Méchants! Méchants! Méchants!« 223
1.4 Die Krise der Männlichkeit in der Betrogenen Auch in der Betrogenen geht die Erosion der Geschlechterstereotype sehr auf Kosten, sehr zu Lasten der »Herren Männer«, der »dummen Männer«, wie sie in einem Gespräch ›von Frau zu Frau‹ heißen, und zwar im Zusammenhang mit ihrem Ausschluß aus dem Mysterium der Geburt und der heiligen »Ekstase der Schmerzen«, bei der sich ein Oberstleutnant die Ohren zuhalten muß. 224 Und die Domäne des Militärs und des Kriegs, welche in Thomas Manns formativen Lebensjahren Virilität kodierte wie keine andere 225 und an der die Muttersöhne und »Familien[…]söhnchen« 226 des Doktor Faustus so konsequent scheitern, dient auch hier wieder nur eben dazu, die Fadenscheinigkeit all der »Männerchen« und »Männchen« 227 vorzuführen (ein auch in der Betrogenen verwandtes Deminutiv 228). Freilich ist es gerade der Krieg, der Rosalies amerikanischen Geliebten überhaupt erst nach Deutschland »herübergeführt[]« hat. 229 Allerdings beruht dieses Arrangement auf einer verhältnismäßig späten Konzeption der Handlung und ihrer Vorgeschichte. Ursprünglich hätte er »ohne Krieg, auf eigene Hand, als Matrose oder Tellerwäscher« sich nach Europa »herübergearbeitet« 230 haben sollen. So steht es in Thomas Manns Notizen; aber so behauptet es Ken auch noch im Novellentext für den Fall, daß der Krieg nie ausgebrochen wäre. 223 Bd. 6, S. 412 f. 224 Bd. 8, S. 890. 225 Vgl. George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M.: Fischer, 1997, S. 143 f. 226 Bd. 6, S. 506. 227 Bd. 6, S. 384, 439, 508; vgl. S. 383, 388, 395, 435, 511, 598. 228 Bd. 8, S. 888. 229 Bd. 8, S. 893. 230 Bd. 8, S. 897.
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Auf dieser Konzeptionsstufe trug Ken zwar schon seinen Allerweltsoder in solcher Einsilbigkeit vielmehr typisch amerikanischen Vornamen. (Ein mutmaßliches ›Vorbild‹ hieß Ed Klotz. 231) Der also eh und je fixierte Vorname aber – das geht ebenfalls aus den Entwurfsnotizen hervor – hätte ehedem vor einen anderen Nachnamen als »Keaton« zu stehen kommen sollen. Und dieser ältere Nachname wiederum, »Kearney«, war zur Zeit und am Ort seiner Konzeption allenfalls martialisch konnotierbar: »Die Betrogene / Begonnen am 16. Mai 1952 in P. P.« steht auf der Arbeitsmappe geschrieben. Nach mehr als einem Jahrzehnt »in P. P.«, Pacific Palisades, ist es durchaus denkbar, daß Thomas Mann den berühmtesten (und in der Encyclopaedia Britannica einzig lemmatisierten232) Träger dieses oder eines immerhin gleich lautenden Personennamens kannte, nämlich Stephen Watts Kearny, und ihn mit der US-amerikanischen, besonders der kalifornischen Militärgeschichte in Verbindung zu bringen vermochte. Daß er den Namen oder vielleicht besser gesagt das Homonym eines hohen und berühmten Militärs später fallen ließ, wäre dann überaus bezeichnend. Bezeichnend wäre vor allem auch, wie er den Namen »Kearney« ersetzte, eben ausgerechnet durch »Keaton«. Denn gleichermaßen wahrscheinlich wie oder noch viel wahrscheinlicher als die martialische Assoziation von »Kearney« müßte für den späten Thomas Mann auch schon die cineastisch-massenkulturelle Besetztheit von »Keaton« sein. Während seiner Arbeit an der Betrogenen – und übrigens zusammen mit der Änderung und Fiktionalisierung eines anderen darin wichtigen Namens, des realen Schloßnamens »Benrath« in den fiktiven »Holterhof«: eine Kontamination des baugeschichtlich mit Benrath verwandten »Jägerhofs« 233 und eines Dorfs, das auf dem Weg von Düsseldorf nach Benrath liegt, Holthausen 234 –, am 10. März 1953 also hielt Thomas Mann in seinem Tagebuch einen seiner Kinobesuche fest. Gesehen hatte er Charlie Chaplins Limelight (1952). Dabei notierte er eigens den tiefen Eindruck, den ihm das »[v]orzügliche« Casting des Films machte; und besonders gut gefiel ihm die »[ü]berwältigend komische […] Szene mit Buster Keaton […]. Treffliche Produktion, an der die ganze Welt sich ergötzt.« 235
231 Vgl. Erich A. Frey, Thomas Mann, in: John M. Spalek und Joseph Strelka (Hgg.), Deutsche Exilliteratur seit 1933, Bd. 1.1: Kalifornien, Bern und München: Francke, 1976, S. 473–526, hier S. 490. 232 Vgl. The New Encyclopaedia Britannica, Bd. V, Chicago et al.: Encyclopaedia Britannica, 151981, S. 742, s. v. ›Kearny, Stephen Watts‹; Encyclopaedia Britannica, Bd. 13, Chicago et al.: Encyclopaedia Britannica, [141957], S. 306 f., s. v. ›Kearny, Philip‹. 233 Bd. 8, S. 936; im Original keine Hervorhebung. 234 Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 235. 235 Tagebucheintrag vom 10. März 1953; Tagebücher 1953–1955, S. 33.
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Der Tagebucheintrag vom 10. März muß zwar, genau besehen, jünger sein als die Ersetzung des Nachnamens »Kearney« durch »Keaton«. Denn die darin ebenfalls vermerkte Ortsnamenänderung – »Name nun Holterhof« 236 – ist in der erhaltenen Handschrift nur mehr als Korrektur vorgenommen, während der Personenname »Keaton« bereits in ihrer ältesten Textschicht erscheint. Aber dennoch berechtigt die Tagebuchnotiz dazu, diesen Nachnamen mit dem Komiker von der traurigen Gestalt zu assoziieren. Denn sie scheint ja zu bezeugen, daß Thomas Mann »Buster Keaton« schon länger kannte (der obendrein in derselben Stadt lebte wie bis vor kurzem er selber); oder immerhin läßt sie nicht erkennen, daß ihm der Name zuvor noch fremd gewesen wäre. Es ist also eben sehr wahrscheinlich, daß er schon zu dem Zeitpunkt, als er »Kearney« durch »Keaton« ersetzte, die komische Konnotation dieses jüngeren Namens zumindest mit in Kauf nahm, wenn nicht geradezu suchte. Allerspätestens aber als er Die Betrogene veröffentlichte, deren Protagonistin er übrigens ihrerseits für »halb komisch« hielt und der er deshalb einen für sein Empfinden »komisch[en]« Namen gab,237 mußte Thomas Mann wissen, welche Assoziationen er mit Ken Keatons Namen im angebrochenen Zeitalter der globalen Massenkultur hervorrief. Mit diesem Namen verbanden sich nun schon in der »ganze[n] Welt« »komische« bis lächerliche Vorstellungen, und zwar auch und gerade auch noch sub specie mortis (wie in der im Tagebuch gewürdigten, nämlich einer Sterbe-»Szene«). Ausgerechnet der Körper und die Person des so und nicht mehr nach einem General benannten Ken Keaton sind nun, in der endgültigen Konzeption der Handlung, mit einer Kriegsvergangenheit versehen. Und zwar sind sie es ihrerseits wieder in durchaus zweifelhafter Weise. Keaton ist dekoriert, aber doch auch nur »honorably discharged« 238 wie »jeder, der sich nicht geradezu eine Ehrlosigkeit hat zuschulden kommen lassen«. 239 Die Medaille des »Purple heart«, die ihm routinemäßig (und anachronistischerweise240) verliehen worden sein soll, hat also ebensowenig verläßlichen Bedeutungswert wie Zeitbloms »Kreuz[]«. Sie ist in einem allzu wörtlichen Sinn ›Dekoration‹ und tatsächlich nur noch ›dekorativ‹. Sie ist 236 Ebd. 237 Briefe vom 28. Juli 1953 an Max von Brück; Tagebücher 1953–1955, S. 476 [Kommentar]; und vom 8. März 1954 an Theodor W. Adorno; Tagebücher 1953–1955, S. 578 [Kommentar]. 238 Bd. 8, S. 898, 913. 239 Bd. 8, S. 913. 240 Vgl. George C. Schoolfield, Thomas Mann’s Die Betrogene, in: Germanic Review 38.1, 1963, S. 91–120, hier S. 101; Wolfgang Leppmann, Der Amerikaner im Werke Thomas Manns, in: ders., In zwei Welten zu Hause. Aus der Lebensarbeit eines amerikanischen Germanisten, München und Wien: Drei Ulmen, 1989, S. 95–107, hier S. 104.
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ausdrücklich kein »Zeichen« von wirklichem »Heldenmut« mehr.241 Sie signifiziert nichts mehr; oder jedenfalls bedeutet sie kein echtes Heldentum. Das »Purple heart« erscheint wie das Eiserne Kreuz Zeitbloms nicht als »Abzeichen besonderer Tapferkeit«; sondern die Auszeichnung ist bloß noch eine »Entschädigung« für das rein zufällige und sonst »gottlob« folgenlose »Mißgeschick« einer zerschossenen Niere (beziehungsweise, bei Zeitbloms Infektion, gewissermaßen eine Wiedergutmachung für die peniblen Beschwernisse eines sogenannten ›filth disease‹). 242 Und aus diesem Defekt, den er natürlich nicht von ungefähr mit dem vollkommen unheroischen »Knaben« Rudi Schwerdtfeger teilt, schlägt der symbolisch ›Dekorierte‹ im zivilen Leben auch noch, ähnlich schmarotzerhaft wie Schildknapp, den Profit oder doch das »little cash« einer Invalidenpension.243 Die komparsenhafte Figur eines ebenfalls, und nun zwar sehr augenfällig »kriegsbeschädigte[n] Unteroffizier[s]« »mit schief gestelltem Mund und heiser verschriener Stimme« darf zur »[T]röst[ung]« in aller »Ödigkeit« eine museal schlecht und recht konservierte Vergangenheit hüten. 244 Dieser »Unteroffizier« gerät so in einen extremen und sinnreichen Kontrast zu der ihm entsprechenden oder gerade nicht mehr entsprechenden Figur des hier einschlägigen Vortexts: Emil Barths Wandelstern (1939), eine Reihe von autobiographischen Kindheitserinnerungen, deren eine, ein Ausflug nach Benrath, 1951 unter dem Titel »Schloßzauber« in dem Merian-Heft Düsseldorf abgedruckt wurde, welches Thomas Mann bei der Arbeit an der Betrogenen nach Ausweis seiner Lesespuren und Exzerpte intensiv benutzte. Dort verschmilzt die »großväterlich[]« imposante und patriarchal autoritäre Figur eines »großartige[n]« Kastellans, eines, wie das Exzerpt lautet: »Livrierte[n] mit Alt-Kaiser-Bart«, in der Wahrnehmung des Kindes phantasmagorisch mit keinem Geringeren als dem »alte[n] Kaiser« persönlich »bei großen Manövern«.245 Dem desto erbärmlicheren »Unteroffizier« und Invaliden der Betrogenen gewissermaßen gegenüber und am anderen Ende der militärischen Hierarchie, schon gleich am Anfang der Erzählung und im Zusammenhang mit der Absenz einer Vaterfigur und mit der ökonomischen Selbständigkeit der Frau, evoziert der Wortlaut des hier spät noch überarbeiteten Texts die Vorstellungen vom Krieg als der Sphäre männlicher Tat und heroischer Bewährung nur eben, um sie desto wirkungsvoller zu diskredi241 242 243 244 245
Bd. 8, S. 914. Ebd. Bd. 8, S. 898, 914. Bd. 8, S. 943, 945. Emil Barth, Schloßzauber, in: Merian 4.5, 1951, S. 56–60, hier S. 57–59; Thomas Manns Hervorhebung.
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tieren. Die ersten einschlägigen Informationen bauen eine entsprechende Erwartungshaltung ziemlich konsistent auf: »verwitwet« – »[i]hr Gatte, Oberstleutnant von Tümmler« – »ganz zu Anfang des Krieges«. 246 Die so erzeugte Erwartung, daß der »Gatte« und »Oberstleutnant« manu militari ums Leben kam, enttäuschen aber die folgenden Worte, indem sie den gewaltsamen Tod des Militärs vom Kriegsausbruch wieder dissoziieren: »nicht im Gefecht, sondern auf recht sinnlose Weise durch einen Automobilunfall, doch konnte man trotzdem sagen: auf dem Felde der Ehre, ums Leben gekommen«. 247 – »[K]onnte«, nicht ›mußte‹ (die hinterhältige Formulierung resultierte aus jener späten Überarbeitung): Ob das Ende des Oberstleutnants als Heldentod zu goutieren sei oder nicht, bleibt damit dem Belieben des je Sprechenden, ›Sagenden‹, anheimgestellt. Der Oberstleutnant ist also sensu strictissimo nicht ›gefallen‹. Ohne jeden Vorbehalt »gefallen«, als »vorzüglicher Offizier […] auf dem Felde der Ehre gefallen«, 248 darf er allenfalls im euphemistischen Andenken seiner Angehörigen sein und begreiflicherweise nur in deren direkten Reden. Robert von Tümmlers oder, wie ihn seine Witwe wenig liebevoll, nicht eben ehrerbietig und unter Mißachtung seines Adels nennt, den sie ihm ironisch (und vielleicht gegen die idiomatische Usanz 249) erst im Titel eines »Junker Leichtfuß« wieder zuerkennt:250 »Tümmler[s]« 251 zweifelhafter Heldentod soll nach einer Lesart des Manuskripts »namentlich« für das »Söhnchen« 252 einen belangvollen Verlust bedeutet haben. Und obwohl oder eben gerade weil dieser »Sohn«, ein »lang aufgeschossene[r] Rotkopf« und also eine mit den topischen Schönheitsstandards nicht besonders konforme Erscheinung, »dem verstorbenen Vater ähnlich« 253 sieht und »viel von« ihm »ha[t]« – aber doch nur in einer gelegentlichen Duellphantasie seiner Schwester den »bestimmten Ehrbegriffen« genügt 254 –, nimmt seine Mutter kaum »besonderen Anteil« an ihm. Sie bringt ihm bloß »[e]ine kühle, nur obenhin und mehr der Form wegen sich erkundigende Freundlichkeit […] entgegen[]«.255 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255
Bd. 8, S. 877. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 928. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Sp. 645, s. v. ›Leichtfusz‹, führt nur die Wendung ›bruder leichtfusz‹. Bd. 8, S. 928; im Original keine Hervorhebung. Vgl. dieselbe Wendung, wieder auf einen Adligen gemünzt, Bd. 1, S. 453. Bd. 8, S. 889. Vgl. Bd. 8, S. 877. Bd. 8, S. 883. Bd. 8, S. 927 f. Vgl. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München: Beck, 1991, S. 28–34, 76–88, 174–181; Mosse, Das Bild des Mannes, S. 27–36. Bd. 8, S. 883.
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Seine Schwester Anna, welche »mit Leichtigkeit, bei nur zwei oder drei […] Unterrichtsstunden am Tage, […] die Reifeprüfung bestanden« 256 hat und deren »Intelligenz« dem Hauslehrer ihres Bruders geradezu »Furcht« einflößt, 257 hilft diesem wiederholt so genannten »dummen Jungen« 258 und schlechten Gymnasiasten, dem »Unterprimaner«, wie er in den Notizen heißt, »bei seinen Schulaufgaben«. 259 Dieser »überlegene Dienst am Männlichen« bereitet ihr besondere »Genugtuung«. 260 Und gemäß ihrer ausdrücklich so genannten ›Überlegenheit‹ dem »Männlichen« gegenüber, die demnach nicht allein aus dem beträchtlichen Altersunterschied resultiert – sie ist zwölf Jahre, also eine halbe Generation älter –, verkehrt sie schon nach Ausweis der Verbalformen in wahrhaft diktatorischer Weise mit ihm, nämlich modo imperativo: »Tu das«!261 »Mach also nur weiter«!262 »Nimm deinen Anstand zusammen«! 263 »[E]rlaube dir keine unzukömmlichen Wahrnehmungen!« 264 Die Unerheblichkeit des Sohns, der schon im ersten Satz an letzter Stelle genannt wird, 265 und die Abwesenheit seines Vaters sind der Handlung aus deren Vorgeschichte immer schon gewissermaßen eingeschrieben, auch den lokalen Parametern des Geschehens. Denn der Umzug der vaterlos gewordenen Familie »nach Düsseldorf« erfolgte ausdrücklich, ausschließlich und zu beiden ›Teilen‹ »um« weiblicher Interessen und weiblicher Vorlieben »willen«: »teils um der schönen Parkanlagen willen, die diese Stadt auszeichnen (denn Frau von Tümmler war eine große Naturfreundin), teils weil Anna […] der Malerei zuneigte und die berühmte Kunstakademie zu besuchen wünschte«.266 An der Düsseldorfer Akademie, nachdem sie »sich […] zunächst der Plastik […] zugewandt« hatte, 267 also einer ganz besonders »handwerklich-praktischen«268 Form »der bildenden Kunst«,269 sollte sie endlich abstrakte Malerei studieren: »eine höchst geistige, die bloße Naturnachahmung verschmähende, den Sinneseindruck ins streng Gedankliche, abstrakt Symbolische, oft ins kubisch 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269
Bd. 8, S. 879. Bd. 8, S. 908. Bd. 8, S. 904. Bd. 8, S. 883. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 905; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 906; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 904; im Original keine Hervorhebung. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 877. Ebd. Bd. 8, S. 879. Bd. 8, S. 880. Bd. 8, S. 879.
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Mathematische transfigurierende Richtung«. 270 Das alles aber hat auch wieder einen weiblichen Einbruch in eine entschieden männliche Domäne zu bedeuten, als die sich die abstrakte Kunst seinerzeit verstand.271 In den älteren Notizen »teilt« Anna von Tümmler mit ihrer Mutter auch noch das »Schicksal« der Witwenschaft. Hier »heiratete« sie »mit 19«. Aber ihr »Mann, ein Gelehrter, Sinolog«, soll »nach kurzer Ehe, nur einige 30 alt, an einer vehementen Lungenentzündung gestorben« sein (wie die schwachen Männer schon des Frühwerks zum Zeichen ihrer versehrten Vitalität den »ebenso plötzlichen wie heftigen Krankheit[en]« nichts entgegenzusetzen haben, die sie tutti quanti »dahin[]raff[en]«272). Jetzt, im ausformulierten Novellentext, ist sie ganz ledig geblieben. Ihre biographie érotique, nun ganz in die Vorvergangenheit der Erzählung entrückt, besteht nur mehr aus der sozusagen nachgelieferten Geschichte von »Dr. Brünner«, die sich 1914 oder nicht viel später zugetragen haben muß (»bald nach vollzogenem Aufenthaltswechsel«): 273 »Dr. Brünner«, in der endgültigen Textversion ein Chemiker und »praktische[r] Streber« – aber schon in den Entwurfsnotizen »ein[] sehr schöne[r] […] Mann« –, der »die Wissenschaft möglichst bald zu Gelde« machte, »such[te]« in Annas »intelligente[r] Nähe« einst »Schutz […] vor den Beschwernissen verliebter [ältere Lesart: ›lüsterner‹] Nachstellung, deren Opfer er war«.274 Sein »Ehrgeiz nach dem Höheren«, mit dem er sich bei ihr gegen die ihn »lüstern belästigende« Meute »seiner Verehrerinnen« vom »blöden Gänschentyp« 275 schadlos hielt, hatte dann aber doch »nicht zugereicht«, um über Annas Klumpfuß und »über ihre bescheidene Mitgift« hinwegzusehen. 276 Er soll endlich statt ihrer »eine reiche Fabrikantentochter aus Bochum geehelicht« haben. 277 Und dort sei er, so heißt es, in deren »väterliches Chemikaliengeschäft« eingetreten. 278 Damit ist Doktor Brünner gewissermaßen ein für allemal ›Sohn‹ geblieben. Ein ›Sohn‹ und ›Söhnchen‹ blieb er auch und gerade durch seine bemerkenswerterweise uxorilokal-exogame Heirat. (Denn wie zu erwarten 270 Ebd. 271 Vgl. z. B. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München: Piper, 41916; Albrecht Koschorke, Die Männer und die Moderne, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hgg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam und Atlanta: Rodopi, 2000 (Critical Studies, Bd. 14), S. 141–162, hier S. 149 f. 272 Bd. 8, S. 77. 273 Bd. 8, S. 881. 274 Ebd. 275 Bd. 8, S. 925. 276 Bd. 8, S. 882. 277 Ebd. 278 Ebd.
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Problematisierung der sexuellen Differenz
ist bei Thomas Mann sonst selbstverständlich weibliche Exogamie die feste Regel.) Doktor Brünner verdankte seine sozioökonomische Identität seiner »reiche[n]« Frau. Und er rückte auch schon zuvor als protektionsbedürftiges, bei einer anderen Frau »Schutz […] suchen[des] und […] finden[des]« »Opfer« und Objekt »lüsterner Nachstellung« in eine typisch weibliche Stelle ein. Er spielte letztlich dieselbe Rolle, die Ken Keaton jetzt als Geliebter der Mutter zu übernehmen hat. Auch bei ihm, Doktor Brünner, galt die »Leidenschaft«, die sein »Mannesreiz« und seine »Mannespracht« erregten und deren ausdrücklich so genannter »Gegenstand« er war, vorab der »körperlichen Schönheit des jungen Mannes«.279 Ansonsten war er eben bloß ein »Streber« und »kannte« »sich« selber auch als einen solchen.280
1.5 Die Mediziner als Gegenstand der Institutionskritik Wie Doktor Brünner also einen alles andere als ›herrlichen‹ Eindruck hinterläßt, das Epitheton eines »Herrliche[n]« vom Erzähler denn nur mit desto deutlicher erkennbarer Ironie verliehen bekommt 281 und wie er insbesondere »die Wissenschaft« kommerziell profaniert, so werden in der Betrogenen auch die Doctores der Medizin, vom Hausarzt über den Assistenten bis zum Professor, dem Autoritätsanspruch nicht gerecht, den ihre Titel erheben: Den Hausarzt und von ihr auch jetzt verächtlich so titulierten »Medizinmann« 282 Oberloskamp hätte Anna in einer früheren, in Reinschrift erhaltenen Textversion so mutwillig oder jedenfalls so ähnlich »an der Nase« herumführen sollen, wie es Felix Krull mit dem Sanitätsrat Düsing tut. 283 In der Druckfassung unterläßt sie das zwar. Sie begründet diese Unterlassung aber mit der wegwerfenden, nur geringfügig weniger tief herabwürdigenden Bemerkung, es gebe Krankheiten, die »für den Doktor zu gut« seien. 284 Bei dem reiche es allenfalls und »mit Gottes Hilfe […] für Gelbsucht und Halsentzündung«.285
279 280 281 282 283 284 285
Bd. 8, S. 881 f.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 881. Bd. 8, S. 881. Bd. 8, S. 930. Bd. 7, S. 303–306. Bd. 8, S. 930. Ebd.
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Doch die universitären Fachvertreter der medizinischen Wissenschaft, Professor Muthesius und Doktor Knepperges, deren »zuverlässigste[r] Obhut« Oberloskamp Rosalies »Fall« »mit Entschiedenheit« überläßt, 286 machen keine besseren, sondern im Gegenteil noch sehr viel erbärmlichere Figuren. Und es bräuchte für einen Arzt schon ein sehr gut gerüttelt Maß an Berufsnarzißmus, um sich von solchen Figuren geschmeichelt zu fühlen und »dem Dichter« für sie im Namen der ganzen Zunft auch noch zu danken: 287 Der Professor, ein Mann mit Doppelkinn und stark gerötetem Gesicht, in dessen wasserblaue Augen leicht Tränen traten, ohne daß das mit Gemütsbewegung eben zu tun gehabt hätte, erhob den Kopf vom Mikroskop. »Nenne ich ausgedehnten Befund«, sagte er zu seinem Assistenten, der Dr. Knepperges hieß. »Wir operieren aber doch, Knepperges. Die Totalexstirpation bis zum letzten Bindegewebe im kleinen Becken und zu allem lymphatischen Gewebe kann allenfalls Lebensverlängerung bringen.« 288
Die institutionell höchste Autorität der »gynäkologische[n] Klinik«,289 Muthesius alias – in einer älteren, ausgeschiedenen Partie des Manuskripts – »Professor Seufzer«, kann mit tränengetrübtem, aber durch das »Mikroskop« geschärftem Blick einen ohnedies »ausgedehnten Befund« der Krankheit nur eben flott diagnostizieren. Ansonsten jedoch ist er mit seinem Latein am Ende beziehungsweise, wenig später, am geöffneten Unterleib der Patientin, mit allem anderen als seinem bißchen Gymnasial- und Medizinerlatein, das die vollkommene Sinnlosigkeit der weiteren Operation und den Selbstzweck seines Aktionismus verbrämen soll, ›auf daß etwas zu geschehen‹ wenigstens ›scheine‹: »ut aliquid fieri videatur«.290 Ganz ohne »Gemütsbewegung« – denn auf eine solche lassen die tränenden Augen seines schon ex nomine ›stummen‹, ›nichtssagenden‹ Körpers gerade keinen Rückschluß zu – kapituliert Muthesius vor dem »Befund« bis auf den nach Francis Bacon »dritten« und letzten, inzwischen weitaus fragwürdigsten 291 »Theil« 292 seiner hier nur noch ironisch so genannten »edlen 286 Bd. 8, S. 948. 287 Erwin Loewy-Hattendorf, Oedipus, Oestron und Thomas Mann, in: Ars Medici 44.7, 1954, S. 481 f., hier S. 482. 288 Bd. 8, S. 948 f. 289 Bd. 8, S. 948. 290 Bd. 8, S. 949. Vgl. Paul Lüth, Medizin in unserer Gesellschaft. Voraussetzungen, Änderungen, Ziele, Weinheim und Deerfield Beach (Florida): Edition Medizin, VCH, 1986, S. 13. 291 Vgl. z. B. Max Frisch, Rede an junge Ärztinnen und Ärzte, in: ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, hg. v. Hans Mayer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, Bd. 7: 1976–1985, S. 82–92, hier S. 83. 292 Francis Bacon, Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, hg. v. Johann Hermann Pfingsten, Pest: Weingand und Köpf, 1783 (Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966), S. 375.
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Kunst«: die »Lebens-Verlängerung«. 293 Und selbst dieser Rest einer »allenfalls« möglichen »Lebensverlängerung« wird noch kassiert. Das verrät schon die adversative Konjunktion, mit der die Autopsie »im weißen Licht der Bogenlampen« an die Mikroskopie anschließt: Doch die Eröffnung der Bauchhöhle bot Ärzten und Schwestern im weißen Licht der Bogenlampen ein zu furchtbares Bild, als daß auch nur auf vorübergehende Besserung zu hoffen gewesen wäre. Der Zeitpunkt, sie zu bewirken, war offenbar längst versäumt. Nicht nur, daß alle Beckenorgane bereits vom Verderben befallen waren: auch das Bauchfell zeigte, dem bloßen Auge schon, die mörderische Zellenansiedlung, alle Drüsen des lymphatischen Systems waren carcinomatös verdickt, und kein Zweifel war, daß es Krebszellenherde gab auch in der Leber. »Nun sehen Sie sich die Bescherung an, Knepperges«, sagte Muthesius. »Wahrscheinlich übertrifft sie Ihre Erwartungen.« Daß sie auch seine eigenen übertraf, ließ er nicht merken. »Unserer edlen Kunst«, fügte er hinzu, in den Augen Tränen, die nichts zu bedeuten hatten, »wird da ein bißchen viel zugemutet. Das kann man nicht alles herausschneiden. Wenn Sie zu bemerken glauben, daß das Zeug auch in beide Harnleiter schon metastatisch hineingewachsen ist, so bemerken Sie recht. Die Urämie kann nicht lange säumen. Sehen Sie, ich leugne gar nicht, daß die Gebärmutter das Freßgezücht selbst produziert. Und doch rate ich Ihnen, meine Vermutung zu übernehmen, daß die Geschichte vom Eierstock ausging, – von unbenützten granulösen Zellen nämlich, die seit der Geburt da manchmal ruhen und nach dem Einsetzen der Wechseljahre durch Gott weiß welchen Reizvorgang zu maligner Entwicklung kommen. Da wird denn der Organismus, post festum, wenn Sie so wollen, mit Estrogenhormonen überschüttet, überströmt, überschwemmt, was zur hormonalen Hyperplasie der Gebärmutter-Schleimhaut mit obligaten Blutungen führt.« Knepperges, ein hagerer, ehrgeizig-selbstbewußter Mensch, verbeugte sich knapp, mit versteckter Ironie für die Belehrung dankend. »Also los, ut aliquid fieri videatur«, sagte der Professor. »Das Lebenswichtige müssen wir ihr lassen, so tief hier das Wort in Melancholie getaucht ist.« – 294
Der ›allwissende‹ Erzähler in eigener Instanz diskreditiert hier die Kompetenz und den Charakter des Arztes. Der Doktor, Professor und »erste[] Chirurg[]« 295 läßt nur eben »nicht merken«, daß die »Bescherung« »auch seine eigenen« »Erwartungen« übersteigt. Und für seine »Belehrung« dankt ihm sein Assistent mit freilich nur »versteckter Ironie« und mit einer habitualisierten Unterwerfungsgeste, die in ihren »ehrgeizig[en]« Motiven an die 293 Bacon, Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, S. 386. 294 Bd. 8, S. 949 f.; im Original keine Hervorhebung. Die »Blutungen« wären in einem solchen Fall freilich nicht »obligat[]« (freundliche Auskunft von Miriam Klimek, Bern, vom 5. Juni 2009), auch nach den Informationen nicht, die Thomas Mann von seinem medizinischen Gewährsmann erhalten hatte, die sich aber in dieser Hinsicht leicht mißverstehen ließen (vgl. Frederick Rosenthal, Brief vom 11. Mai 1952 [Thomas Mann-Archiv]). 295 Bd. 8, S. 948.
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Heirat jenes anderen »Streber[s]« und »Doktor[s]« aus der Vorgeschichte der Betrogenen, von fern vielleicht auch an den »streberisch[en]« 296 Sanitätsrat Düsing aus dem Felix Krull erinnert: »Knepperges […] verbeugte sich«. Praktische Hilflosigkeit und menschliche Schwächen der Ärzte sind natürlich kein Thema, durch das sich Die Betrogene von Thomas Manns Gesamtwerk abhöbe. Nicht von ungefähr ist Muthesius mit seiner burschikosen Redeweise ein Wiedergänger der überhaupt bekanntesten Arztfigur, die Thomas Mann geschaffen hat. Hofrat Behrens im Zauberberg hat ebenfalls »blaue[] Augen, in denen« ebenfalls »Tränen schw[i]mmen«.297 Man muß unter Thomas Manns sehr zahlreichen Arztfiguren ziemlich lange suchen, um einigermaßen vertrauenerweckende oder gar rundum sympathische Exemplare zu finden. Solche gibt es zwar schon. Doktor Sammet aus Königliche Hoheit, der früher übrigens noch »Professor Dr. Unkraut« hätte heißen sollen, 298 hilft in »segensreich[]« »tätiger Sanftmut« das Elend der gesellschaftlich am stärksten benachteiligten Kinder zu lindern. 299 Ein »verdienter Mann« und »oberste[r] Medizinalbeamte[r]«, der offenbar sein historisches ›Vorbild‹ hat in einem Dr. Davide Giordano, 300 tritt im Tod in Venedig »entrüstet von seinem Posten zurück[]«, um gegen die offizielle Vertuschungspolitik der Behörden zu protestieren.301 Ein »loyaler und aufrechter Diener der Wissenschaft«, wieder in Italien – und vielleicht als Reverenz nochmals vor jenem Dr. Giordano –, entlarvt in Mario und der Zauberer mit einer nüchternen Untersuchung die Anstekkungsangst einer xenophoben hochadligen, indes scheinbar doch ›x‹-beliebigen »Principe[ssa] X.« als paranoiden »Aberglauben«.302 Die Gestalt aber, die Thomas Mann den meisten seiner Mediziner verlieh, zumal den deutschen unter ihnen, gibt viel von einer tiefen Skepsis gegenüber dem Vermögen und den Möglichkeiten der Ärzte zu erkennen und wenig von dem Wissenschaftsoptimismus, zu dem die in seine formativen Jahre fallenden Durchbrüche gerade auch der deutschen Medizin seinerzeit mindestens ebensosehr wie die Fortschritte von heute berechtigten. Um sich davon einen Eindruck zu verschaffen, wie tief die Mediziner in Thomas Manns Respekt bisweilen sinken konnten, braucht man 296 297 298 299 300
Bd. 7, S. 302. Bd. 3, S. 68. Vgl. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 4.2, S. 505 mit Anm. 694. Bd. 2, S. 123, 206 f. Vgl. Thomas Rütten, Die Cholera und Thomas Manns Der Tod in Venedig, in: Thomas Sprecher (Hg.), Liebe und Tod – in Venedig und anderswo. Die Davoser Literaturtage 2004, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2005 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 33), S. 125–170, hier S. 158; ders., Thomas Mann and Medicine [Manuskript]. 301 Bd. 8, S. 514. Vgl. Rütten, Die Cholera und Thomas Manns Der Tod in Venedig, S. 159. 302 Bd. 8, S. 661 f.
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nur einige der Vokabeln aufzulisten, mit denen Felix Krull in seinem Portrait jenes »streberisch[en]« Hausarztes Düsing seiner »Verachtung« Luft macht: »Dummheit«, »Phantasielosigkeit«, »Ermangelung höherer Gaben«; »[d]umm«, »plump[]«, »dürftig«; »gemein[]«, »unwürdig[]«, »untergeordnet[]«; »zu jedem falschen Zeugnis, jeder Verderbnis und Durchstecherei bereit«.303 Dabei bildet der Sanitätsrat Düsing keinen Sonderfall. Als ähnlich korruptionsanfällig erweist sich zum Beispiel im Zauberberg »Stabsarzt Dr. Eberding«, 304 dem übrigens auch dasselbe ›Original‹ zugrunde liegt wie Düsing: ein gewisser Richard May, Hofrat, Ordinarius und »streberische[r] Esel«, 305 der dem jungen Thomas Mann früh zu unbeschönigten Einsichten in die wilhelminische Biopolitik verhalf. 306 Düsing, ein »Mann von schlechter, gebückter Haltung« und wohl kaum zufällig »eselgrauem Haar«, 307 soll gerade und ausdrücklich nicht als »Ausnahme« hingestellt werden. »Selbstverständlich«, sagt der Erzähler eigens, mache »der ärztliche Berufsstand von anderen keine Ausnahme darin, daß seine Angehörigen ihrer überwiegenden Mehrzahl nach gewöhnliche Hohlköpfe sind«.308 (In der Handschrift hätte einmal folgen sollen: »käuflich wie Advokate, bereit, die Wissenschaft mit dem Interesse ihres zahlenden Schützlings paktieren zu lassen«.) Bei aller Plastizität der individuellen Figuren scheinen Thomas Manns Darstellungen des »ärztliche[n] Berufsstand[s]« über die einzelnen Fachvertreter hinaus auf die Berufsgruppe als ganze zu zielen. Der kriecherische Sanitätsrat Düsing ist nicht zufällig Nachfolger eines Hausarztes, der Krulls immerhin nicht ganz einfache Geburt »nicht ohne künstliche Nachhilfe« 309 zu »bewerkstellig[en]« 310 wußte und dem jedenfalls Solidarität und Beistandsbereitschaft aus dem ausgefallenen lateinischen Namen sprachen: »Doktor Mecum«, ›mit mir‹. (Dabei schlägt der Gegensatz der beiden Arzttypen und -generationen hier vielleicht sogar bis ins Schriftbild des Manuskripts durch. Denn in der Handschrift ersetzt der Name 303 304 305 306
307 308 309 310
Bd. 7, S. 302–304. Bd. 3, S. 53. Brief vom 27. April 1912 an Heinrich Mann; Briefe I. 1889–1913, S. 491–494, hier S. 492. Vgl. Jochen Eigler, Thomas Mann – Ärzte der Familie und Medizin in München – Spuren in Leben und Werk (1854–1925), in: Thomas Sprecher (Hg.), Literatur und Krankheit im Fin-de-Siècle (1890–1914). Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2002 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 26), S. 13– 34, hier S. 19. Bd. 7, S. 302; im Original keine Hervorhebung. Bd. 7, S. 304; im Original keine Hervorhebung. Bd. 7, S. 269. Bd. 7, S. 302.
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»Düsing« bei seinem ersten Erscheinen einen anderen, älteren, jetzt kaum leserlichen, weil grob und energisch gestrichenen. Der Editor der jüngsten kritischen Ausgabe konjiziert: »evtl.: ›Mecum‹«.311) Thomas Mann also hat es auf den »Berufsstand« als solchen abgesehen. Das zeigt sich konkret daran, daß seine Ärzte nahezu systemisch in Paaren erscheinen, wie zum Beispiel Dr. Erasmi und Dr. Zimbalist im Doktor Faustus oder Dr. Salzmann und Professor Kafka im Zauberberg. Besonders gerne treten sie dabei in Oppositionspaaren auf, wie Dres. Düsing und Mecum oder auch Dres. Erasmi und Zimbalist eines bilden: dicker versus kleiner, schwarz- versus rothaariger Jude312 (während Kafka und Salzmann, ihrerseits mehr und weniger ›jüdisch‹ markiert,313 sich immerhin in der Nuance unterscheiden, wie genau sie ihre je ausgebeuteten Patienten zugrunderichten sollen, durch »Mischinfektionen« 314 oder Alkoholismus 315). Es gibt alte und junge (eben Dr. Mecum versus Sanitätsrat Düsing im Felix Krull; Generalarzt Dr. Eschrich versus Dr. Sammet in Königliche Hoheit; Dr. Grabow versus Dr. Langhals in den Buddenbrooks); institutionell höher- und tiefergestellte (Hofrat 316 Dr. Behrens versus Dr. Krokowski im Zauberberg; Dr. Leander versus Dr. Müller in Tristan – wobei »Leander«, einmal abgesehen vom wieder ›jüdisch‹ markierten Tiernamen der ersten Namenshälfte, durch die zweite im Sinn einer Namensflucht gleichsam ver-›menschlicht‹, das literarische Pseudonym des seinerzeit hochberühmten Chirurgen Richard von Volkmann war –); Zivilisten und Militärärzte (Sanitätsrat versus Oberstabsarzt im Felix Krull); Hausärzte versus Spezialisten (Dr. Hinzpeter versus Dres. Leander und Müller; Dr. Heidekind versus Dres. Behrens und Krokowski; Dr. Kürbis versus 311 Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. Kommentar von Thomas Sprecher, Frankfurt a. M.: Fischer (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 12.2) [im Druck]. 312 Vgl. Yahya Elsaghe, Apokryphe Juden und apokryphe Antisemitismen in Thomas Manns späterem und spätestem Erzählwerk, in: Stefan Börnchen und Claudia Liebrand (Hgg.), Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München: Fink, 2008, S. 225–242, hier S. 234. 313 Vgl. Elsaghe, Apokryphe Juden und apokryphe Antisemitismen in Thomas Manns späterem und spätestem Erzählwerk, S. 232 f. 314 Bd. 3, S. 91. 315 Zur medizingeschichtlichen Belegbarkeit dieser ›Therapie‹-Methode vgl. Herrmann Brehmer, Die Therapie der chronischen Lungenschwindsucht, Wiesbaden: Bergmann, 21889, S. 272–282; P. Dettweiler und F. Penzoldt, Die Therapie der Phthisis, Wiesbaden: Bergmann, 1887, S. 25 f. 316 Zur Höhe dieses Titels im Verhältnis zu demjenigen des ›Vorbilds‹ (»Kais. Geh. Sanitätsrat«) vgl. Christian Virchow Sen., Geschichten um den Zauberberg. Aus der Hochgebirgsklinik Davos-Wolfgang, in: Deutsches Ärzteblatt. Ärztliche Mitteilungen 64.6, 11. Februar 1967, S. 316–319, hier S. 317.
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Professor von Rothenbuch alias, in einer älteren, handschriftlichen, medizinhistorisch möglicherweise relevanten 317 Lesart des Doktor Faustus, »Lindpaintner«). Gerade anhand der vielfältigen feinen und weniger feinen Unterschiede wird immer wieder vorgeführt, wie nichtig solche Oppositionen und Hierarchien und wie hinfällig das ihnen eingeschriebene Selbstverständnis der Ärzte angesichts der in wirklich ernsten Fällen »fast völlige[n] Ohnmacht« ihrer »Wissenschaft« ist. 318 Der junge Doktor Langhals kann in Buddenbrooks auch nicht mehr ausrichten als der alte Doktor Grabow, als die von diesem schon genannten Krankheitsnamen noch ins Medizinerlatein zu übersetzen. 319 Doktor Kürbis im Doktor Faustus, wenngleich er den »Internisten aus der Hauptstadt« »umdienern[]« wird, redet von dessen »höherer Autorität«, so »glaub[t]« der Erzähler, doch mit »betrübte[r] Ironie«: Und tatsächlich vermag von Rothenbuch, dem der Autor den Namen einer medizinhistorisch verbürgten Kapazität ja gerade entzogen zu haben scheint, trotz »seines Rufes« im wesentlichen gar nichts anderes und jedenfalls nicht mehr zu tun als der »ländliche[] Jünger« der »Wissenschaft«.320 Ein er- und bedrückend langer Katalog für solche »Ohnmacht« findet sich in der bislang einzigen gründlicheren Studie zum Thema, der Thomas Rütten, in einem Beitrag zu »Literatur und Krankheit im Fin-de-
317 Vgl. Roy Porter, Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Heidelberg und Berlin: Spektrum Akademischer Verlag, 2000, S. 375, die Erwähnung eines Münchner Mediziners namens »Lindpainter«, der in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts in München der Antisepsis zum Durchbruch verholfen haben soll. Der Name scheint so allerdings offenbar weder im Bairischen noch auch im Deutschen belegt zu sein: Vgl. Hans Bahlow, Deutsches Namenlexikon. Familienund Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1972, S. 318, s. v. ›Lindpaintner‹ (ein Lemma »Lindpainter« fehlt). Vermutlich handelt es sich bei dem Arzt, den Porter – nur beim Nachnamen – nennt, um Dr. Julius Lindpaintner, der 1850 in München geboren wurde, 1873 seine medizinischen Examina an der Ludwig-MaximiliansUniversität ablegte, unmittelbar darauf als Assistenzarzt im Krankenhaus links der Isar angestellt wurde, sich 1878 mit einer eigenen Praxis in München selbständig machte und 1892 verstarb. Ein Aufenthalt in Glasgow indessen, wie ihn Porter erwähnt, ließ sich für diesen Lindpaintner vorderhand nicht nachweisen (freundliche Auskünfte von Caroline Gigl, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, vom 21. Oktober 2003). – Zur appellativischen Interpretierbarkeit der Namen »von Rothenbuch« (alias »Rutenbusch« alias »Rotbusch« [vgl. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.2, S. 849]) und »Lindpaintner« vgl. Yahya Elsaghe, »Wie soll man sie nennen?« Thomas Manns Erzählwerk ›nach Auschwitz‹, in: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz (Hgg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart und Weimar: Metzler, 2007, S. 111–129, hier S. 118 f. 318 Bd. 6, S. 629. 319 Bd. 1, S. 556. Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 679. 320 Bd. 6, S. 629–631.
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Siècle«, Thomas Manns Frühwerk unterzogen hat. 321 Die Beschränkung auf das Frühwerk ist hier durch Anlaß und Ort der Publikation vorgegeben. Sie darf aber nicht dazu verleiten, den an den frühen Texten gewonnenen Befund blindlings auf das Gesamtwerk hin zu extrapolieren. Um die drei letzten Ärzte, die Thomas Mann porträtierte, die Gestaltung also des Dr. Oberloskamp und vor allem der Dres. Muthesius und Knepperges ganz einordnen zu können, müßte man das gesamte Erzählwerk entstehungschronologisch und mentalitätsgeschichtlich erst noch genauer auffächern und sorgfältig differenzieren. Ohne die Ergebnisse einer solchen Untersuchung im einzelnen vorwegnehmen zu wollen, 322 kann man verschiedene, aber ineinandergreifende Bewegungen auch schon prima vista ausmachen. Sehr grob vereinfacht darf man wahrscheinlich sagen, daß das ziemlich pauschal negative Ärztebild des Frühwerks die erste von drei Phasen darstellt. In einer zweiten, für die Der Zauberberg das typischste Beispiel abgibt und der bereits auch Dres. Sammet und Mecum oder dann wieder jene beiden italienischen Mediziner »in Venedig« beziehungsweise »Torre di Venere« angehören, erfährt der »Berufsstand« eine gewisse Aufwertung. Symptomatisch dafür ist vielleicht schon die Umbenennung Doktor Sammets. Denn dieser wurde ja von einem Spottnamen gewissermaßen erlöst, der, genau wie derjenige eines »Bankdirektor[s] Wolfsmilch«, 323 den Typus der ›jüdischen‹ Wunsch- und Pflanzennamen in pessimam partem hätte pervertieren sollen. Bei Sammet alias »Unkraut« oder dem italienischen Arzt in Mario und der Zauberer werden die fachliche Kompetenz, praktische Effizienz und moralische Integrität nirgends und auch bei einer Arztfigur wie Hofrat Behrens werden sie jedenfalls nicht so eindeutig denunziert wie bei einem Düsing, Grabow, Langhals oder, in der ›Tagebuchnovelle‹ Der Tod (1897), bei »Doktor Gudehus«: »Dieser Stümper und Narr«. 324 (Den Namen »Gudehus«, den er aus Lübeck kannte, 325 übertrug Thomas
321 Thomas Rütten, Krankheit und Genie. Annäherungen an Frühformen einer Mannschen Denkfigur, in: Thomas Sprecher (Hg.), Literatur und Krankheit im Fin-de-Siècle (1890– 1914). Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2002 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 26), S. 131–170, hier S. 150–154. 322 Vgl. Irmtraud Hnilica, Medizin, Macht und Männlichkeit. Ärztebilder der frühen Moderne bei Ernst Weiss, Thomas Mann und Arthur Schnitzler, Freiburg i. Br.: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen, 2006, S. 69–90. 323 Bd. 2, S. 198. 324 Bd. 8, S. 71 f., 75. 325 Lübeckisches Adreß-Buch, S. 99.
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Mann dann in Königliche Hoheit boshafterweise auf einen »Mörder« und notorischen Schwerkriminellen. 326) An Hofrat Behrens treten selbstverständlich ebenfalls bedenkliche Seiten hervor. Seine noch so bestimmt geäußerten Prognosen brauchen sich durchaus nicht zu bewahrheiten. Noch im ersten Frühjahr etwa prophezeit er einer auf eigene Faust abreisenden Patientin ihre baldige Rückkehr – »[s]pätestens im Herbst« 327 –, ohne daß ihr Name je wieder fiele während der restlichen sechs Jahre erzählter Zeit und der verbleibenden, ein halbes Tausend Seiten füllenden Erzählzeit. Es wird sogar an seinem ernsthaften Interesse gezweifelt, seine Patienten zu heilen. Als »kranke[r] Arzt« ist er »ein Paradoxon […], eine problematische Erscheinung«.328 Und institutionell ist er »keineswegs Inhaber und Besitzer der Anstalt, – obgleich man wohl diesen Eindruck gewinnen« kann 329 (und obwohl »Prof. Jessen« zu Katia Manns Zeit am Davoser Waldsanatorium sich in der Lokalpresse tatsächlich als dessen »Bes[itzer]« ausgab 330). »Über ihm« stehen »unsichtbare Mächte […]: ein Aufsichtsrat, eine Aktiengesellschaft«. 331 Behrens ist bloß »ein Angestellter hier!« 332 Er ist »kein selbständiger Mann«, »nichts als ein Agent, ein Funktionär, ein Verwandter höherer Gewalten, der erste und oberste freilich, die Seele des Ganzen«. 333 Indessen bringt ihm seine Patientenschaft aber doch bedingungslosen Respekt oder immerhin Gehorsam entgegen. Er darf geradezu mit einer Unterweltsgottheit, einem Herrn über Tod und Verdammnis verglichen werden. 334 Man ›kann‹ immerhin sehr wohl den Eindruck seiner unbedingten Machtfülle »gewinnen«. Und er verdient wie Muthesius den Ruf zumindest eines »glänzende[n] Operateur[s], wie es scheint«. 335 Aber anders als bei Muthesius, mit dessen ›stummem‹ Namen Thomas Mann bekanntlich einen sprechenden ersetzte, der eine Artikulation von Leid und Mitleid geradezu denotierte und übrigens auch noch von fern an die sonst so zahlreichen jüdischen Ärzte des Gesamtwerks erinnerte, näm326 Bd. 2, S. 358. Zur Wiederverwendung älterer Namen vgl. Bd. 1, S. 62 vs. Bd. 8, S. 84; Bd. 1, S. 627 vs. Bd. 8, S. 84; Bd. 1, S. 263 vs. Bd. 2, S. 182; Bd. 8, S. 282 vs. S. 430; Bd. 6, S. 391 vs. Bd. 8, S. 902; Bd. 6, S. 591 vs. Bd. 7, S. 520; Bd. 6, S. 350 vs. Bd. 8, S. 278 (dazu Elsaghe, Exil und Stereotypen, S. 114). 327 Bd. 3, S. 499. 328 Bd. 3, S. 187. 329 Bd. 3, S. 185. 330 Davoser Blätter, 7. September 1912 [o. P.]. 331 Bd. 3, S. 185 f. 332 Bd. 3, S. 580. 333 Bd. 3, S. 186. 334 Vgl. Bd. 3, S. 92, 273 (»Höllenrichter«); S. 83 f., 88–90, 228, 449, 581 f., 654, 730, 772, 826, 871, 974 (»Rhadamant«); S. 273, 539, 618, 655, 668, 728, 740, 868, 982 (»Rhadamanthys«). 335 Bd. 3, S. 19.
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lich an die ›jüdischen‹ Namen vom Typus »Wehsal« und ›Mühsam‹: 336 »Seufzer«, – anders also als bei Muthesius alias Seufzer steht von Behrens nirgends geschrieben, daß die »Tränen« in seinen »blauen Augen« nichts zu bedeuten hätten. In seinen direkten Reden stellt er ausdrücklich eigene finanzielle Interessen in Abrede. Er bezeichnet sich darin sogar pathetisch und ohne erkennbaren Sarkasmus als »Diener der leidenden Menschheit!« 337 In einer dritten Phase, im eigentlichen Spätwerk, beispielhaft im Doktor Faustus, aber eben auch in der Betrogenen, wird die Rolle des »Berufsstand[s]« dann so differenziert, daß vergleichsweise sympathische neben besonders abstoßenden Ärzteportraits vorkommen. Die Differenzierung hat weniger oder gar nichts mit einer tatsächlichen Macht über Leben und Tod zu tun, in der sich die einen von den anderen Ärzten unterschieden. Diese Macht ist hier im Gegenteil wieder, beziehungsweise immer noch, denkbar gering; und zwar deshalb, weil die Ärzte jeweils mit besonders heimtückischen und besonders gefährlichen, mit unheilbaren oder solchen Krankheiten konfrontiert sind, die zur Entstehungs- oder Konzeptionszeit der betreffenden Texte nach wie vor als unheilbar galten (Syphilis, Meningitis, metastasierender Krebs). Die Sympathielenkung erfolgt in den späten Ärzteportraits vor allem über die rein persönlichen Charakterisierungen der Figuren. Sie unterliegt indessen der professionellen Opposition von Haus- und Spezialarzt. Von dieser her erhält die gleichmäßige Ohnmacht der Mediziner allererst ihre Pikanterie. Kürbis im Doktor Faustus kann ebensowenig ausrichten gegen Meningitis wie von Rothenbuch. Muthesius und Knepperges in der Betrogenen können den Krebs nur genauer diagnostizieren, aber sonst auch nicht mehr dagegen tun als Oberloskamp. Doch steht Oberloskamps und Kürbis’ Hilflosigkeit wenigstens in keinem Mißverhältnis zu einer Aura, die sie sich selber oder die ihnen Institutionen verliehen. Es fehlt ihnen jede Eitelkeit. Und sie scheinen, im Sinn des sprechenden Namens »Mecum«, 336 Zur Löschung der Erinnerungsspuren an die deutsch-jüdische Geschichte in den spätesten Teilen des Gesamtwerks – das »zu Gunsten bedürftiger Kinder und Jugendlicher in Israel« faksimilierte Manuskript der Betrogenen (Thomas Mann, Die Betrogene. Erzählung [Faksimile der Handschrift], Lausanne: Wahli, 1953, Bl. 2 verso [= Bl. 72 recto des Originals]) wurde am selben Tag abgeschlossen, an dem der deutsche Bundestag das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen verabschiedete (vgl. Rudolf Huhn, Die Wiedergutmachungsverhandlungen in Wassenaar, in: Ludolf Herbst und Constantin Goschler [Hgg.], Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München: Oldenbourg, 1989 [Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer], S. 139–160, hier S. 160) – vgl. Elsaghe, »Wie soll man sie nennen?«; ders., Apokryphe Juden und apokryphe Antisemitismen in Thomas Manns späterem und spätestem Erzählwerk. 337 Bd. 3, S. 580.
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so ernsthaften Anteil am Leiden ihrer Patienten und Patientinnen zu nehmen, wie es ihr Berufsethos eben erlaubt. Ohne oder jedenfalls mit nur leichter Ironie und ganz ohne Zynismus heißt der Landarzt Kürbis schlichtweg »der gute Mann«. 338 Und in jener vielleicht bezeichnenderweise ausgeschiedenen Partie, in der Oberloskamp hätte genasführt werden sollen, wird dem »Graukopf« 339 eine fundierte humanistische Bildung zugestanden, bei seiner expliziten Assoziation mit »Anno dazumal« und »einer Zeit, wo ein gebildetes Bürgertum in Goethes ›Faust‹ sattelfest gewesen war«. 340 Die drei Phasen, die sich an der Sympathielenkung der Ärzteportraits ausmachen lassen, gehen zwangsläufig damit einher, daß ein neuer Typ von Handlungsort auftaucht und das Berufsprofil der betreffenden Ärzte dadurch verändert und modifiziert wird. Im Frühwerk, wenn man dieses mit den Buddenbrooks enden läßt, kommen überhaupt nur Hausärzte vor. Diese erhalten dann von Tristan (1903) an sukzessive Konkurrenz von Spezialisten, die in Sanatorien praktizieren und denen die ganz im Hintergrund bleibenden Allgemeinpraktiker einfach nur Patienten überweisen; so im Zauberberg oder eben schon in Tristan. Zuletzt endlich kehren die zusehends verdrängten Allgemeinpraktiker gleichsam wieder und werden wie gesehen gegen die Spezialärzte der Kliniken ausgespielt. Diese selber, als Antipoden des Typus »Mecum« und sozusagen als ›Ohnemichs‹, werden nun zum Gegenstand der Gesellschaftsanalyse und Institutionskritik. Die verschiedenen Phasen, die Thomas Manns Repräsentation der Ärzteschaft durchläuft, ›widerspiegeln‹ zum Teil und bilden zum anderen Teil einen Widerstand gegen rapide Entwicklungen, welche die deutsche Medizin etwa seit der Mitte und erst recht vom letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts an durchmachte und in deren Folge das allgemeine Sozialprestige der Ärzteschaft auf ein Niveau anstieg, das womöglich noch über ihrer heutigen Reputationshöhe lag. 341 Diese Entwicklungen setzten sich offenbar aus mehreren Faktoren zusammen, deren volle Ausbildung grosso modo hinter die in den Buddenbrooks erzählte Zeit fiel. 342 Neben generellen Professionalisierungstendenzen, der Indienstnahme und Autorisation des »Berufsstand[s]« durch den Staat (deren Ausdruck bei Thomas 338 339 340 341
Bd. 6, S. 629. Bd. 8, S. 948. Tagebücher 1953–1955, S. 799 [Dokument 3]. Vgl. Robert Jütte, Die Entwicklung des ärztlichen Vereinswesens und des organisierten Ärztestandes bis 1871, in: ders. (Hg.), Die Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln: Deutscher ÄrzteVerlag, 1997, S. 15–42. 342 Vgl. Hedwig Herold-Schmidt, Ärztliche Interessenvertretung im Kaiserreich 1871–1914, in: Jütte (Hg.), Die Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 43–95.
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Manns Ärzten die verschiedenen Rats-, Stabs- und Generalstitel sind, wie einer – »Sanitätsrat[]« – in der Handschrift auch für den »alten Doktor Mecum« 343 nachträglich und vorübergehend erwogen, endlich aber bemerkenswerterweise wieder verworfen wurde), 344 neben der Medikalisierung sozialer Probleme 345 und verschiedenen anderen gesellschaftlichen Phänomenen spielte wohl die Vernaturwissenschaftlichung der Medizin dabei die wichtigste Rolle, die wiederum eng an das Aufkommen der Krankenhausmedizin gebunden war. 346 Das alles führte von den Achtzigerjahren an insbesondere zu Fortschritten beim wissenschaftlichen Verständnis der Infektionskrankheiten und kurzum zur sogenannten bakteriologischen Revolution. 347 Der Heilerfolg bei der Behandlung so gefürchteter und weitverbreiteter Krankheiten wie Gelbfieber, Pocken oder Typhus und, zuletzt, Tuberkulose und Syphilis,348 den diese wissenschaftlichen Durchbrüche je mit einiger Verspätung endlich nach sich zogen, zusammen mit der Anästhesie und Antisepsis in der Chirurgie (seit der Mitte respektive den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts), hat das allgemeine Vertrauen in die Spezialisierung und den Glauben an die praktischen Fähigkeiten der Ärzte notwendig sehr nachhaltig gestärkt. Als Kehrseite des neuen Berufsbilds bildete sich von nun an offensichtlich ein Ressentiment gegen den zwar effizienten und kompetenten, dafür aber kühlen Wissenschaftler heraus, gegen den kalten, vom menschlichen Leid unberührten Karrieristen 349 und den kapitalistischen Unternehmer; so in der Gestalt des natürlich nicht zufällig jüdisch markierten Doktor Leander, der sich die »Vermögen« seiner Patienten ebenso syste-
343 Bd. 7, S. 302. 344 Vgl. Christoph Gradmann, Money, Microbes, and More: Robert Koch, Tuberculin and the Foundation of the Institute for Infectious Diseases in Berlin 1891, München: Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte, 1997 (Preprints, Heft 69). 345 Vgl. Anne I. Hardy, Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. et al.: Campus, 2005. 346 Vgl. Dieter Jetter, Das Krankenhaus des 19. Jahrhunderts, bauliche Entwicklung und gesellschaftliche Funktion, in: Walter Artelt und Walter Rüegg (Hgg.), Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vorträge eines Symposiums vom 1. bis 3. April 1963 in Frankfurt am Main, Stuttgart: Enke, 1967 (Studien zur Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1), S. 70–81; W. F. Bynum, Science and the Practice of Medicine in the Nineteenth Century, Cambridge et al.: Cambridge University Press, 1994 (Cambridge History of Science), S. 25–54. 347 Vgl. Michael Worboys, Spreading Germs. Disease Theories and Medical Practice in Britain 1865–1900, Cambridge et al.: Cambridge University Press, 2000 (Cambridge History of Medicine). 348 Vgl. James T. Patterson, The Dread Disease: Cancer and Modern American Culture, Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press, 1987, S. 46 f. 349 Vgl. Patterson, The Dread Disease, S. 48.
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matisch aneignet, 350 wie Dokor Salzmann und Professor Kafka ihre Opfer ›jüdisch‹-skrupellos ausnehmen sollen, bevor sie sie vollends ruinieren. Parallel zur zunehmenden Profilierung der Spezialisten verändert sich daher das Verhältnis von Haus- und Spezialarzt bei Thomas Mann in ziemlich signifikanter Weise. Die schlimmsten Hausarztkarikaturen finden sich denn in den frühen und frühesten Texten: im Kleinen Herrn Friedemann, in Der Tod, in den Buddenbrooks. Die, verglichen wenigstens mit einem Doktor Langhals oder Gudehus, erheblich aufgewerteten Bilder von Hausärzten wie Kürbis oder Oberloskamp lassen sich dagegen als Nostalgie verstehen. Nicht von ungefähr hätte Oberloskamps Bildungsbürgerlichkeit ehedem explizit auf eine ansonsten ganz untergegangene Epoche bezogen werden sollen. Und nicht zufällig erinnert Oberloskamp als Figur an einen ausgemacht sympathischen Arzt aus dem vergangenen Jahrhundert und aus einem Roman, der Thomas Manns Erzählkunst von früh auf prägte und dem dieser denn schon den Namen jenes Dr. »Eschrich« 351 entnahm oder auch den überhaupt berühmtesten Geschlechtsnamen seines Gesamtwerks, »Buddenbrook«: 352 Oberloskamp teilt etliche seiner Merkmale mit dem »alten Geheimrat Rummschüttel« 353 (»auf dem Gebiete der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf« 354), dem schon in seinen metonymisch sprechenden 355 Namen geschrieben steht, daß er sich besonders auch auf psychosomatische Leiden und ihre Symptome versteht. 356 Diesem »Damendoktor«, 357 der bereits Luise Briest behandelte, spielt Effi, geborene Briest, ihrerseits »mit Virtuosität« 358 eine ›Schulkrankheit‹ vor wie Felix Krull oder vormals auch Anna von Tümmler den Hausärzten Düsing und Oberloskamp. Anders zumindest als Düsing durchschaut Rummschüttel Effis »Rheumatismusund Neuralgie-Komödie« 359 zwar, »respektier[t]« sie aber auch. 360 Der Hausarzt von der Art Doktor ›Mecum‹ Rummschüttels, was ja bereits die geistliche Assoziiertheit oder ›Etymologie‹ des Namens »Mecum« suggeriert, scheint seinerzeit fast schon die Funktion des Seelsorgers 350 Bd. 8, S. 216. 351 Theodor Fontane, Effi Briest. Roman, hg. v. Christine Hehle, Berlin: Aufbau, 1998 (Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15), S. 196. 352 Fontane, Effi Briest, S. 283, 285, 287. 353 Fontane, Effi Briest, S. 306. 354 Fontane, Effi Briest, S. 263. 355 Vgl. Fontane, Effi Briest, S. 234. 356 Vgl. Franka Marquardt, Gebet und Geschlecht bei Theodor Fontane, in: Zeitschrift für deutsche Philologie [im Druck]. 357 Fontane, Effi Briest, S. 238. 358 Fontane, Effi Briest, S. 235. 359 Fontane, Effi Briest, S. 306. 360 Fontane, Effi Briest, S. 236.
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übernommen zu haben, der in Fontanes wie in Manns Werk eine noch weitaus schlechtere Figur machen kann als die Ärzte. So lautet eine Figurenskizze der Buddenbrooks: »Pastor Petersen (Huren und Saufen)«. 361 Die Institution nun des Hausarztes, wie er ehedem ganz anstandslos Bedürfnisse mit bedient hatte, die nun plötzlich nicht mehr gedeckt waren – menschliche Anteilnahme, psychotherapeutische Qualitäten, intime Vertrautheit mit den Lebensumständen des Patienten –, verlor zur Zeit des Spätwerks und vor allem in dem Land bereits an Selbstverständlichkeit, in dem Thomas Mann den Doktor Faustus schrieb und Die Betrogene zu schreiben anfing. 362 Das resultierende Ressentiment gegen die ›neue‹ Medizin, ihre ›totalen‹ Institutionen und ihre Vertreter entlädt sich in der Betrogenen offensichtlich an den Gestalten von Muthesius und Knepperges, denen Oberloskamp, auch im Morgengrauen selbstlos »rasch zur Stelle«, aber vollkommen überfordert, die Patientin überläßt. 363 Denn seine Kompetenz reicht »mit Gottes Hilfe« eben nur gerade für längst beherrschbare Infektionen und harmlose Alltagsgebrechen wie »Gelbsucht und Halsentzündung« 364 aus. Muthesius aber und Knepperges, ähnlich wie, nur sehr viel drastischer als von Rothenbuch, verkörpern die Kehrseite des neuen Ärztebilds aufs schlimmste und sozusagen absolut, ohne nämlich zugleich den klinischen Fortschritt repräsentieren zu dürfen, als dessen Komplement man diese Kehrseite wohl noch eher in Kauf nehmen könnte. In Muthesius und Knepperges, das heißt in gleich zwei Generationen des ›neuen‹ Ärztetyps, findet gewissermaßen ein alter Vorbehalt, die ärztliche Hilflosigkeit, mit einem neuen Schreckbild, dem Karrierismus und Standesdünkel, zu einer ausnehmend widrigen Symbiose zusammen. Das, wie gesagt, hängt mit der besonderen Krankheit zusammen, mit der die beiden Spezialisten hier konfrontiert sind und gegen die sie ebensowenig tun können wie von Rothenbuch gegen die freilich sehr seltene Meningitis. Nicht zufällig gibt die Krebskrankheit immer wieder und bis heute die Folie dafür ab, die Kritik an der Überheblichkeit der Ärzte mit Vorbehalten gegenüber dem zu verbinden, was diese tatsächlich gegen das Leid und die Hinfälligkeit der Menschen vermögen und was sich ja gerade hier, bei der Krebstherapie, nach wie vor oder doch noch oft genug in vergleichs361 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Kommentar von Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski, Frankfurt a. M.: Fischer, 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.2), S. 462. 362 Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 683 f. 363 Bd. 8, S. 948. 364 So anspruchslos, wie sie Thomas Mann bzw. Anna von Tümmler hinstellt, scheinen übrigens die Krankheitsbilder weder der Gelbsucht noch der Halsentzündung zu sein; freundlicher Hinweis von Thomas Rütten, Newcastle upon Tyne, vom 8. Januar 2009.
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weise engen Grenzen hält. Insofern steht Die Betrogene am Anfang einer literaturgeschichtlichen Entwicklung, die endlich zu der »Erzählung« führt, in der Christa Wolf wortwörtlich daraus zitiert, Leibhaftig, oder weiter zu Marlene Streeruwitz, Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin. Die Lineaturen dieser Entwicklung laufen selbstredend, da das so bearbeitete Phänomen weder national noch auch kulturell spezifisch ist, weit über die deutsche Literatur hinaus. Sie führen zum Beispiel über Simone de Beauvoirs Mort très douce, Alexander Solschenizyns Krebsstation, 365 Anne Cuneos Cuillerée de bleu. In solchen Bearbeitungen ist die dürftig bemäntelte Ohnmacht der akademisch ausgewiesenen Kapazitäten durchsichtig auf die Fadenscheinigkeit der gesellschaftlichen Institutionen überhaupt, bei Autorinnen wie de Beauvoir, Cuneo, Wolf und Streeruwitz insbesondere auch auf ihre patriarchale Verfaßtheit. Wenn so die Analyse der Krankenhausmedizin und der bei ihr spielenden Machtverhältnisse regelmäßig in eine umfassendere Systemkritik überführt wird, dann hat das sicherlich auch mit der eigenartigen Beziehung zu tun, in der das Krankenhaus zur modernen Staatsmacht und deren Biopolitik steht. Die Institution des Krankenhauses, wie sie sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts herausbildete, des Jahrhunderts des modernen Nationalstaats schlechthin, erfüllt frappant viele der Kriterien, anhand derer Erving Goffman Ende der Fünfzigerjahre »total institutions« zu bestimmen begann. Insbesondere weist das Krankenhaus deren »central feature« auf. Auch im Krankenhaus ist das »basic arrangement in modern society« suspendiert: »the individual tends to sleep, play, and work in different places, with different co-participants, under different authorities, and without any rational plan.« »The central feature of total institutions« dagegen »can be described as a breakdown of the barriers ordinarily separating these three spheres of life.« 366 Dennoch kommen Krankenhäuser in Goffmans Analyse nur ganz am Rand vor. Das ist vermutlich kein Zufall. Denn obwohl auch beim Krankenhaus die Grenze zwischen Inner- und Außerhalb deutlich gezogen wird und ihre Überquerung an bestimmte Rituale gebunden ist, scheint diese Grenze im kollektiven Bewußtsein wesentlich durchlässiger zu sein als etwa die eines Klosters, eines Gefängnisses, einer psychiatrischen Anstalt. Jede und jeder rechnet damit, sie einmal als Patient überqueren zu 365 Vgl. George Saunders, Rebels and Bureaucrats. Soviet Conflicts as Seen in Solzhenizin’s Cancer Ward, New York: Merit, 1969. 366 Erving Goffman, The Characteristics of Total Institutions, in: ders., Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates, New York: Anchor, 1990, S. 1– 124, hier S. 5 f.
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müssen. Und sie einmal als solcher überschritten zu haben, bringt deswegen in der Regel (mit allerdings signifikanten Ausnahmen) keinen ›proaktiven‹ Statusverlust, keine ›Stigmatisierung‹ mit sich. 367 Gerade diese Durchlässigkeit zwischen dem gesellschaftlich Normalen und der besonderen Institution ist es aber, die diese so geeignet dafür erscheinen läßt, allgemeinere Macht- und Ohnmachtverhältnisse zu verhandeln und in einer gewissermaßen notwendigen Synekdoche die ›totalen‹ Züge auch des ganzen gesellschaftlichen Apparats zu entlarven, dessen Teil das Krankenhaus ist. Die also sehr naheliegende und in der Literatur denn auch regelmäßig und ostentativ hergestellte Beziehung der Krankenhausmedizin zum politischen System, das sie jeweils alimentiert, scheint in der Betrogenen freilich noch gar nicht wahrgenommen zu sein. Doch dieser Anschein trügt. Wie im einzelnen noch zu zeigen, vor allem bei der Interpretation der mythologischen Reminiszenzen, hat Thomas Manns Erzählung von der Krebskrankheit durchaus ihre politischen Spitzen, erstaunlich scharfe sogar. Sie richten sich, um es rundheraus vorwegzunehmen, gegen das System der Republik. Und diese reaktionäre Tendenz des Texts, zumindest in dessen historisch-kritischem Aufriß, erfaßt auch die Darstellung der Medizin und die Kontraposition ihrer verschiedenen Repräsentanten. Muthesius und Knepperges (wie im Doktor Faustus übrigens auch von Rothenbuch) gehören einer republikanischen Institution an. Oberloskamp dagegen, der humanistisch gebildete Hausarzt alter Schule, ist nicht nur eben als solcher eine nostalgische Gestalt. Er ist oder war jedenfalls einmal Träger auch einer politischen Nostalgie. Diese verriet in jener früheren Version der Reinschrift schon sein Titel, der, anders als bei »Geheimrat Rummschüttel«, anachronistisch war: »Hofrat Oberloskamp«. Über den Anachronismus aber seines monarchistischen Titels hätte sich die in ihrer Sorglosigkeit so fürchterlich »Betrogene« zu einem »Zeitpunkt« mokieren sollen, da medizinisch vielleicht noch »Besserung […] zu bewirken« gewesen wäre; ausgerechnet in dem Moment nämlich, in dem sie sich weigerte, den »alten« und »gute[n] Doktor« zu konsultieren, und das hätte wenigstens heißen können: ihrem makabren Schicksal zu entgehen: »Was der gute Doktor weiß«, sagte sie, »wissen wir auch. Schließlich bin ich denn doch auch die Jüngste nicht, und da stellen denn solche kleinen Plagen sich ein, mit denen ich schon ohne den alten Hofrat fertig werden will. So nennt er sich ja immer noch, was ich lächerlich finde, da wir ja längst eine Republik sind.« 368
367 Vgl. Goffman, The Characteristics of Total Institutions, S. 72 f. 368 Tagebücher 1953–1955, S. 797 [Dokument 3].
2 Zum ›gendering‹ der Krankheit Die Betrogene im literaturgeschichtlichen Zusammenhang Die Besonderheit, daß in der Betrogenen ausnahmsweise eine Frau die Hauptrolle spielt, scheint also auf einen ersten Blick, so kann man summarisch sagen, in der Tat aus dem »emanzipatorischen Potential[]« zu resultieren, das Kublitz »dieser Novelle« attestierte; 1 aus einer »Subversion« und »Inversion« der Geschlechterrollen, wie sie Schößler kürzlich eben erst wieder an ihr diagnostiziert hat; 2 aus einer radikalen Kritik am Patriarchat und seinen Institutionen, zum Beispiel den militärischen und ganz besonders den akademischen, die möglicherweise auch Christa Wolfs Interesse an gerade dieser einen »Erzählung« erklärt. Auf den ersten Blick scheint Thomas Manns letzte Novelle, im Vergleich zumindest mit seiner ersten, eine fast spektakulär neue Antwort auf die Frage nach der »Berechtigung der Frauenemanzipation« zu geben. Solch eine versöhnliche Lektüre jedoch hält bei einem zweiten Blick der Probe aufs Exempel nicht stand, genauer gesagt den drei Proben, die sich aus den vier Besonderheiten des Texts ganz von selbst ergeben: aus der Frage nämlich, ob insgeheim nicht und gegebenenfalls wie die eine, personelle Besonderheit der Erzählung mit den anderen drei Eigenarten kommuniziert: der thematischen; der räumlichen; der zeitlichen. Daß, thematisch gesehen, in der Betrogenen ausgerechnet eine Frau an Krebs erkranken und sterben muß, und zwar an einem Krebs der weiblichen Geschlechtsorgane – jetzt primär des Ovars, ursprünglich allein der viel symbol-›trächtigeren‹ Gebärmutter 3 –, läßt sich zunächst quellenkritisch und literaturgeschichtlich beschreiben. Quellenkritisch war eine Krank1 2 3
Kublitz, Thomas Manns Die Betrogene, S. 160. Schößler, »Die Frau von funfzig Jahren«, S. 300. Vgl. Thomas Rütten, Zu Thomas Manns medizinischem Bildungsgang im Spiegel seines Spätwerks, in: Thomas Sprecher (Hg.), Vom Zauberberg zum Doktor Faustus. Krankheit und Literatur. Die Davoser Literaturtage 1998, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2000 (ThomasMann-Studien, Bd. 23), S. 237–268, hier S. 249–253.
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heit wie die, an der Rosalie von Tümmler schließlich stirbt oder, genau gesagt, ursprünglich sterben sollte, in der »Anekdote« schon vorgegeben, die Thomas Mann zur Betrogenen angeregt hat. Es handelt sich dabei um eine Geschichte ›von Frau zu Frau‹, die seine Schwiegermutter, Hedwig Pringsheim, seiner Gattin spätestens Anfang 1940 mitgeteilt haben wird, die ihm diese aber offenbar erst 1952 weiter- oder wiedererzählte. So antwortete Hedwig Pringsheim am 19. Februar 1940 auf einen Brief, in dem sich Katia Mann auf eine frühere Mitteilung zurückbezogen haben mußte: Nein Liebste, Frau v. Schauß war keineswegs die Frau mit dem wieder erwachten Weibtum, das sich als Krebs erwies. Damit trittst du der guten soliden Frau denn doch zu nahe. Es war eine sehr stattliche Dame, auch mit einem »au« in der Mitte, auf deren Namen ich soeben, trotz angestrengten Nachdenken [sic!] nicht komme. Österreicherin aus guter Familie, die mich einige Zeit häufig frequentierte und mir sogar ihre intimen Verhältnisse anvertraute, vor der aber Gevatter Tod denn bald seine Reverenz machte. Friede ihrer Asche! 4
Daß Thomas Mann an dieser Geschichte die Spezifikation der Krankheit besonders interessierte, zeigt der entsprechende Tagebucheintrag ganz unmißverständlich. Die besondere, später modifizierte Krankheit ist hier eigens unterstrichen: […] Erinnerung K.’s an eine ältere Münchener Aristokratin, die sich leidenschaftlich in den jungen Hauslehrer ihres Sohnes verliebt. Wunderbarer Weise tritt, nach ihrem entzückten Glauben kraft der Liebe, noch einmal Menstruation ein. Ihr Weibtum ist ihr zurückgegeben – es war im Grunde noch nicht tot, denn wie hätte sonst auch dies junge, mächtige Gefühl sie ergreifen können? Zu diesem faßt sie unter dem Eindruck der physiologischen Segnung, Verjüngung, Auferstehung, frohen und kühnen Mut. Alle Melancholie, Scham, Zagheit fällt davon ab. Sie wagt zu lieben und zu locken. Liebesfrühling, nachdem schon der Herbst eingefallen. Dann stellt sich heraus, daß die Blutung das Erzeugnis von Gebärmutter-Krebs war – auch eine Vergünstigung, da die Erkrankung gewöhnlich nichts von sich merken läßt. Furchtbare Vexation! War aber die Krankheit der Reiz zur Leidenschaft u. täuschte sie Auferstehung vor? (In welchem Stadium des Krebses tritt solche Blutung ein? Ist der Fall noch operierbar? Tod oder Selbstmord aus tiefster Beleidigung durch die Natur oder Verzicht und Grabesfriede.) 5
4 5
Hedwig Pringsheim, Brief vom 19. Februar 1940 an Katia Mann; Hervorhebung des Originals (freundliche Mitteilung von Inge Jens, Tübingen, vom 8. August 2002). Tagebucheintrag vom 6. April 1952; Tagebücher 1951–1952, S. 198 f.; Hervorhebung des Originals.
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Zum ›gendering‹ der Krankheit
2.1 Theodor Storm: Ein Bekenntnis Literargeschichtlich lag eine »Frauenkrankheit[]«, 6 wie sie die »Betrogene« befällt, im Korpus der deutschen Erzählliteratur schon bereit. Schon in Theodor Storms Novelle Ein Bekenntnis erkrankt eine Frau an Unterleibskrebs, ohne allerdings wirklich daran oder sonst eines natürlichen Todes zu sterben. Ihr Tod erfolgt durch eine Morphiumgabe, um die sie ihren Mann selber gebeten hat. Ein Bekenntnis erschien erstmals 1887 in Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften, und zwar an denkbar exponierter Stelle, als erster Beitrag eines Halbjahresbands. Für die rezeptionsästhetische Wirkung der Erzählung und die rezeptionsgeschichtliche Taxierung ihres Autors ist der Publikationsort gerade auch in Hinblick auf ›sex‹ und ›gender‹ von einiger Bedeutsamkeit. Hierin der berühmten Gartenlaube vergleichbar, 7 zu deren Beiträgern Storm ebenfalls zählte, waren Westermanns Monatshefte, wie schon der Untertitel anzeigt, an ein Publikum adressiert, welches Frauen mit einschloß: »Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart«. So wird im selben Band, in dem das Bekenntnis erschien, auch eine »illustrierte Prachtausgabe der Novelle Immensee« als ein »namentlich der Frauenwelt willkommenes Festgeschenk« beworben.8 Eine geschlechtsspezifische Adressierung von Storms Erzählwerk bleibt dann auch bei der nächsten Publikation des Bekenntnisses a limine gewahrt. Die gegenüber der Erstpublikation überarbeitete Buchausgabe von 1888 trägt die Widmung: »Meiner lieben Tochter Lucie«. 9 In Ein Bekenntnis, in einer für Storm und die Epoche charakteristischen Verschachtelung, gibt ein ganz blaß bleibender Ich-Erzähler namens »Hans« (ziemlich genau gleich alt wie Storm und wie dieser Jurist) die Lebensgeschichte eines ihm seit eh und je befreundeten Landsmanns wieder, des Arztes Franz Jebe (der, wie gleich noch zu zeigen, seinerseits mit dem realen Autor einiges gemeinsam hat: daher vielleicht die Assonanz der Vornamen »Hans« und »Franz«). Die fiktive Erzählzeit der Rahmenerzäh6
7 8 9
Theodor Storm, Ein Bekenntnis, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 3: Novellen. 1881–1888, hg. v. Karl Ernst Laage, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1988 (Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 30), S. 580–633, hier S. 581, 591. Vgl. Kirsten Belgum, Popularizing the Nation: Audience, Representation, and Production of Identity in Die Gartenlaube, 1853–1900, Lincoln (Nebraska) und London: University of Nebraska Press, 1998 (Modern German Literature), S. 15, 119–124. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 32.63, 1888, S. 405. Theodor Storm, Ein Bekenntniß. Novelle (1887), Berlin: Paetel, 1888 [o. P.].
Ein Bekenntnis
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lung fällt mit der realen Entstehungsgeschichte in die Achtzigerjahre, also in die »Gegenwart« deutscher Kolonialaspirationen auf Ostafrika, wie sie gerade auch in Organen wie Westermanns Monatsheften oder der notorischen Gartenlaube genährt und propagiert wurden. 10 Der entscheidende Teil der erzählten Lebensgeschichte, auf den sich auch der Titel bezieht, »Ein Bekenntnis«, steht in direkten Reden Jebes. Diese gibt der erste, halb anonyme ›Ich-Erzähler‹, wie der Erzähler des Schimmelreiters ausgestattet mit einem eckermannhaft magnetischen Gedächtnis, treulich wieder, obwohl schon dreißig Jahre vergangen sind, seit er sie sich anhörte. Sie datieren von einem Sommertag des Jahrs 1856, als sich der eine und der andere ›Ich-Erzähler‹ nach fünfzehn Jahren rein zufällig in einem ›heterotopischen‹ 11 Raum, einem Badeort, Reichenhall, wiederbegegneten. In der Folge des hier abgelegten ›Bekenntnisses‹ brach Jebe tags drauf nach »Ostafrika« auf – ein deutscher Kolonisator drei Jahrzehnte avant la lettre –, »wo mehr die Unwissenheit als Krankheit und Seuche den Tod der Menschen herbeiführt«.12 »Dort« wollte er »in Demut […] dem Leben dienen«. 13 Und von dort erhält der Rahmenerzähler endlich auch die Nachricht eines Missionars, daß sein Freund gestorben sei oder eigentlich eine sublimere Form von Suizid begangen habe. Denn er starb »in Folge einer schweren Seuche, von der er« selber ausdrücklich »nicht befallen worden, deren treue Bekämpfung« aber »den […] Rest seiner […] Kräfte aufgerieben« habe. 14
2.1.1 Storms Erzählung im zeit- und rechtsgeschichtlichen Kontext Es ist kein oder dann ein sehr sinnreicher Zufall, wenn Ein Bekenntnis in dem Jahr erschien, in dem sich der Deutsche Kolonialverein und die Gesellschaft für deutsche Kolonisation zur Deutschen Kolonialgesellschaft zusammenschlossen; oder zwei Jahre nach der Berliner Kongo-Konferenz, die als Stichdatum gelten kann für den Einstieg des Deutschen Reichs in den europäischen Kolonialimperialismus. Daß die deutsche Außenpolitik noch unter Bismarck endlich doch auf diese Linie einschwenkte und ihre frühere Zurückhaltung aufgab, wird historisch als – allenfalls mäßig erfolgreicher – 10 11 12 13 14
Vgl. Belgum, Popularizing the Nation, S. 150–169; S. 226, Anm. 24; S. 227, Anm. 35. Vgl. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hgg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam, 51993, S. 34– 46. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 631. Ebd. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 632.
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Zum ›gendering‹ der Krankheit
Versuch gewertet, die sogenannte Gründerkrise der Siebzigerjahre zu überwinden, die im Zuge des Börsenkrachs, der Agrar- und einer Weltwirtschaftskrise das junge Reich heimsuchte. 15 Ein solches Muster beschreibt im Grunde, auf persönlich-individueller Ebene, auch Franz Jebes Verhalten. Mit einem Panthersprung gleichsam nach Ostafrika entzieht sich Jebe einer in der Heimat ausweglosen Situation. Und erst recht bezeichnend für die Analogie zwischen seiner Biographie und dem geopolitischen Kontext, in dem sie entstand, ist natürlich die Art, wie er seine selbsttherapeutische Flucht vor sich und andern legitimiert oder bemäntelt. Diese rein persönlich motivierte Flucht nobilitiert er ja untergründig und sozusagen nebenher zu einem philanthropischaltruistischen Akt. Er wandert nach »Ostafrika« aus, »wo« – also doch nicht geradezu weil dort – »mehr die Unwissenheit als Krankheit und Seuche den Tod der Menschen herbeiführt«: eine für den hier spielenden Projektionsmechanismus, für den Export geradezu der eigenen Probleme überaus verräterische Behauptung eines, der zu Hause selber aus »Unwissenheit« den Tod eines Menschen herbeiführte, nämlich in der irrigen oder wissenschaftlich überholten Meinung, daß dessen »Krankheit« unheilbar sei. Die »Unwissenheit« wird hier aber eben einem abstrakten »Ostafrika« überschrieben. Dort will Jebe ja auch nur »dem« ebenso abstrakten »Leben« dienen. Individualisierbare »Menschen« kommen gerade mal als Genetivattribut des »Tod[s]« vor. Die pauschal konstatierte »Unwissenheit« dieser Menschen paßt übrigens entsetzlich, wenn wohl auch ungewollt genau zu den eigens fixierten Umständen von Jebes Tod. Trotz seines ständigen Kontakts mit Infizierten erliegt Jebe ja nicht der »Seuche«, die er so selbstlos bekämpft; sondern er stirbt an der Erschöpfung, die sein selbstloser Einsatz für ›das‹ Leben nach sich zieht. Dessen ist sich der Missionar sicher, der diese Todesursache rapportiert und über dessen differentialdiagnostische Fähigkeiten man sich schon etwas wundern darf. Denn derselbe Missionar vermag die »Seuche« ja offenbar noch nicht einmal beim Namen zu nennen, von der er andererseits so genau weiß, daß Jebe an ihr nicht gestorben ist. Solche Absonderlichkeiten ergeben jedoch einen Sinn, sobald man sie neben ein hygienisches Normalszenarium kolonialer ›first contacts‹ hält. Dieses wird hier eben möglicherweise dadurch schmeichelhaft entstellt, daß sowohl Jebe als auch der Missionar nur ganz allgemein von »Seuche« 15
Vgl. Francesca Schinzinger, Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart: Steiner, 1984, S. 24 f., 110– 113, 162–166.
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sprechen und mit dem Namen notwendig auch die Herkunft der Seuche verschweigen. Wenn Jebe aber bei all seiner Lebensmüdigkeit und im Unterschied zu den »Menschen«, die er bis in seinen Erschöpfungstod behandelt, resistent bleibt gegen eine sonst so letale Seuche, dann legt das immerhin die Möglichkeit nahe, diese Seuche den Infekten zuzurechnen, welche die Kolonisatoren in die Kolonien erst einschleppten und denen die Kolonisierten ohne Resistenzen und notgedrungen ›unwissend‹ ausgeliefert waren. 16 Ein Bekenntnis steht also in einem angesichts von Publikationszeit und Publikationsorgan desto offensichtlicheren Kommunikationszusammenhang zur deutschen Kolonisierung Ostafrikas, zu ihrer moralischen Legitimation als – hier medizinische – Entwicklungshilfe und zur Verschleierung ihrer – hier hygienisch – schlimmen Folgen. Das alles aber spielt im Wortsinn nur am Rand, erst gegen das Ende der Novelle hin eine auch dort nur untergeordnete Rolle. In erster Linie, der juristischen Doppeldeutigkeit, wenn nicht sogar einer juridischen Etymologie des Gattungsbegriffs frappant entsprechend, verhandelt die Novelle eine Rechtsfrage, wie sie sich seinerzeit ›neu‹ stellte (und sich nach wie vor stellt). Ein Bekenntnis handelt von der Problematik der Sterbehilfe (wie zuletzt auch wieder Jens Petersens Bis dass der Tod). Franz Jebe, Arzt und liebender Gatte, verhalf seiner eigenen Frau, Else oder Elsi mit Vornamen, zum Tod. Er selber war von der Unheilbarkeit der Krebskrankheit überzeugt, die er an ihr diagnostiziert hatte. Und sie bat ihn wiederholt um diesen letzten, ›finalen‹ Liebesdienst. Denn sie fürchtete sich panisch vor den Schmerzen, die eben erst eingesetzt hatten, um deren ganze Stärke sie aber von einer anderen Patientin und aus eigenem Miterleben genau Bescheid wußte. Zwei Jahre zuvor, 1885, und zwar ebenfalls in Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften, hatte Paul Heyse dasselbe oder ein doch sehr ähnliches Problem zum Gegenstand einer Erzählung gemacht. In seiner Novelle Auf Tod und Leben erlöst ein schlachterprobter Offizier seine herzkranke Gattin auf deren Bitte hin mit einer Überdosis Morphium von ihrem Leiden. Die Ähnlichkeit der beiden Novellen ist offenkundig. Sie darf aber deren wichtige Differenzen nicht übersehen lassen: Es geht bei Heyse um einen ganz anderen Krankheitstyp; der ›Täter‹ ist bei Heyse ein Militär und kein Arzt; und vor allem nimmt die Geschichte bei Heyse in 16
Vgl. Juhani Koponen, Development for Exploitation. German Colonial Policies in Mainland Tanzania. 1884–1914, Helsinki: Finnish Historical Society, und Hamburg: Lit, 21995 (Studia historica, Bd. 49; Studien zur Afrikanischen Geschichte, Bd. 10), S. 590–599; Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884–1945, Paderborn et al.: Schöningh, 1997.
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einer neuen Liebesbeziehung des Witwers ein gutes Ende. Eine solche deutet sich bei Storm nur eben noch der Möglichkeit nach an, in Gestalt der Tochter einer anderen, späteren, vom Gebärmutterkrebs geheilten Patientin. Diese Möglichkeit aber verwirft der Protagonist dann selber zugunsten seines Assistenten, der die Tochter der von Jebe Geretteten an dessen Stelle heiraten darf. Heyse verdächtigte Storm wenn nicht gerade des Plagiats, so doch einer sehr engen Abhängigkeit von seiner eigenen Novelle. Storm jedoch wollte diese erst kennengelernt haben, als er die seine bereits konzipiert hatte. Dennoch verbot er dem Westermann-Verlag, in einer vorgeschalteten Notiz seine Behauptung schwarz auf weiß abzudrucken und auf die angeblich gegenseitig unabhängige Spontangenese der beiden Novellen eigens hinzuweisen, 17 deren Gemeinsamkeiten einer auf die Monatshefte abonnierten Leserschaft natürlich auffallen mußten. Wie die ›Einflüsse‹ zu den Spontaninspirationen sich tatsächlich verhielten, ist hier letztlich ganz irrelevant. Festzuhalten bleibt nur, daß sich Storm, als er auf der Spontaneität seiner eigenen Novellenkonzeption insistierte, eben allein auf die Konzeption berief. Nirgends bestritt er, daß er Heyses Novelle schon kannte, als er daran ging, aufgrund dieses vorgeblich oder tatsächlich schon zuvor erstellten Konzepts seine eigene Erzählung auszuformulieren. Wichtiger wäre es zu fragen, warum ein und dasselbe Problem innerhalb so kurzer Zeit gleich zweimal in der Novellenliteratur auftauchen konnte, wie sie ja schon etymologisch eine Affinität zu allem ›Neuen‹, wenn eben nicht gar zum juristisch ›neu‹ zu Regelnden aufweist; unabhängig davon, ob sich dieses Problem für Storm sua sponte stellte oder aber seine Gestaltung durch Heyse ihn so sehr zu faszinieren vermochte, daß er es ›nur‹ wiederaufzunehmen brauchte. Den Weg zu einer überzeugenden Antwort auf diese Frage hat Rudolf Käser gewiesen, indem er Storms Novelle kulturwissenschaftlich und rechtsgeschichtlich kontextualisierte: 18 Sterbehilfe war in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu einem sehr kontroversen Thema geworden. Und zwar stellte sie sich auch damals schon nicht einfach nur als deontologisches Problem, sondern als eine konkrete Rechtsfrage, mit der Storm als Jurist vertraut gewesen sein wird. Vor der deutschen Einigung war sie strafrechtlich sehr verschieden geregelt. Und das Intervall zwischen den partikularen Regelungen und ihrer reichsdeutschen Vereinheitlichung konvergiert erstaunlich 17 18
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1029, 1032 f. [Kommentar]. Vgl. Rudolf Käser, Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur, München: Fink, 1998, S. 150–178.
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genau mit den beiden Zeitebenen, auf denen Storms Novelle der Rahmenerzählung und der Binnenhandlung nach angesiedelt ist: Der terminus post quem der Rahmenerzählung, der Brief jenes Missionars aus dem »Herbste 1884«, 19 »fast dreißig Jahre« 20 nach der Wiederbegegnung »Ende des Juni 1856«, 21 liegt schon sehr nahe am Datum der Erstpublikation; und die bei dieser Gelegenheit ›bekannte‹ Tat sollte sich »im Herbste« desselben Jahrs 1856 »zum dritten Male« jähren, 22 müßte also 1853 verübt worden sein. Im Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, das für die Zeit und den supplierbaren Ort der ›Tat‹ galt – in den frühen Fünfzigerjahren und, wenn man die autobiographischen Einschlüsse so weit extrapolieren darf, auf preußischem Regierungsgebiet –, wird unter »Verbrechen und Vergehen wider das Leben« zwischen »Mord« und Sterbehilfe nicht differenziert: Der Mord »wird mit dem Tode bestraft. Neben der Todesstrafe ist zugleich auf Verlust der bürgerlichen Ehre zu erkennen, wenn der Mord an einem leiblichen Verwandten der aufsteigenden Linie oder«, wie in den beiden Novellen, »an dem Ehegatten begangen wird.«23 Unter den Bedingungen also, unter denen Jebe seiner Frau die Überdosis Morphium gibt, wäre diese Tat als eine ganz besonders verwerfliche geahndet worden. Es wäre »Mord« am »Ehegatten« gewesen. Jebe selber apostrophiert sich dem genau entsprechend: »Mörder!« 24 Er sei, fügt er nun doch auch wieder und etwas befremdlicherweise hinzu, »ein zu guter Protestant«, um nicht zu wissen, daß »weder Richter noch Priester« ihn »erlösen« »können«.25 Befremdlich ist diese Aussage zunächst deshalb, weil von Jebes christlicher Religiosität weder zuvor die Rede war noch auch künftig je sein wird. Im Gegenteil, seine Freundschaft mit dem Rahmenerzähler und insofern auch die Erzählbarkeit seiner Lebensgeschichte beruht auf einer Faszination mit dem Okkulten und Parapsychologischen, wie sie im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts, geradezu exemplarisch auch bei Storm selbst, aus einer nun nicht mehr überwindlichen Skepsis gegenüber der traditionell-religiösen Metaphysik gespeist 19 20 21 22 23
24 25
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 632. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 631. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 580. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 616. Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Nebst den dasselbe ergänzenden und abändernden, bis einschließlich 1856 erlassenen Gesetzen, Berlin: Martens, 1857. Vgl. T. Hahn (Hg.), Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Mit Weglassung der aufgehobenen und Einschaltung der neueren Bestimmungen und allen auf das Strafgesetzbuch bezüglichen Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals, Breslau: Kern, 41860, S. 91– 92 [Kommentar]. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 619. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 620.
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wurde (und für die ja auch Thomas Mann nicht unempfänglich war 26). Und der Missionar, der Jebes Tod am Schluß in die Heimat kommuniziert, attestiert ihm bei dieser Gelegenheit eigens, daß er, also noch auf dem Sterbebett, »den rechten Weg des Heils verschmähte«. 27 Bei der Berufung auf sein »zu gute[s]« Protestantentum kann Jebe folglich nicht die eigentliche Konfession im Sinn haben. Vielmehr wird er damit einen bestimmten, besonders rigiden Schuldbegriff meinen, die eben genuin protestantische Vorstellung, daß keine institutionelle Autorität von Schuld zu ›absolvieren‹ das Recht hat. Dadurch scheint er aber immerhin zu implizieren, daß sich nicht nur ein katholischer 28 »Priester«, sondern auch ein »Richter« dieses Recht grundsätzlich nehmen beziehungsweise anmaßen könnte. Und diese Implikation hat ihrerseits etwas Befremdliches. Befremdlich ist sie solange jedenfalls, als man sich an das zur Zeit der Tat geltende Gesetz hält. Auf dessen Grundlage hätte ja kein »Richter« eine andere Wahl gehabt, als Jebe nicht nur schuldig zu sprechen, sondern auch zum »Tode« zu verurteilen. Je nachdem aber, wann genau sie verhandelt worden und welches Recht zur Anwendung gekommen wäre, hätte Jebes Tat auch bloß als Tötung oder Totschlag passieren können. Unter den Verhältnissen immerhin, die zur fiktiven Erzählzeit der Rahmenerzählung herrschten, wäre über Jebes Tat wohl ein ganz anderes Urteil gefällt worden. Ein »Richter« hätte damals, in den Achtzigerjahren, seine Selbstverurteilung als »Mörder« durchaus aufheben dürfen. Im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich steht unter »Verbrechen und Vergehen wider das Leben«, Paragraph 216 – der Paragraph gelangte Anfang der 1870er Jahre, dem revidierten Sächsischen Strafgesetzbuch von 1868 »wörtlich nachgebildet[]«,29 hierher –: »Ist Jemand durch das aus26
27 28 29
Vgl. z. B. Bd. 10, S. 135–171. Die Geschichte dieser Aufzeichnungen spiritistischer Sitzungen, die einer textkritisch akkuraten Aufarbeitung noch harrt, ist symptomatisch für Thomas Manns Irritationen, welche Albert von Schrenck-Notzings Experimente in ihm auslösten (bei denen es sich erwiesenermaßen um Inszenierung und Betrug handelte). Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund vgl. Marc Oliver Huber, Zwischen Schlußstrich und »Schönem Gespräch«. Erinnerung bei Thomas Mann, Berlin: Weidler, 2007 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 166), S. 209–215; zu Manns Verhältnis zu Schrenck-Notzing im allgemeinen Antje Rausch, »Okkultes« in Thomas Manns Roman Der Zauberberg, Frankfurt a. M. et al.: Lang, 2000 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1760), S. 76–85. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 632. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, Sp. 2115–2117, s. v. ›Priester‹. Justus Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin: Vahlen, 41892, S. 846. Zur Datierung vgl. M. Stenglein (Hg.), Strafgesetzbuch für das deutsche Reich. Mit Kommentar von Hans Rüdorff, mit bes. Berücksichtigung der Praxis des Reichgerichts, Berlin: Guttentag, 41892, S. 474 (»1888« möglicherweise ein Druckfehler für ›1868‹).
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drückliche und ernstliche Verlangen des Getödteten zur Tödtung bestimmt worden, so ist auf Gefängnis nicht unter drei Jahren zu erkennen.« 30 Auch die zeitgenössische Kommentarliteratur zum Paragraphen 216 zeigt, wie genau dieser auf Jebes Tat paßt. Jebes Tat könnte geradezu als ein Fall- oder Übungsbeispiel für diesen Paragraphen dienen: »Das Verlangen muß nicht nur ein ernstliches sein […]. Die Initiative muß vom Verlangenden, nicht vom Tödtenden ausgegangen sein. […] Das Verlangen muß das die That bestimmende Motiv des Thäters gewesen sein.« 31 Die zeitgenössischen Kontroversen um die Sterbehilfe, die in der Änderung des Rechts sich niederschlagen, in der stark und schnell variierten Ahndung einer entsprechenden Tat (von Todesstrafe bis zu dreijähriger Gefängnishaft), drehten sich, wie Käser im einzelnen dargelegt hat, im wesentlichen um drei Fragen und Sonderfälle: Der oder die unheilbar Kranke, wie dann ja auch im Strafrecht festgehalten, gibt seine oder ihre Einwilligung zur vorzeitigen Endung seines oder ihres Lebens. Die Sterbehilfe leistet jemand, der dem oder der Kranken besonders nahe steht. Oder aber, und das betrifft unmittelbar die erstarkte Autorität der Mediziner, die Sterbehilfe wird von einem Arzt praktiziert, der sich als solcher zuvor von der Aussichtslosigkeit der Situation ein genaues Bild zu machen in der Lage war. 32 Bei Heyse kommen nun nur die erste und die zweite Komplikation vor, Freiwilligkeit des Opfers und dessen besondere Nähe zum Täter. Bei Storm aber werden alle drei Spezialfälle kombiniert: Die Frau gibt die Einwilligung zur Tat, ja dringt sehr »ernstlich[]« darauf. Der ›Täter‹ ist ihr allernächster, ja er scheint ihr einziger Angehöriger zu sein. Und er ist zugleich, anders als bei Heyse, ihr behandelnder Arzt. Sowohl der Jurist, in Gestalt seines halb anonymen Freunds und Zuhörers, wie auch der »Priester« in Ostafrika (von dem allerdings unklar ist, ob er Jebes Schicksal kennt) bescheinigen ihm unbedingte Rechtschaffenheit. Dennoch bleibt ihm die ›Erlösung‹ versagt. Erlösung gewährt seinem Helden nur Heyse. Er gewährt sie dem Offizier in Form eines zweiten Lebensglücks von genau der Art, wie es sich Jebe als Möglichkeit ebenfalls bietet, ohne daß ihm aber seine Schuldgefühle erlaubten, es anzunehmen.
30 31 32
Karl Binding und Joh. Nagler, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Vom 26. Februar 1876. Mit seinen Abänderungen. Ausgabe zum akademischen Gebrauche, Leipzig: Engelmann, 1905, S. 63. Stenglein (Hg.), Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, S. 474; Hervorhebung des Originals. Vgl. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 165–170.
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Trotz weiterer, ja maximaler Kumulierung mildernder Umstände zielt Storms Behandlung des Problems auf das grundsätzliche, hier ganz strikt ausgelegte Euthanasie-Verbot des Hippokratischen Eids ab oder genauer gesagt auf die entsprechende Interpretation, die sich in der Rezeptionsgeschichte des Eids durchgesetzt hat und zu der es durchaus eine Alternative gäbe. Denn der Eid gibt an der betreffenden Stelle ein Musterbeispiel für die ›Unlesbarkeit‹ 33 von Texten ab, deren nur scheinbare Verständlichkeit daran hängt, daß sie immer schon samt einer ganz bestimmten, letztlich ideologischen Interpretation überliefert werden. »ȅ įȫıȦ į Ƞį MȐȡȝĮțȠȞ ȠįİȞ ĮੁIJȘșİȢ șĮȞȐıȚȝȠȞ« 34 heißt zunächst nur so viel wie: ›Ich will kein tödliches Mittel verabreichen, wenn ich gefragt werde‹; und wen man als ›Frager‹ suppliert, den potentiellen Empfänger der tödlichen Gabe oder aber jemanden, der ihm böse will, zum Beispiel erbberechtigte Verwandte, ist eben Interpretationssache. Statt Euthanasie kann der Wortlaut dem Arzt auch nur einfach verbieten, einem Giftmord Beihilfe zu leisten. 35 Wenn die traditionelle Auslegung des Hippokratischen Eids als eines Verbots von Sterbehilfe bei Storm eine so kompromißlose Anwendung findet, dann hat das damit zu tun, daß sich hier das Problem gerade beim dritten Spezialfaktor sehr erheblich verschärft. Die Macht des Arztes ist im Handlungsarrangement der Novelle auf ihre extremen Grenzen hin problematisiert; und die Verläßlichkeit seiner Kompetenz wird letztlich in unwiderruflichen Zweifel gezogen. In Frage gestellt wird im Bekenntnis, und darauf bezieht sich der Novellentitel, die Präsupposition des dritten mildernden Umstands. Gefragt wird hier, ob, oder verneint wird vielmehr, daß ein Arzt die Unheilbarkeit eines Menschen überhaupt noch definitiv statuieren darf. Dia- beziehungsweise Prognosen von Unheilbarkeit, darauf will die besondere Versuchsanordnung der Novelle ganz offensichtlich hinaus, sind obsolet geworden angesichts der Fortschritte, die insbesondere die Chirurgie wenn noch nicht zur erzählten Zeit, so doch zur Entstehungszeit der Novelle zu machen begann.
33 34 35
Vgl. Paul de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven und London: Yale University Press, 1979, S. 77, 205. Hippocrates, Opera, hg. v. Johan Ludwig Heiberg et al., Leipzig: Teubner, 1927 (Corpus Medicorum, Bd. 1.1), S. 5. Zur Editionsgeschichte des Eids vgl. Thomas Rütten, Geschichten vom Hippokratischen Eid, CD-ROM, Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. Vgl. Thomas Rütten, Medizinische Themen in den deontologischen Schriften des Corpus Hippocraticum. Zur Präfigurierung des historischen Feldes durch die zeitgenössische Medizinethik, in: Hellmut Flashar und Jacques Jouanna (Hgg.), Médecine et morale dans l’antiquité. Dix exposés suivis de discussions, Vandœuvres-Genève 19–23 août 1996, Genève: Fondation Hardt, 1997, S. 65–120.
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Wegen seiner persönlichen Betroffenheit unterließ es der Gatte und Arzt in einer verhängnisvollen Konfusion dieser beiden Rollen, sich über einen gerade damals erfolgten Durchbruch der Wissenschaft zu informieren, der seine Gattin hätte retten können. Er wird sich dann auch, nach einem weiteren Erfolg gegen eine »Seuche«, an der ›Frauenkrankheit‹ einer anderen Patientin bewähren. Somit läuft das fabula docet hier auf eine strikte Ausdifferenzierung von privater und beruflicher Sphäre hinaus. Es zielt auf die daraus resultierende ›emotionale Neutralität des Arztes‹, die Talcott Parsons als ›funktionales Erfordernis der modernen Medizin‹ bestimmte. 36 Das »Bekenntnis«, das der Novelle ihren Titel gab, besteht also darin, daß ein Krebstod der Gattin und Patientin prinzipiell vermeidbar gewesen wäre. Die Sterbehilfe war voreilig. Insofern war sie ›Mord‹. Der ›Bekenner‹ wird so den allerschwersten Schuldgefühlen ausgesetzt. Von diesen kann ihn keine religiöse und vor allem auch keine juristische Institution mehr »erlösen«. Die verworrene Rechtslage oder das verwirrte Rechtsempfinden, weil der zutreffende Paragraph eben zwischen der Verübung der Tat und deren Erzählung neu und ganz anders abgefaßt wurde, läßt es gerade wegen dieser patenten Widersprüchlichkeit als aussichtslos erscheinen, die Systeme von Justiz und Moral zum Konvergieren zu bringen. Es gibt keine verläßliche Instanz mehr, die hier das gerechte Urteil sprechen könnte und die angemessene Strafe verhängen dürfte. Was bleibt, ist bestenfalls Privat- oder Ressortmoral. Beim hier gegebenen ›Täter‹ führt dieses Ungenügen der gesellschaftlichen Institutionen zu einer ethisch desto schärferen Selbstverurteilung und Selbstbestrafung. Das Wort, das im Novellentext dafür steht, heißt »Buße«.37 Mit diesem atavistischen Terminus fällt der Text, dessen Titel schon auf das opus potissimum eines Kirchenvaters verweist, aus den aporetisch gewordenen Rechtskategorien auf eine religiöse Begrifflichkeit zurück. Jebes »furchtbare[] Einsamkeit« 38 in einer jedenfalls realiter, factualiter unmöglich deutschen Kolonie und sein selbstmörderischer Raubbau an der eigenen Lebenssubstanz stellen letztlich eine Kontaminationsform der beiden Strafen dar, Haft oder Todesurteil, welche eine Tat wie die seine je nach dem Ort und vor allem je nach dem Zeitpunkt ihrer Verübung de iure nach sich ziehen konnte. Auch diese Form der selbstgewählten Be36 37 38
Parsons, The Social System, S. 460 f. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 633. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 632.
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strafung aber stellt der Erzähler am Ende noch zur rein subjektiven Disposition: »Ob eine solche Buße nötig, ob es die rechte war, darüber mag ein Jeder nach seinem Inneren urteilen […].« 39 Dabei allerdings handelt es sich schwerlich um eine wirklich offene Frage, sondern doch wohl um eine etwas scheinheilige, ziemlich rhetorische. Das verriete im übrigen vielleicht schon die vage, aber immerhin negativ bestimmte Ursache des Todes, in dem die »Buße« ihr Ende nimmt und ihre Vollendung findet. Der Büßer soll ja jedenfalls keiner »Seuche« und Infektion erlegen sein, wie nahe es auch gelegen hätte, seinen Heldentod gerade so zu motivieren. Innerhalb des Codes also von Purity and Danger, der nach Mary Douglas institutionellen Unterscheidungen vorausliegt und in kritischen Momenten wieder an ihre Stelle treten kann, 40 bleibt Jebe damit eindeutig auf der Seite des Reinen und Guten.
2.1.2 Storms »Novella medici« und der medizinische Fortschritt Im Hinblick auf Thomas Mann und Die Betrogene, wo es allenfalls um »Lebensverlängerung« geht, aber Sterbehilfe keine Rolle spielt und die Patientin auch so noch ›une mort très douce‹, »einen milden Tod« sterben darf, 41 ist Storms Novelle zunächst institutions- oder professionsgeschichtlich von Belang. Von Belang ist sie hier für die Herausbildung des neuen Ärztetyps. Auf den ersten Blick ist die Geschichte von Franz Jebe ein frühes Zeugnis für die Aufwertung des Arztberufs. Sie bezeichnet damit die Fallhöhe der Sturzbewegung, die Thomas Manns Ärzteportraits beschreiben und deren ›rock bottom‹ endlich die maliziösen Portraits eines Professor Muthesius oder Doktor Knepperges bilden werden. Erst auf einen zweiten Blick gibt Ein Bekenntnis dezent etwas von den Ressentiments gegen den ›neuen‹ Arzt zu erkennen, die bei Thomas Mann und besonders in der Betrogenen so leicht zu greifen sind, sich hier aber eben, bei Storm, gewissermaßen erst und nur in statu nascendi befinden. Ein Bekenntnis ist so etwas wie ein erster ›Arztroman‹. Der Arzt rückt hier an die Stelle des Helden. Man kann hier förmlich dabei zusehen, wie er den ältesten und eigentlichen, nämlich den martialischen Heldentyp verdrängt. Denn bei Heyse war die Stelle des ›Täters‹ ja noch mit einem 39 40 41
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 633. Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London: Routledge & Kegan Paul, 1966, S. 142. Bd. 8, S. 950.
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Krieger und Sieger besetzt. Dieser fiel nach seiner Tat folgerichtig auch nicht in eine lebenslange Depression. Vielmehr bezwang er seine Selbstzweifel in einer neuen Liebe. Die – wenngleich nun »tragisch[e]« 42 – Heroisierung des Arztes ist bei Storm sehr deutlich an die Faktoren gebunden, welche den Medizinern seinerzeit zu einem allgemeinen Anstieg ihres Berufsprestiges verhalfen. Jebe vermag, so scheint es, den allermeisten seiner Patienten wirklich Heilung oder doch, so offenbar bei einem Schlaganfall,43 »Lebensverlängerung« zu verschaffen. Zum frühesten Beispiel für Jebes diagnostische Überlegenheit (und allerdings auch seine unkollegiale Überheblichkeit) gibt »ein eigentümlicher Fall von Diphtherie« Anlaß, 44 das heißt eine seit der Jahrhundertmitte verstärkt ins Bewußtsein getretene Infektionskrankheit, deren Erreger erst kurz vor Entstehung der Novelle identifiziert wurde und gegen die erst nach Storms Tod ein wirksames Serum gefunden werden konnte. 45 Auch im weiteren Verlauf der Erzählung bis ganz zu deren Ende wird Jebe immer wieder einmal als ein Arzt gezeigt, der mit den gerne nur vage 46 so genannten »Seuche[n]« erfolgreich fertig wird. Er steht so für den infektiologischen Fortschritt seit der ›bakteriologischen Revolution‹, wie sie Storm in seinen letzten Jahren noch miterlebte. Spezialisiert aber ist Jebe seit seiner Assistenzzeit auf »Frauenkrankheiten«. Eine »schon aufgegebene Operation« vermag er in der »Klinik für Frauenkrankheiten« »glücklich zu vollenden«.47 Diese Integration von Gynäkologie und Chirurgie kommt nicht von ungefähr. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem hohen Sozialstatus und den heroischen Konturen, die Jebe in der Novelle gewinnt. Sie erst ermöglichte nämlich die Erfolgsgeschichte der Gynäkologie im späteren neunzehnten Jahrhundert, nachdem dieses Gebiet, in der heute etablierten, die Schamgrenze der Patientinnen vollkommen aufhebenden oder mißachtenden Form, im deutschen Kulturraum Männern wie Jebe überhaupt erst seit knapp zwei-
42 43 44 45
46 47
Käser, Arzt, Tod und Text, S. 164. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 602 f. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 582. Vgl. [Emil] Behring, Die Geschichte der Diphtherie. Mit besonderer Berücksichtigung der Immunitätslehre, Leipzig: Thieme, 1893, S. III; Brockhaus’ Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig et al.: Brockhaus, 141892, S. 335–337, s. v. ›Diphtheritis‹; Stefan Winkle, Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 1997, S. 278–285. Vgl. Martina King, Von Mikroben und Menschen. Bakteriologisches Wissen und Erzählprosa um 1900, in: Scientia Poetica 12, 2008, S. 141–180, hier S. 142. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 581.
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hundert Jahren zugänglich war. 48 Denn bekanntlich erfuhr ja auch die Chirurgie um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine spektakuläre Aufwertung; teils wegen ihrer durch A- und Antisepsis höheren Erfolgsrate und andernteils wohl, weil die Fortschritte der Anästhesie die heute unvorstellbaren Ängste gelindert haben müssen, unter denen sich Patienten und Patientinnen chirurgischen Eingriffen unterzogen. Die also lange kontinuierlichen Erfolge Jebes sollen ganz offensichtlich die Grenze desto plastischer hervortreten lassen, auf die er endlich, wenn auch nur vorläufig, stößt. Ihre vorläufige Grenze findet die Macht des Gynäkologen am Leiden erst einer Proletarierin, »Mutter Hinze[s]«. 49 (Der Allerweltsnamen wird bei Thomas Mann dann sehr pikanterweise, in Gestalt »Doktor Hinzpeter[s]«, 50 vom ›receiving end‹ der Patientinnen- auf die Seite der Ärzteschaft überwechseln.) Woran genau »Mutter Hinze« leidet und stirbt, wird nicht wirklich gesagt. Der Erzählzusammenhang indessen suggeriert eine handgreiflich naheliegende Füllung der Leer- oder Unbestimmtheitsstelle. Die Nebenfigur wird mutmaßlich von derselben Krankheit befallen worden sein wie hernach die Deuteragonistin, von einer »jener Abdominalkrankheiten, die so viele Frauen […] hinraffen«. 51 An dieser Krankheit nun, bei seiner eigenen Frau, scheitert Jebes Können aufs neue. Erst nach der übereilten Sterbehilfe, nachdem er sich aus einer gynäkologischen Fachpublikation die Kenntnisse angeeignet hat, die während der Tat in der »Schublade [s]eines Schreibtisches« schon bereitgelegen hätten, 52 und wie gesagt nach einem weiteren Erfolg gegen eine »Seuche«, vermag er eine »Etatsrätin« erfolgreich am ›Abdomen‹ zu operieren: 53 Die Heilungschancen, ungewollt zynischer-, aber desto signifikantererweise, steigen also proportional zum sozialen Status der je behandelten Frau. Der Erfolg indessen, den Jebe mit der Operation der Etatsrätin erzielt, zählt nicht wirklich als Wiedergutmachung für die zuvor vorschnell geleistete Sterbehilfe. Sondern er treibt letztlich nur wieder deren Frevelhaftigkeit weiter hervor. Auch die Liebe, die die Tochter der Geretteten Jebe anträgt, natürlich nur andeutungsweise und mit stereotyp gehöriger 48
49 50 51 52 53
Vgl. Lynne Tatlock, Theodor Storm’s Ein Bekenntnis: Knowledge as »Masculine« Credo, in: Seminar 31.4, 1995, S. 300–313, hier S. 306; dies., Speculum Feminarum: Gendered Perspectives on Obstetrics and Gynecology in Early Modern Germany, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 17.4, 1992, S. 725–760, hier S. 727. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 596, 600. Bd. 8, S. 220 f.; im Original keine Hervorhebung. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 609. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 608; vgl. S. 618 f., 624. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 621–628.
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Verschämtheit, läßt zwar rezeptionsästhetisch-›erwartungshorizontal‹ die Hoffnungen auf ein ›happy ending‹ aufkommen, wie es Heyse noch veranstaltet (obwohl sein Held zu einem auch nur von fern vergleichbaren Wiedergutmachungs- oder Bewährungsversuch gar nicht erst die Gelegenheit bekommt). Aber nur darum werden solche Hoffnungen geweckt, um sich desto gründlicher an der Unversöhnlichkeit des Helden zu zerschlagen. Dessen unerbittliche Härte gegen sich selbst wirkt im ja sehr sich aufdrängenden Vergleich mit Heyses Novelle einigermaßen befremdlich. Das Gnadenlose dieser poetischen Gerechtigkeit läßt sich gerade aus dem einen Moment herleiten, in dem sich Storms moderner und ›tragischer‹ von Heyses traditionellem und glücklichem Helden unterscheidet. Es läßt sich erklären mit dem Beruf des Arztes beziehungsweise mit den Widerständen gegen den ›neuen‹ Arzt. Auf die Kehrseite des neuen Arzttyps ist Jebes Kompetenz von allem Anfang an durchsichtig. Das erste Beispiel für seine Souveränität, bei jenem »Fall von Diphtherie«, wird nicht um seiner selbst willen erwähnt, sondern, wie eben angedeutet, im Zusammenhang mit Jebes sozialer Isolation. Jebe, und hier berührt der Wortlaut seiner Lebensgeschichte vielleicht neuerlich die religiöse Terminologie oder ist er zumindest so etwas wie deren Säkularisat, galt seit je als »hochmütig«. 54 Das erfuhr sein Freund von einem Kommilitonen, einem zwar »einfachen Menschen, in dem aber ein tüchtiger Mediziner steckte«: 55 Die adversative Formulierung verrät mit wünschbarer Deutlichkeit, daß es immer schon zum ›neuen‹ Hochleistungsmediziner offenbar auch eine achtenswerte Alternative gab. Jebe selber scheint in seiner Selbstkritik die Einschätzung jenes Kommilitonen zu teilen und zu bestätigen. Denn er stellt die »Buße« seiner zweiten Lebenshälfte ja unter die Signatur der »Demut«, mit der er in »Ostafrika« »dem Leben« bis in seinen eigenen Tod dienen will. Es scheint hier aber nicht oder jedenfalls nicht nur um eine Charakterologie und ein Psychogramm des Karrieremediziners zu gehen. Vielmehr werden »Hochmut[]«, 56 Selbstüberhebung und Hybris einmal, wenn auch nur knapp und ziemlich dunkel, in eine innere Beziehung zum eigentlichen Wesen der neuen, sich naturwissenschaftlich definierenden Medizin gerückt: Als entscheidenden Faktor und eine wesentliche Grundlage für diese moderne Humanmedizin hat Michel Foucault in seiner »Archäologie des ärztlichen Blicks« bekanntlich die pathologische Anatomie seit Xavier 54 55 56
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 582. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 591.
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Bichat interpretiert, die Obduktion des Leichnams als Mittel zur Krankheitsdiagnostik und nicht bloß als Teil der physiologischen Lehre. 57 Die so ausgerichtete Leichensektion setzte sich von Paris her in den Vierzigerjahren über Wien auch im deutschen Kulturraum durch. 58 Sie etablierte sich hier, heißt das, zu einer Zeit, die sich nicht genau auf die Erzählchronologie der Novelle abtragen läßt oder aber nur um den Preis eines, wenngleich relativ geringfügigen, Anachronismus. Denn dieser Chronologie nach müßte Jebe noch in den Dreißigerjahren studiert und abgeschlossen, in den Vierzigern jedoch schon praktiziert haben. Den medizingeschichtlichen Daten also nur ungefähr entsprechend führt Jebe seine besonderen Kenntnisse ausdrücklich auf die Arbeit an Leichen zurück. Die pathologisch-anatomische Medizin scheint seinerzeit demnach am gegebenen Ort schon möglich, aber eben neu und noch nicht selbstverständlich und unumstritten gewesen zu sein. Denn aus der pessimistischen Perspektive seiner reumütig-zerknirschten Lebenserzählung scheint Jebe selber die neue Methode zu diskreditieren. Und zwar scheint es, als bezögen sich seine Vorbehalte nicht einfach nur moralisch auf die Pietät gegenüber den Verstorbenen; sondern er scheint wissenschaftsphilosophisch etwas sehr viel Fundamentaleres anzudeuten. In einer verrätselten, bis zur Unverständlichkeit verkürzten Formulierung seiner Selbstbezichtigung scheint er darauf hinauszuwollen, daß man an Toten keine Kenntnisse gewinnen könne oder dürfe, die letztlich den Lebenden zugute kommen sollen. Und gleichzeitig antizipiert er mit diesem allgemeinen Argument, wenn man es denn so zu verstehen hat, sein besonderes Schicksal. Denn dessen ›Tragik‹ bestand ja ihrerseits darin, daß er als Arzt dem Tod zuarbeitete und nicht bedingungslos der Erhaltung des Lebens diente: Auf der Universität hatte mir das [scil. »das Meinige gelernt zu haben«] bei Vielen den Ruf des Hochmuts eingetragen; jetzt erwarb ich dadurch den eines tüchtigen Arztes, der am Krankenbett nicht erst zu suchen und bei seiner Heimkehr erst in seinen Kompendien nachzulesen brauche. Was, recht besehen, ein Frevel in mir war, das brachte mich hier zu Ehren: an Leichnamen hatte ich den innern Menschen kennen gelernt, so daß mir Alles klar vor Augen lag, und wie mit solchen rechnete ich mit den Lebendigen; was war da Großes zu bedenken! 59
Die Kritik an der modernen Medizin bleibt damit ungleich vager und verhaltener als bei Thomas Mann, wo sie ja zuletzt bis zum Mikroskop und 57 58 59
Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M.: Fischer, 72005, S. 137–161. Vgl. Gerd Göckenjan, Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 251 f. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 591.
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damit gewissermaßen schon ins ›Labor‹ vordringt. Bei Storm beschränkt sie sich, wenn die Gegenüberstellung von »Krankenbett« und Sezierschragen so zeitgemäß aufzufassen ist, auf die allerdings typische und sehr wichtige Rolle der pathologischen Anatomie als Mittel zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis. So lag denn auch das Wissen, das Jebes Frau hätte retten können, als ungelesene Publikation in seinem Schreibtisch. Es stammt also aus ›der Bibliothek‹, das heißt aus einem Fundus ärztlichen Wissens, der noch älter selbst als ›das Krankenbett‹ ist und über den sich Jebe ehedem, in Gestalt der »Kompendien«, erst recht erheben zu dürfen glaubte. Andererseits, und diesen Widerspruch muß man wohl einfach stehenlassen und hinnehmen, scheinen die am Seziertisch gewonnenen Erkenntnisse und ihre Anwendung doch wünschbar zu sein. Jebe hilft in Deutschland und dann sogar weltweit die »Seuche[n]« zu bezwingen. »[S]chon aufgegebene Operation[en]« »vollende[t]« er »glücklich«. Und ebenso »glücklich« operiert er endlich selbst eine »jener Abdominalkrankheiten«. Aus der »Novella medici« 60 – so der bildungsbürgerlich-lateinische Arbeitstitel –, in der insofern die moderne Problematik nicht einfach nur ›eines‹ beliebigen, sondern auch »des Arztes« 61 schlechthin verhandelt wird, spricht grundsätzlich also durchaus ein ungebrochener Glaube an das unbedingt Erwünschte des medizinischen Fortschritts und seiner Unaufhaltsamkeit. Gerade darin, im unberechenbar gewordenen Fortschritt, besteht ja die ›Tragik‹ der praktizierten Sterbehilfe und der prinzipielle Einwand, den der Text gegen sie zu erheben nahelegt. Wissenschaftskritik und Fortschrittsglaube stehen hier somit in der einen Figur ›des‹ Arztes seltsam unvermittelt nebeneinander. Die Figur läßt dadurch nicht nur im allgemeinen etwas von den Irritationen erkennen, die die moderne Humanmedizin schon seinerzeit auslöste. Sondern die Widersprüchlichkeit der Arztfigur scheint im besonderen auch das Paradox der pathologisch-anatomischen Medizin zu reflektieren, wie es Foucault in immer wieder neue Formeln und Bilder zu fassen versuchte: »daß die Analyse der Krankheit nur vom Tod aus möglich ist«; daß »die Erkenntnis des Lebens ihren Ursprung in der Zerstörung des Lebens, in seinem äußersten Gegensatz« findet; daß »die Medizin […] ihr ältestes Anliegen verraten« muß, »um in dem Zeugnis ihrer Niederlage das Fundament ihrer Wahrheit zu finden«; daß »[d]er Tod […] der Spiegel« wird, »in dem das Wissen das Leben betrachtet«.62 60 61 62
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1028, 1030 [Kommentar]. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1028 [Kommentar]; im Original keine Hervorhebung. Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 158–160.
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2.1.3 Das modern-medizinische Menschenbild und »die dunklen Regionen des Seelenlebens« Mit der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin kann man nun aber auch noch ein weiteres Element im Merkmalssatz der Figur Franz Jebe zusammenbringen, das die Forschung zur Novelle streckenweise vollständig dominiert. Denn Ein Bekenntnis hat nicht nur einen medizingeschichtlichen und wissenschaftsethischen Zeugniswert. Die Novelle, wie bereits einmal angedeutet, ist darüber hinaus und sehr viel offensichtlicher auch ein Beleg für den rapiden Religions- und Glaubensverlust, der im neunzehnten Jahrhundert in immer weiteren Kreisen um sich griff und für den selbstverständlich auch der Agnostiker Thomas Mann ein erstklassiger Zeuge ist oder wäre, unbeschadet einer bedenklichen Tendenz der jüngsten Forschung, den ›ungläubigen Thomas‹ für das Christentum zurückzugewinnen, 63 ja ihn allen feierlichen Ernstes gleich zum »größte[n] christliche[n] Autor des 20. Jahrhunderts« zu küren. 64 Daß er trotz solchen zwar nicht neuen, aber neu in Mode gekommenen Rekommunizierungsversuchen an die orthodox christliche Lehre nicht mehr glaubte, glauben konnte, geht nicht nur, 65 aber auch und mit eigentlich wünschbarer Deutlichkeit aus seinem literarischen Œuvre hervor, nicht zuletzt oder gerade auch noch zuallerletzt aus seinem literarisch letzten Wort: »Die Betrogene«, obgleich in katholischem Gebiet zu Hause, 66 ist eben nur »naturfromm[]«; oder, in den Notizen, die das sozusagen negative Implikat dieses Kompositums sogar noch ausdeutschten: »ist 63 64
65 66
Vgl. z. B. Christoph Schwöbel, Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008. Hermann Kurzke, Der gläubige Thomas. Glaube und Sprache bei Thomas Mann, Bonn: Bernstein, 2009 (Schriften des Ortsvereins BonnKöln der Deutschen Thomas MannGesellschaft, Bd. 1), S. 5. Bei dem »Gebet«, das Kurzke zur Beglaubigung seiner Behauptung »zum Beispiel« heranzieht, handelt es sich in Wahrheit nicht um ein beliebiges »Beispiel«, sondern um eine völlig vereinzelte Stelle, deren kommunikative Motivation und rhetorische Strategie ganz unerwähnt bleiben. Im übrigen ist auch nicht klar, ob das »Gebet« – oder eigentlich nur »Stoßgebet« (Bd. 12, S. 792) – sensu stricto als solches passieren darf; ob das Nomen »Gott« hier wirklich als Vokativ mit Imperativ steht oder aber als Nominativ mit Konjunktiv der dritten Person – was angesichts der Interpunktion bzw. des Fehlens einer solchen, eines Kommas nach »Gott«, sehr viel wahrscheinlicher ist –: »Gott helfe […] und lehre […]!« (Ebd.) Vgl. z. B. Bd. 11, S. 423–425. Vgl. die eigenmächtige Füllung der Unbestimmtheitsstelle von Rosalies Konfessionszugehörigkeit bei Jochen Strobel, Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns, Dresden: Thelem, 2000 (Arbeiten zur Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1), S. 315.
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nicht fromm, sondern naturfromm.« 67 Dabei ist ihre Areligiosität oder unchristliche Frömmigkeit unter quellenkritischer Perspektive besonders signifikant und nicht wenig pikant. Denn ihr ›Vorbild‹, das heißt die Frau, deren im Nachlaß erhaltene Pressephotographie offensichtlich das Modell für das Portrait ihres Äußeren abgab, Gertrud von Le Fort, war eine streng- und tiefgläubige Christin. Zu ihrem Christentum bekannte sie sich auch vor der literarischen Öffentlichkeit und mit dem Eifer einer Konvertitin; so in ihren Hymnen an die Kirche (1924) oder in ihren Romanen Das Schweißtuch der Veronika (1928/46) und Der Papst aus dem Ghetto (1930). Ein Konzentrat und die Essenz geradezu ihrer literarischen Glaubensbekundungen hat Thomas Mann im übrigen sehr wahrscheinlich zur Kenntnis genommen. Denn »Gertrud von le Fort/Kath.« 68 publizierte entsprechende Auszüge ihrer Werke in einem thematisch einschlägigen Sammelband, Dichterglaube. Stimmen des religiösen Erlebens (1931), 69 für den er selber einen Beitrag verfaßt hatte, sein Fragment über das Religiöse.70 (Dieses Fragment allein schon würde hinreichen, um die These vom »größte[n] christliche[n] Autor des 20. Jahrhunderts« ein für alle Mal zu diskreditieren.) In der Betrogenen dagegen, deren Protagonistin von einer so frommen Katholikin immerhin das Äußere hat, erscheint die christliche Religion in wenig schmeichelhafter Funktion. Wie an den »Ostern« der »Weiblichkeit« 71 und an den Anspielungen auf die »Verjüngung« 72 der Sara noch in extenso zu zeigen, fungiert die biblische Überlieferung hier, wenn überhaupt und wo überhaupt, nur noch als Referenztext ironischer bis zynischer Reminiszenzen. Ebenso wird die erzählte Zeit nicht etwa nach den Daten des Kirchenjahrs strukturiert, obwohl einige hohe Feiertage und Festperioden in sie fallen müßten. Solche kommen bestenfalls in entfremdeter und restlos säkularisierter Form vor (»ein Adventskind«,73 »seit Ostern in Oberprima«, 74 »bei Pfingstens in der Pempelforter Straße« 75) oder aber sogar heidnisch ein- und rückverwandelt als »Schmackostern«, 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Im Original keine Hervorhebung. Harald Braun (Hg.), Dichterglaube. Stimmen des religiösen Erlebens, Berlin: Eckart, 21932, S. 374 [Anhang]. Gertrud von le Fort [sic!], o. T., in: Harald Braun (Hg.), Dichterglaube. Stimmen des religiösen Erlebens, Berlin: Eckart, 11931, S. 92–94. Thomas Mann, Fragment über das Religiöse, in: Braun (Hg.), Dichterglaube, 11931, S. 198–201. Bd. 8, S. 930 f. Bd. 8, S. 908, 916. Bd. 8, S. 934. Bd. 8, S. 893 f. Bd. 8, S. 907; vgl. S. 902.
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das heißt als »alte[r] Volksbrauch« und Fruchtbarkeitsritus, als »Pfeffern oder Fitzen« der »Mädchen« beziehungsweise der Frau »in der Weihnachts- und der Osterzeit«.76 Christliche Riten spielen in der ganzen Erzählung von Rosalies Leben und Sterben auch nicht die geringste Rolle, selbst im allerengsten Umkreis von Sterben und Tod nicht. Der Text ist hierin nicht grundsätzlich oder nicht sehr viel anders beschaffen als, um noch etwas vorzugreifen, ein einschlägiges Gedicht Gottfried Benns. Dort erscheint ein Gegenstand der katholischen Glaubenspraxis gar in völlig subordinierter und desakralisierter Funktion. Er dient als expressionistisch-kühne Metapher, die freilich im medizinischen Fachjargon ihresgleichen durchaus hätte (›rachitischer Rosenkranz‹). Er gibt also nur mehr ein makabres alterum comparationis ab, um so die Folgen der Karzinom-Therapie zu veranschaulichen, seien es nun Röntgenschäden oder postoperative Entwicklungen des Narbengewebes bei Brustamputation: 77 »Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?« 78 Bei Storm nun kommt die institutionalisierte Religion fast schon ebensowenig vor wie bei Benn oder in der Betrogenen. Sie tritt buchstäblich nur marginal in Erscheinung, ganz am Ende des Texts. Sie kommt erst in einem Brief aus dem Ausland und vom ›dunklen‹ Kontinent zu Wort, der a limine als rückständig und ›unwissend‹ abqualifiziert wird. Obwohl sich Jebe als »Protestant[en]« bezeichnet, hält er sich bekanntlich noch nach dem Zeugnis dieses Briefs, worin der Geistliche und Missionar seinen Tod mitteilt, bis zuletzt vom Christentum fern. Er kompensiert dessen Verlust nicht etwa wie Rosalie von Tümmler mit ›Naturfrömmigkeit‹, was bei ihm als einem Naturwissenschaftler eigentlich besonders naheläge; sondern er balanciert den Religionsverlust mit einer ganz anderen Ersatzbildung. Diese, wie erwähnt, ermöglicht in gewisser Weise überhaupt erst die Erzählbarkeit der gesamten Geschichte. Denn auf ihr beruht Jebes Beziehung zum Rahmenerzähler. Mit dem Rahmenerzähler nämlich »hatte« ihn weder das Studienfach noch eine Kindheits- oder Jugendfreundschaft »verbunden«, sondern wenigstens »zum Teil ein von wenigen bemerkter phantastischer Zug, dem in« ihm, dem Rahmenerzähler, »etwas Ähnliches entgegenkam«. 79 Was genau mit dem »phantastische[n] Zug« und »etwas Ähnliche[m]« gemeint 76 77 78 79
Bd. 8, S. 896, 901, 922 f. Freundlicher Hinweis von Thomas Rütten, Newcastle upon Tyne, vom 6. Juni 2009. Gottfried Benn, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke, in: ders., Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982 (Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke), S. 28. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 581.
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sein soll, geht aus hinzugesetzten Autornamen hervor: »[…] die Arbeiten von Perty und Daumer über die dunklen Regionen des Seelenlebens ließ er [scil. Jebe], wenn auch unter manchem Vorbehalte, nicht verspotten.« 80 Gemeint sind damit Maximilian Perty, Naturwissenschafter und wie Jebe Mediziner, 1833 nach Bern berufen; und Georg Friedrich Daumer, erst rabiater Religionsverächter und dann Konvertit (übrigens auch Ziehvater Kaspar Hausers). Allein schon die Extremausschwingungen in der intellektuellen Biographie des einen sind symptomatisch für die Krise, auf welche »die Arbeiten« beider reagierten. Es handelt sich dabei nämlich je um Versuche, das modern-wissenschaftliche Weltbild mit dem überkommenen Glauben an »Seelenleben[]« und Transzendenz gewissermaßen zu versöhnen. Die Freundschaft Jebes und des Erzählers Hans und damit die ganze Erzählung beruht also auf einem geteilten Interesse am Okkulten und Spiritistischen, man könnte leicht anachronistisch sagen: 81 Parapsychologischen. Einen Anachronismus, einen recht massiven sogar (wie gesehen nicht den ersten und wie gleich noch zu zeigen auch nicht den letzten), erzeugen freilich auch die Verfassernamen, die im Text quasi metonymisch für eine Benennung des »phantastische[n] Zug[s]« eintreten. Denn der Beginn der Freundschaft, deren Basis diese Namen bestimmen, müßte in die Dreißiger-, ihr vorläufiges Ende (vor »fast fünfzehn Jahre[n]« 82) in die frühesten Vierzigerjahre zu liegen kommen, – das heißt Jahrzehnte vor die hier indirekt aufgerufenen Publikationen. Pertys einschlägige »Arbeiten« begannen erst ab 1861 zu erscheinen. Und Daumers Geisterreich in Glauben, Vorstellung, Sage und Wirklichkeit, dessen beide Bände in Storms Nachlaß erhalten blieben, datiert noch später, nämlich von 1867. 83 Der »phantastische[] Zug« spielt schon sehr »früh« 84 in Jebes Lebensgeschichte hinein. Es beginnt mit einer Scharlachepidemie. Diese raffte »viele Kinder, besonders« – und übrigens ganz unplausiblerweise – »männlichen Geschlechts, […] hin[]«. 85 Während dieser Zeit, der höheren Gymnasialklassen (Schullektüre war eben die »sophokleische[] Antigone« 86), in einer pubertären Traumvision vom »Geheimnis des Weibes«, wie sie 80 81 82 83 84 85 86
Ebd. Vgl. Werner Bonin, [Artikel:] Parapsychologie, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel: Schwabe, 1989, Sp. 116– 119, hier Sp. 116 f. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 583. Vgl. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1042 [Kommentar]. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 585. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 587. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 589.
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Storm scheinbar selber in seiner Jugend hatte, 87 will Jebe inmitten einer »Gruppe von« – offenkundig toten – »Knaben« in Gestalt einer Art Psychagogin seine spätere Frau gesehen haben. 88 Storm selber hat die Verbindung, die Okkultismus und Wissenschaftsethik in Ein Bekenntnis eingehen, als etwas Eigenartiges kritisiert. Von allem Anfang an wollte er sie als ausgemachten »Fehler« bemerkt haben. 89 Allerdings sind die betreffenden Selbstbezichtigungen um Wochen jünger als ein Brief Paul Heyses, der gleich noch in extenso zu zitieren sein wird und von dessen Kritik Storm auch in anderer, rein medizinischer Hinsicht behauptete, daß er nur sein, Storms, eigenes Unbehagen auf den Punkt gebracht habe. Nach Heyse ist »das visionäre Element« sowohl bei der Figurenzeichnung irritierend als auch in der Handlungsführung sozusagen überhängig. Es müsse, so Heyse, »dem Charakter des hellblickenden Naturkundigen fremd sein«; und es habe »mit dem Verlauf der Geschichte nichts Wesentliches zu schaffen«.90 Ob Heyses Brief nun wirklich nur Storms eigene Bedenken reartikulierte oder aber Storms entsprechende Äußerungen im Gegenteil als Selbstschutz und Schutzbehauptung zu werten sind, als Anzeichen dafür, wie tief ihn dieser Brief traf und verunsicherte –: jedenfalls nahm er die darin formulierte Kritik beziehungsweise eben seine davon angeblich unabhängige Selbstkritik sehr ernst. Er erkundigte sich bei einem renommierten Literaturwissenschaftler, dem Berliner Ordinarius Erich Schmidt, nach dem Grad der Notwendigkeit, den »visionairen Traum« aus der Novelle »heraus zu operiren« 91 (so Storms stehende chirurgische Metaphorik, die nicht unbedingt nur aus dem Metier des Binnenerzählers verschleppt zu sein braucht, sondern, wie sich gleich zeigen wird, auch bezeichnend sein könnte für die damals sehr besondere Lebens- oder Sterbesituation des realen Autors). Leider scheint sich Schmidts Antwort auf Storms Anfrage, wenn er sie denn überhaupt beantwortete, nicht erhalten zu haben. Es läßt sich also nicht sagen, ob Storm mit der Druckfassung der Novelle dem Rat des 87 88 89 90 91
Theodor Storm, Brief vom 29. September 1887 an Erich Schmidt, in: Theodor Storm und Erich Schmidt, Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. v. Karl Ernst Laage, Bd. 2: 1880– 1888, Berlin: Schmidt, 1976, S. 141–143, hier S. 141. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 587–589. Storm, Brief vom 29. September 1887 an Erich Schmidt; Storm und Schmidt, Briefwechsel, Bd. 2, S. 141. Paul Heyse, Brief vom 25. Juni 1887 an Theodor Storm, in: Theodor Storm und Paul Heyse, Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. v. Clifford Albrecht Bernd, Bd. 3: 1882–1888, Berlin: Schmidt, 1974, S. 153–155, hier S. 154 f. Storm, Brief vom 29. September 1887 an Erich Schmidt; Storm und Schmidt, Briefwechsel, Bd. 2, S. 141 f.
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Fachgelehrten folgte oder ob er sich ihm ebenso widersetzte wie demjenigen Heyses. Auf jeden Fall hat er endlich an der früh angelegten Kombination von Vision und Scharlachepidemie festgehalten, obgleich sie eigentlich ganz leicht »zu operiren« gewesen wäre und obwohl er von Heyses Kritik daran behauptete, daß sie seinen eigenen Bedenken dagegen nur um so klareren Ausdruck gegeben habe. Die Verbindung des eigentlichen ›Arztromans‹ mit dem Motiv des hellseherischen Traumbilds ist also sowohl gegen kollegial-praktische als vielleicht auch universitär-fachzünftige als angeblich auch gegen eigene Vorbehalte des Autors selbst stehengeblieben. Sie ist desto bemerkenswerter – desto interpretationsfähiger auch. Sie hat denn auch scharfsinnige Interpretationen erfahren, von Jan U. Terpstra eine psychoanalytische 92 und von Marianne Wünsch eine epochen- und geistesgeschichtliche. 93 Käser hat sogar versucht, Storm vor sich selber in Schutz zu nehmen und die beiden Themen individualpsychologisch aneinander zu vermitteln.94 Daß Storm das Okkulte früh in seine Novelle einführte und dann so obstinat am Parapsychologischen festhielt, ist indessen am leichtesten wohl mentalitätsgeschichtlich zu erklären. Das beibehaltene Okkulte läßt sich verstehen aus seinem inneren Zusammenhang mit der Vernaturwissenschaftlichung der Humanmedizin, obgleich und gerade weil jemand wie Heyse finden konnte, daß das eine mit dem anderen »nichts Wesentliches zu schaffen« habe. Denn im ›wesentlichen‹ scheint es bei der dann doch nicht ›operierten‹ Anlage der Novelle um eine Wiederkehr des Verdrängten zu gehen. Oder etwas genauer gesagt geht es um eine literarische Wiederkehr des wissenschaftlich Ausgetriebenen und professionsethisch Vernachlässigten. In Jebes Traum- und Sterbevisionen kehrt die »Seele[]« wieder. »Seele[]« steht dabei natürlich nicht einfach für eine »Funktion«;95 sondern das Wort behält hier seinen christlich-religiösen oder einen wenigstens platonischen Sinn. Es meint etwas materiell am Menschen nicht Faßbares, von
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93 94 95
Jan U. Terpstra, Die Motivik des Visionären und Märchenhaften in Storms Novelle Ein Bekenntnis als archetypischer Ausdruck des Unbewußten, in: Walter Schönau (Hg.), Literaturpsychologische Studien und Analysen, Amsterdam: Rodopi, 1983 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 17), S. 131–168, hier S. 133. Marianne Wünsch, Experimente Storms an den Grenzen des Realismus. Neue Realitäten in Schweigen und Ein Bekenntnis, in: Schriften der Theodor Storm-Gesellschaft 41, 1992, S. 13–23, hier S. 20 f. Vgl. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 162 f. Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. 1: Einleitung; Erstes Buch: Teufelsfurcht und Aufklärung im sogenannten Mittelalter, Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1920, S. 41.
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seinem Körper und aller Materie Unabhängiges, ein den physischen Tod überdauerndes Etwas. Zu Storms Lebzeiten, und um die fiktive Erzählzeit seiner Binnenerzählung ganz besonders, im sogenannten Materialismusstreit von 1854, geriet der Glaube an solch eine Entität durch die Naturwissenschaften und durch die sie sich sukzessiv aneignende Medizin unter sehr schweren Druck. 96 Das in der deutschen Literaturgeschichte sicherlich markanteste Dokument dieser Druckverhältnisse ist genau gleich alt wie Storms Bekenntnis. Wilhelm Bölsche, in der Programmschrift des darin freilich noch nicht so genannten Naturalismus, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, eben 1887, rief dazu auf, »die gewöhnlichen Vorstellungen von Unsterblichkeit sämmtlich zu vernichten. Die Seele im Volkssinne« sei »lebend wie todt ganz gleichmässig ein Gespenst.« 97 Bölsche, ein, zwei Generationen jünger als Storm und einer der wichtigeren deutschen Popularisatoren des Darwinismus, denunziert in einem eigenen Kapitel über »Unsterblichkeit« insbesondere alle Versuche der zeitgenössischen Literatur, der »Seele im Volkssinne« oder auch den diesen »Volkssinn[]« beerbenden okkultistischen »Narrheiten« gleichsam Asyl zu gewähren. »Der Dichter, der hier pikante Stoffe zu finden glaubt«, sei »zu bedauern«.98 Wenn auch ungenannt bleibt, wen genau oder wen alles Bölsche mit dem lamentablen »Dichter« meinte, und wenngleich er dabei Storms ja genau gleich altes Bekenntnis jedenfalls nicht im Sinn haben konnte, so ist diese Novelle doch ein Beispiel erster Güte für die hier aufs Korn genommene Tendenz, die ›alte‹ Seele und den herkömmlichen Glauben an ihre Unsterblichkeit in die neue, naturwissenschaftlich dominierte Ära hinüberzuretten. Der Held der Novelle, deren Titel auf die genuin religiöse Textsorte der Konfessionsliteratur zurückweist, spekuliert nicht nur, von jenem »visionairen Traum« her, mit der unorthodoxen Möglichkeit, daß die »Seelen sich gesucht, bevor noch« die »Leiber sich gefunden hatten«;99 wobei mit solchen Vorahnungen allein schon eine Eigenwesentlichkeit dieser von den »Leiber[n]« unabhängigen »Seelen« verbürgt wäre. Sondern buchstäblich bis in sein letztes Wort bleibt er ebenso unbeirrt im Glauben auch an die eigentliche Unsterblichkeit seiner und der Seele seiner Frau. Seine letzten Worte geben bei aller Vagheit doch der bestimmten Hoffnung Aus96 97 98 99
Vgl. Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 256–260. Wilhelm Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, hg. v. Johannes J. Braakenburg, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, und Tübingen: Niemeyer, 1976 (Deutsche Texte, Bd. 40), S. 28. Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, S. 29. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 606.
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druck, daß Elsis »Hand« es sei, die ihm »das Tor zur Freiheit […] []öffne[]«.100 Selbst darin freilich, daß die »Seelen« der »Liebesleute[]« auch nach dem Tod der »Leiber« wieder zueinander finden, 101 geht Jebes (und halbherzig vielleicht auch Thomas Manns 102) »phantastischer« Glaube deutlich über die Verheißung der Evangelien hinaus.103 Er berührt sich allenfalls noch mit dem »Volkssinne«, mit volkstümlich christlichen Vorstellungen, wie sie Jeremias Gotthelf 1843 ans Ende einer seinerzeit ziemlich bekannten Novelle stellte, aus der Storm möglicherweise den Namen seiner Protagonistin schöpfte: Elsi, die seltsame Magd. 104 Damit wird die fiktive Gestalt Franz Jebes lesbar als Symptom, ebenso wie die historisch reale des späten Perty, dessen Memoiren seit 1879 vorlagen: Erinnerungen aus dem Leben eines Natur- und Seelenforschers des 19. Jahrhunderts. 105 Der moderne Wissenschaftler, der an die persönliche Unsterblichkeit glaubt, ist symptomatisch für ein letztlich bis heute unbewältigtes Problem. An diesem muß Storm indessen ganz besonders laboriert haben. Darauf läßt nur schon die Insistenz schließen, mit der es in seinem Gesamtwerk wiederkehrt. Symptomatisch ist Jebes Merkmalssatz für die konfliktuöse Beziehung zwischen der schnell fortschreitenden Erosion tradierter Glaubensinhalte einerseits und dem anhaltenden Bedürfnis andererseits, das Vakuum zu füllen, das die wegbrechende Religion zu hinterlassen begann. Dieses Bedürfnis ›widerspiegelt‹ Storm im Bekenntnis nicht nur, sondern er bedient es auch, indem er das Problem in extremis durchspielt. Er verlegt sein eigenes Interesse an der Parapsychologie, das aus diesem Konflikt resultiert und das ja mit die Basis für Jebes Freundschaft mit dem Ich-Erzähler und somit die Voraussetzung der ganzen Erzählung bildet, ausgerechnet in einen avancierten Vertreter des modernen Menschenbilds. Die daraus entspringende Widersprüchlichkeit der Jebe-Figur ist im Text durchaus spürbar. Aus ihr erklärt sich schon die gewundene Art, wie Jebes okkulte Gläubigkeit eingeführt wird, als ein nur eben »phantastischer Zug«; oder der vage Rekurs auf eher abgelegene, unbekannte Dritte, Perty 100 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 633. 101 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 606. 102 Vgl. Bd. 11, S. 526. Die Stelle ist in wohl signifikanter Weise doppeldeutig; insofern, als unklar bleibt, ob man hier nur an die säkulare Form eines Weiterlebens im hinterlassenen Lebenswerk zu denken hat. 103 Vgl. Mt 22,28–30. 104 Jeremias Gotthelf, Elsi, die seltsame Magd, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Rudolf Hunziker und Hans Bloesch, Bd. 17, Erlenbach-Zürich: Rentsch, 21936, S. 195–224, hier S. 224. 105 Maximilian Perty, Erinnerungen aus dem Leben eines Natur- und Seelenforschers des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig: Winter, 1879.
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und Daumer, womit der Erzähler diesen »Zug« so zaghaft präzisiert. Die Vagheit des Wortlauts hilft hier ziemlich offenkundig eine Inkohärenz zu verdecken, die sie gerade dadurch auch wieder zu erkennen gibt. Das gleichsam schlechte Gewissen, mit dem der Erzähler Jebes »phantastische[n] Zug« viel mehr andeutet als rundheraus benennt, verrät, wie wenig solch ein »Zug« in das Portrait eines modernen Arztes gehört, auch seinerzeit gehörte. Auch daß ausdrücklich notiert wird, nur »wenige[]« hätten den »phantastische[n] Zug in ihm«, dem modernen Arzt, »bemerkt[]«, weist darauf hin, wie schlecht dergleichen schon im neunzehnten Jahrhundert zu dem paßte, was man vom ›mind set‹ eines Karrieremediziners erwarten durfte. Ein kleines Stück weit entgegen kommt solchen Erwartungen andererseits auch wieder die Konzession »manche[r] Vorbehalte«, »unter« denen Jebe »die Arbeiten von Perty und Daumer« nur gelten »ließ«. Mit Jebe also, und sei es auch »unter manchem«, freilich nicht weiter expliziertem »Vorbehalte«, muß ausgerechnet ein arrivierter Vertreter des naturwissenschaftlichen Menschenbilds bis zuletzt in einem quasi religiösen, ›alternativ‹ religiösen Sinn gläubig bleiben. Ausgerechnet einer, der die moderne Medizin geradezu exemplarisch repräsentiert, darf hier glauben, daß die »Seelen« die »Leiber« überdauern. Er kann an diesem Glauben festhalten, obwohl er selber an der Verdinglichung des Menschen mitwirkte, indem er als einer der ersten die Aufwertung des Leichnams zum privilegierten Erkenntnisgegenstand akzeptierte. Damit macht der Text seiner Leser- und Leserinnenschaft ein so verlockendes wie simples Orientierungs- und Glaubensangebot. Geringfügig relativiert wird der so suggerierte Glaube, daß der Tod aller wissenschaftlich gewonnenen Evidenz zum Trotz doch kein Ende der individuellen Existenz bedeute, nur ein einziges Mal. Zur Diskussion steht er allein dort, wo er auf seine Artikulation durch eine Frau trifft. Denn auch Jebes Frau glaubt bestimmt, daß sie ihren späteren Mann »gesehen ha[t]«, als sie »noch ein halbes Kind« war, »vielleicht im Traum«.106 Als sie ihm das aber »ernsthaft« gesteht, reagiert er erst ironisch und abwehrend, im »Scherz«. 107 Obwohl er den Glauben an dergleichen ja eigentlich vollkommen teilt – »[d]er Atem« steht ihm zum Zeichen seiner Betroffenheit »still« 108 –, bezieht er also halb und halb die geschlechtstypische Gegenposition des Wissenschaftlers und militanten Rationalisten. Dann allerdings konzediert er, unter Berufung auf »ein[en] alte[n] Glaube[n]«, auf 106 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 606. 107 Ebd. 108 Ebd.
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seine überlegene Kenntnis mithin der Überlieferung und also auf sein geschlechtsspezifisches Bildungsprivileg, wenigstens konjunktivisch seine eigenen Vorahnungen von der Art jener Traumvision.109 Er stellt deren Erlebnis freilich unter den »Vorbehalt[]« nur einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Und er nimmt es ganz in die eigene Subjektivität zurück: Es sei ihm »auch wohl so gewesen, als hätten« ihre »Seelen sich gesucht, bevor noch« ihre »Leiber sich gefunden hatten«. 110 In Hinblick auf ›sex‹ und ›gender‹ ist natürlich der ganze eheliche Meinungsabtausch samt seinem Kontext typisch und stereotyp bis zum Überdruß. Das Irrationale wird schon von allem Anfang an auf ›das‹ Weibliche festgelegt. Das Übersinnliche fällt mit dem »Geheimnis des Weibes« zusammen: des »unergründlich[en]« und »gespenstisch[en]« »Weibes«,111 wie es mit sicherlich abgedroschenen, hier aber, in diesem wissenschaftskritischen Kontext, im Zusammenhang mit den Grenzen des Wißbaren, doch auch sehr vielsagenden Ausdrücken heißt, deren einer sich sinnreicherweise mit Bölsches despektierlichem Wort vom »Gespenst« der Seele deckt. In Gestalt »des Weibes« kommt das Gespenstische zuerst in jenem »visionairen Traum« ins Spiel. Nach einem sattsam bekannten Muster wird die Frau hier mit dem ›Anderen‹ auch des Todes assoziiert. Allerdings stellt sich diese Assoziation nur von fern und in einer seltsamen Ambivalenz ein. Denn die Kindsfrau des Traums erscheint zwar inmitten von toten »Knaben«. Aber im Unterschied zur männlichen »Gruppe« ist sie selber gerade nicht der Scharlachepidemie zum Opfer gefallen, während derer Jebe ›visionär‹ träumte. Das Traumbild impliziert so ein männliches ›gendering‹ der Infektionskrankheit. Auf ein solches läuft ja schon die Charakterisierung der Scharlachepidemie hinaus; und zwar, wie schon erwähnt, um den Preis der Plausibilität und ›realistischen‹ Glaubwürdigkeit des Texts. Denn danach, daß Scharlach oder auch die mit diesem unter Umständen verwechselbare »Diphtherie« Jungen häufiger befalle als Mädchen, sucht man in der Fachliteratur auch schon der Zeit ganz vergebens. Wenn auch a limine, und sei es nur von fern, mit den Toten assoziiert, so bleibt die Frau hier immerhin doch deutlich vom Infektionstod dissoziiert. Sie wird weder dieser noch sonst einer »Seuche« erliegen. Sondern sie wird von Krebs als einer Krankheit befallen werden, an der wie gesehen die Macht des Arztes – zunächst wenigstens – versagt.
109 Ebd. 110 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 581, 606; im Original keine Hervorhebung. 111 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 595, 606.
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2.1.4 Die Spezifikation des ›weiblichen‹ Krebses und die Erkrankung des realen Autors Elsi Jebe zieht sich ebendie Krankheit zu, an der jene »Münchener Aristokratin« gestorben sein soll, die Thomas Mann in seiner Tagebuchnotiz unterstrichen hat und an der, dem genau entsprechend, auch die »Betrogene« einmal hätte sterben sollen. Elsi erkrankt an einem Karzinom des Uterus. Um ganz genau zu sein, erkrankt sie jetzt an solch einem »Carcinoma«. 112 Zuvor, in einer älteren, handschriftlichen Fassung, war die Krankheit nämlich »nur obenhin genannt[]«.113 Oder eigentlich blieb sie ganz verschwiegen: Plötzlich – es war das erste Mal in meinem Berufe – begann meine Hand zu zittern, und Elsi’s große erschrockene Augen blitzten in die meinen: ich hatte gefunden, was ich fürchtete, den Beginn eines allerschmerzlichsten, in den meisten Fällen tödtlichen Uebels; meine Phantasie stellte das Aeußerste mir vor Augen. 114
Wie schon bei der Mutter Hinze und dann auch wieder bei jener endlich erfolgreich operierten Etatsrätin wird in dieser frühen Variante das »Uebel[]« mit keinem konkreten Namen benannt. Diese Aussparung war vielleicht nicht nur oder gar nicht Ausdruck des im Bann- oder ›Wendekreis des Krebses‹ natürlich bis heute115 besonders wirksamen Namenstabus. Denn aus seiner Korrespondenz, der allerdings, wie sich gleich noch herausstellen wird, auch hier wieder nicht blindlings zu trauen ist, geht hervor, daß Storm einfach mit den ihm »erreichbaren Aerzten nicht zurecht kommen konnte«. 116 So steht es in einem Brief vom 12. Juli 1887 an den Westermann-Verlag. Doch schon zwei Wochen früher, am 29. Juni, hatte Storm dem Verlag in Aussicht gestellt, »eine bestimmte [scil. ›Krankheit‹] angeben [zu] können«, wenn er denn und sobald er unter den ihm »bekannten Aerzten den Rechten finde«.117 Obwohl Storm seine Selbstkritik hier dem Verlag gegenüber allein auf äußere Gründe zurückführt, eben auf ein Defizit an medizinischen Gewährsleuten, scheint ihm die Vagheit der Krankheit, die synekdochale (be112 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 608. 113 Theodor Storm, Brief vom 29. Juni 1887 an Friedrich Westermann; Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1031 [Kommentar]. 114 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1032 [Kommentar]. 115 Vgl. Christa Wolf, Krebs und Gesellschaft, in: dies., Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994, S. 115–139, hier S. 120; Robert Gernhardt, Die K-Gedichte, Frankfurt a. M.: Fischer, 2004. 116 Theodor Storm, Brief vom 12. Juli 1887 an Friedrich Westermann; Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1031 [Kommentar]. 117 Storm, Brief vom 29. Juni 1887 an Friedrich Westermann; Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1031 [Kommentar].
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ziehungsweise rein pronominale) Andeutung des »Uebels« (»was«), nicht immer schon oder immerhin nicht allzu störend aufgefallen zu sein. Mit noch höherer Wahrscheinlichkeit als bei jenen Vorbehalten, die er gegen die Integration des ›Visionären‹ hegte, beruht seine Selbstkritik hier auf Bedenken, die zunächst andere erhoben und die er sich von ihnen nur aneignete. Denn sie entspricht fast wörtlich dem Unbehagen, das Paul Heyse an der »unbestimmte[n] Krankheit« 118 geäußert hatte. Storm selber konzedierte Heyse gegenüber wenigstens so viel, daß er, Heyse, ihm mit seinem Monitum einen letzten und »erwünschten Ruck […] gegeben« 119 (also doch auch wieder nur schon eigene Vorbehalte auf den Punkt gebracht) habe. Einen direkten Zusammenhang zwischen Heyses Kritik und Storms Selbstkritik legen schon nur die zeitlichen Verhältnisse der Korrespondenz nahe. Das erste erhaltene Zeugnis, in dem Storm dem Verlag eine Präzisierung der Krankheit ankündigt, datiert wie gesagt vom 29. Juni 1887. Heyse aber hatte Storm seine Kritik an der »unbestimmte[n] Krankheit« und manchem anderen in einem Brief vom 25. Juni mitgeteilt: Diesen Eindruck [scil. daß Franz Jebes Sterbehilfe »eine That der Schwäche gewesen« sei] erhöht noch die etwas weiche lyrische Darstellung […], die mehr dem Dichter als dem Arzt geziemt. Jenem imputiren wir auch das visionäre Element, das dem Charakter des hellblickenden Naturkundigen fremd sein sollte, zumal es mit dem Verlauf der Geschichte nichts Wesentliches zu schaffen hat. Ich würde dringend rathen, diese Partie in der Buchausgabe zu streichen. Sie erweckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Denn auch zur Charakteristik der sensitiven jungen Frau ist sie nicht nöthig, während sie für den Arzt störend erscheint. Einige andere Anstöße habe ich am Rande angemerkt. »Die Hand, nicht des Gatten, sondern des Arztes«, die an dem Körper herumtastet, der Rosenkranz u. a. Bedenklicher noch ist mir die Krankheit selbst in ihrer namenlosen Unbestimmtheit, die Dir freilich zweckmäßig schien, da Du auch eine ganz unbestimmbare neue Heilmethode einführen wolltest. Ich weiß nicht, ob ein Arzt, der die Novelle lies’t, nicht stark den Kopf schütteln wird. In solchen Dingen sollten wir doch einen ganz sicheren wissenschaftlichen Grund u. Boden zu gewinnen suchen. Ein Arzt aber, der über den Sitz eines solchen Leidens – doch wohl Unterleibskrebs – nach sorgfältiger Untersuchung nicht ins Reine kommt, der zufällig herumtastend erst Gewissheit erlangt, wird seinen Collegen mit Recht verdächtig werden. 120
118 Theodor Storm, Brief vom 15. Juli 1887 an Paul Heyse; Storm und Heyse, Briefwechsel, Bd. 3, S. 155 f., hier S. 155. 119 Ebd. 120 Heyse, Brief vom 25. Juni 1887 an Theodor Storm; Storm und Heyse, Briefwechsel, Bd. 3, S. 154 f. Zum – in der späteren Fassung denn wirklich aufgegebenen – »Rosenkranz« vgl. Theodor Storm, Ein Bekenntnis. Novelle, in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart 32.63, 1888, S. 1–28, hier S. 25; Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1047 f. [Kommentar].
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Zwischen den beiden Zeugnissen, Heyses Brief an Storm (25. Juni) und Storms Brief an den Verlag (29. Juni), liegt ein Intervall von nur vier Tagen. Das Intervall ist viel zu schmal, als daß man hier allen Ernstes noch mit Zufall und Koinzidenz spekulieren dürfte. Und andererseits ist es doch auch wieder breit genug, um mit bestem Gewissen voraussetzen zu dürfen, daß Heyses Brief vom 25. Storm noch vor dem oder jedenfalls spätestens am 29. Juni erreichte. Eine so schnelle Beförderung vom Absender zum Adressaten, von München nach Hanerau-Hademarschen (wahrscheinlich über die Bahnstrecke Würzburg-Hannover-Hamburg), wäre den technischen Möglichkeiten der späten Achtzigerjahre nach durchaus nicht ungewöhnlich. 121 Der »Rechte[]« unter den »erreichbaren Aerzten« fand sich dann in Ludwig Glaevecke. Glaevecke war Assistent am Kieler Frauenklinikum und damals mit Margarete Storm, Storms Nichte, verlobt. Er war ein Schüler des Straßburger Gynäkologieprofessors Wilhelm Alexander Freund. Dieser hatte 1878 – also vor knapp zehn und nicht »vor ca. 15 Jahren«, wie Storm an Heyse122 und Wilhelm Petersen 123 schrieb – eine von Krebs befallene Gebärmutter mit offenbar eindeutigem Erfolg entfernt (beziehungsweise diese theoretisch schon 1810 von Max Joseph Gutberlet vorgeschlagene und 1825 von Conrad Johann Martin Langenbeck schon einmal in die Klinik umgesetzte Therapie 124 wiederaufgenommen, sie nun aber unter den neuen Bedingungen der A- und Antisepsis durchgeführt). Darüber publizierte Freund noch im selben Jahr 1878 einen Aufsatz: Eine neue Methode der Exstirpation des ganzen Uterus. 125 Freunds Aufsatz scheint Glaevecke seinen Auskünften an Storm zugrunde gelegt oder diesem sogar im Original zugänglich gemacht zu haben. Jedenfalls, wie Freund übrigens selber bemerken sollte, 126 wird daraus in der Novelle regelrecht zitiert. Das geschieht allerdings um den Preis eines weiteren, eines ganz heillosen Anachronismus. Dieser beläuft sich auf ein ganzes Vierteljahrhun121 Freundliche Auskunft von Ursula Fuchs, Bonn (Museumsstiftung Post und Telekommunikation), vom 17. April 2003. 122 Storm, Brief vom 15. Juli 1887 an Paul Heyse; Storm und Heyse, Briefwechsel, Bd. 3, S. 156. 123 Theodor Storm, Brief vom 3. Dezember 1887 an Wilhelm Petersen, in: Theodor Storm und Wilhelm Petersen, Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. v. Brian Coghlan, Berlin: Schmidt, 1984, S. 176 f., hier S. 176. 124 Vgl. Jacob Wolff, Die Lehre von der Krebskrankheit. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Bd. 4, Jena: Gustav Fischer, 1928, S. 456, 502. 125 Wilhelm Alexander Freund, Eine neue Methode der Exstirpation des ganzen Uterus, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1878 (Sammlung klinischer Vorträge, Heft 133; Gynäkologie, Heft 41), S. 911–924. 126 Vgl. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1035 f. [Kommentar].
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dert, also auf ein Vielfaches des halben Jahrzehnts, um das sich Storm wiederholt verschätzte, als er an Heyse und an Petersen schrieb, die im Aufsatz vorgestellte Operationsmethode habe sich schon »vor ca. 15 Jahren« bewährt. Eine neue Methode der Exstirpation des ganzen Uterus müßte nach den Daten der Novelle ein Vierteljahrhundert früher, etwa Mitte 1853 erschienen sein (und die Anwendung der »Methode« hätte hier auch ohne die Linderungen der modernen Anästhesie erfolgen müssen 127). Storm hat hier also eine massive Unstimmigkeit der wissenschaftsgeschichtlichen Verhältnisse in Kauf genommen, die ihm bewußt sein mußte oder ihm jedenfalls hätte bewußt sein können. Das ist natürlich überaus bezeichnend. Bezeichnend ist es auch im Vergleich mit der Betrogenen und im Unterschied zu der dort ganz und gar hoffnungslosen Diagnose und sinnlosen Operation: »ut aliquid fieri videatur«. Daß Storm die viel jüngere Therapie in seinen Erzählzusammenhang einfach übernahm, ohne dessen Eckdaten daran anzupassen – also den zeitlichen Abstand zwischen der Rahmen- und der Binnenerzählung entsprechend zu verringern –, hat psychologisch wahrscheinlich dasselbe zu bedeuten wie schon das in den Briefen an Heyse und Petersen veranderthalbfachte Bewährungsalter der Operationsmethode. Beide Fehlleistungen reflektieren die schwere Bedrohung durch den Krebs, die ›neue‹, nach den Durchbrüchen in der Bakteriologie neu ins Bewußtsein tretende Krankheit. Deren Beherrschbarkeit wird durch die Fehldatierungen für eine Zeit vorausgesetzt und in eine Handlung zurückverlegt, da sie tatsächlich so unheilbar war, wie sie dem vorgeblich unnötigerweise versagenden Arzt hier zu sein nur scheint. Thomas Mann hat Storms Novelle genau gekannt (deren Titel ja mit seinem gewissermaßen allerletzten, dem Titel des Krull-Fragments bis auf den Numerus übereinstimmt). Er hat sie im Storm-Essay von 1930 als »eine seiner stärksten Erzählungen« sehr hochgeschätzt. 128 Es ist ihm daran sogar aufgefallen – um das wenigstens am Rand zu bemerken –, was ihm am eigenen Leib entgehen und was sich in der Betrogenen und ihrer Vorgeschichte mutatis mutandis bis aufs Lebensjahr genau wiederholen sollte: daß nämlich hier Storms eigene »Todeskrankheit […] verhängnisvoll hineinspielt, der Krebs, und zwar der Magenkrebs«.129 Dessen auf Storms Wunsch »unter Männern« mitgeteilte Diagnose überforderte die »Männlichkeit« des Autors vollkommen; und nachdem er also umsonst 127 Vgl. Ulrich Tröhler, Surgery (Modern), in: W. F. Bynum und Roy Porter (Hgg.), Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 2, London und New York: Routledge, 1993, S. 984–1028, hier S. 985–987. 128 Bd. 9, S. 266. 129 Ebd.
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versucht hatte, »den Großartigen« zu geben, »beschlossen« zwei Mediziner unter seinen Angehörigen – sein Bruder Aemil und jener Ludwig Glaevecke –, ihn »wohltätig zu belügen«. 130 Wie sich das ›Spiel‹ zwischen Biographie und Werk hier im einzelnen gestaltete, ist schwer zu bestimmen. Eine genauere Bestimmung hängt davon ab: ob man Storms Aussage Glauben schenkt, er habe seine Novelle bereits 1885 konzipiert; oder ob man darin einen Versuch sieht, eine direkte Abhängigkeit von und Inspiration durch Heyses Auf Tod und Leben zu verdecken. 1885 konnte Storm noch nicht wissen, daß er Magenkrebs hatte oder bekommen würde. Eine erste Fassung der Novelle selber schrieb beziehungsweise diktierte er dann aber erst von Februar bis Mai 1887, als er die Krebsdiagnose schon kannte. Im einen Fall, wenn er also tatsächlich schon 1885 »dieß […] Thema zur Behandlung notirt[]«131 haben sollte, hätte die Novelle möglicherweise, wenn man dergleichen einzuräumen bereit ist, etwas Divinatorisches. Sie dürfte dann vielleicht als Beispiel einer Todesahnung und Sterbensgewißheit passieren, wie sie Storm mehr als zwanzig Jahre früher in einem dafür einigermaßen bekannt gewordenen Gedicht, trotz des darin berufenen Unsagbarkeitstopos, »in Worte [zu] fassen« versuchte, Beginn des Endes (1868): Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz, Nur ein Gefühl, empfunden eben; Und dennoch spricht es stets darein, Und dennoch stört es dich zu leben. Wenn du es Andern klagen willst, So kannst du’s nicht in Worte fassen; Du sagst dir selber: Es ist nichts! Und dennoch will es dich nicht lassen. So seltsam fremd wird dir die Welt, Und leis verläßt dich alles Hoffen, Bis du es endlich, endlich weißt, Daß dich des Todes Pfeil getroffen. 132
Im anderen, desto wahrscheinlicheren Fall, daß Storm zumindest die Art der fiktiven Krankheit erst 1887 konzipierte, kann man das ›Spiel‹ zwischen dem fiktionalisierten Leiden und der eigenen – damals ja schon diagnostizierten – Krankheit erklären, ohne zugleich Storms »phantastische[m] Zug« die divinatorische Fähigkeit zur Eigendiagnose zugestehen 130 Ebd. 131 Theodor Storm, Brief vom 4. Dezember 1885 an Friedrich Westermann; Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 1029 [Kommentar]. 132 Theodor Storm, Beginn des Endes, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 1: Gedichte; Novellen. 1848–1867, hg. v. Dieter Lohmeier, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1987 (Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 19), S. 86.
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zu müssen. Erklären könnte man es etwa als Bewältigungstaktik, als Selbsttherapie, als Versuch – so Käser –, »die im Text dargestellte Krankheitserfahrung so weit wie möglich von sich selber [zu] distanzier[en]«. 133 Wenn Käser dem vorausschickt, daß »Antworten […] in diesem Bereich stets spekulativ« bleiben, 134 so kann man ihm nur bedingt beipflichten; mit der Einschränkung nämlich, daß es unterschiedliche Grade von Spekulativität gibt und unterschiedlich plausible Spekulationen. Die ›Darstellung‹ und ›Distanzierung‹ der eigenen Krankheit erfolgte hier in verschiedenen Stadien. Diese lassen sich textkritisch und entstehungsgeschichtlich ermitteln. Man kann sie dann versuchshalber mit den biographischen Daten abgleichen: Zunächst scheint die Novelle, wie sie von Februar bis Mai 1887 entstand, gerade Storms Schwierigkeit zu verraten, seine oder eine damit verwandte Krankheit auch nur im Schonraum literarischer Fiktionen beim Namen zu nennen. Dieser Name fiel, wie eben vorgeführt, erst nachträglich, nachdem ihn Heyse in seinem Brief vom 25. Juni einmal ausgesprochen hatte. Heyse, von dem man angesichts des hier offenbar lückenlosen Briefwechsels annehmen muß, daß er nicht wissen konnte, was seinem Duzfreund fehlte, hatte die Vagheit der Krankheitsbezeichnung einfach nur unter dem literaturkritischen Gesichtspunkt des ›Realismus‹ moniert. Er hatte die »namenlose[] Unbestimmtheit« der Krankheit nur am Postulat der mimetischen Wahrscheinlichkeit gemessen, sie so gemessen »verdächtig« gefunden und deswegen den ›Namen‹ des »Leidens« vermutenderweise gleich selber eingesetzt: »doch wohl Unterleibskrebs«. Wenn Storm diesen Vorschlag unverzüglich übernahm und wenn er die vorher gewahrte Unbestimmtheit der Krankheit mit einem Mangel an medizinischen Gewährsmännern erklärte, dann braucht das nicht zu heißen, daß diese Unbestimmtheit ursprünglich nicht ihre eigene Bedeutung und Berechtigung haben konnte. Denn Heyses Vorschlag, dessen prompte Umsetzung und Storms pragmatische Erklärung für die frühere Aussparung der Krankheitsbezeichnung (mit dem Fehlen eben geeigneter Korrespondenten) fallen in eine Zeit, in der die Lebenssituation des Autors und Patienten eine ganz andere geworden war. Oder wenigstens schien sie diesem eine andere geworden zu sein. Zwischen dem ursprünglichen Wortlaut der Novelle und der nosologisch unerbittlichen Vereindeutigung »Carcinoma« liegt nämlich das Datum jenes »Humbug-Konsilium[s]« 135 von Anfang Juni 1887, mit welchem Storms Entourage die wahre, aber für ihn 133 Käser, Arzt, Tod und Text, S. 177. 134 Ebd. 135 Bd. 9, S. 266.
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unerträgliche Diagnose durch eine harmlose, aber erfundene ersetzte, an die er allem Anschein nach wirklich glaubte. 136 Vor diesem Hintergrund wäre ohne weiteres verständlich, warum Storm bis Mai 1887 die genaue Bezeichnung in den Novellentext zu setzen peinlich vermied, ja vielleicht nicht einmal an eine Krebskrankheit zu denken wagte, und warum er andererseits Ende Juni keinerlei Scheu mehr hatte, das Wort »Carcinoma« niederzuschreiben. Die Unbestimmtheit der Krankheitsbezeichnung bei der ersten Niederschrift wäre damit interpretierbar als Abwehr. Sie ließe sich verstehen als Verleugnung dessen, was der Autor über die Natur seiner eigenen Krankheit erst wissen wollte und zur gegebenen Zeit notwendig wissen mußte. Der Mut hingegen, die ›Abdominalkrankheit‹ endlich doch beim Namen »Carcinoma« zu nennen, wäre dann eine direkte Folge der psychischen Entlastung, die Aemil Storms und Ludwig Glaeveckes ›second opinion‹ dem Autor verschaffte. So bleibt eben unklar, wie im einzelnen Storms »Todeskrankheit« hier, mit Thomas Manns Verb: ›hineinspielte‹; je nachdem, was genau er, Storm, sich unter der vagen Unterleibskrankheit vorstellte und wie genau er es sich vorstellte. Wenn er damit, wie Heyse ganz selbstverständlich annahm (»doch wohl«), immer schon eine Krebserkrankung gemeint haben sollte, die er bei ihrem Namen zu nennen einfach sich scheute, dann freilich, aber auch nur dann, behielte Thomas Mann recht mit seiner Vermutung, daß hier ein »verhängnisvoll[er]« Zusammenhang bestand zwischen dem, was Storm einem fiktiven Körper anphantasierte, und dem, was er über seinen eigenen wußte beziehungsweise, nach dem »Humbug-Konsilium«, nicht mehr wußte, nicht mehr wissen wollte. Solch eine Beziehung, in der sich im Reservat fiktionaler Phantasien ein besseres Wissen um das manifestiert, was das schreibende Subjekt realiter nicht ›weiß‹, nicht wissen will, scheint auch bei Thomas Mann vorzuliegen. Denn als dieser seinerseits in der Betrogenen erstmals den Krebs einer Frau thematisch werden ließ, die endlich an einer doppelseitigen Lungenentzündung sterben muß, hatte er selber eine Erkrankung hinter sich, bei welcher der der »Betrogene[n]« zugeteilte Krankheitstyp auf das Organ traf, das deren unmittelbare Todesursache hergeben sollte: Lungenkrebs. Dieser hatte ihn befallen, während er zum letzten Mal die Infektionskrankheit eines männlichen Protagonisten literarisch gestaltete, mitten in der Arbeit eben am Doktor Faustus, dem Roman, von dem er selber glaubte, daß es sein letzter sein sollte.137 136 Vgl. Theodor Storm, Briefe vom 27. September 1887, 18. Dezember 1887, 11. Februar 1888 und 17. Mai 1888 an Paul Heyse; Storm und Heyse, Briefwechsel, Bd. 3, S. 158 f., 161–163, 165–167, 173–175. 137 Vgl. den Brief vom 28. April 1943 an Agnes E. Meyer (Thomas Mann-Archiv).
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Nur versuchte er gar nicht erst, »den Großartigen« zu geben. Er akzeptierte die Pseudodiagnose, die ihm die Ärzte auf Veranlassung seiner Frau stellten, daß er nämlich an einem infektiösen Lungenabszeß leide. 138 Daß er dies wirklich glaubte, wie Storm an jene ›second opinion‹, daran läßt auch sein Tagebuch keinen Zweifel. Die Entstehung des Doktor Faustus läßt ironischerweise sogar etwas von einer besserwisserischen Überheblichkeit ahnen, mit der sich der Patient über die Geheimniskrämerei der Krankenhausschwestern mokierte, 139 welche vermutlich nur Teil seiner allenthalben vorsätzlichen Schonung und Täuschung war. Wenn Thomas Mann mit einer sehr ernsthaften Erkrankung offenbar gar nicht erst rechnete, dann ist das gerade in seinem Fall ziemlich erstaunlich. Erstaunlich ist es nicht oder nicht nur deswegen, weil er strekkenweise selbst in der medizinischen Literatur belesen war und jedenfalls für einen Laien relativ gediegene Fachkenntnisse hatte (wie er sie eben jenen Schwestern gegenüber ausspielen zu sollen glaubte). Es ist um so erstaunlicher, als er damals, im Frühjahr 1946, siebzig war, oder genau genommen und mit den auf Storm gemünzten Worten des Essays gesagt: »fast einundsiebzig«. 140 Er war damit genau gleich alt wie Storm zum Zeitpunkt seines Todes, dessen »verhängnisvoll[e]« Beziehung zu seinem, Storms, novellistischen Werk er im Essay von 1930 selber so bestimmt benannt hatte. 141 Noch signifikanter und fast unheimlich wird das Lebensalter dann, wenn man es neben einen autobiographischen Text hält, der zur selben Zeit entstand wie der Storm-Essay. Der autobiographische Text erklärt möglicherweise, warum Thomas Mann im Essay mit schon etwas auffälliger Akribie festhält, daß »Storm […] fast einundsiebzig« wurde. 142 In einem Lebensabriß von 1930 hatte Thomas Mann nämlich »vermute[t]«, »im Jahre 1945, so alt wie [s]eine Mutter, sterben« zu müssen. 143 Daß er diese Selbstprognose, mit siebzig (oder neunundsechzig) zu sterben, nie vergaß, zeigt eine subtile Andeutung im Tagebuch von 1946. Unter dezenter Anspielung auf die Buddenbrooks steht im Eintrag zu seinem »71. Geburtstag«: »Kurios.« 144 138 139 140 141 142 143 144
Vgl. Bd. 11, 254. Vgl. Bd. 11, S. 258. Bd. 9, S. 266. Ebd. Ebd. Bd. 11, S. 144. Tagebucheintrag vom 6. Juni 1946; Tagebücher 1946–1948, S. 7 f., hier S. 7. Vgl. Michael Maar, Truthähne in der Götterdämmerung. Marginalien zu Mann, in: ders., Die Feuer- und die Wasserprobe. Essays zur Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 190–197, hier S. 191.
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Beim Wiederabdruck des Lebensabrisses aber, 1954, als er sein selbstprognostiziertes Sterbealter um bald ein Jahrzehnt überlebt hatte, stellte er diese Prophezeiung in einer humorigen Fußnote »als eine sublime Methode« hin, »das Schicksal zu bestechen«.145 Der Erfolg der »Methode«, möchte man angesichts jener ›kuriosen‹ Tagebuchnotiz vielleicht meinen, hätte freilich schon 1946 offenbar sein können; – jedenfalls solange man sich an die Zahl des prognostizierten Todesjahrs hält, 1945, um derentwillen Thomas Mann die Prognose überhaupt aufgestellt hat. Es ging ihm dabei nämlich um eine zahlensymbolisch-›phantastische‹ Konstante seines Lebens. Dieses soll wie dasjenige Goethes an einem »Mittag« begonnen haben – tatsächlich kam Thomas Mann schon am Vormittag zur Welt –; und seine wesentlichen Ereignisse fielen alle in die »Mitten der Jahrzehnte«. 146 Seltsamer- und ganz überflüssigerweise aber ließ es Thomas Mann bei der Prognose seines Todesjahrs damit nicht bewenden; sondern er setzte dieses ohne äußere Veranlassung zum Tod seiner Mutter in Beziehung. Er gab so wieder etwas von der Selbstverständlichkeit zu erkennen, womit in seinem und nicht nur in seinem Vorstellungsregister Tod und Krankheit mit Weiblichkeit und Mütterlichkeit eine sehr stabile Symbiose eingehen, wie sie auch in der Betrogenen wieder geradezu musterbeispielhaft vorliegt (und von deren Beharrungsvermögen in der Thomas Mann-Rezeption vielleicht selbst noch die Formel zeugt, unter welcher die Davoser Literaturtage von 2002 standen und welche ›Leben‹ und ›Tod‹ grammatikalisch genau so sexuiert: der »Lebenszauber und« die »Todesmusik«. Und auch noch ›ein Held unserer Zeit‹, Wolf Haas’ Simon Brenner, möchte im selben Lebensjahr sterben wie seine Mutter.147) Im Lebensabriß zeigt sich der Suggestionsdruck dieser Symbiose nur schon daran, daß sie mit einer faktischen Unstimmigkeit erkauft ist. Anders nämlich, als der Wortlaut des Lebensabrisses anzunehmen geradezu zwingt, stimmen die beiden Angaben »1945« und »so alt wie meine Mutter« nicht überein. Wenn er wirklich »1945«, das heißt mit siebzig oder neunundsechzig gestorben wäre, hätte Thomas Mann weniger lange gelebt als seine Mutter. Diese nämlich starb im Alter von 71 Jahren und acht Monaten.
145 Bd. 11, S. 144, Anm. (Anm. erstmals in: Thomas Mann, Lebensabriß, o. O. [Frankfurt a. M.]: Fischer, o. J. [1954] [Sonderdruck aus: Almanach »Das achtundsechzigste Jahr«], S. 45). 146 Bd. 11, S. 144. 147 Wolf Haas, Das ewige Leben. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2006, S. 45, 97; freundlicher Hinweis von Anna Messmer, Bern, vom 5. Dezember 2009.
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Nimmt man Thomas Manns Rückbindung des eigenen an den Tod seiner Mutter beim Wort, dann erhält die Krebserkrankung von 1946 eine geradezu selbstmörderische Folgerichtigkeit. Seine Bereitwilligkeit, an eine harmlose Diagnose zu glauben, erweist sich dann als desto schlagenderes Beispiel dafür, daß dies ein Glaube gegen besseres Wissen und unbewußte Gewißheit oder doch gewisse Ahnungen der Wahrheit war. Denn nach Aussage ausgewiesener Fachleute und mit aller Vorsicht, die bei solchen Prognosen geboten ist, hätte Thomas Mann ohne den operativen Eingriff, der damals noch ein Novum und nur in den Vereinigten Staaten möglich war, noch ein, zwei Jahre zu leben gehabt. 148 Er wäre dann wirklich nur so alt geworden wie seine Mutter.
2.2 Gottfried Benn: Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke Die Verbindung von Weiblichkeit und Krebstod ist mit dem Nachweis ihrer quellenkritischen und literargeschichtlichen Bedingtheit erst beschrieben; und die eigentliche Frage nach ihrer Bedeutung ist damit nicht beantwortet, sondern nur neu und anders gestellt: Warum konnte Ein Bekenntnis Thomas Mann als eine so ›starke‹ Novelle erscheinen? Weshalb vermochte ihn jene Münchner Anekdote so zu »pack[en]«, daß er sie gleich in sein Tagebuch notieren mußte und sie ihn »sofort produktiv anzog«? 149 Oder wieso war schon Storm für Heyses Kritik so empfänglich? Warum fand er endlich im »›Carcimona [sic!] uteri‹ […] die einzige Krankheit, die ganz für [s]eine Arbeit paßte«? 150 Und warum ließ er dann auch wieder in seiner nächsten und letzten Novelle, dem berühmten Schimmelreiter, eine Frau »de[m] Krebs« erliegen? 151 Gemeinsam ist dem Bekenntnis und der Betrogenen und gemeinsam ist deren literarischen und den anekdotischen Vorgaben die besondere Modalität, unter welcher der Krebs thematisch wird. Es geht jeweils nicht um den Krebs als eine diffus und nur irgendwie »weibliche Krankheit«.152 Es 148 Vgl. Christian Virchow Sen. et al., Thomas Mann (1875–1955) und die Pneumologie. Zur Indikation des thoraxchirurgischen Eingriffs im April 1946, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 122.46, 1997, S. 1432–1437, hier S. 1435. 149 Bd. 11, S. 529. 150 Storm, Brief vom 15. Juli 1887 an Paul Heyse; Storm und Heyse, Briefwechsel, Bd. 3, S. 155 f. 151 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 676. 152 Wolf, Krebs und Gesellschaft, S. 128.
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geht nicht um eine solche Krebspatientin, deren Geschlecht etwas der Krankheit Äußerliches wäre. Thematisch wird jeweils gerade nicht ›der‹ Krebs schlechthin (und schon gar nicht Magen- oder Lungenkrebs). Thema ist nicht eine beliebige, sondern die Krebserkrankung eben eines weiblichen Geschlechtsorgans. Es geht, mit einem Wort, immer ›nur‹ um einen solchen Krebs, den ein ›Mann‹ gar nicht bekommen und der dessen »Männlichkeit« keinesfalls überfordern kann. Aus diesem also im Wortsinn ›präzisen‹, das heißt ausschließenden ›gendering‹ der Krebskrankheit heraus gewinnen die quellenkritischen und literargeschichtlichen Zusammenhänge der Betrogenen überhaupt erst ihre Bedeutung. Die Betrogene läßt so etwas von dem Entsetzen spüren, das diese Krankheit seinerzeit hervorzurufen begann und natürlich noch immer hervorruft. Wenn in den ersten Texten, in denen Krebs das thematische ›predicament‹ deutscher Autoren abzugeben anfängt, die Krankheit ausgerechnet weibliche Geschlechtsorgane befällt, sei es als potentiell heilbare oder als ganz hoffnungslose, dann läuft ihre Assoziation mit dem anderen Geschlecht und ihre ebenso not-wendige Dissoziation von der eigenen, männlichen Körperlichkeit auf ein exorzistisches Manöver hinaus. Die Autoren bannen so die Bedrohung durch die in gewissem Sinn neue Krankheit oder versuchen so wenigstens, diese Bedrohung wider je besseres Wissen aus dem Bewußtsein zu drängen. Daß die Krebskrankheit literarisch so gern an spezifisch weiblichen Körperorganen verhandelt wird, bis in die unmittelbare Gegenwart (Philip Roths Dying Animal zum Beispiel beziehungsweise Isabel Coixets Elegy), hat also Methode und unterliegt einer ganz bestimmten apotropäischen Logik. Um sich davon zu überzeugen, braucht man die literaturgeschichtliche Kontextualisierung wohl gar nicht weiter zu treiben als beispielsweise bis zu Gottfried Benn. Nicht von ungefähr gehörte Benn zu den allerersten Rezipienten der Betrogenen. Er war davon, anders als der Adressat des hier zitierten Briefs, Friedrich Wilhelm Oelze, und anders auch als die überwiegende Mehrzahl der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, hell begeistert: Ein richtiger Reisser. Sicher ein Bombenerfolg. Alle Damen werden sich auf diese Novelle stürzen. Wenn man von dem Lächerlichen dieser gespreizten Affäre absieht, natürlich auch wieder ganz kühn und unterhaltlich. Ein frecher Kerl dieser Th. M. Er kann sich alles erlauben u sein Volk bewundert ihn immer mehr. 153
153 Gottfried Benn, Brief vom 14. Juli 1953 an F. W. Oelze, in: ders., Briefe, hg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Bd. 2.2: Briefe an F. W. Oelze. 1950–1956, Wiesbaden und München: Limes, 1980, S. 174–176, hier S. 174 f.
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Mehr als vierzig Jahre früher hatte Benn selber ein hier einschlägiges und besonders unverfrorenes Gedicht geschrieben: Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke, im März 1912 erstmals in dem Zyklus Morgue und andere Gedichte publiziert, welcher Benn schlagartig berühmt machte und seinen bis heute kanonischen Status begründete. Ob Thomas Mann den Zyklus und das Gedicht direkt oder mittelbar zur Kenntnis nahm, scheint sich nicht mehr ermitteln zu lassen; und dieses hat hier quellenkritisch auch nicht zu interessieren. Sehr wohl aber und desto mehr kommt es in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht in Betracht. Denn es handelt sich bei Benns Krebsbaracken-Gedicht um den einzigen thematisch einschlägigen Text, der im Kanon der deutschen Literatur zwischen Ein Bekenntnis und Die Betrogene zu liegen kommt. Er ist sehr viel verstörender als diese beiden Texte. Er ist es auch für eine Leserschaft, die nichts davon weiß, wie nahe dem Autor der Krebs einer Frau gerade seinerzeit sehr wahrscheinlich gegangen sein muß. In deren Krebsleiden und Krebstod, wie besonders eindringlich Benns nur ein Jahr jüngeres Gedicht Mutter bezeugt, bestand das wohl schwerste Trauma zumindest seiner frühen Jahre. Benns eigene »Mutter«, Caroline Benn, geborene Jequier (übrigens eine Landsmännin von Else Jebe, geborene Füßli), zu der der damals Fünfundzwanzigjährige ein sehr inniges Verhältnis hatte, starb am 9. April 1912 nach einer ersten Operation an Brustkrebs. (Einer weiteren hatte sie sich aus finanziellen Gründen widersetzt.) Sie starb unter schon damals unnötig schweren Qualen. Denn ihr Mann, der Pastor Gustav Benn, war offenbar aus religiösem Rigorismus dagegen gewesen, ihr Morphium zu verabreichen. 154 Wie der Titel des vielleicht nur ganz wenig älteren Gedichts schon besagt – terminus ante quem ist das Publikationsdatum, also März 1912155 –, oder besser: wie schon die Regieanweisung dieses Gedichtstitels besagt, offeriert Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke dem Leser, der Leserin, eine voyeuristische Teichoskopie in die »Baracke«, in der die Krebskrankheit isoliert, marginalisiert, der Neugier sonst gerade entzogen bleibt. (Denn das deutsche Krankenhauswesen, im Unterschied zum französischen oder auch zur Gefängnisarchitektur, war gerade nicht panoptisch. 156)
154 Vgl. Hanspeter Brode, Benn-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München und Wien: Hanser, 1978, S. 29; Fritz J. Raddatz, Gottfried Benn. Leben – niederer Wahn. Eine Biographie, Berlin und München: Propyläen, 2001, S. 14 f. 155 Vgl. Gottfried Benn, Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Schuster, Bd. 1: Gedichte 1, Stuttgart: Klett-Cotta, 1986, S. 354 [Kommentar]. 156 Vgl. Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 228.
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Es handelt sich also, wie auch bei anderen Gedichten des MorgueZyklus und wie ja bereits dessen Titel antizipiert, um eine Bearbeitung der Erfahrung ›Krankenhaus‹. Das Gedicht von der Krebsbaracke ist damit eine frühe Reaktion auf die Institution der modernen Medizin. Als Rollengedicht spielt es an dem Ort, der, so Gerd Göckenjan, »das Versprechen«, die »große[n] Triumphe und Fortschritte« dieser modernen Medizin wie kein anderer »symbolisiert«.157 Etwas genauer gesagt, geht es um den totalen Triumph und die hier absolute Macht des naturwissenschaftlich nüchternen Arztes (mit Heyses Worten: »des hellblickenden Naturkundigen«) über seine in bloße Fälle serialisierbare Patienten-, Patientinnenschaft. Und es geht auch um die wenig triumphalen Seiten der neuen Krankenhausmedizin. Diese trägt hier noch deutliche Spuren ihrer Herkunft aus der Armenpflege und dem Hospitalwesen, die sie offenbar noch bis in die Dreißigerjahre nicht ganz loswerden sollte und die zur Entstehungszeit des Gedichts tatsächlich noch ziemlich ausgeprägt gewesen sein müssen: Etwa vierzig Prozent der Krankenhaus-, man darf also fast sagen: -Insassen waren Sozialfälle, etwa die Hälfte Kassenpatienten. 158 Darin, daß er die zeitgenössische Medizin an ihrem eigentlichen Ort und mit den Konsequenzen vorführt, die sie hier für das Verhältnis von Arzt und Patienten, Arzt und Patientinnen, und für deren persönliche Integrität hat, ist Benn, der bekanntlich selber Arzt war, sehr viel illusionsloser und ›moderner‹, als es Storm je und als es Thomas Mann jedenfalls damals noch war. Zwar hatte dieser ein paar wenige Jahre zuvor den Protagonisten von Königliche Hoheit, dem der »Krankenhaus-Graus etc«159 offenbar immer schon und geradezu programmatisch erspart bleiben sollte, ausgerechnet in einem »Kinderspital« 160 der Deuteragonistin der Liebesgeschichte begegnen lassen. Doch dieses, als Kinderkrankenhaus, das obendrein noch in einer ausgesucht »ärmlichen« »Vorstadt[]« liegt,161 ist der Lebenswelt der intendierten Leserschaft fast ebenso weit entrückt wie dem Milieu des Traum- und Märchenpaars, das sich vor seiner Kulisse zu finden beginnt. Genau zeitgleich aber mit Benns kruder ›Lazarettpoesie‹, 1912, ästhetisierte Thomas Mann im Tod in Venedig das Sterben Gustav von Aschenbachs noch mit allen Mitteln seiner neoklassizistischen Kunst. Gezielt minimierte er das physisch Widerwärtige daran. Als Infektion wählte er, 157 Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 234. Vgl. Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 74–78. 158 Vgl. Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 231. 159 Notizbücher 7–14, S. 91; Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 4.2, S. 348. 160 Bd. 2, S. 207. 161 Ebd.
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gegen seine sonst maßgebliche Informationsquelle, die Cholera sicca, also die ›trockene‹, von keinen Durchfällen begleitete, die dieser Quelle zufolge, und Thomas Mann hat das in seinem Brockhaus-Exzerpt unterstrichen: nur ganz »selten auftritt«. In der Betrogenen jedoch, nachdem er die moderne Krankenhausmedizin am eigenen Leib kennengelernt hatte – allerdings in ihrer seinerzeit avanciertesten Form, als sehr gern gesehener und vermutlich bevorzugter Patient 162 des Billings Hospital von Chicago –, läßt Thomas Mann zum ersten und, abgesehen von jener Begegnung im »Kinderspital«, zum einzigen Mal in seinem literarischen Œuvre den Blick ins Innere eines Krankenhauses fallen. Und zwar fällt der Blick jetzt in ein ganz ›kommunes‹, soll einfach heißen in ein Krankenhaus, aus dessen Einzugsbereich die Leser und Leserinnen sich nicht mehr ausgeschlossen fühlen können oder dürfen, weder kraft ihres Lebensalters noch auch vermöge ihrer Klassenidentität. Es ist ein unverkennbar kritischer, ein schonungsloser, mit Benn wenigstens von fern vergleichbarer Blick. Im Bekenntnis dagegen kommen das Krankenhaus und die »Klinik«, wie sie sich erst zu Storms Lebzeiten etablierten, nur mehr flüchtig vor. Die »Klinik« erscheint als Ort der Ausbildung, der Diagnose eines besonders gelagerten Diphtheriefalls, einer »glücklich« vollendeten Operation. Dabei zwar wird die Patientin sozial nicht weiter spezifiziert. Indessen wird ein zeitgenössisches Lesepublikum die Lücke spontan mit der Annahme sozialen ›handicaps‹ geschlossen haben, wie sich die Unbestimmtheitsstelle übrigens selbst bei streng textimmanenter Lektüre ohne viel Weiteres, sozusagen ex negativo füllen ließe: Operiert Jebe doch am andern Ende seiner Erzählung und in eins damit eben auch der sozialen Skala jene hochgestellte Etatsrätin in ihrer eigenen Wohnung. 163 Ganz anders als noch bei Storm und auch wieder anders als bei Thomas Mann geht es bei Benn um die Repräsentation des Sterbens unter den Bedingungen der großstädtischen Massengesellschaft und der rationell durchorganisierten Spezialistenmedizin: Der Mann: Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich. Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh: dieser Klumpen Fett und faule Säfte 162 Freundliche Auskunft von Christian Virchow Sen., Davos, vom 9. Juni 2009. Vgl. Stuart Schwarzschild, [Artikel:] Health Insurance, in: Encyclopedia Americana. International Edition, Bd. 13, New York: Americana, 1976, S. 912–914. 163 Vgl. Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 100 f.
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das war einst irgendeinem Manne groß und hieß auch Rausch und Heimat. – Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. – Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat so viel Blut. – Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß. – Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher. – Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. – Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft. – 164
»Man« stirbt hier vollkommen anonym. »Man« verliert jede menschliche Individualität und damit auch jeden Anspruch auf Persönlichkeitsschutz, auf Einfühlung, Mitgefühl oder gar Trauer. Die Kranken werden kaltschnäuzig belogen: »Hier schläft man sich gesund. –« Sie sind buchstäblich zu ›hinter‹-letzten Gebrauchsgegenständen – »Bänke[n]« – herabgewürdigt (allerdings auch anästhetisch ruhiggestellt, mit der »Vergünstigung« narkotischer Schmerzlinderung, wie sie Benns eigener Mutter versagt blieb). Hier stirbt »man« seriell. »Man« stirbt im Wortsinn ›reihen‹-weise. Bereits der Titel, das Determinativkompositum »Krebsbaracke«, verweist auf eine schon ganz augenfällige Reihenbildung in der Makroorganisation des Krankenhauses, deren Einheit der nach der Krankheit benannte Pavillon bildet – oder die »Baracke«, wie es mit einem Ausdruck heißt, der an die Entstehung des Pavillonsystems zu erinnern scheint: Denn diese offenbar spezifisch deutsche, allerdings auch an die theoretischen Überlegungen der nachrevolutionären ›architecture civique‹ anschließbare Erscheinung – ein dafür exemplarisches Beispiel ist das Berliner Virchow-Krankenhaus von Ludwig Hoffmann –, 165 welche die spätabsolutistisch-repräsentative Krankenhausarchitektur verdrängte, war praktisch aus den Lazarettba-
164 Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, S. 28; Hervorhebung des Originals. 165 Vgl. Julius Posener, Ludwig Hoffmann, in: Arch+ 53, September 1980: Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur II. Die Architektur der Reform (1900–1924), S. 8–15, hier S. 13.
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racken vor allem des Deutsch-Französischen Kriegs hervorgegangen (welcher der deutschen Medizin überhaupt wichtige Impulse verlieh). 166 Dabei übrigens geht das gleichsam kahle und brutale, so gar nichts beschönigende Wort »Krebsbaracke« nicht etwa auf einen sprachgestalterischen Versuch des Autors zurück, mit den sonst üblichen, den ›klinischen‹ Euphemismen des Krankenhauswesens expressionistisch-provokativ zu brechen. Was am Titel des Gedichts heute so zynisch wirken kann, ist der Zynismus nicht einfach nur eines »Dichters« und Individuums; sondern es ist, wenn schon, der Zynismus einer ganzen Institution, hier konkret der Charité, wo Benn von 1910 bis 1911 als Unterarzt arbeitete: Insofern, aber auch nur insofern trifft zu, was Barbara Schulz Heather von den Zumutungen dieses Gedichts behauptet, indem sie sie insgesamt apologetisch zu neutralisieren versucht: daß »man« hier »nicht von Zynismus oder Zerstörungslust des Dichters sprechen« könne. 167 Die 1903 in Berlin eröffneten »Krebs-Baracken«, deren Baukosten, 44 500 Mark, sich auf einen Bruchteil der sechs- und siebenstelligen Beträge beliefen, 168 die man in andere Charité-Bauten investierte, 169 hießen tatsächlich so. Gerade zu der Zeit, als Benns Gedicht entstand, setzte sich der Ausdruck sogar im offiziell-bürokratischen Sprachgebrauch durch. In den offiziellen Statistiken der Charité-Annalen, wo die entsprechenden Tabellen an allerletzter Stelle erschienen, verdrängte er ab 1911 den älteren Titel »Institut für Krebsforschung«.170 Auf den je vorangehenden Tabellen blieb es hingegen bei ›Instituten‹ und ›Kliniken‹. Und auch faktisch übrigens gab es auf dem Gelände der Neuen Charité sonst so gut wie überhaupt keine anderen ›Baracken‹; abgesehen nämlich, ebenfalls am äußersten Westrand, von einer Tuberkulose- und einer Quarantänebaracke: ein besonders anschaulicher Beleg für die Verwandtschaft zwischen den alten Ansteckungs- und den modernen Krebsängsten, wie sie sich wohl schon im Bekenntnis verrät – in der paradigmatischen Äquivalenz der gemeisterten »Seuchen« und der zunächst »absolut unheilbar[en]« 171 »Abdominal-
166 Vgl. Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 228, 316 f. 167 Barbara Schulz Heather, Gottfried Benn. Bild und Funktion der Frau in seinem Werk, Bonn: Bouvier, 1979 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 251), S. 21. 168 Charité-Annalen 34, 1910, Statistik, S. 78 f. 169 Zu den politischen Hintergründen der Um- und Neubauten vgl. Ernst Peter Fischer, Die Charité. Ein Krankenhaus in Berlin. 1710 bis heute, München: Siedler, 2009, S. 91–98. 170 Charité-Annalen 34, 1910, Statistik, S. 72 f.; Charité-Annalen 35, 1911, Statistik, S. 74 f.; Charité-Annalen 36, 1912, Statistik, S. 76 f.; Charité-Annalen 37, 1913, Statistik, S. 78 f. 171 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 608.
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krankheiten« – und wie sie sich jedenfalls an der Betrogenen geradezu schulbeispielhaft nachweisen läßt.172 Das alles, die dürftige und grobschlächtige Architektur, die topographische Marginalisierung, die Rand- und Schlußstellung der betreffenden Statistik, hat zunächst natürlich und ganz konkret damit zu tun, daß in den Krebsbaracken vergleichsweise sehr wenige Patienten und Patientinnen lagen und daß die Onkologie etwa gegenüber den Infektionskrankheiten in den statistischen Erfassungen quantitativ noch längst nicht wirklich ins Gewicht fiel. Es läßt sich aber doch auch kaum von dem dissoziieren, was aus dieser Statistik und ihren horrenden Mortalitätsquoten qualitativ hervorgeht. Es gibt wohl etwas zu erkennen von einer, bemessen nach den Fortschritten etwa der Bakteriologie oder der Chirurgie, stupenden Ratlosigkeit der ›Forschung‹ – ein für die »Krebs-Baracken« vielleicht nicht zufällig fallengelassener Namensbestandteil und jedenfalls ein sehr sinnigerweise aufgegebener Anspruch. Das Prinzip der Serialität und hier zugleich der Marginalisierung, in dem sich die disziplinargesellschaftliche Macht und Gewalt über das anonymisierte Sterben behauptet, setzt sich dann in der Mikrostruktur der einen »Krebsbaracke« fort. Die »Reihe[n]« sind ›organisiert‹ nach weiblichen Unter- und Oberleibsorganen. Deren Benennungen wiederum sind ihrerseits, so soll es offenbar scheinen, mit einer gewissen Genüßlichkeit allesamt epiphorisch exponiert und obendrein sorgfältig zu einem Chiasmus arrangiert: »Schöße« – »Brust« – »Brust« – »Schoß«. Und den Katalog der krebsbefallenen Organe rhetorisch noch weiter auszuschmücken, darin wird der Zweck der einzigen Änderung gelegen haben, die Benn in späteren Ausgaben, seit 1927, am Wortlaut des Gedichts vornahm (also nicht bloß, wie in der Ausgabe letzter Hand von 1956, an der Interpunktion, den ehedem zeittypisch inflationierten Gedankenstrichen 173). Im ersten Vers nämlich änderte er das Adjektiv »zerfressen[]« in »zerfallen[]« und glich es so dem folgenden Vers an: »zerfallene Schöße« – »zerfallene Brust«. 174 Überhaupt wird die Reihenbildung sprachlich-autoreferentiell vollzogen, mitvollzogen. Weit über die Iterativität hinaus, wie sie natürlich schon durch die vergleichsweise strenge 175 Vers- und Strophenform ge172 Vgl. Elsaghe, »›Merde!‹ […] und ›Hol’s der Geier!‹«, S. 158. 173 Vgl. Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, S. 514 [zu S. 28]. 174 Gottfried Benn, Lyrik. Auswahl letzter Hand, Wiesbaden und München: Limes, und Zürich: Arche, 31956, S. 24 f.; im Original keine Hervorhebung. 175 Vgl. Werner Hahl, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke von Gottfried Benn – eine Replik auf Goethes Elegie Die Metamorphose der Pflanzen?, in: Jahrbuch des Wiener GoetheVereins 99, 1995, S. 18–36, hier S. 23; Ortrun Riha, Lyrik und medizinethischer Diskurs.
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geben ist, also unter nicht unerheblichem poetischen Mehraufwand, den Benn hier bei allem expressionistischen »Erde ruft«-Lakonismus doch betrieben haben muß, erscheinen Serialisierung und Ordnungswille auch auf der Ebene der Signifikanten (zum Beispiel im virtuellen Polyptoton: »Bett stinkt bei Bett«; oder in den Vers- und Strophenanaphern, deren erste das Gedichtsganze regelrecht strukturieren, die deiktischen Ortsangaben am Anfang der ersten, der letzten und der mittleren Strophe – und in deren Innerem wegen der eigenwilligen Absetzung eines Halbverses ›fraktal‹ nochmals wiederholt –: »Hier« – »Hier« – »Hier« – »Hier«; »Komm« – »Komm«; »Fühlst« – »Fühl«.) ›Gegenstand‹ und Material der institutionellen und in eins damit eben auch poetischen Verfügungsgewalt sind weibliche Körper. Benns »Krebsbaracke« ist immer schon und immer auch eine Frauenabteilung. So eindeutig wie bei Storm und Mann, nur mit sehr viel offensichtlicherem Sadismus, der seinesgleichen etwa in Charles Baudelaires Une charogne fände, 176 wird der Schrecken der Krankheit besänftigt, indem diese als Krankheit nur des einen Geschlechts erscheint. Wieder bleibt die Krankheit auf dieses eine, eben auf das ›andere‹ Geschlecht begrenzt. Es ›zerfallen‹, ›faulen‹ und ›stinken‹ hier krebskranke Patientinnen. Und dieses ›gendering‹, wie allein schon Storms Biographie lehren könnte – auch Benn übrigens sollte an Krebs sterben 177 –, ist nicht oder nicht einfach bloß als ›Widerspiegelung‹ landläufiger Vorstellungen zu erklären, denen zufolge Krebs seinerzeit »noch eine typische Frauenkrankheit« 178 gewesen sein soll und die gegebenenfalls ihrerseits nur wieder als Teil und Effekt solcher Besänftigungsversuche zu verstehen wären. Vor allem anderen aber erstreckt sich die Macht oder das Machtgefälle der Geschlechterdifferenz hier über das ›gendering‹ der also ostentativ wieder ›weiblichen‹ Krankheit hinaus auf die Kommunikationssituation des Rollengedichts. Die Rollen- und Redekonstellation entspricht von fern der, die mit dem Erstpublikationsorgan beziehungsweise mit dem Paratext des Bekenntnisses inauguriert gewesen sein kann, einem Familienblatt beziehungsweise einer Buchwidmung an die »liebe[] Tochter«. Und auf jeden Zwei Gedichte über das Sterben: Gottfried Benn, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke und Rainer Maria Rilke, aus dem Stunden-Buch III: Von der Armut und vom Tode, in: Giovanni Maio und Volker Roelcke (Hgg.), Medizin und Kultur. Ärztliches Denken und Handeln im Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Festschrift für Dietrich von Engelhardt, Stuttgart und New York: Schattauer, 2001, S. 186–200, hier S. 188, 193. 176 [Charles] Baudelaire, Une charogne, in: ders., Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, Bd. 1, o. O.: Gallimard, 1975 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 31 f. 177 Vgl. Raddatz, Gottfried Benn, S. 252, 254; Gunnar Decker, Gottfried Benn. Genie und Barbar. Biographie, Berlin: Aufbau, 2006, S. 493. 178 Riha, Lyrik und medizinethischer Diskurs, S. 189.
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Fall entspricht sie sehr genau den Vorstellungen, die sich Benn von der Rezeptionsgeschichte der Betrogenen machen sollte (ohne sie damit allerdings richtig zu prognostizieren. In Wahrheit sollte sie aus den verschiedenen Gründen, die Latta eruiert hat, ganz anders und ziemlich ungünstig verlaufen.) Benns Vorstellungen von der Erfolgsgeschichte »diese[r] Novelle« stimmen erst ganz am Schluß des betreffenden Briefzeugnisses und nur in zweiter Linie mit dem Bild überein, das »dieser Th. M.« selber von seinem Verhältnis zu seinem Publikum hegte (genauer gesagt spätestens seit Anfang seines Exils 179). Das Selbstbild Thomas Manns war natürlich das eines praeceptor patriae, der »sein[em] Volk«, wie er es am unverstelltesten in seinen Radioansprachen an die »Deutsche[n] Hörer!« tat, 180 gehörig die ›Leviten‹ lesen konnte: »Er kann sich alles erlauben u sein Volk bewundert ihn immer mehr.« Sehr viel gewichtiger aber als solch ein intranationales oder auch pseudofamiliales Interaktionsmodell zwischen dem paternalen Autor und »sein[em] Volk« ist für Benn ein sexueller Faktor. Mit wenig verhohlenem (wenngleich eben de facto eher unbegründetem) Neid führte Benn ja den als ganz »[s]icher« angenommenen »Bombenerfolg« »diese[r] Novelle« auf ein bestimmtes und ad nauseam bekanntes Klischee der Geschlechterdifferenz zurück. Dieses zeigt sich schon an dem männerbündisch-militaristischen Jargon, den Benn hier aufbietet. Der »kühn[e]« und »freche[] Kerl« mit seinem, und hier fällt Benn sogar noch ins Stabreimen, »richtige[n] Reisser« werde vor allem die »Damen« ansprechen. »Alle Damen« haben keine andere Wahl, als nach so einem bombenmäßigen »Kerl« schlechterdings zu gieren. Auf seinen »Reisser« werden sie sich ausnahmslos nur so »stürzen« müssen. In Benns zumindest latent sexueller und jedenfalls patent sexistischer Phantasie gestalten sich Produktion und Rezeption von Literatur also in erster Linie als Verführungsspiel; als Überwältigung der Frau durch den Mann; oder immerhin als eine Szene, die wesentlich an der und über die Geschlechterdifferenz hinüber spielt beziehungsweise den Vorstellungen unterliegt, die Benn und seinesgleichen von der Geschlechterdifferenz hatten und haben. Die »Frau« wird sich den männlichen Text willig anhören, ihn noch so gerne in sich aufnehmen, solange er nur anzüglich und schlüpfrig genug ist, und sei er sonst auch noch so »gespreizt[]« und »[l]ächerlich[]« oder auch zynisch und entsetzlich.
179 Vgl. Elsaghe, Zu Thomas Manns ›mythischer‹ Selbstidentifikation mit Goethe in Lotte in Weimar, S. 175. 180 Bd. 11, S. 986.
Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke
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Dieselbe oder eine doch analoge Rollenkonstellation, wie man sie ja auch aus der Publikationsgeschichte von Storms Bekenntnis supplieren kann, hatte Benn ganz offensichtlich schon in seinem eigenen Text zusammenphantasiert. Es ist »Der Mann:/«, der hier spricht. Darin besteht ja die überhaupt erste Information des Gedichts. Sie ist wichtig genug, um in dessen sämtlichen Druckfassungen eine ganze, eine eigene, eben die allererste Textzeile einzunehmen. Und Benn hat diese typographische Emphase der Rollenzuteilung offenbar eigens gesucht und gewollt. Denn die kolometrische Absetzung der Sprechermarkierung geht auf den nota bene einzigen Eingriff zurück, den er bei der Drucklegung des hier noch fortlaufenden Manuskripts vornahm beziehungsweise autorisierte (abgesehen allenfalls von ein paar wenigen orthographischen Veränderungen). 181 »Der Mann« scheint hier, schon sein Wissensvorsprung suggeriert es, als ein denkbar typisches Exemplar des ›neuen‹ Arztes zu sprechen. Zum Sprechen ermächtigt scheint er von einer Institution der modernen Disziplinar- oder Kontrollgesellschaft zu sein. Er spricht, auch das muß schon im Paratext sichergestellt werden, zu einer »Frau«. Und zwar spricht er fast durchgängig im modus imperativi zu ihr (»Komm, hebe« – »Sieh« – »Komm, sieh« – »Fühl«). Es spricht einer, der in jedem Wortsinn nicht ›betroffen‹ ist, von den hier paradierten Krebsformen betroffen gar nicht sein kann; und er spricht zu einer, die es sehr wohl einmal sein könnte und die sich nach allen Regeln menschlicher Empathie mit den Patientinnen identifizieren muß. Sie scheint denn wirklich verängstigt und verschüchtert zu sein. Das jedenfalls suggerieren die gleichsam kontraphobischen oder sedativen Adverbien, mit denen der »Mann« seine Imperative zu versehen ›geruht‹: »Fühl ruhig«, »hebe ruhig«. Er ist sich ›auch‹ nicht zu schade, ihr eine solche Identifikation mit den Krebsopfern durch ein Adverb ausdrücklich noch nahezulegen. Nicht umsonst hat Benn dieses Adverb im Manuskript unterstrichen182 und es im Erstdruck durch Sperrsatz hervorheben lassen, und zwar als einziges Wort des ganzen Gedichtstexts: 183 »auch«. Der Sinn des Adverbs und der Zweck seiner starken Betonung kann doch wohl nur der sein: »Der Mann« gibt ›der‹ Frau so zu verstehen, daß die Krankheit »auch« sie entstellen, »auch« ihre primären Geschlechtsmerkmale jederzeit verheeren kann, die 181 Vgl. Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, S. 513 f. [zu S. 28]. 182 http://www.litde.com/literatur-des-expressionismus/einzelanalysen-reprsentativer-werke/ gottfried-benn-mann-und-frau-gehn-durch-die-krebsbaracke.php (22. April 2009); ohne weiteren Nachweis. 183 Vgl. Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, S. 28 [Erstdruck in: Gottfried Benn, Morgue und andere Gedichte, Berlin-Wilmersdorf: Die Aktion, 1912].
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ihn vorderhand freilich offenbar noch ›berauschend‹ einnehmen und ›heimatlich‹ anmuten: »dieser Klumpen Fett und faule Säfte / das war einst irgendeinem Manne groß / und hieß auch Rausch und Heimat.« Benns also durch und durch sadistisches Rollenarrangement steht nun aber zynischer-, noch zynischererweise in einer bestimmten literarischen Tradition. Es gehört in ausgerechnet die Tradition der deutschen Literatur, auf deren Bildungsgüter sich in der Betrogenen der ›alte‹ Arzt Oberloskamp im direkten Faust-Zitat noch talia qualia beruft beziehungsweise ehedem einmal berufen sollte. Die Bezüge nämlich nicht einfach nur zur Lehrdichtung, sondern insbesondere zu Goethe und seiner Metamorphose der Pflanzen deutlich herausgearbeitet zu haben, darin besteht das Ergebnis einer intertextuellen Lektüre, der Werner Hahl Benns Gedicht unterzogen hat. 184 Goethes besondere Ausformung des klassischen Lehrgedichts, in der die Belehrung der »Frau« und »Geliebte[n]« 185 durch den wissenden »Mann« immerhin noch dessen ›liebende‹ Zuwendung und nicht einfach nur sexuelles Begehren zum Ausdruck bringt, hat Benn ins Sarkastische verzeichnet. Er hat sie dabei freilich nur so weit pervertiert, daß, wer denn um jeden Preis so lesen will, in seinen Versen, ›Per-Versen‹ sozusagen, offenbar noch immer ein »modernes Liebesgedicht« 186 oder allen Ernstes ein »didaktisch aufgeladene[s] Liebesgespräch« 187 sehen kann. Und gerade in ihrer Perversion und Überzeichnung wird die besondere Wendung, die Goethe der Gattung gegeben hat, doch auch wieder durchsichtig gemacht auf die bereits hier, in Goethes Lehrgedicht, wirksamen Mechanismen der Geschlechterdifferenz, des Geschlechterkriegs oder Geschlechterterrors.
184 Vgl. Hahl, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke von Gottfried Benn, S. 27–29. 185 Johann Wolfgang von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 1, S. 290–292, hier S. 290. 186 Peter Rühmkorf, Ein modernes Liebesgedicht, in: ders., Strömungslehre I. Poesie, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1978, S. 151–154. 187 Walter Delabar, Inversionen des Begehrens. Gottfried Benns Morgue, in: ders. und Ursula Kocher (Hgg.), Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk, Bielefeld: Aisthesis, 2007 (Moderne-Studien, Bd. 2), S. 13–35, hier S. 31.
3 Zur Topographie des Handlungsorts 3.1 Die territoriale Verdrängung der Krankheit im Vergleich mit Storms Bekenntnis Derselben oder einer ähnlichen apotropäischen Mechanik, welcher das ›gendering‹ der Krebskrankheit von Storm über Benn zu Thomas Mann und bis in die Gegenwartsliteratur unterliegt, folgen die räumlichen Arrangements der Betrogenen wie auch wieder bereits des Bekenntnisses. Denn Thomas Mann situiert die Handlung der Betrogenen ausnahmsweise ganz am Westrand des deutschen Territoriums, in einer nirgendwo sonst in seinem Werk je in Betracht gekommenen Stadt. Läßt er also ausgerechnet eine »Rheinländerin von Geblüt und Mundart« 1 an Krebs erkranken, so leidet und stirbt bei Storm eine solche Frau an Krebs, deren »Geblüt« und »Mundart« ihrerseits auf die Peripherie des ›deutschen‹ Territoriums oder sogar über dieses hinaus zeigen. Ihre kulturelle Identität schillert der ›deutschen‹ gegenüber in einer vergleichbaren, aber noch ausgeprägteren Ambivalenz. Ihre nationale Herkunft bleibt in einer vollen Bedeutung des Worts, das im Zusammenhang mit ihr auch fällt, »unheimlich«.2 »Else oder Elsi, wie sie genannt« wird 3 – und die Affinität der standarddeutschen Namensform zur »Elbe« 4 und »Elfe« 5 entspricht dem Undinen- und Feenmäßigen 6 der Gestalt –, diese »Waise«, 7 deren »Mutter« zumindest ausdrücklich »längst verstorben[]« ist, 8 stammt bei aller fast märchenhaften Vagheit ihrer Art und Herkunft (»wer weiß woher« 9) geographisch konkret doch aus der Schweiz. Genauer gesagt kommt sie aus der 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Bd. 8, S. 877. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 605. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 594. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 595. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 602. Vgl. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 595. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 593. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 602; im Original keine Hervorhebung. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 593.
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Topographie des Handlungsorts
Deutschschweiz. Diese Herkunft, oder wieder genauer gesagt: deren wenigstens patrilineare Fixierbarkeit verrät schon ihr Mädchennachname, »Füßli«. Das muß bei der ersten Nennung dieses Geschlechtsnamens eigens hervorgehoben werden: »Else Füßli; wie Sie dem Namen anhören, eine Schweizerin«. 10 Die ›Swissness‹ des Namens wird durch das stereotypischste aller hierfür einschlägigen Namenssuffixe konnotiert, das auch Thomas Mann wiederholt aufgeboten hat, um Schweizer ex nomine zu kennzeichnen, so bei »Isaak Stürzli« 11 oder bei »Jakob Nägli«, 12 ein erkennbar frei erfundener Name (belegt ist und zu erwarten wäre ›Nägeli‹). 13 Im Unterschied aber zur ziemlich offensichtlichen Fiktionalität solcher Namen und weit über die Namensstereotypie hinaus scheint Storm den ›Realismus‹ der Figur eigens verbürgen zu wollen. Die nationale Identität der »Schweizerin« wird genealogisch-historisch beglaubigt. Else Füßli soll einen berühmten »Großoheim« 14 haben, der, ungeachtet dieser eigentlich matrilinearen Verwandtschaftsbezeichnung, doch auch denselben Familiennamen trägt wie sie. Sie soll »aus der Familie« stammen, »der auch Heinrich Füßli angehörte, dem zuerst die Darstellung des Unheimlichen in der deutschen Kunst gelang«. 15 (Darüber belehren Jebe und sein Freund Wilm dessen Frau ausgerechnet anhand »jene[s] Füßlischen Nachtmar[s]«, 16 von dem ein sinnreicher Zufall will, daß er sich auch auf dem Cover des Buchs wiederfindet, Elisabeth Bronfens Over her Dead Body, worin erstmals die in Storms Novelle ablaufende Exorzifikationsprozedur systematisch beschrieben wurde, wenn auch in Absicht weder auf diese Novelle noch auch überhaupt nur auf Storm noch auf Benn noch auf Mann: daß eben das Sterben ›der‹ Frau ästhetisch ›den‹ Mann von seiner Todesangst ablenkt und entlastet.)
10 11
12 13 14 15 16
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 592. Bd. 7, S. 333; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Yahya Elsaghe, »Gute Augen, […] gute Rasse«. Zur Aufwertung des Schweizer-Stereotyps in Thomas Manns Spätwerk, in: German Quarterly 74.3, 2001, S. 280–295, hier S. 281. Nach Pabst, Thomas Manns Lissabon, ist der Name dem seinerzeit schon weltbekannten Markennamen »Sprüngli« nachgebildet. An literarischen Vorbildern käme wohl v. a. »Strömli« in Kleists Verlobung in St. Domingo in Frage: Heinrich von Kleist, Die Verlobung in St. Domingo, hg. v. Roland Reuß, Basel: Stroemfeld, und Frankfurt a. M.: Roter Stern, 1988 (Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe, Bd. II.4), z. B. S. 29. Bd. 6, S. 246; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Yahya Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen, Köln et al.: Böhlau, 2004 (Literatur – Kultur – Geschlecht, Große Reihe, Bd. 27), S. 20 f. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 592. Ebd. Ebd.
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Und außer dem ›unheimlich‹ bekannten Vorfahren großmütterlicherseits, Johann Heinrich Füßli, soll Else auch noch patrilinear einen politisch-historisch aktenkundigen Aszendenten gehabt haben (der sich tatsächlich ebensowenig nachweisen läßt wie eine Else Füßli selber). Ihr Vater habe »nach den Sonderkriegen auf eidgenössischer Seite sich hervorgetan«, 17 soll wohl heißen: nach dem heute wie eh und je so genannten ›Sonderbundskrieg‹ von 1847, dessen Allianzbildung und Verlauf mit der seinerzeit jüngsten deutschen Vergangenheit einige Gemeinsamkeit aufweist (vor allem in Hinblick auf Konfessionskonflikt und ›Kulturkampf‹). Dabei bleibt freilich unklar, wie, beziehungsweise ist vielleicht symptomal interpretierbar, daß ein Füßli »nach« 1847 noch einer »eidgenössische[n] Seite« angehören konnte: nachdem die Parteiungen des Bürgerkriegs sich so gut wie erübrigt hatten. Symptomatisch wird diese Unklarheit dann, wenn man den sie erzeugenden Widerspruch der temporalen und der lokal-modalen Angaben als Ausdruck einer Vorstellungskontamination interpretiert. In ihrer lokalmodalen Spezifikation, weil sie sehr viel genauer zu den historischen Umständen vor dem Friedensschluß zu passen scheint, wäre Füßlis zivilistische Profilierung dann kontaminiert mit einem Rest der archetypisch-ältesten Vorstellung männlicher Selbstbewährung, einer Bewährung im Krieg. Und diese Oszillation zwischen ziviler und heroisch-militärischer Verdientheit antizipiert etwas von der Anlage des Protagonisten, der als Elses ›Herr‹ in Vater Füßlis Position einrückt. Indem er in der Handlung des prototypischen ›Arztromans‹ eine Rolle spielt, die Heyse in Auf Tod und Leben noch mit einer im eigentlich-martialischen Sinn heldenhaften Figur besetzte, trägt Jebe trotz und vermöge seines zivilistischen Berufs eben durchaus noch heroische Züge. Diese unterscheiden ihn von fast allen, genau gesagt von allen deutschen Ärzten Thomas Manns. Er muß nicht etwa kläglich versagen, sondern darf vielmehr, in verhängnisvolle Umstände verstrickt, noch »tragisch scheitern[]«. 18 Ihrer also auch genealogisch mehrfach markierten Nationalidentität ent-›sprechend‹ weisen Else Füßlis direkte Reden denn auch dialektale Eigentümlichkeiten auf. Deren Klischiertheit allerdings fällt noch tief unter das Niveau des stereotypen Namens oder des vage bis falsch aufgebotenen »Sonderkriege[s]«. Elses Reden lassen damit etwas von der Realitätsferne erkennen, welche dem deutschen Heterostereotyp ›des‹ Schweizers mitunter bis heute eignet. Teils handelt es sich bei den zitierten Barbarismen um nur allgemein oberdeutsche, also keineswegs typisch schwei17 18
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 593. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 164.
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zerische Formen – so bei der Apokope »Freud« 19 –, teils auch um eindeutig nicht schweizerdeutsche oder eben nur pseudohelvetizistische Abweichungen vom Standard. So etwa wird Else zur Anrede ihres Gatten ein am ehesten wohl noch schwäbischer oder fränkischer Kosename in den Mund gelegt: »Franzele«. 20 Solche Verwechslungen und Ungenauigkeiten, die selbstgenügsame Ignoranz oder auch Arroganz, die aus ihnen spricht, in bezug schon nur auf die allernächste Nachbarschaft und deren Alterität, läßt sich natürlich leicht in Beziehung setzen zu der im imperialistisch großen Stil anmaßlichen Attitüde, mit der am Ende des Texts ein diffuses, es wäre übertrieben zu sagen: Halbwissen von irgendwelchen »Orten« in »Ostafrika« zum besten gegeben wird.21 Desto bezeichnender – sei es für die Sensibilität gegenüber innerdeutschen Sprachvarietäten oder sei es auch für ein grundsätzlich neu gewonnenes Verhältnis zum ›Anderen‹ – ist die Gründlichkeit und Akribie, mit der Thomas Mann die Varietät seiner Protagonistin recherchiert hat. Für die Eigenarten des Rheinländischen und Düsseldorferischen zog er, neben jenem Merian-Heft über Düsseldorf, vor allem in seiner Bekannten Grete Nikisch eine ›native speaker‹ zu Rate. In der Folge solcher Recherchen erscheinen rheinische Wendungen, Vokabeln und Formen denn ziemlich häufig. Die »Mundart« der »Rheinländerin« wird hierbei selber thematisch als Teil von Rosalies Naturnähe und Naturfrömmigkeit und zur Abgrenzung gegen die Intellektualität ihrer Tochter.22 Daß hier wie dort aber, integriert in den standardsprachlichen Text des je männlichen Autors, die direkten Reden der Frau mehr und minder elaborierte Dialektvarietäten aufweisen, ist ein besonders deutlicher Ausdruck einer beiden Texten gemeinsamen Tendenz. In beiden wirkt offenbar ein Wunsch, die Krebskrankheit mit dem nicht nur sexuell, sondern eben auch räumlich und kulturell Anderen zu verbinden. Dabei ist dieses Andere, und hierauf beruht ja seine leichte Integrierbarkeit in den ›master discourse‹ des Sprachstandards, nur eben ein sozusagen nächstes Fremdes. Die also angestrengten Assoziationen der Krankheit mit dem auch national beziehungsweise regional und dialektal Differenten erklären sich insofern von selbst, als hier die räumliche Bildlichkeit der psychoanalytischen Terminologie durchschlägt oder zum Tragen kommt. Man kann der ›Verdrängung‹ der Krebsangst aus dem je Eigenen hier förmlich, eben gewissermaßen auf der Landkarte zusehen. Eine Gegenprobe auf diesen Verdrängungsmechanismus kann man übrigens an Storms Schimmelreiter 19 20 21 22
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 600. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 602. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 631 f. Vgl. Bd. 8, S. 891.
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machen, und sei es auch auf die Gefahr einer allzu autorzentrierten und biographistischen Leseweise hin. Im Schimmelreiter wie gesagt befällt der Krebs zwar wieder eine Frau. Aber bei der Gelegenheit, das heißt zu einer Zeit, da sich Storm davon nicht mehr betroffen glaubte, glauben mußte, glauben wollte, wird die Krankheit nun weder national noch auch nur regional ausgegrenzt. Sondern sie erscheint jetzt ›miasmatologisch‹ geradezu als Spezifikum der eigenen Heimat und Heimatregion, als »Krankheit unserer Marschen«. 23 Eine nicht unwichtige Nuance allerdings, die Storm und Mann trennt, besteht darin, daß die Verdrängungsleistung im Bekenntnis noch vollständiger gelingt als ein Menschenalter später in der Betrogenen. Die Fremdheit der Kranken ist hier, in Ein Bekenntnis, eine im genauen Sinn nationale, staatliche; mag der angrenzende Nationalstaat mit dem eigenen, jüngeren, auch etliches gemeinsam haben (die Sprache, die konfessionellen Spannungen). In der Betrogenen aber wird die nationale Grenze schon nicht mehr oder doch nur eben ›tangiert‹. Krank wird hier eine deutsche, allerdings keine »Münchener Aristokratin« mehr; gleichgültig, ob es sich dabei nun gegenüber Hedwig Pringsheims (vielleicht auch noch Katia Manns) Erzählung von jener »Österreicherin aus guter Familie« um eine desto bezeichnendere Fehlleistung handelt oder ob die Stadt München, in der die »Österreicherin« damals offenbar lebte, deren Nationalidentität in Thomas (oder Katia) Manns Vorstellung gewissermaßen metonymisch zu überformen vermochte. Obwohl der anekdotische Kern der Betrogenen also mit jener Österreicherin eine Form von Alienität schon vorgegeben hätte, die der nationalen Fremdheit von Storms Krebspatientin ziemlich nahekommt, Else ›Elsi‹ Füßli, wird in der Betrogenen die deutsche Grenze durch die Herkunftsgeschichte der Hauptfigur nicht mehr überschritten. Aber auch nur schon daß Thomas Mann die Krankheit aus München, wo sie ja in der Anekdote und seiner Erinnerung nach situiert war, westwärts verlegt hat, versteht sich durchaus nicht von selbst. Denn München und Bayern, von Österreich ganz zu schweigen, 24 bieten in seinen literarischen Pathographien sonst durchaus und sogar immer wieder Raum für bedenkliche Ereignisse. Nach München und Bayern übersiedelt beispielsweise der Syphilitiker Leverkühn nach seiner Ansteckung im Ausland, um hier auch noch 23 24
Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 676; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Bd. 9, S. 266: »das Marschenübel«. Vgl. Yahya Elsaghe, Zur Imagination der deutschen Reichsgrenze. Thomas Mann als Angehöriger der ersten Generation nach 1871, in: Gerhard Neumann und Sigrid Weigel (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München: Fink, 2000, S. 305–321.
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andere in den Tod zu ziehen. 25 Dabei kann es nicht nur vorkommen, sondern ist es fast schon die Regel, daß die Stadt und die Region mit der eigentlichen Fremde und dem ›Wild‹-Fremden virtuell identifiziert werden. Am Münchner Nordfriedhof zum Beispiel, noch dazu bei einem »byzantinische[n] Bauwerk« und an der »Ungererstraße«,26 beginnt Gustav von Aschenbachs Reise in den Choleratod. München ist also in Thomas Manns Geographie der Krankheit, des Sterbens, aber auch des sexuellen Begehrens sehr eindeutig besetzt. Es hätte sich von dieser imaginären Kartographie her für ein Geschehen, wie es die Anekdote von der »ältere[n] […] Aristokratin« vorgab, als denkbar geeignete Kulisse anbieten können, ja geradezu aufdrängen müssen. Die Verlegung der Handlung ist aber sozusagen auch von der anderen Seite her erklärungsbedürftig. Sie ist um so erklärungsbedürftiger, als auch der Zielort der Verlegungsbewegung wie schon gesagt innerhalb von Thomas Manns Erzählwerk vollkommen singulär ist.
3.2 Düsseldorf und die Aussparung von Großstadt und Industrie Ursprünglich war das »Häuschen« der von Tümmlers noch nicht einmal diesseits des Rheins situiert, nicht »zu Düsseldorf, am Rhein«, 27 »nahe dem Hofgarten«,28 an der »nach Peter von Cornelius benannten Villenstraße«. 29 Sondern ehedem sollte es in einem linksrheinischen Vorort stehen, an »einer Villenstraße in Meererbusch«, heute Meerbusch, bei Büderich. Und die symbolisch-geographisch besondere, eben linksrheinische Lage dieses ursprünglichen Wohnorts, den er »nachträglich« und nur aus äußeren Gründen aufgegeben zu haben scheint – weil er ihm nämlich »vom Centrum ein bißchen zu weit« entfernt lag –, 30 war Thomas Mann nachweislich vollkommen bewußt, obwohl oder gerade weil Meerbusch und Büderich auf seiner im Nachlaß erhalten gebliebenen Landkarte fehlten. Denn eben deshalb hatte er sich bei Grete Nikisch eigens nach der genauen Lage von 25 26 27 28 29 30
Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 81–90. Bd. 8, S. 445; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 249–251. Brief vom 9. Februar 1953 an Rudolf Oberloskamp, in: Thomas Mann, Briefe, hg. v. Erika Mann, Frankfurt a. M.: Fischer, 1961–1965, hier Briefe 1948–1955 und Nachlese, S. 290. Bd. 8, S. 877. Brief vom 9. Februar 1953 an Rudolf Oberloskamp; Briefe 1948–1955 und Nachlese, S. 290.
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Büderich erkundigt 31 und den Ort auf dieser Karte eigenhändig eingezeichnet. Er wußte also sehr genau, wo Meererbusch lag – eben westlich des Rheins als einer für die kollektiv-imaginäre Abgrenzung von Frankreich so wichtigen Naturgrenze. Und noch im Manuskript führte er immerhin die »Spazierwege« von Mutter und Tochter auf linksrheinisches Gebiet, »über die Brücke nach Niederkassel« (beziehungsweise, in einer noch älteren Lesart: »gegen Schloß Benrath oder Kaiserswerth«). So oder so versteht sich die Verlegung des Geschehens in den äußersten Westen des nationalen Territoriums als solche nicht von selbst. Aber immerhin ist sie innerhalb des Gesamtwerks nicht ganz beispiellos, besonders wenn man sie neben die beiden berühmten Romane hält, die Thomas Mann im Umkreis der Betrogenen schrieb beziehungsweise fortsetzte, den Doktor Faustus und die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Im Felix Krull bilden bekanntlich »Rheingau«, Mainz und erratbar Eltville 32 wenigstens den – freilich nach wie vor rechtsrheinischen – Ausgangsraum des erzählten Lebenslaufs. Und in einer handschriftlichen Variante zum Doktor Faustus und zu Adrian Leverkühns Brentano-Vertonungen gibt Köln den Anfangspunkt von deren, man kann hier noch schlecht sagen: Aufführungsgeschichte ab: »1920 brachte der Kölner Rundfunk sie lobenswert zu Gehör« (strenggenommen – und das erklärt, warum Thomas Mann das mediengeschichtlich leicht verfrühte Ereignis dann fallen ließ – drei Jahre bevor es im Deutschen Reich »Rundfunk« überhaupt gab; 33 wobei dessen Beginn also sinnigerweise exakt mit der erzählten Zeit zusammenfällt, zu der die »Des-Dur-Arie der Delila« im Doktor Faustus oder in Unordnung und frühes Leid der »Fürst von Pappenheim« ihrerseits durch ein tertiäres Medium »zu Gehör« gebracht werden). Doch nirgends, aber auch gar nirgends sonst spielen Düsseldorf und seine Umgebung bei Thomas Mann eine auch noch so marginale Rolle. Selbstverständlich blieb diese Besonderheit in der Forschung nicht unbemerkt. Man hat sie, wie in der Thomas Mann-Literatur üblich, biographisch erklärt. 34 Das lag und liegt um so näher, als der stark autobiographische Einschlag gerade auch dieser Novelle schwer zu bestreiten wäre und der reale Autor der Protagonistin in vielem ›hautnah‹ verwandt ist:
31 32 33 34
Brief vom 2. Februar 1953 an Grete Nikisch; Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/III: 1944–1955, S. 513. Bd. 7, S. 266. Vgl. Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz: UVK, 22004, S. 19, 31 f. Vgl. Hans Mayer, Thomas Mann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, S. 417–426; Vaget, Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 298; Rütten, Zu Thomas Manns medizinischem Bildungsgang im Spiegel seines Spätwerks, S. 249, Anm. 32.
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von den »Hautverfärbungen« 35 auf ihren Handrücken – wogegen mit sehr bezeichnendem Bruch der sonst konsistenten Vergangenheitsform »noch kein Mittel gefunden ist« 36 – bis zu dem »Kölnische[n] Wasser von J. M. Farina«, das sie allein unter allen »[f]abrizierte[n] Riechstoffe[n]« 37 verwendet (und dessen Benutzung durch Thomas Mann selber übrigens genauso zu dessen Goethe-Imitatio gehört wie, um etwas vorzugreifen, sein besonderes Interesse am Märchen von Amor und Psyche38). In Düsseldorf, und zwar an derselben »nach Peter von Cornelius benannten Villenstraße«, an der die von Tümmlers wohnen sollen, lebte seinerzeit, als Thomas Mann ihn im Sommer 1927 in Kampen auf Sylt kennenlernte und hier in Düsseldorf wiedersah, Klaus Heuser. Dessen Vater unterrichtete noch dazu (sozusagen als Kollege »Professor Zumsteg[s]« 39) seit 1926 an der Kunstakademie, um derentwillen Anna von Tümmler hierher gewollt haben soll. Thomas Mann hätte nach solch einer Erklärung der Ortswahl dem Text also gewissermaßen vermächtnishaft das Andenken an oder auch wohl eine Trauer um die vielleicht größte Liebe seines Lebens eingeheimnißt. Diese Erklärung hat zweifellos ihr Bestechendes. Nur gelangt sie eben nicht über das rein Biographische hinaus. Sie ließe auch bei einer rein biographistischen Argumentationsweise noch etliche Fragen unbeantwortet: Warum zum Beispiel hat Thomas Mann, der Düsseldorf seit 1903 aus eigener Anschauung kannte und bereits vor der Begegnung mit Heuser wiederholt dort war, ein halbes Jahrhundert gebraucht, um diese Stadt in einem seiner Roman- oder Novellentexte auch nur einmal zu erwähnen? Warum brauchte er auch nach seinen Düsseldorfer Begegnungen mit Klaus Heuser ein gutes Vierteljahrhundert, um auch nur den Namen der ihm lebensgeschichtlich so bedeutsamen Stadt endlich einem seiner Erzähltexte zu integrieren? Warum mußte er der Stadt in seiner Erinnerung an Heuser, den er hier weder kennengelernt hatte noch auch ausschließlich hier wiedersehen sollte, ein so schweres Gewicht zumessen? Warum überhaupt konnte er gerade auch vor dem Hintergrund seiner persönlichleidenschaftlichen Erinnerungen die Handlung nicht an ihrem ursprünglichen Ort belassen, da sich doch dort, in München, die für ihn weitaus 35 36 37 38 39
Bd. 8, S. 878. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 885. Zur Textgeschichte der Namensschreibung und zur Quellenlage vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 254 f., Anm. 291. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Tagebücher. 1813–1816, in: ders., Werke, Abt. III, Bd. 5, S. 345; Elsaghe, Zu Thomas Manns ›mythischer‹ Selbstidentifikation mit Goethe in Lotte in Weimar, S. 162–170. Bd. 8, S. 879.
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bedeutendste Begegnung mit dem Geliebten ereignet hatte?40 Und warum scheint Ken Keaton bis auf sein Lebensalter mit dem Klaus Heuser von 1927 so wenig gemeinsame Merkmale aufzuweisen? Vor allem aber beruht die biographische Erklärung, so ausschließlich gegeben, wie Hans Mayer und Hans Rudolf Vaget sie formulieren, auf einer problematisierbaren Prämisse. Die theoretische Grundlage einer ausschließlich biographischen Argumentation besteht in der Annahme, daß Erinnerungsorte und lebensgeschichtlich signifikante Daten ihre Bedeutsamkeit allein aufgrund individualpsychologisch beschreibbarer Prägungen gewinnen können, das heißt vollkommen unabhängig von der Bedeutung, die ihnen vorausliegt und einer ›mémoire collective‹ immer schon eingespeichert ist. Man könnte unter dieser Prämisse etwa die zwielichtige Rolle, die anderwärts im Gesamtwerk München spielt, allein von der Bedeutung herschreiben, die diese Stadt in Thomas Manns Leben bekam. Nach München, wohin seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes ganz auffällig unverzüglich übersiedelte, zog ihr Thomas Mann bekanntlich hinterher, als er in der Schule endgültig gescheitert war. Individualpsychologisch ließe sich also plausibel argumentieren, daß München, wo er übrigens auch überhaupt erstmals dem Großstadtalltag ausgesetzt war, 41 für Thomas Mann mit allerhand Schuld- und gemischten Gefühlen befrachtet sein mußte. Als Metropole und Mutterstadt, sozusagen, war München sehr geeignet, sich imaginär und unterschwellig mit allem möglichen ›Anderen‹ zu verbinden. Nur entspricht die Rolle dieser einen Stadt in Thomas Manns Erzählwerk frappant genau dem prekären Status, der München und Bayern innerhalb des ›Zweiten‹ Reichs zuletzt wieder von dessen Vorgeschichte und von den Gründerjahren her zukam, ja selbst in der Bundesrepublik dem ›Freistaat Bayern‹ noch immer zukommt: Bayern gehörte, beispielshalber, zu den Mittelstaaten, die sich der kleindeutschen Lösung militärisch widersetzten. Es wies und weist kulturell die höchsten Affinitäten zu Österreich auf. Es hatte und hat relativ starke separatistische Tendenzen. Es war und ist ein vergleichsweise sehr monolithisch katholisches Land – abgesehen nur von Franken, das unter ›den‹ Bayern selber wiederum einen einigermaßen besonderen Status ›genießt‹ –, ein Land mit guten und engen ›ultramontanen‹ Beziehungen. (So war ja der heutige Papst und vormalige Präfekt der Glaubenskongregation zuvor Erzbischof von München und Freising.) 40 41
Vgl. den Tagebucheintrag vom 24. Januar 1934; Tagebücher 1933–1934, S. 296 f., hier S. 296. Vgl. de Mendelssohn, Der Zauberer, Bd. 1, S. 154.
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Thomas Manns, des norddeutschen Protestanten, persönlicher Kulturschock wird in München und Bayern somit auf eine kollektiv vorgeprägte und immer schon abrufbare Schablone getroffen sein. Man braucht zwar nicht gleich maximalistisch zu behaupten, daß diese Schablone seine Schockerfahrungen verstärkte oder sogar allererst mit bedingte. Auf jeden Fall aber half sie ihm, solche Erfahrungen zu assimilieren, zu prozessieren, zu ›bewältigen‹. Und seine literarischen Bewältigungsversuche vice versa konsolidierten natürlich wieder das Beharrungsvermögen der entsprechenden Kollektivvorstellungen oder -vorurteile. Ohne nun also die biographische Erklärung für die besondere Wahl des Handlungsorts damit gleich bestreiten zu wollen, kann, ja muß man eigentlich nach anderen Faktoren dafür suchen, daß in der Betrogenen die Handlung ausnahmsweise ganz in den Westen des deutschen Territoriums verschoben und daß sie insbesondere in der Stadt Düsseldorf situiert wurde. – Daß Thomas Mann diese nahezu ein ganzes produktives Leben lang, mehr als ein halbes Jahrhundert, gleichsam ausließ und allein schon ihren Namen überging, steht natürlich in einem eklatanten Mißverhältnis zum sehr erheblichen Gewicht, das Düsseldorf zeit dieses Lebens hatte. Man darf vermuten, daß die frühere Ignorierung der Stadt zu deren nationaler Bedeutung in einem nicht oder einem nicht nur adversativen, sondern in einem geradezu kausalen oder konsekutiven Verhältnis steht. Man braucht sich zu diesem Zweck nur die besondere Art ihrer Bedeutsamkeit zu vergegenwärtigen oder auch nur nachzusehen, unter welchem Aspekt sie im Text der Novelle in den Blick kommt – allerdings erst in den zweiten Blick. Zunächst wird Düsseldorf ja im Zusammenhang mit seinen »schönen Parkanlagen« und seiner »berühmte[n] Kunstakademie« thematisch. Die nationale und internationale Wichtigkeit Düsseldorfs aber, die es gerade in den Zwanzigerjahren zu einem Brennpunkt der Weltpolitik werden ließ, beruhte natürlich weder auf den »Parkanlagen« noch auf der »Kunstakademie«; sondern die Bedeutung, die Düsseldorf in Thomas Manns formativen Jahren gewann und teilweise noch immer besitzt, leitete sich selbstverständlich von den wirtschaftlichen Veränderungen her, die das Kaiserreich aus einem Agrar- in einen Industriestaat umformten.42 Dieser ökonomische Faktor, durchaus kein Grund für die ›Damenwahl‹ des neuen Wohnorts, bleibt im Novellentext dennoch nicht ausgespart. Gleich in dem Satz, der der Motivation der Ortswahl folgt, gelangt er erstmals ins Gesichtsfeld. 42
Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning, Düsseldorf und seine Wirtschaft. Zur Geschichte einer Region, Bd. 2: Von 1860 bis zur Gegenwart, Düsseldorf: Droste, 1981, S. 381–383, 400 f.
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Anlaß dazu geben die genauere Beschreibung des Orts, an dem die von Tümmlers leben, und die Charakterisierung des sozialen Milieus, in dem sie sich bewegen. Bei der konkreten Aufzählung ihrer »Freunde[]« greift der Erzähler zunächst die »Professoren« heraus und auf die aus Anlaß der Ortswahl genannte Kunstakademie zurück, erwähnt ferner auch noch historisch akkurat die »medizinische[] Akademie«. (Denn diese 1907 gegründete Akademie begann sich erst nach Thomas Manns Lebzeiten zu einer eigentlichen ›Universität‹ zu entwickeln.) »[D]ann« aber endlich, gleichsam nebenher und gefolgt von einem Hinweis auf »Landesart« und allgemein rheinländische »[W]einselig[keit]«, deutet der Erzähler auf die spezifische »Sphäre«, die er beim Ausgangspunkt der Übersiedlung, Duisburg, im Euphemismus vormoderner ›Gewerbe‹ geradeheraus zu benennen eben noch vermied: Rheinländerin von Geblüt und Mundart, hatte Rosalie die Jahre ihrer Ehe, zwanzig an der Zahl, in dem gewerbfleißigen Duisburg verbracht, wo von Tümmler garnisonierte, war aber nach dem Verlust des Gatten mit der achtzehnjährigen Tochter und dem um zwölf Jahre jüngeren Söhnchen nach Düsseldorf übergesiedelt, teils um der schönen Parkanlagen willen, die diese Stadt auszeichnen (denn Frau von Tümmler war eine große Naturfreundin), teils weil Anna, ein ernstes Mädchen, der Malerei zuneigte und die berühmte Kunstakademie zu besuchen wünschte. Seit einem Jahrzehnt bewohnte die kleine Familie in einer ruhigen mit Linden bepflanzten, nach Peter von Cornelius benannten Villenstraße ein gartenumschlossenes, mit dem etwas verjährten, aber behaglichen Mobiliar im Stil von Rosaliens Vermählungszeit ausgestattetes Häuschen, das einem kleinen Kreis von Verwandten und Freunden, darunter Professoren der Maler- und auch der medizinischen Akademie, dann ein und das andere Ehepaar aus industrieller Sphäre, öfters zu anständig aufgeräumten, nach Landesart auch gern ein wenig weinseligen Abendfeiern gastlich offenstand. 43
Trotz der gleichsam sekundären und euphemistisch gestelzten Art, in der die »industrielle[] Sphäre« hier erscheint, zwischen der Düsseldorfer Professorenschaft und dem allgemein Rheinländischen, kommt sie auch im folgenden immer wieder ins Spiel. Aus der technisch-»industrielle[n] Sphäre« zum Beispiel stammt oder in diese gelangt wenigstens jener Dr. Brünner (nachdem er ursprünglich noch ein »Ministerialbeamter« hätte sein sollen oder gar ein Militär, ähnlich wie, doch auch in immer schon wesentlich geringerem Rang als »Oberstleutnant« Robert von Tümmler – alias »Major«, alias »Rittmeister« 44 –, nur eben ein »Leutnant«). Auf dieselbe »industrielle Sphäre« aspiriert auch Eduard von Tümmler. Und um dieser Aspiration und der Aspiration auf das »Dorado der Technik« 45 willen ge43 44 45
Bd. 8, S. 877. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 246 f. Bd. 8, S. 894.
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langt der fatale Englischlehrer überhaupt erst in Rosalies Haus und Nähe. Ken, dessen Nachname wie gezeigt durchaus einem Slapstick-Komiker abgenommen sein könnte, der speziell die Machtlosigkeit des modernen Menschen gegenüber »mechanical monsters«, 46 einer schon als ›monströs‹ wahrnehmbaren Technologie verkörperte, wird außerdem »zu englischer Konversation von reichen Industriellendamen gegen Honorar herangezogen«. 47 Zu seinen »guten Freunden« zählen neben einem »Mal-Eleven« gleich zwei »Fabrikantensöhne[]«. 48 Hierher gehört selbstverständlich auch ein gelegentlich erwähnter »Topffabrikant« 49 namens Lützenkirchen. Bei einem anderen, »Oberingenieur Rollwagen«, spricht die technisch- oder montan-»industrielle[] Sphäre« schon aus dem Titel und vielleicht sogar aus dem mehrfach genannten Namen, dem der Titel voransteht. Und sie regiert auch noch das familiäre Kompositum, mit dem Rosalie diesen einen Träger des also offenbar als vor Ort verbreitet zu denkenden Namens spezifiziert: »Maschinen-Rollwagen«. 50 Auch um das topographische Lokalkolorit herzustellen, lenkt der Erzähler den Blick auf die hohe Industrialisierung Düsseldorfs oder doch seiner Agglomeration und seines Umlands. 51 Die Rückfahrt von »Schloß Holterhof« 52 nach Düsseldorf, »lärmend« mit der »elektrischen Tram«, führt »durch Fabrikbezirke und vorbei an Kolonien von Arbeiterhäusern«. 53 Und obwohl man wenigstens auf der Hinfahrt, von Düsseldorf nach Holterhof, sich den Anblick der »greulichen Vorstadtstraßen« per »Motorboot« vorsätzlich zu ersparen versucht – merkwürdigerweise nicht auch auf der Rückfahrt –, zeigen sich doch bereits hier schon, vom Boot aus, kaum hat man »die Hafenanlagen der Stadt« verlassen, »Lagerschuppen, Fabrikgebäude«. 54 Das ungewöhnliche Asyndeton der zweigliedrigen Reihung, »Lagerschuppen, Fabrikgebäude«, bildet hier kraft seiner ›ikonischen‹ Zeichenfunktion vielleicht nicht nur die semantische Nähe der beiden Glieder oder die kontinuierliche, lückenlose und unablässige Folge der Landschaftseindrücke ab, wie man sie vom Schiff aus, bei gemächlicher Eigen46 47 48 49 50 51 52 53 54
The New Encyclopaedia Britannica, Bd. V, Chicago et al.: Encyclopaedia Britannica, S. 743, s. v. ›Keaton, Buster‹. Bd. 8, S. 893; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 920; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 902; im Original keine Hervorhebung. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Rüdiger Görner, Thomas Mann. Der Zauber des Letzten, Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2005, S. 310, Anm. 185. Bd. 8, S. 936. Bd. 8, S. 947. Bd. 8, S. 938 f.
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bewegung eben, tatsächlich aufnehmen kann. Sondern darüber hinaus kann die für den Autor nicht gerade typische Kärglichkeit der Signifikanten, die Nudität sozusagen und Kahlheit der Formulierung, auch etwas von der Ödnis und Trostlosigkeit des signifizierten Anblicks versinnlichen. Ästhetische Widerstände jedenfalls gegen die Phänomene der industriellen Produktionsweise, wie sie sich hier eben möglicherweise selbst noch stilistisch auswirken, sprechen auch sonst aus Thomas Manns Werk, ja zum Teil schon aus dessen verlegerischer Aufmachung in Faksimilia, ›Hundertdrucken‹ und anderen Luxusausgaben. Ein ergiebiges Beispiel für solche Widerstände wäre naturgemäß das »Idyll« Herr und Hund. Den Außenraum, der im Idyll spätestens seit Vergils Eklogen das gattungstypische »Vollglück in der Beschränkung«55 paradoxerweise dadurch erst konstituiert, daß er es bedroht, bildet in Herr und Hund nicht etwa der Krieg mit seinen Verheerungen, wie es die Gattungsgeschichte vorgegeben hätte und wie die Entstehungszeit (Juni bis Oktober 1918) auch dann noch nahelegen könnte, wenn man berücksichtigte, daß der Erste Weltkrieg bis ganz zuletzt jenseits der deutschen Grenzen geführt wurde. Die »Pioniere«, »[d]ie Tritte ihrer schweren Stiefel«, die »Rufe der Befehlshaber« scheinen das Idyll nicht im mindesten zu stören – oder nur ganz von fern, nämlich dadurch, daß das ganze Getrampel und Geschrei dem »Bau einer Pontonbrücke« dient und damit die Grenze des Flusses gleichsam porös werden läßt, der das idyllische Reservat demarkiert. 56 Wirklich bedroht jedoch wird das Idyll durch die Schwerindustrie, diese selbst, nicht etwa oder wenigstens nicht in erster Linie durch das Bewußtsein ihrer makabren Produkte: »Aber vom jenseitigen Ufer kommen Geräusche« einer »Lokomotivenfabrik« beziehungsweise, wie es erst mit demselben vorindustriell-anachronistischen Euphemismus heißt, der in der Betrogenen die Industriestadt Duisburg beschönigend charakterisiert: »des Gewerbefleißes«. 57 Im ersten Kapitel des Idylls kann man denn buchstäblich mit ansehen, wie die industrielle Produktion in Form der Fabrik »mit zeitgemäß« und bedrohlich ausgreifendem, »erweitertem Tätigkeitsbezirk« – euphemistisch für die Rüstungsproduktion der Lokomotiv- und Maschinenfabrik J. A. Maffei 58 – angestrengt ausgegrenzt und auch spatial ›verdrängt‹ wird: »vom jenseitigen Ufer«; »eine Strecke flußabwärts«; »Rauch, den 55 56 57 58
Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: ders., Werke, hg. v. Norbert Miller, Bd. 5, München: Hanser, 1967, S. 7–514, hier S. 168; vgl. S. 258, 260 f. Bd. 8, S. 530. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Alexander Honold, Vorkriegs-Nachlese mit Herr und Hund. Eine Dekonstruktion, in: ders. und Niels Werber (Hgg.), Deconstructing Thomas Mann, Heidelberg: Synchron [im Druck].
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aber ein günstiger Wind hinwegtreibt, über die jenseitigen Waldungen hin, und der überhaupt nur schwer über den Fluß gelangt«. 59 Wo immer die industrielle »Massengütererzeugung« 60 in Thomas Manns Erzählwerk thematisch wird, erscheint sie in eher zweifelhaftem Licht. Thematisch, wenn auch dort nur am Rand, wird sie am ehesten im Spätwerk, im Doktor Faustus und in den späten Kapiteln des Felix Krull, dessen ersten zehn Exemplaren je eine Manuskriptseite vorgebunden war, welche diese also je, der seriellen Produktion zum Trotz, zu Unikaten und zu je singulären Artefakten nobilitierte. An derselben Grenze übrigens von Industrie und Gewerbe wird auch schon die Herkunft des dubiosen Protagonisten situiert. Krull ist ja der Sohn eines »Industrielle[n]«. 61 Dessen »untergegangene[s]« Produkt aber, die »Sektmarke ›Lorley extra cuvée‹«, hat immerhin noch etwas von fern Gewerbsmäßiges.62 Dabei legt gerade das Industriell-Serielle daran die entwicklungspsychologisch-lebensgeschichtliche Basis für Krulls kriminelle Hochstaplerkarriere. Denn angesichts der in der ›Unterwelt‹ 63 gestapelten Flaschen, deren Inhalt in einem miserablen Mißverhältnis zu ihrer späteren »Coiffure« und »blendenden Aufmachung« steht, gewinnt Krull eine erste Einsicht in die Opposition beziehungsweise in die Überspielbarkeit der Opposition von Sein und Schein. 64 Die Perspektive, unter der die Massenproduktion in den späten Texten etwas näher in den Blick rücken kann, spricht Bände. Im Doktor Faustus – neben jenem noch näher zu erörternden Fall des beflissenen, aber unbedarften »(übrigens rheinische[n] […])« Papierindustriellen Bullinger 65 – gäbe ein treffliches Beispiel dafür Kunigunde Rosenstiel ab. Großzügig versorgt sie den von ihr unterwürfig verehrten und einseitig begehrten Komponisten mit allerhand Naturalien, aber auch mit bibliophilen Kostbarkeiten, so einer Höllenvision, deren Geberschaft in einer älteren Fassung andeutungsweise dem Teufel selbst hätte zugeschrieben werden sollen. 66 Auch abgesehen von dieser pikanten Variante, durch die ihre Gaben etwas schlechterdings Diabolisches bekämen, und vielleicht sogar auf des59 60 61 62 63 64 65 66
Bd. 8, S. 530; im Original keine Hervorhebung. Bd. 3, S. 559. Bd. 7, S. 303. Bd. 7, S. 267. Ebd. Bd. 7, S. 267 f. Bd. 6, S. 367; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 204 f., mit Kurt Schubert, Gottesvolk – Teufelsvolk – Gottesvolk, in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder, Wien: Picus, 1995, S. 30–52. Grundlegend für die Identifikation der Juden als ›Kinder des Teufels‹ war Joh 8,44.
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sen Trajektorie – sofern nämlich der Teufel traditionell mit Unrat assoziiert war 67 –, bezieht Rosenstiel die finanziellen Mittel zu solchen Gaben aus einer im Wortsinn anrüchigen Quelle. Sie stammen aus einer »Wurstdarmfabrik«. 68 Und in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull kommt der im sekundären Wirtschaftssektor erwirtschaftete »Reichtum[]«, in dessen »Schutz[]« Diane Houpflé-Philibert ihre »Bücher schreiben kann«, aus einer gar so trüben Quelle, daß sie 1957, zur Zeit und am Ort des westdeutschen ›Wirtschaftswunders‹, in Kurt Hoffmanns Verfilmung durch ein halbwegs agrarisches Produkt, Gänseleberpastete, substituiert werden mußte: »Straßburger Klosettschüsseln von Houpflé«.69 Die industrielle Produktion trägt hier wie dort Markierungen, die sie als das schlechthin ›Andere‹ und ihre Erträge als zwielichtig erscheinen lassen: Sie ist je mit einer Frau assoziiert (so ja auch bei Kens »Industriellendamen« oder schon bei einer polnischen Industriellengattin des Zauberberg, einer reichlich dubiosen »Frau Redisch« 70). Und die Weiblichkeit erscheint dabei je suspekt. Kunigunde Rosenstiel ist altjüngferlich verklemmt, Diane Houpflé im Gegenteil hemmungslos pervers. Das Geld beider hat eine mehr oder weniger eindeutig anale oder fäkale Herkunft. Beide sind deutlich als ›fremd‹ und ›anders‹ gekennzeichnet. Dabei aber, und das mag neuerlich sowohl auf ein Ausgrenzungsbedürfnis wie auch auf dessen Velleität deuten, handelt es sich um eine besonders prekäre Form von nationaler Fremdheit und ethnischer Alterität. Das geben bereits die Namen zu verstehen. Kunigunde Rosenstiel, mit ihrem typischen Nach- und Wunschnamen, ist – und damit eröffnet der Erzähler ihr Portrait – »Jüdin«;71 eine sehr gut und sehr typisch assimilierte Jüdin allerdings. Das zeigt nicht erst der Brief, mit dem sie sich dem Empfänger förmlich aufdrängt: Sie soll ein humanistisch geschultes Deutsch schreiben, das sich von dem der Gelehrten nicht mehr oder sogar zum besseren unterscheidet.72 Vielmehr verrät schon der hypergermanische Vorname der Absenderin deren Assimiliertheit oder doch einen outrierten Assimilationswillen. Vom klassisch-romantischen Schulkanon her sind dem Namen »Kunigunde« feudal-altertümli67 68 69 70 71 72
Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 422 f.; Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin: Wagenbach, 1984, S. 34. Bd. 6, S. 417; im Original keine Hervorhebung. Bd. 7, S. 446, 448. Bd. 3, S. 380 f., 605 f. Bd. 6, S. 417. Vgl. Yahya Elsaghe, Die »kaufmännischen Und-Zeichen« der »Geschäftsmaschine«. Zur Überwindung rassenbiologischer Antisemitismen in Thomas Manns Spätwerk, in: Colloquia Germanica 33.4, 2000, S. 349–365, hier S. 354.
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che Konnotationen angelagert (Kleists Käthchen von Heilbronn, Schillers Balladen Der Handschuh oder vor allem Der Gang nach dem Eisenhammer: Dessen Incipit, offensichtlich aus dem Gedächtnis zitiert – »Ein treuer« statt »Ein frommer Knecht war Fridolin« 73 –, bildete die Legende zu einer frühen, ganz unverkennbar auf das Ende des Kleinen Herrn Fried-emann bezogenen Karikatur Thomas Manns. 74) Dem Nachnamen Houpflé ist mit dem Endungsakzent und mit der diphthongierten Schreibung des ›u‹-Lauts hingegen etwas genuin Französisches aufgeprägt, mit der Affrikate jedoch etwas wieder typisch Deutsches. Dementsprechend redet Diane Houpflé in ihrer Suada vor Felix, Félix oder Armand 75 (alias Fernand alias François alias Gaston)76 auch beide Sprachen durcheinander und scheint ihr Deutsch einige Gallizismen aufzuweisen. 77 Denn sie ist Elsässerin. Als solche ist sie ihrer Nationalität nach nicht eindeutig unterzubringen, auch und gerade schon nach den Vorgaben des Romans. Je nachdem, ob man von der erzählten Zeit oder von der Entstehungszeit des betreffenden Romanteils ausgeht, fällt die Zurechnung deutsch oder französisch aus; und das Prekäre gerade der deutsch-französischen Grenze wird bei deren Überquerung im Text selbst thematisch. 78 Mehr noch aber als in der dubiosen Art, wie die industrielle Produktionsweise je in personis erscheint, geben sich Thomas Manns Vorbehalte gegenüber dieser darin zu erkennen, daß sie so lange, eben bis ins Spätwerk, überhaupt ignoriert bleiben konnte. Thomas Mann blieb auch in dieser Hinsicht im Grunde ein Autor des neunzehnten Jahrhunderts. Jedenfalls muß auffallen, wie geflissentlich er es sonst vermied, sich auch nur mit den Folgen der industriellen Revolution und mit Epiphänomenen der modernen Ökonomie auseinanderzusetzen, etwa allein schon mit dem Phänomen der modernen Großstadt. Die deutsche Großstadt, Berlin, kommt im Gesamtwerk nur am Rand und als etwas tödlich Unheimliches vor. Aus ihr stammt die femme fatale und ›Hysterikerin‹, die, in die Provinz und mutmaßlich nach Lübeck gelangt, den kleinen Herrn Friedemann grausam in den Suizid treibt. Dabei 73 74 75 76 77 78
Friedrich Schiller, Der Gang nach dem Eisenhammer, in: ders., Werke. Nationalausgabe, hg. v. Julius Petersen et al., Weimar: Böhlau, 1943 ff., Bd. 2.1: Gedichte, hg. v. Norbert Oellers, S. 280–286, hier S. 280; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, Zürich: Artemis & Winkler, 1994, S. 85; im Original keine Hervorhebung. S. Abb. 4. Bd. 7, S. 395, 409, 416, 420, 429 f., 437, 444, 447 f., 450, 452, 467, 471 f., 477, 481, 484, 486 f., 493, 495, 500, 520–522. Vgl. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 487. Bd. 7, S. 447 f. Bd. 7, S. 389. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 291 f.
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bildet die Altersdifferenz zwischen ihr und ihm, da die erzählte Zeit der 1896 geschriebenen Novelle offensichtlich mit deren Entstehungszeit konvergiert, ihrerseits die Weiterungen der Konkurrenz von Zentrum und Peripherie noch einmal ab. Denn diese ziemlich schmale Differenz umspannt doch genau das Intervall, in das die Reichsgründung fällt und das insofern das Gefälle zwischen der Reichshauptstadt einerseits und den alten Freien und Hansestädten andrerseits wenn nicht begründete, so doch besiegelte. Johannes Friedemann nämlich, eben dreißig geworden, muß um 1866, Gerda von Rinnlingen um 1872 geboren sein: »– sie ist vierundzwanzig Jahre alt –«.79 Sie ist damit, genau wie Rosalie von Tümmler, so alt wie das ›Zweite‹ Reich, also dessen Kind und Tochter, während Friedemann eben noch in eine Welt geboren wurde, die immer schon dem Untergang geweiht war wie er selber. Den eigentlichen Schauplatz der Handlung gibt Berlin nur in einer einzigen Erzählung ab, Wälsungenblut (1905), die Thomas Mann lange zurückhielt, dann zu seinen Lebzeiten auch nur einmal, nur in verschwindend kleiner Auflage und in fast unerschwinglich teurer Aufmachung publizierte. (Ein Exemplar der Erstausgabe von 1921 kostete, vor der Inflation, bis zu dreitausend Mark. 80) Die Reichshauptstadt wird dort aber noch nicht einmal beim Namen genannt oder dann nur sehr diskret über eines ihrer berühmten Viertel, das man auch als Appellativ lesen und verstehen könnte: »die nackten und nebeligen Wipfelmassen des Tiergartens«.81 Die Stadt, die, neben Lübeck, in Thomas Manns Erzählwerk als Handlungsort die größte Rolle spielt, galt seinerzeit als eine halb ländliche, vergleichsweise noch sehr ›gemütliche‹ und ›behagliche‹, wenn ihre »trotzig-fidele Volkhaftigkeit« und »bergbachdurchrauschte Dörflichkeit« immerhin auch schon »korrumpiert« war »von modernem Massenbetrieb«. 82 Und auch hierher, nach München, gehören Thomas Manns ›Helden‹ nicht; sondern hierher gelangen sie nur. Ursprünglich stammen sie meist aus Klein- oder Mittelstädten. Von der Regel, daß Thomas Mann die deutschen Großstädte, das Großstädtische als solches tendenziell zu ignorieren versucht, bildet allerdings das Spätwerk und darin ausgerechnet der der Betrogenen am nächsten stehende Roman eine desto bezeichnendere Ausnahme. Bei seiner Arbeit 79 80 81 82
Bd. 8, S. 84. Freundliche Auskunft von Herman Moens, Marbach (Deutsches Literaturarchiv), vom 27. August 2007. Bd. 8, S. 391; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 269 f., 378. Vgl. Walter Schmitz, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die Münchner Moderne. Die literarische Szene der ›Kunststadt‹ um die Jahrhundertwende, Stuttgart: Reclam, 1990, S. 15–24, hier S. 23.
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am Doktor Faustus konnte Thomas Mann nicht zufällig auf »eine Menge merkwürdigen Material[s]« zurückgreifen, das er fast ein halbes Jahrhundert früher »für einen modernen Großstadt-Roman […] gesammelt« hatte. 83 (Und daß dieser damals ungeschrieben blieb, wäre natürlich seinerseits schon wieder sehr geeignet, jene Regel zu bestätigen.) Im Doktor Faustus, dessen letztes Kapitel damit endet, daß die nach Thomas Manns Dafürhalten einzige »sympathisch[e]« 84 Frau die »Stadtleut« beschimpft, 85 ist die Stadt, noch nicht einmal erst die Großstadt, geradezu des Teufels, dem sich der Protagonist im Lauf seines Lebens verschreibt. Seinen Anfang nimmt dieser Lebenslauf auf dem Land und im noch gänzlich agrarischen Sektor der Volkswirtschaft. Adrian Leverkühn, hinter dem so überdeutlich Friedrich Nietzsche steht – das heißt auch: ein früher und ätzend scharfer Kritiker der modernen Großstadt86 –, Leverkühn ist wie der Doktor Faustus des Volksbuchs ein Bauernsohn. Seine sukzessiven Eintritte in immer größere Siedlungsräume (»Buchel« 87 – »Kaisersaschern« – Halle – Leipzig – München) beschreiben eine einsinnige Bewegung, die sich auf den Arbeitstitel der Buddenbrooks bringen läßt: »Abwärts«. 88 Die Abschüssigkeit dieser Bewegung ist überdeterminiert. Die Lebensgeschichte führt von Norden nach Süden hinab. Von einem »Oberstock« auf Hof Buchel (beim »Dorf Oberweiler«) und von einem »Schülerstübchen« eines »[d]reistöckig[en]« Hauses in Kaisersaschern verläuft Leverkühns Bewegung im Raum auch innerhalb der je bewohnten Häuser nach unten. 89 Von der ersten Stadt an, die der Erzähler, wenn auch nicht geradezu als Großstadt, so immerhin als »große Stadt« bezeichnen darf – mit »alle[m] neuzeitlichen Massenbetrieb[]« –, wird Leverkühn je zum »Untermieter« 90 in Wohnungen, die tendenziell immer dunkler werden. Von einem bestimmten Moment an – nämlich seit seinem Umzug in 83 84 85 86
87 88 89 90
Brief vom 17. Januar 1906 an Heinrich Mann; Briefe I. 1889–1913, S. 339–344, hier S. 342. Brief vom 7. September 1948 an Agnes Meyer, in: Thomas Mann und Agnes E. Meyer, Briefwechsel. 1937–1955, hg. v. Hans Rudolf Vaget, Frankfurt a. M.: Fischer, 1992, S. 710 f., hier S. 711. Bd. 6, S. 667. Vgl. z. B. Hanne Bergius, Berlin als Hure Babylon, in: Jochen Boberg, Tilman Fichter und Eckhart Gillen (Hgg.), Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, München: Beck, 1986 (Industriekultur deutscher Städte und Regionen. Berlin, Bd. 2), S. 102–119, hier S. 103. Bd. 6, S. 19. Vgl. Jakob Sprenger und Heinrich Institoris, Der Hexenhammer (Malleus maleficarum), hg. v. J. W. R. Schmidt, Bd. 2, Berlin: Barsdorf, 1906, S. 40: »auf dem Gute Buchel«; von Thomas Mann angestrichen. Brief vom 20. August 1897 an Otto Grautoff, in: Thomas Mann, Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M.: Fischer, 1975, S. 98–101, hier S. 101. Bd. 6, S. 19, 55, 520; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 125, 260; im Original keine Hervorhebung.
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die erste eigentliche Großstadt, Leipzig, das von Anfang an ausdrücklich die Züge des Sündenpfuhls Ninive erhält 91 – liegen diese Wohnungen im »Erdgeschoß« und »zu ebener Erde«.92 Wegen dieser Erdnähe riechen sie zum Teil sogar »modrig«.93 Und nicht zuletzt gelangt Leverkühn bei seiner kontinuierlichen Entfremdung vom väterlichen Ursprung (und vom »Heimatbezirk« auch »der Reformation« 94) zusehends in weiblich dominierte Haushalte. In Kaisersaschern, beim »Bruder seines Vaters«,95 dessen »dreistöckig[es]« Haus »schon dem Großvater des Besitzers«, also Adrian Leverkühns Urgroßvater, »gehört hatte« 96 und wo Leverkühn in einer »Mansarde«, 97 also zuoberst wohnt, herrschen noch expresso verbo »patriarchalische[]« 98 Zustände. In der »Tischgesellschaft« dieses Hauses zeigen sich solche Zustände konkret so, daß die familialen und die ökonomischen Beziehungen oder Hierarchien konvergieren: »[P]atriarchalischerweise« gehört auch der »Geselle[]« 99 zur Tischgesellschaft (während in der Betrogenen eine noch so »kleine Familie getrennt frühstückt[] – Eduard zuerst, dann Anna, die Hausfrau zuletzt« 100). In Halle jedoch bewohnt Leverkühn als »Untermieter einer […] Beamtenwitwe« »ein Zimmer mit Alkoven«.101 Dort hängt übrigens ein »magisches Quadrat, wie es […] auf Dürers ›Melencolia‹ erscheint«;102 wobei Leverkühn den Bezug zum Kupferstich später sogar noch explizieren wird. 103 Wichtig ist dieser Bezug vielleicht auch schon deswegen, weil bei dem »fatale[n]« 104 Quadrat Richard Wustmanns Interpretation des berühmten Kupfers einsetzte, die Thomas Mann über Wilhelm Waetzoldts Dürer und seine Zeit zugänglich war. 105 Dieser Interpretation zufolge soll Dürers »Melencolia« aber eine einzige Huldigung an die Mutter sein.
91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105
Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 75–79. Bd. 6, S. 187, 260, 282. Bd. 6, S. 39, 341. Bd. 6, S. 15. Bd. 6, S. 49. Bd. 6, S. 55; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 60. Bd. 6, S. 56. Ebd. Bd. 8, S. 921 f. Bd. 6, S. 125. Ebd. Bd. 6, S. 303. Bd. 6, S. 126. Wilhelm Waetzoldt, Dürer und seine Zeit, Wien: Phaidon, 1935, S. 117 f.
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Wie dem auch sei: In Leipzig wohnt Leverkühn bei einer matronenhaft »dicken« und »teuflisch redenden Vermieterin«, in München, als »Haussohn[]«, bei einer Senatorswitwe (die in der Handschrift ihrerseits noch das Prädikat einer »Matrone« trug) und ihren Töchtern. 106 In Pfeiffering endlich, bei Else Schweigestill und ihrer Tochter – die abwesenden Männer sind wie gesagt allenfalls ›indexikalisch‹ zu riechen –, dient ihm »als Tagesaufenthalt die Abtsstube im Erdgeschoß«, während nun aber »das Schlafzimmer im Oberstock« liegt; eine Aufteilung, die der Ambivalenz dieses Wohnorts entspricht: Einerseits ist er »bloß eine Eisenbahnstunde« von der Groß- oder sozusagen Größtstadt München entfernt und also in deren mittelbarem Einzugsgebiet gelegen, worauf die weitere Romanhandlung ja geradezu beruht. Andererseits »erinner[t]« er an den Ausgangspunkt von Leverkühns zuletzt ja zirkulärem Lebensweg, der endlich ins »Haus Buchel« zurückführt und sogar in »dasselbe Zimmer im Oberstock, das er«, Leverkühn, »als Knabe mit seinem älteren Bruder geteilt hatte«. 107 An »Haus Buchel« ›erinnert‹ der Hof Schweigestill so frappant, daß der Erzähler diese »seltsamste[] Ähnlichkeits- und Wiederholungsbeziehung« 108 bei seiner Beschreibung »des Ortes« gar nicht eigens hervorzuheben bräuchte; und wirklich tut er es nur unter dem Vorwand seines psychologischen Interesses, ob und wann genau »Adrian […] etwas« davon bewußt geworden sei: 109 Weiher und Hügel, der riesige alte Baum im Hof – allerdings eine Ulme – mit seiner grüngestrichenen Rundbank und weitere, noch hinzukommende Einzelheiten mögen auf den ersten Blick frappierend gewirkt haben; kein Traum mag nötig gewesen sein, ihm die Augen zu öffnen, und daß er nichts sagte, beweist ganz gewiß nicht das geringste. 110
Unmittelbar bevor die Liste konkreter Übereinstimmungen in eine vage, leicht redundante Summation »weitere[r], noch hinzukommende[r] Einzelheiten« sich verliert, wird also doch auch konzediert, daß die »frappierend[e]« »Entsprechung« der »Örtlichkeit« 111 ihre »– allerdings […] –« nur dezent ausgedeuteten Grenzen hat. Ihr Ende findet sie bei einem Baum. Auf Hof Buchel, so malt es sich der Biograph wenigstens aus, indem er eine damit eingestandene Leerstelle seines Wissens füllt, hatte »den frühkindlichen Tagesschlummer und die Spiele des kleinen Adrian« eine Linde »beschattet« oder, um das Schubert-Müller-Zitat beziehungsweise das Selbst106 107 108 109 110 111
Bd. 6, S. 187, 261. Bd. 6, S. 273, 674; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 39. Bd. 6, S. 273. Bd. 6, S. 274. Bd. 6, S. 280.
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zitat aus dem Zauberberg 112 beim Wort zu nehmen, ein »Lindenbaum«. 113 Jener »schöne Baum« 114 (wie das vom »Großvater« patrilinear auf seinen patriarchalen »Besitzer[]« gekommene Stadthaus) ›stand‹ im Wortsinn für ein dort noch intaktes Patri-Archat. Denn stets habe »der Erbsohn in jungen Jahren seine Beseitigung aus praktischen Gründen gegen den Vater verfocht[en], um ihn eines Tages, als Herr des Hofes, gegen das Ansinnen des eigenen Sohnes in Schutz zu nehmen«.115 Der »Lindenbaum« oder, wie er im Zauberberg auch heißt, in einem hierin ungenauen Zitat des berühmten Schubert-Lieds, »der alte Lindenbaum« 116 hat also neben dem durch dieses Lied beziehungsweise durch den Zauberberg gegebenen nationalen, fast nationalistischen Konnotat hier eine geschlechterpolitische Bedeutung. In dieser unterscheidet sich die »Ulme« des Schweigestill-Hofs spezifisch und in einer ihrem grammatischen Geschlecht entsprechenden Weise von ihm; so, wie sich die matriarchalen Zustände dieses Hofs von patriarchalen unterscheiden, wie sie ursprünglich die längste Zeit auf Hof Buchel herrschten (bevor nämlich auch »[i]n Haus Buchel« allein die Witwe Leverkühn beziehungsweise ihre »Schwiegertochter waltet[]« 117 wie jene »stattliche« italienische »Matrone« in ihrem »kastellartige[n] Bau«). Was übrigens das grammatische Genus der Bäume, vor allem aber die geschlechterpolitische Besetzung der Baumarten betrifft, so wechselt der Lindenbaum oder eben vielmehr die Linde in der Betrogenen auf die weibliche, dem Patriarchalen diametral gegenüberliegende Seite. Dieser Wechsel, um auch so viel schon vorwegzunehmen, hat wesentlich mit dem sagenhaften, »wundervollen Blütenduft« 118 der »Lindenblüte« 119 zu tun. Dieser kommt weder bei Schubert und Müller noch im Zauberberg in den ›Blick‹, zunächst auch nicht im Doktor Faustus – obwohl Adrian Leverkühn ausdrücklich zur »Blütezeit« 120 zur Welt gekommen sein soll –, sehr wohl aber am Ende des Romans, wo der gebrochene ›Held‹ in seine Kindheit und in eins damit in eine matriarchale Obhut, Bevormundung und Entmündigung regrediert. 121 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121
Vgl. Bd. 3, S. 903 f. Bd. 6, S. 19. Ebd. Ebd. Bd. 3, S. 903 f.; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Wilhelm Müller, Der Lindenbaum, in: ders., Werke; Tagebücher; Briefe, hg. v. Maria-Verena Leistner, Bd. 1: Gedichte I, Berlin: Gatza, 1994, S. 173 f. Bd. 6, S. 674; im Original keine Hervorhebung. Ebd. Bd. 8, S. 886; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 19. Vgl. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 61 f.
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In der Betrogenen dagegen, die gerade auch hierin sozusagen nahtlos an das Ende des Doktor Faustus anschließt, erscheint die »Lindenblüte« von allem Anfang an als wesentliches Element einer olfaktorischen Isotopie; und als solches steht sie, wie im einzelnen noch zu zeigen, in Opposition zu Licht, Sehen und allem, was sich damit an Wahrheitsmetaphern, patriarchalen Vorstellungen und phallischen Konnotaten verbinden kann. Am ehesten wird solchen Vorstellungen und Konnotaten beziehungsweise ihrer Ramponiertheit und Obsoleszenz hier, sehr bezeichnenderweise, noch ein Exemplar der Baumart gerecht, die im kollektiven Bewußtsein und Unbewußten sonst eigentlich mehr noch als die Linde für das typisch ›Deutsche‹ steht, die Eiche oder vielmehr der »Eichbaum«: Es war ein alter, einzeln stehender Eichbaum, knorrig verkrüppelt, mit zum Teil bloßliegenden Wurzeln, einem gedrungenen Stamm, der sich schon in geringer Höhe in knotige Äste teilte, dicke und davon abzweigende dünne. Der Stamm war hohl da und dort, mit Zement plombiert, – die Parkverwaltung tat etwas für den hundertjährigen Burschen; aber mancher Ast war schon abgestorben und brachte kein Laub mehr zustande, sondern giff kahl und verkrümmt in die Luft […]. 122
3.3 Die mentalitätsgeschichtlichen Implikationen der Ortsverschiebung Daß die Handlung der Betrogenen gerade aus einem Ort herausverlegt wurde, München, der sich dafür als Kulisse sonst angeboten und aufgedrängt hätte, reflektiert wahrscheinlich ein mentalitätsgeschichtliches ›paradigm shift‹. Vermutlich ist die Verlegung des pathologischen Geschehens aus Bayern nahezu an den Niederrhein Teil und Ausdruck letztlich desselben Paradigmenwechsels, der dem schnell erhöhten Sozialprestige der Ärzteschaft mit zugrundeliegt. Dieser vollzog sich während Thomas Manns produktiver Lebenszeit, von den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts an, in mehreren, unterschiedlich lange intermittierenden Schüben und war in den Vierzigerjahren mit dem Erfolg der Streptomyzinund Penicillintherapien zu einem (vorläufigen) Ende gelangt: die Besänftigung jahrhundertealter Infektionsängste und deren Ersetzung durch unser aller Grauen vor dem Krebstod. Die epische Gestalt nun, die Thomas Mann vom Tod in Venedig bis zum Doktor Faustus der kollektiven Ansteckungsangst endlich noch verlieh, be122 Bd. 8, S. 888.
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vor sie die epidemiologischen und die pharmakologischen Fortschritte nach und nach (wenn eben auch nicht endgültig) bändigten, unterliegt jeweils einem ganz bestimmten und genau bestimmbaren Bewegungsmuster. Auf dessen Hintergrund gewinnen die geographischen Verhältnisse in der Betrogenen erst ihre, eine sozusagen negative Bedeutsamkeit. Das Bewegungsmuster reproduziert vermutlich jenes anthropologisch universelle Imaginationsschema von Purity and Danger. 123 Es reflektiert nicht zuletzt auch die besondere Rolle, welche Ansteckungsängste psychologisch bei der Imagination territorialer Demarkationen spielen. Und jedenfalls, wie Peter Baldwin in Contagion and the State in Europe für die Zeit von 1830 bis 1930 und gerade auch für das Deutsche Reich aufgezeigt hat, lagen solche Ängste den technisch-bürokratischen Maßnahmen der Infektionsprävention zugrunde, die im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts die modernen Staatsgrenzen de facto und de iure konsolidierten. 124 In der Regel bewegen sich Thomas Manns todgeweihte Helden aus den nördlichen, aber noch zentralen Regionen des Deutschen Reichs auf dessen südliche oder südöstliche Grenze zu und über sie hinaus, um sich so erst den sie vernichtenden Krankheiten auszusetzen.125 Im Tod in Venedig kommt Gustav von Aschenbach aus »L.«. 126 Darunter hat man bekanntlich Liegnitz zu vermuten (beziehungsweise, weil die Ironie der Geschichte will, daß Aschenbachs Vaterstadt heute ausgerechnet in dem Land liegt, aus dem auch sein ›Erreger‹ und damit der Gegenpart all seines väterlichen Erbes stammt: Legnica). Aus »L.« also und immerhin aus der preußischen »Provinz Schlesien« 127 kommt von Aschenbach über München nach Venedig, in dessen literarischer Darstellung schon die zeitgenössischen Rezensenten den venerisch infizierten Körper einer Prostituierten wiedererkannten. 128 Im Doktor Faustus gelangt Adrian Leverkühn aus dem »Herzen der Luther-Gegend« und dem »Heimatbezirk der Reformation« 129 wieder über München nach Italien, zuvor über Leipzig nach Bratislava, wo er, auch hierin verrät sich noch etwas von dem den ganzen Roman durchziehenden Antiurbanismus, tatsächlich mit einer syphilitischen Prostituierten schläft. Die Bewegung führt somit jeweils aus preußischem und protestantischem Gebiet heraus. Dieses nach gewissen Kriterien nationaler Identi123 Vgl. Douglas, Purity and Danger, v. a. S. 41–57. 124 Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge et al.: Cambridge University Press, 1999. 125 Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 27–70. 126 Bd. 8, S. 450. 127 Ebd. 128 Vgl. z. B. Heinrich Mann, [Rezension von:] Der Tod in Venedig […], in: März 7.13, 1913, S. 478 f. 129 Bd. 6, S. 15.
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tätskonstruktion besonders ›deutsche‹ Gebiet bleibt dadurch unversehrt von Krankheit und Tod. Es wird so desto stärker gegen einen durchseuchten Außenraum abgesetzt. Und von diesem bleibt sehr bemerkenswerterweise offen, wo genau er beginnt: ob erst im eigentlichen Ausland oder nicht schon in katholisch-deutschem Raum beziehungsweise auf dem Gebiet solcher deutscher Mittelstaaten, die im Deutschen Krieg von 1866 gegen Preußen und die preußischen Alliierten verbündet waren. Die Furcht vor Ansteckung und Tod, mit anderen Worten, kolludiert auf Thomas Manns ›mental map‹ nicht einfach nur mit eigentlicher Xenophobie und männlichen Sexualängsten, sondern zugleich mit den Ressentiments, welche die deutsche Einigung im kollektiven Gedächtnis ablagerte. Daß sich solchen Schematismen von Identität und Alterität gerade die Krebsangst nicht mehr ohne weiteres integrieren läßt, zeigt sich in der Betrogenen schon an den vergleichsweise minimen und unerheblichen Bewegungen der Patientin (von Duisburg nach Düsseldorf; von Düsseldorf nach »Holterhof« alias – so ja noch in der Handschrift – »Benrath«). Diese Bewegungen verletzen weder die konfessionellen noch die politischen noch sonstwelche totalisierbaren Grenzen. Die Handlung setzt auf traditionell katholischem Gebiet und vor allem eben ganz am Rand des deutschen Territoriums schon ein. Und dieser Rand liegt dem Grenzsegment so ziemlich diagonal gegenüber, auf welches sich die deutschen Helden sonst zubewegten. Verschleppte Reste des alten Schematismus kann man freilich, wenn man lange genug danach sucht, auch in der Krankheitsgeschichte der Betrogenen finden. Zum Beispiel wird die seinerzeit noch besonders breit klaffende Lücke in der Aitiologie der Krebsentstehung vom Professor mit einer hier unter Umständen wieder genau einschlägigen Floskel belegt (mit der sich Thomas Mann übrigens von den sonst treulich übernommenen Vorgaben seines medizinischen Ratgebers entfernte): »durch Gott weiß welchen Reizvorgang zu maligner Entwicklung«. (Dr. Frederick Rosenthal, Thomas Manns »wirkliche[r] Geheime[r] Rat« – so die Widmung im diesem überreichten Exemplar der Buchausgabe 130 –, hatte geschrieben: »durch einen neuentstehenden Reizvorgang«. 131) 130 Gert Heine und Paul Schommer (Hgg.), »Herzlich zugeeignet«. Widmungen von Thomas Mann 1887–1955, Lübeck: Dräger, 1998 (Buddenbrookhaus-Kataloge), S. 198; Friedrich Rosenthal, Erinnerungen an Thomas Mann, in: Caroliner Zeitung. Blätter für Kultur und Heimat 25/26, 1958, Sonderheft, S. 51–61, hier S. 59. Vgl. dasselbe Widmungs-Bonmot in Theodor W. Adornos Exemplar des Doktor Faustus: Bd. 11, S. 293. 131 [Frederick Rosenthal,] Zur Physiologie und Pathologie der Eierstöcke im Zusammenhang mit Erscheinungen in den Wechseljahren [Manuskript, Thomas Mann-Archiv; vermutlich Anlage eines verschollenen Briefs aus der zweiten Mai-Hälfte 1952]; im Original keine Hervorhebung.
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Professor Muthesius’ floskelhafte Berufung auf die göttliche Allwissenheit lädt den Leser dazu ein, die hier eigens markierte Leerstelle aus seinem, des Lesers, Wissensvorsprung heraus selber zu füllen: Der ›Reiz‹ könnte vom Begehren ausgegangen sein, das heißt weiter: vom begehrten Amerikaner, dem ›Erreger‹, der ursprünglich ja tatsächlich in kriegerischmörderischer Absicht von weit her nach Europa kam. Der Tod wäre dann letztlich eben doch von weit jenseits der Grenze nach Deutschland gelangt und wieder über die Geschlechterdifferenz hinweg; nur eben jetzt über einen Mann zur Frau und nicht mehr umgekehrt. Dabei freilich geht die Vertauschung der Geschlechterdiathesen wie gesehen mit einer Verunklärung der sexuellen Identitäten einher, indem die Frau die sonst ›männliche‹ Position usurpiert und den Mann so zum »Weib« macht. Und jedenfalls bleibt die männliche Sexuierung des Reichs und seiner Zentren immerhin insofern gewahrt, als sich die Randregion in verdächtiger Nähe zu der Nation befindet, die in jener soliden und eingefleischten Tradition deutscher Selbstvergewisserung als weiblich und weibisch wahrgenommen wurde. 132 Daß diese Tradition auch für Thomas Mann noch maßgeblich war und wie die Sexualisierung der französischdeutschen Differenz auch in der Betrogenen noch fortwirkt, zeigen schon die weiblichen Personennamen beziehungsweise die im Lauf der Entstehungsgeschichte genau beobachtbaren Normalisierungen der ehedem uneinheitlichen Namensschreibung: »Louise Pfingsten« (nirgends mehr »Luise«) und »Amélie Lützenkirchen«133 (ein Nachname, den Thomas Mann auch bei jenem halb anonymen Topffabrikanten von dem französischen Männernamen dissoziierte, mit dem verbunden er ihn in Person des »Rheinländer[s]« 134 Matthieu Lützenkirchen ein halbes Jahrhundert früher am Münchener Hoftheater kennengelernt hatte). Die Sexuierung der deutsch-französischen Differenz erhält bei Thomas Mann eine prägnant politische Füllung. Diese freilich gehörte zu den Gemeinplätzen deutscher Selbstüberhebung. Der ehemalige Kaiser Wilhelm II. hielt noch »in den Zwanzigerjahren« verbissen und mit wissenschaftlichem Eifer daran fest. 1928 publizierte er erst im amerikanischen Century Magazine, dann auch in der Berliner Zeitungs-Post einen hierfür genau einschlägigen Artikel mit dem Titel »The Sex of Nations: Of Special 132 Vgl. Ruth Florack, »Weiber sind wie Franzosen geborne Weltleute«. Zum Verhältnis von Geschlechter-Klischees und nationalen Wahrnehmungsmustern, in: dies. (Hg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur, Tübingen: Niemeyer, 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 76), S. 319–338. 133 Bd. 8, S. 902, 907, 915, 933; im Original keine Hervorhebung. 134 Undatierter Brief an Alois Johannes Lippl; Briefe 1948–1955 und Nachlese, S. 183–187, hier S. 186.
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Importance to the United States« respektive, in der Rückübersetzung, »Das Geschlecht der Völker«. Darin, unter Berufung auf Oswald Spengler 135 und vor allem auf seinen »Freund«, den ›Kulturmorphologen‹ Leo Frobenius, formuliert er die pseudosexuelle Binäropposition, in der er allen Ernstes die also quasi-natürliche »Grundursache des Weltkrieges« ausmacht, 136 mit wünschbarer Prägnanz und immer wieder von neuem. So heißt es unter dem Zwischentitel »Das feminine Frankreich und das maskuline Deutschland«: »Ein hervorragendes Beispiel femininer Kultur bietet uns Frankreich. Ein Hauptvertreter maskuliner Kultur dagegen ist Deutschland.« Feminin sei Frankreich vor allem auch wegen seiner »parlamentarische[n] Regierung als Vertreterin der Klassen«.137 Solch eine politische Besetzung der nationalen und in eins damit eben auch der sexuellen Differenz verrät bei Thomas Mann bereits einer der ersten Eindrücke, die in seiner ausführlichsten literarischen Repräsentation Frankreichs registriert werden, nämlich auf Felix Krulls erster Omnibusfahrt durch Paris (von welcher der Autor wider erweisbar bessere Ortskenntnisse wollte, daß sie am »Bahnhof des Nordens« beginnt: 138 als beschriebe die Reise von Frankfurt nach Paris einmal mehr eine Bewegung von Norden nach Süden und nach »unten auf der Landkarte« 139). Der Name einer hier notierten Haltestelle erinnert an das Gründungsdatum einer, nämlich der Dritten Republik. Die »Rue du Quatre Septembre« 140 fixiert die egalitär-demokratische Verfaßtheit, welche das eben erreichte, betretene, man darf wohl auch sagen: penetrierte Land von der Heimat des Eindringlings unterscheidet. Und auf genau diese politische Differenz konnte Thomas Mann bei seiner weiblichen Sexuierung Frankreichs ganz unverhohlen abzielen, solange er sich als ›Unpolitischer‹ gerierte – denn »unpolitisch, das heißt undemokratisch« 141 –: Man versteht sich kaum auf die Demokratie, wenn man sich auf ihren femininen Einschlag nicht versteht. »Die Freiheit und eine Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der Sonne.« 142 135 Zu Thomas Manns eigener Spengler-Rezeption vgl. Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin: Akademie Verlag, 2002. 136 Wilhelm II., Das Geschlecht der Völker, in: Berliner Zeitungs-Post, 13. August 1928, S. 66–69, hier S. 66; [Rückübersetzung aus:] ders., The Sex of Nations. Of Special Importance to the United States, in: Century Magazine 116.2, Juni 1928, S. 129–139, hier S. 131 f.; freundlicher Hinweis von John C. G. Röhl, Sussex, vom 17. September 2003. 137 Wilhelm II., Das Geschlecht der Völker, S. 66 f. 138 Bd. 7, S. 390. Vgl. dagegen Walther Siegfried, Paris vor dem Krieg, in: Süddeutsche Monatshefte, April 1916, S. 47–76, hier S. 47; mit Lesespuren Thomas Manns. 139 Bd. 8, S. 275. 140 Bd. 7, S. 392. 141 Bd. 12, S. 302. 142 Bd. 12, S. 307.
4 Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch Zu Thomas Manns Rückdatierung der Republik 4.1 Die strukturgebende Funktion des Ersten Weltkriegs in Thomas Manns Erzählwerk Daß es in der Betrogenen untergründig, aber wesentlich auch um »Demokratie« und »Freiheit« geht, lassen schon die allerersten Worte des Texts vermuten. Das Incipit, »In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts«, 1 ist referentiell wie gesagt insofern singulär, als kein anderer Text des Autors mit derselben Ausschließlichkeit dem ›Chronotopos‹ der ›roaring twenties‹, ja kaum einer den »zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts« gilt; Mario und der Zauberer und Unordnung und frühes Leid mit eingeschlossen. Denn Mario und der Zauberer, 1930 erschienen, aber entstanden im Sommer 1929, 2 also noch vor dem ›Schwarzen Freitag‹ und der Weltwirtschaftskrise, ist einem ganz anderen Chronotopos verschrieben, dem italienischen Faschismus, dem faschistischen Italien, oder, wie im einzelnen noch zu interpretieren, einem »servile[n]« »Byzantinismus« 3 und einer zum »Humbug« 4 verkommenen Standesgesellschaft. Und in Unordnung und frühes Leid von 1925 geht es um einen anderen Chronotopos als die eigentlichen ›roaring twenties‹. Die termini post quos und ante quos der erzählten Zeit sind hier durch die von Anfang an thematische Hyperinflation fixierbar. Sie geben damit ein Intervall zwischen Sommer 1922 und Herbst 1923 vor (das kalendarisch über Hirschs Fürst von Pappenheim noch enger, auf 1923 eingrenzbar wäre). Unordnung und frühes Leid spielt also zur Zeit der überhaupt tiefsten Krise der deutschen Zwanzigerjahre. 1 2
3 4
Bd. 8, S. 877. Zu den daraus resultierenden intertextuellen Bezügen vgl. Sascha Kiefer, Novellenbegriff und Zeitbezug. Bruno Franks Politische Novelle (1928) und Thomas Manns Mario und der Zauberer (1930), in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9, 2004, S. 89–128. Bd. 8, S. 662. Bd. 8, S. 676.
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Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch
Hingegen legte Thomas Mann die »Handlung« der Betrogenen schon in den Notizen annalistisch auf die Zeit »um 1925« fest. Er kodierte diese Festlegung im ersten Abschnitt des ausformulierten Novellentexts nota bene gleich doppelt. Rosalie von Tümmler darf einerseits als Kriegswitwe und Rentnerin schon wieder »in bequemen […] Verhältnissen«, das muß heißen: nach der Währungsreform leben. Und andererseits ist sie »seit mehr als einem Jahrzehnt« Witwe, nachdem »[i]hr Gatte, Oberstleutnant von Tümmler«, 1914, nämlich »ganz zu Anfang des Krieges« ums Leben gekommen sein soll. 5 Auch daraus ergibt sich also für die »Handlung« ein terminus post quem, der irgendwo, aber doch nicht allzuweit hinter dem Jahr 1924 liegen muß. Die »Handlung« fällt also in die allerbeste und keineswegs repräsentative Zeit der Weimarer Republik. Und diese Datierung auf die Republik läßt sich schon innerhalb einer simplen Widerspiegelungsästhetik in einen sinnvollen Zusammenhang bringen mit der anderen Besonderheit, daß die Hauptrolle dieser Handlung ausnahmsweise mit einer Frau besetzt ist. Welche ökonomischen und politischen Realitäten diese literarische Ermächtigung der Frau widerspiegelt, liegt auf der Hand. Die Weimarer Republik brachte den deutschen Frauen ein bisher beispielloses Maß an politischer Gleichberechtigung. An den Parlamentswahlen vom 19. Januar 1919 durften sie bekanntlich zum ersten Mal aktiv und passiv teilnehmen, nachdem sie in der Kriegsgesellschaft ökonomisch wichtige Funktionen hatten übernehmen müssen oder auch schon das Kampfmittel des Streiks eingesetzt hatten. 6 Und in Hinblick auf die Repräsentation der weiblichen Bevölkerung – knapp zehn Prozent der Abgeordneten waren Frauen – blieb das Wahlergebnis von 1919 lange unerreicht (bis 1983 in den Bundestagswahlen, bis 1949 in den Wahlen zur Volkskammer der DDR). 7 So weit, so gut. Zu denken müßte einem allerdings geben, daß es der Text seinen Lesern und Leserinnen bei etwas näherem Hinsehen ganz so leicht nun auch wieder nicht macht. Denn den eigentlichen Fixpunkt der zunächst so sinnvoll datierbaren Handlung bildet hier gerade nicht das Kriegsende, das jene Wahlen mit sich brachte; sondern diesen Fix- und Fluchtpunkt der Ereignisse und ihrer Datierung bezeichnet hier der ›Ausbruch‹ des Ersten Weltkriegs – und übrigens nicht nur hier. 5 6 7
Bd. 8, S. 877; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Kattrin Bauer, Der 8. März – Zur Geschichte des Internationalen Frauentags in Deutschland, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 36, 1994, S. 9–16, hier S. 11. Parlamentarierinnen in deutschen Parlamenten 1918–1983, Bonn: Deutscher Bundestag, 1983 (Materialien. Deutscher Bundestag. Verwaltung. Hauptabteilung. Wissenschaftliche Dienste, Bd. 82), S. 5–7.
Funktion des Ersten Weltkriegs
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Auch schon die erzählte Zeit und die Erzählzeit der beiden Romane, die Thomas Mann in der Zwischenkriegs- beziehungsweise der zweiten Kriegs- und Nachkriegszeit der deutschen Zeitgeschichte widmete, organisierte er anhand dieses einen ereignisgeschichtlichen Moments. Den einen Roman ließ er auf ihn zulaufen; den anderen zentrierte er auf ihn. Der Zauberberg endet bekanntlich mit dem »historische[n] Donnerschlag« des Kriegsausbruchs.8 Und die erzählte Zeit des Doktor Faustus, ihrerseits auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zugespitzt, in den dann die fiktive Erzählzeit größtenteils zu liegen kommt, ist oder war jedenfalls einmal ganz handgreiflich um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im eigentlichen Wortsinn ›konzentriert‹. Um sich davon zu überzeugen, braucht man wenig mehr als eine »[t]echnische Bemerkung« heranzuziehen, die, in der Reinschrift überliefert, einst für die Druckfassung bestimmt war und dort »[a]uf der Rückseite des Titelblatts« hätte stehen sollen: Technische Bemerkung Der immer auf Schonung des Lesers bedachte, um dessen Geduld besorgte Verfasser hat sein Werk nachträglich in 6 Kapitelgruppen, sogenannte »Bücher« gegliedert, in dem Wunsch, größere Übersichtlichkeit damit zu erzielen. Ursprünglich lief die Biographie in XLVII durchgehend numerierten Kapiteln fort nebst der »Nachschrift« fort, wie noch aus einer oder der anderen Stelle des Textes ersichtlich ist.
Die »6 Kapitelgruppen«, die die »sogenannte[n] ›Bücher‹« bilden sollten, hätten sich nach einer Art Inhaltsverzeichnis, ebenfalls in Reinschrift erhalten geblieben, so zusammengesetzt: Erstes Buch: Kapitel I bis X Zweites Buch: Kap. XI bis XXI Drittes Buch: Kap. XXII bis XXIX Viertes Buch: Kap. XXX bis XXXVII Fünftes Buch: Kap. XXXVIII bis XLII Sechstes Buch: Kap. XLIII bis XLVII Nachschrift
Das dritte Buch hätte also mit Kapitel XXIX enden, das vierte mit Kapitel XXX beginnen sollen. Die erzählte Zeit aber des neunundzwanzigsten Kapitels hört in den ersten Monaten von »1914« auf; und der Erzähler versäumt es nicht, die im Rückblick fatale Bedeutsamkeit der Zeitangabe 8
Bd. 3, S. 985; vgl. S. 981, 989.
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Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch
eigens noch herauszustellen: »Fasching von 1914«, »der letzte vor Eintritt des vierjährigen Krieges«.9 Die erzählte Zeit des dreißigsten Kapitels setzt dann auch wirklich genau mit dem Kriegsausbruch ein: »Die ersten glühenden August-Tage 1914 […].« 10 Die Einteilung der Erzählzeit nach »Kapitelgruppen« und »Bücher[n]« sollte in ihrer allergröbsten Struktur das Kontinuum der erzählten Zeit somit nach einem ganz offensichtlichen Prinzip profilieren, es wie gesagt ›konzentrisch‹ gliedern. Auf oder in die sozusagen arithmetisch exakte Mitte des Romans, eben zwischen das dritte und das vierte Buch, wäre der Ausbruch des Ersten Weltkriegs gefallen. Um den Kriegsausbruch hätten daher auch alle anderen Bücher und Kapitel gleichsam gravitiert. Die Mitte des Doktor Faustus, das Ende des Zauberbergs und der Anfang der Betrogenen geben so etwas von der Bedeutung zu erkennen, welche der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, auch nach namhaften zeitgenössischen Historikern noch die »Urkatastrophe Deutschlands« 11 und »great seminal catastrophe« 12 des zwanzigsten Jahrhunderts, 13 für das Geschichtsbild und den Geschichtspessimismus Thomas Manns gewann. Noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Anfang 1946, also sozusagen über den Nationalsozialismus und die Shoah hinweg, setzte er den Ursprung der »Mutationskrise, durch die wir gehen«, »nicht erst 1933, sondern schon 1914« an. 14 Der »Ausbruch des Krieges« von »1914« »markierte« für ihn auch damals noch »historisch« »das Ende einer Welt und den Anfang von etwas völlig Neuem«.15 Ganz offensichtlich also ›schloß‹ sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Thomas Manns genau wie in Serenus Zeitbloms »geschichtliche[m] Blick mit den Schrecken« der späteren Geschichte »zu einer Epoche zusammen[]«.16
9 10 11 12 13 14 15 16
Bd. 6, S. 378. Bd. 6, S. 398. Wolfgang J. Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918, Stuttgart: Klett-Cotta, 2002 (Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 17). George F. Kennan, The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890, Princeton: Princeton University Press, 1979, S. 3. Vgl. Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München: Luchterhand, 1999, S. 27. Undatierter Brief an Pierre-Paul Sagave; Briefe 1937–1947, S. 475 f., hier S. 475. Ebd. Bd. 6, S. 378; Hervorhebung des Originals.
Von Deutscher Republik
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4.2 Von Deutscher Republik Insbesondere aber ›schließt‹ sich der Kriegsausbruch in der Vorstellung Thomas Manns auch mit dem ›zusammen‹, was eigentlich erst mit dem Kriegsende und der deutschen Niederlage möglich wurde oder was sich doch frühestens seit 1917 erst abzuzeichnen begann. 17 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs fiel in Thomas Manns Rückblick darauf gewissermaßen mit dem Ende der Monarchie zusammen. Er antizipierte für ihn in bestimmter Weise schon die Etablierung der ersten Republik auf deutschem Boden. So steht es expressis verbis ausgerechnet in dem Text, in dem Thomas Mann dieser Republik 1922 erstmals öffentlich huldigte. Sein vielleicht etwas allzu promptes Bekenntnis zu »Deutscher Republik«, 18 von dem er zumindest ahnte, wie opportunistisch es wirken konnte und noch immer wirken kann – deshalb wohl testete er es sozusagen in einer Uraufführung, Vorpremiere oder Generalprobe pro domo 19 –, dieses etwas fadenscheinige Bekenntnis also legte Thomas Mann vor Berliner Studenten ab, in Gegenwart Friedrich Eberts und vielleicht, aber vielleicht auch nicht von ungefähr mit einer Widmung an »Gerhart Hauptmann / zum sechzigsten Geburtstag« 20 (denn bei Hauptmann fanden seinerzeit antirepublikanische und antifeministische Ressentiments zu derselben Symbiose zusammen, 21 die sich auch an der Betrogenen freilegen läßt): 17 18 19 20 21
Vgl. Hagen Schulze, Kleine Deutsche Geschichte. Mit Bildern aus dem Deutschen Historischen Museum, München: Beck, 1996, S. 159–161. Bd. 11, S. 811. Vgl. Thomas Mann, Essays II. 1914–1926. Kommentar von Hermann Kurzke, Frankfurt a. M.: Fischer, 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.2), S. 346. Bd. 11, S. 811. Vgl. z. B. Hauptmanns zeitgleich mit dem Zauberberg veröffentlichte Insel der Großen Mutter – eine von Thomas Mann genau registrierte Koinzidenz (Bd. 9, S. 812) –, die das Scheitern einer Republik exemplarisch durchspielt; exemplarisch deshalb, weil diese sich unter den denkbar idealen Bedingungen konstituieren kann (so etwa nicht mit einer gewaltsamen Aneignung ihres Territoriums beginnen muß). »[D]ie Frage: Was ist besser, Republik oder Monarchie« ist hier ganz selbstverständlich mit der anderen Frage verhängt: »Frauenemanzipation, aktives und passives Wahlrecht oder Knechtung der Frau?« (Gerhart Hauptmann, Die Insel der Großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dames. Eine Geschichte aus dem utopischen Archipelagus, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Egon Haß, Bd. 5: Romane, Frankfurt a. M. und Berlin: Propyläen, 1962, S. 681–902, hier S. 690). Diese Verhängung zweier zunächst einmal verschiedener Fragen erklärt sich natürlich daraus, daß in Deutschland »Republik« und »Wahlrecht […] der Frau« eben tatsächlich zusammenfielen; und daß es Hauptmann auf diese Koinzidenz wesentlich ankam, zeigt der Roman bis in den ›Paratext‹ seiner einzigen Fußnote, welche die Entstehungszeit einer bestimmten »Stelle« ausweist: »Diese Stelle wurde im Jahre 1916 geschrieben« (ebd., S. 685, Anm.). Die »Stelle« – aus der Rede einer Anni Prächtel –, welche die Fußnote entstehungs-
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Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch
[E]s ist, um das streitbar zu wiederholen, keineswegs und durchaus nicht wahr, daß die Republik als innere Tatsache (ich rede jetzt nicht von staatsrechtlichen Fixierungen) ein Geschöpf der Niederlage und der Schande ist. Sie ist eines der Erhebung und der Ehre. Sie ist, junge Leute, das Geschöpf eben der Stunde, die ihr nicht verleugnet und mit schlechtem Hohne geschändet wissen wollt, der Stunde begeistert todbereiten Aufbruchs – damals stellte sie in euerer Brust sich her. 22
Das Wort von »der Stunde begeistert todbereiten Aufbruchs« als eigentlicher Geburtsstunde der Republik ist sicherlich mehr als einfach nur feiertägliches Pathos. Es appelliert offenbar an ein Moment des Mythos ›Langemarck‹, das durchaus sein fundamentum in re hat. Denn zur Mannschaft der Regimenter von 1914 gehörten ja ohne Unterschied und Privilegien auch Gymnasiasten und Studenten. Und insofern entstand hier wirklich auf quasi ›republikanische‹ Art und Weise ein nationales Identitätsgefühl jenseits der Klassengrenzen und über sie hinweg. 23 Dennoch und wie er selber eingesteht, wenngleich nur vage und zwischen Klammern, nimmt es Thomas Mann hier mit den historischen Tatsachen auf, die im kollektiven Bewußtsein vor allem der Rechten nur allzu gegenwärtig waren. Zu den schlimmen Hypotheken der Weimarer Republik gehörte es ja, daß ihre Entstehung zeitlich tatsächlich mit der »Stunde« der Kapitulation so gut wie zusammenfiel. Sie entstand nicht ursächlich aus der eigenen Kraft von Parlament und Parteien; sondern sie ging eigentlich nur aus der Ratlosigkeit der Generäle hervor. Die »streitbar[e]« Unterscheidung von »Republik« und »Niederlage« mag hier auch eine rhetorische Kapriole sein und eine weitere »sophistisch[e]« 24 Konzession an die »junge[n] Leute« zur Rechten. Gleichwohl scheint Thomas Mann gerade in seinem eigenen antirepublikanischen Ressentiment in der Tat wenn auch nicht die Republik als solche, als »staatsrechtliche[] Fixierung[]«, so doch alles, was er ›innerlich‹, insbesondere
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geschichtlich datieren und deren Komik sie erklären beziehungsweise garantieren soll, stellt die Verbindung der beiden »Fragen« her: »Berlin ist übrigens der Sitz des Präsidenten der deutschen Republik«. Die Fußnote stellt sicher, daß ›man‹ noch immer über die politische Dummheit der Frau lachen darf, deren ›prächtiger‹ Fehler freilich, das beweist ja die Fußnote durch ihre schiere Existenz, etwas Divinatorisches hat und jedenfalls etwas von der tiefen Sympathie ›der‹ Frau für die »Republik« auch und gerade noch dort erkennen läßt, wo sie in Widerspruch zu den historischen Gegebenheiten steht. Vgl. Boss, Männlichkeiten in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 11, S. 824. Vgl. Gerd Krumeich, Langemarck, in: Etienne François und Hagen Schulze (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München: Beck, 2009 (Beck’sche Reihe), S. 293–309, hier S. 296 f. Bd. 11, S. 809.
Von Deutscher Republik
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geschlechterpolitisch und sexualsymbolisch damit verband, mit dem Kriegsausbruch identifiziert zu haben. Diese Identifikation hat wohl auch mit der Krise zu tun, in welche die in den Materialschlachten des Kriegs ganz neu erfahrbare Hinfälligkeit des männlichen Körpers das wilhelminisch-militaristische Männlichkeitsideal noch vor der eigentlichen »Niederlage und […] Schande« stürzte. Schon zuvor war dieser Körper obsolet geworden, so als Arbeitskörper durch die Beschleunigung der industriellen ›Revolution‹.25 Insofern ist es eben kaum Zufall, wenn Die Betrogene ganz ausnahmsweise in einem, wenn nicht dem industriellen Zentrum Deutschlands und ganz ausdrücklich in »industrieller Sphäre« spielt. Wie gezeigt verdrängen bei Thomas Mann Technik und Maschine in dieser – weiblich assoziierten, weiblich personalisierten – »Sphäre« die Identität des Körpers und seiner Genealogie selbst noch aus den einschlägig sprechenden und komponierten Personennamen: »bei Rollwagens, dem Maschinen-Rollwagen«; 26 ein Name übrigens, der schon im Doktor Faustus vorkommt: Rudi Schwerdtfeger verkehrt dort einmal »bei Rollwagens, wo die beiden rassigen Töchter seien«.27 Der »rassigen«, um mit den Worten desselben Romans nicht zu sagen: ›stolzen‹, ›heroischen‹ oder ›gewaltigen‹ Weiblichkeit, welche der appellativisch durchsichtige Industriellenname vom Doktor Faustus her konnotiert, entspricht es wiederum sehr genau, wenn schon ganz zu Anfang der Betrogenen eine Verbindung der »industrielle[n] Sphäre« mit dem Stereotyp von der Leichtlebigkeit der Rheinländer und Rheinländerinnen hergestellt wird. Hier »läßt« denn auch solch ein Industrieller seiner Frau »jede Freiheit«: der schon ex nomine wieder ›kleine‹ Topffabrikant »Lützenkirchen«, »dick, kurzatmig und faul«, schlechtweg »der Dicke«,28 der auch in seiner ehelichen Toleranz an den Elsässer Schüsselfabrikanten Houpflé, in seiner Leibesfülle dazu noch an den Potiphar des Josephsromans und in seiner mit alledem suggerierbaren Impotenz an beide zugleich erinnert. Zeitlich aber resultieren solche Verhältnisse, unter denen den Frauen alle »Freiheit[en]« gelassen werden und die Männer so erbärmliche Figuren abgeben, und resultiert kurzum die umfassende Erosion ›männlicher‹ Idole und phallischer Symbole eben »ganz« direkt aus dem »Anfang des Krieges«. Auch nur schon jene Geschichte von der lüsternen Verfolgtheit des 25
26 27 28
Vgl. Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 145; Anson Rabinbach, Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in: Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Hgg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 286–312. Bd. 8, S. 902; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 391. Bd. 8, S. 902.
150
Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch
Dr. Brünner muß ziemlich genau aufs Jahr 1914 fallen. »[G]anz« genau auf den »Anfang des Krieges« gehen insbesondere die ökonomische Selbständigkeit der Protagonistin oder eben auch die Damenwahl des Handlungsorts zurück.
4.3 »[D]ie Republik als innere Tatsache« und die Männlichkeitskrise der Betrogenen Die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs von Kriegsausbruch und Rollenkrise ist erwiesenermaßen gewollt. Ehedem nämlich hätte die endgültige Abwesenheit des Vaters und typisch kaiserzeitlichen »Junker[s]« noch mit keinem historischen oder sonstwie äußeren Ereignis kommunizieren sollen, geschweige denn mit dem Ersten Weltkrieg. Sondern sie wäre die natürliche Folge eines natürlichen Tods gewesen, den dieser Vater vormals sterben mußte beziehungsweise noch sterben durfte. Sie wäre damit noch so einfach durch die ›konstitutionelle‹ Schwäche des Manns motiviert worden wie bei jenem Schwiegersohn, den Thomas Mann in den Notizen konzipiert hatte. Dieser Schwiegersohn und Sinologe sollte ja nach »kurzer Ehe« einer »vehementen Lungenentzündung« erliegen. Er sollte, heißt das, so sterben, wie Rosalie jetzt in der Folge ihrer Krebskrankheit eigentlich und tatsächlich stirbt: Auch hier wieder erweist sich die Stichhaltigkeit des Verdachts, daß die Verlagerung von Krankheit und natürlichem Sterben auf den weiblichen Körper den männlichen vergleichsweise unsterblich erscheinen lassen kann und soll. Und noch eine andere Regelmäßigkeit übrigens hätte der tote Schwiegersohn mit seinem frühzeitigen Ableben bestätigt. Sein frühes Sterben wäre wieder auf ein unterschwelliges ›alignment‹ von Demokratismus und hinfälliger Männlichkeit oder männlicher Hinfälligkeit hinausgelaufen. Denn anders als man zunächst vermuten könnte, solange man jedenfalls nur Manns Konversationslexikon konsultiert, weist das ausgefallene Interesse und exzentrische Fachgebiet des Schwiegersohns auf China nicht etwa im Sinn einer exemplarisch »monarchisch« oder »patriarchalisch« verfaßten,29 einer geradezu sprichwörtlichen Kaiserkultur. Als eine solche figuriert »China« zwar eben unter dem entsprechenden Lemma in der entsprechenden Auflage von Meyers Konversations-Lexikon oder weithin
29
Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 4, Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 51895, S. 44–64, hier S. 57, s. v. ›China‹.
»Republik als innere Tatsache«
151
auch in der deutschen Reiseliteratur 30 und Literaturgeschichte, so etwa in Heinrich Heines höhnischem Gedicht über den Kaiser von China und seinen »Hofweltweise[n] Confusius«. 31 Dennoch scheinen ›China‹ und ›Sinologie‹ in der Betrogenen beziehungsweise auf deren ältesten Konzeptionsstufen im Gegenteil gerade für Nivellierung, Uniformität respektive für all das zu stehen, was an solchem Egalitarismus assoziativ mit dem ›anderen‹ Geschlecht verschaltet und mit dem Gegenpol alles in großem Stil ›Männlichen‹ kurzgeschlossen war; und das noch lange bevor die chinesische Revolution von 1949 in das Bewußtsein Thomas Manns und seiner Zeitgenossen trat und abgesehen auch von der seit alters weiblichen Sexuierung der Chinesen und der Asiaten überhaupt. 32 Nach allem, was man von dem eruieren kann, was sich in Thomas Manns Vorstellungen mit ›Sinologie‹ und ›China‹ verbunden haben muß, sah er in »den Chinesen« die egalitärste aller Kulturen. Selbst »die Franzosen«, die ja in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) als die Demokraten par excellence firmierten und auch beim ›entsetzten‹ Kaiser Wilhelm das »Beispiel« für die ›Weiblichkeit‹ eines ganzen Volks abgaben, waren für Thomas Mann als »Demokraten […] den Chinesen« nur eben »verwandt«.33 »[I]n der Radicalität demokratischer Gesinnung« aber »erreichten« sie, also ausgerechnet »die Franzosen«, die »Chinesen« denn doch nicht. 34 Diese befremdlich apodiktischen Vorstellungen von »den Chinesen« als Radikaldemokraten, die Thomas Mann 1939 seinem Goethe in Lotte in Weimar in den Mund legte, scheinen ihre wesentliche Prägung über Nietzsche erfahren zu haben; aus welcher Quelle dieser auch immer seinerseits geschöpft haben mag (wahrscheinlich aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, wo Hegel über China immerhin zu sagen weiß, daß es ein »Reich der absoluten Gleichheit« sei 35). Jedenfalls war Thomas Mann in 30 31 32 33 34 35
Vgl. Weigui Fang, Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871–1933. Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie, Frankfurt a. M. et al.: Lang, 1992 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1356), S. 14–16. Heinrich Heine, Der Kaiser von China, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 2: Neue Gedichte, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983, S. 122 f., hier S. 123. Vgl. Adrian Hsia, Chinesia. The European Construction of China in the Literature of the 17th and 18th Centuries, Tübingen: Niemeyer, 1998 (Communicatio, Bd. 16), S. 118. Bd. 2, S. 734. Ebd. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 31992, S. 157, vs. Johann Gottfried Herder, Werke, hg. v. Martin Bollacher et al., Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985–2000 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 1, 41, 60, 63, 93, 95, 105 f., 147, 154, 170), Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 430–442; freundlicher Hinweis
152
Zwanzigerjahre und Kriegsausbruch
Nietzsches seinerzeit schon publiziertem Nachlaß offenbar auf zwei einschlägige Notizen gestoßen: »›der große Mensch ist ein öffentliches Unglück‹«; und: »deshalb halten die Chinesen große Männer für ein nationales Unglück«. 36 Diese zwei fast gleichlautenden Eintragungen muß Thomas Mann beide zur Kenntnis genommen haben. Denn er hat sie zu einem einzigen Bonmot zusammengezogen. Das erste gab er sehr bemerkenswerterweise bis auf das potentiell geschlechtsneutrale Subjekt »Mensch« ganz wörtlich wieder, verlieh ihm aber die geschlechtsspezifisch ›männliche‹ Wendung des zweiten. Aus dieser Kombination besteht »das Wort«, das Goethe im achten Kapitel von Lotte in Weimar angeblich nach den »Landsleute[n] des Confucius« zitiert (also eines politisch wie philosophisch überragend »große[n] Mann[s]«) und über das seine ergebene Tischgesellschaft deshalb so verdächtig ausgelassen lacht, weil aus ihrer subalternen Perspektive »[d]ie Chinesen« damit »recht« »haben«: »Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.« 37 – Aber zurück zum öffentlichen Unglück des Kriegsausbruchs und dem damit jetzt verbundenen Tod des verunfallten Militärs Robert von Tümmler, dessen adliger Name vermutlich in eins mit seiner martialischen Assoziiertheit an sich schon in die unmittelbare Vorkriegszeit zurückreicht – ein Baron »von Thuemmler« (alias »Thümmler«) empfahl sich zu Katia und Thomas Manns Zeit in Davos Platz per Annonce dem »Deutsche[n] Offizier-Verein« 38 –: In den Entwurfsnotizen also nimmt der Mann, Gatte und Vater zunächst noch nicht das Ende, welches nun eigentümlich zwischen der Absurdität eines Unfalltods und der patriarchal-patriotischen Sinnhaltigkeit eines Selbstopfers fürs Vaterland changiert. In dieser Unzuweisbarkeit reflektiert der Tod des Vaters jetzt vielleicht seinerseits
36
37 38
von Christian von Zimmermann, Bern, vom 8. Juni 2009. Vgl. Christian von Zimmermann, Globale Entwürfe. China in der Kulturgeschichtsschreibung und in Weltreiseberichten zwischen 1850 und 1920, in: ders., Thomas Borgard und Sara Margarita Zwahlen (Hgg.), Herausforderung China, Bern: Haupt, 2009 (Berner Universitätsschriften, Bd. 53), S. 215–251, hier S. 227–230. Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 12 (Abt. II: Nachgelassene Werke, Bd. 4): Unveröffentlichtes aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft und des Zarathustra (1881–1886), Leipzig: Naumann und Kröner, 21901, S. 114, Nr. 227; S. 119, Nr. 232; freundlicher Hinweis von Yvonne Schmidlin, Zürich, vom 2. Dezember 2002. Bd. 2, S. 734. Davoser Blätter, 7. September 1912 [o. P.]; Adressbuch der Landschaft Davos, DavosPlatz: Neweczerzal, 1909, S. 29, s. v. ›Thümmler, Baron von‹. Vgl. Adress-Buch für die Landschaft Davos, Davos-Platz: Rhätische Druckerei, 31917, S. 26, s. v. ›Thümler Leop. von‹.
»Republik als innere Tatsache«
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noch die Krise, in die der technologische Fortschritt das Männlichkeitsideal des Wilhelminismus stürzte. 39 Von der Konzeptionsgeschichte her gesehen, wie sie sich aus den Entwurfsnotizen erschließen läßt, ergab sich die Verzweideutigung dieses Tods gewissermaßen aus einem Kompromiß. Sie resultierte nämlich aus der Kontamination einer erst zivilistisch-natürlichen und einer dann eindeutig martialisch-gewaltsamen Todesart. Zuallererst hätte Oberstleutnant von Tümmler an »Schrumpfnieren und Urämie verst[e]rb[en]« sollen. Diese Notiz hat Thomas Mann dann aber gestrichen. Er ersetzte sie vorerst durch einen noch ganz allgemein formulierten und daher eben doch auch wieder ganz eindeutigen Heldentod: »im Kriege gefallen«. Ursprünglich also hätte die Vaterfigur an demjenigen Organpaar gelitten, das in der endgültigen Fassung Ken Keaton in wieder ursächlichem Zusammenhang mit dem Krieg halb eingebüßt hat. Und wenn Paul Felder diesen Verlust einer Niere mit Recht als Kastrationssymbol deutet, 40 so daß der Zusammenhang von ›Kastration‹ und Krieg im Text seinerseits eindeutig gesucht wäre – denn nach einer früheren Konzeption hätte Keaton ja nicht passiv »vom Kriege herübergeführt[]« werden, sondern sich »ohne Krieg, auf eigene Hand, als Matrose oder Tellerwäscher, herüber[]arbeite[n]« sollen –, dann versteht es sich von selbst, was »Schrumpfnieren« bedeuten und wofür die irreversible Detumeszenz sozusagen des väterlichen Organs ›stehen‹ müßte.
39 40
Vgl. z. B. Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a. M.: Fischer, 2008, S. 76–79. Paul Felder, Die Betrogene, »Unverkennbar von mir«, in: Thomas Mann Jahrbuch 3, 1990, S. 118–138, hier S. 125.
II
»Verjüngung«, »Hetärismus« und sozialer »Rückschlag« Zur Funktion des Mythos
1 Die Reminiszenzen an Genesis 18 Thomas Manns letztes vollendetes Werk, so etwa läßt sich vorläufig die Summe ziehen, ist durchaus nicht oder jedenfalls nicht einfach nur das Ergebnis einer reuevollen Konversion des »verdammte[n] alte[n] AntiFeministe[n]«, als den ihn Hedwig Dohm einmal beschimpft haben soll.1 Daß in der Betrogenen eine Frau im Zentrum der Handlung steht, ist letztlich Ausdruck einer zutiefst nostalgischen und modernitätskritischen, um nicht zu sagen reaktionären Gesinnung und einer geballten Angst: Angst der spätneuzeitlichen Menschen vor dem Krebs; Angst der Deutschen vor dem Fremden; Angst eines lübischen Patriziersohns vor Demokratie und Republikanismus; und vor allem eben auch Angst des Mannes vor der Sexualität der Frau. Die Ambivalenz von Subversion und ›Reaktion‹ kann man zurückverfolgen bis hinunter auf früheste Konzeptionsschichten und auf die Ebene der biblischen Reminiszenzen, die in diese Schichten gehören. Auch hier scheint der Text auf einen ersten Blick die patriarchalen Institutionen tatsächlich zu subvertieren; und auch hier muß dieser erste Anschein nach einem zweiten und dritten Blick differenziert, modifiziert, ja revidiert werden. Der dürftigen Figur, welche die Männer und vor allem auch die Ärzte in der Betrogenen machen, entspricht zunächst genau die Art, wie die weibliche Hauptfigur hier mit der vormodernen Tradition spielt, als deren Säkularisat man die stark und schnell gewachsene Autorität gerade der Mediziner als Mittler zwischen Leben und Tod verstehen kann. 2 Das immer wieder so genannte »Wunder« 3 ihrer »Leidenschaft« 4 nähert Rosalie selber der ›Passions‹-Geschichte an. Die vermeintliche Wiederkehr ihrer Monatsregel bezeichnet sie mehrfach als »Ostern« ihrer Weiblichkeit oder mit einem Wort, das schon in jener ersten einschlägigen Tagebuchnotiz 1 2 3 4
Bd. 11, S. 470. Vgl. Christoph König, Die Entmythologisierung der Stellung des Arztes. Eine medizinsoziologische Studie, Würzburg: Creator, 1987 (Neue Würzburger Studien zur Soziologie, Bd. 9), S. 85–87. Bd. 8, S. 903, 920, 922, 946. Bd. 8, S. 901, 903, 913, 925.
158
Reminiszenzen an Genesis 18
gleich doppelt vorkommt, als »Auferstehung«.5 Sie setzt damit ihren eigenen, weiblichen, in Wahrheit noch dazu moribunden Körper an die Stelle des Mysteriums eines auferstandenen männlichen Leibs. Die Reminiszenzen an das Ostergeschehen entsprechen also einer Verwechslung von »Krokus« und ›herbstzeitloser‹ »Abschiedsblume«, »Frühling« und »Herbst«,6 wie sie Rosalie als Möglichkeit selber statuiert (während sie an ihrer eigenen Verjüngung nicht irre zu werden braucht; denn seit ihren »Ostern« mitten im Winter vergeht zu wenig Zeit, um ihren verbohrten Glauben an ihre Menstruation zu irritieren: »kein voller Monat« 7). Die neutestamentlichen Reminiszenzen beruhen damit auf einem fatalen Irrtum. Dieselbe makabre Ironie, auf die sie so hinauslaufen, bildet auch den Fluchtpunkt einer durchgängigen Reihe von Anspielungen auf den Pentateuch. Rosalie evoziert nicht weniger als fünfmal und subvertiert zusehends auch »so eine fromme Geschichte« 8 aus dem ›Alten‹ Testament, die traditionell zur Auferstehung Christi in typologischer Axialsymmetrie steht,9 Genesis 18, die Erzählung beziehungsweise die Verkündigung von Isaaks Empfängnis.
1.1 Zur Herkunft und Bedeutsamkeit der lutherbiblischen Archaismen Die betreffende Genesis-Perikope hat Thomas Mann schon in den Notizen ausführlich exzerpiert. Die äußere Form des Exzerpts deutet darauf hin, daß er hier nicht nur die modernisierte Lutherbibel aus den ersten Jahren »unseres Jahrhunderts« heranzog, mit der er normalerweise arbeitete und es nach Ausweis seiner dort zahlreichen Lesespuren in Genesis 18 sonst sehr wahrscheinlich auch bei der Arbeit an der Betrogenen tat, aber eben nicht ausschließlich. Denn das frühe Exzerpt weist ein paar archa5 6 7 8 9
Bd. 8, S. 930 f., 950. Bd. 8, S. 934. Bd. 8, S. 936. Bd. 8, S. 891. Vgl. Gal 4,29. Vgl. auch Lukas Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks, Bd. 1: Gen 22,1– 19 im Alten Testament, im Frühjudentum und im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1998 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, Bd. 78), S. 84, 225, 278; Nils Alstrup Dahl, The Atonement: An Adequate Reward for the Akedah?, in: ders., Jesus the Christ. The Historical Origins of Christological Doctrine, hg. v. Donald H. Juel, Minneapolis: Fortress, 1991, S. 137–151; Josef Scharbert, [Artikel:] Sara, in: Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk (Hgg.), Marienlexikon, Bd. 5, St. Ottilien: EOS, 1993, S. 677 f.
Lutherbiblische Archaismen
159
ische Schreibungen auf, zum Beispiel »Umb«, »Warumb«, »Darumb«. Stellenweise hat Thomas Mann solche Archaismen in seinem Auszug sogar gegen einige der Angleichungen an die spätneuhochdeutsche Orthographie wiederhergestellt, die ihm beim Exzerpieren automatisch mit unterlaufen zu »seyn« scheinen. Die also bewußt gesuchten Archaismen des Notizen-Exzerpts stimmen nicht mit dem Text der modernisierten, sondern wörtlich oder ganz buchstäblich mit dem einer Wittenberger Lutherbibel von 1661 überein, 10 die im Nachlaß Thomas Manns erhalten blieb. Dieser erbte sie einst als Sechzehnjähriger nach dem Letzten Willen seines verstorbenen Vaters.11 Und dieser wiederum, Thomas Johann Heinrich Mann, übrigens im fast aufs Jahr gleichen Alter, mit fünfzehn, hatte sie seinerseits einmal zu Weihnachten von seinem eigenen Vater bekommen. Das geht aus der Widmung der Bibel hervor. Die Widmung beginnt mit »Mein Sohn!« Unterschrieben ist sie von »J. S. Mann junior / und« – aber in derselben, das heißt wohl der Handschrift Johann Siegmund Manns des Jüngeren (dessen alleinige Verfasserschaft auch den Singular des Possessivpronomens »Mein Sohn!« erklärt) – »Betty Mann geb. Marty / Lübeck am 23 December 1855«. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um das ›Vorbild‹ oder Äquivalent der »alte[n], zu Wittenberg gedruckte[n] Bibel«, die in Buddenbrooks jeweils immer weiter vom »Erstgeborenen […] wiederum auf dessen Ältesten übergehen« muß.12 Die Widmung der Bibel dagegen gab das ›Vorbild‹ ab für den »Satz«, der als Maxime der Buddenbrooks zusammen mit den Familienpapieren überliefert wird: »Mein Sohn! Sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können.« 13 In der Adressierung wird hier wie dort ein »Sohn!« angeredet, dessen Name aber ausgespart bleibt. Damit ist immer schon die Möglichkeit angelegt, den Sprech- beziehungsweise den Widmungsakt von einer Generation zur je nächsten immer wieder von neuem zu vollziehen, ihn virtuell ad infinitum zu iterieren. Nur handelt es sich beim Widmungsmotto der realen Familienbibel um keine Geschäftsmaxime, sondern, wenigstens zur ersten Hälfte, um ein Bibelzitat: »Habe stets Gott vor Augen und im Herzen, auf daß Du in keine Sünde willigest noch thuest wider Gottes Gebot! (Tob 4, 1)«. 10 11 12 13
Biblia […], Wittenberg: Balth. Christ. Wust, 41682, Bl. 9. Vgl. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.2, S. 629–635, hier S. 632. Bd. 1, S. 58. Ebd.
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Reminiszenzen an Genesis 18
Daß die Fundstelle eigens, wenn auch nicht ganz korrekt mitzitiert ist (eigentlich Tobias 4, 2 und 6), ist sehr sinnig. Denn das Buch Tobias handelt vom Beharrungsvermögen der patriarchalen Familie, von deren Reproduktion auch unter dafür schwierigen Bedingungen. Es gelingt dem gottgefällig folgsamen »Sohn« Tobias, der gleich oder, je nach Überlieferung, ähnlich heißt wie sein hier redender Vater, seinerseits mehrfacher Vater zu werden. Erst vor diesem und dem Hintergrund der Bedeutung, den das Apokryphon Tobias in seiner eigenen Familiengeschichte hatte, wird ganz verständlich, warum Thomas Mann in seinem Frühwerk gerade die biblische Figur des Tobias so bitterböse parodierte: Von den »Männerchen« dieses Frühwerks sagte der Autor bekanntlich, daß ihre »Umrisse[] […] gar niemanden« als ihn »selber« abbildeten. Ganz besonders gilt das für seinen ersten Novellenzyklus, Der kleine Herr Friedemann. Der Protagonist der darin ersten und eponymen Novelle teilt seinen Namen nicht nur mit einem exemplarisch verkommenen Sohn, Friedemann Bach, welcher endlich so tief sank, daß er sich am geistigen Eigentum seines übermächtigen Vaters vergriff.14 Sondern der kleine Herr Friedemann heißt in eins damit natürlich zur Hälfte auch gleich wie der reale Autor. Ein solches Spiel mit seinem ›Eigennamen‹ hat Thomas Mann auch wieder in der letzten Erzählung des Zyklus getrieben, Tobias Mindernickel (1898). Zugleich aber verweist die schwer pathologische Gestalt des so benannten Tierquälers über das Attribut des Hundes 15 eindeutig auf seinen alttestamentlichen Namenspatron. In Tobias Mindernickel fallen damit Selbstzweifel und Bibelparodie ›buchstäblich‹ zusammen; das heißt, lebensgeschichtlich gesehen, zu einer Zeit, als Thomas Mann schulisch und gesellschaftlich gescheitert und also sehr weit hinter die Ansprüche zurückgefallen war, die die Widmung der Familienbibel an ihn stellte. Wie es jene selbstironische, freilich wohl auch etwas kokette Grußformel selber besagt, hatte er kaum mehr Aussicht darauf, seine Familientradition fortzuschreiben und für sein Teil einmal den Widmungsakt seines Großvaters zu wiederholen: »Was mich betrifft, so bin ich nichts«. Auf den Genesistext ausgerechnet der Barockbibel, an die solche patriarchalen Zuschreibungsakte in seiner eigenen Familie gebunden waren, griff Thomas Mann als längst gemachter Mann, vielfacher Vater und hochrenommierter Autor also während der Arbeit an seiner letzten Erzählung zurück. In deren Wortlaut gelangte denn auch ein und das 14 15
Vgl. Blume, [Artikel:] Bach, Wilhelm Friedemann, Sp. 1051. Vgl. Tob 6,1; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 3, S. 486; I. Abrahams, Tobit’s Dog, in: Jewish Quarterly Review 1.3, 1889, S. 288; Joseph A. Fitzmyer, Tobit, Berlin und New York: de Gruyter, 2003 (Commentaries on Early Jewish Literature), S. 204.
»Patriarchat und Widerstand«
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andere aus dem alten Bibeltext hinüber: die Schreibung des genetivischen Demonstrativpronomens – »Warum lachet deß Sara?« 16 –; der alte Genetiv Singular »Hütten«. 17 Das Exzerpt, aus dem solche Archaismen in den Novellentext kamen, lautet (mit Thomas Manns eigenen Hervorhebungen): Sarah, der es nicht mehr nach der Weiber Weise ging, und die der Herr begnadete. (»Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen, so ich lebe, Siehe, so soll Sara dein Weib einen Sohn haben. Das höret Sara hinter ihm, hinter der Tür der Hütten. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohlbetaget, also daß es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise. Darumb lachet sie bei sich selbst und sprach: Nun ich alt bin, sol ich noch Wollust pflegen und mein Herr auch alt ist. Da sprach der Herr zu Abraham: Warumb lachet deß Sara und spricht: Meynst du, daß wahr ist sey, daß ich noch gebären werde, so ich doch alt bin? Soll dem Herrn etwas unmöglich sein seyn? Umb diese Zeit werde ich wieder zu dir kommen, so ich lebe, so sol Sara einen Sohn haben. Da läugnete Sara und sprach: Ich hab nicht gelacht. Denn sie furcht sich. Aber er sprach: Es ist nicht also. Du hast gelacht.«)
1.2 »Patriarchat und Widerstand« Genesis 18, genau das läßt das Exzerpt aus der Familienbibel mit dem Tobias-Motto so sinnreich erscheinen, kann geradezu als ein ›textbook example‹ für die mythische Legitimation patriarchaler Herrschaft gelten. Zunächst dient der Bericht mit exemplarischer Deutlichkeit dem Zweck, eine Genealogie zu überliefern. Er beglaubigt die Erbfolge zweier Patriarchen, die dem Anspruch dieses Titels in jedem, auch im theologisch-technischen Sinn des Worts genügen. Darüber hinaus aber, könnte man dekonstruktivistisch argumentieren, geht es hier darum, die Fragwürdigkeit aller solcher patrilinearer Erbgänge zu camouflieren. Denn soweit der Bericht die ganze Aufmerksamkeit auf Saras ›Heimsuchung‹ lenkt und indem er so das sonst selbstverständliche, hier jedoch ›wunderbare‹ Faktum der Geburt und Mutterschaft überhellt, eskamotiert er den blinden Fleck patriarchaler Genealogien. Er verdeckt deren heikelste Stelle. Er verstellt den springenden Punkt, daß das eigentliche Problem genealogischer Reihen sonst immer bei der Vaterschaft liegt. Denn Vaterschaft, um es auf Goethes hübschen Kalauer zu bringen,18 ist 16 17 18
Bd. 8, S. 903; im Original keine Hervorhebung. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 23, S. 228.
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Reminiszenzen an Genesis 18
ja oder war wenigstens bis vor ganz kurzem eine Frage nicht der Zeugung, sondern allein der Überzeugung. Ihre Legitimationsleistung erbringt die Genesis-Stelle indessen nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und in einer ganz bestimmten Auslegungstradition. Diese freilich muß bei einem so sakrosankten Korpus wie der ›Heiligen Schrift‹ der Bibel besonders schwer ins Gewicht fallen, auch wenn sie schon seit dem achtzehnten Jahrhundert herausgefordert wurde, spätestens durch die Argumente, die Johann Gottfried Eichhorn in einer dreibändigen Einleitung ins Alte Testament vorführte (1780–83):19 Die fünf Bücher ›Mose‹ tragen diesen Verfassernamen zu Unrecht. Überhaupt können sie unmöglich von demselben und nur einem einzigen Autor stammen. Und ihre verschiedenen Überlieferungsstränge lassen sich bei text-›analytischer‹ Lektüre auch wirklich freilegen und auseinanderhalten (um es auf einen leicht anachronistischen Begriff zu bringen, wie er sich in der Klassischen Philologie seit der Homer›Analyse‹ Friedrich August Wolfs durchgesetzt hat, zu der diesen übrigens nachweislich, 20 wenn auch unausgewiesenermaßen, kein anderer als Eichhorn selbst inspiriert hatte21). Bei ›analytischer‹ Leseweise und also unter der Voraussetzung, daß im Pentateuch verschiedene Überlieferungen amalgamiert sind, zeigten sich auch an Genesis 18 gewisse Risse und Sprünge. Es ließen sich darin stehengebliebene Reste einer anderen Version und unbereinigte Einschlüsse einer alternativen Überlieferung ausmachen.22 Und solche Einschlüsse wären durchaus geeignet, das einsinnig-patriarchale Kerygma der Perikope geradezu zu unterminieren. Symptomatisch dafür ist hier, und natürlich nicht nur hier, 23 das weibliche Gelächter. Dessen Einschlägigkeit nötigte immerhin noch in der vorletzten Auflage des reputierten Lexikons für Theologie und Kirche, 1964, einen
19 20 21 22 23
Johann Gottfried Eichhorn, Einleitung ins Alte Testament, Leipzig: Weidmann und Reich, 1780–1783. Vgl. Anthony Grafton, Glenn W. Most und James E. G. Zetzel, Introduction, in: F. A. Wolf, Prolegomena to Homer. 1795, Princeton: Princeton University Press, 1985, S. 3–35, hier S. 18–26. Zu den politischen Implikationen und der zeitlichen Verzögerung des Methodentransfers vgl. Yahya Elsaghe, Säbel und Schere. Goethes Revolutionierung des Epos und die Rezeptionskarriere von Hermann und Dorothea, in: Seminar 34.2, 1998, S. 121–136, hier S. 125 f. Vgl. Irmtraud Fischer, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12–36, Berlin und New York: de Gruyter, 1994, S. 66 f. Vgl. Christine Kanz, »Warum lachst du denn so blöde?« Zur Vernichtung von Angst im Todesarten-Projekt Ingeborg Bachmanns, in: Rundbrief Frauen in der Literaturwissenschaft 46, 1995, S. 33–35.
»Patriarchat und Widerstand«
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Fachmann, »Doktor« und »Professor« sub voce »Sara« dazu, es »mit echt weiblichen Zügen u. Schwächen« zu erklären oder zu entschuldigen: 24 Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohl betagt, also daß es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise. Darum lachte sie bei sich selbst […] 25
Nicht umsonst konnte dieses »echt weibliche[]« Gelächter einem Buch Mieke Bals, Fokkelien van Dijk Hemmes’ und Grietje van Ginnekens seinen Titel geben: Und Sara lachte… Denn wie bereits aus seinem Untertitel hervorgeht, handelt dieses Buch von »Patriarchat und Widerstand«. 26 Und nicht von ungefähr haben die betreffenden Genesis-Verse das Motto dieser feministisch engagierten Studie abgeben können, obwohl Bal, van Dijk Hemmes und van Ginneken darin weder auf Sara noch auch nur auf Genesis 18 eingehen. 27 Zu einer subversiven Sinngebung nämlich, wie sie die Verfasserinnen mit den Auslassungszeichen schon im Titel ihres Buchs suggerieren, fordert der Bibeltext geradezu heraus, sobald man eben ›analytisch‹ auf seine Ungereimtheiten zu achten beginnt. Denn worüber eigentlich lacht Sara? Darum lachte sie bei sich selbst, und sprach: Nun ich alt bin, soll ich noch Wollust pflegen, und mein Herr auch alt ist? Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lachet des Sara und spricht: Meinst du, daß es wahr sei, daß ich noch gebären werde, so ich doch alt bin? 28
Der Bibeltext erweckt zunächst den Anschein, als ob »der Herr« in einer direkten Rede zweiten Grades einfach nochmals den Grund für Saras Lachen zitiert: »daß ich noch gebären werde, so ich doch alt bin«. Dieses Zitat aber stimmt genau genommen mit dem Zitat derselben oder eben auch gerade nicht der ›selben‹ Begründung durch den Erzähler, also mit dem ersten Grad der direkten Rede durchaus nicht überein: »Nun ich alt bin, soll ich noch Wollust pflegen, und mein Herr auch alt ist?« Zuerst lacht Sara, weil sie »Wollust pflegen«, dann soll sie gelacht haben, weil sie »noch gebären« soll: Schon das wären zwei grundverschiedene Dinge. Deren Differenz kann in den Kommentaren natürlich nur 24
25 26 27 28
Hubert Junker, [Artikel:] Sara, in: Josef Höfer und Karl Rahner (Hgg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i. Br.: Herder, 21964, Sp. 324. Vgl. dagegen die letzte Auflage: Irmtraud Fischer, [Artikel:] Sara, in: Walter Kasper et al. (Hgg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i. Br. et al.: Herder, 32000, Sp. 67 f. Gen 18,11 f.; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 1, S. 26; Thomas Manns Hervorhebung. Mieke Bal, Fokkelien van Dijk Hemmes und Grietje van Ginneken, Und Sara lachte… Patriarchat und Widerstand in biblischen Geschichten, Münster: Morgana Frauenbuchverlag, 1988; im Original keine Hervorhebung. Bal et al., Und Sara lachte…, S. 4. Gen 18,12 f.; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 1, S. 26; Thomas Manns Hervorhebung.
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Reminiszenzen an Genesis 18
unter der stillschweigenden oder vielleicht auch komplizenhaften Voraussetzung übergangen oder unterschlagen werden, 29 daß weibliche Sexualität und menschliche Fortpflanzung zusammenzufallen haben. Aber auch nur schon die erste Motivation des Lachens, die direkte Rede ersten Grades, ist in sich nicht einfach zu verstehen. Es wird nicht ganz klar, worin genau das Lachhafte der zu praktizierenden »Wollust« bestehen soll. Besteht es im hohen Alter der Ehefrau, des Ehepaars oder aber auch und insbesondere des Ehemanns? »[S]ie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohlbetaget«. Und wenn Sara diese Reihenfolge umkehrt: »Nun ich alt bin […] und mein Herr auch alt ist«, dann nur mittels einer Konjunktion, die Luther mit »und […] auch« wohl so gut wie im Deutschen eben möglich wiedergibt und deren Funktion keinesfalls darin bestehen kann, das an zweiter Stelle genannte Glied dieser syntagmatischen Position gemäß semantisch abzuwerten. 30 Dennoch und sehr bemerkenswerterweise wird Abraham und in eins damit die Möglichkeit, auch oder sogar vor allem über seine Alterswollust zu lachen, in der direkten Rede des »Herr[n]« gar keine Erwähnung mehr finden. Den Deutungsspielraum nun, den der Bibeltext somit seinen Lesern und Leserinnen hier zunächst einräumt, um ihn dann erst in der Rede des »Herr[n]« wieder einzuschränken und zu minimieren, loten die GenesisReminiszenzen der »Betrogene[n]« in seiner ganzen Breite aus. Dabei lassen die Reminiszenzen an Genesis 18 zusehends die Diskrepanzen zwischen dem biblischen Bericht und Rosalies eigener Geschichte hervortreten. Wie von ungefähr, um nämlich Worte für eine tabuierte Zone zu finden, beginnt Rosalie erst vergleichshalber einfach deshalb »von Sara, ja, von Sara« zu sprechen, weil es ihr ihrerseits »nicht mehr nach der Weiber Weise« geht. 31 »Darum«, gemäß jenem habituellen Kurzschluß von weiblicher Sexualität und menschlicher Fortpflanzung, »[i]st es« ihr an der nächsten einschlägigen Stelle zunächst ganz selbstverständlich »ein Gelächter, 29
30 31
Vgl. z. B. Stuttgarter Erklärungsbibel. Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Einführungen und Erklärungen, hg. v. d. Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 21992, S. 29; J. Gerald Janzen, Abraham and All the Families of the Earth. A Commentary on the Book of Genesis 12–50, Grand Rapids (Michigan): Eerdmans, und Edinburgh: Handsel Press, 1993 (International Theological Commentary), S. 55; Claus Westermann, Genesis, Tlbd. 2: Genesis 12–36, NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag, 1981 (Biblischer Kommentar. Altes Testament, Bd. 1.2), S. 340 f.; Das erste Buch Mose. Genesis, übersetzt und erklärt von Gerhard von Rad, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 51958, S. 175 f. Freundliche Auskunft von René Bloch, Bern, vom 7. August 2007. Bd. 8, S. 891.
Weibliches Gelächter
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daß« sie »Wollust pflegen soll«. 32 Späterhin aber nimmt sie die rhetorischentrüstete Frage des »Herrn« beim Wort und beantwortet sie aus der Sicht einer »Frau«: »Warum lachet des Sara?« 33 In ihrer Antwort vergleicht Rosalie den Patriarchen Abraham mit ihrem eigenen Geliebten. Dabei hebt sie endlich und in den Entwurfsnotizen hob Thomas Mann immer schon auf das widerständig-subversive Bedeutungspotential der Bibelstelle ab, das die entscheidende Verkennungsstruktur der ganzen Perikope untergräbt. Es bedroht diese Struktur eben deshalb, weil es die Fragwürdigkeit greiser Vaterschaft ins Profil zu treiben geeignet ist oder wäre. Es rückt das Lachhafte einer von und »mit« einem »wohlbetagt[en]« »Herr[n]« und Patriarchen »zu pflegen[den]« »Wollust« in ein grelles Licht. In den Notizen steht es so geschrieben: Sie [scil. Rosalie] spricht aus, daß sie in ihren Wünschen der Wollust pflegt, nun sie alt ist, ihr Herr aber ist jung, und die Vorstellung, mit ihm Wollust zu pflegen, ist viel leichter und lockender, als es für Sara der Gedanke war, mit dem 99jährigen Abraham Wollust zu pflegen.
Und im ausformulierten Novellentext, der hier im wahrsten Wortsinn mit zwei »Gedanke[n]«-Strichen abbricht – ein Paradebeispiel für die von Michael Maar noch an den Tagebüchern nachgewiesene Interpunktionskunst des Autors 34 –: »Weißt du noch, – Sara, wie die sich versündigte? Die lachte bei sich hinter der Tür und sprach: ›Nun ich alt bin, soll ich noch Wollust pflegen, und mein Herr auch alt ist?‹ Gott, der Herr, aber sagte empfindlich: ›Warum lachet des Sara?‹ Meiner Meinung nach lachte sie weniger ihres eigenen versiegten Alters wegen, als weil auch Abraham, ihr Herr, so sehr alt und wohlbetagt war, schon neunundneunzig. Welcher Frau müßte denn nicht der Gedanke zum Lachen sein, mit einem Neunundneunzigjährigen Wollust zu pflegen […]. Mein Herr aber ist jung, blutjung, und wieviel leichter und lockender muß mir der Gedanke – – […].« 35
1.3 Das weibliche Gelächter und seine Negation Die wohl weniger misogyne als vielmehr gynophobe Tendenz der Novelle nun läßt sich auch und nicht zufällig besonders dann erkennen, wenn die »Betrogene« den autoritativen Text anzitiert, an dem Bal, van Dijk Hemmes und van Ginneken einen exemplarischen »Widerstand« gegen das 32 33 34 35
Bd. 8, S. 901. Bd. 8, S. 918. Vgl. Maar, Truthähne in der Götterdämmerung, S. 192. Bd. 8, S. 918.
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Reminiszenzen an Genesis 18
»Patriarchat« festmachen. Denn unter Rosalies Reminiszenzen an Genesis 18 stellt sich ausgerechnet dieses eine Moment des Widerstands, daß »Sara« eben »lachte…«, immer deutlicher als die entscheidende Differenz heraus, durch die sich ihre eigene von der biblischen »Geschichte« vorteilhaft unterscheiden soll. Zuerst identifiziert sich Rosalie, wie soeben gesehen, noch ganz selbstverständlich mit Saras »Gelächter« und der einen, scheinbar ebenso selbstverständlichen Möglichkeit seiner Erklärung. Der »Gedanke – –«, als Frau in ihrem Alter noch »Wollust« zu »pflegen«, sei eben zum Lachen. Später aber distanziert sie sich von Saras Lachen, indem sie auf der Eigenart ihrer Geschichte insistiert (auch formal, mit der emphatischen Gemination des Personalpronomens: »Ich, ich will nicht gelacht haben« 36). Sie nimmt, wie zitiert, die »empfindlich[e]« Frage des »Herrn« gegen deren rhetorischen Charakter ernst und beantwortet sie nach der alternativen, subversiven Seite hin: »Meiner Meinung nach […] weniger ihres eigenen versiegten Alters wegen, als weil auch Abraham, ihr Herr, so sehr alt und wohlbetagt war«. Der Altersabstand, der Ken Keaton vom greisen Abraham trennt, und die damit gegebene Erleichterung und Verlockung des »Gedanke[ns] – –« bildet den einen, nur halb ausgesprochenen Grund dafür, daß sich Rosalie von Saras Lachen distanzieren kann. Der andere, ganz explizierte Grund besteht im Unterschied von Zweifel und Glauben, auf den sie schon in den Notizen ihr Verhältnis zu Sara bringt: »Rosalie will nicht gelacht haben, sondern an das Wunder ihrer Seele und Sinne glauben«. Im Novellentext begründet Rosalie mit ihrer Glaubensfestigkeit erst ihr Liebesgefühl: »[…] Sara, die Greisin, hörte es hinter der Tür der Hütten, was ihr noch zugedacht war, und lachte. […] Ich, ich will nicht gelacht haben. Ich will glauben an das Wunder meiner Seele und Sinne, will das Naturwunder verehren meines schmerz- und schamhaften Seelenfrühlings, und meine Scham soll nur der Begnadung gelten durch diese späte Heimsuchung…« 37
Und schließlich sieht sie in der vermeintlichen Wiederherstellung ihres physiologischen ›Weibtums‹ auch noch die Belohnung dafür, »nicht gelacht« zu haben: »[…] ich habe geglaubt […] und nicht gelacht, dafür lohnt mir nun die gute Natur […].« 38
Das weibliche Gelächter, mit anderen Worten, erscheint hier endlich und sollte hier immer schon in der Form und unter dem Vorzeichen seiner 36 37 38
Bd. 8, S. 903. Ebd. Bd. 8, S. 922.
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Negation erscheinen. Daß »Sara lachte…«, bildet den wesentlichen Unterschied zwischen Rosalies und der biblischen Geschichte. Und die Negation des Lachens beruht auf einem ganz bestimmten Sinn, den Rosalie Genesis 18 ausgerechnet dort verleiht, wo sie ihre frivolen Mutmaßungen über die Gründe für Saras Lachen anstellt: daß dieses Lachen nämlich, als Artikulation eines Zweifels an Gottes Allmacht, eine ›Sünde‹ gewesen sei, während sie selber, Rosalie, in ihrer unorthodoxen Naturfrömmigkeit gerade »nicht gelacht«, sondern »geglaubt« habe; und hierfür sei ihre »Heimsuchung« der ›Lohn‹, der Lohn zwar eben nicht geradezu von »Gott, de[m] Herrn«,39 aber doch »der großen und guten Natur«, 40 die hier ganz offenkundig und immer wieder 41 die klassischen Attribute des ›Lieben Gottes‹ zugeschrieben bekommt. 42 Auch in diesem ihrem Bibelverständnis erscheint Rosalie zuletzt als eine gründlich »Betrogene«. Symptomatisch für ihren Irrtum und ihre Verblendung sind wohl schon, wie später noch im Zusammenhang darzulegen, die Körperzeichen und -gesten, unter denen sie die Fehlinterpretation sowohl ihrer Blutung als auch der Bibelstelle formuliert beziehungsweise »selbstgefällig« besiegelt: »Sie […] schloß die Augen […], das Näschen hochrot.« 43 Wie dem in solchen somatischen Details auch sei: Jedenfalls ist eine Logik, wie sie sie der Perikope Genesis 18 unterlegt oder unterstellt, in dieser gar nicht gegeben. Und dementsprechend wird dann auch die Deutung, die Rosalie ihrer eigenen »Heimsuchung« ad bonam partem abgewinnt, »furchtbar[]« widerlegt. Abgesehen von der so allenfalls ermöglichten Etymologisierbarkeit des Namens »Isaak« – ›Gott hat mir ein Lachen bereitet‹ –,44 ist Saras Lachen, Unglaube und ›Sünde‹ pragmatisch vollkommen entbehrlich. Diese Entbehrlichkeit artikuliert eine ebenso vollkommene Indifferenz gegenüber den »Weiber[n]« als bloßen Medien patrilinearer Genealogien. Sie selber schon ist Ausdruck und Funktion bestens gesicherter patriarchaler Verhältnisse. Ihr Sinn besteht darin, das ›Weib‹ als eigentliche ›Trägerin‹ des Generationswechsels zu marginalisieren, es von den Hauptlinien der ge39 40 41 42
43 44
Bd. 8, S. 903. Bd. 8, S. 923. Vgl. z. B. Bd. 8, S. 880, 886, 890, 918, 934. Vgl. den Brief vom 30. März 1955 an Else Vielhaber; Briefe 1948–1955 und Nachlese, S. 389 f.; Werner Wienand, Größe und Gnade. Grundlagen und Entfaltung des Gnadenbegriffs bei Thomas Mann, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001 (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 15), S. 396. Bd. 8, S. 923. Vgl. Elie Munk, The Call of the Torah. An Anthology of Interpretation and Commentary on the Five Books of Moses, Bd. 1: Bereishis, New York: Mesorah, 1994, S. 225.
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Reminiszenzen an Genesis 18
nealogischen Überlieferung fernzuhalten und es vor allem vom »Bund« auszuschließen, dem Männerbund zwischen seinen beiden je so genannten, zwischen seinem einen und seinem anderen ›Herren‹.45 So verstanden wäre Saras Lachen nicht mehr einfach nur ein vor- oder antipatriarchales Widerlager eines Texts, dessen Kerygma es unterwanderte oder sozusagen verzweideutigte. Das weibliche Gelächter und seine Entbehrlichkeit sind letztlich völlig konform gerade auch mit den am eindeutigsten patriarchalen Momenten von Genesis 18, die im Novellentext denn auch eigens zitiert und vergegenwärtigt werden. Das entbehrliche Lachen der Frau entspricht zum Beispiel ganz genau der Selbstverständlichkeit, womit der eine zum anderen Herrn in ihrer ›Gegenwart‹, trotz ihrer ›Zugewandtheit‹, in der dritten Person von dieser Frau reden kann. Und besonders drastisch entspricht es dem gleichsam choreographischen oder besser und im Wortsinn ›szenischen‹ Arrangement, mit dem die biblische Erzählung die Gründung des Männerbunds ins Bild setzt. Das weibliche Gelächter respektive, paradoxerweise, seine Funktions- und Folgenlosigkeit gewinnt im Lauf der Erzählung dieselbe Bedeutung wie die »Tür der Hütten« (eigentlich des Zelts oder eben der ›Szene‹), die Sara sinnfälliger noch als die dritte Person der Herrenrede und handgreiflicher als alles andere vom Männerbund ausschließt. In Tat und Wahrheit also, und insofern erscheint es desto bedeutungsvoller, wenn Thomas Mann die Perikope ausnahmsweise erst aus der Familienbibel seiner ›Väter‹ exzerpierte, geht es in Genesis 18 nicht nur oder nicht eigentlich um den »Widerstand« gegen das »Patriarchat«. Um sich davon zu überzeugen, braucht man bloß die Auslassungszeichen im Buchtitel »Und Sara lachte…« quasi einmal ernster zu nehmen, als sie Bal, van Dijk Hemmes und van Ginneken je gemeint haben können. Man braucht ganz einfach den Text zu ergänzen, vor dem die Verfasserinnen auch noch das Motto ihres Buchs unmittelbar abbrechen lassen (»und mein Herr auch alt ist?«) 46 und den sie aus leicht supplierbaren Gründen gewissermaßen unterschlagen. Thomas Mann aber hat gerade diesen hier unterdrückten Teil des Texts, in seiner anderen, seiner Werktagsbibel gleichsam, eigenhändig unterstrichen und mit einem Bände sprechenden Ausrufezeichen versehen. Als Ganzes, so kann ›man‹ zumindest lesen, handelt Genesis 18 davon, wie das »Patriarchat« sich durchsetzt und daß es jeden, auch den letzten weiblichen »Widerstand« bricht. »[D]er Herr« läßt sich Saras Gelächter 45 46
Vgl. Roland de Vaux, Ancient Israel. Its Life and Institutions, London: Darton, Longman & Todd, 1973, S. 39; Johs. Pedersen, Israel. Its Life and Culture, London: Oxford University Press, und Kopenhagen: Branner, 1926, S. 62 f. Bal et al., Und Sara lachte…, S. 4.
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nicht gefallen. »[E]mpfindlich« nötigt er sie zu der Negation, zu der »[d]ie Betrogene« sich sehr bald einmal ganz freiwillig bereit erklärt (»ich will nicht gelacht haben«) und zu der sie in den Entwurfsnotizen immer schon aus eigenem Willen bereit war (»Rosalie will nicht gelacht haben«). Und er nötigt Sara noch dazu nur darum zu dieser Negation, um ihre verschüchterte Leugnung auch noch als Lüge bloßzustellen, die Leugnerin als Lügnerin zu entlarven und sie, jetzt endlich erst in direkter Anrede, desto tiefer zu demütigen: Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lachet des Sara […]? […] Da leugnete Sara und sprach: Ich habe nicht gelacht, denn sie fürchtete sich. Aber er sprach: Es ist nicht also; du hast gelacht. 47
47
Gen 18,13–15; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 1, S. 26 f.; Thomas Manns Hervorhebung.
2 Die Apuleius-Reminiszenzen 2.1 Der Vorname »Rosalie« Was die Evokationen der Genesis also ohnehin nur auf einen ersten Blick an »emanzipatorische[m] Potential[]« nahezulegen scheinen, wird auch dadurch relativiert und kompliziert, daß neben den biblischen eine ganze Reihe klassisch-mythologischer Reminiszenzen herläuft. Die Konkurrenz der beiden mythischen Subtexte zeigt sich bereits an der Geschichte des Namens, den Thomas Mann der »Betrogene[n]« verlieh beziehungsweise einmal zu verleihen gedachte. »Die Betrogene« sollte mit Vornamen ursprünglich nicht »Rosalie«, sondern so heißen, wie ihre Tochter jetzt heißt, »Anna«, deren Namen der Text der Druckfassung in einer für diesen Wechsel vielleicht verräterischen Frequenz ausspart und durch Antonomasien ersetzt: In der Figurenrede der Mutter erscheinen solche Aussparungen des Eigennamens sogar deutlich häufiger als dieser selbst. Die Protagonistin nennt Anna immer wieder »Kind«, 1 »mein Kind«, 2 »liebes Kind«,3 »liebes, treues«,4 »gutes«,5 »[t]eures« 6 oder auch »böses Kind«, 7 »mein liebes«,8 »armes«, 9 »treues«,10 »vertrautes Kind«, 11 »Herzenskind«,12 daneben »Liebste« 13 oder »närrisches Ding«.14 Und auch der Erzähler scheint eine gewisse Hemmung zu haben, den Vornamen »Anna« 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Bd. 8, S. 885, 891, 910, 915. Bd. 8, S. 880, 912, 922, 931, 950. Bd. 8, S. 879, 889, 909, 922. Bd. 8, S. 926. Bd. 8, S. 915. Bd. 8, S. 922. Bd. 8, S. 934. Bd. 8, S. 890, 892 f., 910, 920, 930. Bd. 8, S. 914, 924, 929. Bd. 8, S. 918, 924. Bd. 8, S. 923. Bd. 8, S. 891. Bd. 8, S. 892, 920, 922. Bd. 8, S. 926.
»Rosalie«
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in den Mund zu nehmen, wenn er ihn gut und gerne fünfzigmal umschreibt: »Fräulein von Tümmler«, 15 »Kind[]«, 16 »gehemmte[s] Kind«, 17 »Tochter«, 18 »kluge[]«,19 »vertraute[] Tochter«, 20 »töchterliche[] Freundin«,21 »geistige[s]« 22 oder »lahmende[s] Mädchen« 23 beziehungsweise, aus der Perspektive des Bruders, »Schwester« 24 oder einfach über Substantivierungen wie »die Lahme«, 25 »die Winterliche«, 26 die »Sprechende[]«. 27 ›Rosalie‹ alias Anna sollte ehedem also einen christlich-legendarischen Mutternamen tragen (wie er, sozusagen um eine Müttergeneration nach unten versetzt und in typologischer Entsprechung zu Sara, in Jean-Claude Guiguets Verfilmung als »Maria von Tümmler« wiederkehrt). Der ältere Name der Mutterfigur ging in der Folge seiner Ersetzung und offenbar, wie die Notizen erkennen lassen, im selben Arbeitsschritt auf Rosalie von Tümmlers Tochter über. Diese hätte zuvor eben nicht so, »Anna«, sondern erst »Agathe«, dann »Alice« heißen sollen. Die Namensgebung und ihre Geschichte, daß eben ein und derselbe Vorname von der einen auf die nächstjüngere Frauengeneration hinabwechseln konnte, ist möglicherweise auch im diskursgeschichtlichen Kontext zu interpretieren, in dem die Novelle entstand. Sie ließe sich dann als ein Beispiel dessen verbuchen, was Erich Neumann, ein von Thomas Mann seinerzeit beifällig rezipierter Tiefenpsychologe, die »Identitätsbeziehung der Tochter zur Mutter« nannte. 28 Intertextuell aber wie den Mutternamen »Anna« kann man auch den neuen Vornamen der Protagonistin, die nachträgliche Überschreibung von »Anna« durch »Rosalie« zu erklären versuchen, ohne sich damit gleich auf das Niveau einer irrwitzigen Serie »intertextuell« erzwungener »Namensallusion[en]« herabzulassen, deren hausbacken-psychoanalytischer
15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Bd. 8, S. 879, 881, 886, 889, 893, 936. Bd. 8, S. 879. Bd. 8, S. 883. Bd. 8, S. 877–880, 882–884, 887, 892, 908, 920–922, 926, 931 f., 934 f., 939, 947 f., 950. Bd. 8, S. 931. Bd. 8, S. 882, 904. Bd. 8, S. 883, 909. Bd. 8, S. 883. Bd. 8, S. 935. Bd. 8, S. 904, 906. Bd. 8, S. 917, 927; vgl. S. 933. Bd. 8, S. 935. Bd. 8, S. 906. Erich Neumann, Eros und Psyche. Ein Beitrag zur seelischen Entwicklung des Weiblichen, in: Apuleius, Amor und Psyche, übersetzt von Albrecht Schaeffer, Zürich: Rascher, 1951 (Das Erbe der Antike), S. 75–201, hier S. 85; vgl. S. 173.
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Apuleius-Reminiszenzen
Interpretation zufolge »Rosalie« ein Anagramm für ›Laios‹ zu sein hat. 29 Bei einem etwas seriöseren Intertextualitätsbegriff gäbe Thomas Manns eigenes Œuvre allerdings zwar für »Anna« einiges, ja recht vieles her (angefangen bei der ersten Liebe Thomas Buddenbrooks 30 und schon der des »Bajazzo« 31 über die femme fatale aus Luischen 32 bis zur Mutterfigur der »Kinds-Anna« 33 in Unordnung und frühes Leid), aber für »Rosalie« zunächst und ganz unmittelbar ziemlich wenig. Im Gesamtwerk gibt es nur noch eine weitere Figur, die so heißt. Rosalie Kröger in den Buddenbrooks unterstützt ihren verwöhnten und hoffnungslos verkommenen Muttersohn auch gegen den Willen der Familie und hinter dem Rücken des Vaters. In dieser bedingungslos hingebungsvollen Mutter- und Sohnesliebe weist sie kaum Gemeinsamkeiten mit Rosalie von Tümmler auf. Denn diese hat ja im Gegenteil ein bemerkenswert »kühle[s]« Verhältnis zu ihrem daher auch nicht verzogenen Sohn und setzt ihn gegenüber der Tochter entschieden zurück. Besser schon ließe sich der neue und endgültige Vorname der Hauptfigur indirekt über den Doktor Faustus verstehen, von dessen entstehungszeitlicher Nähe zur Betrogenen her eine entsprechende Konnotation der Namensgebung ohnehin naheliegt. Den jetzigen Vornamen der »Betrogene[n]« könnte man mit Shakespeares Love’s Labour’s Lost zusammenbringen und aufgrund der Funktion interpretieren, die diese Komödie im Faustus-Roman erhalten hat. Rosalies Name stimmt bis auf einen einzigen Buchstaben der Derivationsendung mit dem jener schlagfertigen Frau überein, die bei Shakespeare das letzte Wort behält, Rosaline. Diese bekommt im Doktor Faustus auch darüber hinaus noch eine ganz bestimmte Bedeutung zugesprochen. Love’s Labour’s Lost erfährt im Doktor Faustus eine sehr bemerkenswerte Interpretation; und das noch bevor der Erzähler Zeitblom auf Leverkühns eigentliche Komposition und ihre »Esoterik« eingeht, die zwar einen »Musikliebhaber«, welcher »der romantischen Demokratie« »müde« sei, ›entzücken‹ müsse, die aber auch »im Geist des Stückes auf alle Weise sich selbst verspottet[]«34 (so daß sie also letztlich doch nicht gegen die »Demokratie« ankommt: wie die Uraufführung denn auch erst vor einem
29 30 31 32 33 34
Dieter Franke, »Halt’s Maul«: Namenallusion intertextuell bei Fontane – T. Mann – Kafka – Dürrenmatt – M. Walser, Essen: Die Blaue Eule, 2007, S. 34. Bd. 1, S. 168–170. Bd. 8, S. 137. Bd. 8, S. 168. Vgl. Elsaghe, Die kleinen Herren Friedemänner, S. 165. Bd. 8, S. 629, 632, 653. Bd. 6, S. 290.
»Rosalie«
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»›republikanisch‹ gesinnten Publikum« stattfinden wird35). An Love’s Labour’s Lost interessiert Zeitblom (von Beruf Altphilologe) in allererster Linie und fast ganz ausschließlich die Figur eben der Rosaline (abgesehen nur von »der Karikatur des Humanismus«, 36 wie er übrigens auch in der Betrogenen nur noch als schulische Mühsal erscheint, 37 aber auch in Opposition zum Utilitarismus des verhängnisvollen Englischunterrichts 38). Rosaline werde in »Birons Reden« auf »sonderbar insistente und dabei unnötige, dramatisch wenig gerechtfertigte« Weise zu einem »verbuhlten, treulosen, gefährlichen Weibsstück[]« empor- oder hinabstilisiert. 39 Auf die Diskrepanz zwischen dieser »Charakterisierung« und »der Wirklichkeit der Komödie«, in der Rosaline »nichts weiter als keck und witzig« sei, spitzt Zeitblom seine Deutung zu. Er deutet sie wie auch andere Unstimmigkeiten so, daß Shakespeare durch Biron (oder Borowne) seinem eigenen Ressentiment gegen solch eine dämonisch übermächtige Frau Ausdruck gegeben habe. Er habe damit der Rosaline indirekt die Statur der berühmt-berüchtigten »dunkle[n] Dame« seiner Sonette verliehen. 40 Damit rückt Zeitblom die Komödienfigur also an dieselbe tragische Stelle, die in anderen fiktionalen Binnentexten des Romans Salome und Dalila besetzen. Unbeschadet des geschlechtertypologisch wichtigen Konnotats, das der Name »Rosalie« von Love’s Labour’s Lost und von seiner entstehungsgeschichtlichen Affinität zum Doktor Faustus her also mit sich führt und über das seine Trägerin an Rosalines Renitenz gegenüber der patriarchalen Ordnung partizipieren kann, liegt es hier andererseits doch auch sehr nahe, die Wahl dieses Namens intratextuell zu erklären. Es liegt um so näher, als der jetzige Name der Protagonistin sich in einer ganz bestimmten Hinsicht von ihrem früheren wie von den Vornamen ausnahmslos aller Haupt- und Nebenfiguren grundsätzlich unterscheidet. »Anna«, »Louise«, »Amélie«, »Babette«,41 »Ken«, »Eduard«, »Robert«: Das sind zunächst samt und sonders etymologisch gleichsam stumme, mehr oder weniger beharrlich schweigende Namen. Eine geringfügige Ausnahme von dieser Regel machte bei ›humanistischer‹ Leserschaft allenfalls der ›gute‹ Name »Agathe«, den Thomas Mann anfänglich für die Tochter vorsah (und der von 35 36 37 38 39 40 41
Bd. 6, S. 516. Bd. 6, S. 289. Vgl. H. Ulrici, [Einleitung zu:] Liebes Leid und Lust, in: [William] Shakespeare, Dramatische Werke, Bd. 7, Berlin: Georg Riemer, 1897, S. 258–270, hier S. 261 f. Vgl. Bd. 8, S. 894. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 242. Bd. 6, S. 287 f. Bd. 6, S. 288. Bd. 8, S. 906. Es handelt sich dabei um einen, geradezu den typischen Dienstbotinnennamen: Vgl. Bd. 1, S. 365, 374–376.
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Apuleius-Reminiszenzen
einem »Fräulein Agathe Vermehren«42 aus den Buddenbrooks Intellektualität oder Altjüngferlichkeit konnotieren konnte). Den also halbwegs durchsichtigen Namen ersetzte er dann aber bald mit einem seinerseits wieder völlig ›nichts-sagenden‹, »Alice«. (Und in dessen etymologisch schwererer Durchschaubarkeit wäre geradezu ein Motiv dieser sonst rätselhaften ersten Ersetzung zu vermuten.) Im Unterschied zu all diesen anderen Namen ist »Rosalie« ein ganz unmittelbar sprechender Vorname. Was er bedeutet und von welchem Appellativ er sich herleitet, ist ohne weiteres und prima facie durchsichtig. Es bietet sich daher an, ja drängt sich geradezu auf, die Wahl dieses Namens hier primär über dessen appellativische Bedeutung zu motivieren. Als ein sprechender oder als ein sozusagen duftender Name paßt er genau zum Merkmalssatz seiner Trägerin. Er zeigt auf »ihre Passion«. 43 Diese wird schon ziemlich früh im Text thematisch, wo die ersten Wochen der erzählten Zeit bestimmten Düften der Frühlings- und Sommermonate entlanggeführt sind (»Baumblüte« – »Rosenzeit« – »zur Zeit der Lindenblüte, gegen den Juli« – »im hohen August […] Moschusduft« 44). Und zwar erscheint die »Passion« an einer Stelle, die mit christlichen Jenseitsvorstellungen (»dort oben«) ihrerseits wieder die religiöse Tradition aufruft, sie aber zugleich mit der klassisch-heidnischen Mythologie versetzt. Sie amalgamiert die christliche Tradition mit einer Partie des kaiserzeitlichen Romans, aus dem schon Boccaccio seine Erzählung von jener ihrerseits »verbuhlten« und »treulosen« Peronella geschöpft hatte. Bei der hier aufgerufenen Partie der Apuleiischen Metamorphosen geht es allerdings einmal und sozusagen ausnahmsweise, in einer Art Kontrastinterpolation, gerade nicht um Ehebruch. Angespielt wird nämlich auf die Thomas Mann besonders lieben 45 Bücher IV bis VI, auf das sogenannte Märchen von Amor und Psyche: Die Rosenzeit war ihre ganze Wonne. Sie zog die Königin der Blumen an Stöcken in ihrem Garten, schützte sie sorgfältig, mit gebotenen Mitteln, gegen fressende Raupen, und immer standen, solange die Glorie nur währte, auf den Etagèren und Tischchen ihres Boudoirs Sträuße von wohlerquickten Rosen, knospenden, halb- und vollerblühten, roten namentlich (denn weiße sah sie nicht gern), von eigener Zucht oder Gaben der Aufmerksamkeit von Besucherinnen, denen ihre Passion bekannt war. Sie konnte lange, mit geschlossenen Augen, ihr Gesicht in solchem Strauße bergen und, wenn sie es wieder daraus erhob, versichern, das sei Götterduft; als Psyche sich mit der Lampe über den schlafenden Amor beugte, habe sein Hauch, hätten seine Locken und Wangen ihr Näschen 42 43 44 45
Bd. 1, S. 65. Bd. 8, S. 884. Bd. 8, S. 884, 886 f. Zu den Zeitangaben vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 283 f. Vgl. Bd. 10, S. 831.
Parallelen zu Amor und Psyche
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gewiß mit diesem Wohlgeruch erfüllt; es sei Himmelsarom, und sie zweifle nicht, daß man als seliger Geist dort oben in Ewigkeit Rosenduft atmen werde. – 46
Rosen sind nach Thomas Manns Konversationslexikon »der Aphrodite geweiht« 47 (»rote[] namentlich«, während »weiße«, wie sie Rosalie unter all den Lebensstadien von Knospe, halber und voller Blüte »nicht gern« ›sieht‹ – zur Bedeutsamkeit dieses Verbs gleich noch mehr –, im Gegenteil und in der floristischen Semantik ja bis heute den Tod symbolisieren). Und daß »Rosalie« mit der »Königin der Blumen« und ihrem »Himmelsarom« einen quasi sakralen Kult betreibt, verrät schon die Metapher »Götterduft«. Diese wird endlich expressis nominibus zu einer mythologischen Anspielung ausgesponnen.
2.2 Die Parallelen zu Amor und Psyche Die mythologische Anspielung ist befremdlich. Sie ist es vielleicht ein bißchen weniger, aber grundsätzlich auch dann noch, wenn man die sehr lange und breite Rezeptionsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche mit bedenkt, die bis in die postmoderne Literatur hinein anhält, so etwa in Patrick Süskinds Parfüm (1985), auch dort in engstem Zusammenhang mit Duft und Geruch. Ganz besonders stark betraf das Rezeptionsinteresse seit alters die von der »Betrogene[n]« heraufbeschworene Szene. Gerade diese Szene des Märchens, »Psyche […] mit der Lampe über den schlafenden Amor«, wurde in der Literatur etwa des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder zitiert. Und verhältnismäßig gut bekannt blieb sie vor allem auch durch die unabsehbar häufigen Darstellungen ihres ›prägnanten Moments‹ in der bildenden Kunst.48 Rosalie von Tümmler indessen soll ja »nicht sehr klug« 49 sein. Sie sei »von […] schlichte[m] Verstande«. 50 Sie habe »nie viel gelesen«.51 Ihre anderweitigen Anleihen beim humanistischen Bildungsfundus erschöpfen sich denn auch in ein, zwei Anspielungen auf Schillers Dramen. Einmal zitiert sie einen längst zum ›geflügelten Wort‹ gedroschenen Satz aus der 46 47 48 49 50 51
Bd. 8, S. 884 f. Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 14, Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 51897, S. 911–915, hier S. 914, s. v. ›Rose‹. Vgl. Jane Davidson Reid, The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300– 1990s, New York und Oxford: Oxford University Press, 1993, Bd. 2, S. 939–955, s. v. ›Psyche‹. Bd. 8, S. 882. Bd. 8, S. 927. Bd. 8, S. 916.
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Apuleius-Reminiszenzen
Verschwörung des Fiesko, »Der Mohr kann gehen.« 52 Und zuvor, in einer wieder olfaktorisch motivierten Assoziation, erinnert sie sich und ihre Tochter belustigt an »Schillers ›Kabale und Liebe‹«, an »ein Männchen […], so eine Schranze, höchst läppisch, von dem« – oder von der – »es heißt, daß er« – oder es oder sie – »einen Bisamgeruch über das ganze Parterre verbreitet«. 53 Dabei konnte sich Rosalie offenbar noch nicht einmal den Namen des »Männchen[s]« einprägen, wenn sie den Hofmarschall von Kalb mittels solcher Antonomasien deminuiert, ›neutralisiert‹ und endlich, mit einer femininen Nebenform eines sonst maskulinen Schimpfworts,54 »so eine Schranze«, schlechtweg ›entmannt‹. Überhaupt darf und muß man davon ausgehen, daß sie keine höhere Schulbildung bekam: eine deswegen legitim füllbare Unbestimmtheitsstelle, weil die weibliche »Reifeprüfung« 55 dem Erzähler ja noch bei der nächstjüngeren Frauengeneration, an Anna von Tümmler, eine besondere Erwähnung wert ist. Auch fühlt sich dieser Erzähler anderwärts eigens zu einer Rechtfertigung genötigt, als Rosalie einmal einen botanischen Terminus verwendet: »Rosalie […] wußte genug Botanik, um die Tochter belehren zu können, daß die Pappelbäume ›zweihäusige‹ Gewächse seien […].« 56 Daß ausgerechnet solch »ein schlichtes Gemüt« 57 wie Rosalie bei ihrem Selbstvergleich mit Psyche von sich aus auf eine dermaßen hochgestochene Bildungsreminiszenz verfallen soll, erscheint also ganz und gar unplausibel. Gerade weil sie aber der Wahrscheinlichkeit der Erzählung so sehr schadet, das heißt als à tout prix gewollte, hätte die mythologische Reminiszenz eigentlich besondere Aufmerksamkeit verdient. Ihr gebührt jedenfalls sehr viel mehr Beachtung, als sie in der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte erhalten hat (wenn sie zum Beispiel sowohl bei der Verfilmung als auch in der Lesung eines Hörbuchs58 schlankerhand gestrichen wurde).
52 53 54 55 56 57 58
Bd. 8, S. 906. Bd. 8, S. 888. Zur Schillerschen Szene vgl. Bd. 10, S. 56 f.; zu ihrer zeitgenössischen Komik, d. h. zur seinerzeitigen ›outdatedness‹ des früheren Modedufts wie der tierischen Düfte überhaupt, Corbin, Pesthauch und Blütenduft, S. 103. Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Sp. 1646, s. v. ›Schranze‹; Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 15, Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 51897, S. 629, s. v. ›Schranz (Schranze)‹. Bd. 8, S. 879. Bd. 8, S. 884. Bd. 8, S. 916. Vgl. Thomas Mann, Die Betrogene, gesprochen von Inge Keller, Düsseldorf: Patmos, 1998.
Parallelen zu Amor und Psyche
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Die eine Stelle, an der Rosalie Psyches Annäherung an »den schlafenden Amor« evoziert, die Anspielung also auf die berühmte Erkennungsszene des Märchens bildet nur den Anfang einer langen und dicht geschlossenen Reihe von Reminiszenzen, die freilich von nun an fast vollständig unter den patenten Wortlaut des Texts sozusagen versenkt sind. Die ganze Novelle läßt sich als eine einzige Nacherzählung oder Travestie des Märchens von Amor und Psyche lesen, das Rosalie in ihrem seltsam unglaubwürdigen Selbstvergleich zunächst scheinbar bloß nebenher und obenhin aufruft. Am Anfang des Märchens steht Aphrodites Haß auf die Prinzessin Psyche. Deren Keuschheit und Selbstgenügsamkeit will die Göttin brechen. Psyche soll dadurch gedemütigt werden, daß sie einem gänzlich unwürdigen Geliebten verfällt: »quem et dignitatis et patrimonii simul et incolumitatis ipsius Fortuna damnavit«, 59 der also weder soziales noch ökonomisches noch auch nur Körperkapital hat. Psyche wird dann bekanntlich die Geliebte und Frau keines solchen ›damnatus‹, sondern ausgerechnet dessen, der diese Verfluchung ins Werk setzen müßte, Amors eben. Der jedoch verbirgt seine Identität und Erscheinung zunächst vor ihr. Und nachdem sie sich von ihren eifersüchtigen Schwestern weismachen ließ, es sei ein ›ungeheurer Drache‹, was da ›nachts heimlich mit ihr schlafe‹ (»immanem colubrum […] tecum noctibus latenter acquiescere« 60), bricht Psyche das Blickverbot und Erkenntnistabu mit dem Licht (»claro lumine« 61) einer Öllampe (»lucerna« 62), um das vermeintliche Ungeheuer mit einem Dolch oder Schwert (»ferrum« 63) im Schlaf zu töten. In die Schönheit des neu gewonnenen Anblicks versunken, läßt sie die Waffe fallen und unachtsam Öl auf den dadurch geweckten Amor hinabtropfen. Sich so verratend, wird sie bei ihrer »curiosita[s]« 64 ertappt. (Nach Hans Blumenbergs Vermutung bildet der Wortgebrauch der Metamorphosen
59 60 61 62 63 64
Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 242. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 282. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 286. Ebd. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 290. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 348. Vgl. Hans Joachim Mette, Curiositas, in: Festschrift Bruno Snell, München: Beck, 1956, S. 227–235; Serge Lancel, »Curiositas« und spirituelle Interessen bei Apuleius, in: Gerhard Binder und Reinhold Merkelbach (Hgg.), Amor und Psyche, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968 (Wege der Forschung, Bd. 126), S. 408–432, hier S. 419–431; Antonie Wlosok, Zur Einheit der Metamorphosen des Apuleius, in: Philologus 113, 1969, S. 68–84; Eisner und Schachter, Libido Sciendi, S. 820 f., 830.
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Apuleius-Reminiszenzen
ein entscheidendes Glied im schon antiken Prozeß der Ab- und Umwertung menschlicher Neugierde ins Lasterhafte. 65) Als Strafe dafür hat Psyche vier Prüfungen und Mutproben zu durchlaufen. Deren letzte, besonders ausführlich erzählte, besteht in einem Gang in die Unterwelt. Dazu gehört unter anderem Obligatem die Fahrt über den Unterweltsfluß, die Entlohnung des Charon, die Fütterung und Besänftigung des Kerberos. Die Parallelen, die Die Betrogene zu diesen hier zugegebenermaßen in Hinblick auf sie schon überhellten Zügen der Märchenhandlung aufweist, fallen ins Auge. Rosalie von Tümmlers Liebe hat in der Tat ihr Erniedrigendes und Beschämendes. Elemente aus dem entsprechenden Wortfeld erscheinen denn auch schon in den Notizen und mit signifikant hoher Frequenz in Rosalies Gesprächen und Selbstgesprächen (»Schande«, 66 »Scham«, 67 »Verschämtheit«, 68 »Scham[]haftigkeit«, 69 »schamhaft[]«,70 »schamlos«, 71 »sich […] schämen« 72). Ihre Leidenschaft für den Hauslehrer und seine »Götterarme«, 73 wie sie sie seit einer späten Korrektur mit ausgerechnet dieser Hyperbel benennt – in der Handschrift stand zuvor nur: »herrliche[] Arme« –, ist erst einmal eine einzige Demütigung. Denn Keaton in seiner »nette[n] Durchschnittlichkeit«, welche »den […] demokratischen Geist seines […] Heimatlandes zum Hintergrunde hat«, gibt eben »zur Leidenschaft« bereits in den Entwurfsnotizen bekanntlich »so wenig Anlaß«. Auch das bekommt die »Aristokratin« in den Gesprächen des Novellentexts von ihrer Tochter ja ausdrücklich vorgehalten (oder, mit dem Verb der Notizen: ›nachgewiesen‹). Und da die also schon früh vorgemerkte Feststellung nun der »töchterlichen Freundin« und Verwandten ersten Grades in den Mund gelegt ist, nimmt diese, sofern sie ihrer Mutter die Liebe mißgönnt, natürlich die Position ein, die im Märchen Psyches ihrerseits neidische Schwestern besetzten. Eines ›amor flagrantissimus‹ 74 unwürdig ist der Geliebte nicht allein wegen seiner Herkunft, ein Amerikaner aus bescheidenen Verhältnissen, der somit nur gerade altersmäßig Rosalie von Tümmlers »Sohn sein könn65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 89. Bd. 8, S. 917. Bd. 8, S. 901–903, 911, 915, 917. Bd. 8, S. 891. Bd. 8, S. 932. Bd. 8, S. 903, 912. Bd. 8, S. 901. Bd. 8, S. 911, 924. Bd. 8, S. 901; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 342. 21973,
Parallelen zu Amor und Psyche
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te« – dieses Moment der fehlenden ›dignitas‹ und des fehlenden ›patrimonium‹ wäre selbstverständlich auch vom »Hauslehrer« jener Münchener Klatschanekdote herzuleiten –; sondern darüber hinaus (»simul et«) erfüllt er sogar noch das dritte Kriterium eines Geliebten, wie ihn Aphrodite bei ihrer Verwünschung Psyche als Fluch zudenkt: Ken Keaton hat ja keinen ganz heilen Leib. Wie Rudi Schwerdtfeger hat er eine Niere verloren (von dem dies im Doktor Faustus wie gesehen im Zusammenhang mit der Aushebung zum selben Ersten Weltkrieg bekannt wird, in dem Keaton sich seine Verletzung erst zuziehen muß). Er ist also »körperlich nicht ganz komplett«. 75 In der Tat ist er, wie es in Apuleius’ ›asianisch‹ geschraubtem Latein heißt: ›incolumitatis ipsius damnatus‹, ›selbst an seiner leiblichen Unversehrtheit beschädigt‹ (sofern man denn hier den Übersetzungen folgen will, die Thomas Mann zur Verfügung standen; 76 ließe sich diese schwierige Stelle doch auch entschieden weniger harm- und arglos auffassen). Und wenn er hierin ausgerechnet Schwerdtfeger gleicht, dann stimmt das genau mit den ikonographisch präzis ›erotischen‹ Attributen überein, mit denen im Doktor Faustus dieser »knabenhafte[]« und »möpslich[e]« 77 »Flatterer« und »Flirt-Kopf« 78 seinerseits ausstaffiert wird.79 Dem Gang sodann in die Unterwelt (»mortifera[] via[]«), den Psyche als letzte Aufgabe bestehen muß, 80 entspricht Stück für Stück der Sonntagsausflug nach »Schloß Holterhof«. Die Rheinfahrt auf dem »PrivatMotorboot« entspricht der Fahrt auf dem Nachen (»cumba«) über den Totenfluß (»flumen mortuum«).81 Der sonderbare »Führer« des »Boot[s]« (»ein Mann mit Ringen in den Ohrläppchen, rasierter Oberlippe und einem rötlichen Schifferbart unterm Kinn«)82 entspricht so offensichtlich wie sonst nur noch der Gondoliere des Tods in Venedig dem Totenfergen Charon. 83 Die ausdrücklich von Rosalie erledigte Entlohnung des »Schiffer[s]« entspricht dem Fährlohn, den Psyche zu entrichten hat (»de stipibus […] alteram«).84 Ein »ziemlich feuchte[r] Wiesenweg« 85 am Rhein75 76
77 78 79 80 81 82 83 84 85
Bd. 8, S. 914. Apuleius, Der Goldne Esel, übersetzt von August Rode, Berlin: Barsdorf, 61906, S. 87: »dem das Schicksal […] Gesundheit geraubt hat«; Apuleius, Amor und Psyche, übersetzt von Schaeffer, S. 16: »den Fortuna […] sogar seine Leibesunversehrtheit hat einbüßen lassen«. Bd. 6, S. 265 f., 395. Bd. 6, S. 591. Vgl. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 65–77. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 342. Ebd. Bd. 8, S. 938. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 252. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 344. Bd. 8, S. 940.
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Apuleius-Reminiszenzen
ufer entspricht dem unwegsamen Pfad (»iter invium«), den sie zu Fuß (»suis pedibus«) gehen muß. 86 Und der »[e]ine[] der Schwäne«, ausdrücklich auch »der Böse« genannt, der mit »seine[n] dunklen Schwingen« und »zornig[em]« ›Zischen‹ Rosalie bedroht87 – und der Willard R. Trask bedeutsam genug schien, um der englischen Übersetzung, The Black Swan, mit vollem Einverständnis des Autors88 den Namen zu geben –, entspricht dem ›ungeheuren, entsetzlichen, tiefbellenden Riesenhund‹ Kerberos (»[c]anis […] praegrandis […], immanis et formidabilis, tonantibus oblatrans faucibus«).89 Die Fütterung des »schwarze[n] Schwanenpaar[s]« 90 (das, ›of all logos‹, der jüngste, Düsseldorfer Ortsverein der Thomas MannGesellschaft im Signet führt) entspricht der Besänftigung des dreiköpfigen Höllenhunds mit einem ›Klößchen‹ (»offula[]«). 91 Das verfütterte altbackene Brot, von dem Rosalie erst selber ißt, entspricht vielleicht auch noch dem ›schimmligen Brot‹, das Psyche bei Proserpina bekommt (»pan[is] sordidu[s]«, »cibari[us] pan[is]«). 92 Das Schloß, sein gehässiger Kastellan, seine »ins Ungewisse führenden« »Geheimg[ä]nge[]« und »Wendeltreppe[n]« 93 – dies und sehr vieles mehr entspricht natürlich dem ›öden Haus‹ des Unterweltsgottes (»vacua[] Ditis domu[s]«94), der »Burg« 95 oder dem »Palast«, 96 man dürfte aber getrost auch übersetzen: dem ›Schloß‹ des Orcus (»Orci regia[]« 97). Dessen allegorischer Bedeutung entspricht das ausdrücklich so genannte »Grab[]« eines »tote[n] Lustgemach[s]«,98 in das Rosalie und Ken auf ihrer heimlichen Eskapade gelangen. Und selbst der Weg, den die beiden durch »eine verrostete Pforte« und »ledrige[s] Schlingwerk« nehmen und der sie aus diesem »Grab[]« »zu den anderen« zurück-
86 87 88 89 90 91 92 93
94 95 96 97 98
Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 340, 342. Bd. 8, S. 941 f. Vgl. den Brief vom 3. Mai 1954 an Anna Jacobson; Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/III: 1944–1955, S. 528. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 344. Bd. 8, S. 941. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 344. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 346. Bd. 8, S. 944 f. Vgl. Karl Kerényi, Labyrinth-Studien. Labyrinthos als Linienreflex einer mythologischen Idee, Amsterdam und Leipzig: Akademische Verlagsanstalt Pantheon, 1941 (Alba Vigiliae, Heft 15); dazu Titus Heydenreich, Eros in der Unterwelt. Der Holterhof-Ausflug in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene, in: Eberhard Leube und Ludwig Schrader (Hgg.), Interpretation und Vergleich. Festschrift für Walter Papst, Berlin: Schmidt, 1972, S. 79–95, hier S. 90. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 344. Apuleius, Der Goldne Esel, übersetzt von Rode, S. 121. Apuleius, Amor und Psyche, übersetzt von Schaeffer, S. 67. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 342. Bd. 8, S. 946.
Die Betrogene als Parodie
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führt, sie wieder an die »Himmelsluft« bringt,99 scheint, grosso modo wenigstens, der Anabasis Psyches »ab inferis« ins Tageslicht zu entsprechen (»candida ista lu[x]«) 100 – aber eben nur ziemlich grosso modo und unter einem gewichtigen Vorbehalt.
2.3 Die Betrogene als Parodie Hier, bei der Rückkehr aus dem »Grab[]« in die »Himmelsluft«, mit einer planen Parallelisierung der beiden Texte etwas oder auch nicht nur etwas zu zögern, ist sehr geboten. Denn Psyches Gang in die Unterwelt und der Ausflug nach Schloß Holterhof weisen neben den recht augenfälligen Entsprechungen eine ganze und konsistente Reihe von Differenzen auf. Und diese betreffen gerade die Einzelheiten der beiden Itinerarien. Vielleicht ließen sich solche Differenzen zum Teil auch anhand einiger Bezüge wenigstens beschreiben, welche die Reminiszenzen an die Metamorphosen des Apuleius möglicherweise etwas komplizieren. Denn in einer sozusagen subsidiär-intertextuellen Beziehung könnte immerhin die Eskapade ins »Lustgemach« oder doch dieses »Lustgemach« selbst zu einem gleichfalls morbiden »Liebeskabinett« eines gleichfalls nostalgisch unzeitgemäßen Bauwerks stehen, nämlich der »Harmonie« in Heinrich Manns überhaupt berühmtestem Roman, Der Untertan (1918), vielleicht sogar bis in die Schilderung der Lichtverhältnisse und innenarchitektonischen Details. 101 Nur wären die entscheidenden Differenzen zwischen der Betrogenen und dem Märchen von Amor und Psyche damit wie gesagt erst beschrieben, selbst in solch positivistischer Beschreibung nur zum kleineren Teil erfaßt und in ihrer Bedeutung noch überhaupt nicht begriffen. Die Reise der Protagonistin ist in der Novelle entscheidend kürzer als im Märchen. Sie ist halb so lang wie oder, je nachdem, auch unendlich länger als im Märchen. Sie führt hier in einem anderen Sinn nach unten als Psyches Weg zu den Toten. Diesem, und zwar gerade was die in der Betrogenen aufgegriffenen Elemente betrifft, die Fütterung des Höllenhunds oder die Kahnfahrt, eignet eine für die, um es auf Vladimir Propps Terminus 102 zu bringen: eine für die ›Morphologie‹ des betreffenden Mär99 Bd. 8, S. 946 f. 100 Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 346, 348. 101 Heinrich Mann, Der Untertan, hg. v. Alfred Kantorowicz, Berlin: Aufbau, 1951 (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. 4), S. 288–296. 102 Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, hg. v. Karl Eimermacher, München und Wien: Hanser, 1972 (Literatur als Kunst).
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chenmotivs typische Symmetrie. Psyche steigt nicht nur in die Unterwelt hinab; sondern ihre Prüfung besteht ja gerade darin, auf demselben Weg auch wieder zurückzukommen, den eigentlich keiner zweimal gehen kann: ›wieder in die zuvor hinterlassene Spur tretend‹, »recalcans priora vestigia«.103 Der Topos vom »iter tenebricosum / illud, unde negant redire quemquam« 104 oder vom »undiscover’d country, from whose bourn / No traveller returns« 105 wird bei Apuleius also märchenhaft suspendiert. In der Betrogenen aber, auf dem zur Unterweltsfahrt umstilisierten Ausflug nach Schloß Holterhof, behält er seine volle Geltung. Denn nach dem Ausflug wird ein heimlich verabredetes Rendezvous nicht zustande kommen; sondern in der ganz unmittelbaren Folge dieses Ausflugs wird der Vorgang in kruder Tatsächlichkeit einsetzen, den mythische Unterweltsreisen versinnlichen oder beschönigen: In der Stadt, nahe der Königsallee, nahm man Abschied. – Frau von Tümmler kam nicht zu Ken Keaton. Diese Nacht, gegen Morgen, befiel sie schwere Unpäßlichkeit und versetzte das Haus in Schrecken. 106
Der Weg von Holterhof nach Düsseldorf ›zurück‹, wie im Zusammenhang mit der Repräsentation der Industrie- und Proletariatsarchitektur schon gesehen – bemerkenswerterweise will man sich ja nur in der einen Wegrichtung, »stroman«, die Öde der »Vorstadtstraßen« ersparen –, ist in der engeren Bedeutung des Worts keine »Rückfahrt«. Dieser Heimweg kommt denn auch nur unter dem Gesichtspunkt seiner Verschiedenheit vom Hinweg in den Blick: So langwierig das Schiffen stroman durch die Rheinwindungen gewesen, so rasch ging die Rückfahrt mit der lärmend durch Fabrikbezirke und vorbei an Kolonien von Arbeiterhäusern eilenden elektrischen Tram vonstatten. 107
Und schon bei jener Eskapade ins »Grab[]« des »Lustgemach[s]« vor die eigens eingeräumte Wahl gestellt, ob sie »zurück oder vorwärts« wieder »zu den anderen« gehen sollen, nehmen Ken und Rosalie ausdrücklich die »Vorwärts«-Richtung.108 Zwar sind auch in Heinrich Manns »Liebeskabinett« Ein- und Ausgang gewissermaßen frivol-programmatisch verschie103 Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 346 mit Anm. 2; im Original keine Hervorhebung. 104 Catullus, o. T., hg. v. C. J. Fordyce, Oxford et al.: Oxford University Press, 1990, S. 3. Weitere Belege S. 94 [Kommentar]. 105 William Shakespeare, Hamlet, Prince of Denmark, in: ders., The Dramatic Works, Bd. 6, S. 245–410, hier S. 316. 106 Bd. 8, S. 947. 107 Ebd.; im Original keine Hervorhebung. 108 Bd. 8, S. 946.
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den, im Doppelbildnis einer erst springenden und dann, ›danach‹, weinenden Schäferin;109 doch stimmt die Irreversibilität der Wegrichtung hier, im »Lustgemach« auf Holterhof, genau mit dessen mythologisch-unheimlicher Stilisierung überein: Es fehlte nicht viel, so wäre sie an ihm hingesunken. Er hielt sie und zog sie fort im Gange, der sich ihren Augen ein wenig erhellte. Stufen gingen da vorn hinab vor den offenen Rundbogen einer Tür, hinter der getrübtes Oberlicht in einen Alkoven fiel, dessen Tapeten mit schnäbelnden Taubenpaaren durchwirkt waren. Eine Art von Causeuse stand da, an der ein geschnitzter Amor mit verbundenen Augen in einer Hand ein Ding hielt wie eine Fackelleuchte. Dort saßen sie nieder im Dumpfen. 110
Die Episode unter dem »getrübte[n] Oberlicht« (»spiraculum Ditis« 111) liest sich wie eine schauerliche Parodie jener zuerst aufgerufenen mythologischen Szene, in welcher der durch die »Lampe« ermöglichte Anblick Amors Psyche ›tief in die Knie‹ zwingt – »in imos poplites«, während hier nur eben »nicht viel« dazu »fehlt[]« – und sie sich zugleich selber an einem Pfeil des Liebesgottes sticht: 112 Sed cum primum luminis oblatione tori secreta claruerunt, videt omnium ferarum mitissimam dulcissimamque bestiam, ipsum illum Cupidinem formosum deum formose cubantem. Cuius aspectu lucernae quoque lumen hilaratum increbruit et acuminis sacrilegi novaculam paenitebat. At vero Psyche tanto aspectu deterrita et impos animi, marcido pallore defecta tremensque desedit in imos poplites et ferrum quaerit abscondere, sed in suo pectore. Quod profecto fecisset, nisi ferrum timore tanti flagitii manibus temerariis delapsum evolasset. Iamque lassa, salute defecta, dum saepius divini vultus intuetur pulchritudinem, recreatur animi. […] Quae dum insatiabili animo Psyche, satis et curiosa, rimatur atque pertrectat et mariti sui miratur arma, depromit unam de pharetra sagittam et puncto pollicis extremam aciem periclitabunda trementis etiam nunc articuli nisu fortiore pupugit altius, ut per summam cutem roraverint parvulae sanguinis rosei guttae. Sic ignara Psyche sponte in Amoris incidit amorem. 113
In August Rodes kanonisierter Übersetzung: Allein, was entdeckt sie, als nun des Lichtes Schimmer das Geheimnis beleuchtet? – Von allen Ungeheuern das holdeste, das liebenswürdigste!
109 Heinrich Mann, Der Untertan, S. 289–296: »Die Schäferin auf der Tür bewegte sich dem Liebenden entgegen Noch [sic!] ein wenig, und hinter der Tür im Dunkeln mußte sie ihm wohl in den Armen liegen…« – »[…] die Schäferin saß da und weinte. Auf der Rückseite des Spiegels aber entfernte sich der Schäfer.« 110 Bd. 8, S. 946. 111 Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 342. 112 Vgl. Bd. 6, S. 205 f. 113 Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 288–292.
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Es ist – Kupido! Der süße Gott der Liebe ist es! Da liegt er in all seiner Schönheit. Auch die Lampe freut sich seines Anschauens und flammt heller auf, und dem Messer tut es weh, daß es so scharf ist. Psyche stutzt. Es faßt sie Reue und Entsetzen, außer sich, blaß und bebend sinkt sie in die Kniee. Verbergen möchte sie das Messer; aber in ihrer Brust. Sie hätte es auch gethan, wäre nicht der Stahl aus Scheu vor einem so großen Verbrechen ihrer frevlen Hand entsunken und weit von ihr hinweggeflogen. Allgemach erholt sie sich wieder von der Schwachheit; denn ihr Auge erquickte sich an der göttlichen Schönheit des Schlummernden, und jeder Blick auf ihn war für sie neues Leben. […] Unstillbares Verlangen ergreift jetzt Psychen; neugierig beschaut sie die Waffen ihres Gemahls, befaßt sie, bewundert sie. Sie zieht einen Pfeil aus dem Köcher und versucht mit zartem Finger dessen Spitze. Noch hatte sich das Zittern der Glieder nicht gelegt, stärker als sie will, berührt sie das Eisen und verletzt sich, daß gleich Tröpfchen rosigen Blutes ihre Hand bethauen. Von nun an liebt sie Amor. Ihre eigene Schuld, doch ohne ihr Wissen. 114
Bei Apuleius also wird das Mythologem von Amors Pfeil nicht nur mit der ›Psychologie‹ des Blicks auf den Anderen kombiniert. Sondern auch schon seinerseits ist es psychologisch sinnreich zur Selbstverletzung abgewandelt. Die zwar schmerzlich fühlbare, aber doch ganz oberflächliche Verletzung einer äußersten Extremität (»puncto pollicis«, »extremam aciem«, »per summam cutem«), an der denn nur ›ganz kleine Bluttröpfelchen‹ austreten (»parvulae sanguinis […] guttae«), steht nun zur Motivation der Leidenschaft in der Betrogenen in einem sehr genauen Gegensatz. Sie steht dazu im selben makabren Gegensatz wie der Krebstod am Ende der Novelle zum ›happy ending‹ des Märchens. Denn Rosalies Leidenschaft scheint ja nichts anderes zu sein als das Symptom einer Krankheit, die sie, Rosalie, aufs furchtbarste, mit dem dafür regelmäßig aufgebotenen Wort: »zerstört«. 115 Die Krankheit, als exaktes Gegenteil eben jener oberflächlich spürbaren Selbstverletzung, zerstört den Körper von zuinnerst, von seinen in jedem Wortsinn intimen Teilen her; aber sie zerstört ihn dabei doch ganz unmerklich (und um der »Vergünstigung« dieser Unmerklichkeit willen hatte Thomas Mann den fingierten Krebs aus der »Gebärmutter« eigens ins Ovar verlegt 116). 114 Apuleius, Der Goldne Esel, übersetzt von Rode, S. 104 f. 115 Bd. 8, S. 917 f., 930, 946. 116 Ausschlaggebend für die Verlegung scheinen die Informationen gewesen zu sein, die Thomas Mann von Rosenthal in jenem Brief vom 11. Mai 1952 und in jener längeren Abhandlung Zur Physiologie und Pathologie der Eierstöcke im Zusammenhang mit Erscheinungen in den Wechseljahren erhielt, vermutlich, wie gesagt, einer Anlage eines verschollenen Briefs aus der zweiten Mai-Hälfte 1952. Zu Thomas Manns Einverwandlung der medizinischen Informationen bis in feinste Details (z. B. die »ziehende[] Beschwerde« der »Kreuzschmerzen« [Bd. 8, S. 940]) vgl. Rütten, Zu Thomas Manns medizinischem Bildungsgang im Spiegel seines Spätwerks, S. 248–253.
Die Betrogene als Parodie
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Daß die Leidenschaft der »Betrogene[n]«, »dies Überströmt-, Überschwemmtwerden ihres Inneren von ungeheuerer Süßigkeit«, 117 tatsächlich bloß die Wirkung eines pathologisch erhöhten Hormonspiegels ist, legt übrigens selbst der konkrete Wortlaut des Novellentexts zwingend nahe. In Rosalies innig ergriffene Sprache der Liebe nämlich (»mein ganzes Inneres überströmt, überschwemmt […] von […] Süßigkeit« 118) ›fließen‹ dieselben Verbalmetaphern ein wie in die medizinische Beschreibung ihres Körper-»Inneren«. Dieses ›ganze Innere‹ wird »mit Estrogenhormonen ueberschuettet« – so eine von Thomas Mann doppelt und dreifach unterstrichene Auskunft Rosenthals – beziehungsweise eben, in deren signifikant erweitertem Zitat und in Professor Muthesius’ Worten, »mit Estrogenhormonen überschüttet, überströmt, überschwemmt«: »[…] Und doch rate ich Ihnen, meine Vermutung zu übernehmen, daß die Geschichte vom Eierstock ausging, – von unbenützten granulösen Zellen nämlich, die seit der Geburt da manchmal ruhen und nach dem Einsetzen der Wechseljahre durch Gott weiß welchen Reizvorgang zu maligner Entwicklung kommen. Da wird denn der Organismus, post festum, wenn Sie so wollen, mit Estrogenhormonen überschüttet, überströmt, überschwemmt, was zur hormonalen Hyperplasie der Gebärmutter-Schleimhaut mit obligaten Blutungen führt.«
Vor allem aber geht in der Betrogenen die Überblendung der Unterweltstopik mit den Reminiszenzen der voyeuristischen oder voyeusistischen Szene am ›Bettchen‹ (»lectul[us]« 119) mit deren Verkürzung um einen Motivkomplex einher, der in der Rezeptionsgeschichte des Märchens entscheidende Bedeutung erlangen sollte. Die Motive des Lichts, des Sehens, des Blicks der Frau auf den Mann fehlen. Oder vielmehr tauchen sie als gleichsam negative Reminiszenzen auf, in der Form ihrer Selbstnegation. In dieser paradoxen Form erscheinen sie an der Figur eines »Amor« und damit an der zweiten und letzten Stelle, an der die Serie der ApuleiusReminiszenzen in Gestalt eines Eigennamens gleichsam wieder an die Textoberfläche gelangt. An der »Art von Causeuse« steht der lediglich »geschnitzte[] Amor mit verbundenen Augen« – eine erst neuzeitliche, 120 im Lexicon iconographicum mythologiae classicae wenigstens nicht belegte Pose des Gottes.121 Das ikonologisch hingegen schon seit der Antike vorgegebene Attribut der Fackel, das auch bei Apuleius erscheint, ist zu einem »Ding […] wie eine Fackelleuchte« verunklärt und in der noch weiter gebroche117 118 119 120
Bd. 8, S. 909. Bd. 8, S. 901. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 290. Vgl. Davidson Reid, The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300–1990s, Bd. 1, S. 391–421, hier S. 391, s. v. ›Eros‹. 121 John Boardman et al. (Hgg.), Lexicon iconographicum mythologiae classicae, Bd. III.1, Zürich und München: Artemis, 1986, S. 850–1049, s. v. ›Eros‹.
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nen Form der »Fackelleuchte« mit einer ganz anderen Ikonographie kontaminiert: Die »Fackelleuchte«, in der die beiden Substantive kombiniert sind, die Thomas Mann in jenem leicht ungenauen Wagner-Zitat des Doktor Faustus miteinander verwechselte, ist schon lexikalisch und syntaktisch auffällig. Lexikalisch handelt es sich beim Kompositum »Fackelleuchte« um so etwas wie einen Neologismus. Jedenfalls ist ein Lemma ›Fackelleuchte‹ weder im Grimmschen Wörterbuch noch in anderen gängigen Lexika rubriziert. Syntaktisch ist die neologistische Vokabel dadurch mit zusätzlicher Emphase beschwert, daß sie durch Hyperbaton oder ›Fernstellung‹ aus ihrem unmittelbaren syntagmatischen Sinnzusammenhang herausgebrochen wird: »ein Ding« – »hielt« – »wie eine Fackelleuchte«. Der also schon formalen Auffälligkeit der »Fackelleuchte« entspricht deren eigenartige und eigenwillige Semantisierung. In ihr wird das Attribut des gleichsam pyromanischen Amor der allegorischen Bedeutung entfremdet, auf die Apuleius die Fackel als Waffe ziemlich eindeutig festlegt: »flammis et sagittis armatus«. 122 Die Bedeutung der »Fackelleuchte« aber scheint nicht in einer destruktiven, sondern in ihrer Funktion als Lichtquelle zu bestehen. Oder genauer gesagt besteht sie im Versiegen und Versagen solch einer Funktion. In dieser allegorischen Bedeutung nämlich, als erlöschende, ›erscheinen‹ Fackel und Leuchte in der kaiserzeitlichen Todesikonographie, wie sie Thomas – und wohl auch Heinrich 123 – Mann aus der berühmten Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet (1769) bekannt gewesen sein muß. 124 Vom Attribut der »Fackel« ausgehend, polemisiert Lessing darin unter anderem gegen Verwechslungen der Todes- mit der Amor-Allegorie; 125 aber in eins damit läßt er so natürlich die Kontaminierbarkeit der beiden Allegorien nolens volens desto deutlicher hervortreten. 126 Thomas Manns Wahrnahme dieser Kontaminationsmöglichkeit und der daraus resultierenden Negation sozusagen des Lichts genau entspre122 Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 240; im Original keine Hervorhebung. 123 Vgl. Heinrich Mann, Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy, hg. v. Alfred Kantorowicz, Berlin: Aufbau, 1957 (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Ergbd. 2), S. 756. 124 Vgl. Bd. 3, S. 82; Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman. Kommentar von Michael Neumann, Frankfurt a. M.: Fischer, 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.2), S. 153. 125 Gotthold Ephraim Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, in: ders., Werke und Briefe, hg. v. Wilfried Barner et al., Bd. 6: Werke. 1767–1769, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 6), S. 715–778, hier S. 726 f. 126 Vgl. Johann Gottfried Herder, Wie die Alten den Tod gebildet?, in: ders., Werke, Bd. 4: Schriften zur Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774–1787, S. 579–630, hier S. 605–616.
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chend, erhellt sich der »dunkle[] Gang« 127 die »Stufen […] hinab« nur »ein wenig«. Und in dem fensterlos-›blinden‹ »Alkoven«, in den »getrübtes« Licht fällt und »dessen Tapeten« »mit schnäbelnden Taubenpaaren durchwirkt« sind, zum Zeichen der hier inszenierten »Todeshochzeit« oder »Begräbnishochzeit«,128 um es wieder mit Erich Neumann zu sagen, jenem jungianischen Tiefenpsychologen, – in diesem »Grabe« und »Lustgemach« also registriert Rosalie denn auch keinen optischen, sondern unverzüglich einen olfaktorischen Eindruck. Sie nimmt einen »Moderduft« wahr, der nicht zufällig an Leverkühns ebenerdige Behausungen erinnert: »Hu, Totenluft«. 129
2.4 Sehen versus Riechen Licht und Sehen hat Thomas Mann aus seinen mythologischen Reminiszenzen konsequent herausgehalten und durch Geruch und Riechen ersetzt; und das von der ersten einschlägigen Stelle an. Denn jene mythologische Anspielung auf den »Götterduft«, womit »Hauch«, »Locken und Wangen« Psyches »Näschen […] erfüllt« haben sollen, als sie sich »mit der Lampe über den schlafenden Amor beugte«, ist als ganze nicht nur unplausibel, sondern sie ist im Detail auch falsch. Die wichtige Frage vorerst einmal noch beiseite gelassen, warum Rosalie in ihrem ja allein um des »Wohlgeruch[s]« willen gezogenen Vergleich Psyches »Lampe« überhaupt erwähnt, wo sie selber in dem der mythischen Szene entsprechenden ›Augenblick‹ doch die »Augen« ausdrücklich »geschlossen[]« hält, sucht man auch nur schon nach »Hauch«, »Wohlgeruch« oder »Götterduft« bei Apuleius ganz vergebens: Videt capitis aurei genialem caesariem ambrosia temulentam, cervices lacteas genasque purpureas pererrantes crinium globos decoriter impeditos, alios antependulos, alios retropendulos, quorum splendore nimio fulgurante iam et ipsum lumen lucernae vacillabat. 130
In Rosalies mythologische Anspielung scheint das Moment des »Götterduft[s]« aus einer oder der anderen Übersetzung gelangt zu sein, in der Thomas Mann Apuleius rezipierte: Wahrscheinlich kommt es aus August Rodes recht bekannter, eben schon einmal herangezogener Übersetzung der Metamorphosen von 1783, zusammen mit anderem lexikalischem Mate127 128 129 130
Bd. 8, S. 946. Neumann, Eros und Psyche, S. 83; vgl. S. 78, 84, 89, 92 f., 106 f. Bd. 8, S. 945 f. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 290.
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rial, so den »Locken und Wangen«. Und weil Rode des weiteren »genas[] purpureas«, ›Purpurbacken‹, ziemlich frei als »Rosenwangen« wiedergibt, liegt hier sogar schon eine Assoziation des »Götterduft[s]« mit »Rosen« gewissermaßen bereit, wie sie Rosalies mythologische Reminiszenz überhaupt erst ermöglicht: In der Haare Gold das niedlichste Köpfchen eingehüllt. Ambrosiaduftende Locken in zierlichem Gewirre über Rosenwangen und einem Nacken, weiß wie Marmor, hinab auf Brust und Rücken irrend. Umher Glanz verbreitet, daß selbst der Lampe Licht davor erbleichte. 131
Vielleicht aber, das läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, stammt die Vorstellung und zur Hälfte sogar das Wort »Götterduft« auch aus einer anderen, nämlich aus Albrecht Schaeffers Apuleius-Übersetzung von 1926, genauer gesagt aus einer daraus entnommenen Teilübersetzung des Märchens von Amor und Psyche, die in Thomas Manns Nachlaß ebenfalls erhalten geblieben ist: Sie sieht das wonnevolle Haar des goldenen Hauptes, von ambrosischem Rausche duftend, sieht den milchweißen Nacken und die purpurnen Wangen, umschweift von zierlich verwickelten Locken, deren etliche vorn, die andern zurückhangen, und von deren allzu blendendem Glanz sogar das Licht der Lampe schon wankte […]. 132
Beide, Rode und Schaeffer, geben bei der Übersetzung von »caesariem ambrosia temulentam«, ›ambrosiatrunkenes Haar‹, die Metapher »temulentam«, ›betrunken‹, ›saftig‹, mit »duftend« wieder. Das liegt sprachlich keineswegs nahe, und schon gar nicht drängt es sich auf; stört solch eine Übersetzung doch die sonst strikt optische Isotopie, auf welche die betreffende Periode von Anfang an abgestellt ist, eben durch das an die Satzspitze gerückte Hauptverb: »Videt«. Daß Rode dieses Verb in seiner gerade hier elliptischen Übersetzung schlankerhand unterschlägt, ist sehr bezeichnend und hat einen guten Grund. Nur durch die Ellipse des Prädikats war es Rode möglich, die ›Katachrese‹ zu vermeiden, die sich ergäbe, wenn man ein verbum videndi mit einem Akkusativobjekt von olfaktorischer Bedeutung kombinierte. Schaeffer hingegen in seiner viel jüngeren, und fast selbstverständlich heißt das auch: viel genaueren Übersetzung gibt das ›historisch‹-präsentische Hauptverb »Videt« getreulich wieder; er trägt stilistisch sogar dessen formaler Profilierung Rechnung, indem er es nämlich anaphorisch verdoppelt (»Sie sieht […], sieht«): dies aber um den Preis nun einer gegen 131 Apuleius, Der Goldne Esel, übersetzt von Rode, S. 104 f.; im Original keine Hervorhebung. 132 Apuleius, Amor und Psyche, übersetzt von Schaeffer, S. 41; im Original keine Hervorhebung.
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den lateinischen Wortlaut geführten Synästhesie und einer wenn auch nur leichten, ›zeugmatischen‹ Spannung, in welche die so durchgehaltene Isotopik des Sehens zum ›Duft‹ des ›ambrosischen Rauschs‹ eben unausweichlich geraten muß. Mit der quellenkritischen Rekonstruktion der konkreten Grenzen, die Thomas Manns Apuleius-Lektüre gesetzt waren, ist die besondere Rolle des ›Dufts‹ in Rosalies mythologischer Reminiszenz aber noch nicht einmal vollständig beschrieben, geschweige denn wirklich verstanden. Zu fragen bleibt, warum Thomas Mann auf das nur leicht irritierende und jedenfalls ganz unbedeutende Detail des im Deutschen ›duftenden Haars‹ überhaupt aufmerksam werden konnte und weshalb es ihm so wichtig war. Es war ihm ja wichtig genug, um das Moment des ›Dufts‹ von den »Locken«, mit denen allein es Rode und Schaeffer verbunden hatten, gleich noch auf »Hauch« und »Wangen« zu übertragen, und seien es auch »Rosenwangen«. Und zu solchem Zweck erfand er auch noch diesen »Hauch« gegen alle Versionen des Märchentexts eigens hinzu. Spätestens damit wich er eindeutig vom Wortlaut nicht mehr allein des lateinischen Originals, sondern nun auch seiner deutschen Übersetzungen ab: […] das sei Götterduft; als Psyche sich mit der Lampe über den schlafenden Amor beugte, habe sein Hauch, hätten seine Locken und Wangen ihr Näschen gewiß mit diesem Wohlgeruch erfüllt; es sei Himmelsarom, und sie zweifle nicht, daß man als seliger Geist dort oben in Ewigkeit Rosenduft atmen werde. –
»Videt […] genas […] pererrantes crinium globos«, ›sieht seine auf die Wangen fallenden Haarlocken‹: Daß bei der Reminiszenz der Betrogenen in »Wohlgeruch« aufgelöst und in »Götterduft« überführt wird, was Psyche bei Apuleius eigentlich nur ›sieht‹, weist über diese eine Textstelle ziemlich weit hinaus. Die hier quasi stillschweigend vollzogene Überschreibung oder ›obliteration‹ des Sehens durch den Geruch entspricht in bestimmter Hinsicht und nicht von ungefähr den Weiterungen eines Passus, der sich der Partie »Rosenzeit« unmittelbar anschließt: »[…] zur Zeit der Lindenblüte, gegen den Juli, – dieser denn doch für sie nun wieder einzig lieblichen Zeit […].« 133 (Die gewunden konzessivische Superlativierung – »denn doch […] nun wieder« – scheint auf die »Rosenzeit« Bezug zu nehmen und zu berücksichtigen, daß an der gegebenen Stelle der Erzählung Rosalies »ganze Wonne« eigentlich schon an diese »Rosenzeit« sozusagen vergeben ist.) »[G]egen den Juli« also verfällt Rosalie auf den »Gedanken« und schlägt sie der »Malkunst« ihrer Tochter den »Versuch« vor, »das unsichtbar
133 Bd. 8, S. 886.
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Beglückende« der Düfte »dem Augensinn zu überliefern«.134 In dieser, Anna sagt: »synästhetischen Vermischung der Sinne« 135 findet ganz offen die Übersetzung oder gewissermaßen eine Verdrängung des Augensinns durch den Geruch statt, wie sie in den für jene mythologische Reminiszenz relevanten Apuleius-Versionen gleichsam nur erst droht beziehungsweise darin eben nur in Kauf genommen ist. Denn in der »mystischen Wandlung von Düften in Farben«,136 wie Anna den Einfall ihrer Mutter mit einem Nomen auch nennt, das die christliche Transsubstantiationslehre zumindest konnotiert, geraten Bild und Geruch in eine entschieden hierarchische Beziehung. Diese liegt ganz genau auf der Linie dessen, was das Wort von der »Wandlung« sensu spirituali mit bedeuten kann. Der Duft erhält hier den im ›abendländischen Logozentrismus‹ privilegierten Status eines Signifikats. Der in direkter Rede geäußerte Einfall, »Düfte in Farben auszudrükken« 137 – eine der hierin von Theodor W. Adorno 138 berichtigten Anna zufolge noch nie dagewesene »Problemstellung[]« 139 –, Rosalies Einfall also läuft auf eine Suprematie eines körpernahen über einen Distanzsinn hinaus. In der Konsequenz stimmt diese Hierarchie wie gesagt mit der seltsam ungenauen Adaption der Märchenszene aus Amor und Psyche überein, wo der Geruchs- den Gesichtssinn ebenfalls ver- oder doch abdrängt. Der eigenwillige und in seiner Eigenwilligkeit von Anna dann ja auch ausgewiesene Primat der Gerüche aber, welcher, je in einer Figurenrede der Protagonistin, im Passus »Rosenzeit« gleichsam inszeniert wird und im unmittelbar nächsten Passus »Lindenblüte« zumindest impliziert ist, bleibt nicht das letzte Wort des Texts. Er wird unverzüglich problematisiert und gebrochen in einem – von Adorno nun wiederum hochgelobten 140 – Abschnitt, der auf den Passus »Lindenblüte« seinerseits direkt folgt, und zwar mit einer adversativen Konjunktion an ihn anschließt: »Aber […] im […] August […].«141 In der von Adorno so genannten »Allegorie […] vom Moschusgeruch des Exkrementhaufens« 142 wendet der Erzähler, jetzt in eigener Instanz, das Thema der eben noch privilegierten Gerüche ins entschieden Proble134 135 136 137 138 139 140 141 142
Ebd. Bd. 8, S. 886 f. Bd. 8, S. 887; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 886. Th. W. Adorno, Aus einem Brief über die Betrogene an Thomas Mann, in: Akzente 2.3, 1955, S. 284–287, hier S. 285 f. Bd. 8, S. 886. Adorno, Aus einem Brief über die Betrogene an Thomas Mann, S. 284. Bd. 8, S. 887; im Original keine Hervorhebung. Adorno, Aus einem Brief über die Betrogene an Thomas Mann, S. 284.
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matische. Anhand eines »wunderlichen Eindruck[s]«143 führt er die »zweideutige[] Übergänglichkeit und Ambivalenz« der Gerüche auf krasse Weise ›vor Augen‹ und besetzt selbst den »Wohlgeruch« mit Ekelreflexen: Aber auf einem Spaziergang im hohen August, am Nachmittag, bei großer Hitze, kam ihnen etwas Sonderbares vor, das an Spott gemahnte. Zwischen Wiesenland und dem Rand eines Gehölzes gehend, fühlten sie sich plötzlich von Moschusduft angerührt, fast unmerklich leise erst, dann stärker. Rosalie war es, die ihn zuerst erschnupperte und mit einem »Ah! Woher das?« ihre Wahrnehmung aussprach; aber gleich mußte die Tochter ihr zustimmen: Ja, da war so ein Geruch, und zwar von der Klasse des Moschusparfüms – unverkennbar. Zwei Schritte genügten, um sie seiner Quelle ansichtig zu machen, die widerwärtig war. Es war, am Wegesrand, ein in der Sonne kochendes, mit Schmeißfliegen dicht besetztes und von ihnen umflogenes Unrathäufchen, das sie lieber gar nicht genauer betrachteten. Auf kleinem Raum waren da Tierexkremente, oder auch menschliche, mit faulig Pflanzlichem zusammengekommen, und der weit schon verweste Kadaver irgendeines kleinen Waldgeschöpfes war auch wohl dabei. Kurz, fieser konnte nichts sein als dies brütende Häufchen; seine üble, die Schmeißfliegen zu Hunderten anziehende Ausdünstung aber war in ihrer zweideutigen Übergänglichkeit und Ambivalenz schon nicht mehr Gestank zu nennen, sondern ohne Zweifel als Moschusgeruch anzusprechen. 144
Die »an Spott gemahn[ende]« Episode vom »fiese[n]« »Häufchen« (ein in Thomas Manns Vokabular als typisch rheinisch markiertes Adjektiv 145 mit übrigens seinerseits olfaktorischer Etymologie146) liefert ein Interpretament für die mythologischen Reminiszenzen der Betrogenen. Die parodistische Bedeutung des in diesen mythologischen Reminiszenzen auf Kosten des »Augensinn[s]« privilegierten, hier ›aber‹ so ›wunderlich‹ trüglichen Geruchs läßt sich aufgrund der Rolle bestimmen, die »Lampe« und »Licht« in der für Thomas Mann maßgeblichen Interpretation des Märchens von Amor und Psyche spielten. Thomas Manns damalige Rezeption des Märchens war zunächst über Erich Neumann vermittelt. Neumann, der im Zusammenhang mit der »Begräbnishochzeit« und jener »Identitätsbeziehung der Tochter zur Mutter« schon verschiedentlich zitierte Jungianer, hatte ihm im »Mai 1952« ein »in Verehrung und Dankbarkeit« persönlich gewidmetes Exemplar seines eben erschienenen Buchs zukommen lassen: Eros und Psyche. Ein Beitrag zur seelischen Entwicklung des Weiblichen. Dieses Buch bestand aus einem – recht umfangreichen – »Kommentar« 147 zum Märchen von Amor und Psyche, 143 144 145 146
Bd. 8, S. 887. Ebd. Vgl. Grete Nikisch, Brief vom 27. Mai 1952 an Thomas Mann (Thomas Mann-Archiv). Vgl. Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag, 21993, S. 341 f., s. v. ›fies‹. 147 Tagebücher 1951–1952, S. 656 [Kommentar].
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dem dieses in Schaeffers deutscher Übersetzung vorangestellt war. Genauer genommen handelt es sich bei Eros und Psyche allerdings nicht um einen »Kommentar«, am allerwenigsten in der ernsthaft-philologischen Bedeutung des Worts; mag auch ein weniger vager Textsortenbegriff als »Beitrag« und ein besser passender als allenfalls ›Essay‹ für die ziemlich abgehobenen und verstiegenen Spekulationen Neumanns noch so schwer zu finden sein. (Diese gehören in den Umkreis und zu den Vorarbeiten eines breit angelegten Projekts, das Carl Gustav Jung höchstpersönlich angeregt hatte, der »Phänomenologie« oder vielleicht besser Archetypologie der Großen Mutter. 148) Den »Beitrag« Neumanns – vielleicht auch die voranstehende Übersetzung des Primärtexts (wie bei der Diskussion von Amors ›Duft‹ schon angedeutet, eine unentscheidbare Frage) – bekam Thomas Mann zu einer genau oder gerade noch passenden Zeit. Er nahm ihn sich unverzüglich vor, noch im »Mai 1952«, und das heißt eben ausgerechnet zu der Zeit, als er an demjenigen Passus »der Novelle« arbeitete, der im Tagebuch den Arbeitstitel »Düfte der Natur« trägt.149 Er konnte dem »Beitrag« durchaus etwas abgewinnen. Im Tagebuch steht: »›Psyche‹ von E. Neumann, interessant. –« 150 »[I]nteressant. –«: Der Lakonismus der elliptischen Notiz trügt wohl ein wenig. Wie die einschlägigen Tagebucheintragungen deshalb zeigen, weil sie sich über signifikant wenige Daten erstrecken (28. Mai und 1. Juni 1952), muß sich Thomas Mann sogleich fest- und Neumanns Abhandlung fast uno actu »zu Ende« gelesen haben.151 Trotzdem oder, wer weiß, auch gerade deswegen, wegen Hast und Eile nämlich der Lektüre, findet sich in seinem Exemplar ganz ausnahmsweise keine einzige Lesespur. Daß Neumann mit seinem sonst offenbar wenig beachteten »Beitrag« bei Thomas Mann auf eine solche Resonanz stoßen konnte, sagt vermutlich nicht nur etwas oder vielleicht sogar recht wenig über die Qualität dieser etwas penetrant jungianisch gesinnten Auslassungen aus. Wahrscheinlich hatte Thomas Manns eifrige Lektüre der Neumannschen Arbeit und sein gleich so heftiges Interesse daran vielmehr damit zu tun, daß er bestimmte Voraussetzungen Neumanns wiedererkannte und mit ihnen von langer Hand vertraut war. Das lassen selbst noch die Aneignungen des Märchenstoffs in der Betrogenen erkennen. Zum Beispiel sind die 148 Erich Neumann, Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltung des Unbewußten, Zürich und Düsseldorf: Walter, 111997. Vgl. z. B. Neumann, Eros und Psyche, S. 82. 149 Tagebucheinträge vom 28. Mai und 1. Juni 1952; Tagebücher 1951–1952, S. 220–222. 150 Tagebucheintrag vom 28. Mai 1952; Tagebücher 1951–1952, S. 220. 151 Tagebucheintrag vom 1. Juni 1952; Tagebücher 1951–1952, S. 222.
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»schnäbelnden Taubenpaare[]«, welche auf den »Tapeten« des so bezeichneten »Grabe[s]« jene Vorstellung der »Todes«- und »Begräbnishochzeit« zuerst evozieren, in Neumanns »Kommentar« zu Psyches hier doch besonders schwer gewichteter Unterweltsfahrt nicht vorgegeben. Der erotische Tapetenschmuck des »Grabe[s]« ist also nicht auf Neumann, sehr wohl aber auf ein Korpus zurückzuführen, 152 von dem Neumanns »Beitrag« ganz unübersehbar seinerseits inspiriert war und aus dessen starkem Einfluß auf seinen »Kommentar« Neumann auch gar kein Geheimnis machte (während es in Jungs Schriften nur ein einziges Mal erwähnt ist 153). Mit diesem Korpus mußte Thomas Mann seit längerem, spätestens seit seiner Arbeit an den Josephsromanen bestens bekannt gewesen sein. Das geht etwa aus einem Exkurs aus seiner Pariser Rechenschaft von 1926 oder auch aus einem Zeitungsartikel hervor, den er 1929, aus Anlaß des zweihundertsten Geburtstags, Zu Lessings Gedächtnis verfaßt hatte. Darin hatte er nämlich jene »Abhandlung« Wie die Alten den Tod gebildet respektive deren Titulatur mit dem betreffenden Korpus in explizite Beziehung gesetzt: »Der Titel klingt, als sei er von Bachofen…« 154
152 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 40 f., 263; Bd. 2, S. 39. Vgl. Karl Kerényi, Bachofen und die Zukunft des Humanismus. Mit einem Intermezzo über Nietzsche und Ariadne, Zürich: Rascher, 1945, S. 22; mit Lesespur Thomas Manns. 153 C. G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. 15: Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Solothurn und Düsseldorf: Walter, 1995, S. 97. 154 Bd. 10, S. 254.
3 Johann Jakob Bachofen und die Rezeptionsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche Johann Jakob Bachofen, der »Jurist[] der Mutterherrschaft«, wie ihn Thomas Mann unter Anspielung wohl auch auf seinen zeitweiligen ›day job‹ einmal nannte – und zwar in einem, wie sich noch zeigen wird, nicht von ungefähr 1929 in München gehaltenen Vortrag –, 1 Bachofen gehört zu den Autoren, die fast jeder kennt und die kaum einer liest. Symptomatisch dafür ist schon das Bild, das man sich im Lauf der Rezeptionsgeschichte von ihm zurechtgelegt hat. Denn in der Folge wohl seiner Rezeption durch ›linke‹ Theoretiker wie Friedrich Engels 2 oder August Bebel, 3 Otto Gross 4 oder Wilhelm Reich,5 Erich Fromm 6 oder selbst Simone de Beauvoir 7 wird er immer wieder, doch ganz zu Unrecht als Propagator des Matriarchats herumgeboten. Auch Frederick A. Lubich, der bisher wohl am ehesten Ideologiekritisches zur deutschen Wirkungsgeschichte des Mutterherrschaftsjuristen beigesteuert hat, kann unter dem Druck und im Sog dieser Rezeptionstradition von Bachofen allen Ernstes behaupten, daß sein »Herz für das Matriarchat schlug«.8 (Die Metaphorik geht vermutlich auf eine allerdings differenzierte Formulierung Ernst Blochs zu-
1 2 3 4 5 6 7 8
Bd. 10, S. 261. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: ders. und Karl Marx, Werke, Bd. 21, Berlin: Dietz, 1962, S. 25–173. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin: Dietz, 611964, S. 37–76. Vgl. Emanuel Hurwitz, Otto Gross. »Paradies«-Sucher zwischen Freud und Jung, Zürich und Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 58. Wilhelm Reich, Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Zur Geschichte der sexuellen Ökonomie, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 31972, S. 106–108. Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt, 1974, S. 140 f. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1995, S. 96, 770. Frederick Alfred Lubich, Bachofens Mutterrecht, Hesses Demian und der Verfall der Vatermacht, in: Germanic Review 65.4, 1990, S. 150–158, hier S. 157, Anm. 20.
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rück: »Bachofens Herz ist beim Matriarchat, sein Kopf beim Patriarchat […].« 9) Ein solches Vorverständnis, an das zum Hauptwerk gewordene Mutterrecht herangetragen, ließe sich allerhöchstens noch durch dessen Aufmachung und Paratext aufrechterhalten. Das Frontispiz der Originalausgabe, eine eiförmige10 Vignette, zeigt eine Frauengestalt in typisch melancholischer Pose, versehen mit einer griechischen Subscriptio, »ȂĮIJȡȠȢ ਕȖȜĮઁȞİੇįȠȢ«, 11 was etwa so viel heißt wie ›Der Mutter hehres Bild‹. Und gewidmet hat Bachofen Das Mutterrecht »dem Andenken [s]einer Mutter«, der Mutter als Toter. Was dann aber folgt, ist alles andere als die Abhandlung eines, dessen »Herz für das Matriarchat schlug«. Schon nur nach dem Wort »Matriarchat« suchte man darin – wie übrigens die allerlängste Zeit auch bei Thomas Mann 12 – ganz vergebens. Bachofen führt den Verlauf der Kulturgeschichte nicht einfach auf eine simple Binäropposition von ›Matriarchat‹ und ›Patriarchat‹ zurück; sondern er entwirft den Gang der Menschheitsgeschichte in drei ›Stufen‹. Und zwar tut er das in der Gewißheit, daß das ›Abendland‹ auf der dritten davon längst angelangt ist. Die beiden früheren lassen sich aber, nach Bachofens Überzeugung, wenigstens indirekt erschließen. Erschließbar sind sie etwa aus der antiken Historiographie (ganz besonders aus Herodot, dem ›Vater‹ der Geschichtsschreibung), aus Kult und Religion (zum Beispiel aus den Büchern des ›Alten Testaments‹), über Mythen und Märchen (zum Beispiel Ödipus oder Herkules), anhand von Eigennamen und Etymologien oder durch sonstige, etwa alltagskulturelle Residuen (wie zum Beispiel die »römische[] Matrone«,13 in der Bachofen eine Veredelung und Desexuierung der »asiatischen Königsfrau« sieht 14). Bachofens zahlreiche und immer neu gewendete Aussagen über den Kulturgang lassen sich kaum paraphrasieren oder doch nur sehr schwer. 9 10 11 12
13 14
Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 6: Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 119. Vgl. Johann Jakob Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von J. J. Bachofen. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler, hg. v. Manfred Schröter, München: Beck, 1926, S. 618 [Kommentar]. J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart: Krais & Hoffmann, 1861, S. I. Vgl. nur Bd. 11, S. 521 f. [1953, nach Abschluß der Betrogenen und der damit verbundenen Lektüre eines Texts, in dem der Terminus »Matriarchat« häufig verwandt wird: Neumann, Eros und Psyche]. Zur hier vorgenommenen Dissoziation der Schweiz vom (auch politisch konkret verstandenen) »Matriarchat« vgl. Yahya Elsaghe, »Diese Flegel«. Die Zürcher in Thomas Manns Romanen, in: Thomas Mann Jahrbuch 13, 2000, S. 165–183, hier S. 180– 182. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 583. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 543.
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In ihrem nahezu unerschöpflichen Bilderreichtum und ihrer oft verwirrlichen Assoziationsfreudigkeit widersetzen sie sich einem schematischen Referat eigentlich von Grund auf. Wollte man ein solches dennoch wagen, gestützt vor allem auf die »Vorrede und Einleitung« zum Mutterrecht, so gestaltete sich der Kulturgang nach den Vorstellungen Bachofens etwa folgendermaßen: Die Abfolge der drei Kulturstufen ist für Bachofen dem sukzessiven Grad nach bestimmt, in dem es einer Kultur gelingt, die Ungewißheit von Vaterschaft auszufällen, also genau das Problem erfolgreich zu bearbeiten, das auch der Perikope Genesis 18 zugrunde zu liegen schien. Minimiert ist diese Ungewißheit zu guter Letzt im ›Vaterrecht‹. Im ›Vaterrecht‹ erst oder unter der ›Paternität‹ begannen sich Macht und Besitz patrifokal zu kumulieren. Das ›Vaterrecht‹ gilt für Bachofen deshalb als die »höchste[]« der Kulturstufen.15 Die tiefste Stufe dagegen bezeichnet Bachofen mit einem befremdlichen Ausdruck, an dessen fast schon zynischer Verfehltheit sich bereits Engels stieß16 und dem dieselbe Verkennungsleistung zugrunde liegt wie im Doktor Faustus der Engführung des Bordellbesuchs mit der Salome-Premiere, als ›Hetärismus‹; als ob Hetärentum nicht wie jede weibliche Prostitution Ausdruck und Folge patriarchaler Machtverhältnisse wäre. ›Hetärismus‹ meint bei Bachofen einen Zustand, in dem es so etwas wie Vaterschaft gar nicht geben kann. Denn auf der daher gleichsam noch animalischen Stufe des ›Hetärismus‹ gibt es noch gar keine Regulative des Kopulationsverhaltens, keine Geschlechtsscham, auch kein Inzesttabu. Alle dürfen sich mit allen paaren. Insbesondere können auch die Mütter mit den Söhnen schlafen. Dementsprechend sollen für diese Stufe InzestMythen charakteristisch sein, wie im Überlieferungskreis um Ödipus einer erhalten blieb.17 Das als Titel- und Schlagwort geläufige ›Mutterrecht‹ endlich meint bei Bachofen strenggenommen nicht den archaischen Urzustand, den man gelegentlich darunter verstanden oder phantasiert hat (so auch Günter Grass in seinem Butt 18 von 1977); sondern unter ›Mutterrecht‹ begreift Bachofen nur eben eine mittlere Stufe, ein Übergangsstadium, das zwischen der totalen Promiskuität aller und dem strengen Patrilinearismus des 15 16 17 18
Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 89. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, S. 39, Anm. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 386. Günter Grass, Der Butt. Roman, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1977, S. 17. Zu seiner eigenen Bachofen- und Mutterrechts-Rezeption hat sich Grass mündlich offenbar verschiedentlich geäußert (freundliche Auskunft von Irmgard Hunt, Fort Collins, vom 19. April 2007).
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›Vaterrechts‹ zu vermitteln hat. Die wesentliche Errungenschaft des ›Mutterrechts‹ soll darin bestehen, die monogame Ehe etabliert zu haben. Diese aber war unter dem ›Mutterrecht‹ noch oder erst von der Frau gewollt und durchgesetzt. Und die Identität der daraus hervorgehenden Kinder blieb einstweilen über den gebärenden Körper der Mutter definiert. Seine sehr materialreich abgestützte, aber dennoch äußerst spekulative Lehre, und das trug vielleicht nicht unerheblich zu ihren zeitweise erstaunlich großen Rezeptionserfolgen bei, kleidet Bachofen wie gesagt in eine erdrückende und überwältigende Fülle von suggestiven Bildern, von denen nicht immer oder nur selten ganz klar ist, ob sie wirklich übertragen oder wenigstens synekdochal oder vielleicht nicht doch auch sensu litterali gemeint beziehungsweise zu verstehen sind. Als Bildspender können dabei etwa Gottheiten oder mythische Gestalten, politische Systeme oder auch Vegetationsformen dienen. Den ›Hetärismus‹ zum Beispiel assoziiert Bachofen (wie übrigens auch wieder Grass sein mit dem ›Hetärismus‹ verwechseltes ›Mutterrecht‹ 19) nahezu zwanghaft regelmäßig mit dem Sumpf und mit dessen irregulärer Fertilität, gerne aber auch mit der Göttin Aphrodite. Den anderen beiden Makroepochen ordnet er in dieser theogonischen Isotopie zum Beispiel Demeter (für das ›Mutterrecht‹) oder (beim ›Vaterrecht‹) den Lichtgott Apollon zu. Bei allem Reichtum solcher nur schwer faßbarer Bildlichkeit läßt sich doch vielleicht auch eine Leitmetaphorik ausmachen, anhand derer Bachofen seine drei Epochen organisiert und die, wie das Wort vom ›Lichtgott‹ bereits antizipiert, mit den aus dem klassischen Pantheon bezogenen Metaphern und Allegorien eng kommuniziert. Immer wieder redet Bachofen von einer ›solarischen‹, einer ›lunarischen‹, einer ›tellurischen‹ Stufe. Die dominanten Metaphern also, mit denen er die drei Kulturstufen und ihre Hierarchie veranschaulichte, geben drei ›Himmelskörper‹ ab (um den Bedeutungsumfang des astronomischen Begriffs in Ermangelung eines besseren etwas zu dehnen). ›Sonne‹, ›Mond‹ und ›Erde‹ sind hier letztlich Metaphern oder Metonymien des Lichts. Genauer gesagt sind es Metaphern und Metonymien des Tageslichts, des Mond- oder Kunstlichts und des völligen Dunkels. Dieser rhetorische Raster liegt insbesondere dem berühmten und heute fast allein rezipierten ›Hauptwerk‹ zugrunde, dem Mutterrecht von 1861. Doch bereits zwei Jahre zuvor war er voll ausgebildet, im Versuch über die Gräbersymbolik der Alten von 1859 – auf diese Überschrift scheint Thomas Mann das Aperçu jenes Lessing-Artikels von 1929 gemünzt zu haben –, den Bachofen als »Sturmbock« seiner Lehre verstand und der »Breschen« 19
Grass, Der Butt, S. 9, 17, 44.
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in die »Granitmauern« der akademischen Altertumswissenschaft schlagen sollte. 20 Die Lichtmetaphorik war hier sogar ganz besonders reich entfaltet. Entlang der Metaphorik von Finsternis, Kunstlicht und Tageslicht unterzog Bachofen in dieser ersten einschlägigen Abhandlung nun aber auch das Märchen oder, mit einem den Anspruch seiner Deutung schon antizipierenden Terminus: den »Mythus von Amor und Psyche« einer ausführlichen Interpretation. Umfangreiche Auszüge daraus finden sich in Thomas Manns Bibliothek in nicht weniger als drei Exemplaren. Und gleich zwei davon weisen Lesespuren auf.21 Was Bachofen an diesem »Mythus« besonders interessierte, verrät schon der Titel, den Carl Albrecht Bernoulli als der Herausgeber dieser beiden Exemplare über die darin abgedruckten Interpretationsauszüge setzte: »Die Lampe und ihr Öl im Mythus von Amor und Psyche«. Bachofen und mit ihm Bernoulli, der seine leicht gekürzten Auszüge unter diesem Titel noch stärker darauf reduzierte, fokussierte die Auslegung des Märchens auf eine einzige Szene. Auf diese, den Blick der Frau auf den schlafenden Gott, bezieht sich ja auch, sicherlich im Reflex der ThomasMannschen Bachofen-Rezeption, die erste und namentliche Reminiszenz der Betrogenen. Aber wie schon angedeutet, hatte die Szene auch gleichzeitig mit und lange vor Bachofen ein literatur- und kunstgeschichtlich weit verzweigtes Nachleben: bei Goethe zum Beispiel, bei Kleist oder bei Gottfried Keller.
3.1 Das Märchen von Amor und Psyche in der deutschsprachigen Kultur des neunzehnten Jahrhunderts Man kann sich fragen und darf jedenfalls im Zusammenhang mit Bachofens Auslegung darüber spekulieren, warum gerade der Erkennungsszene des Märchens eine solche Rezeptionskarriere beschieden war. Weshalb mußte diese eine Szene besonders auch im neunzehnten Jahrhundert immer wieder neu erzählt und repräsentiert werden? Was an ihr vermochte so zu faszinieren, daß es geradezu zwanghaft wiederholt sein wollte? Oder aber auch: Was an ihr konnte so irritieren, daß es in der Wiederholung beseitigt, verleugnet, exorziert werden mußte? 20 21
Johann Jakob Bachofen, Brief vom 5. Dezember 1854 an Heinrich Meyer-Ochsner; Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 140 f., hier S. 140. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 312–321; ders., Der Mythus von Orient und Occident, S. 610–612.
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Eine mögliche Antwort darauf soll eine Befragung der Rezeptionsgeschichte geben, soweit sie zu Bachofen hinführt und zeitgleich mit ihm verläuft. 22 Auch so eingegrenzt, kann diese Geschichte hier selbstverständlich noch nicht einmal gerafft, geschweige denn lückenlos rekapituliert werden. Daher seien nur an literaturgeschichtlich prominenten Stellen zwei, drei ziemlich zufällige Probebohrungen in sie getrieben: Im Mann von funfzig Jahren (1807–27), in der Verlobung in St. Domingo (1811) und in Kleider machen Leute (1874) nimmt die Explizität der Märchenreminiszenz kontinuierlich ab; von einer namentlichen Evokation bei Goethe bis zu einer möglicherweise nur noch ganz unterschwellig gegebenen, die Bedingungen eines strengen Intertextualitätsbegriffs kaum noch erfüllenden Reminiszenz bei Keller. Bezeichnend ist diese Abnahme an Deutlichkeit für die starke Topizität sozusagen der Szene. Deren Vorgaben kehren mehr oder weniger deutlich, aber immer deutlich genug wieder, um je einen, und sei es endlich eben auch bloß subliminalen Traditionszusammenhang nahezulegen. Der nächtliche, entweder mit einer Kerze oder durch das Mondlicht ermöglichte Blick der Frau auf den schlafenden Mann ist jeweils in eine Situation integriert, die der Dramaturgie der Märchenhandlung ziemlich genau entspricht. Der schlafende Mann schwebt jeweils in einer äußersten, wenn auch je verschiedenen »Gefahr«; 23 in der »Gefahr« nämlich, an einem traumatischen Erlebnis zugrunde zu gehen, von Insurgenten ermordet zu werden oder ganz einfach zu erfrieren. Seine Gefährdung, heißt das, aber davon später, geht nicht mehr von der Frau aus, die ihn betrachtet. Der Anblick des schlafenden Mannes steht indessen doch je im Gegensatz zu der Bedrohung, als die ihn die Betrachterin eben noch wahrnahm und fürchten mußte (weil er ihr als »Schreckbild«, 24 als militärischer Feind, als Hochstapler und Heiratsschwindler erschien). Die Diskrepanz, in die der Anblick des »Schlafenden« zum Abscheu gerät, den der Mann eben noch einflößte, entspricht dabei offensichtlich dem Abstand zwischen dem, was Psyche bei Apuleius zu sehen erwartet und wogegen sie 22
23
24
Vgl. z. B. Paul Lang et al., Ein Blick auf Amor und Psyche um 1800. Kunsthaus Zürich 20. Mai – 17. Juli 1994, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, 1994; Christiane Holm, Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765–1840), München und Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2006. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Erster Theil, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 24, S. 318; Gottfried Keller, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 5: Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band, Basel: Stroemfeld, und Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2000, S. 49. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Erster Theil, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 24, S. 317.
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mit tödlicher Gewalt vorzugehen sich vornimmt, und dem, was sie tatsächlich sieht und was sie nur lieben kann. In Goethes Novelle, wie angedeutet, fällt in einem Vergleich sogar ihr Name: Mitternacht kam heran, die Baronin verlangte wenn er schlafe ihn zu sehen; der Arzt widerstand, der Arzt gab nach; Hilarie drängte sich mit der Mutter [scil. mit der »Baronin«] herein. Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze dämmerte hinter dem grünen Schirm, man sah wenig, man hörte nichts; die Mutter näherte sich dem Bette, Hilarie sehnsuchtsvoll ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein höchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt bläßlich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das anmuthigste hervor, eine ruhende Hand und ihre länglichen zartkräftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie leise athmend glaubte selbst einen leisen Athem zu vernehmen, sie näherte die Kerze, wie Psyche in Gefahr die heilsamste Ruhe zu stören. Der Arzt nahm die Kerze weg und leuchtete den Frauen nach ihren Zimmern. 25
Die im Blick der Frau erwachende, wiedererweckte oder vertiefte Liebe besiegelt hier, wie dann wieder bei Keller, die nur vorübergehend gefährdete Verbindung zweier, die eh und je füreinander bestimmt waren. Bei Kleist scheint die Szene wenigstens solch ein ›happy ending‹ zu antizipieren, um die gerade auch durch die Märchenreminiszenz aufgebaute Glückserwartung hernach desto effektvoller zu enttäuschen: Sie [scil. Toni] öffnete das Zimmer leise und trat vor sein Bett, wo er in tiefen Schlaf versenkt ruhte. Der Mond beschien sein blühendes Antlitz, und der Nachtwind, der durch die geöffneten Fenster eindrang, spielte mit dem Haar auf seiner Stirn. Sie neigte sich sanft über ihn und rief ihn, seinen süßen Athem einsaugend, beim Namen; […] und in der Gewißheit, daß er ja früh oder spät von selbst erwachen müsse, kniete sie an seinem Bette nieder und überdeckte seine theure Hand mit Küssen. 26
Und bei Keller, anderthalb Jahrzehnte nach Bachofens Versuch über die Gräbersymbolik: […] als ihre [scil. Nettchens] Augen sich plötzlich auf einen länglichen dunklen Gegenstand richteten, welcher zur Seite der Straße sich vom mondbeglänzten Schnee abhob. Es war der langhingestreckte Wenzel, dessen dunkles Haar sich mit dem Schatten der Bäume vermischte, während sein schlanker Körper deutlich im Lichte lag. […] Sie starrte unverwandt nach dem dunklen Körper, bis derselbe sich ihrem hellsehenden Auge fast unverkennbar darstellte und sie […] sich hierauf der Erscheinung vorsichtig, lautlos näherte.
25 26
Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Erster Theil, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 24, S. 318. Kleist, Die Verlobung in St. Domingo, S. 63–65.
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Ja, er war es. Der dunkelgrüne Sammet seines Rockes nahm sich selbst auf dem nächtlichen Schnee schön und edel aus; der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl geschnürt und bekleidet […]! Als sich die einsame Schöne näher über ihn hinbeugte und ihn ganz sicher erkannte, sah sie auch sogleich die Gefahr, in der sein Leben schwebte […]. 27
Ohne jede Absicht auf intertextuelle Bezüge, deren Bedeutung er dadurch vielleicht nur um so besser zu verstehen hilft, hat W. G. Sebald in seinen Anmerkungen zu Gottfried Keller diese letzte, Bachofen zeitlich (und natürlich auch räumlich) ziemlich nahe stehende Partie auf die Distanz hin gelesen, in der sie sich zu den »vorgeschriebenen Rollen der Geschlechter« und zu den »erotischen Gepflogenheiten der bürgerlichen Literatur« bewegt: Die Errettung Wenzel Strapinskis aus dem schon sicheren Tod, von der Keller in der Folge berichtet, geschieht ganz gegen die erotischen Gepflogenheiten der bürgerlichen Literatur. Wo sonst die männlichen Helden […] mit makabrer Lust sich beugen über den bewußtlosen oder leblosen Leib einer Frau, da ist es bei Keller der weibliche Blick Nettchens, der den im nächtlichen Schnee schön und edel daliegenden Körper des Schneiders, seine schlanken, geschmeidigen und wohl geschnürten Glieder (wie es verräterischerweise heißt) ungeniert abtasten darf. Und als es Nettchen zuletzt gelingt, durch tüchtiges Reiben den halbtoten Schneider wieder zum Leben zu erwecken und seine Gestalt langsam sich in die Höhe richtet, wird vollends klar, daß Kellers erotische Sehnsucht auf eine Vertauschung der von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen der Geschlechter ging. 28
Sebalds genaue Beobachtungen, die man womöglich sogar noch um die eine oder andere ergänzen könnte (so ist es der epitheto constante »schlanke Körper« in Deleuzes und Guattaris engem, dem ›Gesicht‹ opponiertem Verständnis, der wie oder vielmehr als ein »Gegenstand« »deutlich im Licht« liegt, während er sich nach oben, eben zum Gesicht hin in »Schatten« verliert), – Sebalds Beobachtungen weisen auf die ›gender troubles‹, die dieser einen Szene einbeschrieben sind, und nicht nur dieser einen. Nach Walter Benjamins berühmtem Aufsatz, Gottfried Keller, entstanden 1927, das heißt zur Zeit einer großen Bachofen-Renaissance, an der Benjamin seinerseits teilhatte, 29 gehören solche Transgressionen und Aufweichungen der Geschlechterdifferenz ins eigentliche Gravitationszentrum 27 28 29
Keller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 48 f. W. G. Sebald, Her kommt der Tod / die Zeit geht hin. Anmerkungen zu Gottfried Keller, in: ders., Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, Frankfurt a. M.: Fischer, 22001, S. 95–126, hier S. 119 f. Walter Benjamin, Johann Jakob Bachofen, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Abt. II: Aufsätze; Essays; Vorträge, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 219–233. Vgl. Gerhard Plumpe, Die Entdeckung der Vorwelt. Erläuterungen zu Benjamins Bachofenlektüre, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Walter Benjamin, München: Edition Text + Kritik, 21979 (Text + Kritik, Heft 31/32), S. 19–27.
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von Kellers Schreiben,30 dessen moderne, ja postmoderne Züge eben erst Peter von Matt wieder gerade in sexualibus und eroticis ausgemacht hat.31 Dabei wäre allerdings noch zu klären beziehungsweise überhaupt erst einmal die Frage zu stellen, ob und gegebenenfalls wo Keller mit der sozialanthropologischen Vorgeschichte der Bachofenschen Theoriebildung in Berührung gekommen sein konnte. Jedenfalls legt eine andere, und zwar schon die allererste Novelle der Leute von Seldwyla den Verdacht nahe, Pankraz, der Schmoller (1856), daß Keller aus entsprechenden Berichten über die Geschlechterdifferenz bei den Irokesen 32 schon ein und das andere erfahren hatte. 33 An der aus Kleider machen Leute zitierten Stelle hängt die Störung der Geschlechterrollen zunächst und wesentlich mit der Sexualsemantik des Sehens zusammen. Deren Selbstverständlichkeit – in eins mit einer genau entsprechenden Irritation – beglaubigt ja schon die Rezeptionsgeschichte von Samson und Dalila oder gerade auch der Text der Betrogenen. Rosalie kann bekanntlich von sich sagen, sie »begehre« Ken »auf eigene Hand«: »habe« ihr »Auge auf ihn geworfen wie ein Mann auf das junge Weib seiner Wahl«. Was Albrecht Koschorke mit einem hierzu gut passenden Ausdruck als »gewalttätigen Phallizismus des Blicks« bezeichnet hat,34 wechselt bei Keller von der männlichen auf die weibliche Seite, und eben nicht nur bei Keller oder in Rosalies Figurenrede: Sondern diese Umkehrung der Blickrichtung gehört in die Grundkonfiguration der mythischen Erkennungs30 31 32
33 34
Walter Benjamin, Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke, in: ders., Gesammelte Schriften, Abt. II, Bd. 1, S. 283–295, hier S. 291. Peter von Matt, Wetterleuchten der Moderne, in: Neue Zürcher Zeitung, 3./4. Juni 2006, S. 70. Vgl. John F. McLennan, Primitive Marriage. An Inquiry into the Origin of the Form of Capture in Marriage Ceremonies, Chicago und London: University of Chicago Press, 1970 (Classics in Anthropology), S. 51 f., Anm. 19 [Erstdruck Edinburgh: Adam and Charles Black, 1865]. Eine gesicherte Quelle für Kellers Kenntnisse über die ›Indianer‹ scheint zu sein: Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832 bis 1834, Koblenz: Hoelscher, 1839–1841. Zu einer möglichen Bachofen-Rezeption des späteren Keller vgl. Ursula Amrein, Augenkur und Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in Gottfried Kellers Sinngedicht, Bern et al.: Lang, 1994 (Zürcher Germanistische Studien, Bd. 40), S. 184 mit Anm. 57. Zur Beziehung zwischen Bachofens Theorie und der ethnologischen Feldforschung vgl. Uwe Wesel, Die Irokesen, in: ders., Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften vor der Entstehung staatlicher Herrschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 21981, S. 107–118. Keller, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 15. Albrecht Koschorke, Die zwei Körper der Frau, in: Barbara Vinken (Hg.), Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997, S. 66–91, hier S. 86; ohne Hervorhebung des Originals.
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szene, deren zumindest mittelbare Reminiszenz Nettchens Blick auf den schlafenden Wenzel zu sein scheint. Und sie taucht daher mehr und weniger deutlich wieder auf, wo immer die Märchenszene evoziert wird. Ein extremes und das dafür vielleicht überhaupt deutlichste Beispiel wäre die ihrerseits ›unheimliche‹ Gestalt, die Johann Heinrich Füßli in seiner Kreidezeichnung aus den Siebzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts der Szene zu geben »gelang«. 35 Denn Füßli setzt den prägnanten Moment einen, aber einen sehr entscheidenden Moment früher an als etliche andere Rezeptionszeugen: nämlich noch bevor Psyche, vom Anblick Amors über-›mannt‹, ihre Waffe sinken läßt. Füßli zeichnete Psyche breitbeinig und schmalhüftig vor, ja fast über und auf dem Schläfer stehend, mit weit ausgebreiteten Armen, die ihre Schultern desto kräftiger erscheinen lassen, den Dolch in der linken, die Lampe in der rechten Hand. Psyches Körper trägt hier mehr als nur androgyne Züge und nimmt beinahe die ausgeprägt muskulöse Gestalt eines männlichen Athleten an. Daß in der Rezeptionsgeschichte des Märchens ausgerechnet die Erkennungsszene immer und immer wiederkehrt, könnte mit der dieser eigenen Subversion der Geschlechterordnung zu tun haben, die bei Füßli so offen am Tag liegt wie möglich, die anderwärts freizulegen es aber immerhin eines so scharfsichtigen Lesers wie Sebald bedurfte. Genauer gesagt, und der bei Keller schon nötige Interpretationsaufwand zwingt fast schon zu einer solchen Präzisierung, hängt der rezeptionsgeschichtlich beobachtbare Wiederholungszwang wahrscheinlich auch und eher mit den Verstörungen zusammen, die diese Subversion bewirkt. So ließe sich jedenfalls erklären, warum bis auf Füßli alle bisher erwähnten, also die Rezeptionszeugnisse des neunzehnten Jahrhunderts die Märchenszene in einer bestimmten Hinsicht vereindeutigen, aber auch entstellen. Der »gewalttätige[] Phallizismus des Blicks«, auch dafür kann Füßli als verläßlicher Zeuge gelten, ist im Märchen von Amor und Psyche noch beziehungsweise schon ›aufgehoben‹. Das eigentliche, sozusagen reine Schauen und die machtsemiotische Bedeutung, die der Blick im Geschlechterkrieg mit sich führt, treten hier auseinander. Als Vergegenständlichung der beiden gesonderten Komponenten, in die Sehen und Macht hier zerfallen, kann man die Lampe und den Dolch in Psyches Händen verstehen. Das sexualsymbolisch komplizierte Phänomen des Blicks wird auseinandergelegt in die Eigentlichkeit des Sehens und ›Erkennens‹ – dafür steht die »lucerna« – und in einen isolierten Faktor ›phallizistischer Gewalttätigkeit‹, die hier abgespalten, auf das »ferrum« verschoben und eben eigenständig
35
S. Abb. 2.
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in dieser Stechwaffe ähnlich reifiziert ist wie in der Schere, die Rubens seiner Dalila in die Rechte gab. In der ›Urszene‹ des Märchens also ist das Syndrom von Sehen und Gewalt, die Ambiguität damit auch von Begehren und Aggression genauso wirksam wie bei jener prägnanten Szene von Samson und Dalila (ein Paar übrigens, das Füßli, wie fast zu erwarten, seinerseits festgehalten hat 36). In der Rezeptionsgeschichte aber unterliegt die Ambivalenz der Erkennungsszene einer sukzessiven und regelhaften Vereindeutigung, von der Füßli, »The Wild Swiss«, 37 offenbar auch innerhalb der darstellenden Kunst die Ausnahme bildet, welche die Regel bestätigt. Diese Regel fiel übrigens kein Jahrzehnt nach der Betrogenen schon Jacques Lacan auf. 1961, in Psyché et le complexe de castration, konfrontierte er sie mit einem Gemälde des Manieristen Jacopo Zucchi und bat rhetorisch um genau den ›Gegenbeweis‹, den man mit Füßli tatsächlich erbringen kann: Je ne sais pas si vous avez déjà vu traiter le sujet d’Éros et de Psyché de cette façon, bien qu’il ait été traité de façons innombrables, ausi [sic!] bien en sculpture qu’en peinture. Pour moi, je n’ai jamais vu Psyché apparaître dans l’œuvre d’art armée, comme elle l’est sur ce tableau, de ce qui est représenté là très vivement comme un petit tranchoir, et qui est précisément un cimeterre. […] Et c’est pourquoi, malgré que l’historie de l’art ne nous en donne aucun autre témoignage à ma connaissance – je serais reconnaissant à quelqu’un, incité par mes remarques, de m’apporter maintenant la preuve contraire – Psyché a été représentée, dans ce moment significatif, comme armée. 38
In der Regel wird Psyches ›Kastrationsdrohung‹, »la menace de la castration«,39 zurückgenommen. Das unverstellt bedrohliche Element der Waffe, die Psyche bei Zucchi übrigens wieder in der ›männlichen‹ Rechten hält,40 wird konsequent beseitigt, das Moment der in dieser Waffe metonymisch versinnlichten Aggression unterdrückt. Allenfalls wird es gleichsam metaphorisch absorbiert, kehrt so verstellt wieder, geht jetzt sublimiert in die Symbolik des Blicks mit ein. Ein repräsentatives und einigermaßen bekanntes Beispiel dafür gibt Reinhold Begas’ Skulptur, die zwischen 1854 und 1857, also zur etwa gleichen Zeit wie Bachofens Versuch über die Gräbersymbolik entstand. Psyche hält die Lampe hier zwar in der Linken, nahe ans Gesicht des Schläfers; die Rech36 37 38 39 40
Vgl. Franziska Lentzsch et al. (Hgg.), Füssli. The Wild Swiss, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2005, S. 175. Lentzsch et al., Füssli, S. 5. Jacques Lacan, Psyché et le complexe de castration, in: ders., Le Séminaire, hg. v. JacquesAlain Miller, Bd. 8: Le Transfert. 1960–1961, Paris: Seuil, 1991, S. 261–275, hier S. 262– 264. Lacan, Psyché et le complexe de castration, S. 263. S. Abb. 5.
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te aber, davon weggespreizt, verdeckt einen Gegenstand fast gänzlich, dessen Spitze vom schlafenden Körper fortzeigt und der eher an eine Nagelfeile oder ein Brieföffnerchen erinnert, als daß er einer Mordwaffe, einem »tranchoir« oder »cimeterre« gliche.41 Eine Waffe, geschweige denn eine blanke Klinge, die die Frau auf den Mann richtete, erscheint weder bei Goethe noch bei Kleist noch bei Keller. Die ehedem ziemlich offensichtliche Vertauschung der ›Diathesen‹ ist je nicht bereinigt, aber abgeschwächt. Bei Kleist ist sie noch am deutlichsten erhalten. So fesselt sie hier ihn ans Bett. Wahrnehmbar ist diese Vertauschung hier auch schon an der geschlechtlichen Ambivalenz des Namens »Toni«, welche von sehr fern auf den bei Keller zum Neutrum deminuierten und als solches freundlich und gefällig sprechenden Vornamen »Nettchen« vorausweist, zu dessen ›Nettigkeit‹ aber Kleists amazonenhafte Toni doch auch in einem maximalen Kontrast steht. Sonst aber können die vertauschten Diathesen jetzt eben allein noch in der Richtung des Blicks fortwirken, welchen das gleichsam irreguläre Kunst- oder Mondlicht in der Nacht der Frau auf den Mann zu ›werfen‹ erlaubt. Und eine solche Bedeutsamkeit der Blickrichtung will durch Interpretation à la Sebald erst noch gehoben sein. Einen End- und Fluchtpunkt dieser Rezeptionslinie nun bezeichnet in gewisser Weise die explizite Märchenreminiszenz der Betrogenen. Hier ist selbst noch der letzte, nur noch interpretatorisch erschließbare Rest an Aggression und ›gender trouble‹ bereinigt. Bei Thomas Mann, wenn Rosalie bei ihrem Selbstvergleich mit Psyche beide Augen geschlossen hält, ›erscheint‹ die »Lampe« nur noch als erratisches und völlig ›blindes‹ Motiv. Der durch sie einst ermöglichte Blick ist geblendet, der Bann seines ›Phallizismus‹ endgültig gebrochen. Ein noch krasseres Beispiel für die Tilgung des amazonischen Elements lieferte freilich wieder Theodor Storm, etwa zeitgleich mit Kleider machen Leute. Seiner Novelle Psyche von 1875, deren ›Held‹ übrigens denselben Vornamen trägt wie Franz Jebe, gab diesen Titel eine ganz andere, spätere, kurz eine Szene, die mit den Geschlechterstereotypen vollkommen konform ist. Im Original des Märchens von Amor und Psyche kommt sie so gar nicht vor; sondern sie stammt eigentlich aus der sehr, sehr freien Übersetzung, die H. W. Stoll 1862 in Die Sagen des classischen Alterthums vorgelegt hat – beide Bände standen in Storms Privatbibliothek –: 42 wie nämlich Psyche, als sie sich aus Verzweiflung über ihre ›curiositas‹ zu erträn41 42
S. Abb. 6. H. W. Stoll, Die Sagen des classischen Alterthums. Erzählungen aus der alten Welt, Bd. 2, Leipzig: Teubner, 1862, S. 391–422.
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ken versucht, ein »Stromgott« 43 ans Ufer rettet. (»Flußgott« steht bei Stoll; 44 bei Apuleius könnte man bestenfalls von der Personifikation eines Flusses sprechen: »mitis fluvius«.45) In der Emphatisierung gerade dieses »moment significatif« regrediert Psyche, beziehungsweise die Deuteragonistin der so betitelten Novelle, in die Rolle eines unmündigen und schutzbedürftigen Kinds.
3.2 Bachofens Interpretation von Lampe und Blick In den einsinnigen Rezeptionsverlauf, in dem also eine bedrohliche und verstörende Ambivalenz der Märchenszene konsequent verworfen wird, ordnet sich nun auch deren Interpretation durch Bachofen ein. Vom »Schwert« zum Beispiel ist darin so gut wie gar nicht die Rede 46 (anders übrigens bei Neumann 47). Es sind, Bernoullis Titelgebung verrät es ja schon, »Die Lampe und ihr Öl«, die für Bachofen am »Mythus von Amor und Psyche« Beachtung verdienen und Interpretationsarbeit erfordern. Oder genauer gesagt, denn mit dem zweiten Glied des Titels verfehlt Bernoulli selbst seine eigene Auswahl und deren Kürzungen, ist es eigentlich vor allem »Die Lampe«. Das »Öl«, das möglicherweise unter dem Einfluß von Matthäus 25, des mit Psyche leicht assoziierbaren Gleichnisses von den törichten Jungfrauen, in die Titelei geriet, findet nur am Rand und nur eben als Symbol ›lunarischer‹ Weiblichkeit Erwähnung. 48 Die bei Bachofen zentrale Bedeutung der Lampe reflektiert auch noch der Text der Betrogenen. Die Lampe kommt hier ja gleich zweimal vor, und zwar in je auffälliger Weise. In der gebrochenen Form eines »Ding[s]« und einer »Fackelleuchte« gerät sie unter die Unterweltsreminiszenzen, wo sie der Verlaufslogik des Märchens nach gar nicht hingehört. Und zunächst erscheint sie bekanntlich schon bei der ersten und einzig ganz expliziten mythologischen Reminiszenz, obwohl Rosalie in ihrem doch allein des ›Geruchs‹ wegen angestellten Vergleich Psyches »Lampe«, wie eben wiederholt, eigentlich überhaupt nicht zu erwähnen bräuchte. 43 44 45 46 47 48
Theodor Storm, Psyche, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 2: Novellen. 1867–1880, hg. v. Karl Ernst Laage, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1987 (Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 24), S. 312–345, hier S. 334. Stoll, Die Sagen des classischen Alterthums, Bd. 2, S. 407. Apuleius, Metamorphoses, Bd. 1: Books I–VI, S. 296. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 316. Neumann, Eros und Psyche, S. 111, 178 (»Dolch«); S. 105, 110 (»Messer«). Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 316–318, 320.
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Dem bei Thomas Mann schlankweg ausgeblendeten Blick, den die Lampe der Frau auf den Mann zu werfen im Märchentext noch ermöglicht, gilt der hauptsächliche Interpretationsaufwand Bachofens. Dieser Aufwand läßt sich als ein einziger Versuch verstehen, mit dem weiblichen Blick auf den Mann fertigzuwerden. Die Aufgabe, die sich für Bachofen unbewußt gestellt zu haben scheint und die er mit seiner Märcheninterpretation zu bewältigen versucht, besteht darin, Psyches Blick im Kunstlicht der Öllampe seine Bedrohlichkeit zu nehmen und ihm eine versöhnliche Bedeutung zu geben. Bachofens Interpretationsleistung hat den Zweck, die Irritationen unter Kontrolle zu bringen, die dieser Blick offenbar notwendig, und sei es eben auch nur noch symbolisch sublimiert hervorruft. Den Blick, den die Frau im künstlichen Licht der Lampe auf den schlafenden Mann im Märchen eigentlich nicht werfen darf, aber doch wirft, integriert Bachofen in ein fortschrittsoptimistisches Geschichtskonzept. Dadurch ist es ihm möglich, Psyches Blick gleichsam standzuhalten. Er vermag so die Störungen zu exorzieren, die von einem solchen Blick auf die Ordnung der Geschlechter ganz grundsätzlich ausgehen. Bachofen kommt zwar nicht darum herum, die geschlechterpolitischen Weiterungen des weiblichen Blicks und seiner Renitenz anzuerkennen. Aber er kann sie zugleich doch von der Gegenwart dissoziieren und auf ein längst vergangenes Stadium der Zivilisationsgeschichte eingrenzen. Denn er versteht oder definiert Psyches im Kunstlicht möglichen Blick auf den Gott als notwendige Etappe auf dem Weg aus der Nacht und den Niederungen der »tellurische[n] Sumpfbegattung, die in den feuchten Tiefen der Erde waltet«. 49 Psyches Blick markiert damit die irreversible Krisis zwischen »ungeregeltem Hetärismus« und »ehelicher Verbindung«.50 Er bildet »den wahren Wendepunkt im Laufe« der Kulturgeschichte, den diese schon lange hinter sich gelassen haben soll. 51 »Besonders belehrend wird die Verbindung der Lampe mit Psyche« 52 und ihre »tiefere Beziehung« 53 gewinnen Lampe und Blick für Bachofen über die Zäsur, welche sie in Psyches Verhältnis zu Amor markieren. Durch das Kunstlicht der »Leuchte« kommt erstmals das »Prinzip der Trennung«,54 man könnte lacanistisch auch sagen: im Namen fast schon des ›Vaters‹ die symbolische Ordnung ins Spiel. Die Lampe erst ermöglicht 49 50 51 52 53 54
Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 317. Ebd. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 316. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 312. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 316. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 318.
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Bachofen und die Rezeptionsgeschichte von Amor und Psyche
die »Weihe der Ehe, die das Geschlechtsleben der Frau aus den Sumpfgründen des unreinen Stoffes, in dem es seinen Untergang findet, auf jene Lichtbahn hinüberleitet, durch die es für sie zum Ausgangspunkt eines höheren, psychischen Daseins werden kann«.55 Durch diese »Weihe« erst kann Psyche, ihrem sprechenden Namen gemäß, mit dessen appellativischer Bedeutsamkeit Bachofen hier spielt, auf den einen, desto stärker begehrten, inniger geliebten und »in all seiner Herrlichkeit erkannten« Gatten und Gott ›seelisch‹ fixiert bleiben.56 Im Schema der drei postulierten Makroepochen, in deren Verlauf immer mehr und immer helleres Licht auf die Funktion gefallen sein soll, die dem Mann bei der Fortpflanzung zukommt, markieren Lampe und Blick den »Fortschritt« 57 von der ›tellurischen‹ auf die ›lunarische‹ Stufe. Sie bedeuten den Durchbruch vom ›Hetärismus‹ zum ›Mutterrecht‹. Sie beenden die ›finstere‹ Periode unterschiedsloser Promiskuität. Sie schaffen die Möglichkeitsbedingung einer Monogamie, die vorerst freilich noch weiblich initiiert bleibt. Sie sind deshalb der »Durchgangspunkt«, aber auch nur der »Durchgangspunkt der Menschheit aus der tiefsten Stufe des Daseins« 58 zum ›solarischen‹ ›Vaterrecht‹, »der höchsten« aller Kulturstufen – um diesen Superlativ deshalb nochmals zu zitieren, weil ihn Thomas Mann eigenhändig unterstrichen und obendrein mit einer wirklich Bände sprechenden Randglosse versehen hat: »also doch«.
3.3 ›Hetärismus‹ in der Betrogenen Wenn also in Bachofens Auslegung des »Mythus von Amor und Psyche« das Lichtmotiv den entscheidenden Durchbruch von der tiefsten zur mittleren Stufe menschlicher Existenz versinnbildlicht, dann muß es bedeutsam erscheinen, daß ausgerechnet dieses Motiv in den mythologischen Reminiszenzen der Betrogenen konsequent fehlt. Es erscheint um so bedeutsamer, als der hier klaffenden, als solche indessen immer wieder gekennzeichneten Motivlücke Thomas Manns anderweitige Anleihen bei der Bachofenschen Kulturtheorie ganz genau entsprechen: »Die Betrogene«, dieser Antonomasie des Novellentitels zum Trotz, hat einen »ungewöhnlichen, nicht etwa boshaften, sondern rein sympathetischen Scharfblick« – eine hier freilich etwas verfängliche Metapher – »für 55 56 57 58
Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 315. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 316 f. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 134; von Thomas Mann unterstrichen. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 89; im Original keine Hervorhebung.
›Hetärismus‹ in der Betrogenen
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alles weibliche Leben«.59 Sie vermag etwa »[e]ine Schwangerschaft […] im alleranfänglichsten Stadium« 60 auszuwittern oder, in einer älteren Schicht der Handschrift, sogar »die Tage der Reinigung Reinigungstage der Damen ihrer Bekanntschaft«. »Instinktweise« spürt sie heraus, »ob eine Frau in ihrer Ehe Zufriedenstellung f[i]nd[et] oder ob es daran fehlt[]«.61 (Und hier rührt Die Betrogene natürlich an dasselbe Tabu wie die zweite Hälfte des sogenannten Kinsey-Reports, der genau zeitgleich mit ihr entstand und erschien. 62) Rosalie selbst lebt zur erzählten Zeit, also quasi immer schon in Ehelosigkeit. Im Lauf des Geschehens sodann, bei ihrer »Verjüngung«,63 folgt deren Stilisierung gerade nicht dem biblischen Muster der Sara, auf das sie die darin »Betrogene« als ein einfach nur ontogenetisches Phänomen zurückzubeziehen versucht. Sondern ihre Verjüngung, die »furchtbares Mitleid« erregen kann, 64 hat eben einen phylogenetischen und als solcher unheimlichen und entsetzlichen Aspekt. »[A]uf gewisse phantasmagorische Weise« tritt aus ihrer »lieben Matronengestalt auf einmal […] ein ganz junges Mädchen« »heraus[]«, wie sie es noch vor ihrer Ehe und ehelichen Mutterschaft einmal war. 65 Rosalie fällt so aus dem asexuell-»würdigen Matronenstand«, auf den ihre Tochter sie ›for good‹ festlegen möchte 66 und der eo ipso ein hohes Kulturniveau markiert. Sie fällt damit sozusagen auf die ›asiatische‹ Urform des Matronentums zurück, aus der die römische Kultur den »aphroditische[n] Gedanke[n]«, nach Bachofen, vorzeiten entfernt haben soll. 67 Die Voraussetzung ihrer Ehelosigkeit stellt gleich schon der erste Satz der Erzählung sicher. Die unabänderliche Abwesenheit eines Familienvaters wird von vornherein festgestellt, noch bevor der Name der Protagonistin fällt und in eins mit deren allererster Bestimmung: »verwitwet seit mehr als einem Jahrzehnt, Frau Rosalie von Tümmler mit ihrer Tochter Anna und ihrem Sohne Eduard«. 68 Der Vakanz der Vaterposition entsprechend sind es die weiblichen und maternalen Verwandtschaftsbeziehungen, die hier besondere Erwähnung verdienen, wie bei Rosalies »Cou59 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Bd. 8, S. 882. Ebd. Ebd. Alfred C. Kinsey et al., Sexual Behavior in the Human Female, Philadelphia und London: W. B. Saunders, 1953. Bd. 8, S. 908. Bd. 8, S. 916. Ebd. Bd. 8, S. 922. Vgl. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 92 f. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 585. Bd. 8, S. 877.
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Bachofen und die Rezeptionsgeschichte von Amor und Psyche
sine« »aus Duisburg« und, als Anhängsel gleichsam, deren Mann.69 (Und an der Prävalenz solcher Beziehungen gegenüber den paternal-männlichen glaubte der amerikanische Ethnologe Lewis Henry Morgan im Anschluß an John McLennan bei den Irokesen empirisch Reste dessen gefunden zu haben, was Bachofen spekulativ postulierte.70) Ehelos lebt auch die »Tochter Anna«. Ursprünglich sollte sie, wie gezeigt, ebenfalls einmal verheiratet gewesen, aber »nach kurzer Ehe« ihrerseits Witwe geworden sein. Jetzt aber, wegen jenes ihr eigens zu diesem Zweck verpaßten »Klumpfuß[es]«71 – nach Bachofens Deutung des Ödipus-Mythos ein ›tellurisches‹ Symbol 72 –, ist sie ganz und unwiderruflich ledig geblieben. Denn jener gutaussehende »Streber« und »Gegenstand« kollektiv-unterschiedsloser »Verhimmelung durch Gänse und Puten« heiratete nach Bochum; oder vielmehr wurde er ›uxorilokal‹ dorthin geheiratet: zu schwach, um seiner »korrigierende[n] Neigung zum Höheren und Aparten« zu folgen, das Anna für ihn verkörperte. 73 Die »Tochter Anna« wird wohl nicht ganz von ungefähr noch vor dem »Sohne Eduard« eingeführt. Die Reihenfolge, in der die Kinder der Witwe aufgezählt werden, hält sich freilich an den Altersunterschied der beiden Geschwister, der wie gesehen seinerseits ein ›Überlegenheits‹- und Machtverhältnis zwischen diesen mit herstellt. Sie antizipiert oder exponiert aber vielleicht auch die bei Bachofen so genannte »Auszeichnung der Schwester vor dem Bruder«, »der Tochter vor dem Sohne«. 74 Rosalie steht »ihrem Sohne« ja »nicht besonders nahe«.75 »Eine kühle […] Freundlichkeit« ist »alles, was sie ihm entgegenbr[ingt]«. »[D]agegen« verkehrt sie »mit ihrer Tochter Anna«, ihrer »töchterlichen Freundin«, in einem innigen »Vertrauensverhältnis«,76 wie es sich besonders auch in einem offenen Austausch über das weiblich Intime des Klimakteriums oder der Menstruation bewährt. Das Tabu nota bene, das dieser Austausch 69 70
71 72 73 74 75 76
Bd. 8, S. 920. Lewis H. Morgan, Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart: Dietz, 1891, S. 57 f. Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele. Fünftes Buch, hg. v. Ernst Frauchinger et al., Bonn: Bouvier, 1966 (Sämtliche Werke, Bd. 2), S. 1330; zu Bachofens und Morgans wechselseitiger Rezeption Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.), Aus dem Briefwechsel zwischen Bachofen und Morgan, in: ders. (Hg.), Das Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen in der Diskussion, Frankfurt a. M.: Qumran, 1987, S. 271–277. Bd. 8, S. 879. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 201; vgl. Bd. 1, S. 440. Bd. 8, S. 881. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 13; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 65. Bd. 8, S. 919. Bd. 8, S. 883.
›Hetärismus‹ in der Betrogenen
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bricht, läßt ein anderer Bachofen-Leser,77 Sigmund Freud, kulturgeschichtlich mit der »Entwertung der Geruchsreize« zusammenfallen: »Deren Rolle«, so Freud – der übrigens 1913 im Motiv der Kästchenwahl seinerseits auch das Märchen von Amor und Psyche einer tiefenpsychologischen Deutung unterzog78 –, hätten der Blick und die »Gesichtserregungen übernommen«; und zwar soll der Vorgang dieser Übernahme schlechterdings die absolute »Schwelle der menschlichen Kultur« ausgemacht haben. 79 – Mit alledem, mit Witwenschaft, Ehe- und Vaterlosigkeit, mit der Bevorzugung der Tochter und der Hintansetzung des Sohnes, ist nicht einfach nur auf ein in Neumanns etwas vagerem Sinn verstandenes ›Matriarchat‹ angespielt, in dem »[d]ie Frau wirbt, nicht der Mann«, 80 und für welches die »Projektion des Feindlichen auf den Mann« »charakteristisch[]« sein soll 81 – »Böser« 82 nennt Rosalie ihren »Todesbräutigam« 83 aus sonst unerfindlichen Gründen –: Sondern die Anspielungen zielen meistens ganz präzis auf Bachofens ›hetärisch‹-›tellurisch‹-›aphroditische‹ Kulturstufe ab. Für diese, so Bachofen an einer von Thomas Mann eigens angestrichenen Stelle, seien »Mythen von der Mischung des Sohnes mit der Mutter« typisch,84 wie eben die Ödipus-Legende einen enthält, aus der Bachofen ja auch die ›tellurische‹ Symbolik des Klumpfußes gewonnen hat. Und der natürliche »Prototyp des ehelosen Muttertums« sei die, eine wie schon gesehen für Bachofen charakteristische Bildlichkeit: die »wilde[] Sumpfvegetation«.85
77
78 79 80 81 82 83 84 85
Vgl. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 174; ders., Brief vom 14. Mai 1912 an Carl Gustav Jung, in: Sigmund Freud und C. G. Jung, Briefwechsel, hg. v. William McGuire und Wolfgang Sauerländer, Frankfurt a. M.: Fischer, 1974, S. 558 f., hier S. 558; zu Freuds ›parallelbiographischer‹ Verwandtschaft mit Bachofen Adrien Turel, Bachofen – Freud. [Z]ur Emanzipation des Mannes vom Reich der Mütter, Bern: Huber, 1939 (Bücher des Werdenden, Bd. 11), v. a. S. 23, 102–104, 124. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 23–37. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 458 f., Anm. 1. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 209; Thomas Manns Hervorhebung. Neumann, Eros und Psyche, S. 85. Bd. 8, S. 946. Neumann, Eros und Psyche, S. 167. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 386. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 120.
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Bachofen und die Rezeptionsgeschichte von Amor und Psyche
3.3.1 Krebs und ›Hetärismus‹ Den Ausdruck »wilde[] Sumpfvegetation«, wie auch schon anderwärts das bloße Wort »Sumpfvegetation«, 86 hat sich Thomas Mann in seinen BachofenAusgaben wieder eigenhändig unterstrichen. Was ihn an der Formulierung und dem Kompositum so ansprach, darüber kann man immerhin spekulieren. Das Regellose, Unersättliche, Bedrohliche, das diesem ›prototypischen‹ Bild des ›Hetärismus‹ eingeprägt ist, eignet sich zunächst natürlich dazu, bestimmte Männerphantasien oder -phobien damit zu beschicken. Nicht umsonst heißt es von Ines Institoris’ am Ende für den Mann tödlicher »Leidenschaft«, daß sie »wuchert[]«. Das Wort von der bedrohlichen ›Wildheit‹ ›hetäristisch‹-vaterloser, ganz ungeregelter und völlig hemmungsloser Fruchtbarkeit bietet sich aber, jedenfalls im nosologischen Kontext der Betrogenen, auch noch für eine ganz bestimmte weitere Assoziation gewissermaßen von selbst an. Die Vorstellung solch einer ›sumpfigen‹, paradoxen, weil lebensgefährdenden und potentiell selbstzerstörerischen Fertilitätsform läßt sich leicht mit der Krankheit assoziieren, die die »Betrogene« befällt und an der sie stirbt. Denn Krebs läßt sich ja tatsächlich genau so, als enthemmte und gerade deswegen vernichtende ›Wucherung‹ des Lebendigen verstehen. Frederic Vester nennt ihn »ein zweites, allerdings fehlgesteuertes«, wenn nicht geradezu chaotisches »Leben in uns«.87 Und die mythische Qualität solcher Aussagen reflektierend, sieht Thomas Macho die Krebszellen »auf ein Stadium unserer eigenen Frühgeschichte« »regredieren«. 88 Nicht umsonst zieht Macho als Beispiel dafür ausgerechnet Die Betrogene heran.89 Die Krebssymptome werden hier ja wie auch schon in der zugrunde liegenden Anekdote zunächst mit einem Index der Fruchtbarkeit, eben der Menstruation, verwechselt. Und nicht von ungefähr hat diese Verwechslung oder Auswechselbarkeit von regulärer und irregulärer Fertilität eine Geschichte und fast schon eine Tradition. In Storms Bekenntnis interpretiert Franz Jebe den prekären Gesundheitszustand seiner Frau, die, wie man nachträglich und mit befremdlicher Verspätung erfährt, eine Fehlgeburt erlitten haben soll, erst als Hinweis auf eine Schwangerschaft. 90 86 87 88
89 90
Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 33. Frederic Vester und Gerhard Henschel, Krebs – fehlgesteuertes Leben, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 31984, S. 96. Thomas Macho, Ein zweites Leben in uns. Drei Fragen zum Krebs, in: Manfred Moser (Hg.), Krankheitsbilder – Lebenszeichen. 3. Kolloquium zur philosophischen Praxis, Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, 1987 (Klagenfurter Beiträge zur Philosophie), S. 85–117, hier S. 89. Macho, Ein zweites Leben in uns, S. 90 f. Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 607.
›Hetärismus‹ in der Betrogenen
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Susan Sontag spricht in Illness as Metaphor von der Krebskrankheit als einer »demonic pregnancy«. 91 Schon 1934, in einem Fragment Von der psychischen Bedingtheit der Krebserkrankung, bestimmte Georg Groddeck »die Natur des Krebses als Kindsymbol«, so daß ihm jede, auch die Krebsgeschwulst eines männlichen Körpers, als pervertierte Erfüllung eines Kinderwunschs erscheinen konnte. 92 Und Macho wiederum hat im Zusammenhang mit solchen Sinngebungsversuchen und Fehlinterpretationen der Krankheit gerade auch in der Betrogenen und anhand anderer literarischer und autobiographischer Beispiele auf das makabre Phänomen hingewiesen, »daß reale Schwangerschaften einen latenten Krebsprozeß begünstigen und beschleunigen können«.93 War es also immer schon und auch späterhin ohne weiteres möglich, den Krebs mehr oder weniger vage mit Fruchtbarkeit zu assoziieren, so läßt sich seine Assoziierbarkeit speziell mit der »Sumpfvegetation« ideengeschichtlich gerade und ganz genau für die Zeit belegen, in der Die Betrogene entstand. Der dafür entscheidende Beleg stammt von Wilhelm Reich. Reich war der überhaupt erste oder ist jedenfalls der erste dafür einigermaßen bekannt gebliebene Theoretiker, der die Krebskrankheit zum Gegenstand nicht mehr einfach nur naturwissenschaftlich-medizinischer Forschung, sondern nun auch der philosophisch-psychologischen Reflexion machte.94 (Und seinen Ansatz, sie als Symptom oder Resultat unterdrückter, gestauter Sexualität zu erklären, 95 könnte man selbstverständlich ohne weiteres auf die »unbenützten granulösen Zellen« anwenden, die in Rosalies »Eierstock« zu »maligner Entwicklung kommen«; zumal »die Geschichte« ursprünglich wie gesehen vom womöglich noch ›sexuelleren‹ Organ der »Gebärmutter […] ausging«.) Kein Geringerer also als Reich sprach dem Krebs in einem Interview vom Oktober 1952 ›eine sumpfige Eigenschaft‹ zu, das heißt ausgerechnet in dem Jahr, in dem Thomas Mann Die Betrogene konzipierte und zur größeren Hälfte schrieb:
91 92 93 94 95
Susan Sontag, Illness as Metaphor, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1977, S. 14. Georg Groddeck, Von der psychischen Bedingtheit der Krebserkrankung [Fragment 1934], in: ders., Psychoanalytische Schriften zur Psychosomatik, hg. v. Günter Clauser, Wiesbaden: Limes, 1966, S. 380–385. Macho, Ein zweites Leben in uns, S. 90. Wilhelm Reich, Die Entdeckung des Orgons, Bd. 2: Der Krebs, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1974. Wilhelm Reich, Die karzinomatöse Schrumpfungs-Biopathie, in: ders., Ausgewählte Schriften. Eine Einführung in die Orgonomie, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1976 [zuerst 1942], S. 232–288, hier S. 235–240.
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Bachofen und die Rezeptionsgeschichte von Amor und Psyche
It’s [scil. »orgone energy«] a swampy quality. You know what swamps are? Stagnant, deadly water which doesn’t flow, doesn’t metabolize. Cancer, too, is due to a stagnation. Cancer is due to a stagnation of the flow of the life energy in the organism. 96
Obwohl Bachofens Werk also an einem Ort und zu einer Zeit entstand, da die meisten Menschen auch im ›Westen‹ an Infektionen starben und die Ansteckungskrankheiten folglich im Register der kollektiven Todesängste noch die beherrschende Stelle einnahmen, die der Krebstod erst ein Jahrhundert später besetzte, mußte dieses Werk dannzumal, hundert Jahre später, für jemanden, der es so gut kannte wie der späte Thomas Mann, eine ganz bestimmte Interpretation gerade der Krebskrankheit verführerisch nahelegen. Eine entsprechende Interpretationsweise dürfte um so näher gelegen haben, als sie wieder auf ein weibliches ›gendering‹ des Krebses und somit auf dessen Exorzismus hinauslaufen konnte. In ihr durften Gynophobie und Krebsangst genau so zusammenkommen, wie es sich schon an den Grundlineaturen der Betrogenen abzeichnet. Krebs, als außer Rand und Band geratene Vermehrungswut verstanden, ließ sich, das belegt Reichs exakt zeitgleiche Äußerung ohne jeden Zweifelsrest, mit der »wilden Sumpfvegetation« synonymisch oder synekdochal geradezu übersetzen. Er muß für Thomas Mann bequem mit all dem assoziierbar gewesen sein, was Bachofen an Dunklem, ›Düsterem‹97 und Weiblich-Bedrohlichem in dieses Vegetationsbild zu fassen versuchte. Assoziierbar war er vor allem eben mit der regellosen Sexualität und Fruchtbarkeit des ›Hetärismus‹. Der Krebs geriet damit zur ›Zivilisationskrankheit‹ in einem ganz anderen als dem Sinn, in dem man ihn heute als eine solche fürchtet. Er konnte als Krankheit einer eigentlich überwundenen, ›weiblichen‹ Zivilisationsstufe erscheinen. Diese mußte dadurch, zusätzlich zu allen gynophoben Schreckbildern, mit den überhaupt stärksten Angstreflexen befrachtet werden. Es lag also nahe, die Krebskrankheit so zu assoziieren, aus dem Bachofenschen oder aus einem tiefenpsychologischen Vorstellungsarsenal heraus, das auf Bachofens Konzepte und Metaphern zurückgriff. Wie nahe es lag, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die deutschsprachige Literatur96
97
Wilhelm Reich, [Interview vom:] October 19, 1952, in: Mary Higgins und Chester M. Raphael (Hgg.), Reich Speaks of Freud. Wilhelm Reich Discusses His Work and His Relationship with Sigmund Freud, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1967, S. 76–128, hier S. 89 f.; Hervorhebung des Originals; freundlicher Hinweis von Bettina Bhend, Bern, vom 2. Juni 2008. Zu Reichs Bachofen-Rezeption vgl. Reich, Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, S. 93–106. Bd. 7, S. 561, 582 f., 637, 660, 648 f. Vgl. Yahya Elsaghe, Hoc signo felix. Religion und Urreligion in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, in: Thomas Sprecher (Hg.), Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen, Frankfurt a. M.: Klostermann (Thomas-Mann-Studien) [im Druck].
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geschichte. Nur vier Jahre nach der Betrogenen (und nach dem »Kriminalroman« Der Verdacht, wo Friedrich Dürrenmatt genau zeitgleich »jene hoffnungslose Krankheit« 98 auch in der Deutschschweizer Nachkriegsliteratur schon zum Thema gemacht hatte) erscheint an einem mentalitätsmäßig ganz anders gelagerten Ort dasselbe Gemenge von Krebserkrankung, Sumpfvegetation und – über Carl Gustav Jung und Karl Kerényi vermittelter 99 – Urweiblichkeitsmythologie; und auch hier im übrigen ist es verbunden mit antiamerikanischen Reflexen. Dieses Themengemenge taucht 1957 in Max Frischs Erfolgsroman Homo faber auf. Frisch läßt seinen Protagonisten, der in der Folge auch einen Potenzverlust erleiden wird, die Erfahrung der tropischen Sumpffruchtbarkeit und zugleich der ›Weiblichkeit‹ der ›Erde‹ 100 zur genau gleichen Zeit machen, da in ihm, Walter Faber, ein Krebs zu ›wuchern‹ angefangen hat, »und zwar […] Magenkrebs«, wieder unterhalb des Zwerchfells und also in einem ›unreinen‹ Organ. Der Krebs kommt hier folglich nur halbwegs und nur vordergründig als eine in Günther Anders’ Verständnis moderne Krankheit vor (als »deorganisierte[] Betriebsamkeit« und »Verselbständigung der Einzelfunktionen« 101). Und in der Verfilmung von 1991 – »Voyager« betitelt, um auch den Ängsten vor einer spezifisch-sexuellen Störung der Geschlechternormen zuvorzukommen, die ein ›Homo faber‹ wecken könnte 102 – hat Volker Schlöndorff denn Fabers Krankheit prompt wieder mir nichts, dir nichts wegretuschieren dürfen: so daß dem Kinopublikum selbst noch der Neunzigerjahre eine Konfrontation mit dem Krebs eines männlichen ›Unterleibs‹ wie konsequenterweise auch nur mit den Potenzproblemen des Romanhelden erspart blieb. 98
Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht. Ein Kriminalroman, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4: Romane, Zürich: Diogenes, 1996, S. 119–265, hier S. 123; vgl. S. 202, 225, 241. 99 Vgl. Rhonda L. Blair, ›Homo faber‹, ›Homo ludens‹ und das Demeter-Kore-Motiv, in: Walter Schmitz (Hg.), Frischs Homo faber, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 142–170. 100 Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht, in: ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 4: 1957–1963, S. 5–203, hier S. 68. 101 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck, 22002 (Beck’sche Reihe, Bd. 319), S. 138 mit Anm. S. 337. Zur prinzipiellen Bedeutung v. a. des vorhergehenden Kapitels, »Über prometheische Scham«, für Homo faber vgl. z. B. S. 25. (Zur anderweitigen Herleitbarkeit des titelgebenden – suo tempore offenbar sehr geläufigen – Terminus vgl. Klaus MüllerSalget, Max Frisch. Homo faber, Stuttgart: Reclam, 2008 [Erläuterungen und Dokumente], S. 186; José Ortega y Gasset, Betrachtungen über die Technik. Der Intellektuelle und der Andere, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1949, S. 96; freundliche Hinweise von Melanie Rohner, Bern, vom 1. August 2008 und vom 22. Januar 2010. Zur ›prometheischen Scham‹ und zum Anfang des Romans vgl. Simone de Beauvoir, Amerika. Tag und Nacht. Reisetagebuch 1947, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 72002, S. 11.) 102 Vgl. Rainer Traub, Bauchlandung eines Machers, in: Der Spiegel, 11. Juni 1990, S. 195– 201, hier S. 201.
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Bachofen und die Rezeptionsgeschichte von Amor und Psyche
Gerade weil es sich hier um einen Autor handelt, der, jedenfalls in den Fünfzigerjahren, mit Thomas Mann sonst gar keine Berührungspunkte mehr aufweist, ist Frisch in gewisser Hinsicht ein besonders glaubwürdiger Zeuge für die quasi automatische und geradezu ubiquitäre, eben ideengeschichtlich gegebene Assoziierbarkeit der Krebskrankheit mit all dem, was man sich im Sinne Bachofens unter Urmütterlichkeit und »wilde[r] Sumpfvegetation« vorzustellen hat. Ein weiteres, noch zwei Jahrzehnte jüngeres Zeugnis dafür, das übrigens in Frischs unmittelbarer Nachbarschaft entstand, wäre etwa Fritz Zorns Mars (1977). Denn in einer astrologischen Spekulation, die seinen lebens- und sterbensgeschichtlichen Aufzeichnungen immerhin auch ihren Titel gab, 103 stellt Zorn seine Krankheit unter die Signatur der »Astarte«, des »weibliche[n] Prinzip[s]« und der »Große[n] Mutter«. 104 Ein ganz anderer und in seiner Weise ebenfalls sehr zuverlässiger Zeuge für solche Gleichungen von Krebs und ›Großer Mutter‹, einer nämlich, dessen anderweitige Rezeptionseinwirkung auf die Betrogene sich quellenkritisch erhärten ließ, ist Erich Neumann, der wie gesehen seinerseits in das Züricher Umfeld gehört (und nebenher bemerkt wie Zorn und Frisch selber an Krebs starb 105). Auch Neumann assoziierte den Krebs mit dem »Sumpf«, den er genau wie Bachofen und unter ausdrücklicher Berufung auf diesen sexuierte. Und zwar finden sich diese Assoziation und diese Sexuierung an einer vergleichsweise prominenten Stelle seiner Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, auf der ersten Seite schon des zweiten Kapitels: »Die Große Mutter oder das Ich unter der Dominanz des Uroboros«. Neumanns Buch von der Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, die Kapitelüberschrift bereits verrät es, gehört wie sein Beitrag zur seelischen Entwicklung des Weiblichen in den Kontext seiner Bemühungen um die Archetypik der »Große[n] Mutter«. Es war also ›part and parcel‹ des Projekts, Bachofens Genealogie der Geschlechterbeziehungen an die jungianische Tiefenpsychologie zu vermitteln. Das Buch erschien 1949, vier Jahre vor der Betrogenen und drei Jahre vor jenem »Beitrag« und der Zeit, als Thomas Mann die Betrogene zu schreiben begann. Ein Exemplar des Buchs steht sogar in Thomas Manns Nachlaßbibliothek. Es weist aber keine einzige Lesespur auf. Das wäre in der Regel, wie schon angedeutet, ein stichhaltiges Indiz dagegen, daß Thomas Mann 103 Vgl. Thomas Anz, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart: Metzler, 1989 (Metzler-Studienausgabe), S. 105. 104 Fritz Zorn, Mars. »Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein…«, München: Kindler, 71977, S. 158. 105 Freundliche Auskunft von Angelica Löwe, Wien, vom 15. Juli 2009.
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es kannte oder zumindest unmittelbar zur Kenntnis nahm. Nur gibt es, wie ebenfalls gesagt, von dieser Regel eine erwiesene Ausnahme; und diese betrifft ausgerechnet ein anderes Buch Neumanns, das Thomas Mann im Zusammenhang mit der Betrogenen nach seinem eigenen Zeugnis aufmerksam gelesen hat, ohne darin doch auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen. Man kann also nicht wirklich entscheiden, ob sich Thomas Mann hier direkt oder auch nur mittelbar von Neumann inspirieren ließ, ob folglich ein quellenkritisch beschreibbarer Rezeptionszusammenhang vorliegt, über die auffallende zeitliche Nähe und über den mentalitätsgeschichtlich»atmosphärische[n] Einfl[uß]« 106 hinaus, den diese Nähe natürlich immer schon indiziert und auf den allein es hier ankommt. Bei aller Freiheit, mit der er sich darauf bezieht – so im unterstellten Begriff eines »Matriarchats« –, läßt Neumann genau erkennen, daß man aufgrund der »Bachofenschen« Konzepte den Krebs als Phänomen sua sponte semantisieren konnte, und zwar eben als eine ›weibliche‹ Erscheinung. Nicht zuletzt der Gestus einer unbedingten Selbstverständlichkeit, in dem Neumanns apodiktische Ausführungen durchweg gehalten sind, zeigt zugleich deutlich, wie leicht sich eine bestimmte Vorstellung von Krebs sozusagen kurzschließen ließ mit der »Stufe« des ›Hetärismus‹ (die Neumann mit einem »frühe[n] Matriarchat« gleichzusetzen scheint 107). Solch eine Vorstellung war offenbar ganz mühelos zusammenzubringen mit der Bildlichkeit des Sumpfs, die Bachofen zur Imagination dieses ›Hetärismus‹ aufbietet. In Neumanns Spekulation über die Archetypik des »Uroboros« (der sich in den eigenen Schwanz beißenden Schlange, die in ihrer Selbstgenügsamkeit einen vorbewußt-undifferenzierten Seinszustand symbolisiert) ist denn so gut wie alles versammelt, was die Naturvorstellung der »Betrogenen« ausmacht, wie sie diese in ihren letzten Worten vom »Tod« als »Mittel des Lebens« nochmals eigens sanktioniert: Das unbewußte Leben der Natur, das auch das des Uroboros ist, verbindet in sich das Sinnlose mörderischer Zerstörung und die höchste Sinnhaftigkeit instinktiven schöpferischen Aufbaus. Die sinnvolle Einheit des Organismus ist ebenso Natur wie der Krebs, der den Organismus zerfrißt. Das gerade ist auch die Einheit des Seins im Uroboros, der wie der Sumpf zeugt, gebiert und tötet in dem endlosen Ring ewigen In-sich-Geschlossenseins. Diese Welt, erfahren von einem erwachenden Menschheits-Ich, ist die Welt des Bachofenschen Matriarchats, die Welt der Mutter- und Schicksalsgöttinnen. Die fressende böse und die spen-
106 Interview vom 13. Juni 1953, in: Volkmar Hansen und Gert Heine (Hgg.), Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann. 1909–1955, Hamburg: Knaus, 1983, S. 359–362, hier S. 361. 107 Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, Zürich: Rascher, 1949, S. 53.
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dende gute Mutter sind zwei Seiten der uroborischen großen Muttergottheit, die auf dieser seelischen Stufe herrscht. 108
3.3.2 »Der Sumpf und seine Gewächse« »Der Sumpf und seine Gewächse«, wie eine Überschrift in Thomas Manns wichtigster Bachofenausgabe lautet, 109 sollten sich also schon Neumann zur Konzeptualisierung der Krebskrankheit anbieten und gehörten wie gesehen zu Bachofens ›stehenden‹ Metaphern. Deren ›stagnante‹ Bildlichkeit konnte in ihrer fast zwanghaften Konstanz einem so gründlichen Bachofen-Leser wie Thomas Mann unmöglich entgehen. Das Bild oder vielmehr der Geruch des Sumpfs spielt in der Betrogenen denn besonders auch schon in jenen Passus »Düfte der Natur« hinein, der gleichzeitig mit Thomas Manns dokumentierter Neumann-Lektüre entstand. Der »Genuß« solcher »mit Feuchte« »getränkt[er]« »Düfte« wird explizit mit »feucht-warme[r]« Witterung verbunden und subliminal ziemlich unmißverständlich mit dem weiblichen Genital in Beziehung gebracht: Der »Brodem« dringt in »Schwaden« aus dem »Schoße« »der Natur« und aus »eine[r] gestreckte[n]«, »dicht bewachsen[en]« »Bodenfalte«.110 Eine »Sumpfzypresse« 111 sodann, die auf dem Sonntagsausflug nach »Schloß Holterhof« ans Ende des »feuchten Wiesenweg[s]« zu stehen kommt – auch die »Zypresse« allein stellt Bachofen in »nahe Beziehung […] zu […] Aphrodite« 112 –, die »Sumpfzypresse« also im Schloßpark findet sich als einziger unter allen aufgezählten Bäumen in keinem der beiden Texte, die Thomas Mann bei der Ausarbeitung der Ausflugsquisquilien konsultierte: weder in Emil Barths Roman Wandelstern noch in Wilhelm Suters Spaziergängen und Ausflügen im Bereich der Rheinbahn. 113 Und die Schwäne im Schloßgraben, wie ›Drachen‹ oder auch »Gänse« für Bachofen kultursemiotisch bedeutungsträchtige »Tier[e] der Sümpfe« 114 und »Sumpfgewässer«,115 sind bei Barth zwar schon vorgegeben – auch ihre Farbe oder viel108 109 110 111 112
Ebd. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 353. Bd. 8, S. 885; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 940; im Original keine Hervorhebung. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 18 f. (vgl. Bd. 3, S. 134); Thomas Manns Hervorhebung. 113 Barth, Schloßzauber, S. 56–60; Wilhelm Suter, Spaziergänge und Ausflüge im Bereich der Rheinbahn […], Düsseldorf: Rheinische Bahngesellschaft, 41934, S. 58–63. 114 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 37–39. Vgl. Kerényi, Bachofen und die Zukunft des Humanismus, S. 22. 115 Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 257; von Thomas Mann angekreuzt.
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mehr das Fehlen einer solchen, ihre Absorption jeglichen Lichts 116 –: Sie schwimmen hier aber, in der Betrogenen, anders als bei Barth, eigens in gleichsam versumpfendem, nämlich »auf […] etwas schleimige[m] Gewässer«.117 Spezifisch auf die noch von Neumann so betitelte »Sumpfstufe« des ›Hetärismus‹ (beziehungsweise des ›frühen Matriarchats‹) mag bereits die zeitlebens notorische Promiskuität des jetzt toten Gatten und Vaters weisen. Bei dessen »Seitensprünge[n]« mußte die in wenigstens diesem Sinn nicht wirklich »Betrogene«, so sagt sie selber, nicht nur »durch die Finger sehen«,118 sondern ausdrücklich auch »unaufhörlich […] beide Augen zudrücken«.119 Robert von Tümmlers »öftere Abweichungen von der Richtschnur ehelicher Treue«, gleich im ersten Abschnitt vermerkt, werden dort eigens als »Merkmal« »nur« eben »überschüssiger Rüstigkeit« gewissermaßen entschuldigt. 120 Sie führten also zu keiner jemals innigeren Bindung und arteten in keine stabilen ›Verhältnisse‹ aus (auch wenn sich daraus für die politische Chronologie, pedantisch genau genommen, gewisse Datierungsprobleme ergeben werden). Auf die »Sumpfstufe« deutet aber auch schon die Blume, die Rosalie jetzt im Namen führt und deren Erwähnung auf jene namentliche Evokation der von Bachofen so stark besetzten Märchenszene zuläuft. »Die schnell verriechende Rose« figuriert bei Bachofen, an der von Thomas Mann angestrichenen Stelle »von der Mischung des Sohnes mit der Mutter«, ausdrücklich als ein »Sinnbild« der ›aphroditischen‹ Kulturstufe. 121 Auf diese spielt vollends der quasi kultische Aufwand an, den Rosalie mit der »Königin der Blumen« betreibt – eine zwar alte und konventionelle, 122 aber im Kontext ›matriarchaler‹ Phantasien dennoch sehr vielsagende Machtmetaphorik –; und zwar betreibt sie solchen Aufwand mit den »Gaben« ihrer »Besucherinnen« nota bene in »ihre[m] Boudoir[]«. Rosalies Rosenkult vollzieht sich also in einem Männern per definitionem verschlossenen Bereich. Und dem »Frauen-Zimmer« in dieser eigentlichen Bedeutung des Worts, eines Boudoirs eben, ist in der einen BachofenAusgabe Thomas Manns, noch dazu in fast unmittelbarer Nachbarschaft
116 117 118 119 120 121 122
Barth, Schloßzauber, S. 60. Bd. 8, S. 941; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 892. Bd. 8, S. 928. Bd. 8, S. 877; im Original keine Hervorhebung. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 386. Vgl. z. B. Barthold Hinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Bd. 1, Hamburg: Christian Herold, 1737 (Nachdruck Bern: Herbert Lang, 1970), S. 79–89.
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von Die Lampe und ihr Öl im Mythus von Amor und Psyche, ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem sich wieder einige Lesespuren finden.123 In enger Beziehung zur Rosen-»Passion« und zur Überfeinerung des (landläufig offenbar als besonders weiblich geltenden124) Geruchssensoriums – Rosalie »erschnuppert[]« jenes ›fiese Häufchen‹ »zuerst« oder auch mitten im Winter den Frühling 125 – steht der wohl überhaupt deutlichste Hinweis auf den ›Hetärismus‹, wie er in der Betrogenen Platz greift. Diesen so eindeutigen Hinweis gibt eine ganz bestimmte »Art der Befruchtung«. Sie findet anläßlich der »Baumblüte« und also unmittelbar vor Rosalies »Passion« explizite Erwähnung. Sie muß sich dann aber auch später wieder abspielen, »zur Zeit der Lindenblüte« und ihres sagenhaft »reinen und milden Geruchszauber[s]«, und zwar direkt vor Rosalies »offenen Fenstern«.126 Denn wie man schon auf der ersten Seite erfährt, soll die »Villenstraße«, wo »Rosaliens […] Häuschen« steht, »mit Linden bepflanzt[]« 127 sein (während auf zeitgenössischen Aufnahmen an der Düsseldorfer Cornelius-Straße entweder Platanen oder Ahorn-Bäume zu sehen gewesen wären 128). Die »Art der Befruchtung, die« Rosalie für »besonders anmutig« hält, wie schon anzitiert (im Zusammenhang mit dem eigens ausgewiesenen Niveau des hier aufgebotenen Fachwissens), ist die »Windbestäubung«. Bei Windbestäubung bleibt die ›Paarung‹ von »Blütenstaub[]« und »weibliche[r] Narbe« natürlich ihrerseits gänzlich dem Zufall überlassen. Die Windbestäubung schließt damit ea ipsa das Prinzip der Ehe und erst recht der Vaterschaft von vornherein aus, beziehungsweise, genauer genommen, die botanischen Äquivalente von Ehe und Vaterschaft. Es so genau zu nehmen, hieße freilich den Automatismus zu ignorieren, daß Ausdrücke und komplette Wortfelder aus der Humanbiologie 123 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 324–328. 124 Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Abt. I, 1. Teil, Sp. 402, s. v. ›Weibernase‹; Abraham a Santa Clara, Judas der Ertz-Schelm, Saltzburg: o. V., 1686, Bd. 1, S. 571. Vgl. zum heutigen Stand der Wissenschaft Tim Jacobs, Smell Research, www.cf.ac.uk/biosi/ staffinfo/jacob/teaching/sensory/olfactres.html (5. März 2007). Hierbei scheint es sich jedoch um keine communis opinio zu handeln; freundlicher Hinweis von Hans Hoppeler, Bern, vom 31. Juli 2007. 125 Bd. 8, S. 910. 126 Bd. 8, S. 886. 127 Bd. 8, S. 877. Vgl. Stefan Bodo Würffel, Vom Lindenbaum zu Doktor Fausti Weheklag: Thomas Mann und die deutsche Krankheit zum Tode, in: Thomas Sprecher (Hg.), Vom Zauberberg zum Doktor Faustus. Krankheit und Literatur. Die Davoser Literaturtage 1998, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2000 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 23), S. 157–184, hier S. 168–175. 128 Freundliche Auskünfte von Andrea Trudewind, Düsseldorf (Stadtarchiv), und Claus Lange, ebd. (Abteilung Grünplanung), vom 14. und 16. Mai 2001.
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ganz habituell ins ›Reich‹ der Pflanzen und Bäume hinüberwechseln können. Ein schönes Beispiel für die Selbstverständlichkeit solcher, das heißt als solche gar nicht mehr unbedingt wahrnehmbarer Metaphernbildungen findet sich in einem Brief vom 7. Juni 1952, von dem ein anonymes Fragment in Thomas Manns Nachlaß erhalten blieb. Darin ist unter anderem von »Männliche[n] u. Weibliche[n]« »Pappeln« die Rede und obendrein auch noch von deren »merkwürdige[m] Liebesspiel«. 129 Den Anlaß zu dieser anthropomorphen Redeweise gaben »die herrlichen endlosen Pappelalleen, die von Cöln nordwärts ausstrahlen«. 130 Der Brief scheint ursprünglich also als Antwort gemeint gewesen zu sein nicht etwa auf eine botanische, sondern auf eine der vielen hartnäckigen Fragen, mit denen sich Thomas Mann unter seiner Bekanntschaft über die konkreten Lokalia von Düsseldorf und Umgebung kundig zu machen versuchte. Nach Ausweis aber vielleicht nur schon seiner Anstreichungen im Brieffragment und vor allem dessen, was er daraus in seine Erzählung übernahm beziehungsweise nicht übernahm, scheint ihn das Aperçu der ›Anemophilie‹ ungleich stärker angesprochen zu haben als die lokalgeographische Auskunft, – wenn es ihn nicht überhaupt und allererst auf das Phänomen der Windbestäubung und deren Analogie zum ›Hetärismus‹ aufmerksam werden ließ. Jedenfalls hat er die topographische Information des Fragments im Novellentext nicht weiter berücksichtigt. Anstelle der von Köln ausgehenden »Pappelalleen« ist die botanische Belehrung der Tochter jetzt über »Silberpappeln« angebahnt, »die den Wasserlauf säum[]en« 131 (und allenfalls, wegen der extremen Kontrastfarbigkeit ihrer Blätter, mit Sterben und Tod assoziierbar sind). Daß diese Anbahnung aber überhaupt über »Pappelbäume« erfolgt, wo doch die ›polyphilen‹ Linden teilweise ebenfalls Windbestäubung ›treiben‹ und als Beispiel dafür viel näher gelegen oder gestanden hätten – sozusagen gleich vor den »Fenstern« der Protagonistin –, reflektiert ex negativo möglicherweise noch etwas von der älteren Besetztheit der Linde, des Lindenbaums, wie er eben im Zauberberg und noch im Doktor Faustus für das genaue Gegenteil der Bedeutungswerte stehen konnte, die die Windbestäubung in der Betrogenen mit einschließt. Es läßt andererseits wohl aber auch etwas erkennen von dem plötzlich inspirierenden Eindruck, den weniger jener Brief selbst auf Thomas Mann machte als vielmehr die darin gewissermaßen bereitliegende Idee gleichsam eines botanischen ›Hetärismus‹:
129 Thomas Manns Hervorhebung. 130 Thomas Manns Hervorhebung. 131 Bd. 8, S. 884. Zur Quellenkritik vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 228, Anm. 126.
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[…] Rosalie […] wußte genug Botanik, um die Tochter belehren zu können, daß die Pappelbäume »zweihäusige« Gewächse seien, bei denen die einen nur eingeschlechtig männliche, die anderen nur weibliche Blüten tragen. Sie sprach auch gern von Windbestäubung, will sagen: vom Liebesdienste des Zephirs an den Kindern der Flur, seinem gefälligen Hintragen des Blütenstaubes auf die keusch wartende weibliche Narbe, – eine Art der Befruchtung, die ihr besonders anmutig schien. 132
132 Bd. 8, S. 884.
4 Thomas Manns politische Bachofen-Rezeption Weil sich in der Betrogenen etliche ›hetärische‹ Elemente finden und weil Thomas Mann andererseits die eminente Wichtigkeit des Lichtmotivs in der einschlägigen Rezeptionsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche genau kannte (in dem übrigens die Dienste »des Zephirs« ebenfalls eine erhebliche Rolle spielen), muß den ›blinden‹ Stellen der mythologischen Reminiszenzen ein wie gesagt desto höherer Bedeutungswert zukommen. Die blinden Stellen scheinen auf eine Revokation einer zivilisationsgeschichtlichen Errungenschaft hinauszulaufen. Ihre spezifische Bedeutsamkeit resultiert aus den ideologischen Voraussetzungen und Implikationen der Bachofenschen Kulturstufenlehre. Sie ergibt sich aus den konkreten sozialgeschichtlichen Bedingungen, unter denen diese entstand. Ideologiekritisch gelesen, läßt Bachofens Theorie nicht einfach nur Männerphantasien und Männerängste, sondern in eins damit auch etwas von der sozialen Identität des Autors erkennen. Als Privatgelehrter und Angehöriger des ›Teigs‹, des Basler Patriziats, bezog Bachofen an Renteneinkünften das fast Zweihundertfache dessen, was diejenigen verdienen konnten, die solchen Reichtum für die Bachofens erarbeiten mußten. 1 Er gehörte also ganz entschieden zu den Profiteuren der seinerzeit bestehenden Verhältnisse. Er dürfte allen Grund gehabt haben, deren Veränderung zu fürchten, wie sie am radikalsten von Seiten der Kommunisten drohte. Aus einer sehr tief sitzenden Revolutionsangst scheint denn schon die Grundvorstellung der Bachofenschen Kulturstufenlehre gespeist zu sein: Jeder Wendepunkt in der Entwicklung des Geschlechterverhältnisses ist von blutigen Ereignissen umgeben, die allmähliche friedliche Fortbildung viel seltener als der gewaltsame Umsturz. 2
1 2
Vgl. Philipp Sarasin, Basel – Zur Sozialgeschichte der Stadt Bachofens, in: Johann Jakob Bachofen (1815–1887). Eine Begleitpublikation zur Ausstellung im Historischen Museum Basel 1987, Basel: Historisches Museum, 1987, S. 28–39, hier S. 37. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 29; von Thomas Mann angestrichen.
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Den im Rahmen dieser Katastrophentheorie scharf eingrenzbaren Kulturepochen ordnete Bachofen bestimmte Staatsformen zu: dem ›Vaterrecht‹ zum Beispiel und hauptsächlich das römische Kaisertum; dem ›Hetärismus‹ aber die Demokratie (die übrigens auch schon Aristoteles in seiner Politik, wo Bachofen seinen favorisierten Begriff ›Gynaikokratie‹ herzuhaben scheint, mit dieser ›Gynaikokratie‹ zusammenbringt 3). Und durch den prägnant politischen Sinn, den er gerade auch dem ›Hetärismus‹, also ganz wörtlich der ›Hurerei‹ verlieh, konnte Bachofen zum Gewährsmann jenes Vorbehalts gegen die »feminine[]« Artung der »Demokratie« und der »Freiheit« werden, zu dessen Rechtfertigung sich Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch faute de mieux auf den deutschen Revolutionär Georg Büchner respektive auf dessen dramatische Gestaltung des französischen Revolutionärs Georges Danton berufen mußte: »Die Freiheit und eine Hure«… Solche Gleichungen von Kulturstufen und politischen Verfaßtheiten aber, insbesondere die eine Gleichung von ›Hurerei‹, Primitivität und Demokratie, wenn man sie mit den Zeichen der Zeit zusammenhielt – Bachofen und Karl Marx gehörten einer und derselben Generation an –, drohten das ganze Konzept der Stufenlehre zu widerlegen. Sie unterliefen die optimistische Vorstellung eines im ganzen irreversiblen »Fortschritt[s]«4 vom ›Hetärismus‹ zum Prinzipat der Patriarchen und Patrizier. Den Widerspruch zwischen seiner Kulturtheorie und den absehbaren Tendenzen der Zeitgeschichte bewältigte Bachofen, indem er den für diese Theorie eigentlich grundlegenden Fortschrittsgedanken gegebenen Orts kurzerhand preisgab. So schreibt er an einer von Thomas Mann wieder angestrichenen Stelle, die wohl nicht von ungefähr mit einer wörtlichen Übersetzung aus Herodot endet (»țȪțȜȠȢ IJȞ ਕȞșȡȦʌȘȦȞ […] ʌȡȘȖȝȐIJȦȞ« 5): Das Ende der staatlichen Entwicklung gleicht dem Beginn des menschlichen Daseins. Die ursprüngliche Gleichheit aller kehrt zuletzt wieder. Das mütterlich-
3
4 5
Aristoteles, Politica, hg. v. W. D. Ross, Oxford et al.: Oxford University Press, 1959 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), S. 182 (V, 1313b); vgl. S. 52 (II, 1269b). Vgl. dagegen Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 119, die nicht weiter belegte Auffassung, daß Bachofen »den Begriff [scil. ›Gynaikokratie‹] von dem hierbei fabulierenden Geographen Strabo« »übernahm«. Nach Wesel, Der Mythos vom Matriarchat, S. 13 f., soll Bachofen, ebenfalls ohne Belege für diese Behauptung, den Begriff vom »griechische[n] Historiker« – gemeint ist der Philosoph – Herakleides Pontikos haben; freundlicher Hinweis von Florian Heiniger, Bern, vom 2. Dezember 2009. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 134; Thomas Manns Hervorhebung. Herodotus, o. T., hg. v. A. D. Godley, Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press, und London: Heinemann, 71975, 71971, 71971, 51969 (Loeb Classical Library, Bd. 117–120), Bd. 1: Books I and II, S. 260 (I, 207).
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stoffliche Prinzip des Daseins eröffnet und schließt den Kreislauf der menschlichen Dinge. 6
Bachofen kontaminiert hier sein Makrotheorem vom stetigen »Fortschritt« der drei großen Kulturstufen mit einem ganz anderen, eben einem zyklischen Geschichtsmodell.7 Ein solches hatte in der Geschichtsschreibung und Verfassungstheorie freilich eine lange Tradition. Diese wird Bachofen als gut belesener Altertumskundler sehr wahrscheinlich vor allem auch in der prominenten Form gekannt haben, die ihr der hellenistische Historiker und Staatstheoretiker Polybios gegeben hatte. 8 Denn die in dessen Historien entwickelte Theorie von der Zyklik oder ›Anazyklose‹ der Staatsformen, ʌȠȜȚIJİȚȞ ਕȞĮțȪțȜȦıȚȢ, 9 war offensichtlich auch noch etliche Jahrzehnte nach Bachofen ziemlich weit über den ›inner circle‹ der Fachgelehrten hinaus verfügbar. (Selbst noch Wilhelm II. konnte in jenen Auslassungen über das »Geschlecht der Völker« ohne weiteres und ganz selbstverständlich auf sie zurückgreifen, ohne sie indessen bei einem Verfassernamen zu nennen oder sie sonstwie als Fremdgut auszuweisen.10) Bei Polybios allerdings (und folglich auch bei Wilhelm II.) stehen die drei Grundtypen möglicher Verfassungsformen in einem ganz anderen Verhältnis zueinander als bei Bachofen. Die Anakyklosis des Polybios verläuft nach einer genau umgekehrten Reihenfolge: Sie geht dort von der Königsherrschaft beziehungsweise Tyrannis über die Aristokratie beziehungsweise Oligarchie zur Demo- beziehungsweise Ochlokratie und da capo. Trotz seiner also zwar modifizierten, aber doch starken Anleihe bei zyklischen Geschichtsauffassungen vollzieht Bachofen eine entscheidende Kippbewegung. Ideengeschichtlich bezeichnet diese sehr prägnant seine Position zwischen frühem und spätem neunzehntem Jahrhundert. Die Kontamination seiner Stufentheorie mit einem zuletzt doch wieder kreisförmigen Verlaufsmodell markiert eine Bruchstelle zwischen säkularvormodernen, eben zirkulären Vorstellungen von Geschichte und genuin modernen, durchgängig linearen und prinzipiell zukunftsoffenen Geschichtskonzeptionen.
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Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 247 f. Vgl. Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München: Beck, 1978, S. 236–257. Zu Bachofens Polybios-Rezeption vgl. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 450, 500; Bd. 3, S. 450, 500, 745–748, 764, 769, 779, 780, 782, 789, 856, 859, 984; Bd. 4, S. 18. Polybius, The Histories, hg. v. W. R. Paton, Bd. 3, Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press, und London: Heinemann, 51972 (Loeb Classical Library, Bd. 138), S. 268–293, 396–403 (VI, 2.1–10.14, 57.1–58.13). Wilhelm II., Das Geschlecht der Völker, S. 69.
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Andererseits antizipiert Bachofens Rückkehr- oder Rückschrittstheorem auch eine Idee, die um die Jahrhundertwende, zur Zeit einer ersten Bachofen-Renaissance, in Gestalt der ›Rückbildung‹ selbst Evolutionstheorie und Mutationsbiologie erfassen sollte. So rechnete etwa Hugo de Vries in seiner Mutationstheorie von 1901 mit »retrogressive[n]« und »degressive[n]« Artenbildungen. 11 Und ziemlich genau gleichzeitig damit – die erzählte Zeit des Felix Krull fällt hier ins Jahr 1895 – schränken solche De- und Retrogressionserscheinungen die Antwort ein, die Professor Kuckuck auf Krulls Frage nach dem »Fortschritt« gibt (im ›Nachtzug nach Lissabon‹ und das heißt nach Ausweis schon der darin auftretenden Spracharchaismen – »Neubegierde«, 12 »dasselbe« als gewöhnliches Pronomen 13 –: auf einer Zeitreise, einer Reise nämlich in die ›Urreligion‹ und ihre ›Mutterrechtlichkeit‹ 14). Seine Antwort möchte Kuckuck ausdrücklich über die Evolution hinaus auch auf die Menschheitsgeschichte bezogen wissen, wie es ja auch der Doppelkompetenz eines »Paläontolog[en] und Direktor[s] des Naturhistorischen Museums« 15 gemäß ist; gehen dort doch die Exponate bis zur menschlichen Kultur »[h]inauf« oder »hinab[]«. 16 Einen noch weiter reichenden, kraß anachronistischen Zeitbezug vielleicht suggeriert die Emphase der änigmatisch-elliptischen Aposiopese, mit der Kuckucks (nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebene) Antwort endet:17 Es gebe den Fortschritt […] vom Pithecanthropus erectus bis zu Newton und Shakespeare, das sei ein weiter, entschieden aufwärts führender Weg. Wie es sich aber verhalte in der übrigen Natur, so auch in der Menschenwelt: auch hier sei 11
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Hugo de Vries, Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich, Bd. 1: Die Entstehung der Arten durch Mutation, Leipzig: Veit, 1901, S. 456–463. Zur literarischen Interferenz von Bachofenschen und evolutionsbiologischen Theoremen vgl. Bianca Theisen, Naturtheater. Kafkas Evolutionsphantasien, in: Claudia Liebrand und Franziska Schößler (Hgg.), Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 273–290, hier S. 284. Bd. 7, S. 532, 537. Bd. 8, S. 538 f., 542. Vgl. Elsaghe, Hoc signo felix. Bd. 7, S. 534. Bd. 7, S. 578. Zu den wissenschaftsgeschichtlichen Anachronismen in Kuckucks Lektion über die drei »Urzeugungen« (Bd. 7, S. 542–547) vgl. nur schon die Herkunft dieses Terminus: Paul Kammerer, Allgemeine Biologie, Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1915, S. 15–29 (mit Anstreichungen Thomas Manns); die Aussagen über das »untersichtige[] Atom« (Bd. 7, S. 546) mit Lincoln Barnett, The Universe and Dr. Einstein, New York: Sloane, o. J. [erstmals 1948], S. 22–26 (dito); die Datierungen der Evolutionsgeschichte – »zweihundertfünfzig […] Jahrmillionen« bis zu den »Reptilien« (Bd. 7, S. 539) und »fünfhundertfünfzig Millionen Jahre« (Bd. 7, S. 537) »bis hinauf zum Menschen« (Bd. 10, S. 383) – mit Klaus Mampell, Wandlungen des Organischen, in: Revue suisse de zoologie, Juni 1951, S. 537–551, hier S. 539 f.
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immer alles versammelt, alle Zustände der Kultur und Moral, alles, vom Frühesten bis zum Spätesten, vom Dümmsten bis zum Gescheitesten, vom Urtümlichsten, Dumpfesten, Wildesten bis zum Höchst- und Feinstentwickelten bestehe allezeit nebeneinander in dieser Welt, ja oft werde das Feinste müd’ seiner selbst, vergaffe sich in das Urtümliche und sinke trunken ins Wilde zurück. Davon nichts weiter. 18
Was hinter Bachofens Gynophobie auch steht, was unter seinen Sexualängsten auch liegt und was jedenfalls allenthalben aus der Bildlichkeit seiner Texte spricht, ist also die Angst vor einer »retro«-, »de«- oder regressiven Veränderung der bestehenden Verhältnisse, zu deren ausgemachten Nutznießern er wie gesagt gehörte: nicht nur als Mann, noch nur als Gatte einer sehr viel jüngeren Frau, sondern eben auch als reicher Akademiker und als Bürger einer zwar de iure demokratischen Nation, aber einer de facto aristokratisch regierten Stadt, als Stadtpatrizier. Er mußte allen Grund haben, den »Fluch der Demokratie« 19 zu perhorreszieren: »vollkommene, gestalt- und gliederlose Freiheit aller Geschöpfe«;20 »allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewußtsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht«;21 »Abwesenheit jedes Eigentums, überhaupt jedes Sonderrechts irgendwelcher Art, Gemeinschaft der Weiber, der Kinder, und als notwendige Folge davon auch aller Güter«.22 Am unverstelltesten verrät diesen Horror wohl jene Vorstellung von der zivilisationsgeschichtlichen Regularität »blutige[r] Ereignisse[]«, welche Bachofens Phantasien geradezu obsediert (und welche übrigens dem gegenwärtigen Stand der ur- und frühgeschichtlichen Erforschung durchaus nicht entspricht; war doch gerade auch in Bachofens Heimatregion die »allmähliche friedliche Fortbildung« nach Ausweis heutiger archäologischer Befunde ganz und gar nicht »seltener als der gewaltsame Umsturz« 23). Die Art nun, wie solche handfesten Revolutionsängste in Bachofens Kulturtheorie zumindest immer mit bedient werden, sollte für deren Rezeptionskarriere von wahrscheinlich entscheidender Bedeutung sein. Denn Bachofen hatte dem, was er aus seiner persönlichen Position heraus
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Bd. 7, S. 547. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 3, S. 37. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 284; von Thomas Mann angestrichen. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 15; von Thomas Mann angestrichen. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 284; Thomas Manns Hervorhebung. Vgl. Werner E. Stöckli, Einleitung, in: ders. et al. (Hgg.), Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter, Bd. 2: Neolithikum, Basel: Schweizerische Gesellschaft für Urund Frühgeschichte, 1995, S. 13–19, hier S. 15 f., vs. z. B. Lawrence H. Keeley, War Before Civilization, New York und Oxford: Oxford University Press, 1996.
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fürchten mußte, eine Unausweichlichkeit zwar konzediert, 24 wie sie Marx und Engels seinerzeit für die »unwiderruflich[e]« Revolution des dazu »geschichtlich […] gezwungen[en]« Proletariats reklamierten. 25 Aber im Gegensatz natürlich zur marxistischen Lehre hatte er dieser Unabänderlichkeit zugleich den für ihn sonst verbindlichen Fortschrittsgedanken opfern müssen. Das scheinbar Unabänderliche konnte er so als Rückfall auf die allerprimitivste Zivilisationsstufe diffamieren. Bachofen also hatte das Phänomen im genauen Wortsinn revolutionärer Entwicklungen in seine Theorie gerade noch integriert. Seine Angst davor konnte er freilich nicht mehr wirklich bannen; sondern er vermochte sie nur noch mit resignativem Gestus gleichsam zu nobilitieren. Dieser geschichtspessimistische Fatalismus wirft ein Licht auf die besonderen Bedingungen und Umstände, unter denen Thomas Mann Bachofens Texte zu rezipieren begann. In München, in der damals unmittelbaren Nachbarschaft der Manns, hatten die elitären Kreise und ›Kosmischen Runden‹ der Schwabinger Bohemiens – Ludwig Klages zum Beispiel oder auch Alfred Schuler und Ludwig Derleth – Bachofen und vor allem Das Mutterrecht zwar schon um die Jahrhundertwende wiederentdeckt. Und selbstverständlich hatte Thomas Mann, wenn auch aus gehöriger Distanz und mehr amüsiert als interessiert, von der Schwabinger Boheme und, nach Ausweis seiner ›Skizze‹ Beim Propheten (1904), sogar von ihrem Kult des Muttertums Kenntnis genommen.26 Übrigens scheint er auch bald einmal schon ihre ideologischen Verstrickungen durchschaut zu haben. So könnte etwa der offenbar erfundene Name einer Zeitschrift, die ein rabiater Antisemit im Zauberberg abonniert hat, »Die arische Leuchte«,27 eine Parodie sein auf die ominöse ›Blutleuchte‹ Alfred Schulers. 28 24 25 26 27 28
Gerhard Plumpe, Das Interesse am Anfang. Zur Bachofendeutung, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.), Das Mutterrecht von Johann Jakob Bachofen in der Diskussion, Frankfurt a. M.: Qumran, 1987, S. 196–212, hier S. 202 f. Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: dies., Werke, Bd. 2, Berlin: Dietz, 1959, S. 3–223, hier S. 38. Vgl. Yahya Elsaghe, Beim Propheten. Portrait und Ideologie in Thomas Manns Frühwerk, in: Neophilologus 88.3, 2004, S. 417–427, hier S. 420–426. Bd. 3, S. 950. Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Alfred Schulers Utopie des »offenen Lebens«, in: Forum Homosexualität und Literatur 30, 1997, S. 37–58, hier S. 43; Michael Pauen, Einheit und Ausgrenzung. Antisemitischer Neopaganismus bei Ludwig Klages und Alfred Schuler, in: Renate Heuer und Ralph-Rainer Wuthenow (Hgg.), Konfrontation und Koexistenz. Zur Geschichte des deutschen Judentums, Frankfurt a. M. und New York: Campus, 1996 (Campus Judaica, Bd. 7), S. 242–269, hier S. 243; Richard Faber, Männerrunde mit Gräfin. Die »Kosmiker« Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow.
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Beim Propheten läßt jedoch auch deutlich genug erkennen, daß Thomas Mann den auf Bachofen zurückgehenden Sinnzusammenhang des Schwabinger Mutterschaftskults seinerzeit noch nicht gesehen und begriffen hat. 29 Und überhaupt gibt es bisher keinen einzigen stichhaltigen Hinweis darauf, daß er selber Bachofen bereits vor seiner Arbeit an den Josephsromanen gelesen hätte. Auch in der Forschungsliteratur zum dafür potentiell sehr einschlägigen Zauberberg wird eine solche Kenntnis immer wieder nur von neuem angenommen und vorausgesetzt, aber nirgends belegt.30 Thomas Manns dann allerdings sehr intensive Bachofen-Rezeption, wie sie der schon zitierte Lessing-Artikel von 1929 bezeugt, setzt mit aller Wahrscheinlichkeit erst nach Abschluß des Zauberbergs (1924), erst in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre ein. Er selbst scheint sie so zu datieren, wenn er 1931 in jenem Fragment über das Religiöse schreibt, daß »seither«, das heißt eben seit und nach seinem Zauberberg, »das Religions- und Mythengeschichtliche […] sich ganz und gar [s]eines humanen Interesses bemächtigt hat«.31 Die Einschlägigkeit des Zauberbergs, insbesondere die Fragwürdigkeit und Kläglichkeit seines männlichen Personals, wäre dann also ein Zeugnis weniger für eine auch noch so vage Kenntnis Bachofens als vielmehr für die Dringlichkeit der Fragen, deren Anworten dort, bei Bachofen, schon bereitlagen, aber sozusagen erst noch entdeckt werden wollten. Einen noch genaueren terminus post quem dieser Entdeckung könnte man aus dem offenen Brief Die Ehe im Übergang (alias Über die Ehe) gewinnen, den Thomas Mann im Juli und August 1925 als Beitrag zu einem Ehe-Buch des konservativen Kulturphilosophen Hermann von Keyserling schrieb. Denn ohne daß Thomas Mann, der sich in Texten dieser Art mit ›name dropping‹ ja keineswegs zurückzuhalten pflegte, die hier näher als sonst je liegende Gelegenheit wahrnähme, Bachofen auch nur dem Namen nach zu erwähnen, ist im Ehebrief ausführlich und war schon im handschriftlichen Entwurfsschema vom modernen Wandel der Geschlechterrollen die Rede: »Unterminierung« des »patriarchalische[n] Rudiment[s]« »durch die Verselbständigung und Emanzipation der rad-
29 30
31
Mit einem Nachdruck des »Schwabinger Beobachters«, Frankfurt a. M. et al.: Lang, 1994 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 38), S. 93. Vgl. Elsaghe, Beim Propheten, S. 425. Vgl. z. B. Frederick Alfred Lubich, Thomas Manns Der Zauberberg. Spukschloß der Großen Mutter oder Die Männerdämmerung des Abendlandes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67.4, 1993, S. 729–763, hier S. 762 f.; Wolfgang Riedel, Literatur und Wissen. Thomas Mann: Der Zauberberg, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 238.1, 2001, S. 1–18, hier S. 18, Anm. 31; Schwöbel, Die Religion des Zauberers, S. 169 f. Bd. 11, S. 425.
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fahrenden, chauffierenden, studierenden, starkgeistig gewordenen, […] vermännlichten Frau, durch die ›Frauenemanzipation‹, die so lächerlich und kindlich begann u. von der doch so viel ernsthaft Untilgbares, ›Irreparables‹ übrig geblieben ist«. 32 Daß die Ausgaben oder ›Reader‹, in denen Thomas Mann Bachofen danach las, ihrerseits allesamt ausgerechnet in den Zwanzigerjahren, und zwar im Jahr nach dem Ehe-Buch erschienen – und noch nicht einmal als einzige 33 –, erklärt die Verspätung seiner Rezeption nicht nur, sondern hebt diese Erklärung darüber hinaus von einem individuellen auf ein gesellschaftliches, sozialpsychologisches Niveau. Die großen Sammelausgaben, die Mitte der Zwanzigerjahre erschienen, drei allein im Jahr 1926, kamen einem allgemeinen Bedürfnis entgegen. Dieses dokumentiert beispielsweise eine Rezension zu Bachofens Oknos der Seilflechter (aus der Gräbersymbolik der Alten, in Thomas Manns Ausgaben unter jenem Obertitel »Der Sumpf und seine Gewächse« abgedruckt und dort mit mehreren An- und Unterstreichungen versehen). Die Rezension erschien in den Zwanzigerjahren, aber noch vor den drei großen Ausgaben. Sie stammt, nicht ganz zufällig, von Hermann Hesse. Hesse, dessen eigenes Erzählwerk vielfältige, zum größeren Teil noch ungehobene Bezüge zu Bachofen aufweist,34 war über seine damalige Ehefrau, Maria, geborene Bernoulli, verwandt mit dem Editor einer jener drei Bachofen-Ausgaben (der für Thomas Mann späterhin wichtigsten, deren drei Bände dieser alle je doppelt besaß).35 Er könnte also mittelbar sogar an der Beseitigung des Mißstands beteiligt gewesen sein, den er hier implizit registriert. Die Art, wie er das Desiderat einer größeren Edition artikuliert, läßt im übrigen auch die Möglichkeit einigermaßen plausibel erscheinen, in den älteren Werken Thomas Manns allfällige Affinitäten zu Bachofen als solche zu beschreiben, ohne gleich ein ansonsten unnach32 33 34
35
Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.2, S. 710. Vgl. Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und Urreligion. Eine Auswahl, hg. v. Rudolf Marx, Leipzig: Kröner, o. J. [1926] (Kröners Taschenausgabe, Bd. 52). Vgl. Serena Failla, Matriarchatsphantasien bei Hermann Hesse [erscheint voraussichtlich 2011]; Veldon J. Bennett, The Role of the Female in the Works of Hermann Hesse, Ann Arbor (Michigan): University Microfilms, 1972; Soheir Gohar, Der Archetyp der Großen Mutter in Hermann Hesses Demian und Gerhart Hauptmanns Insel der Großen Mutter, Frankfurt a. M. et al.: Lang, 1987 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 936); Claudia Karstedt, Die Entwicklung des Frauenbildes bei Hermann Hesse, Frankfurt a. M. et al.: Lang, 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 650); Lubich, Bachofens Mutterrecht, Hesses Demian und der Verfall der Vatermacht, S. 150–158; Edmund Remys, Hermann Hesse’s Das Glasperlenspiel. A Concealed Defense of the Mother World, New York et al.: Lang, 1983 (American University Studies, Series I, Bd. 19). Vgl. René Bernoulli-Sutter, Die Familie Bernoulli, Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1972, Tafel 1 und 2.
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weisbares Studium seiner Texte vorauszusetzen, das heißt, sie als Reflexe einer ›umwegigen‹, indirekt-diffusen oder, mit Manns schon einmal zitiertem Adjektiv, »atmosphärische[n]« ›Beeinflussung‹ zu verstehen: Wir Verehrer des Basler Gelehrten Bachofen […] waren bisher ein überaus kleiner Kreis, doch hat seit Jahrzehnten sein von uns geliebtes, sehr selten gewordenes Hauptwerk, das Mutterrecht, heimlich einen magischen Nimbus besessen und auf Umwegen das Leben dieser Jahrzehnte […] wesentlich beeinflußt […]. 36
Thomas Mann, und eben nicht nur er, begann Bachofen offenbar in einem sehr bewegten, auch das Verhältnis der Geschlechter stark bewegenden »Jahrzehnt[]« zu lesen. Bachofens Theorie scheint sich ihm und eben nicht nur ihm angeboten, ja geradezu aufgedrängt zu haben, um die rapiden gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen und zu bewältigen, die in Über die Ehe nur erst konstatiert und beschrieben sind. Bachofen gab ihm offenbar die Begriffe und Vorstellungen an die Hand, die die Zeitgeschichte so zu konzeptualisieren erlaubten, daß ›man‹ dem daran als unerhört Empfundenen gerecht werden konnte, ohne indessen an seiner männlichen Selbstachtung allzu großen Schaden zu nehmen. Auf diese Offenheit und Aktualisierbarkeit der Bachofenschen Konzepte weist bereits der vermutlich allererste Versuch Thomas Manns, Bachofens Theoreme außerhalb der Josephsromane literarisch fruchtbar zu machen.
4.1 Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis Thomas Manns mutmaßlich erster literarisch-produktiver Versuch, Bachofensche Konzepte in die unmittelbare, wenn auch noch nicht im strengsten Sinn die eigene Gegenwart gleichsam hineinzutragen, wurde als solcher, wie die folgenden auch, sowohl von der späteren Forschung als auch in der zeitgenössischen Rezeption vollständig übersehen. Mario und der Zauberer (beziehungsweise, wie die Erstpublikation noch betitelt war, Tragisches Reiseerlebnis 37) erschien wie gesagt ausgerechnet 1930, also im Jahr einer Weltwirtschaftskrise, die sich ex post als eine wesentliche Ursache für den Niedergang der Weimarer Republik und für die ›Machtergreifung‹ des Nationalsozialismus darstellt. Entstanden ist der Text aber, wie ebenfalls schon gesagt, im Sommer 1929; das heißt in einem Jahr, das politisch und 36 37
Hermann Hesse, [Rezension von:] Oknos, der Seilflechter. Von J. J. Bachofen, in: Vivos voco. Zeitschrift für neues Deutschtum 3, 1922/1923, S. 417; freundlicher Hinweis von Serena Failla, Bern, vom 1. Mai 2008. Thomas Mann, Tragisches Reiseerlebnis. Novelle, in: Velhagen & Klasings Monatshefte 44.8, 1930, S. 113–136.
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ökonomisch noch unter ganz anderen Auspizien begann und vor allem auch Thomas Manns eigene Lebensgeschichte und Berufskarriere auf einen Höhepunkt brachte, wie ihn eben die Verleihung des Nobelpreises für Literatur bildet. Und noch ein paar Jahre weiter reicht die Vorgeschichte der Novellenkonzeption zurück. Ihren eigentlichen Ursprung hatte diese offenbar in einem biographischen Reiseerlebnis (wie der Untertitel ja jetzt noch »Ein tragisches Reiseerlebnis« lautet). Dieses Erlebnis muß den Manns im Spätsommer 1926 an der ligurischen Küste, in Forte dei Marmi, widerfahren sein. Und zwar, um es genau zu nehmen, ist es ihnen wahrscheinlich nicht im »August« widerfahren, in den die erzählte Zeit der Novelle zu liegen kommt, sondern eher im »September«, welcher einem darin »[e]rnstlich« als die bessere Urlaubszeit empfohlen wird;38 eine, wie gleich noch zu zeigen, intertextuell vermutlich signifikante Differenz. Schon diese äußeren Daten sind für den hier interessierenden Zusammenhang bemerkenswert. Geschrieben hat Thomas Mann Mario und der Zauberer im Sommer des Jahrs, an dessen Anfang er jenen Artikel Zu Lessings Gedächtnis verfaßt hatte. Darin bekanntlich rief er den Namen »Bachofen…« kürzelhaft auf. Er gab damit eine Vertrautheit mit dem so selbstverständlich bezeichneten Korpus zu erkennen (von den Geschichten Jaakobs ganz zu schweigen, die damals eben im Entstehen waren –: beschränkte sich doch das wissenschaftliche Interesse an Thomas Manns produktiver Bachofen-Rezeption die längste Zeit und beschränkt es sich auch in der neuesten Forschung selbst dort noch auf die Josephsromane, wo es durchaus auch um seine Auseinandersetzung mit den Zwanzigerund Dreißigerjahren geht 39). Das zugrunde liegende »Reiseerlebnis« aber fiel in die zweite Hälfte des Jahrs, in dessen ersten Wochen, wie teils schon angedeutet und wie andernteils gleich noch en détail zu zeigen, Thomas Mann sich mit Bachofen ernsthaft zu beschäftigen begonnen hatte. Es ist also gut möglich oder sogar sehr wahrscheinlich, daß er das »Reiseerlebnis« von 1926 immer schon mit Bachofenschen Konzepten in Verbindung brachte: das heißt schon zu der Zeit, da es ihm und den Seinen widerfuhr; und nicht erst, als er dessen »Eindrücke« 40 aus der Erinnerung heraus literarisch bearbeitete.
38 39 40
Bd. 8, S. 660. Zu den Reisedaten vgl. Vaget, Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 222, vs. Gert Heine und Paul Schommer, Thomas Mann Chronik, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2004, S. 170 f. Vgl. z. B. Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 277, 279 f., 282 f. Bd. 11, S. 140.
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Konstitutiv für die literarische Bearbeitung und symptomatisch für die Insistenz ihres autobiographischen Substrats, aber vor allem auch bezeichnend für den Geltungsanspruch ihrer Zeitdiagnose ist schon die äußere Form der Erzählung. Wie nur wenige andere und wie zumindest keine der ›großen‹, kanonisch gewordenen Novellen des Autors ist Mario und der Zauberer in ›Ich-Form‹ 41 geschrieben. Der Text hat, anders gesagt, einen ›homodiegetischen‹ oder, wie der dafür habituelle, aber besonders irreführende Behelfsausdruck heißt, einen ›Ich-Erzähler‹ (als ob ein solcher nicht immer auch ein ›Er-Erzähler‹ wäre, um den seltenen, aber seit jeher – bereits bei Homer – gegebenen Fall einer Erzählform der zweiten Person 42 einmal beiseite zu lassen). Der Erzähler ist also zugleich Figur. Als solche wird er mit Merkmalen ausgestattet, die es näher legen als bei irgendeinem anderen Novellenoder Romanerzähler des Gesamtwerks, ihn mit dem realen Autor zu identifizieren – abgesehen allenfalls nur von zwei vergleichsweise sehr unbekannten Erzählungen, Das Eisenbahnunglück (1909) und Herr und Hund (1919) –: Ehemann, mehrfacher Familienvater und deutscher Bildungsbürger pur et dur (nach Ausweis zum Beispiel diverser musikalischer und literarischer Aperçus und vor allem seiner sehr gewählten, mit lateinischem und griechischem Lehngut angereicherten Sprache). Alles dagegen, was es einem erlaubte, fiktiven und realen Autor eindeutig auseinanderzuhalten, wie etwa Beruf oder Name (die Namen auch von Frau und Kindern), fällt unter die Leerstellen des Texts. Und wie verführerisch nahe es läge, diese Leerstellen eigenmächtig mit den Daten des realen Autors zu füllen, zeigt mit peinlicher Deutlichkeit Klaus Maria Brandauers Verfilmung von 1994: »Bernhard Fuhrmann / ein deutscher Schriftsteller«, verheiratet obendrein mit einer Frau, die, ganz anders zwar als Katia Mann, einen jüdisch markierten Vornamen trägt: »Rachel«.43 Noch weiter getrieben wird die ihrerseits fast schon ›hypnotisch‹ starke Suggestion von Faktualität – und in eins damit eben auch der Ver41 42
43
Vgl. Petersen, Erzählsysteme, S. 53. Vgl. z. B. Homerus, Odyssea, hg. v. Peter von der Mühll, Stuttgart: Teubner, 1984 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), S. 253, 256, 268 (XIV, V. 60, 135, 464); S. 282 (XV, V. 324 [bzw. 325]); S. 320 f., 324, 328, 331 (XVII, V. 272, 311, 380); S. 411 (XXII, V. 194); ders., Ilias, hg. v. Martin L. West, Bd. 2: Rhapsodias XIII–XXIV, Stuttgart: Teubner, 2000 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), S. 100, 132, 137 (XVI, V. 20, 744, 843); Johann Wolfgang von Goethe, Hermann und Dorothea, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 50, S. 187–267, hier S. 243 (VI, V. 298, 302); S. 250 (VII, V. 173). Mario und der Zauberer. Ein Film von Klaus Maria Brandauer. Frei nach der Erzählung von Thomas Mann, Berlin: Senator Film o. J. [Broschüre], S. 6; im Original keine Hervorhebung.
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bindlichkeitsanspruch der vorgelegten Gesellschaftsanalyse – durch die sehr besondere Kommunikationssituation, in die die Erzählerfigur eingebettet ist und die sich so weder im Eisenbahnunglück noch in Herr und Hund findet. Der anonyme Erzähler, dem man als solchem seine Fiktionalität also nicht mehr beweisen kann, richtet sich wiederholt direkt an eine intendierte Leser- oder Hörerschaft. Er verhält sich selbstverständlich auch hierin wieder wie der Hypnotiseur und »Zauberer«, von dem seine Erzählung hauptsächlich handelt – »Zauberer« war bekanntlich pro domo ein Name des realen Autors –: »Mögen Sie das? Mögen Sie es […]?« »Sie haben recht […]. Aber rechnen Sie hier […].« »[A]uch da haben Sie recht […].« »[G]eben Sie es zu«! »Auch langweile ich Sie nicht […].« »Unfehlbar werden Sie mich fragen […], – und ich muß Ihnen die Antwort schuldig bleiben.« 44 Wann immer der ›homodiegetische‹ Erzähler also sein Publikum anredet, dann in der Höflichkeitsform. Mit anderen Worten: Er vermeidet jeweils die Redeform, die in der fiktionalen Erzähltradition für solche Anreden vorgegeben ist oder wäre. Er erlaubt sich nicht, seinen ›lieben‹ oder ›geneigten‹ Leser zu duzen. Er nimmt diese Lizenz gerade nicht in Anspruch, die und weil sie als solche, als ›poetische Lizenz‹, die Fiktionalität jedes Texts auswiese, der sich ihrer bediente. Sondern er adressiert seine Hörer- oder Leserschaft mit dem realiter gehörigen An- und Abstand. Er verhält sich damit genau so, wie es der reale Autor in einer faktualen Gesprächssituation täte (beziehungsweise es eben tatsächlich tut). Die Merkmale nun, die es ermöglichen oder erleichtern, den fiktiven mit dem realen Autor gleichzusetzen und die Sozialdiagnose des Texts also um so ernster zu nehmen, konstituieren die Rolle, in der der Erzähler als Figur agiert oder auch nicht agiert, zu agieren versäumt. Die entsprechenden Verben stehen regelmäßig im Plural der ersten Person. Dabei läßt das Personalpronomen, »wir«, ebenso regelmäßig supplieren, wer alles damit gemeint ist: entweder der Erzähler und seine Frau; oder dann der Erzähler, seine Frau und beider Kinder. Der Erzähler figuriert damit schon formal wesentlich als Mann und Ehemann, als Vater und Familienvater. Und in der bildungsbürgerlich gepflegten Sprache seiner Erzählung, in die ziemlich oft fremdsprachliche Zitate eingelassen sind und die so gegen die direkten und »populäre[n]« 45 Reden der Italiener abgesetzt wird, erscheint er natürlich immer schon als Deutscher, aber eben auch als Angehöriger eines ganz bestimmten und genau bestimmbaren Klassensegments.
44 45
Bd. 8, S. 664 f., 690, 694. Bd. 8, S. 665.
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Seine Merkmale stehen somit dem diametral gegenüber, wovon seine Erzählung handelt. Italien, als erstes und damals noch einziges faschistisches Land, steht oder stand jedenfalls 1926 respektive 1929 in doch wohl offensichtlichem Gegensatz zur nationalen Identität des Erzählers, da in dessen ›Vaterland‹ ja seinerzeit noch vergleichsweise sehr liberale Verhältnisse herrschten. Die faschistisch-nationalistische Massenbewegung steht in Gegensatz zur ›meritokratisch‹ gehobenen Persönlichkeit des Bildungsbürgers oder virtuell auch zu sozial distinkter Identität als solcher. Und in Gegensatz geraten die italienischen Zustände vor allem auch zur Männlichkeit und Vaterschaft des Erzählers (wobei bemerkenswerter-, aber schwer erklärlicher- und desto erstaunlichererweise das deutsche Eheglück auch in Brandauers hier eigentlich gerade sehr freier Verfilmung in Konflikt mit der italienischen Umgebung gerät: Im Film, in dem übrigens auch wiederholt Frauen mit Schußwaffen erscheinen, stören die Italiener das Ehepaar Fuhrmann wiederholt beim Liebesspiel.)
4.1.1 Orts- und Personennamen Die »Principe[ssa] X.« und die Männlichkeitskrise der Italiener In Mario und der Zauberer erscheinen männliche Figuren, soweit es Italiener sind, nicht viel anders als später dann im Doktor Faustus. Sie sind »abscheulich[]«.46 Sie leiden an ›Asthma‹, 47 »ekelerregend[]« 48 schlechter Haut, »akute[r] Unordnung des gastrischen Systems«: 49 »Mit einem Worte, ein Greuel.« 50 Sie sind »Angeber« 51 und »donnaiuol[i]«, 52 Pantoffel- und Frauenhelden. Wirklich heldenhaft ist rein gar nichts an ihnen, nicht einmal und erst recht nicht »das antikische Heldenjammergeschrei«,53 das einer von ihnen erhebt. Denn nicht nur widerstrebt solches Jammergeschrei, als »antikische[s]«, den längst gängigen Idealvorstellungen vom ›harten‹ Mann und dessen stolz verhaltener Art zu leiden; sondern es steht vor allem auch in einem peinlich-grotesken Mißverhältnis zu seinem »null und nichtig[en]«
46 47 48 49 50 51 52 53
Ebd. Bd. 8, S. 676, 678. Bd. 8, S. 665. Bd. 8, S. 684. Bd. 8, S. 666. Bd. 8, S. 669. Bd. 8, S. 679. Bd. 8, S. 665.
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Anlaß. 54 Es zeugt so von nichts anderem mehr als von »empörende[r] Wehleidigkeit«. 55 Und der sich darin ergeht und sich darin gefällt, ist denn auch schon seinem Namen nach »ein großer Feigling«,56 nämlich ein ›Davonläufer‹: »Fuggièro!« – ein, so scheint es, nirgends sonst belegbarer und daher um so deutlicher sprechender Vorname. 57 Fast samt und sonders erscheinen die Italiener ›korrupt‹ und »kriecherisch[]«. 58 Insbesondere »im Grand Hôtel« »liebediener[n]« sie der Frau »ein[es] Principe X.«, die glaubt, ein (deutsches) Kind könne »ihre Kleinen« »akustisch anstecken[]«.59 Dem paranoiden »Aberglauben« der Hotel»Nachbarin« beugt ›man‹ sich anstandslos, auch nachdem jener Arzt und »Diener der Wissenschaft«, rara avis, eine Ausnahmeerscheinung an »Geradsinn« und Integrität, »jede Bedenklichkeit« »verneint« hat. 60 ›Man‹ getraut sich »wohl nicht einmal […], ihr von« seinem »Votum Mitteilung zu machen«. 61 Der Erzähler und die Seinen müssen folglich in eine »Casa Eleonora« 62 umziehen (deren biographisches ›Modell‹ oder ›Vorbild‹ offenbar eine »Pensione Regina« abgab 63), ohne dort indessen den im Hotel beobachtbaren Geschlechterverhältnissen zu entkommen. Als »Besitzerin« 64 dieser Pension firmiert befremdlicherweise ganz allein eine doch regelrecht verheiratete Frau, verheiratet mit einem epithetis constantibus nur eben »stille[n] und kahle[n] Mann«. 65 Diese Allein-»Besitzerin«, die ihren Gästen »eigenhändig die Suppe auffüllt[]« 66 und an der damit etwas Mütterlich-Nährendes fixiert wird – genau wie an jener Nella Manardi des Doktor Faustus 67 –, hat ihre Pension »Eleonora« nach ihrer einstigen »Her-
54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Bd. 8, S. 666. Bd. 8, S. 665. Ebd. Ebd. Genetisch oder ›erlebnis‹-geschichtlich gesehen könnte dem Namen, wenn er denn nicht ganz frei erfunden sein sollte, eine bei rein auditiver Aufnahme leicht mögliche Verwechslung mit ›Ruggero‹ zugrunde liegen. Bd. 8, S. 663. Bd. 8, S. 661. Bd. 8, S. 661 f., 666. Bd. 8, S. 662. Bd. 8, S. 694. Vgl. Reinhard Pabst, Eine Sommerfrische namens Rauschen. Das große Verlangen nach der See: Ein glücklicher Manuskriptfund zu Thomas Manns Mario-Novelle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 2005, S. 52. Bd. 8, S. 662. Ebd.; vgl. Bd. 8, S. 673, 700. Bd. 8, S. 663. Bd. 6, S. 285. Vgl. Yahya Elsaghe, Der Mythus von Orient und Occident in Thomas Manns Doktor Faustus, in: Wirkendes Wort 55.3, 2005, S. 427–445, hier S. 445.
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rin« benannt68 (wie sie als solche der ›Königin‹ oder ›Königsfrau‹ im Namen des biographischen ›Modells‹ entspricht). Mit dieser »Herrin« betreibt sie einen ausdrücklich so genannten »Kult«. 69 Ihr »Kult«, heißt das, gilt der Zeit »vor ihrer Verheiratung«; und diese Zeit war »offenbar« die »große« und »glückliche« »Epoche« »ihres Lebens«:70 So sagt der Erzähler mit einem Wort, »Epoche«, das phylogenetischen Zusammenhängen, wie Bachofen sie behandelt, weit eher angemessen wäre als nur einem einzelnen »Leben[]«. – Die ›kultisch‹ verehrte »Herrin«, aber auch schon die Alleinbesitzerin der nach ihr benannten Pension bezeichnet den maximalen Abstand zu der je miserablen Figur, die die Italiener hier so gut wie ausnahmslos machen (bis auf den unbestechlichen »Diener der Wissenschaft« allenfalls, der indessen nicht ernstgenommen wird, sich nicht durchzusetzen vermag). Das starke Gefälle zwischen der Imposanz weiblicher und der Kläglichkeit männlicher Figuren kann man ohne weiteres mit Bachofen interpretieren. Die Berechtigung und Richtigkeit solch einer Interpretation erweist insbesondere auch schon der konkrete Wortlaut des Texts. Wortwahl (»Epoche«) und Namensgebung lassen sich immer wieder direkt oder mittelbar auf Bachofens Vorstellungsarsenal zurückführen. Zum Beispiel wird Italien zum Faschismus, heißt es im Text: »erweckt[]«. 71 Das Verb und seine Ableitungen nehmen beim späteren und späten Thomas Mann nicht von ungefähr regelmäßig eine erotische Bedeutung an: so gerade auch in der Betrogenen (»mein süßer Erwecker« sagt Rosalie zu ihrem Geliebten); 72 in den Josephsromanen (auch Joseph ist der »Erwecker« einer – verheirateten – Frau);73 im Doktor Faustus (im Zusammenhang mit der »Weiblichkeit«, die Helmut Institoris »als Gatte« und »Erwecker« »nicht für sich«, sondern nur für einen anderen in Ines »erwecken« darf); 74 und ganz besonders häufig in der orientalisch-»indische[n] Legende« von den Vertauschten Köpfen;75 aber bezeichnenderweise 68
69 70 71 72 73 74 75
Bd. 8, S. 662 f.; im Original keine Hervorhebung. Zur Rolle Eleonora Duses schon in der anderen großen ›italienischen‹ Novelle vgl. Elisabeth Galvan, Aschenbachs letztes Werk. Thomas Manns Tod in Venedig und Gabriele d’Annunzios Il Fuoco, in: Thomas Mann Jahrbuch 20, 2007, S. 261–285. Bd. 8, S. 663. Bd. 8, S. 662 f.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 676. Bd. 8, S. 945, auch S. 901. Vgl. Margot Ulrich, »…diese kleine Mythe von Mutter Natur«. Zu Thomas Manns letzter Erzählung Die Betrogene, in: Rudolf Wolff (Hg.), Thomas Mann. Erzählungen und Novellen, Bonn: Bouvier, 1984, S. 121–134, hier S. 128. Bd. 5, S. 1090, 1093. Bd. 6, S. 395, 439; vgl. S. 442. Bd. 8, S. 760–762, 785 f., 794.
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noch nicht im Zauberberg, dessen Vollendung ja noch hart vor Thomas Manns Bachofen-Lektüre gefallen war. Die einschlägigen, das heißt die Belege, die für die erotische Bedeutung von ›erwecken‹, ›Erweckung‹, ›Erwachen‹ und so fort relevant sind, beziehen sich mit nur einer (vielleicht bezeichnenden) Ausnahme auf die ›erweckte‹ Sexualität immer einer Frau (beziehungsweise – bei der Ausnahme der »erweckte[n] Männlichkeit« – eines androgynen Jünglings, der noch dazu dagegen revoltiert, »ins leidend Weibliche herabgesetzt« zu werden »durch einer Herrin männisches Wesen« 76). Schon deswegen ist es mehr als nur wahrscheinlich, daß diese spätere Verwendungsweise unmittelbar auf Bachofens Sprachgebrauch zurückgeht. Bei Bachofen nämlich erscheinen die entsprechenden Vokabeln regelmäßig im Zusammenhang mit der ihm offenbar zutiefst unheimlichen, einer sozusagen wildgewordenen weiblichen Sexualität. 77 Eine solche weiblich-promiske und weiblich-ehebrecherische Sexualität konnotiert zum Beispiel auch der bisher noch nicht befriedigend erklärte 78 Vorname der mütterlich-nährenden Pensionswirtin, die mit der »Epoche« ihrer »Herrin« und ihrer Ledigkeit einen kultischen Aufwand betreibt. Auf den Text, der einem das hierfür einschlägige Konnotat ihres Namens erschließt, weisen vielleicht schon einige Details ihrer Einführung, zumal sie für den Handlungsverlauf vollkommen entbehrlich wären. Die Haus-Herrin der »Pensione Eleonora« soll »in Florenz ein« noch »größeres Fremdenheim« betreiben. 79 Und »mit Vergnügen« hören der Erzähler und die Seinen »ihren in stakkiertem und klingendem Toskanisch vorgetragenen Erzählungen« zu. 80 Die Stadt – »Florenz« –; der Dialekt – »Toskanisch« –; aber auch die ›vergnüglich‹-orale, vor- oder protoliterarische Form, in der dieser ›klingende‹ Dialekt zur Geltung kommt – »Erzählungen« –: all das gälte ebenso für das Korpus, von dem sich die Gattung der ›Novelle‹ überhaupt erst herschreibt und dem Thomas Mann später bekanntlich auch den Namen jener Nella Manardi entnehmen sollte (wie er ihm übrigens bereits vier Jahrzehnte früher in Fiorenza fast zwei Dutzend Namen entnommen hatte 81).
76 77 78 79 80 81
Bd. 5, S. 1139; vgl. S. 1129. Bachofen, Gesammelte Werke, z. B. Bd. 2, S. 25, 59, 88, 92, 96, 141, 154, 156, 165, 186, 401; Bd. 4, S. 83, 124 f., 193, 274. Vgl. z. B. Vaget, Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 221. Bd. 8, S. 662. Bd. 8, S. 663. Vgl. Hanspeter Affolter, Reklame und Moderne in Thomas Manns Gladius Dei und Robert Walsers Der Gehülfe. Lizentiatsarbeit, Universität Bern, 2009, S. 24 f.
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Mit dem Namen schon der toskanischen Pensionsbesitzerin also, aber auch mit fast allen anderen Personennamen seiner Novelle, vom ersten (»Cipolla« 82) bis zum letzten (»Silvestra!« 83), griff Thomas Mann gewissermaßen auf die Anfänge der Gattung zurück. Boccaccios Decamerone (oder genau genommen, was zum Teil auch die Schreibungen anzeigen, August Gottlieb Meißners Übersetzung von 1782) diente ihm hier wie eben schon in Fiorenza als wahre Fundgrube für italienische Namen. Aus Meißners Dekameron stammt schon der Nachname der Wirtin beziehungsweise der Name ihres ›Mannes‹ – ›Name des Vaters‹ könnte man bei diesem »Männerchen« schon gar nicht sagen –: »Angiolieri« 84 (und nicht, wie von den kritischen Originalausgaben her zu erwarten wäre, »Angiulieri«; 85 so etwa auch »Silvestra«86 statt »Salvestra« 87). Die intertextuelle Beziehung, in der der Nachname »Angiolieri« zum Dekameron steht, erschöpft sich auch bei ihm nicht einfach in der positivistisch-quellenkritischen Nachweisbarkeit seiner Herkunft; sondern auch er versieht seinen Träger mit einer spezifischen, hier sehr relevanten Konnotation. Man braucht dessen Eigenschaften nur einmal etwas näher an die Erzählung zu halten, in der Thomas Mann den Namen fand oder suchte: »Angiolieri« (oder eben »Angiulieri«) heißt in der vierten Novelle des Neunten Tags ein notorischer Versager und ewig Düpierter, der obendrein seinen Vater leidenschaftlich haßt, ohne doch von ihm und seiner Unterstützung je loskommen zu können. »Der arme Herr Angiolieri, still und kahl!«, wird keines Vornamens gewürdigt. 88 Den Vornamen der Frau dagegen erfahren die Leser wie auch die Pensionsgäste zwar nachträglich, aber aus einer Szene, die gerade in dieser Nachträglichkeit ein desto grelleres Licht auf ihn wirft. Er wird gleichsam jählings genannt oder vielmehr gerufen: »›Sofronia!‹ […] (wir hatten gar nicht gewußt, daß Frau Angiolieri Sofronia mit Vornamen hieß)«.89 Den also auch den Erzähler »gar« erstaunenden ›Ruf‹-namen artikuliert ›Herr‹ Angiolieri »mit schwacher Stimme […] mehrmals«, als die so Gerufene dem »Zauberer« und »Verführer« folgt; und zwar »[m]ond-
82 83 84 85 86 87 88 89
Bd. 8, S. 658. Bd. 8, S. 708. Boccaccio, Das Decameron, Bd. 3, S. 120. Giovanni Boccaccio, Il Decameron, hg. v. Aldo Francesco Massera, Bari: Laterza & Figli, 1927 (Scrittori d’Italia, Bd. 97/98), Bd. 2, S. 202; im Original keine Hervorhebung. Boccaccio, Das Decameron, Bd. 2, S. 71; Thomas Manns Hervorhebung. Boccaccio, Il Decameron, Bd. 1, S. 321; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 700. Bd. 8, S. 699.
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süchtigen Ausdrucks«, also im Zeichen einer ›lunarischen‹ Irrationalität. 90 Der Vorname fällt mithin in einer Szene, in der »das Anrüchige« 91 der »[o]kkulten« 92 Veranstaltung patent sexuelle Gestalt anzunehmen droht. Dabei weisen solche olfaktorischen und visuellen (oder besser vielleicht anoptischen) Metaphern nicht von ungefähr auf die entsprechenden Isotopien der Betrogenen zurück beziehungsweise voraus:93 In der ›anrüchig‹-›okkulten‹, »zweideutig-unsauberen«94 Szene beginnt sich zwischen Angiolieri, »sein[em] Weib« 95 und dem »Zauberer« eine Dreieckskonstellation aufzutun, wie sie Thomas Mann verschiedentlich auch wieder im Doktor Faustus oder in der frivolen Erzählung von den Vertauschten Köpfen ausphantasierte. Vor allem aber liegt eine solche Konstellation, eine quasi ›hetäristische‹ Polyandrie der Frau, in der Erzählung des Dekameron vor, der siebten des letzten Tags, aus der er unter all »den Ränken, welche Weiber zur Befriedigung […] ihrer Lüste den Männern […] gespielt haben«, den Namen so eines »Weib[s]« auf Sofronia Angiolieri übertrug. Dabei übrigens gibt es ein Dreieck dieser Art auch schon in der zweiten Erzählung des Siebenten Tags, der sich ja thematisch ganz auf so beschaffene »Ränke[]« beschränkt: das heißt in derjenigen Erzählung, in der Thomas Mann den Namen für die späte Wiedergängerin Sofronia Angiolieris finden oder suchen sollte, jene ihrerseits mütterliche Hauswirtin im Italien des Doktor Faustus, Nella-Peronella Manardi. Auch der Name des »Zauberer[s]« selbst stammt, wie eben schon erwähnt, aus dem Dekameron. Damit wurde in der Forschung freilich schon seit längerem spekuliert, neben der Gegenthese, daß Thomas Mann den Namen aus einem Roman habe, den sein Bruder 1909 veröffentlicht hatte. 96 Ganz am Anfang von Heinrich Manns Kleiner Stadt, die auch sonst etliche Ähnlichkeiten mit der Handlung und den Lokalia von Mario und der Zauberer aufweist – zum Beispiel soll die »kleine Stadt« am früheren »Platz« eines alten »Venustempel[s]« stehen 97 –, kommt eine hochadelige, aber verarmte »Fürstin Cipolla« vor. 98 Daß auch sie diesen ausgefallenen und 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Ebd. Bd. 8, S. 704. Bd. 8, S. 691. Vgl. Yahya Elsaghe, »Vom Moschusgeruch des Exkrementhaufens«. Mythos und Ideologie in Thomas Manns Die Betrogene, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73.4, 1999, S. 692–709. Bd. 8, S. 691. Bd. 8, S. 699. Vgl. Vaget, Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 220. Heinrich Mann, Die kleine Stadt, hg. v. Alfred Kantorowicz, Berlin: Aufbau, 1951 (Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3), S. 51; im Original keine Hervorhebung. Heinrich Mann, Die kleine Stadt, S. 9.
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auffälligen Namen trägt, kann natürlich kein Zufall sein. Es braucht aber doch nicht zu heißen, daß Thomas Mann ihn von hier übernommen hat. Ebenso gut könnte Heinrich Mann hier aus derselben Quelle geschöpft haben wie sein Bruder (die Thomas Mann später sogar selbst halb und halb als solche preisgab: »I believe Cipolla is even mentioned in Boccaccio.« 99) Und so muß es in der Tat gewesen sein. Denn die ganze Kontroverse um die Herkunft des Namens »Cipolla« erübrigt sich,100 sobald man etwas tiefer in die betreffende Novelle des Dekameron hineinsieht. Mit der Figur, die dort »Cipolla« heißt, weist Thomas Manns Hypnotiseur mehr spezifische Gemeinsamkeiten auf – angefangen schon bei ›sex‹ und ›gender‹ –, als sich über Die kleine Stadt und jene »Fürstin« erklären ließen. In der zehnten Novelle des Sechsten Tags, also in fast unmittelbarer Nachbarschaft zur ehebrecherischen Peronella, taucht der Name in einem Zusammenhang auf, der mit Thomas Manns Handlungsregie grob, aber eben doch offensichtlich übereinstimmt. »Cipolla« heißt auch bei Boccaccio ein ausgepichter Scharlatan, um es mit einem Wort zu sagen, das Thomas Manns Erzähler auf den modernfaschistoiden »Zauberer« münzt. Der so benannte »Typus« jedoch wird an Ort und Stelle historisch perspektiviert: Dem alten »Typus des Scharlatans«, so der Erzähler, könne »man nur in Italien noch in ziemlich wohl erhaltenen Beispielen begegnen«.101 Der italienische Scharlatan führt auch bei Boccaccio eine ganze Menschenmenge hinters Licht. Und auch bei Boccaccio tut er das im Monat August, 102 den der Erzähler von Mario und der Zauberer schon sehr bald einmal eigens zum Thema seiner Klage über die Hochsaison macht 103 (und der im übrigen ja auch in der Betrogenen den Rahmen abgeben wird für ein ausgesucht »fiese[s]« und »widerwärtig[es]« Vorkommnis 104).
99 100
101 102 103 104
Brief vom 11. Oktober 1945 an Charles Duffy; Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/II: 1918–1943, S. 371. Vgl. dagegen Juri Auderset, Vom Zauber der Macht. Zur Intertextualität zwischen Thomas Manns Mario und der Zauberer und E. T. A. Hoffmanns Der Magnetiseur und Der Sandmann, in: Sprecher (Hg.), Thomas Mann und das »Herzasthma des Exils«, S. 257–283, hier S. 262 f. Bd. 8, S. 674. Boccaccio, Das Decameron, Bd. 2, S. 203, 205. Bd. 8, S. 660. Bd. 8, S. 887.
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Die Ortsnamen dagegen scheint Thomas Mann nicht der Literatur entnommen zu haben.105 Der wichtigste Ortsname jedenfalls, »Torre di Venere«, scheint nirgends sonst belegt zu sein. Thomas Mann hat ihn offenbar dem formalen Muster von ›Forte dei Marmi‹ nachgebildet oder einfach ›frei‹ erfunden. Desto signifikanter ist seine appellativische Bedeutung. »[D]er Zauberer« selber bringt ihn zum Sprechen: »torregiano di Venere, […] Türmer der Venus«,106 »›venerazione‹ ›vénération‹«,107 »den reizenden Mädchen von Torre di Venere…« 108 Wenn Cipolla den Namen wiederholt auf die »Mädchen von Torre di Venere…« bezieht, gegen deren »Liebling[e]« er »zu sticheln« nicht aufhören kann, 109 dann gibt das vermutlich einen zusätzlichen Hinweis auf die Stoß- oder ›Stich‹-richtung dieses Namens, auf dessen sexualsymbolische Suggestivität. Einer entsprechenden Interpretation des Namens, die es also auf die Bildlichkeit seiner Bedeutung abgesehen hat, seinen sozusagen weiblich-verkehrten Phallizismus, scheint sich freilich schon die erste Seite der Novelle zu widersetzen. Denn die appellativische Bedeutung des Ortsnamens wird dort ausdrücklich zum Thema, aber eben auch zum Problem, und sei es nur beiläufig; wobei allerdings das Adverb, »übrigens«, das die scheinbar nebensächliche Bemerkung mit deren Kontext logisch verknüpft, bei Thomas Mann nahezu »[u]nfehlbar« eine ironische Funktion annimmt und, wie etwa bei jenem »(übrigens rheinische[n] […])« Papierindustriellen des Doktor Faustus, gerade die Wichtigkeit einer Information anzeigt: 110 »Torre di Venere, wo man sich übrigens nach dem Turm, dem es seinen Namen verdankt, längst vergebens umsieht […].« 111 Der Ort scheint seinen Namen somit gar nicht zu verdienen. Und insofern dürfte man prima facie zweifeln, ob sich die hierher lokalisierten Ereignisse im Namen und im Zeichen der Venus-Aphrodite überhaupt noch abspielen können. Doch näher besehen ist es gerade die nebenbei bemerkte Absurdität des Ortsnamens, die dazu berechtigt, seine appellati-
105 Von der faktualen Literatur könnte allenfalls der Name der »Marina Petriera« (Bd. 8, S. 659) inspiriert sein, durch ein Gut der Medici, Pietrasanta e Marina, nahe Forte dei Marmi gelegen; freundlicher Hinweis von Clarissa Turi, Bern, vom 31. Juli 2008. Zur anderweitigen Interpretation des Namens vgl. Egon Schwarz, Thomas Manns Mario und der Zauberer, in: Italo Michele Battafarano (Hg.), Italienische Reise. Reisen nach Italien, Gardolo di Trento: Reverdito, 1988, S. 349–376, hier S. 357 f. 106 Bd. 8, S. 684. 107 Bd. 8, S. 692. 108 Bd. 8, S. 706. 109 Bd. 8, S. 678. 110 Vgl. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 247 f. 111 Bd. 8, S. 658.
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vische Bedeutung mit einer ›aphroditisch‹-›hetäristischen‹ Artung dieser Ereignisse zusammenzubringen. In eins mit der Sinnlosigkeit des Ortsnamens konstatiert der Erzähler ja implicite auch dessen vorzeiten einmal gegebene Motiviertheit; und zwar konzediert er diese um den Preis einer leichten Störung des fiktionalen Arrangements. (Denn wie will ein solcher Tourist überhaupt wissen, wonach »man« sich vor Ort »längst vergebens umsieht«?) Der Ort verdient seinen Namen zwar nicht, aber er verdient ihn auch nicht mehr. Die Unsinnigkeit seines Namens reflektiert nur dessen unvordenklich hohes Alter. Der Name also, der den Ort mit der antiken Liebesgöttin in Verbindung bringt, muß aus einer vorhistorischen Zeit stammen, an deren Kultur keine archäologische Spur mehr, sondern allein noch er selber erinnert. Diese Situation entspricht nun allerdings ganz genau dem Befund, mit dem sich Bachofen konfrontiert sah. Denn das seinerzeit Faszinierende (wie auch das heute Fragwürdige) der Bachofenschen Methode bestand (beziehungsweise besteht) ja gerade darin, Aussagen über die Geschlechterverhältnisse einer »längst« vergangenen Zeit zu wagen, von der eigentlich gar nichts mehr erhalten blieb und die sich deshalb nur noch spekulativ erschließen läßt. Ihre hauptsächlichen Anhaltspunkte aber fand Bachofens Spekulation nicht nur in Kult und Religion, in Mythen und Märchen, sondern unter anderem auch, wie an einer weiteren Göttin gleich noch zu zeigen, in Eigennamen und deren appellativischen Bedeutungen. Der Ort und was an ihm geschieht steht a limine und ex nomine unter der Herrschaft der Aphrodite. Oder vielmehr kommt er wieder, wie mutmaßlich bereits einmal in jener nur noch in seinem Namen erinnerten Vorzeit, unter die Herrschaft der Aphrodite und all dessen zu stehen, was sich nach Bachofens Vorstellungen mit ihr verbindet. Solche Vorstellungen scheinen nun insbesondere auch der Veranstaltung zugrunde zu liegen, an der »ganz Torre« 112 zugegen ist. Bei dieser Veranstaltung hat es »der Zauberer« ja mit seinen ›Sticheleien‹ von Anfang an vor allem auf die »Männlichkeit von Torre di Venere« abgesehen, genauer zitiert auf die »autochthone Männlichkeit« des Orts:113 ein selbst für Thomas Manns Bildungsprosa auffallend erlesenes Adjektiv und Fremdwort. ›Autochthon‹ findet sich im Gesamtwerk zuvor, vor Mario und der Zauberer, nur noch einmal, und
112 Bd. 8, S. 673. 113 Bd. 8, S. 672.
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dort, in Herr und Hund, in botanisch-fachsprachlicher Verwendung. 114 Das Wort wäre hier also einigermaßen interpretationsfähig. Interpretieren könnte man es seinerseits als Teil einer ›tellurisch‹- oder eben ›chthonisch‹-›aphroditischen‹ Isotopie des Texts; und das um so mehr, als das Simplex »chthonisch« 115 mit seinen Ableitungen – »Chthonismus«,116 »das […] Chthonische«,117 »das Mütterlich-Chthonische« 118 und dergleichen – überhaupt erst seit 1926, dann aber massiv in den aktiven Wortschatz Thomas Manns eindrang, also unmittelbar nachdem dieser Bachofen zu rezipieren begonnen hatte. Auffallend viele Belege finden sich dabei übrigens im Entstehungsjahr von Mario und der Zauberer: einer in der Rede über Lessing, 119 die Thomas Mann Anfang des Jahrs zur Feier jenes zweihundertsten Geburtstags an der Preußischen Akademie der Künste, und nicht weniger als vier in einem Vortrag, den er nur Wochen vor der Niederschrift der Novelle an der Münchener Ludwig-MaximiliansUniversität hielt, Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte – demselben Vortrag, in dem er auch nominatim auf den »Juristen der Mutterherrschaft« zu sprechen kam. 120 Seinen »autochthone[n]« Opfern nimmt Cipolla ihre »Männlichkeit«. Er erniedrigt ihre »Kräfte[]«.121 Er bricht die »Versteifung[en]« ihres »moralische[n]« Bewußtseins.122 Selbst einem »hoch und breit gebaut[en]« Herrn und »schnurrbärtig stattlichen Colonnello« entschieden »militärischen Ansehens« knickt er recht eigentlich die ›Potenz‹: »Er«, der Colonnello, »schien zu wollen und nicht zu können […].« 123 Und vor allem natürlich demütigt Cipolla in dessen sexueller, heterosexuell-männlicher Identität den ›Prot‹-agonisten, wie ihn der jetzige, hierin schon etwas absonderliche Haupttitel der Novelle als solchen definiert (der eventuell auch nur der formalästhetischen Faustregel der wachsenden Glieder geschuldet ist). Sein Name, Mario, der so noch vor den eigentlichen Novellentext zu stehen kommt, stammt ausnahms- und sehr bezeichnenderweise nicht aus dem Dekameron. Sondern dieser »antike[] Name« geht auf die »heroischen Überlieferungen 114 Bd. 8, S. 562. Vgl. die jüngeren bzw. die gleichalte Stelle: Bd. 2, S. 729; Bd. 6, S. 264; Bd. 10, S. 732 f.; Bd. 11, S. 978; Bd. 13, S. 485. 115 Bd. 9, S. 245 [1929]; Bd. 10, S. 261, 266 f., 273 [je 1929]; Bd. 11, S. 38 [1926], 698 [1952], 865 [1930], 1143 [1945]; Bd. 12, S. 662 [1931]; Bd. 13, S. 861 [1944]. 116 Bd. 12, S. 659 [1931]. 117 Bd. 11, S. 175 [1949], 315 [1950]. 118 Bd. 11, S. 877 [1930]; Bd. 12, S. 773 [1935]. 119 Bd. 9, S. 245. 120 Bd. 10, S. 261, 266 f., 273. 121 Bd. 8, S. 700. 122 Ebd. 123 Bd. 8, S. 698.
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des Vaterlandes« zurück. 124 Von den Überlieferungen der römischen Geschichte her führt er das Konnotat eines »tapfere[n] Krieger[s] und tüchtige[n] Feldherr[n]« mit sich, 125 welcher Italien von Jugurtha 126 und damit gewissermaßen von ›Afrika‹ befreite. Gerade auch schon über dieses »heroische[]« Konnotat des Namens mokiert sich Cipolla. So verspottet er Mario etwa, den Kellner, als »Ritter der Serviette«. 127 Am eh und je kontroversen Schluß der Novelle freilich gelangt das so kassierte Konnotat vielleicht, aber vielleicht auch nicht oder nur halbwegs wieder zu seiner Geltung zurück. Denn Mario rächt sich zwar mit eigener, einer »ungewöhnlich[]« und ›auffallend‹ »nob[]l[en]« 128 »Hand« 129 (die er mit Ken Keaton gemeinsam hat 130). Seine Rache ist so gesehen und an sich ein ›männlich‹-martialischer Akt. Dieser aber wird durch die Sexualsymbolik der Tötungsszene sonderbar verzweideutigt. Mario erschießt Cipolla »mit auseinandergerissenen Beinen« und mittels einer Waffe, deren Phallizität »fast« bis zur Parodie zurückgenommen ist: einer »kleine[n], stumpfmetallne[n], kaum pistolenförmige[n] Maschinerie« mit »fast nicht vorhandene[m] Lauf«.131 Cipolla seinerseits, mit seinem Asthma, 132 seinem Buckel, seinem »Schnurrbärtchen«, 133 seinen »schadhaft[en] […] Zähnen« 134 – wie bei Schildknapp in sexualsymbolisch signifikantem Unterschied zu Rosalie von Tümmlers erwähnenswert gutem Gebiß135 – bringt es zur Not zu einer eben nur »komödiantische[n] Ritterlichkeit«.136 Er ist weniger ein »Cavaliere« 137 als die Karikatur eines solchen. Wegen seines »Leibesschaden[s]«, genau wie dann wieder Schildknapp, Leverkühn und ihresgleichen, war er »außerstand […], am Kriege für die Größe des Vaterlandes teilzunehmen«.138 Und er rückt zuletzt selber auch noch in die »Rolle[]« 139 124 Bd. 8, S. 706; im Original keine Hervorhebung. 125 Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 11, Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 51897, S. 948, s. v. ›Marius‹. 126 Vgl. Schwarz, Thomas Manns Mario und der Zauberer, S. 351 f. 127 Bd. 8, S. 709; im Original keine Hervorhebung. 128 Bd. 8, S. 705. 129 Bd. 8, S. 711. 130 Bd. 8, S. 896. 131 Bd. 8, S. 711; im Original keine Hervorhebung. 132 Bd. 8, S. 676, 678. 133 Bd. 8, S. 674; im Original keine Hervorhebung. 134 Bd. 8, S. 675. 135 Bd. 8, S. 902, 941. 136 Bd. 8, S. 700. 137 Bd. 8, S. 670 f., 674, 676, 684–689, 694 f., 698–705, 707 f. 138 Bd. 8, S. 678.
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eines »Mädchen[s]« 140 ein, wenn er, »Cipolla«, sich von Mario »nahe dem Mund« küssen läßt. 141 Auch die Wortsemantik übrigens seines morphologisch-formal gewissermaßen ›femininen‹ Namens, den schon Heinrich Mann einer Frau angehängt hatte, kann in diesem Kontext weiblich sexuiert werden (wenn man sich zu diesem Zweck über einen freilich anderthalb Jahrzehnte jüngeren Selbstkommentar des Autors hinwegzusetzen bereit ist: »I did not have the slightest symbolical intention when naming the magician Cipolla.« 142) Die appellativische Bedeutung des Namens »Cipolla« wird jedenfalls schon bei Boccaccio thematisch.143 Von Bachofen her gelesen, verweist sie auf ein dezidiert weibliches ›Symbol‹. Und in diesem »herrscht die finstere Naturseite über die helle vor«: »Mit der […] Zwiebel verbindet sich zugleich die Idee des Muttertums und der Todesgedanke […].« 144 Bei den sadistischen Demütigungen der »autochthone[n] Männlichkeit« spielt »die Hauptrolle« in gewissem Sinn weniger Cipolla selber als vielmehr, neben dem hochprozentigen Alkohol, den er zu sich nimmt, 145 »dies beleidigende Symbol seiner Herrschaft«, mit dem er, »unpassenderweise«, 146 ausstaffiert ist: »eine Reitpeitsche mit klauenartiger silberner Krücke«,147 »die Reitpeitsche mit […] Klauengriff«.148 Diese meistens einfach nur so, zur Abwechslung auch »Fuchtel« 149 oder »Ledergerte« 150 genannte »Reitpeitsche« 151 bedenkt der Erzähler endlich mit einer ziemlich auffälligen (und, wie gleich zu zeigen, eigentlich unnötig verqueren) Metapher: »Stab der Kirke«. 152 139 140 141 142
143 144 145
146 147 148 149 150 151 152
Bd. 8, S. 691. Bd. 8, S. 708. Bd. 8, S. 710. Brief vom 14. Dezember 1945 an Charles Duffy; Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/II: 1918–1943, S. 372. Zur Unzuverlässigkeit von Thomas Manns Selbstkommentaren vgl. z. B. die irreführende Verschweigung seiner hauptsächlichen Inspirationsquelle für Lotte in Weimar (Felix A. Theilhaber, Goethe. Sexus und Eros, Berlin-Grunewald: Horen, 1929): Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 316–325. Vgl. Boccaccio, Das Decameron, Bd. 2, S. 203. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 126; vgl. Bd. 1, S. 391 f.; mit Lesespuren Thomas Manns. Vgl. Klaus Müller-Salget, Der Tod in Torre di Venere. Spiegelung und Deutung des italienischen Faschismus in Thomas Manns Mario und der Zauberer, in: ders., Literatur ist Widerstand. Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Innsbruck: o. V., 2005 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, Bd. 69), S. 89–104, hier S. 98. Bd. 8, S. 675, 697. Bd. 8, S. 675. Bd. 8, S. 697. Ebd. Bd. 8, S. 703. Bd. 8, S. 677, 684 f., 688, 697 f., 708, 710. Bd. 8, S. 703.
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Die Metapher, »Stab«, deren Bildlichkeit die Elastizität einer ›Peitsche‹ seltsam verfehlt, scheint der ›Verstocktheit‹ der Schultradition und dem Beharrungsvermögen der altgriechisch-deutschen Übersetzungskonventionen geschuldet zu sein. In Gustav Schwabs einst weit verbreiteten Sagen des klassischen Altertums (1838–1840) 153 zum Beispiel oder auch in Friedrich Nösselts Lehrbuch der griechischen und römischen Mythologie für höhere Töchterschulen und die Gebildeten des weiblichen Geschlechts (1828),154 das Thomas Manns Mutter besaß und über das dieser mit den antiken Mythen allererst in Berührung kam, 155 erscheint bei einer Paraphrase der Odyssee ein »Stab« oder »Zauberstab« der Kirke als eben habitualisierte 156 Übersetzung von ૧ȐȕįȠȢ. 157 Dabei könnte man an dieser Stelle, auf die übrigens die volkstümliche Vorstellung des ›Zauberstabs‹ überhaupt erst zurückzugehen scheint,158 die Homerische Vokabel durchaus auch sehr viel näher an ›Peitsche‹ übersetzen: mit ›Rute‹ – so Johann Heinrich Voß 159 –; mit ›Gerte‹ – so Wolfgang Schadewaldt 160 –, also einem Wort, das im Novellentext als Kompositionsglied eines Synonyms der »Reitpeitsche« erscheint; oder auch, und vielleicht sogar besonders treffend, mit deren anderem Variationssynonym: ›Fuchtel‹. Die also eigentlich ohne Not verunglückte Metapher, »Stab der Kirke«, ist selbstverständlich von ihrer Erweiterung um ein possessives Genetivattribut her zu begreifen, »Stab der Kirke«. Mit der zur einen Hälfte schiefen Formulierung hat es der Autor ganz offensichtlich auf deren andere, zweite Hälfte abgesehen. Abgesehen hat er es auf die Nennung des mythischen Namens. Dieser Name deutet geradezu auf den Archetyp einer ›Zauberin‹ und ›Hetäre‹. In dieser Bedeutung, in der also magisch-hypnotische Praktiken mit libertärer Sexualität zusammenkommen, ist und war der Name in der Überlieferung und gerade auch in der deutschen Erzählkunst topisch ab153 Gustav Schwab, Sagen des klassischen Altertums, Bd. 2, Leipzig: Insel, 1909, S. 268. 154 Friedrich Nösselt, Lehrbuch der griechischen und römischen Mythologie für höhere Töchterschulen und die Gebildeten des weiblichen Geschlechts, hg. v. Friedrich Kurts, Leipzig: Fleischer, 61874, S. 403. 155 Vgl. Bd. 13, S. 129 f. 156 Vgl. z. B. Homerus, Odyssee, übersetzt von Thassilo von Scheffer, Berlin: Propyläen, 21922 (Klassiker des Altertums, Zweite Reihe, Bd. 10), S. 165. 157 Homerus, Odyssea, S. 182 f. (X, V. 293, 319). 158 Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 8, Berlin und Leipzig: de Gruyter, 1937, S. 1647 f., s. v. ›Verwandlung‹. 159 Homer, Werke, übersetzt von Johann Heinrich Voß, hg. v. Peter von der Mühll, Bd. 2: Odyssee, Basel: Birkhäuser, 1953 (Birkhäuser Klassiker, Bd. 24), S. 133. 160 Homer, Die Odyssee, übersetzt in deutsche Prosa von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg: Rowohlt, 1958 (Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, Griechische Literatur, Bd. 2), S. 129.
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rufbar; so etwa bei Grimmelshausen 161 oder im Wilhelm Meister. 162 Der Name »der Kirke« zeigt schlechthin auf die ›Mutter‹ aller Gynaikokratinnen, die die längste Zeit jeden der ihr begegnenden Männer bezwungen, gedemütigt und ganz wörtlich ›zur Sau gemacht‹ haben soll. Solche Männerund Kastrationsängste zu binden, eignete sich Kirke seit jeher wie keine zweite Göttin des griechischen Pantheon (oder wie allenfalls nur noch ihre Nichte Medea, die gerade in den Mittzwanzigern als Projektionsschirm dafür diente, nämlich in Hans Henny Jahnns gleichnamigem Drama, uraufgeführt im Jahr jenes biographisch realen ›Reiseerlebnisses‹ und übrigens unter der Regie Jürgen Fehlings, eines Angehörigen ausgerechnet der Familie ›Hagenström‹). Die Gestalt einer so beschaffenen »Buhlerin« 163 (wie natürlich auch ihrer Nichte 164) konnte Bachofens Spürsinn unmöglich entgehen. In einer Vergil-Interpretation etwa hält Bachofen denn auch den intertextuell in der Tat erklärungsbedürftigen Umstand fest, daß Aeneas, obwohl er doch sonst über allerhand »Hetäre[n]« und »Königsfrau[en]« die Oberhand behielt, »Circes […] verführerische Wohnung« rundweg »gemieden« habe. 165 Und ganz besonderes Interesse verdiente hier vielleicht eine Stelle aus Oknos der Seilflechter, wo es um die Assoziation etlicher Muttergottheiten mit Textilien und insbesondere auch mit »Schleier[n]« 166 geht, wie »Dona Maria Pia« in Form ihrer »schwarzen Mantilha« einen trägt, ein ausdrücklich so genanntes »Schleiertuch«. 167 Thomas Mann dürfte die betreffende Stelle in Oknos der Seilflechter also nicht nur nach Ausweis der ihr vorangehenden und folgenden Lesespuren, sondern eben auch der späten Krull-Kapitel gelesen haben. Sie steht denn auf derselben Doppelseite wie und in einem und demselben Argumentationszusammenhang mit Bachofens Ausführung über die Fruchtbarkeits- und Kopulationssymbolik »des Kreuzes« als einer »Hieroglyphe« für »die geschlechtliche Mischung« und »die Begegnung der beiden Ge161 [Hans Jacob Christoph von] Grimmelshausen, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, hg. v. Rolf Tarot, Tübingen: Niemeyer, 1967 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 1), S. 577. 162 Vgl. z. B. Yahya Elsaghe, Philine Blaúte. Zur Genese und Funktion mythologischer Reminiszenzen in Wilhelm Meisters Lehrjahren, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1992, S. 1–35, hier S. 24; ders., »Einstweilen Laertes«. Zum Doppelgängermotiv in Wilhelm Meisters Lehrjahren, in: Goethe-Jahrbuch 111, 1994, S. 45–59, hier S. 46, 56; ders., »Helle« und »Hölle«. Zur Rolle der Dichtung in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Goethe Yearbook 7, 1994, S. 118–132, hier S. 127. 163 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 210. 164 Vgl. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 195–200. 165 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 210. 166 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 357. 167 Bd. 7, S. 648.
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schlechter« (abgesehen von einer Einleitung Bernoullis 168 der einzigen solchen Ausführung, die Thomas Mann in seinen Ausgaben zugänglich war). 169 Und ganz allein (oder eben nahezu allein) über diese eine Ausführung scheint sich verstehen zu lassen, warum in den beiden letzten Kapiteln des Krull-Fragments – das heißt im keltoiberischen Raum, 170 ganz außer- oder unterhalb 171 des christlichen Ritus und in sehr handfest erotischen Kontexten 172 – mit zunächst so verstörender Häufung und Frequenz Kreuzmotive auftauchen, die sich auch der Erzähler nicht richtig zu deuten weiß: 173 »Kreuzgang«, 174 »Bekreuzigen«, 175 »kreuz und quer«,176 »Maria da Cruz« 177 (anstatt »geborene da Cruz« 178 oder »Kuckuckda Cruz« 179). ›Andererseits‹ hätte Thomas Mann die dieser Ausführung gegenüberliegende und ziemlich schwierige Stelle in seinen Bachofen-Ausgaben nur unvollständig kommentiert gefunden. 180 Es bleibt daher ungewiß, ob er sie, ohne Griechisch- und mit nur gerade »noch befr[iedigenden]« 181 Gymnasialkenntnissen in Latein, wirklich ganz verstanden hat. Ohne gründlichere Prüfung subsidiärer Quellen, etwa der Ikonographie der Sphinx beziehungsweise ihrer Bachofenschen Deutung als ›mutterrechtliches‹ Symbol, 182 ist insbesondere auch unsicher, ob und wieweit man die Stelle 168 Carl Albrecht Bernoulli, Einleitung zum dritten Bande der Auswahl, in: Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 3, S. 3–7, hier S. 4 f. 169 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 360. 170 Zu den Kelten als ȖȣȞĮȚțȠțȡĮIJȠȝİȞȠȚ, ›unter Frauenherrschaft Lebenden‹, und ihrem so erklärbaren Todesmut (wie er eben in der Taurobolie erscheint, mit deren »Todesfestlichkeit« [Bd. 7, S. 652], inklusive »Nationalhymne« [Bd. 7, S. 650], ein Prinzengeburtstag begangen wird [Bd. 7, S. 646]) bzw. zur »schwarzen Farbe der iberischen Kleidung« und der ›Totenfeierlichkeit‹ der »Nationalspiele« vgl. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 318, 514, 230. 171 Vgl. Bd. 7, S. 657. 172 Vgl. Elsaghe, Hoc signo felix. 173 Vgl. Bd. 7, S. 653. 174 Bd. 7, S. 636, 637, 658; vgl. S. 636, 643. 175 Bd. 7, S. 653; vgl. 651. 176 Bd. 7, S. 659; vgl. S. 267. 177 Bd. 7, S. 653. 178 Bd. 7, S. 535, 565, 597; im Original keine Hervorhebung. 179 Bd. 7, S. 566; im Original keine Hervorhebung. 180 Vgl. Carl Albrecht Bernoulli, Anmerkungen zu Band I, in: Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 3, S. 285–350, hier S. 323, ad Bd. 1, S. 361, Z. 3 (ohne Einschluß der sexuellen Bedeutung von ›pecten‹ und ohne die Erläuterung zur Vokabel țIJİȓȢ, die freilich andernorts kommentiert wird: Bd. 3, S. 286, ad Bd. 1, S. 80, Z. 4 v. u.; vgl. Bd. 3, S. 312, ad Bd. 1, S. 320, Z. 15). 181 [Julius] Schubring und [Ludwig Hermann] Baethcke, Abgangszeugnis. Paul Thomas Mann, 16. März 1894, in: Wysling und Schmidlin, Thomas Mann, S. 63. 182 Vgl. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 391, 495 f. (je mit Lesespuren Thomas Manns); Bd. 2, S. 203.
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in Anschlag bringen darf, um der Novelleninterpretation ein bislang unbewältigtes, ja noch gar nicht formuliertes Problem zu integrieren: den »klauenartige[n]« Griff, den der Erzähler an dem »beleidigende[n] Symbol« von Cipollas beziehungsweise eben von Kirkes »Herrschaft« eigens fixiert. Dazu nur so viel oder so wenig: An der betreffenden Stelle versucht Bachofen, Kirkes Namen etymologisch herzuleiten. Er führt ihn auf das Appellativ țİȡțȓȢ zurück. 183 Dieses könnte nun tatsächlich etwas ›klauenartig‹ Spitzes bezeichnen; 184 nur daß Bachofen gerade diese Bedeutungsfacette des Worts überhaupt nicht in den Blick nimmt. Ihm geht es vielmehr um etwas ganz anderes – daher auch das Kreuzsymbol in diesem ›Zusammenhang‹: »die überquer einander schneidenden beiden Fäden oder Sparren« 185 –, nämlich um das ›Zusammenlaufen‹ der »Begriffe von Weberin und Naturmutter«.186 Eine solche Einheit »von Weberin und Naturmutter« macht er an der Doppeldeutigkeit von Vokabeln aus, die sowohl den Webekamm meinen können als auch das weibliche Genital, so die (urverwandten) Wörter țIJİȓȢ und ›pecten‹ oder angeblich eben auch, nach Bachofens hier falscher 187 Auffassung, țİȡțȓȢ. Falsch ist wohl ebenso die davon abgeleitete Etymologie des Namens ›Kirke‹; wobei die nächstliegende und heute anscheinend plausibelste, 188 ›Kreiserin‹, ›Greifvogel‹, 189 vermutlich, aber auch dem wäre erst noch nachzugehen, nur zufällig so frappant und präzis zum Motiv des »Klauengriff[s]« paßt.
4.1.2 Die Nivellierung der italienischen Gesellschaft Wie dem im einzelnen auch sei und ob hier wirklich eine Antwort auf die bisher noch nicht einmal gestellte Frage nach der Bewandtnis des »Klauengriff[s]« anzusetzen hätte oder eher doch nicht: Aufs Ganze gesehen erscheint der Faschismus in Mario und der Zauberer unter der Signatur der Kirke und der Aphrodite als eine einzige, und zwar eine kollektive Effeminierung. Nicht von ungefähr besteht eines von Cipollas Kunststücken darin, »einen jungen Menschen […] nicht nur mit Nacken und Füßen auf die 183 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 360 f. 184 Vgl. Henry George Liddell und Robert Scott, A Greek-English Lexicon. With a Revised Supplement, Oxford: Clarendon Press, 1996, S. 943, s. v. ›țİȡțȓȢ‹. 185 Bernoulli, Einleitung zum dritten Bande der Auswahl, S. 5. 186 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 361. 187 Vgl. Liddell und Scott, A Greek-English Lexicon, S. 943, s. v. ›țİȡțȓȢ‹. 188 Vgl. Alfred Heubeck und Arie Hoekstra (Hgg.), A Commentary on Homer’s Odyssey, Bd. 2: Books ix–xvi, Oxford et al.: Clarendon Press, 1989, S. 52; freundlicher Hinweis von Walter Burkert, Zürich, vom 8. Juni 2009. 189 Vgl. Liddell und Scott, A Greek-English Lexicon, S. 953, s. v. ›țȡțȠȢ‹.
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Lehne zweier Stühle [zu] legen, sondern sich ihm auch auf den Leib [zu] setzen«.190 Denn das »Phänomen des Jungen als Sitzbank« 191 macht aus diesem recht eigentlich eine Frau und ›Hysterikerin‹. Es entspricht nämlich genau dem sogenannten arc de cercle, den Jean Martin Charcot an seinen hypnotisierten Probandinnen vorführte. 192 Die Massenbewegung, die der Faschismus war und zu sein beanspruchte, wird damit als solche einer eigenwilligen Deutung unterzogen. Diese beruht nicht nur und sehr wahrscheinlich auch nicht primär, vielleicht auch gar nicht auf der Massenpsychologie Gustave Le Bons, die Thomas Mann vermutlich nicht aus erster Hand gekannt hat; 193 und auch nur sekundär auf derjenigen Sigmund Freuds, 194 die allerdings sehr schön zu erklären vermag, warum, wenn einer, dann ein Verliebter sich der Massensuggestion zu entziehen die Kraft aufbringt.195 Vielmehr scheint hier eben eine gesellschaftspolitische Aneignung der Bachofenschen Kulturtheorie vorzuliegen. Den Modus dieser Aneignung gab Bachofen mit seinen Spekulationen über die zyklische Verlaufsform »der staatlichen Entwicklung« teils selber schon vor (und andernteils, wie gleich noch zu zeigen, bekam ihn Thomas Mann dann von der mehr oder weniger professionellen Bachofen-Rezeption der späteren Zwanzigerjahre vorgeführt). Denn den großen Kulturepochen, die er postulierte, setzte Bachofen ja bestimmte Staatsformen gleich. Das ›Vaterrecht‹ identifizierte er wie gesagt mit steilen Gesellschaftshierarchien wie etwa dem römischen Kaisertum. Dem ›Hetärismus‹ dagegen, mit seiner »allgemeine[n] Brüderlichkeit aller Menschen«,196 ordnete er den »Fluch der Demokratie« zu. 197 Weiter als zur Demokratie scheint Bachofens politischer Horizont seinerzeit freilich noch nicht gereicht zu haben. Den genau zeitgleich aufkommenden Kommunismus nämlich, auf den seine Charakterisierung des ›Hetärismus‹ doch besonders hübsch gepaßt hätte – »Abwesenheit jedes Eigentums, überhaupt jedes Sonderrechts irgendwelcher Art« –, ließ Bachofen noch 190 Bd. 8, S. 697. 191 Bd. 8, S. 698. 192 Vgl. Regina Schaps, Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau, Frankfurt a. M. und New York: Campus, 1992 (Reihe Campus, Bd. 1054), S. 60; freundlicher Hinweis von Ulrich Boss, Bern, vom 9. November 2009. 193 Vgl. Regine Zeller, Cipolla und die Masse. Zu Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer, St. Ingbert: Röhrig, 2006 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 40), S. 52. 194 Vgl. Zeller, Cipolla und die Masse, S. 52 f. 195 Vgl. Zeller, Cipolla und die Masse, S. 81–83. 196 Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 15; von Thomas Mann angestrichen. 197 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 3, S. 37.
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ganz außer Acht (während umgekehrt Engels 198 und Bebel 199 seine Theorie sehr wohl adaptierten). Und den viel jüngeren Faschismus konnte er, wie auch noch Le Bon, natürlich gar nicht mehr im Auge haben. Die Frage, ob der italienische Faschismus oder wie er gegebenenfalls der Lehre von den drei Kulturstufen und ihren politischen Weiterungen integrierbar sei, stellte sich somit für Bachofen noch gar nicht – aber auch nur für Bachofen selber nicht. Einem politisch sensiblen Bachofen-Leser jedoch von 1929 oder 1926, der dieses jüngste Massenphänomen sogar vor Ort mit-›erlebte‹, mußte sie sich fast von selbst aufdrängen. Und als eine einzige Antwort nun auf diese Frage läßt sich Mario und der Zauberer in der Tat lesen. Die faschistische Masse ist hier »feminin« nicht nur in Le Bons diffus-metaphorischem Sinn (in dem dieser das Phänomen »der Massen« übrigens mehr den ›lateinischen‹ Völkern als den ›nordischen‹ zuordnete);200 sondern ihre ›Weiblichkeit‹ gestaltet sich in Torre di Venere als eine ›hetäristische‹, prä- oder postpatriarchale. Obwohl es sich dabei um ein historisch jüngstes Phänomen oder gerade weil es sich also gewissermaßen um ein »Ende der staatlichen Entwicklung« handelte, ließ sich die faschistische ›Erwecktheit‹ bequem über Bachofens Kategorien interpretieren, wie sie Mitte der Zwanzigerjahre eben wieder leicht verfügbar geworden waren. Die faschistische Massengesellschaft erscheint in Mario und der Zauberer denn als Erfüllung der Prognose, die Bachofen dem »menschlichen Dasein[]« stellte. In ihr scheint sich »de[r] Kreislauf der menschlichen Dinge« zu schließen. »Die ursprüngliche Gleichheit aller kehrt« mit ihr »wieder«. Denn die Verweiblichung der Gesellschaft geht mit einer Einebnung ihrer Stratifikationen einher, von der eigentlich nur die Fürstin X. eine desto signifikantere Ausnahme macht. Wie arrogant die ›erweckten‹ Italiener sich auch über landesfremde und »nordische[]« 201 Touristen erheben, stellen sie doch unter sich eine virtuell egalitäre Gemeinschaft dar: »inländische[] Mittelklasse«, »menschliche[] Mediokrität«, »bürgerliche[s] Kroppzeug«.202
198 Vgl. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, S. 39, 46 (Anm.), 48, 54 f., 57, 60, 82. 199 Vgl. Bebel, Die Frau und der Sozialismus, S. 37, 38 (Anm. 1), 40–42, 45, 59, 62 (Anm. 1), 70 (Anm. 1), 521. 200 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. Mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart: Kröner, 151982, S. 22. Vgl. Zeller, Cipolla und die Masse, S. 33; Turel, Bachofen – Freud, S. 141 f. 201 Bd. 8, S. 664. 202 Bd. 8, S. 665.
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An dem Ort, dessen Geräuschkulisse 203 »diese Frauen –!« bilden und ihre dem Erzähler unerträglich penetranten Stimmen (besonders die Mutter des Muttersöhnchens Fuggièro), 204 scheint die soziale Binnendifferenzierung ›eingemittet‹ zu werden. Dabei darf man diese virtuelle »Gleichheit aller« (»aller« Italiener und Italienerinnen) gerade nicht als eine arkadische, paradiesische verstehen. Einem solchen an sich sehr naheliegenden Verständnis, Mißverständnis, hat eine eigens eingeschaltete Strand-Episode zuvorzukommen. Darin empören sich die Italiener über die vorweibliche, vorsexuelle, jedenfalls noch harmlos-unschuldige, eben quasi paradiesische Nacktheit eines deutschen Mädchens und ahnden sie sogar von Staats wegen. 205 Auch die Italiener, ja sie ganz besonders, sind also in Sünde gefallen, wie ihr die Körperscham unmittelbar gefolgt sein soll.206 In diesem biblischen Sinn ›gefallen‹ sind sie sehr viel tiefer noch als die vergleichsweise unbefleckten Deutschen oder sogar in diametralem Gegensatz zu ihnen. Zu dem Saal, in dem Cipolla gastiert, »pilgert[]« sein Publikum wie zu einer Kultstätte, und zwar schon »im Dunkeln«207 (wenngleich man darüber streiten könnte, ob es am gegebenen Ort und zur gegebenen Jahresund Uhrzeit, 208 auch ohne ›daylight saving‹, nicht erst dämmern müßte). Der Weg dorthin führt »vom Feudalen über das Bürgerliche ins Volkstümliche«. 209 Er durchkreuzt somit oder transzendiert buchstäblich die sonst mächtigsten Gesellschaftsdifferenzen. Gleich am Anfang dieses Wegs, im Bezirk des aber nur noch scheinbar »Feudalen«, ist ein »›Palazzo‹« »aus herrschaftlichen Zeiten« »verkäuflich[]«, »übrigens verkäuflich[]« geworden. 210 Er wird, anders gesagt, nicht mehr weitervererbt. Der denn auch nur zwischen Anführungszeichen so genannte »›Palazzo‹« hört demnach auf oder hat schon aufgehört, ›feudal‹»herrschaftliche[]« Identität zu beglaubigen, wie sie die patrilinear-genealogischen Vererbungsregeln ehedem auf ›Grund‹ vorab von Immobilien garantierten. Der Saal selbst sodann hat ansonsten jeweils zu »Cinema-Vorführungen gedient«.211 Er ist mithin eigentlich ein Ort egalitaristischer Massen203 Zur Verdrängung des Gesichts- durch andere, besonders körpernahe Sinne vgl. Elsaghe, »Vom Moschusgeruch des Exkrementhaufens«, passim. 204 Bd. 8, S. 665. 205 Bd. 8, S. 667 f. 206 Vgl. Schwarz, Thomas Manns Mario und der Zauberer, S. 364. 207 Bd. 8, S. 671; im Original keine Hervorhebung. 208 Bd. 8, S. 658 f., 671. 209 Bd. 8, S. 671. 210 Ebd.; im Original keine Hervorhebung. 211 Ebd.
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kultur par ›excellence‹, die mutmaßlich auch den Nachnamen Ken Keatons inspirieren und die dieser Name jedenfalls konnotieren sollte. Dem entsprechend »beschränkt[]« »sich« »der Zuschauerraum« auf ein »Parterre« 212 – sozusagen »zu ebener Erde«, wie es an den ›tellurisch‹-›hetäristisch‹ einschlägigen Stellen des Doktor Faustus immer wieder heißen wird. »Logen« sind »keine […] vorhanden«. 213 Ganz handgreiflich werden damit, und zwar nach unten hin, auf tiefstem Niveau, die sozialen Unterschiede nivelliert. Denn solche Unterschiede fänden in der Loge der traditionellen Theaterarchitektur ja ihren denkbar sinnfälligen Ausdruck und stehen übrigens in diesem innenräumlichen Arrangement schon beim frühen Thomas Mann zum regulär-heterosexuellen Begehren in enger Beziehung, gerade auch wenn es an ihnen scheitert und damit letztlich ihre Geltung bestätigt. 214 Markierungen gesellschaftlicher Distinktion tauchen allenfalls noch in der pervertierten Form ihrer Selbstparodie auf. Sie stehen gleichsam ihrerseits zwischen Anführungszeichen und unter dem Vorbehalt ihres bloß noch ironischen Zitats. Sie erscheinen im »törichte[n]« 215 Dünkel des hohen oder in den phantastischen, »komödiantische[n]« Attributen des niederen Adels. Dessen Exponent, dessen Namen schon bei Heinrich Mann ein herabgekommenes Geschlecht trägt, bleibt mit seiner »hervorgekehrt ritterliche[n] Art« 216 hinter den schneidigen Ansprüchen seines Titels hoffnungslos zurück. Der angebliche »Cavaliere« und ›Ritter‹ ist kurzum, so das mit »Kroppzeug« verwandte Wort des Erzählers, ein »Krüppel[]«. 217 An seiner Nobilität läßt gerade seine »Humbugschärpe« 218 erheblichen Zweifel, die sie doch anzeigen zu sollen scheint. Und weiter droht auch die bürgerliche und »städtische[]« 219 Repräsentationskleidung, Frack und »steife[r] Hut«, zum Karnevalskostüm auszuarten, wenn sie tagsüber am Strand getragen wird, neben »bloßen Pyjama[s]«.220 Die politischen Vorgänge, als deren »Personifikation« 221 der Erzähler den »Zauberer« expressis verbis verstanden wissen will, werden so der Bachofenschen Kulturzyklentheorie angeglichen. Die Transformation der italienischen Gesellschaft erscheint als Regressionsbewegung. Und als sol212 213 214 215 216 217 218 219 220 221
Bd. 8, S. 671 f. Bd. 8, S. 672. Vgl. Elsaghe, Die kleinen Herren Friedemänner, S. 166 f. Bd. 8, S. 663. Bd. 8, S. 686; im Original keine Hervorhebung. Bd. 8, S. 675, 687. Bd. 8, S. 680. Bd. 8, S. 667 f. Bd. 8, S. 664, 668. Bd. 8, S. 695.
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che wird sie mit einem ganz bestimmten Wort belegt, das Thomas Mann später, in seinen Radioansprachen an die »Deutsche[n] Hörer«, auch auf den Nationalsozialismus anwenden sollte:222 »Rückschlag«.223 Der Begriff »Rückschlag«, 224 den er sich bei Bachofen eigens unterstrich, bezeichnet dort jenen zyklisch-kataklytischen Übergang zu einer primitiven Vor- und Unkultur. Damit bekanntlich kontaminierte er, Bachofen, sein ansonsten linear-zukunftsoptimistisches Geschichtsmodell. Und dabei scheint er ja die Begrifflichkeit und die Vorstellung des ›Rückschlags‹ schon selber zu genau dem Zweck in dieses Modell eingeführt zu haben, den sie in Thomas Manns Werk erfüllt: um nämlich seine Fortschrittstheorie an die gesellschaftspolitischen Entwicklungen seiner eigenen Zeit zu vermitteln. Daß er die Symptome solch eines ›Rückschlags‹ ausgerechnet in und an Italien erfahren muß, bringt den humanistisch gesinnten Erzähler von Mario und der Zauberer in keine geringe Verlegenheit. Er gibt diese dort zu erkennen, wo er erstmals und besonders oft sein intendiertes Publikum anredet, und zwar mit deutlich defensivem Gestus: »Mögen Sie das? Mögen Sie es […]? […] geben Sie es zu«… Anlaß zu seinen ›ausfälligen‹ Adressierungen des Publikums gibt der intellektuelle Abgrund, der sich in Torre di Venere vor ihm auftut; der Abgrund zwischen dem einerseits, was er in Italien erfährt und an Italien beobachtet, und dem andererseits, was zum festen Vorstellungsfundus eines deutschen Bildungsbürgers gehört. Wie der »langweilige[]« Gymnasialhumanismus dann auch wieder in der Betrogenen obsolet ist, unbrauchbar in der und für die Moderne, 225 so erscheint er bereits hier schon als suspekt und unzeitgemäß. Denn nach bildungsbürgerlich-humanistischen Vorstellungen, wie sie der Erzähler nunmehr zu einer schulmäßigen Litanei herabzuwürdigen beginnt – »die Sonne Homers und so weiter« 226 –, wäre oder müßte Italien ein, ja das »klassische[]« Land schlechthin sein: »Heimat« der »abendländischen« Kultur;227 Wiege der westlichen Zivilisation; Geburtsort des selbstbestimmten Individuums à la Jacob Burckhardt »und so weiter«. Es sollte kurzum das Gegenteil all dessen verkörpern, was dieser Erzähler hier tatsächlich zu ›erleben‹ hat.
222 223 224 225 226 227
Bd. 11, S. 1048; vgl. S. 1025. Bd. 8, S. 668. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 37; Thomas Manns Hervorhebung. Bd. 8, S. 894, 905. Bd. 8, S. 664. Bd. 8, S. 665.
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4.1.3 Die Orientalisierung Italiens Gelöst oder immerhin überspielt wird der Konflikt zwischen tradiertem Schulideal und konkret-authentischem ›Erlebnis‹ über eine offenbar eigens zu diesem Zweck eingezogene Isotopieebene. Auf dieser hört Torre di Venere in gewissem Sinn auf, ein Teil ›Italiens‹, oder hört Italien in demselben Sinn auf, ein Teil ›Europas‹ zu sein. Genau so übrigens und natürlich nicht zufällig wird der Handlungsort der späten Krull-Kapitel in der Folge eines ethnologischen Exkurses virtuell schon außerhalb Europas liegen: »afrikanisch[]«, »arabisch[]«, »maurisch-berberisch[]«; »Phönizier«, »Karthager«, »Mauren«, »Araber«; »einen netten Zuschuß von Negerblut nicht zu vergessen«. 228 Und selbst die Audienz beim portugiesischen König, anläßlich derer Krull diese »Blutzutaten« getreulich repetiert, findet auf »einem Perserteppich von Riesenformat« statt (wie man schon in Paris den Koitus mit der höhergestellten Domina – bei »dicht verhangene[m] Fenster«, aber im »Halbdunkel« und Kunstlicht eines »Nachttischlämpchens« – auf solch einem »große[n] Perserteppich« sich vorzustellen hat). 229 Genau also wie später Portugal und Lissabon im Felix Krull und ähnlich wie schon im Venedig »des Jahres 19..«, 230 das sich dafür freilich von seiner Geschichte und geographischen Lage her ungleich besser eignete als ein Ort »am Tyrrhenischen Meer«,231 das heißt im Stammland der römischen Kultur und ihrer Renaissance, wird Italien in Torre di Venere konsequent verfremdet: Das »servile« Gebaren vor jener Hotelpotentatin wird an die äußerste Grenze des ›Abendlands‹ situiert. Es erscheint als ein einziger »Byzantinismus«. Cipolla gebärdet sich wie ein orientalischer Despot, als »Pascha[]«.232 Er läßt Asien buchstäblich in Europa Platz greifen, wenn er einem seiner ersten Opfer erfolgreich suggeriert, »eine Reise nach Indien« zu machen. 233 Sein letztes Opfer, Mario, hat eine geradezu ›negroid‹-»primitive« Physiognomie (»niedrige[] Stirn«, »eingedrückte[] Nase«, »aufgeworfene[]« »dicke[]« »Wulstlippen«, »feuchte[] Zähne«).234 Die »Mo228 Bd. 7, S. 532. Zum ›Außereuropäischen‹ Portugals und der Portugiesen im rassenbiologischen Diskurs der Zeit vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 313–321, 374–376. 229 Bd. 7, S. 437, 440, 607 f.; im Original keine Hervorhebung (freundlicher Hinweis von Florian Heiniger, Bern, vom 18. Dezember 2009). 230 Bd. 8, S. 444. Vgl. Yahya Elsaghe, Zur Sexualisierung des Fremden im Tod in Venedig, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 234.1, 1997, S. 19–32, passim. 231 Bd. 8, S. 658. 232 Bd. 8, S. 706. 233 Bd. 8, S. 698. 234 Bd. 8, S. 704 f. Zur rassistischen Semiotik der Zähne vgl. Melanie Rohner, ›White‹ werden, ›schwarz‹ bleiben. Whiteness, indianness und blackness in Max Frischs Stiller. Lizentiatsarbeit, Universität Bern, 2009, S. 74, 79.
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defrisur« ist eine ausdrücklich »afrikanisch[e]«235 oder »nubische[]«. 236 Bei der »Tanzorgie«, in die Cipolla sein Publikum fallen läßt, selbst einen besonders willensstarken »römischen Herrn«, ist es ausgerechnet ein »Step«, den die ›Entseelten‹ und ›Entgeisterten‹ tanzen müssen;237 das heißt einer der seinerzeit (bekanntlich auch in Unordnung und frühes Leid 238) so genannten ›Negertänze‹. 239 Und sogar das »Klima« wird »afrikanisch«. 240 Alle diese Verfremdungen bringen Italien auf eine fundamentale Opposition zu Europa. Sie laufen entweder auf eine eigentliche Orientalisierung Italiens hinaus. Oder aber sie assoziieren Italien mit ›Afrika‹. »[D]ie afrikanische […] Welt« interessierte Bachofen freilich nur erst am Rand, aber in derselben Hinsicht wie »die asiatische«, und zwar an einer Stelle (ebenfalls wieder vom »Kreislauf des Lebens«), die sich Thomas Mann angestrichen hat. 241 In dessen formativen Jahren aber, im Zuge der deutschen Kolonialpolitik, vermochte ›Afrika‹ Phantasien freizusetzen – so ja auch schon bei Storm –, wie sie ehedem und ganz besonders bei Bachofen noch an den ›klassischen‹ Orient gebunden waren. Insofern jedoch, als sie Italien so oder so auf eine Opposition zum ›Westen‹ festlegen, sei es die ›asiatische‹ oder eine ›afrikanische‹, entsprechen solche Verfremdungen wieder einem Bachofenschen Argument. Dieses Argument kommuniziert untergründig mit dem, was Edward Said unter dem Terminus ›Orientalismus‹ definiert hat; ein Wort, das so, aber natürlich in ganz anderer Bedeutung und dennoch nicht von ungefähr auch schon bei Bachofen vorkommt. Dieser übrigens partizipierte auch ganz offen und gleichsam exoterisch am zeitgenössischen ›Orientalismus‹, verstanden eben im Saidschen Sinn als ein der Ausbeutung und Unterdrückung dienender Diskurs. In Politik und Tagespresse äußerte er sich dezidiert und vehement zur damals so genannten Orientalischen Frage; wobei der Anti-»Mohammedanismus«,242 die Islamo- und Turkophobie seiner Äußerungen als Schulbeispiele für die von Said untersuchten Stereotypisierungen passieren dürften.
235 236 237 238 239
Bd. 8, S. 676. Bd. 8, S. 683. Bd. 8, S. 700 f. Bd. 8, S. 647. Vgl. z. B. W. K. von Jolizza, Die Schule des Tanzes. Leichtfaßliche Anleitung zur Selbsterlernung moderner und alter Gesellschaftstänze […], Wien und Leipzig: Hartleben, o. J., S. 278; Bernd Hamacher, Thomas Mann. Mario und der Zauberer, Stuttgart: Reclam, 2006 (Erläuterungen und Dokumente), S. 29. 240 Bd. 8, S. 664. 241 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 105; vgl. S. 379. 242 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 3, S. 165.
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Was nun das im doppelten Sinn ›orientalistische‹ Argument seiner esoterischen Kulturtheorie betrifft, so findet der Orientalismus darin mit der Misogynie zu einer festen Symbiose zusammen. Eine solche Symbiose freilich hatte bereits ihre lange Tradition. Man konnte und kann sie schon beim ›Vater der Geschichtsschreibung‹ vorfinden. An den von Bachofen denn am häufigsten herangezogenen Stellen lokalisiert Herodot die Inversionen der griechischen Normalverhältnisse regelmäßig in Afrika und Asien: die matrilineare Namensgebung der Lykier 243 zum Beispiel oder die Promiskuität der Auseer, 244 Massageten 245 und Nasamonen. 246 Die Symbiotik von ›Orient‹ und ›Gynaikokratie‹ muß bei seiner Wiederentdeckung in den Zwanzigerjahren an Bachofen besonders fasziniert haben. Wie sehr man sich seinerzeit gerade für ihren ›orientalistischen‹ Aspekt interessieren und erwärmen konnte, zeigt schon der Titel, unter dem Thomas Mann Bachofen überhaupt erst kennenlernte, als er ihn in einer jener drei Editionen von 1926 zu lesen begann, und zwar in der von Manfred Schröter besorgten. Schröter hatte seine Auswahl »[a]us dem Werk von J. J. Bachofen« bereits in deren Haupttitel ausgerechnet auf den Nenner dieses einen Aspekts gebracht: »Der Mythus von Orient und Occident«. Dabei legte das »Werk von J. J. Bachofen« eine solche Selektion und Titulatur an sich nicht eben besonders nahe; geschweige denn, daß es einem Editor dergleichen aufgedrängt hätte. Daß es zu Schröters Buchtitel ganz im Gegenteil näherliegende Alternativen gegeben hätte und auch tatsächlich gab, beweisen allein schon die Titeleien der beiden zeitgleichen Ausgaben, in denen Rudolf Marx beziehungsweise Carl Albrecht Bernoulli je ihre »Auswahl« aus Bachofens Gesamtwerk trafen: »Mutterrecht und Urreligion«; »Urreligion und antike Symbole«. Die Kulturgeographie nun, die Bachofen seiner fatalistischen Zeitalterlehre auch einbeschrieben hat, ist so zu verstehen: Das Patriarchat soll nach Bachofen eine Kulturleistung nur der ›abendländischen‹ Zivilisation sein. Nur »[d]er reinere Geist des Okzidents«247 habe die ›gynaikokratischen‹ Zustände zu überwinden vermocht, wie sie beispielsweise das Buch 243 Herodotus, o. T., Bd. 1: Books I and II, S. 216 f. (I, 173). Vgl. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 85. 244 Herodotus, o. T., Bd. 2: Books III and IV, S. 380 f. (IV, 180). Vgl. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 105 f., 118. 245 Herodotus, o. T., Bd. 1: Books I and II, S. 270 f. (I, 216). Vgl. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 105. 246 Herodotus, o. T., Bd. 2: Books III and IV, S. 374 f. (IV, 172). Vgl. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 105; Bd. 3, S. 777. 247 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 149.
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der Richter mit der Geschichte von Samson und Delila reflektieren soll. Dieser Vorstellung entlang interpretiert Bachofen zum Beispiel auch Mythen wie den von Herkules und der »lydischen« Prinzessin Omphale 248 (und merkwürdigerweise war es ausgerechnet dieses Paar, das wenig früher schon bei einem anderen Schweizer, Gottfried Keller, in Pankraz, der Schmoller, das intertextuell eindeutig identifizierbare Substrat eines analogen ›gender trouble‹ bildete, 249 der Verfallenheit des ›Helden‹ an ›Lydia‹, Tochter eines indisch-britischen Gouverneurs 250). Die Differenz von Okzident und Orient beruht also auf der Fortschrittlichkeit des einen und auf der Stagnation oder Entwicklungshemmung des anderen. Solch eine Differenzierung deckt sich ziemlich weitgehend mit den ›orientalistischen‹ Gemeinplätzen, die Said etwa an der zeitgenössischen Sprachtypologie Ernest Renans herauspräpariert hat. 251 Dennoch verleiht sie dem ›Orientalismus‹ auch eine besondere Note. Der Code, der die eurasische Landmasse bei Bachofen organisiert, gliedert diese nur einerseits noch nach einem stereotypen Schema. Andererseits aber teilt er sie eben auch in geschlechterpolitisch origineller Weise. In Bachofens Geographie gerät die Differenz von Orient und Okzident unversehens in Widerspruch zu den bis heute herrschenden Klischees: Hier »Europa« als die altbekannt »kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asiens«,252 aber auch als nicht einfach nur ›männliche‹, sondern als Zone, in der es ›die‹ Frau zu unterwerfen gelang; dort das eigentliche ›Mutterland‹ »Asien[]« als ein wie gehabt »weite[r]« und amorpher, geschichtsloser und verschlafener, aber auch als ein Raum, wo die ›gynaikokratische‹ Macht ungebrochen blieb. ›Asien‹ ist also nicht einfach nur in einem topisch-diffusen Sinn ›weiblich‹, wie er sich bis in die Antike zurückführen läßt; 253 sondern es ist nach Bachofens Vorstellung schlechtweg der Kontinent, den noch ›die‹ Frau beherrscht (wie man übrigens Stam-
248 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 188; Bd. 2, S. 149. 249 Vgl. Renate Böschenstein, Pankraz und sein Tier. Zur Darstellung psychischer Prozesse um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Jörg Thunecke (Hg.), Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles, Nottingham: Sherwood, 1979, S. 146–158, hier S. 152 f.; Gerhard Kaiser, Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt a. M.: Insel, 1981, S. 290 f. 250 Keller, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 31, 36. 251 Vgl. Edward W. Said, Orientalism, New York: Vintage, 1979, S. 143. 252 Bd. 9, S. 486. Vgl. die »Gehirn«-»Körper«-Metaphorik bei Theodor Lessing, Europa und Asien, Berlin: Die Aktion, 1918 (Politische Aktions-Bibliothek), S. 7–11. 253 Vgl. z. B. Aulus Gellius, Noctes Atticae, hg. v. P. K. Marshall, Oxford et al.: Oxford University Press, 1968 (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), Bd. 2, S. 534 (XVII, 21.33).
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meskulturen der Subsahara bis heute vollen Ernstes matriarchale Strukturen nachsagt 254). Die sexuelle Kodierung von Orient und Okzident leitet Bachofen insbesondere bei der Argumentation einer ganzen Haupt- und Spätschrift, die im Zusammenhang mit der ›asiatischen Königsfrau‹, der ›römischen Matrone‹ und seiner Vergil-Interpretation schon mehrfach anzitiert wurde: Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung über den Orientalismus in Rom und Italien. Aus dieser Abhandlung finden sich nicht allein in Schröters ja entsprechend sensibilisierter Auswahl, sondern in beiden Bachofen-Ausgaben Thomas Manns längere Auszüge, unter den Rubriken »Die ostwestliche Wanderhypothese« beziehungsweise »Italien und der Okzident«.255 Wie schon der authentische Unter- und diese Zwischentitel der Herausgeber vermuten lassen, geht es Bachofen hier um einen Versuch, »Italien« im Spannungsfeld von ›Orient‹ und ›Okzident‹ zu situieren. Nach Bachofens Überzeugung waren »Rom und Italien« nicht immer schon Teil des Okzidents. Ihr Ursprung, wie ihn Bachofen vor allem bei den Etruskern ortet, soll orientalisch gewesen sein. Wenn also in Mario und der Zauberer die ›orientalisch‹-›hetäristischen‹ Zustände in Italien und in Torre di Venere, ›of all places‹, um sich greifen, dann entspricht diese Lokalisation ihres Ausbruchs exakt den geographischen Weiterungen der Bachofenschen Zyklentheorie. Denn Torre di Venere soll ja mitten in einst etruskischem Gebiet liegen. In der ›Erweckung‹ des Orts »kehrt zuletzt« nur »wieder«, was hier ursprünglich schon einmal beheimatet war und woran nun freilich nur noch der Ortsname erinnert. Daß dieser Ortsname »längst« so sinnlos anmutet, hat mit dem Verlauf zu tun, den die römisch-italische Geschichte nach Bachofens Vorstellung nahm. Denn die »antike[]« Geschichte, die in Cipollas Hohn auf den »heroischen« Namen des ›Prot‹- oder Antagonisten Mario bekanntlich auch ganz explizit aufgerufen wird, stellt sich für Bachofen als ein Kontinuum zunächst siegreicher Kämpfe des Okzidents gegen den Orient dar, wie Marios Namenspatron einen gegen Jugurtha führte und in eins damit eben gegen ›Afrika‹ gewann. Literarisch-mythische Spuren solcher ›Kulturkämpfe‹ zeigen sich nach Bachofen in der klassischen Epik. Er macht sie beispielsweise an der Aeneis aus, nämlich am Sieg des »römischen Nationalhelden« Aeneas über 254 Vgl. z. B. Rupert Moser, Das Matriarchat – Ein verlorenes Paradies?, in: ders. und Peter Rusterholz (Hgg.), Verlorene Paradiese. Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Sommersemester 2002, Bern et al.: Haupt, 2004 (Berner Universitätsschriften, Bd. 48), S. 65–82. 255 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 178–239; ders., Der Mythus von Orient und Occident, S. 539–599.
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»orientalische Hetäre[n]« und »buhlerische Königsfrau[en] […] der asiatischen Vorzeit«:256 »Rom, auf Asien gegründet, wird dessen endlicher Besieger.« 257 Religiöse Spuren des ›asiatischen‹ Substrats findet Bachofen vor allem in der römischen Festkultur. Er erkennt sie zum Beispiel an der Feier einer sogenannten Anna Perenna, der »phoinikische[n] Anna«, 258 auf die man den ursprünglichen Namen der »Betrogene[n]« respektive den jetzigen ihrer Tochter zurückzuführen versuchen könnte. (Anna, Anna Pastina, 259 hieß übrigens auch Thomas und Heinrich Manns eigene Wirtin in Italien, in deren Haus sie offenbar eine spätpubertär-unverschämte, im Wortsinn schweinische und kraß misogyne Karikatur von »Mutter Natur« 260 sozusagen ausfraßen. 261) Und einen lebensweltlichen Rest des in Italien besiegten Asiens sieht Bachofen bekanntermaßen vor allem in der Gestalt oder Institution der römischen Matrone. Die »römische[] Matrone« soll ja eine ›okzidentale‹ Veredelung und späte Kultivationsform der »hetärischen Königsfrau Asiens« sein.262 Nicht zufällig dürfte daher die mütterlich-nährende Pensionswirtin »toskanischen Typs« 263 eine Doppelgängerin haben, die der Erzähler des Doktor Faustus denn nahezu wörtlich als ›römische Matrone‹ einführt: »eine stattliche Matrone römischen Typs«. Dabei verraten schon die Namen der beiden, Sofronia Angiolieri und Peronella Manardi – indem sie von Boccaccio her je eine polygame Sexualität der Frauen konnotieren –, daß diese nun wieder aus der Art schlagen, in der es die »hetärische[] Königsfrau Asiens« in »Rom und Italien« einst zu domestizieren gelang. Vollends wettgemacht ist diese patriarchale Domestikationsleistung insbesondere in der »eleganten« 264 Gestalt jener Hoteltyrannin und wahren ›Gynaikokratin‹. Denn nicht nur darf die »Principe[ssa] X.« auf ihrem angeblich »weitverbreiteten«, also gewissermaßen ›demokratisch‹ legitimen »Aberglauben« beharren, »[i]m weiblichen Vollgefühl ihres Ansehens« und 256 257 258 259 260 261 262 263 264
Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 210. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 562. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 558. Vgl. Karl Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, in: ders., Tessiner Schreibtisch. Mythologisches Unmythologisches, Stuttgart: Steingrüben, 1963, S. 86–109, hier S. 99. S. Abb. 3. Vgl. Thomas Sprecher und Hans Wißkirchen (Hgg.), Thomas und Heinrich Mann im Spiegel der Karikatur, Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2003. Vgl. Viktor Mann, Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann, Konstanz: Südverlag, 21964, S. 49. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 559; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 203; vgl. S. 196, 200, 222. Bd. 8, S. 662. Bd. 8, S. 661.
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ohne dieses damit im geringsten zu beschädigen: Sie hat auch die Macht oder eben das »Ansehen[]«, ihrer Umwelt die Konsequenzen ihrer irrationalen und vorwissenschaftlichen »Meinung« aufzuzwingen, auch gegen das »Votum« der modernen »Wissenschaft«, wie sie selbstverständlich ein Mediziner vertritt. 265 Dabei entspringen ihre Wahnvorstellungen nota bene der Sorge und einer Angst um »ihre Kleinen«. Ihre gewissermaßen absolute Macht und die Primitivität ihres vorrationalen Weltbilds erscheinen also immer schon im Zeichen einer outrierten Mutterliebe. Was sie der deutschen Familie antut beziehungsweise dieser über die ihr »servile[n]« Italiener antun läßt, ist zwar eklatantes Unrecht, aber im eigentlichsten Wortsinn auch ›Mutterrecht‹. Hinter der daher doch nicht so ganz ›x‹-beliebigen »Nachbarin« von ausgerechnet »[r]ömische[m] Hochadel« beginnt damit ihrerseits wieder die Ur- oder Vorform der ›römischen Matrone‹ sichtbar zu werden. Die »Fürstin, große Dame und leidenschaftliche Mutter« 266 ist eine Revenante der »asiatischen Königsfrau«. – Es hat also seinen guten Sinn, wenn Thomas Mann auf das, auf ein ganz bestimmtes Ausland verfiel, als er zum offenbar ersten Mal versuchte, sich Bachofens Theorie in einem fiktionalen Text anzueignen und sie darin zugleich auf die Zeitgeschichte anzuwenden. Jedenfalls läßt es sich innerhalb dieser Theorie restlos erklären, warum die Reorientalisierung des ›Abendlandes‹ ausgerechnet in Italien stattzufinden hat. Die Geschichte »der menschlichen Dinge« kehrt so auch im räumlich konkreten Sinn an ihren Ursprung zurück. Daß diese Orientalisierung jedoch im faschistischen Italien stattfindet, unter dem italienischen Faschismus, entbehrt in Hinsicht auf das Gesamtwerk nicht der Pikanterie, allerdings auch nicht der Logik und Folgerichtigkeit; je nachdem, ob man die Ideologie in den Blick nimmt oder das Land, in der diese zuerst politisch umgesetzt wurde, den italienischen Faschismus oder aber das faschistische Italien. Wie nämlich gleich zu zeigen, richtet sich schon Thomas Manns nächster – wie dann auch sein letzter – literarischer Versuch, Bachofens Konzepte aufs zwanzigste Jahrhundert zu übertragen, nicht etwa wieder gegen den Faschismus, obwohl die Gelegenheit dazu durchaus bestünde: Denn die fiktive Erzählzeit des Doktor Faustus fällt ja zum weitaus größten Teil unter den Nationalsozialismus. Auf diesen, wie schon gesehen, hat man vielleicht immerhin und um den Preis eines allerdings massiven Anachronismus die nebulöse Wendung zu beziehen, mit der im Felix Krull Professor Kuckuck seine Einschränkung 265 Bd. 8, S. 661 f. 266 Bd. 8, S. 661; im Original keine Hervorhebung.
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des Prinzips »Fortschritt« beschließt oder abbricht: daß eben nicht nur »in der übrigen Natur«, sondern »auch in der Menschenwelt« jederzeit ein Rückfall stattfinden könne »ins Wilde« und »Urtümliche«, ins »Dumpfeste[]« und »Dümmste[]«. »Davon nichts weiter.« Dennoch zielen im Doktor Faustus die Indizien ›hetärischer‹ Rückschlagsbewegungen nicht auf den deutschen Faschismus, sondern, soweit sie jedenfalls wie in der Betrogenen die deutsche Gesellschaft betreffen, auf den Staat, den dieser zerstörte. Andererseits aber, und hierin eben ist das Gesamtwerk doch auch folgerichtig, tauchen im Doktor Faustus solche Indizien an dieser deutschen Gesellschaft zunächst einmal nur vereinzelt und gleichsam erratisch auf. Die ersten konsistent ›hetärischen‹ »Regressionsbewegung[en]« 267 indessen finden sich, wie im Zusammenhang mit der »Matrone« Manardi schon angedeutet und wie eben gleich noch genauer zu zeigen, wieder in Italien.
4.2 Die Pariser Rechenschaft und Alfred Baeumlers Bachofen-Lektüre Thomas Manns fiktionale Stilisierungen zuerst nicht einfach Italiens, sondern des italienischen Faschismus als einer Verweiblichung und eines ›Rückschlags‹ ins ›Hetäristische‹ scheinen in der Literaturgeschichte, jedenfalls der deutschen, ihresgleichen nicht zu haben. Das ihnen zugrunde liegende Prinzip aber, Bachofens Theorie und Prognose einem ganz bestimmten Verständnis der Zeitgeschichte dienstbar zu machen, wird Thomas Mann schon vom mutmaßlichen Anfang seiner Bachofen-Rezeption bekannt und vertraut gewesen sein. Nur ging es dabei nicht um den Faschismus, sondern um die Weimarer Republik. Thomas Mann und eben viele andere deutsche Wertkonservative entdeckten Bachofen in einem Moment, da in Deutschland de facto oder sogar de lege Wirklichkeit geworden war, was Bachofen erst befürchten mußte oder heraufkommen sehen konnte. Man begann Bachofen zur Zeit eben der Republik und vor allem auch der antirepublikanischen Polemik wiederzulesen, zu deren fester Schmähtopik nicht zuletzt das Schimpfwort von der ›Sumpfkultur‹ gehörte. 268 Die Bachofen-Renaissance der Zwanzigerjahre reflektierte eine Nostalgie, welche der Übergang vom Kaiserreich zur Republik bei einem offenbar sehr beträchtlichen Teil des deut267 Bd. 11, S. 288. 268 Vgl. Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1963, S. 12.
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schen Bildungsbürgertums und natürlich nicht nur des Bildungsbürgertums aufkommen ließ. Das läßt sich etwa an Alfred Baeumler zeigen, den Thomas Mann seit den Betrachtungen eines Unpolitischen interessiert zur Kenntnis nahm. Zu jener Bachofen-Auswahl, die Schröter unter dem so vielsagenden Haupttitel »Der Mythus von Orient und Occident« 1926 kompilierte, hatte Baeumler unter dem Titel »Bachofen der Mythologe der Romantik« eine gegen dreihundert Großoktavseiten starke »Einleitung« beigesteuert, die damit nahezu halb so lang war wie alle die ›eingeleiteten‹ Auszüge aus »dem Werk J. J. Bachofens« zusammengenommen. In dieser also etwas etikettenschwindlerisch so genannten »Einleitung« schloß Baeumler Bachofen oder das, was er unter dem »Mythologe[n]« Bachofen verstand, direkt an die politischen und sozialen Gegebenheiten vorgeblich des »modernen […] Europa«, in Wahrheit aber wohl eher nur der deutschen »Gegenwart« an: an den Krieg, der für den Verfasser allerdings noch nicht wirklich vergangen, geschweige denn verloren zu sein scheint; und an das Frauenwahlrecht, das in Deutschland kaum erst eingeführt worden war. Solch eine »politisch-soziale Gleichberechtigung« des »Weibes« freilich soll Baeumlers »Einleitung« zufolge noch vergleichsweise leicht ins Gewicht fallen. Sie erscheint hier noch nicht einmal als ein wirklich ernstzunehmendes Symptom einer sehr viel tiefer gehenden »Wandlung[]«, die auch nur schon die Geschlechterphysiognomien »sofort« und auf »[e]in[en] Blick« zu erkennen geben sollen. Unter Baeumlers »[e]in[em] Blick in die Gegenwart« ist »klar« und »offen[]« die ›aphroditisch‹-›orientalische‹ Geschlechterordnung oder Geschlechterentropie wiedergekehrt. So heißt es zum Beispiel an exponierter Stelle, nämlich ganz am Ende der »Einleitung«: Aber haben wir denn mutterrechtliche Zustände? Herrscht nicht bei uns, durch das bürgerliche Gesetzbuch verbrieft, das Vaterrecht? Mit Not und Mühe hat sich das Weib eben erst die politisch-soziale Gleichberechtigung erkämpft; wie kann im modernen, kriegerischen, von Männern beherrschten Europa von »Mutterrecht« die Rede sein? […] Ein Blick auf die Gegenwart läßt die Bedeutung dessen, was nicht in den Institutionen enthalten ist, sofort klar werden. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die väterliche Gewalt, die Herrschaft des Mannes heute gebrochen ist, daß Monogamie und Vaterrecht zwar in den Gesetzbüchern vorkommen, aus dem Leben aber geschwunden sind. (Es ist hier natürlich von denjenigen Gesellschaftsschichten die Rede, die die Wandlungen der Zeiten spüren und ihnen innerlich folgen. Man halte uns also nicht einzelne Reste älterer Gesellschaftsformen entgegen.) […] Ein Blick in die Straßen Berlins, Paris [sic!] oder Londons, in das Gesicht eines modernen Mannes oder Weibes genügt, um den Kult der Aphrodite als denjenigen zu erweisen, vor dem Zeus und Apollon zurücktreten müssen. […] In einer Zeit der Ausschweifung, der sinnlichen Verfeinerung und der Verzweif-
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lung herrscht notwendig das Weib als das eigentliche Geschlechtswesen: Nicht weil sie nur Eva, oder richtiger Lilith sein könnte (Lilith ist das Weib, dem nicht Maria als zweite Eva gegenübersteht), sondern weil das Symbol der buhlerischen Omphale die Stunde beherrscht. 269
Ein so unmittelbarer Anschluß der Bachofenschen Kulturtheorie an die deutsche Gegenwart hatte natürlich ihren Preis. Erkauft hat ihn Baeumler zum einen durch eine starke, aber immerhin noch halbwegs vertretbare Überhellung des pessimistisch-zyklischen Geschichtsverlaufs, wie er ihn bei Bachofen ja mitunter tatsächlich konzipiert finden konnte; zum andern jedoch durch die besondere Wendung, die er dem Topos von der Hure Babylon hier gab. Eine besondere Wendung gab er ihm, indem er unterschwellig eine zeitgenössisch-konservative Aversion gegen das »moderne[]« Großstadtleben mit einfließen ließ (»die Straßen Berlins, Paris oder Londons«). Nach solch einer Assoziation der vor- oder vielmehr postpatriarchalen Geschlechterverhältnisse mit der Großstadt würde man in den Gesammelten Werken Bachofens und auch in den Briefen ganz vergebens suchen, die dieser aus »Paris oder London[]« schrieb. Darin äußerte er sich entweder gar nicht oder dann hell begeistert über die Orte des Datums. (Deren mondän-großstädtische Perspektive hingegen bot ihm umgekehrt sogar eine Gelegenheit, seiner Verachtung der heimatlichen, kleinstädtisch-kleinstaatlichen Verhältnisse Ausdruck zu geben und seine Mitbürger dabei mitunter als »Basler Kümmeltürken« ihrerseits zu orientalisieren.270) Mit ihren teils also bis zur Entstellung forcierten Aktualisierungen Bachofens war Baeumlers »Einleitung« desto besser geeignet, ihren Zweck zu erfüllen. Trotz ihres kraß unverhältnismäßigen Umfangs konnte, ja mußte sie die Aufmerksamkeit und Neugier des Lesers oder wenigstens einer bestimmten Art Leser auf das so ›eingeleitete‹ Textkorpus lenken. Bestimmen läßt sich der intendierte Typ Leser vice versa gerade anhand der Aktualisierungen, ihres Appells an Gynophobie und Antiurbanismus, auch anhand der Nonchalance, mit der Baeumler Kriegsniederlage und Versailler Frieden ignoriert (»im […] kriegerischen […] Europa«). Bei einem Leser wie Thomas Mann jedenfalls, der Bachofen noch gar nicht oder nur vom Hörensagen kannte und Baeumlers Verzerrungen also noch
269 Alfred Baeumler, Einleitung. Bachofen der Mythologe der Romantik, in: Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. XXV–CCXCIV, hier S. CCXCII f. 270 Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 12–18, 341–344. Vgl. Mike Savage, Walter Benjamin’s Urban Thought. A Critical Analysis, in: Mike Crang und Nigel Thrift (Hgg.), Thinking Space, London und New York: Routledge, 2000 (Critical Geographies, Bd. 9), S. 33–53, hier S. 37.
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nicht als solche zu durchschauen vermochte, mußte die »Einleitung« ein ernsthaftes Interesse an Bachofen wecken oder doch sehr verstärken. Thomas Mann hat Baeumlers »Einleitung« mit Sicherheit ganz unverzüglich gelesen. Er geht noch im Jahr ihrer Publikation in einem Exkurs seiner Pariser Rechenschaft eigens und ausführlich darauf ein. 271 Wie wichtig ihm der Exkurs und die Neuentdeckung Bachofens gewesen sein müssen, verrät vielleicht schon eine leichte Deplaziertheit dieses Exkurses. Wahrscheinlich ist der Exkurs nämlich einem (dann freilich nur sehr geringfügigen) Anachronismus geschuldet. Denn die eigentliche Pariser Reise, über die der Großessay »Rechenschaft« ablegen soll, fiel schon in die ersten Tage des Jahrs 1926. Erst in diesem Jahr 1926 aber erschien beziehungsweise sollte erst noch Der Mythus von Orient und Occident erscheinen. (Und das Datum, mit dem Schröter seinen editorischen »Nachbericht« versehen hat – »München, im Dezember 1925« 272 –, verbietet es wohl, die Jahreszahl des Impressums nicht beim Nennwert zu nehmen und den Anachronismus über die Annahme zu beseitigen, daß es sich hierbei um eine sonst durchaus nicht unübliche Vordatierung eines in Wahrheit schon 1925 publizierten Buchs handelt.) Zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner »Rechenschaft« – wo sich übrigens auch der im Gesamtwerk erste Beleg für das Nomen »chthonisch[]« findet 273 – scheint Thomas Mann Baeumlers nach seinem ersten Dafürhalten »große[] und geistvolle[]« 274 »Einleitung« sogar besser gekannt zu haben als Bachofen selbst, ja diesen vielleicht noch gar nicht aus erster Hand. Er differenziert noch nicht zwischen Baeumlers kulturkonservativer Vereinnahmung Bachofens und Bachofen selbst. Er verrechnet hier beide, Baeumler und Bachofen, unter ›Irrationalismus‹, atavistische Regressionssehnsüchte und dergleichen. Diese Kritik beruht auf einem doppelten Mißverständnis. Weder ist Bachofen ein »Lobredner der gynaikokratischen Weltzeit«,275 wie Baeumler einmal schreibt (und wie man ja bis heute zu glauben scheint, daß sein »Herz für das Matriarchat schlug«); noch auch hat ihn Baeumler ausschließlich und undifferenziert als einen solchen hingestellt, der, wie Thomas Mann damals noch annahm, »zutiefst beherrscht und bestimmt« sei
271 Bd. 11, S. 48–51. 272 Manfred Schröter, Nachbericht, in: Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 626–628, hier S. 628; im Original keine Hervorhebung. 273 Bd. 11, S. 38. 274 Bd. 11, S. 48. 275 Baeumler, Einleitung, S. CCLXXIII.
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»von dem großen ›Zurück‹, von der mütterlich-nächtigen Idee der Vergangenheit«.276 Das erste, gravierendere Mißverständnis, daß Bachofen also dem »Matriarchat« das ›Lob redete‹, muß Thomas Mann während seines eigenen, nicht mehr vermittelten Studiums der Bachofenschen Schriften recht bald einmal eingesehen haben. Die ruckartige und nachgerade befreiende Richtigstellung dieses Mißverständnisses scheint ihre Spur in jener Glosse hinterlassen zu haben, die er neben die von Bachofen gepriesene Kultur›Höhe‹ des ›Vaterrechts‹ setzte: »also doch«. Die Glosse ist aber wohl auch überhaupt symptomatisch für die kritische Distanz, die er gegenüber Baeumlers Bachofen-Rezeption allmählich gewann. Für Thomas Mann war und blieb Baeumler von nun an, unter nur sehr geringfügigen Einschränkungen,277 zeitlebens der große »Verfälscher Bachofens«, wie er ihn privatim in seinem letzten Lebensjahr einmal titulierte. 278 Daß Thomas Mann die Bachofen-Rezeption Baeumlers als Begleiterscheinung der irrational-reaktionären »Vaterländerei« 279 verstand, wogegen sich dieser von allem Anfang an verwahrt haben wollte und nach 1945 begreiflicherweise tatsächlich verwahrte, beruht indessen, nicht nur nach Baeumlers eigenen Aussagen, seinerseits auf einem Mißverständnis oder doch auf einer starken Vereinseitigung der ziemlich wirren und diffusen »Einleitung«. 280 Dennoch stimmt die Taxierung Baeumlers als eines »Wegbereiter[s]« 281 mit seiner späteren Parteimitgliedschaft und mit der Karriere überein, die er im Nationalsozialismus machen konnte. (Und es entbehrt nicht der Ironie, wenn er nach dem Krieg, bei seiner Selbstrechtfertigung und zur Entschuldigung für die »unbegreifliche Verdunkelung« seines »Verstandes«, 282 Thomas Manns »begeistert[e]« Lektüre seiner »Einleitung« als entlastendes Argument aufführte. 283) 276 Bd. 11, S. 48 f. 277 Vgl. die Notiz zu Freud und die Zukunft (1936, also zehn Jahre nach der Pariser Rechenschaft), in: Marianne Baeumler, Hubert Brunträger und Hermann Kurzke (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1989, S. 179. 278 Brief vom 3. November 1954 an Jonas Lesser; Baeumler et al. (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler, S. 239. 279 Bd. 11, S. 50. 280 Vgl. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, S. 172–176; Hermann Kurzke, Vorwort, in: Baeumler et al. (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler, S. 7–10, hier S. 8. 281 Brief vom 3. November 1954 an Jonas Lesser; Baeumler et al. (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler, S. 239. 282 Alfred Baeumler, Brief vom 24. März 1950 an Manfred Schröter; Baeumler et al. (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler, S. 202–212, hier S. 212. 283 Alfred Baeumler, Meine politische Entwicklung [1948], in: Baeumler et al. (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler, S. 192–201, hier S. 201.
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Manns politische Bachofen-Rezeption
Der Thomas Mann der Pariser Rechenschaft scheint Baeumler also doch auch mit einem seismographisch feinen Spürsinn für politische Weiterungen und ideologische Allianzen gelesen zu haben. Offenbar interessierte ihn an der Bachofen-Rezeption Baeumlers die antirepublikanische Bedrohung von Seiten der rechtsextremen Ideologie, als deren Exponent Baeumler freilich erst durch die angeblich ungerechtfertigten Angriffe der Pariser Rechenschaft identifizierbar geworden sein wollte. 284 Bei aller auch eingestandener Bewunderung war Thomas Mann jedenfalls durchaus in der Lage, die protofaschistischen Tendenzen nüchtern zu analysieren und souverän die politischen Interessen zu durchschauen, welchen Baeumler mit seiner Bachofen-Lektüre zuarbeitete. Insofern fällt es schwer, ihn, Thomas Mann, selber unter das rechtskonservative Lager zu subsumieren und seine eigene Auseinandersetzung mit Bachofen aus bildungsbürgerlichen Widerständen gegen die Republik und gegen alles zu motivieren, was mit ihr besonders in sexualibus einherging (und wovon natürlich auch schon nur von Keyserlings Ehe-Buch beziehungsweise die Verunsicherung zeugt, auf welche dieses Buch reagierte oder der es mit abhelfen sollte). Mit solchen Widerständen bei Thomas Mann gar nicht erst zu rechnen und bei ihm danach gar nicht erst zu suchen, kann freilich auch heißen, seiner eigenen Selbstdarstellung aufzusitzen. Seine Selbstdarstellung lief ja darauf hinaus, daß er buchstäblich von einem Tag zum andern von einem ›unpolitischen‹ und loyalen Untertanen zu einem engagierten Demokraten und Republikaner zu mutieren in der Lage war. Eine solche Mutation ist um so bedenklicher, um so unglaubwürdiger auch, als Thomas Mann das, um es vorsichtig zu sagen: Spektakuläre daran sich oder jedenfalls seiner Leserschaft nie wirklich eingestand und mit einem noch nicht einmal halbherzigen Sophismus beschönigte: »Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert, – nicht meinen Sinn.« 285 Thomas Manns republikanische Positionen nach 1918 so eindeutig und so klar umrissen hinzunehmen, wie er sie gerne bezog, ist allein schon methodisch problematisch, und das aus zweierlei Gründen. Psychologisch rechnet man dabei sozusagen mit einem voranalytischen, gleichsam absoluten Subjekt, das ohne Rest in seinem Selbstbewußtsein aufgeht und nichts vor sich oder anderen zu verleugnen, zu verdrängen, zu unterdrücken hat. Ein solcher, gleichsam kompakter Subjekt-Begriff wäre noch nicht einmal mit dem ›mainstream‹ der Thomas Mann-Forschung und ihren noch immer vorherrschenden theoretischen Prämissen zur Deckung 284 Vgl. z. B. Alfred Baeumler, Brief vom 15. Juli 1954 an Jonas Lesser; Baeumler et al. (Hgg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler, S. 219–233, hier S. 221. 285 Bd. 11, S. 809; im Original keine Hervorhebung.
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zu bringen, mit ihrem vergleichsweise stark ausgeprägten Autorintentionalismus. Thomas Mann, der die Psychoanalyse spätestens zur Zeit des Tods in Venedig zu rezipieren begann, 286 hat solch einen monolithischen Begriff des Subjekts ja schon vor der Pariser Rechenschaft selber verabschiedet, ganz besonders im Zauberberg, dessen Entstehung sich bekanntlich von der Vorkriegszeit über den Krieg bis tief in die Zeit der Republik erstreckte. Zum andern wäre es rezeptionstheoretisch fahrlässig, Aussagen, wie sie in der Pariser Rechenschaft stehen oder auch in Von Deutscher Republik, für ganz und gar bare Münze zu nehmen. Die Rechenschaft, der Titel sagt ja im Grunde schon alles, ist natürlich kein abgehobenes und hoch erhabenes Selbstgespräch; sondern sie steht in einem Interaktionszusammenhang, und zwar wohl mehr noch als die meisten öffentlichen Reden, die Thomas Mann hielt, vergleichbar am ehesten wieder nur mit Texten wie Von Deutscher Republik. Thomas Mann schrieb die Pariser Rechenschaft nach einer Vortragsreise, zu der ihn die französische Niederlassung der Carnegie Foundation eingeladen hatte. Wie schon der französische Name der Stiftung vermuten läßt, »Dotation Carnegie pour la paix internationale«, verfolgte die Einladung ein weit mehr als nur literarisch-kulturelles Ziel und Interesse. Die tagespolitischen Absichten, denen sie diente, kann man schon nur aus dem Zeitpunkt der Reise supplieren. Thomas Manns Reise nach Paris fand ein paar Monate nach dem Vertragsabschluß von Locarno und in dem Jahr statt, in dem das Deutsche Reich in den Völkerbund aufgenommen wurde. Sie sollte ganz offensichtlich die deutsch-französische Annäherung im besonderen und die Integration des deutschen Sonderfalls in die internationale Gemeinschaft im allgemeinen befördern. Sie war also Teil dessen, was der Erzähler des Doktor Faustus mit gehöriger und verräterischer Vorsicht so bezeichnet: »ein Versuch, ein nicht ganz und gar aussichtsloser Versuch (der zweite nach dem fehlgeschlagenen Bismarcks und seines Einigungskunststücks), zur Normalisierung Deutschlands im Sinne seiner Europäisierung oder auch ›Demokratisierung‹, seiner geistigen Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben der Völker«.287 Es mußte sich also von selbst verstehen, daß man Thomas Manns Reise von allem Anfang an als eine eminent politische Geste aufnehmen würde. Man konnte sie vor allem auch in Deutschland nicht anders denn als solche bewerten; und es spricht für sich, wenn eine französische Übersetzung des Bilan parisien so erstaunlicher- wie bemerkenswerterweise erst
286 Vgl. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, S. 169–206. 287 Bd. 6, S. 515.
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in den Siebzigerjahren erschien. 288 Der deutschen Kritik, der deutschen Kritik von rechts, die Thomas Mann korrekt antizipierte, sollte ganz unverkennbar schon der defensive Charakter des Titels »Rechenschaft« wenn nicht mehr zuvorkommen, so doch noch entgegnen. In der Pariser Rechenschaft, man darf wohl nicht einfach sagen: ›spielt‹, aber nimmt Thomas Mann doch eine ganz bestimmte Rolle wahr. Er spricht hier als Träger der »Hoffnung der deutschen Republik« 289 oder, wie Serenus Zeitblom angesichts »aller« ihrer »eingeborenen Schwäche und Antipathie gegen sich selbst« wieder verräterisch einfühlsam formuliert, der »Hoffnung, die sie den Fremden erweckte«. 290 Die Pariser Rechenschaft war sicherlich nicht der Ort, Zweifel und Vorbehalte gegenüber der »›Demokratisierung‹« zu formulieren, die auch der aufgeschlossene Erzähler des Doktor Faustus ebenso wie das Adjektiv »›republikanisch‹« zwischen Anführungszeichen zu setzen nicht umhin kann.291 Daß Thomas Mann eine Reserviertheit gegenüber der Demokratie teilte, wie sie Zeitblom hier wenigstens durch die Interpunktion andeutet, daß er solche Zweifel von seiner ›unpolitischen‹ Vergangenheit her geradezu hegen mußte und ihnen jedenfalls sehr gut nachfühlen konnte, und sei es auch nur un- oder halb eingestandenerweise, dafür finden sich in seinen Reden und Essays zugegebenermaßen keine eindeutigen Belege. Unter der Voraussetzung aber, daß die antirepublikanischen Widerstände unter die Bewußtseinsschwelle hinabreichten, können sich solche diskursiv-patenten Belege dafür auch gar nicht finden; auch ganz abgesehen also von der besonderen öffentlichen Rolle, die Thomas Mann in solchen Texten wahrnahm. Die literarischen Texte jedoch, sobald man sie nur etwas näher darauf hin besieht, sind voll von hier einschlägigen Indizien. Das gilt in besonders hohem Maß für Die Betrogene, aber auch für den Doktor Faustus.
4.3 Doktor Faustus Soweit es nach 1918 entstanden ist, gibt oder gäbe Thomas Manns fiktionales Œuvre deutlich genug zu verstehen, daß sein Autor die »Zeitenwende« 292 dieses Jahrs zuinnerst und zutiefst nie ganz verwinden konnte. 288 Vgl. Georg Potempa, Thomas Mann-Bibliographie. Übersetzungen – Interviews, Morsum: Cicero, 1997, S. 1057. 289 Bd. 6, S. 515. 290 Ebd. 291 Bd. 6, S. 516. 292 Bd. 6, S. 366.
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Als literarischer Autor ist oder wäre Thomas Mann, auch und vor allem der späte und späteste, selber ein Zeuge erster Güte für die Nostalgie, die er an Baeumlers Bachofen-Rezeption in der Pariser Rechenschaft aufs Korn seiner Kritik nahm. Wenn er dennoch kaum je als solch ein Zeuge, wenn er nur gerade und bestenfalls als Autor der zur Zeit der Weimarer Republik auch entstandenen Novelle Unordnung und frühes Leid so gelesen wird; wenn vielleicht gerade auch deswegen sein letztes vollendetes Werk wenig Beachtung fand und in der ›interpretive community‹ eine gewisse Ratlosigkeit hinterließ: dann hat das alles vermutlich nicht nur mit dem Geschick und der Überzeugungskraft der republikanischen Selbstdarstellung zu tun, die er in Texten wie der Pariser Rechenschaft so erfolgreich betrieb. Es ist wohl auch, wenn nicht am allermeisten der sehr viel weniger ambivalenten Rolle geschuldet, die er im Zusammenhang mit einer anderen, der »Zeitenwende« der Dreißigerjahre spielte und die er bei deren kollektiver Bewältigung, wie besonders die darauf kaprizierte Forschungsliteratur zum Doktor Faustus erkennen läßt, als Garant des ›anderen‹ und ›guten‹ Deutschland noch immer spielt. Ausgerechnet aber von demselben Doktor Faustus an, zu einer Zeit also, als die Weimarer Republik im Nationalsozialismus untergegangen war, richtet Thomas Mann seine produktive Bachofen-Rezeption, wie bereits angedeutet, nicht mehr gegen den Faschismus, wie er es noch in Mario und der Zauberer getan hatte; sondern er wendet sie hauptsächlich gegen diese Republik. Oder genauer gesagt spitzt er sie auf die Republik zu. Denn die aller-, allerersten ›hetäristischen‹ Erscheinungen finden sich im Doktor Faustus auf der Achse der erzählten Zeit schon unter der wilhelminischen Monarchie und besonders unter »der späten Regentschaft« 293 der Wittelsbacher. Das zeigen schon Leverkühns verschiedene Wohnorte in ihrer nach und nach weiblichen Dominiertheit und bis hinab zu den je bezogenen Zimmern. Daß diese, sozusagen, zusehends dunkler werden und in »Erdgescho[sse]« zu liegen kommen, kennzeichnet sie nicht nur als jeweils erreichte Tiefpunkte jener Sturzbewegung, die der Lebensweg Leverkühns beschreibt. Sondern das Dunkle, Erdige, Modrige dieser Zimmer läßt sich nun in eins damit auch als eine im Sinne Bachofens ›chthonische‹ Qualität verstehen, die den je erreichten Abstand zum ›solarisch‹-väterlichen Ursprung markiert.
293 Bd. 6, S. 270.
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4.3.1 »[D]as Goldene Horn« Um es kurz zu rekapitulieren: Bereits seine beiden Hallenser Studienjahre, 1903 bis 1905, verbringt Leverkühn, »als Untermieter einer älteren Beamtenwitwe«, in einem gewissermaßen schon halb lichtlosen Wohnraum, »ein[em] Zimmer mit Alkoven«. 294 In Leipzig sodann, etwa 1905 bis 1910 (die Angaben sind hier etwas widersprüchlich 295), bewohnt er zwei »Gezimmer im Erdgeschoß«, 296 also schon ›chthonische‹ und supplierbar dunkle Räume. In München, 1910 bis 1911, wohnt er wieder »zu ebener Erde«, »als Untermieter einer Senatorswitwe«, 297 die in der Handschrift einmal geradezu als »Matrone« bezeichnet war – während Rüdiger Schildknapp dort fortwährend »in der Amalienstraße« 298 lebt, also gewissermaßen unter dem Patro- oder Matronat einer sächsischen Königin und im Zeichen weiblicher Macht –: Er wohnte in der Rambergstraße, nahe der Akademie, als Untermieter einer Senatorswitwe aus Bremen, namens Rodde, die dort in einem noch neuen Hause mit ihren beiden Töchtern eine Wohnung zu ebener Erde innehatte. Das nach der stillen Straße gelegene Zimmer, gleich rechts neben der Entreetür, das man ihm abtrat, sagte ihm wegen seiner Reinlichkeit und sachlich-familiären Einrichtung zu, und bald hatte er es sich mit seiner persönlichen Habe, seinen Büchern und Noten vollends gerecht gemacht. Ein allenfalls etwas unsinniges Dekorationsstück bildete der umfangreiche, in Nußholz gerahmte Stich an der linken Seitenwand, welcher, Relikt eines verschollenen Enthusiasmus, Giacomo Meyerbeer am Klavier, eingebungsvoll erhobenen Blicks in die Tasten greifend und umschwebt von den Gestalten seiner Opern, darstellte. Indessen gefiel dem jungen Mieter die Apotheose nicht einmal so übel, und überdies wandte er ihr, wenn er im Korbstuhl an seinem Arbeitstisch, einem einfachen grün gedeckten Ausziehtisch, saß, den Rücken zu. So ließ er sie an ihrem Ort. Ein kleines Harmonium, das ihn an alte Tage erinnern mochte, stand in dem Zimmer und war ihm dienlich. Da aber die Senatorin sich meistens in einem rückwärtigen, gegen das Hausgärtchen gelegenen Zimmer aufhielt und die Töchter vormittags gleichfalls unsichtbar blieben, so stand ihm auch der Flügel im Salon, ein etwas abgespielter, aber weichtöniger Bechstein, zu freier Verfügung. Dieser Salon nun, ausgestattet mit gesteppten Fauteuils, bronzierten Kandelabern, vergoldeten Gitterstühlchen, einem Sofa-Tisch mit Brokatdecke und einem reich gerahmten, stark nachgedunkelten Ölgemälde von 1850, welches das Goldene Horn mit dem Blick auf Galata darstellte – kurz, mit Dingen, die sich als Reste eines einst wohlhäbigen bürgerlichen Haushalts zu erkennen gaben –, war 294 295 296 297 298
Bd. 6, S. 125; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 68. Bd. 6, S. 187. Bd. 6, S. 260; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 267. Vgl. einen lose überlieferten, am ehesten auf die späten 1890er Jahre datierbaren Notizzettel (Thomas Mann-Archiv): »Vitzthum Amalienstr. 9.«
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abends nicht selten der Schauplatz einer Geselligkeit in kleinem Kreise, zu der auch Adrian sich, anfangs widerstrebend, dann gewohnheitsmäßig hinzuziehen ließ, um schließlich, wie die Umstände es mit sich brachten, ein wenig die Rolle des Haussohnes dabei zu spielen. 299
Registriert wurde an diesem Passus bisher, wenn überhaupt etwas, der »Stich«, der hier vielleicht auch deswegen mit dem Index der Nostalgie versehen ist – »Relikt eines verschollenen Enthusiasmus« –, weil er so, nur anders gerahmt, 300 schon in den Buddenbrooks vorkommt und in die Jugend Heinrich und Thomas Manns zurückzuführen scheint;301 wobei sich auch hier andere als solche positivistischen Beobachtungen anknüpfen ließen. So hängt Meyerbeer im Dienstbotengelaß der Buddenbrooks neben »englischen Buntdrucken«. 302 Daran kann sich wohl etwas von seinem Verständnis und seiner Verurteilung als eines ›undeutschen‹ und »kosmopolitische[n]« Komponisten zeigen, 303 die Thomas Mann in seinem Essay Zur jüdischen Frage 304 offenbar von Nietzsche übernahm und die natürlich auch in Leverkühns Zimmer die ›Unsinnigkeit‹ solch eines Wandschmucks mit ausmacht. Nicht umsonst kehrt der »deutsche[] Tonsetzer[]« diesem den Rücken, wenn er komponiert. Sehr viel aufschlußreicher aber wäre die sich anschließende Beschreibung des Salons. Der realistisch ausführliche Katalog seines »wohlhäbigen« Interieurs droht mit der Fülle der Details die an diesen wichtigen Informationen gleichsam zuzudecken. Eine entscheidende Besonderheit könnte darin fast oder kann nach Ausweis der hier sich auftuenden Forschungslücke tatsächlich untergehen und ihrerseits »unsichtbar« bleiben. Wenn die Beschreibung von Leverkühns Wohnort und Arbeitsplatz in der Thomas Mann-Forschung die längste Zeit kein Interesse geweckt hat, dann vermutlich wegen deren eh und je weitgehend biographischer Fixiertheit, wie sie sich eben in der Kommentarliteratur zu jenem nostalgischen »Dekorationsstück« kundgibt. Denn die meisten Daten dieser Beschreibung sind sozusagen aus der Biographie des Autors verschleppt, der so gesehen gewissermaßen gar keine andere Wahl hatte. Thomas Manns eigene Mutter lebte an der »Rambergstraße«, einer kurzen Verbindung zwischen Kurfürsten- und Türkenstraße. Genau ge299 300 301 302 303
Bd. 6, S. 260 f. Bd. 1, S. 460. Vgl. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.2, S. 496; Bd. 1.2, S. 351. Bd. 1, S. 460; im Original keine Hervorhebung. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, und Berlin und New York: de Gruyter, 31999, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie; Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV; Nachgelassene Schriften 1870–1873, S. 690. 304 Bd. 13, S. 471.
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sagt wohnte sie an der Rambergstraße numero 2,305 sehr sinnigerweise heißt das: an der Ecke Türkenstraße. Die Rambergstraße Nr. 2 war seinerzeit ein Neubau 306 (»ein[] noch neue[s] Haus[]«). Julia Mann bewohnte darin das Erdgeschoß (»eine Wohnung zu ebener Erde«), und zwar zusammen »mit ihren beiden Töchtern«; und so fort. Solch eine biographisch informierte Lektüre, die einer Frage nach der Existenz und Funktion der hier katalogisierten Daten gewissermaßen zuvorkäme, ließe sich dadurch dekonstruieren, daß man sie mit dem konfrontiert, was in ihr ausgespart, übersehen, eben »unsichtbar« bleibt. Die Feminisierung des Haushalts zum Beispiel, in dem Leverkühn »die Rolle des« – nicht etwa: ›eines‹ – »Haussohnes« spielt, hat Thomas Mann mit dem Opfer seines eigenen Bruders und jüngsten Geschwisters erkauft: Viktor Mann wohnte seinerzeit ebenfalls an der Rambergstraße 2. 307 Seine Person ist bei der Fiktionalisierung der Familiengeschichte vollständig liegengeblieben – wie auch immer man diese literarische Elimination versteht und ob man sie nun psychoanalytisch, politisch oder aber nur strukturell interpretiert: psychoanalytisch als endliche Erfüllung einer kindlichen Tötungsphantasie; politisch als verächtliche Geste gegenüber einem Mitläufer und Nutznießer des Nationalsozialismus; strukturell allein mit der Notwendigkeit, Leverkühn einem reinen Frauenhaushalt auszusetzen. Umgekehrt ist der Katalog des gewöhnlich-gutbürgerlichen Interieurs um ein besonderes Detail angereichert, ein Gemälde, das man bislang weder biographisch nachweisen noch auch nur kunsthistorisch identifizieren kann und das dennoch – oder gerade deswegen – dreifach beschwert wird. Erstens läuft die ganze Aufzählung auf die Nennung dieses Gemäldes zu. Zweitens wird dessen erste Nennung dadurch zusätzlich profiliert, daß das Gemälde hier noch das einzige des Interieurs bleibt; das heißt dadurch, daß der Erzähler ein anderes, ein Portrait des verstorbenen Senators, hier noch quasi verschweigt, um es erst an wenig späterer Stelle, wohl bezeichnenderweise zwischen Klammern, mit zu erwähnen oder gleichsam nachzuschieben: »(dessen ernstes Portrait […] ebenfalls den Salon schmückte)«. 308 Und drittens wird an einer viel späteren Stelle eigens sichergestellt, daß man sich das Gemälde als Teil des »Schauplatz[es]« auch dann noch zu denken hat, nachdem Leverkühn aus der Stadt aufs Land gezogen ist. Die alternde Senatorswitwe soll nämlich ihrerseits ihren Wohnsitz nach
305 Vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München: Beck, 1999, S. 69. 306 Vgl. de Mendelssohn, Der Zauberer, Bd. 1, S. 245. 307 Vgl. Viktor Mann, Wir waren fünf, S. 26; de Mendelssohn, Der Zauberer, Bd. 1, S. 245. 308 Bd. 6, S. 261.
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Pfeiffering verlegt haben, 1916, 309 an einen »freien Platz gegenüber dem Schweigestill-Hof« (vor dem, und das erwies sich bekanntlich als nicht wenig bedeutsam, kein Lindenbaum mehr steht, sondern »– allerdings –« eine Ulme): […] in diesen paar schlicht getünchten und niedrigen Stuben […] zu ebener Erde, die mit den bürgerlich-eleganten Resten ihres Hausrats, Kandelabern, Steppfauteuils, dem ›Goldenen Horn‹ in schwerem Rahmen, dem Flügel mit der Brokatdecke darüber, wunderlich genug angefüllt waren. 310
Den Hintergrund des »Schauplatz[es]« bildet also hier wie dort ein »Ölgemälde […], welches das Goldene Horn […] darstellt[]«. Oder es bildet ihn sogar das Goldene Horn selbst: Denn dessen Signifikatscharakter ist ja an dieser zweiten Stelle übersprungen oder unterschlagen; jedenfalls bis auf die immerhin noch erwähnte Rahmung und die Interpunktion der einfachen Anführungsstriche, die ihrerseits das »›Goldene[] Horn‹« typographisch-ikonisch ein-›rahmen‹. Der »Schauplatz« scheint sich hart an der Grenze von Orient und Okzident zu befinden. Der Orient, »wunderlich genug«, scheint in Bayern zu beginnen, knapp achtzehn Längengrade zu westlich und gut sieben Breitengrade zu nördlich, 1600 Kilometer Luftlinie früher, als auf der Landkarte, und 48 Eisenbahnstunden eher, als auf dem Fahrplan des Orientexpreß im »Königl[ichen]« Kursbuch von 1910 angezeigt. 311 Eine solche Verschiebung der Kontinentalgrenze ist bei Thomas Mann freilich nicht singulär. Sie findet sich wie gesehen schon lange auch vor Mario und der Zauberer. Zur selben erzählten Zeit der ersten 1910er Jahre zum Beispiel, die dort allerdings mit der Entstehungszeit so gut wie zusammenfällt, schon knapp vier reale Jahrzehnte früher also beginnt Gustav von Aschenbachs Reise in den Infektionstod zwar am Münchner Nordfriedhof, an der »Ungererstraße«, aber einem »byzantinische[n]« Bau gegenüber, also ebenfalls an der »limite[] de l’Orient et de l’Occident«, wie es in einer für die Artikulation und Bewältigung europäischer Infektionsängste epochalen Preisschrift heißt. 312 Hier jedoch, im München des 309 Bd. 6, S. 432. 310 Bd. 6, S. 434. 311 Vgl. Königl. Bayerische Staatseisenbahnen (Hg.), Eisenbahn-Kursbuch für Bayern r. d. Rh., Pfalz, das gesamte Süddeutschland u. die Nachbarländer, München: Carl Gerber, (1. Mai) 1910, S. 15. 312 Adrien Proust, Essai sur l’hygiène internationale. Ses applications contre la peste, la fièvre jaune et la cholera asiatique […], Paris: Masson, 1873, S. 55. Vgl. dazu Thomas Mann, Frühe Erzählungen. 1893–1912. Kommentar von Terence J. Reed, Frankfurt a. M.: Fischer, 2004 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.2), S. 449 [aber noch nicht in: Terence J. Reed, Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Text, Materialien, Kommentar, München und Wien: Hanser, 41987 (Literatur-Kommentare, Bd. 19)], allerdings ohne
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Doktor Faustus, konspiriert die Orientalisierung der Stadt nicht einfach nur mit solchen diffusen Ängsten (wie sie übrigens auch schon in den Münchner Briefen Toni Buddenbrooks ›virulent‹ sind313); sondern sie ist in enger Beziehung zu Bachofens sehr spezifischer Kulturgeographie zu sehen. Auf diese und also darauf, daß ›Orient‹ hier auch und vor allem anderen einen Raum weiblicher Macht über den Mann meint, zeigt schon der konkrete Ort, an dem die orientalische Kulisse erstmals aufgezogen wird. Aufgezogen wird sie ja in einem sonst, und eben gegen die biographischen Vorgaben, rein weiblichen Haushalt (abgesehen allenfalls von »Isaak«, einem Hauskater, den die eine Tochter Trauer tragen läßt um den Papst und in dessen Gestalt sie sich also über eine ›männliche‹ Institution lustig macht, wie sie paternalistischer nicht sein könnte314). In diesem weiblichen und weiblich dominierten Haushalt wohnt ›der‹ Mann wieder nur als »Untermieter«. Und »wie die Umstände es mit sich br[ing]en«, fällt ihm darin »die Rolle« nur eben »des Haussohnes« zu. Unter so gearteten »Umstände[n]« nun aber fängt Leverkühn mit der Komposition von Love’s Labour’s Lost an. Ausgerechnet vor der Kulisse des Orients also beginnt er mit der Vertonung der Komödie, die wegen ihrer renitent-selbstbestimmten beziehungsweise sogar ›dämonisch‹-übermächtigen Frauenfiguren im streng gattungspoetischen Sinn gar keine mehr ist. In der »Anzeige, daß er die Komposition von ›Love’s Labour’s Lost‹ begonnen habe«, besteht daher nicht zufällig das erste Lebenszeichen, das Zeitblom von Leverkühn »aus der bayerischen Hauptstadt« erhält. 315 Angabe der Quelle, aus der sich Reed hier wie auch anderwärts bedient hat: Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 18, 44, 47, und von der dokumentiert ist, daß Reed und sein ›Mitarbeiter‹ sie rezipiert haben (in Reeds Brief vom 22. September 2001 an ihren Verfasser und in ihrer Rezension durch den Mitarbeiter: Malte Herwig, [Rezension von:] Yahya Elsaghe, Die imaginäre Nation: Thomas Mann und das ›Deutsche‹, in: Modern Language Review 98.3, 2003, S. 773–776). Zu weiteren Kommentarplagiaten vgl. z. B. Reed, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.2, S. 138, 230, 455, mit Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 103–105, 112, 273; Reed, a. a. O., S. 180, mit Yahya Elsaghe, Judentum und Schrift bei Thomas Mann, in: Manfred Dierks und Ruprecht Wimmer (Hgg.), Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2004 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 30), S. 59–73 (= Yahya Elsaghe, Judentum und Schrift bei Thomas Mann, in: Heinrich Detering und Stephan Stachorski (Hgg.), Thomas Mann. Neue Wege der Forschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, S. 202–216) [Vortrag, gehalten am 6. September 2002 in Berlin, in Gegenwart jenes Mitarbeiters], hier S. 70–72. 313 Bd. 1, S. 307. Vgl. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 56; Katrin Max, Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in Buddenbrooks, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2008 (Thomas-Mann-Studien, Bd. 40), S. 223 f. 314 Bd. 6, S. 262. 315 Bd. 6, S. 260.
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Ebensowenig zufällig ist es eine »Hauptstadt«, aus der diese Nachricht kommt. München ist die erste Haupt- und bekanntlich die überhaupt größte Stadt, in der Leverkühn je lebt, größer noch als das seinerzeit besonders schnell gewachsene Leipzig. 316 Die spezifische Bedeutsamkeit der Haupt- und Großstadt ergibt sich vielleicht schon aus deren schon einmal anzitierter Beschreibung, obwohl diese, ganz ähnlich wie beim Düsseldorf der Betrogenen, das eigentlich Großstädtische daran gerade zurücknimmt und die »Schönheit« der Stadt fixiert, »die bergbachdurchrauschte Dörflichkeit […], die Bequemlichkeit ihrer Sitten, […] etwas von permanenter Maskenfreiheit […], die […] karnevalistische Kunstgesinnung«: München mit […] seinen Bauernbällen im Fasching, seiner Märzenbier-Dicktrunkenheit, der wochenlangen Monster-Kirmes seiner Oktoberwiese, wo eine trotzig-fidele Volkshaftigkeit, korrumpiert ja doch längst von modernem Massenbetrieb, ihre Saturnalien feierte; München mit […] seinen esoterischen Koterien, die […] ästhetische Abendfeiern zelebrierten, seiner in öffentliches Wohlwollen gebetteten und grundbehaglichen Bohème. 317
Durch diese Periodenfragmente läuft eine Isotopie von »permanenter« Ausgelassenheit und sozusagen unfeierlicher Festlichkeit, ganz ähnlich wie schon durch den berühmt gewordenen 318 Anfang von Gladius Dei (1902), wo die Stadt übrigens ihrerseits schon orientalisch oder dann doch wenigstens italienisch verfremdet erscheint (wieder nahe »der Akademie« und in ursächlichem Zusammenhang mit dieser – geradezu in »der Türkenstraße« –, in Gestalt der »in der Tracht der Albaner Berge« kostümierten Modelle). 319 Zumindest einer der für diese Festivität aufgebotenen Ausdrücke könnte von Bachofen her gelesen werden: »Saturnalien«. Saturnalien, als kultische Erinnerungen an die unter dem Regiment des Saturn noch gegebene beziehungsweise phantasierte Gleichheit aller, sind oder waren bekanntlich ritualisierte Stürzungen der etablierten Gesellschaftsordnung, Verkehrungen der sozialen Hierarchien – so vielleicht, 316 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1866–1918, Bd. 1, S. 37. 317 Bd. 6, S. 269 f. 318 Vgl. z. B. Hans Mayer, »München leuchtete«. Über Thomas Mann und München [Vorwort], in: Jürgen Kolbe, Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894–1933, Berlin: Siedler, 1987 (Erkundungen, Bd. 6), S. 8–15; Werner Ross, Bohemiens und Belle Epoque. Als München leuchtete, Berlin: Siedler, 1997; Peter-Klaus Schuster, »München leuchtete«: Karl Casper und die Erneuerung christlicher Kunst in München um 1900, München: Prestel, 1984. Der erste Teil einer von den Landesmediendiensten des Freistaats Bayern veranstalteten Filmdokumentation über »München 1900–1950« trägt den Titel »München leuchtete 1900–1920«. Die Landeshauptstadt verleiht seit 1961 als »offizielle Ehrung« für »besondere Verdienste um München« die Medaille »›München leuchtet‹ – Den Freunden Münchens«, http://www.muenchen.de/Rathaus/referate/dir/ehrungen/mleuchtet/39303/ind (12. Dezember 2008). 319 Bd. 8, S. 197.
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wie die Münchener »Bohème« hier mit bürgerlichen Attributen versehen wird –; nur daß Zeitblom das Rituelle daran, und damit auch die zeitlich enge und strenge Begrenztheit, vernachlässigt. Vielmehr suggeriert er eine gleichsam chaotische ›Permanenz‹ des mundus inversus. Diesen bedenkt er später, im Zusammenhang mit dem »Fasching von 1914«, mit einem mythologisch-mythologiegeschichtlich womöglich noch bemerkenswerteren Namen, der wiederum auf einer und derselben Isotopieebene liegt mit der Münchener »Dicktrunkenheit« und dergleichen. Als promovierter Altphilologe und Lehrbeauftragter doch wohl auf der Höhe der zeitgenössischen Altertumswissenschaft, redet Zeitblom einmal von der »dionysischen Behaglichkeit« »der Isarstadt« und markiert diese Redeweise eigens noch: »wenn ich mich so ausdrücken darf«.320 Nach Erwin Rohdes einst berühmtem und hierin gründlich überholtem 321 Buch Psyche (1890/94), das Thomas Mann schon bei seiner Arbeit am Tod in Venedig eingehend studiert haben muß – und worin Bachofen noch völlig ignoriert bleibt –, kommen Dionysos und sein Kult aus dem ›Orient‹. 322 Darin ist er Venus-Aphrodite vergleichbar (die auch schon nach altgriechischer Auffassung aus dem Orient stammt 323). Und in der Tat hat die »dionysische Religion« bei Bachofen denselben Bedeutungswert wie der »Kult der Aphrodite«, ›Astarte‹ oder ›Is-t-ar‹: »Die dionysische Religion« sei »die Apotheose des aphroditischen Genusses […].« 324 Dionysos sei »im vollsten Sinne des Wortes der Frauen Gott«.325 »[A]ls […] kräftigste[r] Bundesgenosse der hetärischen Lebensrichtung« 326 führe er an »Stelle gewaltsamer Unterdrückung weiblicher Natur […] eine vollkommene Entfesselung derselben« herbei. 327 Er bewirke damit eine »Verkehrung der Geschlechtsverhältnisse und des Geschlechtsgenusses«; 328 eine Formulierung, die Thomas Mann in seinen verschiedenen Exemplaren des Texts einmal unter- und gleich zweimal angestrichen hat und deren Wortmaterial in Schwerdtfegers Bekenntnis vom »unerfreulichen Übergewicht 320 Bd. 6, S. 378. 321 Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 37. 322 Erwin Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg i. Br. et al.: Mohr, 21898 (Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991), Bd. 2, S. 38–102. 323 Vgl. Vinciane Pirenne-Delforge und Anne Ley, [Artikel:] Aphrodite, in: Hubert Cancik und Helmuth Schneider (Hgg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1, Stuttgart und Weimar: Metzler, 1996, Sp. 838–844, hier Sp. 839. 324 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 104; von Thomas Mann angestrichen. 325 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 102; von Thomas Mann angestrichen. 326 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 100. 327 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 86; von Thomas Mann angestrichen. 328 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 90; Thomas Manns Hervorhebung.
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der Frau in der Liebe« wiederauftaucht: »Es verkehre […] das Besitzverhältnis«… Dennoch darf man die mythisch-dionysische Stilisierung Münchens, die natürlich ihrerseits wieder an die angeblich »weinselige[]« »Landesart« der Betrogenen erinnert, nicht wirklich oder nicht hauptsächlich mit Bachofen interpretieren. Nicht nur daß der Wortlaut des Romantexts selbst solch einer Interpretation einen gewissen Widerstand entgegensetzte – denn von der »dionysischen Behaglichkeit« der Stadt heißt es, der Krieg habe ihr »ein Ende [ge]macht[]« –;329 schon die Assoziation von Stadt, Großstadt und all dem, was mit Dionysos oder Aphrodite bei Bachofen gemeint ist, läßt sich in dessen Werk ja überhaupt nirgends finden, wie gesagt nicht einmal in den Briefen, die Bachofen aus den Großstädten, den Größtstädten sozusagen seiner Zeit schrieb. Wenn sich solche Assoziationen im Roman dennoch nachweisen lassen, dann handelt es sich dabei nicht um eigentliche, sondern gewissermaßen um mittelbare oder vermeintliche Bachofen-Reminiszenzen. Die Inspiration zu diesen Assoziationen, mit anderen Worten, stammt nicht aus Bachofen selber. Vielmehr finden sich die entsprechenden Interpretamente erst in jener »Einleitung«, über die Thomas Mann Bachofen sehr wahrscheinlich zunächst kennengelernt hatte. Dort hatte Baeumler bekanntlich »den Kult der Aphrodite« nicht einfach nur an den »modernen« Gesichtern ausgemacht; sondern er sah ihn auch und, wie schon die syntagmatische Form seiner Behauptung zeigt, vor allem in der Großstadt wiederkehren: »Ein Blick in die Straßen Berlins […].« Auch hier, und hier sogar besonders eklatant, hat Baeumler den von ihm angeblich eingeleiteten Autor massiv ›verfälscht‹, indem er ihn eben mit der sehr zeitgenössischen Vorstellung spezifisch großstädtischer Physiognomien zusammenbrachte, wie sie einem etwa bei Ernst Jünger, aber auch bei Alfred Döblin oder Walter Benjamin entgegentritt.330 Nachdem Thomas Mann freilich die so ›eingeleiteten‹ und etliche weitere Originaltexte Bachofens gelesen hatte, war er wie gesehen sehr wohl imstande, die ideologisch bedingte Unzuverlässigkeit der von ihm zuerst recht euphorisch aufgenommenen »Einleitung« zu erkennen. Ob sich die Selbstkorrektur seines Urteils über die Bachofen-Lektüre Baeumlers indes 329 Bd. 6, S. 378. 330 Vgl. Wolfgang Brückle, Kein Portrait mehr? Physiognomik in der deutschen Bildnisphotographie um 1930, in: Claudia Schmölders und Sander L. Gilman (Hgg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, 2000, S. 131–155, hier S. 136; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, S. 115–119.
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auch auf dessen Gewichtung der Großstadt erstreckte, unter deren Signatur er der These von der gegenwärtigen Wiederkehr ›orientalisch‹-›chthonischer‹ Zustände in der »Einleitung« zum Mythus von Orient und Occident erstmals begegnet war, das muß durchaus fraglich bleiben. Ein konservativ-zeitgenössischer Antiurbanismus jedenfalls, wie ihn Baeumler mit der Gynophobie und dem Orientalismus Bachofens zusammenbrachte, ist bekanntlich schon den gröbsten, bereits einmal nachgezogenen Grundlineaturen des Doktor Faustus einbeschrieben. Nicht von ungefähr konnte Thomas Mann bei seiner Arbeit daran ja auf die Materialien zurückgreifen, die er einst zu einem bezeichnenderweise gescheiterten »Großstadt-Roman« zusammengetragen hatte. So übrigens, »Großstadt-Roman«, nannte er sein ›orientalisch‹ betiteltes Maja-Projekt (alias Die Geliebten) ausgerechnet in einem Brief, in dessen unmittelbarem Kontext er von seinem eigenen Besuch jener Dresdener Salome-Inszenierung zu berichten wußte. 331 Leverkühn, wie der Faust des frühneuhochdeutschen Volksbuchs ein »Bauwern Sohn«, 332 gerät auf seiner abschüssigen Lebensbahn wie gezeigt immer weiter weg von der ländlich-integren Herkunftssphäre seines Vaterhauses und in je größere Städte. Und bei deren Stilisierung und Dämonisierung kommt der Bachofensche Orientalismus in genau der ›verfälschten‹, angereicherten und sozusagen aufdatierten Form ins Spiel, die ihm Baeumler gegeben und in der ihn Thomas Mann zunächst kennengelernt hatte. Die Gefährdungen »des deutschen Tonsetzers« bleiben immer mit ›orientalisch‹ verfremdeten Städten verbunden: sei es, daß diese unmittelbar mit orientalischen Metropolen identifiziert werden; oder sei es wenigstens, daß die fiktionalen oder romanintern ›realen‹ Frauenfiguren, auf die Leverkühn in ihnen trifft, mit dem Orient assoziiert sind. In Leipzig, das er ja explizit mit der altorientalischen Metropole Ninive erst indirekt vergleicht und dann metaphorisch gleichsetzt, 333 »berührt« 334 ihn erstmals die ›fatale‹ Frau seines Lebens. Die Szene beziehungsweise die launige Erzählung von der Szene, die auf diese »Berührung« 335 und virtuelle ›contagion‹ zuläuft, macht unübersehbar Anleihen bei einem Text, in dem Sexismus und Orientalismus geradezu schulbeispielhaft kolludieren und dessen Autor wie erinnerlich seinerseits ein
331 Brief vom 17. Januar 1906 an Heinrich Mann; Briefe I. 1889–1913, S. 339–344, hier S. 340. 332 Historia von D. Johann Fausten, hg. v. Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart: Reclam, 1988, S. 13. 333 Bd. 6, S. 186 f.; vgl. S. 193. 334 Bd. 6, S. 198. 335 Ebd.
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Verächter und bissiger Kritiker der Großstadt war: 336 Nietzsches beziehungsweise Zarathustras Lied Unter Töchtern der Wüste (1885).337 Die eigentliche Ansteckung findet dann in »Preßburg« statt, »ungarisch Pozsony«,338 also in einer Stadt am Rand wenn nicht des europäischen, so doch des ›indoeuropäischen‹ Raums (und in Franz Seitz’ Verfilmung sogar im »Türkenviertel« von »Sarajewo« 339). Der »Vorwand«, unter dem Leverkühn nach Preßburg reist und der wie gesagt vielleicht sogar eine Halbwahrheit enthält, führt ihn angeblich oder eben tatsächlich in eine Stadt und Hauptstadt: »in Graz, der Hauptstadt Steiermarks, die österreichische Premiere der ›Salome‹ […]«. Die fiktionale femme fatale, die eigentliche ›Mutter‹ aller femmes fatales, der Leverkühn vorgeblich oder re vera-semivera entgegenreist, ist bekanntlich eine Orientalin; und der »Komponist[]« hat das ›Orientalische‹ an ihr, so in der Tonalität ihres berühmten ›Tanzes der sieben Schleier‹, auch noch besonders stark herausgetrieben. Diese femme fatale der »Orient[…]oper« 340 begegnet Leverkühn bereits »einige Monate früher«, bei der deutschen »Premiere der ›Salome‹«, und nota bene wieder respektive schon in einer, nämlich der sächsischen Hauptstadt: »[…] zu deren überhaupt erster Aufführung Adrian […] nach Dresden gefahren war.« Eine ›fatale‹ Orientalin erscheint dann wieder oder erklingt vielmehr nur noch in »der bayerischen Hauptstadt«, in Gestalt jener »Des-Dur-Arie der Delila« (da ja im Salon Bullinger wegen des avanciert-tertiären Mediums gerade nichts von dieser ›Orientoper‹ zu sehen ist). Und vor allem hängt in »der bayerischen Hauptstadt« zunächst das »stark nachgedunkelte[] Ölgemälde von 1850, welches das Goldene Horn mit dem Blick auf Galata darstellt[]«. Darin gehen Orientalismus und Antiurbanismus wiederum eine staunenswert arrangierte Symbiose ein. Denn das orientalische Sujet des Ölgemäldes wäre nur als solches, vage und allgemein orientalisches, ohne Rest mit Bachofen, über dessen Verhängung von Eurozentrismus und Gynophobie zu interpretieren. Aber es gilt gerade keinem beliebigen ›morgenländischen‹ Motiv. Wie ›vom Schiff aus‹ zu erkennen (um diesen Helvetizismus deswegen zu wa336 Vgl. Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II, S. 234, 423, 477 f. Vgl. z. B. Bergius, Berlin als Hure Babylon, S. 103. 337 Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 4: Also sprach Zarathustra I–IV, S. 380–385. Vgl. Elsaghe, Der Mythus von Orient und Occident in Thomas Manns Doktor Faustus, S. 430. 338 Bd. 6, S. 205. 339 Franz Seitz, Doktor Faustus – Lesefassung des Drehbuches, in: Gabriele Seitz (Hg.), Doktor Faustus. Ein Film von Franz Seitz nach dem Roman von Thomas Mann, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982, S. 31–112, hier S. 57. 340 Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, hg. v. Willi Schuh, Zürich: Atlantis, 31981, S. 224.
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gen, weil die Maler solcher Ansichten gerne von Booten aus arbeiteten), bildet das Gemälde zwei Stadtbezirke von Istanbul oder, »1850« beziehungsweise 1910, von Konstantinopel ab. Das Bild also, das in eine Haupt- und die schlechthin größte Stadt des Romans zu hängen kommt, zeigt, sozusagen in fraktaler Wiederholung und Verjüngung, seinerseits wieder eine Reichshauptstadt. Es zeigt die Großstadt, die Konstantinopel seit der Antike, auch noch um »1850« und erst recht zur hier erzählten Zeit des Romans war. Wie man der genau zeitgleichen Auflage eines Reiseführers entnehmen kann, zählte Konstantinopel um 1910 schätzungsweise mehr Einwohner – und Einwohnerinnen – als München und Leipzig zusammengenommen. 341 Der ›Hintergrund‹ der Komposition von Love’s Labour’s Lost, der also nicht nur nach Bachofens eigenen, ›orientalistischen‹ Kategorien bedeutungsvoll erscheint, sondern auch im Sinn ihrer antiurbanistischen Aneignung und ›Verfälschung‹ durch Baeumler, – der ganz konkrete Hintergrund, um diesen romanchronologisch irritierenden Umstand zu wiederholen, tut sich bereits im »München der späten Regentschaft« auf; mag dieses auch a limine auf den »Krieg[]«, und das heißt eben in eins damit auch auf die Republik »als innere Tatsache« vorausbezogen werden: »das München der späten Regentschaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt«. 342 Sehr bemerkenswert bleibt jedoch, wie schnell die elaborierte Symbiose von Orient, Großstadt und Love’s Labour’s Lost wieder preisgegeben wird. Sie bleibt kein Jahr bestehen, sondern nur eben »neun Monate, […] einen Herbst, einen Winter, ein Frühjahr«.343 Kaum aufgespannt, wird die Kulisse des Gemäldes sozusagen gleich wieder eingezogen; kaum begonnen, wird die Komposition schon wieder unterbrochen. München und Bayern scheinen doch nicht so ganz der richtige Ort, scheinen noch nicht der ganz richtige Ort für so eine Komposition zu sein. »Von der Musik von ›Love’s Labour’s Lost‹« schreibt Leverkühn unter den für sie scheinbar doch so günstigen Umständen immerhin zwar den »Klavierauszug« wenigstens »der exponierenden Szenen«. 344 Dann »aber«, das heißt also in einem sehr, sehr frühen Stadium, beginnt »die Arbeit [zu] stocken«. 345 Ihr Stocken soll einen »Wunsch nach Fernluft« in Leverkühn geweckt haben. Der »Wunsch«, der obendrein noch »zu touristisch un341 Vgl. Demetrius Coufopoulos, A Guide to Constantinople, London: Adam and Charles Black, 41910, S. 4. 342 Bd. 6, S. 270; im Original keine Hervorhebung. 343 Ebd. 344 Bd. 6, S. 280. 345 Ebd.; im Original keine Hervorhebung.
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gewöhnlicher Jahreszeit« 346 in ihm aufkommt, kann einen schon etwas befremden. Denn Leverkühn, ein Stubenhocker und »ja« gar nicht reiseund unternehmungslustiger Charakter, will sonst eigentlich partout »nichts sehen«.347 (Nur sein Vater war ein ›Seher‹ und »Spekulierer«. 348)
4.3.2 Das italienische Kapitel XXIV »Es war Italien«: 349 Die seltsam nestflüchtige »Unruhe«, die Leverkühn jetzt so plötzlich »beherrsch[en]« soll, 350 verschlägt ihn zusammen mit Schildknapp wie anderthalb Jahrzehnte zuvor Heinrich und Thomas Mann (»Poeta di Monaco« 351) nach Palestrina-Praeneste. Und wirklich kann die Arbeit an Love’s Labour’s Lost erst dort wahrhaft gedeihen. In weniger als einem Jahr, von »Ende Juni« 1911 bis »Mai« 1912, bringt Leverkühn dort gleich »vollendete und meist auch schon für ein ausgesuchtes Orchester instrumentierte[] Teile« zustande, ganze und »geschlossene Szenenzusammenhänge […]: […] einschließlich […] und […] besonders die Monologe Birons, auf die er es von jeher besonders abgesehen gehabt hatte« und aus denen Zeitblom bekanntermaßen eine zwar biographistische, mit der zeitgenössischen Shakespeare-Forschung konforme, 352 aber doch auch avant la lettre dekonstruktivistische Interpretation Shakespeares, »seine[r] Verfallenheit an die verdächtige black beauty« gewinnt. 353 An den für seine Komposition also offenbar ungleich förderlicheren Ort gelangt Leverkühn wie eben gesagt »Ende Juni« 1911, um ihn dann erst wieder im »Herbst 1912« zu verlassen.354 Sein Aufenthalt dort fällt also lange vor die Machtübernahme der Faschisten. Dennoch erinnern die Umstände, ›unter‹ denen er und Schildknapp sich hier wiederfinden, in ganz bestimmter Hinsicht an Torre di Venere. Sie erinnern an die voroder besser postpatriarchalen Verhältnisse, die dort einreißen beziehungsweise dort wiedereinreißen, wie wenigstens noch aus dem Ortsnamen, wenn auch aus keinem archäologischen Fund mehr zu vermuten steht. 346 347 348 349 350 351 352
Ebd. Bd. 6, S. 281. Bd. 6, S. 28. Bd. 6, S. 280. Ebd. Vgl. Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 96. Vgl. Ulrici, [Einleitung zu:] Liebes Leid und Lust, S. 264; Frank Harris, Shakespeare der Mensch und seine tragische Lebensgeschichte, Berlin: Fischer, 1928, S. 163–165, 372. 353 Bd. 6, S. 280 f., 286 f. 354 Bd. 6, S. 280, 334.
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Vor- oder postpatriarchale Verhältnisse, wie schon angedeutet, herrschen nämlich auch in dem »sabinischen Bergnest«. 355 Dort erinnern immerhin noch »geringe[] Trümmer« an die »antike[]« Vergangenheit. 356 Dazu gehört im übrigen ein Fortuna-, das man zu Thomas und Heinrich Manns Zeit aber ausgerechnet für ein Venus-Heiligtum hielt, 357 wie es eben kaum zufällig eines am Ort jener »kleine[n] Stadt« gegeben haben soll und wie eines einmal in Torre di Venere gestanden haben muß. Die vor- oder postpatriarchalen Verhältnisse erscheinen hier, im Palestrina des Doktor Faustus, in einem schon mehrfach erwähnten, nota bene sehr alten »Bau«. Dieser gleicht bis in den Wortlaut seiner Einführung dem »›Palazzo‹«, dessen »Gemäuer« in Torre di Venere erwähnt wird, und zwar, wie gesehen, im nahezu explizierten Zusammenhang mit der Einebnung sozialer Differenzen. 358 In dem »palazzo[…]artige[n] Bau«, mit ausdrücklich »kleinen Fenstern«, wohnt Leverkühn wieder »zu ebener Erde«, also wieder in einem gleichsam ›chthonischen‹ »Bereich«, der dementsprechend, »wie alle Zimmer des Hauses, verschattet« und auch ausdrücklich »dunkel« ist.359 Er wohnt bei jener von ihm schlechtweg so genannten »Mutter«. »[D]ie Mutter« 360 duzt ihn (»Bevi, bevi«) 361 und redet ihn bekanntlich, wie Cipolla sich selbst und wie sein Publikum seine männlichen Opfer,362 herablassend-ironisch mit »Poveretto!« an, »Armer Kerl!« 363 Sie bewirtet ihn indessen »mit einer Freigebigkeit, die zu dem bescheidenen Pensionspreis in keinem Verhältnis« 364 steht und also gewissermaßen noch nicht beziehungsweise nicht mehr den Regeln von Warentausch und Geldwirtschaft gehorcht. Der Raum wiederum, aus dem die so, quasi vorökonomisch gewährte Nahrung kommt und wo man sie möglicherweise auch verzehrt – das wird nicht ganz deutlich –,365 dieser als solcher mütterlich-weiblich besetzte Raum weist seinerseits in eine unvordenkliche Urzeit zurück: »mit düster gewaltigem Rauchfang und vollgehängt mit märchenhaften Schöpf-
355 Bd. 6, S. 281. 356 Ebd.; im Original keine Hervorhebung. 357 Vgl. Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 89; ebd. auch die Legende um eine Ortsgründung durch einen Sohn der Kirke, Caeculus. 358 Bd. 8, S. 671. 359 Bd. 6, S. 281 f. 360 Bd. 6, S. 297; im Original keine Hervorhebung. 361 Ebd. 362 Bd. 8, S. 697 f., 710. 363 Bd. 8, S. 698. 364 Bd. 6, S. 285. 365 Bd. 6, S. 282.
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löffeln sowie Tranchiergabeln und -messern, die einem Oger hätten gehören können«.366 Die Küche, »viel größer als« ein »Familieneßzimmer«,367 wird also nicht einfach nur mit einer »romantisch[]«368 illiteraten, vorhistorischen, eben einer Zeit assoziiert, an die allenfalls noch ›Märchen‹ oder Mythen erinnern. Sondern über die eine Sagenfigur des Oger, die hier aufgerufen ist und die sich in die »düster-gewaltige[]« Isotopie der äußeren Raumbeschreibung bequem einfügt, erhält sie etwas entschieden Bedrohliches – wie schon der »kastellartige Bau« und der ganze Ort, der einst als »Trutzburg« diente. 369 Was es mit der »Padrona« auf sich hat, die hier »waltet[]«, verrät wie gesehen bereits ihre Einführung: »eine stattliche Matrone«, »eine stattliche Matrone römischen Typs«.370 »Signora Peronella« ist eben eine Wiedergängerin der »römischen Matrone«, in der Bachofen Reste der »hetärische[n] Königsfrau Asiens« ausmachen zu können glaubte. Nella Manardi ist also nicht nur in mehr oder weniger psychoanalytischem Verständnis eine Mutterfigur oder -imago. Vielmehr ist sie in ihrer ›Stattlichkeit‹ so etwas wie »die Mutter« schlechthin. Sie ist, mit einem Wort, die ›Große‹ Mutter. Vielleicht, wer weiß, hat sie in dieser Eigenschaft sogar etwas von der ›Mutter Erde‹. Daraufhin wenigstens könnte man nicht allein ihre vielfältigen, überreichlichen und nahezu unentgeltlichen Nahrungsgaben auslegen, sondern möglicherweise selbst das Attribut, mit dem der Erzähler, als fachzünftiger klassischer Philologe, solche »Freizügigkeit« bezeichnet, indem er diese Bezeichnung mit einem Gedankenstrich absetzt und beschwert: »[…] – unermüdlich in Angeboten«. 371 ›Unermüdlich‹ ist die wörtliche und in der deutschen Schultradition habitualisierte Übersetzung des Adjektivs ਕțȐȝĮIJȠȢ. Mit diesem aber wird ausgerechnet ›Mutter Erde‹ im wohl überhaupt berühmtesten Chorlied der griechischen Literatur bedacht, im ersten Stasimon der Antigone, 372 das heißt eines Dramas, in dem man, wenn man danach sucht, seinerseits einen »anarchisch-matriarcha366 367 368 369 370 371 372
Ebd. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 285. Bd. 6, S. 281. Bd. 6, S. 282; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 285. Sophocles, ਝȞIJȚȖંȞȘ, in: ders., Fabulae, hg. v. H. Lloyd-Jones und N. G. Wilson, Oxford et al.: Oxford University Press, 1990 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), S. 181–238, hier S. 197 (V. 339); Sophokles, Antigone, in: ders., Tragödien, übersetzt von Wolfgang Schadewaldt, hg. v. Bernhard Zimmermann, Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 2002 (Bibliothek der alten Welt), S. 133–190, hier S. 148 (V. 338); ders., Antigone, übersetzt von Wilhelm Kuchenmüller, Stuttgart: Reclam, 2000, S. 18 (V. 338).
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le[n] Komplex« finden kann. 373 Einem solchen »Komplex« oder doch der Möglichkeit, ihn an dem »sophokleischen« Drama auszuwittern, entspricht es übrigens sehr genau, wenn der ›tragische‹ Held dieses in Storms Bekenntnis auf maximalen Abstand hält zu seinem divinatorischen Traumbild vom »Geheimnis des Weibes«. Antigone, rebellisch und kompromißlos wie sie ist, verkörpert offensichtlich für ihn wie wohl auch für Storm selbst den extremen Gegensatz zu der idealtypisch bürgerlich-braven Gattin, in deren Gestalt sich ihm ein Jugendtraum erfüllen wird,374 wie Storm ja selber einen geträumt haben soll. (Nicht umsonst gibt er, Franz Jebe, eigens auch noch zu Protokoll, daß er »übermäßige Tapferkeit« an Frauen gar nicht zu schätzen wisse. 375) Wie dem auch sei und ob hier nun wirklich ein verdecktes SophoklesZitat vorliegt oder doch eher nicht: Aus dem herrschaftlichen »Bau«, mit seinem Schindeldach, 376 unter dem »die Mutter« so »unermüdlich« »waltet[]«, bleibt, deren ›gynaikokratischer‹ Stilisierung gemäß, das Gesetz der patriarchalen Ehe ausgeschlossen. ›Gesetz‹ und ›Ehe‹ (was etymologisch ja ein und dasselbe ist) werden hier sozusagen ›im Namen der Mutter‹ mißachtet. Denn schon allein als solcher fordert der Name dieser Mutter das Ehegesetz gleich doppelt heraus. Nicht nur weist ihr Vorname, »Peronella«, auf eine Novelle, in der Boccaccio davon erzählt, wie eine rechtens geschlossene Ehe in flagranti gebrochen wird: Auch der Nachname »Manardi« stammt aus einer hier einschlägigen Erzählung des Decamerone, der vierten des Fünften Tags. Darin aber wird die Ehe gar nicht erst oder noch nicht einmal gebrochen, sondern außerehelich und noch vor jeder Absegnung schon ›vollzogen‹, und das im Haus oder genauer auf dem Dach des düpierten pater familias, 377 Vater einer »Signora Manardi« in spe. Nella-Peronella trägt ihre Ehelosigkeit an ihren »arbeitsgewohnten Händen mit dem doppelten Witwenreif« gewissermaßen ostentativ zur Schau. 378 Ihre beiden Brüder sind »verhärtete Junggesellen«. 379 Ihr »sanf-
373 Peter von Matt, Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München: Hanser, 1995, S. 116 f. Vgl. Erich Fromm, Das Undenkbare, das Unsagbare, das Unaussprechliche, in: Psychologie heute 5.11, 1978, S. 23–31, hier S. 26; freundlicher Hinweis von Melanie Rohner, Bern, vom 6. Februar 2010. 374 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 589. 375 Storm, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 598. 376 Bd. 6, S. 281 f. Vgl. Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 100 f., mit Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 295 f.; Bd. 3, S. 4, 251. 377 Boccaccio, Das Decameron, Bd. 2, S. 123–128. 378 Bd. 6, S. 282. 379 Bd. 6, S. 293.
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ter« 380 Schwager, wie an einer schon einmal zitierten Stelle der sonst so dezente, hier aber ausnahmsweise ganz indiskrete Erzähler eigens mutmaßt, tut seiner Frau »gewiß nur im caritativsten Sinn des Wortes etwas zuliebe«. Und auch so noch bleiben diese ›caritativen‹ Eheleute von Nellas Tafel abgesondert und haben sie »ihren eigenen Tisch« zu »führ[]en«.381 Somit »verpflegt« Peronella nur ihre »beiden Dauergäste«, 382 Leverkühn und Schildknapp, und ihre wie diese ledigen Angehörigen, ihre beiden Brüder eben und ihr einziges Kind. Dieses, nota bene wieder eine Tochter, heißt »Amelia«. 383 Amelia Manardis Vorname, holus bolus von ihrem ›Vorbild‹ mit übernommen – der Enkelin, nicht der Tochter von Thomas und Heinrich Manns einstiger Pensionswirtin –,384 ist also identisch mit dem, den in der Betrogenen die ›hetäristisch‹ leichtlebige Amélie Lützenkirchen trägt und den er möglicherweise sogar motiviert hat. (Auch als Königinnenname allerdings wird ›Amélie‹ Thomas Mann geläufig gewesen sein, und zwar in dieser französischen Form; war doch der erfolglose Karl I. von Portugal – seine Regentschaft endete mit einem Attentat und in einer Revolution –, von dessen Mutter wie gesagt Maria Pia alias Elvira Kuckuck-da Cruz sehr wahrscheinlich ihre Vornamen hat, mit einer Amélie von Orléans verheiratet. 385) Anders offenbar als ihr ›Vorbild‹, das allenfalls »amazonenhaft[]«-»trotzig« 386 wirkte und darin gegebenenfalls etwas von einer Antigone hatte, ist Amelia Manardi »etwas unklug[]«, 387 um es mit dem Euphemismus des Erzählers, oder, um es mit dem im Roman auf jene Arie der Delila gemünzten Modewort zu sagen, das aber auch »hier ganz exakt und nach dem Wortsinn am Platz« wäre: »Blödsinnig«. Dabei kann man zumindest einer ihrer Spintisierereien auch tieferen und hier einschlägigen Sinn abgewinnen. Sie performiert oder artikuliert nämlich so etwas wie grammatische ›Gynaikokratie‹, wenn sie ein nebenher und zufällig mit unterlaufender Germanizismus der deutschen Gäste förmlich packt und sie die Vorstellung und Möglichkeit nicht mehr losläßt, ein im Italienischen maskulines Substantiv gleichsam zu effeminieren: »La melona? La melona?«388
380 381 382 383 384 385
Bd. 6, S. 284. Bd. 6, S. 285. Ebd. Bd. 6, S. 282. Vgl. Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 99. Vgl. A. H. de Oliveira Marques, Geschichte Portugals und des portugiesischen Weltreichs, Stuttgart: Kröner, 2001 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 385), S. 395, 398, 402 f. 386 Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 99. 387 Bd. 6, S. 293. 388 Bd. 6, S. 283.
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Amelias »leicht[en]« Irrsinn behandeln ihre Angehörigen indessen wie »etwas Liebliches«. 389 Und Peronella selber, genau wie jene »Principe[ssa] X.«, ist immerhin ›abergläubisch‹; 390 wenn auch sonst das Irrationale, »Okkulte[]« im prägnanten Sinn von Mario und der Zauberer in dem »dunk[]l[en]«, »düster[en]«, »verschattet[en]« Haus eher nur am Rand vorkommt: so in der hierher situierten Episode um einen adligen »Gespensterseher« 391 oder natürlich in der nun allerdings wieder durchaus zentralen Fiebervision, die Leverkühn hier hat – »bei […] mit […] Läden vermacht[en]« »Fenstern«.392 Am Rand nachweisen läßt sich in Palestrina auch die Schleifung der Standes- oder Klassengrenzen, der Verfall insbesondere des Bildungsbürgertums. Dessen Anstandsstandards fallen hier sogar unter ein bäurisches Niveau ab. ›Rock bottom‹ erreichen sie in Gestalt von Nellas älterem Bruder, »Ercolano Manardi«, 393 wie er einmal sehr seltsamerweise mit Nachnamen heißt: eine Unstimmigkeit, die sich wiederum damit erklären und so verstehen ließe, daß hier die Mächtigkeit der Schwester, Mutter und Frau den ›Namen des Vaters‹ verdrängt hat. Nicht als ob bei »Signora Manardi«, so etwa wie bei Diane Philibert oder Maria da Cruz, der Mädchenname den Namen »von Frau Nella’s verstorbenem Gatten« ersetzt haben könnte – denn der muß selber »Manardi« geheißen haben, wie der Name seines »Bruder[s]« anzunehmen zwingt; heißt dieser »Vetter der drei Geschwister« doch seinerseits »Dario Manardi« –: 394 Vielmehr scheint es sich so zu verhalten, daß bei »Ercolano Manardi« der Name der verwitweten Schwester den Namen ihres und des Vaters eben auch ihrer beiden Brüder überschrieben hat. Wie dieser Name der Schwester, Tochter und Mutter, »Manardi« – mit dem Thomas Mann sehr spät einen früheren ersetzte, »Bernardini«, den wieder tel quel übernommenen Mädchennamen seiner italienischen Wirtin 395 –, so stammt übrigens auch noch der Vorname des älteren Bruders aus Boccaccio. Zusammen mit dem oder genauer mit den ›Namen der Mutter‹, »Peronella« und »Manardi«, steht er schon im Notizenkonvolut auf einer Liste italienischer Namen, die aus dem Dekameron exzerpiert sind, »Salabetto«, »Buffalmacco«, »Chiarmontesi« oder »Buglietti« (in dieser sexuell ambivalenten Form, obwohl Nuto »Buglietto« in Meißners Übersetzung 389 390 391 392 393 394 395
Bd. 6, S. 282 f. Bd. 6, S. 285. Bd. 6, S. 283. Vgl. Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 100. Bd. 6, S. 297. Bd. 6, S. 283. Bd. 6, S. 284; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Kerényi, Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 97, 99.
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daneben auch und zuerst unter diesem dezidiert maskulinen Nachnamen figuriert 396): »Ercolano« beziehungsweise, in Meißners germanizistischer Schreibung, die Thomas Mann auf jene Namensliste übertrug und zunächst auch ins Manuskript verschleppte, um sie darin erst nachträglich zu korrigieren: »Hercolano« heißt bei Boccaccio ein weiterer gehörnter Ehemann, 397 und zwar in der letzten Erzählung des Fünften Tags, die Thomas Manns Aufmerksamkeit auch nur schon deswegen schwerlich entgehen konnte, weil es darin auf selten offene Weise um Homo- und Bisexualität geht. 398 »Ercolano« also, »der Stolz der sonst ländlich schlichten […] Familie«, den der Erzähler sehr bald einmal mit einem »Esel[]« 399 vergleicht – in Thomas Manns Bachofen-Ausgaben das erste, mit etlichen Lesespuren versehene Paradebeispiel für »Tellurische Tiere« 400 –, ist nur seinem »mit Genugtuung […] genannt[en]« Titel nach »Advokat« und »Rechtsgelehrte[r]«.401 »[A]llem Anschein nach« übt er »seinen Beruf nicht mehr aus, sondern l[ie]s[t] nur noch die Zeitung, – dies allerdings unausgesetzt«. 402 Daß er das »bei offener Tür in Unterhosen« tut, sieht ihm die »Schwester« zwar nach. 403 Seine »Nachlässigkeit« tadelt aber ein ungleich beredterer »Contadino« und »gegen Kirche, Königtum und governo« »aufsässig gesinnt[er]« »Landmann«,404 sein fast zwei Jahrzehnte jüngerer Bruder Alfonso-Alfo, der also auch sein Sohn sein könnte. (Der Name beziehungsweise seine Rufform geht wohl zusammen mit der Antonomasie »Advokat« entweder auf Die kleine Stadt zurück oder dann wie diese als ganze auf den Palestriner Aufenthalt der Gebrüder Mann.) Wie in Mario und der Zauberer indessen steht diesen sozialen Verfallsund Regressionserscheinungen ein Erzähler gegenüber, der sich solchen Verhältnissen nur besuchsweise aussetzt. Er nimmt sie in derselben Eigenschaft wie jener anonyme Bildungsbürger aus Deutschland wahr, auch und hier ganz besonders in seiner Eigenschaft »als Ehemann«. 405 Als solchen, stand einmal in der Handschrift, »geniert[]« ihn »das Keuschheitsleben« im 396 Boccaccio, Das Decameron, Bd. 3, S. 16; im Original keine Hervorhebung (freundliche Auskunft von Stefano Prandi, Bern, vom 20. Oktober 2009). 397 Boccaccio, Das Decameron, Bd. 2, S. 166 f. 398 Vgl. Eisner und Schachter, Libido Sciendi, S. 825 f. 399 Bd. 6, S. 283. 400 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 436–442; vgl. Bd. 2, S. 163, 292 (ebenfalls mit einschlägiger Lesespur). 401 Bd. 6, S. 283 f. 402 Bd. 6, S. 284. 403 Ebd. 404 Bd. 6, S. 283 f. 405 Bd. 6, S. 293.
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»Hause Bernardini« alias Manardi; und sein »Abschied« davon ist »mit einer gewissen Erleichterung verbunden«. 406 Denn mit wieder selten rückhaltloser Offenheit hat Zeitblom eigens zu vermerken, daß nur er und seine Frau »in dem Haus-Kastell« miteinander schliefen: »Niemand […] sonst«.407 ›Vollzogen‹ wird im Italien des Romans nur eine deutsche Ehe. Bei Nella Manardi und in eins damit eben auch unter solchen ›gynaikokratischen‹, prä- oder postpatriarchalen Bedingungen leben die »beiden Dauergäste« also von »Ende Juni« 1911 bis »Herbst 1912«. Von der Vorkriegszeit verbringt Leverkühn damit erheblich mehr außerhalb Deutschlands als im »München der späten Regentschaft«, wo sich freilich schon ähnlich ›gynaikokratische‹ Verhältnisse abzuzeichnen begonnen haben. Aus diesen aber eben bricht der Nesthocker Leverkühn gleichsam überstürzt und ohne psychologisch wirklich überzeugende Gründe auf zu seinem einzigen längeren Auslandsaufenthalt. Das Deutsche Reich bleibt dank Leverkühns ungewohnt ›philobatischer‹ Anwandlung so lang und so weit wie möglich von ›Gynaikokratie‹ dissoziiert. Nach dem im Gesamtwerk stabilen Schema Purity and Danger wird die ›Gynaikokratie‹ vom Reichsgebiet ferngehalten. Sie wird in die Fremde projiziert, und zwar genau wie in Mario und der Zauberer nach Italien (oder wie schon im Tod in Venedig, zur selben erzählten Zeit, die ›babylonische‹ Bedrohung durch Ansteckung, Tod und tabuierte Sexualität in »die Republik«, 408 die Venedig seinerzeit freilich längst nicht mehr war). Nur ist es im Doktor Faustus nicht Deutschland schlechthin, das vom Übel wenigstens notdürftig dissoziiert wird; sondern es ist eben allein das deutsche Kaiserreich.
4.3.3 ›Vorkrieg‹, Krieg und Republik Das Kaiserreich, das sich selbst, wie gesehen, und das auch Thomas Mann als ein patriarchal-männliches verstand, kommt nur ›am Rand‹ in Berührung mit der ›Gynaikokratie‹: in München, zuvor schon in Halle, Leipzig und Dresden (wenn man nämlich Leverkühns ›Fahrt‹ zur »überhaupt erste[n] Aufführung« der Salome dazunimmt). Von diesen vier Städten liegen zwei in Sachsen, eine in Bayern, und eine, nota bene die biographisch-
406 Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.2, S. 988 f. 407 Bd. 6, S. 293. 408 Bd. 8, S. 463.
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chronologisch erste, Halle, lag zur erzählten Zeit wie zur fiktiven Erzählzeit immerhin hart an der preußisch-sächsischen Grenze.409 Insofern weisen die vier reichsdeutschen Städte in bestimmter Hinsicht eine besondere Affinität zu den beiden Orten auf, mit denen nicht mehr nur Tod, Ansteckung und Sexualität assoziiert beziehungsweise handlungslogisch-konkret verbunden sind, sondern eben auch die ›fatale‹ Macht und Gewalt ›der‹ Frau über ›den‹ Mann: Graz, das Reiseziel des »Vorwand[s]«, von dem unklar bleibt, ob er nicht mehr ist als ein solcher; und »Preßburg, ungarisch Pozsony«, das unter diesem »Vorwand[]« erreichte Ziel und der Ort der tödlichen Infektion. Graz und, wie ja schon der zur Entstehungszeit anachronistisch deutsche Name sagt: Preßburg (in der Handschrift stand noch »tschechisch Bratislava«) gehörten zu dem Staat, mit dem zusammen Bayern und Sachsen gegen die Etablierung des kleindeutschen Kaiserreichs eine Generation früher noch Krieg geführt hatten. Aber selbst an der wie gezeigt ohnehin schon prekärsten Peripherie (»zwischen einem halb separatistischen Volkskatholizismus und einem […] Liberalismus reichsfrommer Observanz« 410), in München, geben Kaiserreich und Monarchie nur vorübergehend und gleichsam episodisch den Schauplatz der einreißenden ›Gynaikokratie‹ ab. Die Episode oder genauer gesagt die beiden Episoden beschränken sich auf »Monate«: Erst bleibt Leverkühn nur die »neun Monate« von »Herbst« 1910 bis »Juni« 1911 im »München der späten Regentschaft«, in dem bekanntlich immer schon der Krieg sozusagen seinen Schatten vorauswirft, obgleich es immerhin fast ein halbes Jahrzehnt, vier Jahre, aber doch »nur vier Jahre noch« davon »entfernt« ist. Dann, im »Herbst 1912«, kehrt er wieder nur für »Monate« in dieses noch friedliche München und Bayern zurück: »zweiundzwanzig Monate vor Ausbruch des […] Krieges«.411 »[Z]weiundzwanzig Monate«, immerhin fast zwei volle Jahre, sind oder wären allerdings »noch« immer eine ziemlich beträchtliche Zeitspanne. Diese aber wird sprachlich-suggestiv redimensioniert. Durch das eigentlich unverhältnismäßig kurze Zeitmaß von »Monate[n]« wird sie wieder auf die Dimension des Episodischen reduziert. Infolge ihrer Reduktion auf »Monate« gerät die Münchener Vorkriegszeit beziehungsweise ihre Schilderung in ein proportional noch krasseres Mißverhältnis zur Zeit der langen Kriegs- und Nach- oder Zwischenkriegsjahre (nicht weniger als sechzehn an der Zahl). Diese Jahre oder Jahr409 Vgl. Mathias Tullner, Halle 1806 bis 2006. Industriezentrum, Regierungssitz, Bezirksstadt. Eine Einführung in die Stadtgeschichte, Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2007, S. 7, 14–16; ders., Geschichte Sachsen-Anhalts, München: Beck, 2008, S. 56. 410 Bd. 6, S. 270. 411 Bd. 6, S. 334.
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zehnte werden in den verschwindend kurzen Vorkriegsepisoden exponiert und vorbereitet. Deren ›Vorläufigkeit‹ widerspiegelt vermutlich eine kollektive, mentalitätsgeschichtlich dokumentierte Befindlichkeit, wie sie sich denn auch an Thomas Manns Essays nachweisen ließe.412 Spätestens seit Herbst 1911 machte sich in Deutschland das Gefühl breit, daß ein großer Krieg unmittelbar bevorstehe und unausweichlich sei. 413 Mutmaßlichen Ausdruck gibt diesem allgemeinen Lebensgefühl des sogenannten ›Vorkriegs‹ der Erzähler des Doktor Faustus überall dort, wo er die ersten Münchener »Monate« auf den Krieg vorausbezieht. »DER Münchener Fasching von 1914« 414 zum Beispiel, ein Beispiel erster Güte natürlich auch für jene saturnalische Sozialanarchie, bildet nicht von ungefähr das Incipit des Kapitels XXIX. Denn dieses hätte wie gezeigt einmal das letzte einer dritten »Kapitelgruppe[]« sein sollen. Es wäre damit in der noch auf sechs »Bücher« angelegten Gliederung hart an die Mittelfalte des ganzen Romans zu liegen gekommen. Dem gemäß war »DER […] Fasching […] 1914« und ist er immer schon »der letzte vor Eintritt des […] Krieges«.415 Das ist oder wäre zwar ein Truismus, den aber ›emphatisch‹ ernster zu nehmen einem schon die formale Exponiertheit der Stelle nahelegen kann oder auch deren typographische Hervorhebung im Drucksatz der Erstausgabe. Der Erzähler immerhin nimmt den Truismus ernst genug, um ihn hier bereits zu wiederholen. Denn schon ganz am Ende des vorletzten, des Kapitels XXVII – und also an formal wieder exponierter Stelle –, nur ein Dutzend Seiten weiter oben, wurde die erzählte Zeit mit nahezu denselben Worten so bestimmt: »während des letzten Münchener Faschings vor Ausbruch des Krieges«.416 »[W]ährend« dieses also mehrfach und redundanterweise auf den Kriegsausbruch vorausbezogenen Faschings und dessen sozialem Anarchismus genau angemessen tut sich eine Dreieckskonstellation auf, wie sie sich in Mario und der Zauberer um Sofronia Angiolieri abzeichnet und auch schon in den Novellen des Decamerone vorliegt, denen Thomas Mann diesen Vornamen wie auch den Vornamen der Nella Manardi entnommen 412 Bd. 13, S. 532 f. 413 Vgl. Joseph Vogl, Krieg und expressionistische Literatur, in: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus; Fin de siècle; Expressionismus. 1890–1918, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, und München und Wien: Hanser, 2000 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7), S. 555–565, hier S. 556– 558, vs. Diner, Das Jahrhundert verstehen, S. 38. 414 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Stockholm: Bermann-Fischer, 1947 (Stockholmer Gesamtausgabe), S. 438. 415 Bd. 6, S. 378. 416 Bd. 6, S. 366.
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hat. Im »Fasching […] 1914« bahnt sich Ines Roddes Ehe mit Helmut Institoris an, 417 in eins damit aber auch schon ihr Verhältnis mit »dem Knaben Rudolf«.418 Ihre Heirat mit ihrem »ungenügenden Bräutigam[]« fällt dann schon in den Krieg, ins »Frühjahr 1915«.419 In den Krieg fallen auch die Geburten der drei Kinder, Töchter, die sie von ihrem »Mann – oder […] Männchen –« 420 empfängt, und zwar, um diesen schauerlich anschaulichen genetivus absolutus nochmals zu zitieren, dessen gleichsam negative Sichtmetaphorik nun und vor allem auch von der Betrogenen her in ein sehr besonderes ›Licht‹ rückt: »abgewandten Gesichtes«. Schon im Krieg also, das heißt schon unter der Republik als einer »innere[n] Tatsache«, hat »der hetärische Aphroditismus«421 längst um sich gegriffen oder: zu »wucher[n]« begonnen, wie der Erzähler mit einer Verbalmetapher sich ausdrückt, die wie gesagt auf der Isotopieebene der Bachofenschen Sumpfmetaphern liegt oder geradezu aus ihr stammt. Auf Bachofen deutet ebenso schon die erste genauere Bestimmung des ehebrecherischen Verhältnisses, das sich im Fasching 1914 anbahnt und für das der angehende Ehemann den »Boden« bereitet, indem er die »Weiblichkeit« seiner Frau in spe zwar »erweck[t]«, aber eben für einen anderen »erweck[t]«. Nicht nur daß diesem anderen durch »jene[s] stolze[] Kommando« 422 ihrer Schwester die vor- und dann außereheliche »Beziehung« mit Ines Institoris-Rodde geradezu befohlen wird – nachdem er übrigens zuvor und zuerst mit der Mutter der Schwestern »auf einem […] das MutterSohn-Verhältnis neckisch travestierenden Fuß gestanden hat[]« 423 (oder vielmehr sie mit ihm, ganz genau also wie »Mama Rosalie« in jener ebenfalls so genannten »Travestie« mit dem »Söhnchen« Ken) –: Sondern die vor- und dann außereheliche »Beziehung« »Inessens« charakterisiert der Erzähler auch noch ausdrücklich als eine »schwesterliche«, »eher geschwisterliche[]«, »ursprünglich geschwisterlich-kameradschaftliche[]«.424 Virtuell fällt das »Verhältnis« 425 damit unter ein Tabu, dessen so insinuierter Bruch es als ein in Bachofens Sinn ›hetäristisches‹ ausweist und stigmatisiert. Es läuft virtuell, wie die je travestierten »Mutter-Sohn-Verhältnis[se]«, seinerseits auf einen Inzest hinaus. Genau gesagt handelt es sich um einen Geschwisterinzest von der Art, wie ihn nicht nur Thomas 417 418 419 420 421 422 423 424 425
Bd. 6, S. 378. Bd. 6, S. 386. Bd. 6, S. 395, 430. Bd. 6, S. 384. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 205. Bd. 6, S. 439. Bd. 6, S. 431. Bd. 6, S. 271, 393–395. Bd. 6, S. 394.
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Mann in seinem Erwählten (1951), sondern zur selben erzählten Zeit auch Leverkühn im »Kernstück« seines Puppenspiels Gesta Romanorum zum Gegenstand macht: Wie im Erwählten, mit dem das »Kernstück« stoffgeschichtlich über Hartmann von Aues Gregorius in gerader Linie verwandt ist, wird der Geschwisterinzest auch hier kombiniert mit einem sensu stricto ödipalen Verhältnis von Mutter und Sohn.426 Im vollen Wortsinn ›notorisch‹ aber werden der virtuelle Inzest und der »hetärische Aphroditismus«, den er zu verstehen gibt, nicht mehr im Krieg und unter der bloß »innere[n] Tatsache« der Republik. Ihr eigentliches ›coming out‹ haben die »erweckte Weiblichkeit« und die »Entfesselung« der »weibliche[n] Natur« erst am oder nach Kriegsende. Genauer gesagt, erfolgt ihre nahezu explizite Bestimmung durch den Betroffenen exakt in dem Intervall, in dem eine demokratisch legitimierte Republik auch nach Maßgabe »jetzt« der »staatsrechtlichen Fixierungen« entstand, sich also »die Republik« im ›äußeren‹, aber eigentlichen Sinn des Worts konstituierte. Schon die Umstände, unter denen Schwerdtfeger das Wort vom »unerfreulichen Übergewicht der Frau« ausspricht, könnten sinnreicher kaum sein: an einem Ort, an den zuallererst die Binnengeschichte von der eigenmächtigen und vatervergessenen ›Damenwahl‹ jenes »Fräulein[s]« situiert wurde; in einem wieder ›chthonischen‹ Raum »zu ebener Erde«; »bei herrschender Nacht«, nämlich in einem Zimmer, in dem – wie bei der italienischen Fieber- und Teufelsvision – »Schonungsdunkel« »die Augen« »deckt[]« und nichts eindringen kann von dem Licht des »helle[n], blausonnige[n] und schneeglitzernde[n]« »Wintertag[s]« (so die ältere Lesart des Manuskripts).427 Bezeichnend ist aber vor allem das Datum des im endgültigen Wortlaut auf den Monat genau festgelegten, zuerst jedoch noch ziemlich beliebigen »Wintertag[s]«. »Wintertag« hat Thomas Mann in Sofortkorrektur ersetzt durch: »ein […] Januartag des Jahres 1919«. 428 Die Korrektur verdient um so mehr Beachtung, als der Text die national- und staatsgeschichtliche Signifikanz des Datums ursprünglich gar nicht weiter berührte und dessen Nennung pragmatisch vollkommen verzichtbar war. Erst in der vorliegenden Fassung des Romantexts, seit einer nachträglichen Einfügung, wird die historische Weiterung »des Jahres« und Monats zwar eigens vorausgesetzt und eingeräumt. Dabei aber wird dem »Januar[…] 1919« sozusagen nur seine chaotisch-anarchistische Seite abgewonnen. In 426 Bd. 6, S. 420–422. 427 Bd. 6, S. 463 f. 428 Bd. 6, S. 463.
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den Blick oder immerhin an den Rand des Blickfelds geraten sehr bemerkenswerterweise allein der Spartakusaufstand, seine Niederschlagung, die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht: »Man streifte die abenteuerliche politische Lage, die Kämpfe in der Reichshauptstadt«. 429 Das schlimme Ende sodann, das es mit dem am Anfang der Republik so genau bestimmten »Aphroditismus« nehmen wird, kommt nun mitten in diese Republik zu liegen, in dieselbe Zeit, in der auch die »Handlung« der Betrogenen schon den Entwurfsnotizen zufolge »spielt«. Schwerdtfeger verstrickt sich bekanntlich in ein weiteres, ähnliches Beziehungsdreieck. Darin mutiert er vom Freund und Geliebten zum Rivalen Leverkühns (in dem sich bezeichnenderweise, wie schon in Wilhelm Meister und seiner phantasmatischen Identifikation mit dem Kranken Königssohn,430 zwei Sohnesrollen überlagern und zwei Rollenmodelle überschneiden, ein traditionell-christliches und das modern-kleinfamiliale: der Sohn als Leidender und der Sohn als inzestuös Begehrender 431). Wieder gerät Schwerdtfeger also in eine ›polyandrische‹ Konstellation von zwei Männern, die eine Frau begehren. Die Frau, Marie Godeau, 432 trägt einen bedeutsamen Namen. Sie hat diesen nicht nur mit der »Betrogene[n]« der Verfilmung gemeinsam, »Maria von Tümmler«. Sondern zur Hälfte teilt sie ihn auch mit Professor Kuckucks Frau: »Dona Maria Pia«, 433 die in den späten Krull-Kapiteln wie Diane Philibert auf ihren Mädchennamen regrediert und die sich wie diese, welcher die »ganze Welt von Mann und Weib und Ehe und Betrug« gleichgültig ist, 434 im flagranten Ehebruch des Romanendes vollends über das Vaterrecht hinwegsetzt. Oder vielmehr teilt Marie Godeau ihren Vornamen sogar zur Gänze mit der ehebrecherischen Frau des Hahnreis Antonio José Kuckuck. Denn diese heißt an den hier einschlägigen Stellen, unter auffälliger Kürzung des ›middle name‹, nur mehr »Senhora Maria[]« 435 oder »Maria da Cruz«. Der Vorname »Marie« verweist selbstverständlich auf die Mutter der christlich-›abendländischen‹ Kultur schlechthin. Und den »Mariakult« wußte Bachofen ohne weiteres mit ›gynaikokratischen‹ Verhältnissen und ihrer neuzeitlichen Wiederkehr in Beziehung zu setzen. 436 In einem von 429 Bd. 6, S. 464. 430 Vgl. Elsaghe, Philine Blaúte, S. 32 mit Anm. 114. 431 Vgl. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 61; Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, Frankfurt a. M.: Fischer, 22000, S. 210–215. 432 Zum Nachnamen »Godeau« bzw. »Gaudeau« vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 202, Anm. 222; Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.2, S. 790. 433 Bd. 7, S. 621, 636 f., 648, 651, 657, 659; im Original keine Hervorhebung. 434 Bd. 7, S. 446. 435 Bd. 7, S. 583 f., 629 f., 649; im Original keine Hervorhebung. 436 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 494; Bd. 3, S. 491.
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Bernoulli gleich doppelt abgedruckten Passus geht er dabei von der Beobachtung aus, daß sehr viele europäische Königinnen ›Maria‹ heißen beziehungsweise hießen. (Seine Zeitgenossin Maria Pia von Savoyen kann in seiner Aufzählung schon deswegen nicht mehr figurieren, weil er den Katalog der so heißenden Königinnen nach einer frühneuzeitlichen Quelle, dem Staatstheoretiker Jean Bodin zitiert.) Die Verbreitung des Namens unter den Königshäusern aber wertet er als Zeichen für den »unverkennbaren Einfluß des christlichen Mariakultes auf die Wiederherstellung der neuen politischen Gynäkokratie«.437 Und auch Neumann übrigens, man errät es, interpretiert diesen katholischen ›Kult‹ als Erbe heidnischer Mutterverehrung; ja er sieht in ihm das »Mysterium des Mutter-Sohn-Inzests« fortleben. 438 Zu dem gewissermaßen inzestuösen Implikat des Namens kommt noch der Umstand, daß der »[a]rme[] Rudi« 439 zunächst nicht um Marie selber wirbt, sondern seinen Charme erst bei deren älterer Verwandten spielen läßt. Erst flirtet er nicht mit Marie, sondern mit einer »Dame« aus der Generation und möglicherweise der Familie ihrer Mutter, ihrer Tante Isabeau, verwitweter Ferblantier. 440 Diese Tante Isabeau übrigens heißt mit Vornamen gleich oder ähnlich, wie Maria da Cruz ursprünglich einmal heißen sollte, »Isabella«, 441 ein in dieser Form kastilisch-›iberischer‹ Königinnenname. »Isabeau« Ferblantier hingegen trägt den Namen einer sehr berüchtigten Königin von Frankreich. Und gerade auch von dieser her ist der Vorname »Isabeau« biblisch befrachtet. Bedeutsam und verfänglich ist er zumal im Kontext von weiblicher Polyandrie, ›aphroditischen‹ Königsfrauen und asiatischen Königswitwen. 442 Den Namen der Königin »Isabeau« nämlich identifizierten zum Beispiel auch Schiller 443 oder von Sacher-Masoch 444 ganz spontan und gleich-
437 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 405 (= Bd. 2, S. 503). 438 Neumann, Die Große Mutter, S. 293; vgl. S. 87, 308. 439 Bd. 6, S. 553. Zum intertextuellen Bezug zu Andersen vgl. Elsaghe, Thomas Mann und die kleinen Unterschiede, S. 43, Anm. 12. 440 Bd. 6, S. 555, 591. 441 Vgl. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 376 (Anm. 25), 521. 442 Vgl. Wolfgang Fauth, Aphrodite Parakyptusa. Untersuchungen zum Erscheinungsbild der vorderasiatischen Dea Prospiciens, Wiesbaden: Steiner, 1967 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1966, Nr. 6), S. 329–437 (1–109), hier S. 371–382 (43–54). 443 Friedrich Schiller, Die Jungfrau von Orleans, in: ders., Werke. Nationalausgabe, Bd. 9: Maria Stuart; Die Jungfrau von Orleans, hg. v. Benno von Wiese und Lieselotte Blumenthal, S. 165–315, hier v. a. S. 175 (V. 245 f.). 444 Von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, S. 46.
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sam automatisch mit dem »berüchtigten Namen von Jesabel« 445 (Septuaginta: ǿİȗĮȕİȜ, 446 Vulgata: ›Hiezabel‹, 447 Luther: ›Isebel‹ 448). Und diese Gestalt aus den Büchern der Könige wiederum, wie nachgerade zu erwarten, ist Bachofens Aufmerksamkeit für weibliche Macht und ›hetärisch‹-aphroditische Kopulationsriten durchaus nicht entgangen. In jenem Spätwerk Die Sage von Tanaquil, Kapitel »Die asiatischen Königsfrauen« und »Der Aphroditecharakter Tanaquils«, kommt er wiederholt auf die Orientalin und Aphrodite-Priesterin »Isebel« zu sprechen449 (die auch sonst in der Romanliteratur tiefere Spuren hinterlassen hat, namentlich im Bildungsroman 450). Aber wie dem auch sei – denn die betreffenden Partien aus Bachofens Spätwerk wären in Thomas Manns Ausgaben nicht zu finden gewesen –: Jedenfalls hat die Trägerin des chargierten Namens auch ein hier einschlägiges Körperattribut. Isabeau Ferblantier hat, genau wie Diane Houpflé und Maria Pia Kuckuck, ein »Schnurrbärtchen«. 451 Sie gehört damit zu den »bebärtete[n] Mutterfiguren« 452 vom Typ der Venus barbata und der »Ischtar im Barte«, 453 wie ihn die Matriarchatstheoretiker natürlich für seinen Teil schwerlich übersehen konnten. Wie schon zuvor im Haus der Witwe Rodde (und ähnlich wie bei Felix Krull und seinem Faible sowohl für das »Geschwisterliche[]« als auch für die »Mutter-Tochter-Beziehung«454) geht Schwerdtfegers Interesse hier also ›hetäristisch‹ von einer Frauengeneration auf die andere über. Es wechselt von der älteren »Dame« über auf das »junge[] […] Mädchen«. 455 Als er mit diesem zu ›guter‹ Letzt eine legitime Ehe einzugehen im Begriff steht, ermordet ihn Ines aus ihrer »krankhafte[n] und krampfhafte[n] […] Eifersucht […] auf den Alleinbesitz seiner Person« heraus. Sie schießt ihn, 1925, »in den Hals, in die Lunge, in die Kranzgefäße des Herzens« 456 beziehungsweise, in einem ersten handschriftlichen, abrupt abgebrochenen 445 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, in: ders., Werke, Abt. I, Bd. 51, S. 139. 446 1 Kön 16,31 u. ö.; Septuaginta, Bd. 1, S. 675 u. ö. 447 A. a. O. u. ö.; Biblia sacra, Bd. 1, S. 489 u. ö. 448 A. a. O. u. ö.; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 2, S. 43 u. ö. 449 Vgl. Bachofen, Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 75; 115, Anm. 2. 450 Vgl. Elsaghe, Philine Blaúte, S. 6 f. 451 Bd. 6, S. 555; Bd. 7, S. 419, 563. Zur tiefen Stimmlage vgl. Bd. 7, S. 487, 563; freundlicher Hinweis von Florian Heiniger, Bern, vom 18. Dezember 2009. 452 Neumann, Die Große Mutter, S. 27. 453 Bd. 5, S. 1033. 454 Bd. 7, S. 559. 455 Bd. 6, S. 555. 456 Bd. 6, S. 597.
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Ansatz, der vielleicht so tief zu den unteren Körperorganen hinabgeführt hätte und einer Kastration so nahegekommen wäre wie in Henrik Ibsens skandalöser Hedda Gabler: in »die Lunge, die Magengru«. Der ›anatomischen‹ Abwärtsbewegung seiner Aufzählung gemäß, aber doch auch sehr bemerkenswerterweise erwähnt der Erzähler und Tatzeuge des Mords an Schwerdtfeger vor diesen »[a]ndere[n] Kugeln« »ein[en] blutende[n] Einschuß«, und das steht auch noch am Anfang des Satzes: »Unter seinem einen Auge«.457 Die genaue Lokalisation der Einschußstelle ist um so signifikanter, um so interpretationsfähiger auch, als sie den Vorgaben einer ungefähr ermittelbaren Quelle widerspricht oder darin jedenfalls so nicht festgelegt war. Als Inspirationsquelle diente hier der in der Forschung so genannte Trambahnmord von Dresden. 458 Auf Thomas Mann hatte dieser »einen ganz merkwürdig starken Eindruck gemacht«. 459 Unverzüglich, das heißt beinahe ein halbes Jahrhundert vor dem Doktor Faustus, merkte er sich die »trübe Geschichte« vor, um sich »ihrer einmal als Tatsachen- und Fabelgerippe zu einer wundervoll melancholischen Liebesgeschichte [zu] bediene[n]«.460 Zum Zweck einer solchen literarischen Verwertung begann er ziemlich bald schon genauere Erkundigungen über den Dresdener Skandal einzuziehen. Desto schwerer wiegen die Differenzen zwischen dessen ›Tatsachen‹ und der ›Fabel‹ seiner fiktionalen Bearbeitung. Der Trambahnmord erfolgte im Wortsinn ›hinterrücks‹. Nach den Pressemeldungen – die Antworten auf Thomas Manns weitergehende Recherchen scheinen leider verloren zu sein – schoß eine gewisse »Frau Jahnel« den »Königl[ichen] Kammermusikus Gustav Adolf Gunkel« »in den Hinterkopf«. 461 Die Kugel trat »in der Augengegend« nur »wieder heraus«. 462 Der sexualsymbolischen Deutbarkeit des ›haupt‹-sächlichen Treffers, der demnach gegen die ›Quelle‹ beinahe buchstäblich ›ins Auge‹ geht, entspricht die Mordwaffe, die Thomas Mann nun allerdings talis qualis aus den Skandalberichten übernehmen konnte und deren mechanische Grobschlächtigkeit ihn, wer weiß, überhaupt auf diese so sehr aufmerksam werden ließ: »9 Millimeter Kaliber, also absolut tödtlich.« 463 Die Phallizität der 457 Ebd. 458 Vgl. Dresdener Nachrichten, 21. März 1901, zitiert in: Thomas Mann, Notizbücher 1–6, hg. v. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Frankfurt a. M.: Fischer, 1991, S. 208. 459 Brief vom 14. März 1902 an Hilde Distel; Briefe I. 1889–1913, S. 192–195, hier S. 193. 460 Ebd. 461 Dresdener Nachrichten, 21. März 1901, zitiert nach: Notizbücher 1–6, S. 208. 462 Ebd.; im Original keine Hervorhebung. 463 Dresdener Nachrichten, 21. März 1901, zitiert nach: Notizbücher 1–6, S. 209.
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Faustfeuerwaffe, mit der Ines ihren Mord an ihrem ohnehin wenig ›männlich‹ beschaffenen Opfer verübt, ihr rundheraus so benannter und auch grammatisch maskuliner »Revolver« steht in einem natürlich vielsagenden und für sich sprechenden Gegensatz zu dem Pistölchen, der »kleine[n], stumpfmetallne[n], kaum pistolenförmigen Maschinerie«, die Mario »mit auseinandergerissenen Beinen« auf den »Zauberer« abfeuert. Die Daten nun, die der Erzähler in die somit bis zum bösen Ende »unerfreulich[]« asymmetrische Liebesaffäre von Ines Institoris und Rudi Schwerdtfeger freilich nur ganz nebenher mit einstreut, ergeben einen doch wohl eindeutigen Befund. Nicht umsonst weichen sie sehr erheblich von den Vorgaben der quellenkritisch identifizierbaren Sensationsgeschichte ab. Denn diese hatte sich, immerhin, in Dresden abgespielt, aber, wie ja schon der Titel des »Königl. Kammermusikus« verrät, noch in der Vorkriegszeit, 1901, gut und gerne ein Vierteljahrhundert vor der Ermordung Schwerdtfegers. Die annalistischen Aufdatierungen der Münchener Affäre, 1914 bis 1925, laufen auf eine Indifferenz von Krieg und Frieden hinaus, wie sie Thomas Mann in seiner Rede Von Deutscher Republik ja ausdrücklich stipulierte. Aber anders als in der Festrede und in nachgerade spektakulärem Gegensatz zu ihr erscheint die sozusagen ›lange‹ Republik im Doktor Faustus als Zeit und als Medium eines kulturgeschichtlichen »Rückschlag[s]« – ein Wort, das so schon in den Notizen steht.
4.3.4 Die aufgeführten und eingespielten Opern Um sich davon zu überzeugen, daß die an der Skandalgeschichte beobachtbare Engführung von ›langer‹ Republik und ›Hetärismus‹ im Roman Methode hat, braucht man sich nur die Kompositionen zu vergegenwärtigen, die diese Geschichte ›widerspiegeln‹, sie in fraktaler Verjüngung wiederholen oder antizipieren. Genauer gesagt hat man die Entstehungsbeziehungsweise Aufführungsgeschichten der einschlägigen Opern auf der Achse der erzählten Zeit und ihrer auch hier wieder oft nur sehr dezenten Datierungen abzutragen: Die wie gesehen nicht wirklich ›komische‹ Oper vom ›vergeblichen‹ Werben des Manns um die Frau, »dunkle Dame« und »black beauty«, Love’s Labour’s Lost, nachdem sie im vorrepublikanischen Deutschland so verdächtig schnell ins Stocken geriet, wie sie im Ausland dann prächtig gedeihen konnte, wird 1914 uraufgeführt; und zwar ausdrücklich »schon nach
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Kriegsausbruch«. 464 Danach, einige »Wochen« und »Monat[e]« nach »Juli 1915«, 465 beginnt sich Leverkühn mit den mittellateinischen Gesta Romanorum zu beschäftigen. Diese charakterisiert der Erzähler bei der Gelegenheit ziemlich einseitig. Sie seien eine Kompilation, die in ihrer Anzüglichkeit »dem Dekameron vorspiele[]«.466 Sie werden also ausgerechnet mit der Fundgrube geradezu all der italienischen Namen assoziiert, die in den ›italienischen‹ Kapiteln des Romans und schon in Mario und der Zauberer kraft dieser Herkunft auf Inversionen des Geschlechterverhältnisses und auf Verletzungen der ›vaterrechtlichen‹ Ehe und Ehre hindeuten. Auch die Gesta sollen hauptsächlich von »Ehebruch« und »Elternmord« handeln, von »gottlosen […] alten Weiber[n]« und »verschmitzten Kupplerinnen«, von »buhlerischen Eheweibern«. 467 Dem entsprechend wird jene Geschichte von einem mehrfachen Inzest das »Kernstück« für Leverkühns »genialische[] Puppen-Groteske« 468 hergeben. Deren insgesamt »fünf Stücke« werden dann 1921 an den damals berühmt-avantgardistischen Donaueschinger Festspielen erstmals »geboten«; und zwar vor einem expresso verbo »›republikanisch‹ gesinnten Publikum«.469 Der »Abend« schließlich, an dem »die Des-Dur-Arie der Delila aus ›Samson‹ von Saint-Saëns« technisch reproduziert wird, muß in die Jahre 1923 oder 1924 zu liegen kommen. Dabei deutet vielleicht schon die Lautung der Stelle auf das Korpus, vor dessen Hintergrund sie erst ihre volle Bedeutsamkeit gewinnt. Die Vokalisierung »Delila« nämlich ist einigermaßen erklärungsbedürftig. Sie entspricht zwar dem Wortlaut der Lutherbibel. 470 Sie läßt sich aus diesem aber doch nicht ganz bündig herleiten. Denn der andere Paarname ist nicht nach ihm zitiert – sonst müßte er »Simson« lauten 471 –; sondern der männliche Name entspricht dem Librettotext Ferdinand Lemaires, Samson et Dalila (und eben nicht ›…Delila‹). Thomas Manns Vokalisierung der Paarnamen, »Delila aus ›Samson‹« stellt sich also auf einen ersten Blick als Kontamination von Luthertext und Opernlibretto dar. Begünstigt hat diese Kontamination oder sogar überhaupt motiviert hat die Vokalisierung ein Passus, den Thomas Mann nach Ausweis der 464 465 466 467 468 469 470
Bd. 6, S. 349. Bd. 6, S. 414. Bd. 6, S. 420. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Bd. 6, S. 419. Bd. 6, S. 516. Z. B. Ri 16,4; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 1, S. 443. 471 Z. B. Ri 13,24; Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes deutsch von Martin Luther, Bd. 1, S. 439.
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Lesespuren in seinen Bachofen-Ausgaben gekannt haben muß. In diesem Passus vokalisiert Bachofen genau so wie er selber: »Delila und Samson« (wobei die Umkehrung der ›normalen‹ Namensfolge, zumal sie hier ja auch noch gegen das stilistische Gesetz der wachsenden Glieder verstößt, im Kontext von Matriarchatsphantasmen und -phobien natürlich für sich spricht). Der »Mythus von Delila und Samson« hat nach Bachofens hier wieder penetrant eurozentristischer Auffassung sein »Vorbild« in der klassischantiken Mythologie. Nachgebildet sei er, ausgerechnet, dem »Verhältnis der lydischen Omphale zu dem durch buhlerischen Sinnenreiz beherrschten und entwürdigten« Herakles. 472 »Delila« und »Samson« weisen also, von Bachofen her gelesen, auf eine ›hetäristische‹ Kulturalisation beziehungsweise Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz. Diese ist hier, anders als bei ihrem angeblichen »Vorbild«, besonders handgreiflich an die Macht- und Sexualsymbolik von Blick und Blendung gebunden, genau oder ähnlich wie in den beiden anderen hierfür einschlägigen Opern, deren szenische respektive kammermusikalische Aufführungen der Schallplattenarie der Delila vorausgehen. Aus der den Erzähler geradezu ›erschütternden‹ 473 Wagner-Arie der »heroische[n]« 474 Sopranistin Tanja Orlanda, die wie gesagt von ihrem mutmaßlichen ›Modell‹ her als Ehebrecherin konnotierbar ist, wird »etwa« 475 die Stelle herausgegriffen, an der Isolde ankündigt, die »Leuchte« beziehungsweise die »Fackel […] lachend […] zu löschen«; wobei die Gestik der Sängerin bekanntlich die Suggestion noch verstärkt, daß man sich die phallische Lichtquelle in ihrer beziehungsweise in Isoldes Hand zu denken habe. Und Salome, bevor sie ihre nekrophile Monstrosität an ihm begeht, starrt auf den Körper des Johannes-Jochanaan, während sich dieser ihrem Blick durchweg widersetzt und es sich gewissermaßen noch als Leiche versagt, sie anzusehen: Wer ist dies Weib, das mich [scil. Jochanaan] ansieht? Ich will ihre Augen nicht auf mir haben. 476 Tochter Sodoms, komm mir [scil. Jochanaan] nicht nahe! Vielmehr bedecke dein Gesicht mit einem Schleier […]! 477
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Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 188; Bd. 2, S. 149. Bd. 6, S. 369. Ebd.; im Original keine Hervorhebung. Ebd. Richard Strauss, Salome. Drama in einem Aufzuge nach Oscar Wilde’s gleichnamiger Dichtung in deutscher Übersetzung von Hedwig Lachmann. Musik von Richard Strauss, Berlin: Fürstner, 1905, S. 17. Vgl. Oscar Wilde, Salomé, in: ders., Salomé; La sainte Courtisane; A Florentine Tragedy, London: Methuen, 71921, S. 1–92, hier S. 28 f.: »Qui est cette femme qui me regarde? Je ne veux pas qu’elle me regarde.«
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Aber warum siehst du mich [scil. Salome] nicht an, Jochanaan? Deine Augen, die so schrecklich waren, so voller Wut und Verachtung, sind jetzt geschlossen. Warum sind sie geschlossen? Öffne doch die Augen, so erhebe deine Lider, Jochanaan! Warum siehst du mich nicht an? Hast du Angst vor mir, Jochanaan, daß du mich nicht ansehen willst? 478 Ah! Warum hast du mich [scil. Salome] nicht angesehen, Jochanaan? Du legest über deine Augen die Binde eines, der seinen Gott schauen wollte. Wohl! Du hast deinen Gott gesehn, Jochanaan, aber mich, mich, mich hast du nie gesehn. Hättest du mich gesehn, du hättest mich geliebt! 479
Die Motivreihe solcher Blendungen und Verdunkelungen ist überaus aufschlußreich. Aufschlußreich wäre ihre erzählchronologische Reihenfolge – von Strauss über Wagner zu Saint-Saëns – natürlich schon unter dem ›Gesichtspunkt‹ nationaler Selbstgewißheit und nationalen Selbstverlusts. Denn genau gegenläufig zu den Klavierstücken, die in der frühen TristanNovelle noch gespielt wurden – von »Chopin…« und seinen »Nocturnes« zu Wagners Tristan und Isolde 480 –, führt die Reihe hier ja von der deutschen Musik weg und zur französischen hin. 481 Darüber hinaus aber und in eins damit liegt das Blendungsmotiv, indem es mit den Ermächtigungen ›der Frau‹ je einhergeht, ganz exakt auf der Trajektorie von Bachofens Begriffen und Metaphern. Desto schwerer fällt es nun ins Gewicht, daß dieses Motiv nicht auf den binnenfiktionalen Rahmen der je aufgerufenen und anzitierten Opern begrenzt bleibt. Vielmehr springt es ›zusehends‹ aus dem fiktionalen Reservat der Libretti auf die je gegebene, auch je entfremdetere Rezeptionssituation über. Es erfaßt, heißt das, das Geschehen des Romans selbst (wie auch schon in Tristan Detlev Spinell und Gabriele Klöterjahn die Handlung der von dieser konzertant gegebenen Oper währenddessen bis ins Detail oder geradezu 477 Strauss, Salome, S. 18. Vgl. Wilde, Salomé, S. 29: »Ne m’approchez pas, fille de Sodome, mais couvrez votre visage avec une voile […].« 478 Strauss, Salome, S. 44. Vgl. Wilde, Salomé, S. 88: »Mais pourquoi ne me regardes-tu pas, Iokanaan? Tes yeux qui étaient si terribles, qui étaient si pleins de colère et de mépris, ils sont fermés maintenant. Pourquoi sont-ils fermés? Ouvre tes yeux! Soulève tes paupières, Iokanaan. Pourquoi ne me regardes-tu pas? As-tu peur de moi, Iokanaan, que tu ne veux pas me regarder?« 479 Strauss, Salome, S. 46. Vgl. Wilde, Salomé, S. 90 (im Original keine Hervorhebung [zur Markierung eines in Lachmanns Übersetzung bzw. in Strauss’ Libretto entfallenen Satzes]): »Ah! pourquoi ne m’as-tu pas regardée, Iokanaan? Derrière tes mains et tes blasphèmes tu as caché ton visage. Tu as mis sur tes yeux le bandeau de celui qui veut voir son Dieu. Eh, bien, tu l’as vu, ton Dieu, Iokanaan, mais moi, moi… tu ne m’as jamais vue. Si tu m’avais vue, tu m’aurais aimée.« 480 Bd. 8, S. 241–247. 481 Vgl. Hans Rudolf Vaget, »Blödsinnig schön!« Französische Musik in Thomas Manns Doktor Faustus, in: Dirk Heißerer (Hg.), Thomas Mann in München II. Vortragsreihe 2004, München: Peniope, 2004 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 4), S. 79–106.
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hyperkorrekt 482 refigurierten). Was auf dem Niveau des eigentlichen Romangeschehens vor sich geht, steht demnach zu den je eingelassenen Opern nicht einfach nur im Verhältnis einer ›Widerspiegelung‹; sondern es fällt mit dem darin Auf- und Vorgeführten virtuell zusammen, – wenn etwa die Revolverkugel der Frau den Mann nahezu ins Auge trifft. Einigermaßen solid ist die ›Vierte Wand‹ der Opernbühne noch bei der Uraufführung der Salome, die Leverkühn in actu ›sieht‹, eben Ende 1905 in Dresden (das müßte heißen: unter der Leitung Gustav Mahlers). Ein zweites Mal ›sieht‹ er sie vielleicht im Jahr darauf, 1906 in Graz, und dort gegebenenfalls in womöglich noch unentfremdeterer, in besonders authentischer Form: »unter des Komponisten eigener Leitung«. In Graz freilich ist oder wäre die Vierte Wand bereits insofern eingerissen, als ja wie gezeigt die Bühnenhandlung in einem genauen Analogieverhältnis zu dem steht, was dem Protagonisten im Zuge seines Premierenbesuchs beziehungsweise an dessen Statt, unter dessen Alibi zustößt. Ein knappes Jahrzehnt später, »um jene Jahres- und Zeitenwende 1913–14«,483 bringt die »Wagner-Heroine« Tanja Orlanda, im Salon des »kinderlosen Ehepaar[s]« 484 Schlaginhaufen, »Isoldens ›Frau Minne kennest du nicht?‹« nur noch oder fast nur noch zu ›Gehör‹. Nur an der »ekstatischen« Stelle vom »lachend«-verwegenen Löschen des Kunstlichts »markiert[]« »die Sängerin«, heißt es in jener eingeklammerten Bemerkung, »das theatralische Tun durch eine energisch niederstoßende Bewegung ihres Armes«. Bis auf diese »theatralische« ›Markierung‹ ist von der ›eigentlichen‹ Oper kaum mehr etwas zu ›sehen‹. Zugleich aber geht deren Rollenfiktion auf die »Person« der Sängerin über. Denn von dieser weiß der Erzähler zu berichten, daß sie hernach unter dem »Beifall« der Salonards ihrerseits »triumphierend [l]ächel[t]«. 485 Sie behauptet also, wie im Zusammenhang mit der ›Wuchtigkeit‹ ihrer Erscheinung schon einmal gesehen, ihre Rollenidentität dies- wie jenseits der Vierten Wand und über diese hinweg. Weitere zehn Jahre später, eben 1923 oder 1924, im Salon Bullinger, kann von der Oper gar nichts mehr zu sehen und von einer Vierten Wand gar keine Rede mehr sein. Die »Arie der Delila« wird technisch so reproduziert, daß »durch das Schallgitter« nur die schlecht artikulierende Stim482 Vgl. z. B. zum Vergleich »wie ein Klavierlehrer« (Bd. 8, S. 242), der sich an Wagner so nicht anschließen läßt, Wagner, Tristan und Isolde, S. 1–81; Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 1: Text, hg. v. Karl Marold, Berlin und New York: de Gruyter, 52004, S. 135 f. (V. 7966–8005) [nicht aber in: ders., Tristan und Isalde, in: Karl Simrock (Hg.), Die deutschen Volksbücher, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Winter, o. J., S. 229–429]. 483 Bd. 6, S. 366. 484 Bd. 6, S. 267; im Original keine Hervorhebung. 485 Bd. 6, S. 369; im Original keine Hervorhebung.
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me des ausdrücklich »stolze[n] Mezzosopran[s]« zu hören ist, der als solcher wohl auch nicht zufällig tiefer liegt als die Sopranstimme der Isolde und übrigens auch der Salome. Der nun also vollständig unsichtbare »Mezzosopran« erinnert an, aber überbietet auch die »heroische Frauenstimme«, mit der Tanja Orlanda »die Illusion einer königlichen Frauenseele« so ›erschütternd‹ und ergreifend erzeugt.486 Die »stolze[]« Stimme der Delila ist dem »leider […] winselnden Orchester«, mit seinen zur gegebenen Zeit ausschließlich oder dann jedenfalls stark vorwiegend männlichen Mitgliedern,487 desto »[b]eispielhafte[r]« überlegen. Nicht nur also, daß die drei Opernzitate von 1905/06, »1913–14« und 1923/24 jeweils einer mächtigen Frauenfigur gelten – Salome, Isolde, Delila –; daß deren Ermächtigung und ›Fatalität‹ auf der Ebene der Bühnenfiktion jeweils zusammengeht mit einer Blendung des männlichen Blicks auf die Frau; und daß damit selbstverständlich die idealtypisch-konventionellen Geschlechterkonfigurationen zum Beispiel der Oper gestürzt werden, die den Katalog der Werke eröffnet, welche Leverkühn während sener »patriarchalisch[]« behüteten Jugendjahre in Kaisersaschern »in seine Seele schließen« »mochte«:488 Erlangen und behaupten doch in der Zauberflöte die Lichtmächte des Guten, mit Sarastros Baßstimme so männlich wie nur möglich besetzt, die Oberhand über die Königin der Nacht mit ihrer ebenso typisch weiblichen, legendär hohen Sopranlage. Sondern sukzessive, in fast ganz genau gleichmäßigen Intervallen, erfaßt der Blendungsprozeß auch die Opernrezipienten: von ein oder zwei regelrechten Inszenierungen der ›deutschen‹ Salome über eine nur ansatzweise »theatralische[]« Darstellung der noch immer und erst recht deutschen Isolde bis zur tertiär-medialen und rein akustischen Wiedergabe der ›französischen‹ Delila (so daß Entfremdung des Mediums und Landesfremdheit der darin reproduzierten Musik und Sprache zusammenfallen). Dabei schlägt der Schwund von Licht und Sehen, die völlige Verdrängung des Gesichts- durch den Gehörsinn hier, bei Delila, bis ins eigentliche Opernzitat beziehungsweise dessen Fragmentierung durch. Denn wegen der schlechten Artikulation des »stolze[n] Mezzosopran[s]« ›versteht man‹ ja nur den Teil des Arienanfangs, der der ›Stimme‹ gilt und einen akustischen Kommunikationsakt benennt: »das ›Mon cœur s’ouvre à ta 486 Ebd. 487 Vgl. z. B. Aaron Copland, Nadia Boulanger. An Affectionate Portrait, in: Harper’s Magazine, Oktober 1960, S. 49–51, hier S. 51; Carol Neuls-Bates, Introduction, in: dies. (Hg.), Women in Music. An Anthology of Source Readings from the Middle Ages to the Present, Boston: Northeastern University Press, 1996, S. xi–xvi; dies., [Vorbemerkung zu Dokument Nr. 30] in: dies. (Hg.), Women in Music, S. 192. 488 Bd. 6, S. 107.
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voix‹ und dann kaum noch etwas«. Was folgen müßte, aber eben »kaum« mehr verständlich ist und im Textzitat sozusagen ganz unterschlagen wird, ist oder wäre ein Vergleich, in den die akustische Kommunikation wieder mit einem Lichtphänomen tritt oder träte: »comme s’ouvrent les fleurs / Aux baisers de l’aurore!« 489 Die ausgerechnet hier erst, 1923 oder 1924, totale Unsichtbarkeit oder Verdunkelung der ›Szenerie‹ weist neuerlich auf den politischen Kontext, in dem sie wie auch der ein, zwei Jahre jüngere Mord an Rudi Schwerdtfeger steht. Die ›hetäristische‹ Verfinsterung, die Heraufkunft ›orientalischer‹ Geschlechterasymmetrien, das Erscheinen der »bacchisch[]« 490 wildgewordenen Frau wird und bleibt an die Zeit der Republik gekoppelt. Diese kommt einer kollektiven Regression in einen früh- oder vorkulturellen Entwicklungsstand gleich. Hier berührt sich also das kryptopolitische mit dem musikologischen Interpretament des Romans, wie es darin früh mit der »kuriosen Erscheinung« 491 Johann Conrad Beißels exponiert wird: […] die Neigung der Musik, ins Elementare zurückzutauchen und sich in ihren Grundanfängen zu bewundern […], von vorn zu beginnen, aus dem Nichts, bar jeder Kenntnis ihrer schon durchlaufenen Kulturgeschichte, des durch die Jahrhunderte Errungenen […]. Dabei durchlaufe sie dann dieselben Primitiv-Stadien wie in ihren historischen Anfängen […]. 492
Einer dazu analogen Interpretation der ›deutschen Republik‹, allerdings nur der eigentlichen, ›äußeren‹, als einer kolossalen Regression in menschheitsgeschichtliche Urzustände und »Primitiv-Stadien« war Thomas Mann wie gesehen schon begegnet, als er, ja wahrscheinlich noch unmittelbar bevor er Bachofen zu lesen begann. Er mußte sie schon in Baeumlers »Einleitung« vorgefunden haben, ohne indessen deren Argument unverzüglich tale quale zu übernehmen. Vielmehr, wie gezeigt, modifizierte er es bei seinem ersten Aneignungsversuch nicht unerheblich. In Mario und der Zauberer ist es das faschistische, formell nach wie vor monarchistische Italien, das anhand Bachofenscher Kategorien als Ort eines kollektiven »Rückschlag[s]« erscheint. ›Gute‹ anderthalb Jahrzehnte später aber, im Doktor Faustus – und in der Betrogenen –, aktualisierte er Bachofen dann doch ziemlich genau so, wie es ihm Baeumler in der »Einleitung« vorgeführt hatte. Es ist nun doch wieder die Republik, auf deren Boden der moderne Rückfall in den ›Hetärismus‹ situiert wird. So gesehen hat der Roman – und hat die letzte Erzählung – selber etwas von einem Rückfall. 489 Lemaire, Samson et Dalila, S. 34. 490 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 87; von Thomas Mann unter- und angestrichen. 491 Bd. 6, S. 93. 492 Bd. 6, S. 87 f.
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4.4 Die ideologischen Implikationen der Betrogenen und die blinden Stellen der Apuleius-Reminiszenzen Daß in der Betrogenen Misogynie und Gynophobie in derselben ideologischen Formation auftreten wie im Doktor Faustus und daß besonders die Ersetzung des »Augensinn[s]« durch den, mit einem auf die »Arie der Delila« gemünzten Wort: »animalisch[en]« 493 Geruchssinn vor demselben Hintergrund zu sehen ist wie dort die sukzessive Verdrängung ›theatralischer‹ Opernvorführungen durch rein auditive Rezeptionsakte, lassen schon die ersten Worte der Novelle vermuten. Als einziger Erzähltext Thomas Manns beginnt diese bekanntlich mit einer Zeitangabe: »In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts«. Wie Rudi Schwerdtfegers Besuch im künstlich »verdunkelten Zimmer« des »Doktor Faustus« in den Januar 1919 fällt, so wird die ›hetärische‹ Anwandlung Rosalies von allem Anfang an auf die Zeit der Weimarer Republik festgelegt. Die gynaikokratisch-vaterlosen Zustände dieser Republik, deren »staatsrechtliche[] Fixierungen« eigentlich erst aus dem von den Männern verlorenen Krieg hervorgingen, kommen auch hier wieder in einen gewissermaßen ursächlichen Zusammenhang mit dem Ausbruch dieses Kriegs zu stehen. Denn auf dessen »Anfang« wird ja die unwiderrufliche Abwesenheit der Vaterfigur zurückgeführt. (Deren ›hetäristische‹ Rüstigkeit, samt dem ›Gesichtsverlust‹, zu dem sie Rosalie permanent zwingt – »unaufhörlich […] beide Augen zudrücken müssen« –, müßte daher, pedantisch genau genommen, noch in die Vorkriegszeit gefallen sein, ähnlich wie Leverkühns erste Münchener »Monate«. Wie diese würde sie, so zu Ende gedacht, die sonst strikte Konvergenz von ›Hetärismus‹ und ›langer‹ Republik ein wenig stören.) Die Republik gerät hier also in eine direkte Beziehung zu Rosalies Zivilstand, ihrer rechtlichen und ökonomischen Selbständigkeit. Die Leidenschaft der deutschen »Aristokratin« für den gleichsam klassenlosen Amerikaner, dessen soziale Herkunft sich jedenfalls an seinem Körper nicht ablesen läßt 494 – trotz seiner einst geleisteten Schwerarbeiten und wegen der dabei von ihm wie angeblich 495 von allen amerikanischen Arbeitern getragenen Handschuhe hat er »keine schwieligen Proletarierpfoten«, sondern »weiße[], man könne sagen: herrschaftliche[] Hände« 496 –, diese »skandalöse[] 493 Bd. 6, S. 549. 494 Vgl. Todd Herzog, »Den Verbrecher erkennen«. Zur Geschichte der Kriminalistik, in: Schmölders und Gilman (Hgg.), Gesichter der Weimarer Republik, S. 51–77, hier S. 60 f. 495 Vgl. Leppmann, Der Amerikaner im Werke Thomas Manns, S. 105 f. 496 Bd. 8, S. 896.
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Parabel« 497 steht a limine unter der Signatur einer historischen Periode, die Bachofen gewiß als Rückfall auf »[d]as mütterlich-stoffliche Prinzip« bezeichnet hätte. Sie exemplifiziert so einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen sexueller und »politische[r] Emanzipation«, wie ihn Bachofen an einer von Thomas Mann wieder unter- und angestrichenen Stelle von der »allgemeinen Brüderlichkeit« mit einer genetisch-natürlichen Metapher herstellt: Die »fleischliche und die politische Emanzipation«, »daher den dienenden Ständen besonders lieb«, treten je »als notwendige und stets verbundene Zwillingsbrüder« auf. 498 Bereits im konzeptionellen Kern der Novelle ist der Skandal einer ›hetäristischen‹ Sexualität an die in wieder Bände sprechende Anführungszeichen gesetzte »›Freiheit‹ unter der Republik« gebunden, soweit sich dieser Kern jedenfalls aus den erhaltenen Notizen rekonstruieren läßt (in denen übrigens auch schon das Detail der nach den Codes der Standes- und Klassengesellschaft irreführenden, wie bei Mario herrschaftlich »feine[n] Hände« festgehalten wurde): Zärtliche Herausforderung des Jungen, bei der die politische Atmosphäre, die »Freiheit« unter der Republik (Ken läßt sich modisch das Taschentuch lang heraushängen) eine Rolle spielt.
In der Notiz, doppelt unterstrichen, ist die zeitgenössische Mode syntagmatisch sinnfällig mit den »politische[n]« Verhältnissen verschränkt. Im Novellentext, wenn Rosalie ihrer in einem Moralkodex von »Anno dazumal« und »vor dem Kriege« befangenen Tochter gegenüber ihre Leidenschaft mit den »verändert[en]« »Begriffe[n]« zu rechtfertigen versucht, wird die betreffende Modeerscheinung sogar ganz explizit als »Zeichen« der »Republik« und »Freiheit« definiert, auf welche sich die »Aristokratin« ausdrücklich beruft: »Anna!« rief sie gedämpft. »Wie denkst du und wie verhältst du dich? Laß mich gestehen, daß ich dich gar nicht wiedererkenne! Sage, wer ist denn die Künstlerin von uns beiden, – ich oder du? Nie hätte ich gedacht, daß du an Vorurteilslosigkeit so hinter deiner Mutter zurückstehen könntest – und nicht bloß hinter der, sondern auch hinter der Zeit und ihren freieren Sitten! In deiner Kunst bist du so fortgeschritten und betreibst das Allerneueste, so daß ein Mensch von meinem schlichten Verstande mit Mühe nur folgen kann. Aber moralisch scheinst du weiß Gott wann zu leben, Anno dazumal, vor dem Kriege. Wir haben doch jetzt die Republik, wir haben die Freiheit, und die Begriffe haben sich sehr verändert zum Légèren, Gelockerten hin, das zeigt sich in allen Stücken. So ist es jetzt unter den jungen Leuten guter Ton, daß sie das Taschentuch, von dem früher immer nur ein Eckchen in der Brusttasche sichtbar war, lang heraushängen lassen, – wie eine Fahne lassen sie es heraushängen, das halbe Taschentuch, – ganz deutlich ist darin ein Zeichen und so-
497 Adorno, Aus einem Brief über die Betrogene an Thomas Mann, S. 284. 498 Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 104; Thomas Manns Hervorhebung.
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gar eine bewußte Kundgebung republikanischer Auflockerung der Sitten zu erkennen. […]« 499
Das bei dieser Gelegenheit so titulierte und in seiner Zeichenhaftigkeit definierte »Taschentuchsymbol« 500 kehrt zuletzt auf jener mythologisch unterlegten Rheinfahrt wieder, wo der »Sohngeliebte[]«, 501 ähnlich wie Felix Krull am Ende des Romanfragments, »zwischen Mutter und Tochter« zu sitzen kommt: Sie [scil. Rosalie] schien den elementaren Reiz der Wasserfahrt von Herzen zu genießen. Die Augen geschlossen, sang sie mit halber Stimme irgend etwas Freudiges in den zuweilen fast stürmischen Wind hinein: »O Wasserwind, ich liebe Dich; liebst du mich auch, du Wasserwind?« Ihr verschmälertes Gesicht war sehr lieblich unter dem Filzhütchen mit der Feder darauf, und der grau und rot karierte Mantel aus leichtem Wollstoff, mit Umlegekragen, den sie trug, kleidete sie vorzüglich. Auch Anna und Eduard hatten sich für die Fahrt mit Mänteln versehen, und nur Keaton, der zwischen Mutter und Tochter saß, begnügte sich mit einem grauwollenen Sweater unter seiner Flausjacke. Das Taschentuch hing ihm lang aus der Brusttasche, und mit einer plötzlichen Wendung, die Augen auf einmal offen, stopfte Rosalie es ihm tief in die Tasche hinein. »Sittsam, sittsam, junger Mann!« sagte sie mit ehrbar verweisendem Kopfschütteln. Er lächelte: »Thank you« und wollte dann wissen, was für ein song das gewesen sei, den man eben von ihr gehört. »Song?« fragte sie, »habe ich denn gesungen? Das war ein Singsang und kein song.« Und schon schloß sie wieder die Augen und summte mit kaum bewegten Lippen: »Du Wasserwind, wie lieb’ ich dich!« 502
Im »Wasserwind« wird das Zephir-Motiv erweitert oder spezifiziert, dessen erotische Valenz von jener »besonders anmutig[en]« »Art der« Pappel- und Linden-»Befruchtung« her festgelegt ist. In dem Kompositum sind die beiden Vorstellungen zusammengeführt, die nach Bachofen auf der Stufe des ›Hetärismus‹ zur Imagination der »erwecken[den]« 503 »Männlichkeit« zu Gebote stehen. 504 Indem Rosalie also die anonym-»elementare[]« Männlichkeit dieses Wasserwinds umwirbt, spielt sie eine sehr deutlich ›hetärische‹ Lockrolle. Aus dieser ihrer ›hetärischen‹ Rolle jedoch fällt sie in völlig unmotivierter, aber desto aufschlußreicherer Weise »auf einmal« heraus. »[A]uf einmal« und ganz »plötzlich[]« – als ob das temporal Abrupte die logische Unmoti499 500 501 502 503 504
Bd. 8, S. 927. Ebd. Neumann, Eros und Psyche, S. 81, 122. Bd. 8, S. 939. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 292. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 120. Vgl. Ulrich, »…diese kleine Mythe von Mutter Natur«, S. 130.
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vierbarkeit des Geschehens kompensieren sollte – korrigiert Rosalie die »Mode«, auf deren politischen Symbolwert sie sich doch zur Selbstrechtfertigung eben noch berufen hat. Noch einmal, wie schon in jener ›verschmitzt‹-überzogenen »Travestie« gestrengen und gesitteten Muttertums, die eigentlich an ihre hier ja ebenfalls wieder anwesende Tochter adressiert war, entfernt sich »Mama Rosalie« ironisch von ihrer eigentlichen Befindlichkeit. Wie aber die Unwahrscheinlichkeit der allerersten mythologischen Anspielung die Funktion des Märchens von Amor und Psyche als eines leitenden Subtexts verriet, so reflektiert dieser letzte Verstoß gegen die Kohärenz der Erzählung die ideologische Füllung, welche die Motive von Blindheit und Augenlicht über den Subtext des Märchens und seiner Bachofenschen Interpretation als Indizes der Republik beziehungsweise des Antirepublikanismus erhalten. Soll Rosalie bei jener Anspielung auf »Psyche […] mit der Lampe« »ihr Gesicht« ausdrücklich »mit geschlossenen Augen« im »Strauße bergen«, so hält sie hier »[d]ie Augen« genau so lange »geschlossen«, wie sie ihren als Regression in den ›Hetärismus‹ stilisierten »Singsang« summt. Der auffällige Bruch mit ihrer ›archetypischen‹ Rolle sodann, die »plötzliche[] Wendung« gegen die »bewußte Kundgebung republikanischer Auflockerung der Sitten«, 505 geschieht mit »offen[en]«, eben »plötzlich[]« geöffneten »Augen«. Und nachdem an diesen beiden ersten einschlägigen Stellen die entsprechenden Informationen in grammatisch untergeordneter Form erschienen sind (»[d]ie Augen geschlossen«, »die Augen auf einmal offen«), steht Rosalies Wiederaufnahme ihres »Singsang[s]« und ihr neuerlicher und endgültiger Rückfall auf den ›Hetärismus‹ nun auch syntaktisch ganz im Zeichen der mutwilligen Selbstblendung, welche als Hauptsatz und vor allem anderen notiert wird: »Und schon schloß sie wieder die Augen und summte […].« Die Ausblendung des »Augen«- und die Privilegierung des ›primitiven‹ Geruchssinns stehen also nicht nur einfach in Zusammenhang mit dem Betrug und Selbstbetrug der »Betrogene[n]«, der Louise Servicens französischer Übersetzung und in deren Folge der Verfilmung Guiguets den Titel gab, Le Mirage. 506 Licht und Sehen fungieren in der Betrogenen zwar auch, aber nicht einfach nur als die, wie es in Hans Blumenbergs Metaphorologie heißt, die »dem Wahrheitsproblem am engsten verschwisterte[] Metapher«: 507 Das wahre und »furchtbare[] Bild« der Krankheit zeigt sich »dem 505 Bd. 8, S. 927. 506 Thomas Mann, Le Mirage, traduit par Louise Servicen, in: Les Lettres nouvelles 2.14, 1954, S. 481–513; 2.15, 1954, S. 709–733; 2.16, 1954, S. 845–866. 507 Hans Blumenberg, Paradigmen einer Metaphorologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 15.
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Manns politische Bachofen-Rezeption
bloßen Auge«, und zwar unter einer technischen Apparatur, die die Sehschärfe optimiert: »im weißen Licht der Bogenlampen«. Zuvor schon, bei technisch noch weiterer Schärfung der menschlichen Sehkraft, erscheint der »ausgedehnte[] Befund« dieser Krankheit unter dem »Mikroskop«. (Und nicht zufällig fabriziert oder vertreibt solche »Apparate[]« und Sehhilfen der einzige patriarchal imposante Familienvater, der einzige Vater insbesondere auch von Söhnen und ›Stammhaltern‹, unter all den »Männerchen« in der Generation Leverkühns; nämlich dessen Schwager, der in der vorliegenden Gestalt des Doktor Faustus nicht mehr Uhrmacher, sondern eben Optiker und übrigens »von Geburt« auch kein Deutscher ist, sondern aus Bern stammt, einem seit alters patrizisch regierten Ort und Kanton. 508) »[D]ie Augen« muß Rosalie zuletzt aufschlagen, sobald »sich ihr Geist noch einmal« »lichtet[]«. 509 Dabei ist die Lichtmetaphorik des Verbs hier nachweislich gesucht. Denn anstelle der Verbalmetapher, »lichtete sich ihr Geist noch einmal«, setzte Thomas Mann in der Handschrift zunächst zu einer abstrakteren Formulierung an, die kein verbum videndi, sondern ein Bewegungsverb oder -partizip (wie etwa ›zurückgelangen‹ oder ›wiedergekehrt‹) erfordert hätte: »noch einmal ins Bewußtsein«. Vor ihrem ›lightening before death‹ aber ist die »Betrogene« im vollen Wortsinn verblendet. Der »selbstgefällig[en]« Fehlinterpretation ihrer Blutung gibt sie sich wie schon zitiert mit geschlossenen Augen und nota bene »hochrot[em]« »Näschen« hin. Sie denunziert das »Tageslicht« ausdrücklich als »ein so falsches, so gänzlich irreführendes Licht«.510 Anlaß dieser Denunziation ist die Aufforderung ihrer Tochter, den aufgrund des »demokratischen Geist[es] seines […] Heimatlandes« zu einem solchen abqualifizierbaren »Durchschnittsmensch[en]« auch »nur einen Augenblick« in diesem »Tageslicht« »zu sehen«. 511 Indem sie sich dieser Aufforderung einer weiblichen Verwandten ersten Grades widersetzt, die ihr allenfalls subliminal ihre Weiblichkeit mißgönnt (wie die häßliche Tochter in Lotte in Weimar 512), verhält sie sich neuerlich gerade nicht wie Psyche, sondern genau umge508 Bd. 6, S. 247. Vgl. Elsaghe, »Gute Augen, […] gute Rasse«, S. 289–293; zur Verbindung des Uhrmacher-Gewerbes (auch des Vornamens »Isaak« [Bd. 7, S. 333] bzw. »Isaac«) und der nationalen Identität den Anfang von Rousseaus Bekenntnissen, die Thomas Mann gekannt haben muß (vgl. z. B. Bd. 9, S. 67 f., 73, 291; Bd. 12, S. 18; Bd. 13, S. 252, 254, 256): Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1: Les Confessions; Autres Textes autobiographiques, o. O.: Gallimard, 1959 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1–656, hier S. 6. 509 Bd. 8, S. 949 f. 510 Bd. 8, S. 913. 511 Bd. 8, S. 913 f. 512 Bd. 2, S. 714 f. Vgl. Gabrielle Gross, Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann, Bern et al.: Lang, 2002 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1822), S. 182–185.
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kehrt. Denn diese gibt in ihrer ›Schaulust‹ ja den Eingebungen ihrer neidischen Schwestern nach und besieht sich ihren Geliebten wenn nicht bei »Tages«-, so eben doch im Licht der »Lampe und ihr[es] Öl[s]«. Über solche ironischen, gewissermaßen negativen Reminiszenzen an das Märchen von Amor und Psyche und dessen Bachofensche Deutung kann und muß man wohl oder übel das Arrangement von Licht und Dunkel in eine prägnante Beziehung zu der im Incipit des Novellentexts fixierten Zeit des Geschehens setzen. Die Republik erscheint auch in der Betrogenen als eine Art Regression, genau wie bei Bachofen und ähnlich wie bei Baeumler. Wie schon im Doktor Faustus, aber ganz anders als noch in Mario und der Zauberer – wo sie ja im Gegenteil die Fallhöhe oder den impliziten Vergleichsstandard vorgab für den »Rückschlag« des italienischen Faschismus –, gerät die Weimarer Republik in der Betrogenen zu einem ›sinnlichen‹ Primitivismus. Der Republikanismus erscheint hier als Rückfall vom ›apollinischen‹ »Augensinn« auf den ›blinden‹ »Genuß« »betäubend[er]« 513 Düfte. Die geradezu politische Besetzung solch blinder und tauber Genüsse scheint freilich bei Bachofen so nicht vorgegeben zu sein. Oder dann ist sie es nur eben ansatzweise (an Stellen wie der von der »schnell verriechende[n] Rose«). Wie aber allein schon Freuds analog-phylogenetisches Verständnis der Sinne gezeigt hat – Überwindung der Geruchsreize als Anfang aller Kultur –, kann ein Leser Bachofens eine derartige Besetzung leicht supplieren. Er kann sie auch und gerade auch aus dem Märchen von Amor und Psyche extrapolieren; dann jedenfalls, wenn er sich dessen Sinn von Bachofen soufflieren läßt. Die mythologische Unterlegung der Novelle ist so gelesen mit den politischen Implikationen des Doktor Faustus vollkommen konstistent. Sie läßt sich auf die Formel einer Marginalie bringen, mit der Thomas Mann selber Bachofen einst, wahrscheinlich »[i]n den zwanziger Jahren«, glossiert hatte: »Reaktionärer Pferdefuß.« 514
513 Bd. 8, S. 885; im Original keine Hervorhebung. 514 Thomas Mann, [Marginalie zu:] Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 40. Vgl. dazu Erich Podachs von Thomas Mann mit »schamlos« glossierte Paraphrase und Kritik der nationalistischen Nietzsche-Rezeption durch und um Alfred Baeumler: »Der allzu zeitgemäße Pferdefuß dieser Auslegung« (Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werks, Weimar: Lichtenstein, 1932, S. 131).
Zusammenfassung Thomas Manns letzte Erzählung, in ihrer ›unübersehbaren Vermächtnishaftigkeit‹, schließt die Reihe von Krankheitsgeschichten, aus denen sein Œuvre zu einem guten und dem vielleicht besten Teil besteht. Anders aber als im Doktor Faustus, im Zauberberg, im Tod in Venedig oder im Typhus-Finale der Buddenbrooks geht es in der Betrogenen, die darin ganz unmittelbar den epidemio- und zeitlich akkurat insbesondere auch den pharmakologischen Fortschritt ›widerspiegelt‹, nicht mehr um eine Infektionskrankheit. Bearbeitet wird hier vielmehr die Art Todesangst, die seit den Erfolgen vor allem der Penicillin-Therapie die alten Ansteckungsängste ersetzte. Die genuin moderne Angst vor dem Krebstod wird dabei auf dieselbe Weise beschwichtigt oder verdrängt wie zuvor schon bei Theodor Storm und dann auch wieder bei Gottfried Benn. Der Krebs befällt auch hier wieder das ›andere‹ Geschlecht, und dieses zwar auch hier am Geschlechts-, also einem Organ, an dem der Autor und seine Leser nie und nimmer erkranken könnten. ›Verdrängt‹ bleibt die Krebskrankheit in der Betrogenen selbst im räumlich konkreten Sinn des Worts. Ähnlich wie wieder bereits bei Storm rückt sie in die Nähe des auch national ›Anderen‹. Sie wird wenigstens aus dem Kernland des Deutschen Reichs so herausgehalten, wie es freilich schon mit den Infektionen des früheren Erzählwerks geschah, deren Gefahr indessen in aller Regel von Südosten her drohte. Nun aber werden Krankheit, Sterben und Tod an einen ganz anderen Rand des deutschen Territoriums gedrängt als zuvor, wenn jetzt ausgerechnet Düsseldorf den Schauplatz dafür abzugeben hat. Der im Gesamtwerk völlig singuläre Status dieses Schauplatzes ist nicht nur biographisch zu erklären – über die Herkunft einer großen Liebe des Autors –; sondern er scheint auch mit dessen Widerständen gegen spezifisch moderne Phänomene wie die Großstadt und die industrielle Produktionsweise zusammenzuhängen.
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Antiurbanismus und Modernitätsskepsis jedoch sind auch und ganz besonders in der Betrogenen nur Aspekte einer viel umfassenderen Nostalgie. Diese richtet sich in Thomas Manns Romanen und Novellen, soweit sie der Zeitgeschichte gelten, von der Zwischenkriegszeit an auf das deutsche Kaiserreich. Dessen eigentliches, ›epochales‹ Ende allerdings datierte Thomas Mann dabei in seinem Erzählwerk, auch in der Betrogenen wieder, implizit und in seinen Reden sogar ganz explizit auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurück. Seit dem Ende des Ersten, erst recht seit dem Zweiten Weltkrieg und ganz besonders eben in der Betrogenen geraten die fiktionalen Artikulationen solcher Nostalgie nach den Zuständen des deutschen Kaiserreichs in einen seltsamen, am ehesten wohl psychologisch oder psychoanalytisch konzeptualisierbaren Gegensatz zu den politisch-essayistischen Äußerungen des Autors. In den Selbstbeschreibungen seiner faktualen Sprech- und Redeakte bekannte sich dieser ja dezidiert zu Republik und Demokratie. Einen solchen Bruch hingegen mit seiner ›unpolitischen‹ und »das heißt undemokratisch[en]« Vergangenheit, wie er ihn in seinen Reden und Essays bemerkenswert prompt vollzog und darin freilich nur ganz notdürftig zu beschönigen vermochte, scheint das Erzählwerk ganz und gar nicht aufzuweisen. Und auch in der Betrogenen sucht man bei genauerer Lektüre vergebens nach entsprechenden Bruch- oder Kippstellen. Ein wesentlicher Teil und der wohl interessanteste Ausdruck des nostalgischen Antirepublikanismus sind im späteren Erzählwerk überhaupt, aber nirgends so deutlich wie in der Betrogenen, die literarischen Repräsentationen der Geschlechterdifferenz und der Geschlechterverhältnisse. Die Wiederkehr starker, dominanter, sexuell initiativer Frauenfiguren, wie sie im Frühwerk einfach noch die klassische Gestalt der femme fatale annahmen, ist in Thomas Manns Romanen und Novellen seit der Zwischenkriegszeit sehr eng an je ganz bestimmte politische Bedingungen gebunden, seitdem also in Deutschland etliche Forderungen der Emanzipationsbewegung in rechtliche Erfüllung gingen. Zuerst zwar, in Mario und der Zauberer, erscheint die Wiederermächtigung und Übermächtigkeit ›der‹ Frau als ein untergründiges, doch auch essentielles Element des italienischen Faschismus. Dann aber, ab der ›Machtergreifung‹ des deutschen Faschismus, im Deutschland des Doktor Faustus und eben auch der Betrogenen noch, gestalten sich die Stürzungen der traditionellen Geschlechterordnung, vor allem auch die Erbärmlichkeit der Männer und die Fadenscheinigkeit ihrer Institutionen, merkwürdigerweise als Phänomene ausschließlich oder doch vornehmlich der Weimarer Republik.
Zusammenfassung
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Solche Symbiosen von Misogynie und Antirepublikanismus – wie auch von Antiurbanismus und Xenophobie oder hinwieder auch von Gynophobie und Krebsangst – waren seinerzeit im wesentlichen vermittelt über Johann Jakob Bachofen beziehungsweise über dessen Rezeption im Umkreis erst der sogenannten ›Konservativen Revolution‹, dann der jungianischen Tiefenpsychologie. Der sehr nachhaltige, eben bis tief in die Nachkriegszeit anhaltende Einfluß, den Bachofens Kulturtheorie seit Mitte der Zwanzigerjahre auf Thomas Manns Vorstellungen von der Geschichte nicht einfach nur der Geschlechterbeziehungen und ihrer unterschiedlichen Kulturalisationen ausübte, läßt sich bei einer darauf ausgerichteten Relektüre der späteren und späten Erzähltexte bis in deren Details hinein nachweisen. Geradezu exemplarisch aber gibt Bachofens Einflußmacht der Text der Betrogenen zu erkennen, der auch hierin den Abschluß einer längeren Werkreihe bildet und gewissermaßen von sehr langer Hand vorbereitet war. Die hierfür einschlägigen und stichhaltigen Indizien liefert, wenn auch untergründig, so doch unmißverständlich eine ziemlich eng geschlossene Serie von klassisch-mythologischen Reminiszenzen. Über diese wird das Geschehen der Novelle mit dem Märchen von Amor und Psyche weniger enggeführt als vielmehr konfrontiert. Dieses Märchen wiederum hatte Bachofen einer ausführlichen und eingehenden Deutung unterzogen. Seiner phylogenetisch allegorisierenden Deutung zufolge soll das Märchen eine mythische Erinnerung darstellen an ein kritisches Übergangsstadium, das die Menschheitsgeschichte bei ihrem vor Urzeiten stattgehabten Fortschritt zum ›Mutterrecht‹, das aber heißt mittelbar auch zum Patriarchat und in eins damit zu dessen aufgesteilten Gesellschaftshierarchien durchlief. Wie die im Text ganz offensichtlichen, ›alttestamentlich‹-biblischen, die Anspielungen auf die Genesis und das an Sara vollbrachte Verjüngungswunder entschieden ironisch, um nicht zu sagen sarkastisch und zynisch geartet sind, so lassen sich auch die klassisch-mythologischen Reminiszenzen an Amor und Psyche, die ungleich dezenter neben und unter ihnen herlaufen, nur von dem her verstehen, was in ihnen ausgespart bleibt, worin sich also das in der Betrogenen Erzählte vom leise, aber konsistent aufgerufenen Märchentext unterscheidet beziehungsweise von dessen Bachofenscher Auslegung ad gentem. Ausgespart und konsequent ausgeblendet bleiben in der Betrogenen, deren Protagonistin stattdessen über ein ausgeprägt sensibles Geruchsorgan verfügt, die Motive des Lichts und des Sehens, auf die und auf deren habituelle Wahrheitsmetaphorik Bachofens fortschrittsoptimistische Interpretation des Märchens ausgerechnet basiert war. Die Republik und was mit ihr an geschlechterpoliti-
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Zusammenfassung
schen oder aber auch an nosologischen Erscheinungen verbunden ist, gerät so zu einer gigantischen Regression in einen vorkulturellen Urzustand, wie sie Bachofen anderwärts in seiner zuletzt und zutiefst fatalistischen Theorie eigens vorgesehen respektive in deren gegenwartskritischen Weiterungen vorhergesehen hatte.
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Abbildungen
Abb. 1: Rembrandt van Rijn, Der Triumph der Dalila (Die Blendung Samsons), © Blauel / Gnamm – ARTOTHEK, 2009 Städel Museum, Frankfurt a. M.
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Abb. 2: Johann Heinrich Füßli, Psyche, Amor mit der Lampe betrachtend, © 2009 Kunsthaus Zürich
Abbildungen
Abb. 3: Thomas Mann, Mutter Natur, © 2009 Thomas Mann-Archiv, Zürich
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Abb. 4: Thomas Mann, Ein treuer Knecht war Fridolin, © 2009 Thomas Mann-Archiv, Zürich
Abbildungen
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Abb. 5: Jacopo Zucchi, Amor und Psyche, © 2009 Archivio Fotografico Soprintendenza Speciale per il Patrimonio Storico, Artistico ed Etnoantropologico e per il Polo Museale della città di Roma
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Anhang
Abb. 6: Reinhold Begas, Amor und Psyche, © 2009 bpk / Nationalgalerie, Berlin
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Anhang
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Filme Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Kurt Hoffmann, BRD 1957) Buddenbrooks (Heinrich Breloer, DE 2008) Die Manns. Ein Jahrhundertroman (ders., DE/AT/CH 2001) Doktor Faustus (Franz Seitz, BRD 1982) Elegy (Isabel Coixet, US 2008) Eyes Wide Shut (Stanley Kubrick, UK/US 1999) Le Mirage (Jean-Claude Guiguet, FR/DE/CA/CH 1992) Limelight (Charles Chaplin, US 1952) Mario und der Zauberer (Klaus Maria Brandauer, AT/FR/DE 1994) Match Point. Passion Temptation Obsession (Woody Allen, UK/US/IE/RU 2005) Perfume: The Story of a Murderer (Tom Tykwer, DE/FR/ES/US 2006) Traumnovelle (Wolfgang Glück, AT 1969) Voyager (Volker Schlöndorff, FR/DE/EL/UK 1991)
Werkregister Achtung, Europa! 244 Arthur Eloesser ›Die deutsche Literatur‹ 244, Anm. 114 Der Bajazzo 17; 172 Die Bäume im Garten 244 Beim Propheten 228 f. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 2, Anm. 9; 4; 6; 14, Anm. 19; 19; 27; 29–31; 52; 55–57; 59; 60, Anm. 326; 61–64; 99; 118; 123; 130–132; 142; 149; 214; 226 f.; 248 f.; 256; 262 f.; 287 f.; 295–297; 308 Betrachtungen eines Unpolitischen 142; 151; 224; 264 Die Betrogene passim Bilse und ich 18; 160 Briefwechsel mit Bonn 86, Anm. 64 Buddenbrooks 2; 5; 15–17; 22; 57–59; 60, Anm. 326; 61 f.; 64 f.; 103; 134; 159– 161; 172; 173, Anm. 41; 174; 248; 273; 276; 313 Deutsche Ansprache 244 Deutsche Hörer! 114; 255 Deutschland und die Deutschen 244 Doktor Faustus 4; 19; 30–35; 37–45; 47 f.; 57 f.; 60, Anm. 326; 61 f.; 64 f.; 67; 102; 118; 123; 130–139; 145 f.; 149; 172 f.; 179; 183, Anm. 112; 186; 196; 212; 221; 235–237; 240; 242; 244, Anm. 114; 245; 254; 261–263; 269– 306; 310 f.; 313 f. Das Eisenbahnunglück 233 f. Die Entstehung des Doktor Faustus 103; 140, Anm. 130; 244; 263 Der Erwählte 294 Fiorenza 238 Fragment über das Religiöse 86, Anm. 65; 87; 229 Freud und die Zukunft 259; 267, Anm. 277 Gedanken im Kriege 292 Gefallen 3 f.; 33; 68 Gladius Dei 277
Goethe und Tolstoi 19 Hans Reisiger 42, Anm. 200 Herr und Hund 129 f.; 233 f.; 244 Joseph und seine Brüder 6; 19; 149; 193; 229; 231 f.; 237 f.; 297 Katia Mann zum siebzigsten Geburtstag 93, Anm. 102; 195, Anm. 12 Der kleine Herr Friedemann 15–17; 21 f.; 33; 41; 51; 60, Anm. 326; 64; 132 f.; 160 Königliche Hoheit 15; 19; 55; 57; 59 f.; 64; 108 Lebensabriß 103 f.; 232 Little Grandma 157 Lotte in Weimar 11; 19; 151 f.; 244 Mario und der Zauberer 1 f.; 4; 6; 55; 59; 143; 231–263; 271; 275; 284; 288–290; 292; 299; 305; 307; 311; 314 Meine Zeit 244 Okkulte Erlebnisse 76, Anm. 26 On Myself 247, Anm. 155 Pariser Rechenschaft 5; 193; 244; 263–271 Phantasie über Goethe 19 Rede über Lessing 244 Rückkehr 14; 69; 105 ›Die schönsten Erzählungen der Welt‹ 174, Anm. 45 Die Sendung der Musik 244 Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte 194; 244 Theodor Storm 99–103; 105 f.; 121, Anm. 23 Tobias Mindernickel 160 Der Tod 59; 64 Der Tod in Venedig 5; 18 f.; 21; 23–26; 55; 59; 108; 122; 138 f.; 179; 256; 269; 275; 278; 290; 313 Tonio Kröger 16; 21–28; 60, Anm. 326; 142 Tristan 57; 62–64; 82; 302 Über die Ehe alias Die Ehe im Übergang 5; 19, Anm. 46; 229–231
Register Unordnung und frühes Leid 5; 19 f.; 34; 123; 143; 172; 257 Versuch über das Theater 176, Anm. 53 Die vertauschten Köpfe 29; 237; 240 Von Deutscher Republik 147–150; 268 f.; 282; 293 f.; 299; 306 Vor dem ›American Rescue Committee‹ 244, Anm. 114 Vorwort zu ›Altes und Neues‹ 7; 244 Vorwort zu dem Roman eines Jungverstorbenen 19 Wälsungenblut 133
355 Die Wiedergeburt der Anständigkeit 244 Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten 60, Anm. 326 Der Zauberberg 23 f.; 55–57; 59–62; 64; 130 f.; 137; 145 f.; 186, Anm. 124; 221; 228 f.; 238; 269; 313 Zu Lessings Gedächtnis 193; 197; 229; 232 Zum Problem des Antisemitismus 244, Anm. 114 Zur jüdischen Frage 273
Personenregister Abraham a Santa Clara 220, Anm. 124 Abrahams, I. 160, Anm. 15 Adorno, Theodor W. 140, Anm. 130; 190; 306 f. Affolter, Hanspeter 238, Anm. 81 Allen, Woody 37 Amélie d’Orléans 287 Amrein, Ursula 202, Anm. 32 Anders, Günther 215 Andersen, Hans Christian 24, Anm. 63; 296, Anm. 439 Anz, Thomas 216, Anm. 103 Apuleius 40; 170–206; 223; 309–311; 315 Aristoteles 224 Auderset, Juri 241, Anm. 100 Augustinus 79 Bach, Carl Philipp Emanuel 16 Bach, Johann Christian 16 Bach, Johann Christoph Friedrich 16 Bach, Johann Sebastian 16; 160 Bach, Wilhelm Friedemann 16 f.; 160 Bachofen, Johann Jakob 5, Anm. 20; 6 f.; 31, Anm. 109; 38, Anm. 151; 193– 311; 315 f. Bachtin, Michail 131, Anm. 67 Bacon, Francis 53 f. Baethcke, Ludwig Hermann 249 Baeumler, Alfred 263–271; 279 f.; 282; 305; 311 Bal, Mieke 36; 163; 165; 167 f. Baldwin, Peter 139 Barnett, Lincoln 226, Anm. 17 Barth, Emil 48; 218 f. Baudelaire, Charles 113 Bauer, Kattrin 144, Anm. 6 Beauvoir, Simone de 66; 194; 215, Anm. 101 Bebel, August 194; 252 Becker-Leckrone, Megan 33, Anm. 125 Begas, Reinhold 204 Behring, Emil 81, Anm. 45 Beißel, Johann Conrad 305 Belgum, Kirsten 70, Anm. 7; 71, Anm. 10
Bender, Thomas 22, Anm. 56 Benedikt XVI. 125 Benjamin, Walter 201 f.; 279 Benn, Caroline 107; 110 Benn, Gottfried 88; 105–118; 313 Benn, Gustav 107 Bennett, Veldon J. 230, Anm. 34 Berben, Iris 2 Berger, Emma 23 Bergius, Hanne 134, Anm. 86; 281, Anm. 336 Bernoulli, Carl Albrecht 198; 206; 230; 249 f.; 258; 296 Bernoulli-Suter, René 230, Anm. 35 Beßlich, Barbara 142, Anm. 135 Bhend, Bettina 214, Anm. 96 Bichat, Xavier 83 f. Binding, Karl 77 Bismarck, Otto von 71; 269 Bizot, Richard 33; 34, Anm. 127 Blair, Rhonda L. 215, Anm. 99 Bloch, Ernst 194 f.; 224, Anm. 3 Bloch, René 164, Anm. 30 Blume, Friedrich 17, Anm. 35; 160, Anm. 14 Blumenberg, Hans 177 f.; 309 Boccaccio, Giovanni 39 f.; 174; 238–241; 244; 246; 261; 286; 288 f. Bodin, Jean 296 Bölsche, Wilhelm 92; 95 Bonin, Werner 89, Anm. 81 Böschenstein, Renate 259, Anm. 249 Boss, Ulrich 5, Anm. 19; 6, Anm. 22; 148, Anm. 21; 251, Anm. 192 Brachvogel, Albert Emil 16 f. Brandauer, Klaus Maria 1 f.; 233; 235 Braun, Harald 87 Brehmer, Herrmann 57, Anm. 315 Breloer, Heinrich 2; 7 Brenner, Hildegard 263, Anm. 268 Broch, Hermann 5 f. Brockes, Barthold Hinrich 219, Anm. 122 Brode, Hanspeter 107, Anm. 154
Register Bronfen, Elisabeth 118 Brückle, Wolfgang 279, Anm. 330 Büchner, Georg 224 Burckhardt, Jacob 255 Burkert, Walter 250, Anm. 188 Bynum, W. F. 63, Anm. 346 Canetti, Elias 36 Catull 182 Chaplin, Charlie 46 Charcot, Jean Martin 251 Chopin, Frédéric 302 Coixet, Isabel 106 Conrad, Michael Georg 3 Copland, Aaron 304, Anm. 487 Corbin, Alain 131, Anm. 67; 176, Anm. 53 Coufopoulos, Demetrius 282, Anm. 341 Cuneo, Anne 66 Dahl, Nils Alstrup 158, Anm. 9 Danton, Georges 224 Daumer, Georg Friedrich 89; 93 f. Davidson Reid, Jane 175, Anm. 48; 185, Anm. 120 de Man, Paul 78, Anm. 33 Decker, Gunnar 113, Anm. 177 Delabar, Walter 116 Deleuze, Gilles 14 f.; 201 Demandt, Alexander 225, Anm. 7 Derleth, Ludwig 228 Dettweiler, P. 57, Anm. 315 Dierks, Manfred 6, Anm. 23; 267, Anm. 280; 269, Anm. 286 Dijk Hemmes, Fokkelien van 163; 165; 167 f. Diner, Dan 146, Anm. 13; 292, Anm. 413 Döblin, Alfred 279 Dohm, Hedwig 157 Donizetti, Gaetano 37 Douglas, Mary 80; 139; 290 Dürer, Albrecht 135 Dürrenmatt, Friedrich 215 Duse, Eleonora 237 Dussel, Konrad 123, Anm. 33 Ebel, Martin 2, Anm. 9 Ebert, Friedrich 147 Eckart, Wolfgang U. 73, Anm. 16 Eichhorn, Johann Gottfried 162 Eigler, Jochen 56, Anm. 306 Eisner, Martin G. 40, Anm. 171; 177, Anm. 64; 289, Anm. 398 Elias, Norbert 27, Anm. 91 Engels, Friedrich 194; 196; 228; 252 Faber, Richard 228, Anm. 28 Failla, Serena 230, Anm. 34; 231, Anm. 36
357 Fang, Weigui 151, Anm. 30 Farina, Jean Marie 124 Fauth, Wolfgang 296, Anm. 442 Fehling, Jürgen 248 Felder, Paul 153 Fischer, Ernst Peter 111, Anm. 169 Fischer, Irmtraud 162, Anm. 22 Fitton, Mary 173; 283; 299 Fitzmyer, Joseph A. 160, Anm. 15 Florack, Ruth 141, Anm. 132 Fontane, Theodor 64 f. Foucault, Michel 71; 83–85; 108, Anm. 157; 109, Anm. 163 Franke, Dieter 171 f. Freud, Sigmund 43, Anm. 209; 211; 244; 251; 269; 311 Freund, Wilhelm Alexander 98 Frevert, Ute 49, Anm. 254 Frey, Erich A. 46, Anm. 231 Friedemann, Heinr. Ed. 16 Frisch, Max 53, Anm. 291; 215 f. Frobenius, Leo 142 Fromm, Erich 194; 286, Anm. 373 Fuchs, Ursula 98, Anm. 121 Füßli, Johann Heinrich 118 f.; 203 f. Galvan alias Galvan Morley-Fletcher, Elisabeth 6, Anm. 23; 237, Anm. 68 Geißendörfer, Hans W. 2 Gellius, Aulus 259, Anm. 253 Gernhardt, Robert 96, Anm. 115 Gigl, Caroline 58, Anm. 317 Gildhoff, Heinz 42, Anm. 200 Gilman, Sander L. 19, Anm. 46 Ginneken, Grietje van 163; 165; 167 f. Giordano, Davide 55 Glaevecke, Ludwig 98; 100; 102 Glück, Wolfgang 5, Anm. 20 Göckenjan, Gerd 84, Anm. 58; 92, Anm. 96; 107, Anm. 156; 108; 111, Anm. 166 Goethe, Johann Wolfgang von 11; 19; 33; 104; 116; 124; 161 f.; 198–200; 205; 233, Anm. 42; 248; 295; 297 Goffman, Erving 66 f. Gohar, Soheir 230, Anm. 34 Görner, Rüdiger 128, Anm. 51 Gottfried von Straßburg 37; 303, Anm. 482 Gotthelf, Jeremias 93 Gradmann, Christoph 63, Anm. 344 Grafton, Anthony 162, Anm. 20 Grass, Günter 196 f. Greiner, Bernhard 35 f.
358 Griese, Sabine 1, Anm. 7 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 248 Grissemann, Stefan 2, Anm. 9 Groddeck, Georg 213 Gross, Gabrielle, 312, Anm. 512 Gross, Otto 194 Guattari, Félix 14 f.; 201 Guiguet, Jean-Claude 1; 34; 171; 176; 309 Gunkel, Gustav Adolf 298 f. Gut, Philipp 6, Anm. 23; 232, Anm. 39 Gutberlet, Max Joseph 98 Guthke, Karl S. 1, Anm. 2 Haas, Wolf 104 Hahl, Werner 112, Anm. 175; 116 Hahn, T. 75, Anm. 23 Halbwachs, Maurice 26 Hamacher, Bernd 257, Anm. 239 Hardy, Anne I. 63, Anm. 345 Harris, Frank 283, Anm. 352 Hartmann von Aue 294 Hauptmann, Gerhart 5; 147 Hauser, Kaspar 89 Heftrich, Eckhard 6, Anm. 23; 32, Anm. 121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 151 Heidenreich, Elke 2 Heine, Gert 140, Anm. 130; 232, Anm. 38 Heine, Heinrich 151 Heiniger, Florian 224, Anm. 3; 256, Anm. 229; 297, Anm. 451 Heinrichs, Hans-Jürgen 210, Anm. 70 Henning, Friedrich-Wilhelm 126, Anm. 42 Herakleides Pontikos 224, Anm. 3 Herder, Johann Gottfried 151, Anm. 35; 186, Anm. 126 Herodes, Antipas 33 Herodot 195; 224; 258 Herold-Schmidt, Hedwig 62, Anm. 342 Herwig, Malte 276, Anm. 312 Herzog, Todd 306, Anm. 494 Hesse, Hermann 230 f. Hesse, Maria, geb. Bernoulli 230 Heubeck, Alfred 250, Anm. 188 Heuser, Klaus 124 f.; 313 Heuser, Werner 124 Heydenreich, Titus 180, Anm. 93 Heyse, Paul 73 f.; 77; 80; 83; 90 f.; 97–102; 105; 108; 119 Hippokrates 78 Hirsch, Hugo 20; 34; 143 Hirshfeld, Ariella 2, Anm. 9 Hitler, Adolf 32
Anhang Hnilica, Irmtraud 59, Anm. 322 Hoekstra, Arie 250, Anm. 188 Hoffmann, Kurt 131 Hoffmann, Ludwig 110 Holm, Christiane 199, Anm. 22 Homer 162; 233, Anm. 42; 247 Honold, Alexander 129, Anm. 58 Hoppeler, Hans 220, Anm. 124 Hsia, Adrian 151, Anm. 32 Huber, Marc Oliver 76, Anm. 26 Huhn, Rudolf 61, Anm. 336 Hunt, Irmgard 196, Anm. 18 Hurwitz, Emanuel 194, Anm. 4 Ibsen, Henrik 309 Institoris, Heinrich 134, Anm. 87 Isabeau de Bavière 296 Isabella von Kastilien 296 Jacobs, Tim 220, Anm. 124 Jahnel, [Anonyma] 298 f. Jahnn, Hans Henny 248 Janzen, J. Gerald 164, Anm. 29 Jean Paul 129 Jens, Inge 37, Anm. 144; 69, Anm. 4 Jens, Walter 37, Anm. 144 Jessen, Friedrich 23; 57, Anm. 316; 60 Jetter, Dieter 63, Anm. 346 Jeynes, William H. 22, Anm. 56 Jolizza, W. K. von 257, Anm. 239 Jughurta 245; 260 Jung, Carl Gustav 192 f.; 215 Jünger, Ernst 279 Junker, Hubert 163 Jütte, Robert 62, Anm. 341 Kaiser, Gerhard 259, Anm. 249 Kammerer, Paul 226, Anm. 17 Kanz, Christine 162, Anm. 23 Karl der Große 31 Karl I. von Portugal 287 Karstedt, Claudia 230, Anm. 34 Käser, Rudolf 74; 77; 81; 91; 101; 119 Kearny, Philip 46, Anm. 232 Kearny, Stephen Watts 46 f. Keaton, Buster 46 f.; 128 Keeley, Lawrence H. 227, Anm. 23 Keilson-Lauritz, Marita 228, Anm. 28 Keller, Gottfried 198–203; 205; 259 Keller, Inge 176 Kennan, George F. 146 Kerényi, Karl 180, Anm. 93; 193, Anm. 152; 215; 218, Anm. 114; 261, Anm. 259; 283, Anm. 351; 284, Anm. 357; 286, Anm. 376; 287; 288, Anm. 391, 395
Register Kestner-Buff, Charlotte 11 Keyserling, Hermann von 229; 268 Kiefer, Sascha 143, Anm. 2 King, Martina 81, Anm. 46 Kinsey, Alfred C. 209 Klages, Ludwig 210, Anm. 70; 228 Kleist, Heinrich von 118, Anm. 11; 132; 198–200; 205 Klimek, Miriam 54, Anm. 294 Klotz, Ed 46 Köhler, Horst 2 König, Christoph 157, Anm. 2 Koponen, Juhani 73, Anm. 16 Koschorke, Albrecht 36, Anm. 138; 51, Anm. 271; 149, Anm. 25; 202 f.; 295, Anm. 431 Kracauer, Siegfried 20 Krafft-Ebing, Richard von 36 Krumeich, Gerd 148, Anm. 23 Kublitz, Maria 3; 68; 170 Kubrick, Stanley 5, Anm. 20 Kundert, Lukas 158, Anm. 9 Kurzke, Hermann 86; 267, Anm. 280; 274, Anm. 305 Lacan, Jacques 204 f.; 207 Lancel, Serge 177, Anm. 64 Lang, Paul 199, Anm. 22 Lange, Claus 220, Anm. 128 Langenbeck, Conrad Johann Martin 98 Latta, Alan D. 2; 113 Le Bon, Gustave 251 f. Le Fort, Gertrud von 87 Lemaire, Ferdinand 34; 300; 305 Lentsch, Franziska 204 Leppmann, Wolfgang 47, Anm. 240; 306, Anm. 495 Lermontow, Michail Jurjewitsch 104 Lessing, Gotthold Ephraim 186; 193 Lessing, Theodor 259, Anm. 252 Ley, Anne 278, Anm. 323 Liebknecht, Karl 295 Lindpaintner, Julius 58, Anm. 317 Lippmann, Walter 26 Löwe, Angelica 216, Anm. 105 Loewy-Hattendorf, Erwin 53 Lubich, Frederick Alfred 194 f.; 266; 229, Anm. 30; 230, Anm. 34 Lubrich, geb. Bodemann-Ostow, Naomi 27, Anm. 84 Lüth, Paul 53, Anm. 290 Luther, Martin 164; 169; 297 Lützenkirchen, Matthieu 141 Luxemburg, Rosa 295
359 Maar, Michael 15, Anm. 25; 24, Anm. 63; 103, Anm. 144; 165 Macho, Thomas 212 f. MacMasters, Daniel D. 25 Maffei, J. A. 129 Mahler, Gustav 303 Mahlmann-Bauer, Barbara 6, Anm. 21 Mampell, Klaus 226, Anm. 17 Mann, Carla 274 Mann, Elisabeth 159 Mann, Golo 2 Mann, Heinrich 139, Anm. 128; 181–183; 186; 240 f.; 246; 254; 261; 273; 283 f.; 287; 289 Mann, Johann Siegmund 159 Mann, Julia jr. 274 Mann, Julia sen. 103–105; 125; 247; 273 f. Mann, Katia 23; 60; 69; 103; 121; 152; 233 Mann, Thomas passim Mann, Thomas Johann Heinrich 18; 125; 159 Mann, Viktor 261, Anm. 261; 274 Mann, William 33, Anm. 123 Maria Pia von Savoyen 30; 287; 296 Marius, Gaius 245; 260 Marquardt, Franka 64, Anm. 356 Marx, Karl 224; 228 Marx, Rudolf 258 Matt, Peter von 202; 285 f. Mauthner, Fritz 91 Max, Katrin 276, Anm. 313 May, Richard 56 Mayer, Hans 123, Anm. 34; 125; 277, Anm. 318 McLennan, John F. 202, Anm. 32; 210 Meißner, August Gottlieb 39 f.; 239–241; 244; 288 f. Mendelssohn, Peter de 23, Anm. 62; 125, Anm. 41; 274, Anm. 306 f. Messmer, Anna 104, Anm. 147 Mette, Hans Joachim 177, Anm. 64 Meyerbeer, Giacomo 273 Moens, Herman 133, Anm. 80 Mommsen, Wolfgang J. 146 Morgan, Lewis Henry 210 Moritz, Karl Philipp 17 Moser, Rupert 260, Anm. 254 Mosse, George L. 45, Anm. 225; 49, Anm. 254 Most, Glenn W. 162, Anm. 20 Mozart, Wolfgang Amadeus 29 f.; 304 Müller, Wilhelm 136 f. Müller-Blattau, Joseph 17
360 Müller-Salget, Klaus 215, Anm. 101; 246, Anm. 145 Mueller-Stahl, Armin 2 Munk, Elie 167, Anm. 44 Musil, Robert 6 Nagler, Joh. 77 Nehring, Alfried 2, Anm. 8 Neuls-Bates, Carol 304, Anm. 487 Neumann, Erich 171; 187; 191–193; 195, Anm. 12; 206; 211; 216–219; 296 f.; 308 Nietzsche, Friedrich 134; 151 f.; 273; 280 f.; 311, Anm. 514 Nikisch, Grete 120; 122; 191, Anm. 145 Nipperdey, Thomas 16, Anm. 26; 34, Anm. 128; 277, Anm. 316 Nösselt, Friedrich 247 Oelze, Friedrich Wilhelm 106 Oliveira Marques, A. H. de 287, Anm. 385 Olshausen, Justus 76 Ortega y Gasset, José 215, Anm. 101 Ovid 40, Anm. 173 Pabst, Reinhard 30, Anm. 101; 118, Anm. 11; 236, Anm. 63 Panizza, Oskar 33 Parsons, Talcott 18; 79 Pastina, Amelia 287 Pastina, geb. Bernardini, Anna 261; 287 f. Patterson, James T. 63, Anm. 348 f. Pauen, Michael 228, Anm. 28 Pedersen, Johs. 168, Anm. 45 Peltre, Monique 6, Anm. 23 Penzoldt, F. 57, Anm. 315 Perty, Maximilian 89; 93 f. Petersen, Jens 73 Petersen, Jürgen H. 12; 233, Anm. 41 Petersen, Wilhelm 98 f. Pirenne-Delforge, Vinciane 278, Anm. 323 Pleitgen, Fritz 2 Plumpe, Gerhard 201, Anm. 29; 228 Podach, Erich F. 311, Anm. 514 Polybios 225 Ponte, Lorenzo da 29 f. Porter, Roy 58, Anm. 317, 319; 65, Anm. 362 Posener, Julius 110, Anm. 165 Potempa, Georg 270, Anm. 288 Prandi, Stefano 289, Anm. 396 Pringsheim, Hedwig 69; 121 Propp, Vladimir 181 Proust, Adrien 275 Puffett, Derrick 33, Anm. 123 Puschner, Uwe 279, Anm. 330
Anhang Rabinbach, Anson 149, Anm. 25 Raddatz, Fritz J. 107, Anm. 154; 113, Anm. 177 Rausch, Antje 76, Anm. 26 Reed, Terence J. 275 f., Anm. 312 Reich, Wilhelm 194; 213 f. Reinhardt, Max 33 Rembrandt van Rjin 36 Remys, Edmund 230, Anm. 34 Renan, Ernest 259 Riedel, Wolfgang 229, Anm. 30 Riha, Ortrun 112, Anm. 175; 113 Rode, August 179; 183 f.; 187–189 Rohde, Erwin 278 Röhl, John C. G. 142, Anm. 136 Rohner, Melanie 215, Anm. 101; 256, Anm. 234; 286, Anm. 373 Rosenthal, Frederick alias Friedrich 54, Anm. 294; 140; 184, Anm. 116; 185 Ross, Werner 277, Anm. 318 Roth, Philip 106 Rousseau, Jean-Jacques 310, Anm. 508 Rubens, Peter Paul 204 Rühmkorf, Peter 116 Rütten, Thomas 55, Anm. 300 f.; 58 f.; 65, Anm. 364; 68, Anm. 3; 78, Anm. 34 f.; 88, Anm. 77; 123, Anm. 34; 184, Anm. 116 Rüttgers, Jürgen 2 Sacher-Masoch, Leopold von 36 f.; 296 f. Said, Edward W. 257; 259 Saint-Saëns, Camille 34–36; 202; 300–305 Sarasin, Philipp 223, Anm. 1 Saunders, George 66, Anm. 365 Savage, Mike 265, Anm. 270 Schachter, Marc D. 40, Anm. 171; 177, Anm. 64; 289, Anm. 398 Schadewaldt, Wolfgang 247 Schaeffer, Albrecht 179; 188 f.; 192 f. Schaps, Regina 251, Anm. 192 Scharbert, Josef 158, Anm. 9 Schauß, [Anonyma] von 69 Schikaneder, Emanuel 304 Schiller, Friedrich 132; 175 f.; 296 f. Schinzinger, Francesca 72, Anm. 15 Schirnding, Albert von 34, Anm. 129; 37, Anm. 145 Schlöndorff, Volker 215 Schmidlin, Yvonne 132, Anm. 74; 152, Anm. 36 Schmidt, Erich 90 f. Schmitz, Walter 133, Anm. 82 Schnitzler, Arthur 5
Register Schommer, Paul 140, Anm. 130; 232, Anm. 38 Schönert, Jörg 39, Anm. 169 Schoolfield, George C. 47, Anm. 240 Schößler, Franziska 3; 68 Schrenck-Notzing, Albert von 76, Anm. 26 Schröter, Manfred 258; 260; 264; 266 Schubert, Franz 136 f. Schubert, Kurt 130, Anm. 66 Schubring, Julius 249 Schuler, Alfred 228 Schulz Heather, Barbara 111 Schulze, Hagen 147, Anm. 17 Schuster, Peter-Klaus 277, Anm. 318 Schwab, Gustav 247 Schwarz, Egon 242, Anm. 105; 245, Anm. 126; 253, Anm. 206 Schwarz, Jessica 2 Schwarzschild, Stuart 109, Anm. 162 Schwöbel, Christoph 86, Anm. 63; 229, Anm. 30 Sebald, W. G. 201; 203; 205 Segebrecht, Wulf 1, Anm. 7 Seitz, Franz 281 Servicen, Louise 309 Shakespeare, William 32; 40; 172; 182; 276 Siegfried, Walther 142, Anm. 138 Simrock, Karl 303, Anm. 482 Smith, Wilson 22, Anm. 56 Solschenizyn, Alexander 66 Sontag, Susan 213 Sophokles 89; 285 f. Spengler, Oswald 142 Spies, Johann 134 Sprecher, Thomas 23, Anm. 62; 261, Anm. 260 Sprenger, Jakob 134, Anm. 87 Stach, Reiner 153, Anm. 39 Stäheli, Urs 22, Anm. 57 Stenglein, M. 76, Anm. 29; 77 Stöckli, Werner E., 227, Anm. 23 Stoll, H. W. 205 f. Storm, Aemil 100; 102 Storm, Lucie 70; 113 Storm, Margarete 98 Storm, Theodor 70–122; 205 f.; 212; 257; 286; 313 Strabon 224, Anm. 3 Strauss, Richard 33; 280 f.; 301–304 Streeruwitz, Marlene 66 Strobel, Jochen 86, Anm. 66 Süskind, Patrick 175
361 Suter, Wilhelm 218 Tatlock, Lynne 82, Anm. 48 Ternina, Milka 37; 301 Terpstra, Jan U. 91 Theilhaber, Felix A. 246, Anm. 142 Theisen, Bianca 226, Anm. 11 Thümmler alias Thümler, Leopold von 152 Trask, Willard R. 180 Traub, Rainer 215, Anm. 102 Tröhler, Ulrich 99, Anm. 127 Trudewind, Andrea 220, Anm. 128 Tullner, Mathias 291, Anm. 409 Turel, Adrien 211, Anm. 77; 252, Anm. 200 Turi, Clarissa 242, Anm. 105 Ulrich, Margot 237, Anm. 72; 308, Anm. 504 Ulrici, H. 173, Anm. 36; 283, Anm. 352 Vaget, Hans Rudolf 1; 6, Anm. 23; 33, Anm. 124; 123, Anm. 34; 125; 232, Anm. 38; 238, Anm. 78; 240, Anm. 96; 302, Anm. 481 Valance, Marc 27, Anm. 86 Vaux, Roland de 168, Anm. 45 Vergil 129; 248; 260 Vester, Frederic 212 Virchow, Christian sen. 57, Anm. 316; 105, Anm. 148; 109, Anm. 162 Vitzthum von Eckstädt, Hermann [?] 272, Anm. 298 Vogl, Joseph 292, Anm. 413 Vogler, Jörg 2, Anm. 9 Volkmann, Richard von 57 Voß, Johann Heinrich 247 Vries, Hugo de 226 Waetzoldt, Wilhelm 135 Wagner, Richard 37; 186; 301–304 Waschke, Mark 2 Wehler, Hans-Ulrich 3, Anm. 13; 17, Anm. 36 Weidenmann, Alfred 2, Anm. 9 Wesel, Uwe 202, Anm. 32; 224, Anm. 3 Westermann, Claus 164, Anm. 29 Westermann, Friedrich 96–98 Wied, Maximilian zu 202, Anm. 32 Wienand, Werner 167, Anm. 42 Wilde, Oscar 33; 301 f., Anm. 476–479 Wilhelm II. 141 f.; 151; 225 Winkle, Stefan 81, Anm. 45 Wißkirchen, Hans 261, Anm. 260 Wlosok, Antonie 177, Anm. 64 Wolf, Christa 1; 66; 68; 96, Anm. 115; 105
362 Wolf, Friedrich August 162 Wolff, Jacob 98, Anm. 124 Worboys, Michael 63, Anm. 347 Worringer, Wilhelm 51, Anm. 271 Wünsch, Marianne 91 Würffel, Stefan Bodo 220, Anm. 127 Wustmann, Richard 135 Wysling, Hans 30, Anm. 101; 132, Anm. 74, 76; 296, Anm. 441
Anhang Zeller, Regine 251, Anm. 193; 252, Anm. 200 Zetzel, James E. G. 162, Anm. 20 Zimmermann, Christian von 152, Anm. 35 Zorn, Fritz 216 Zucchi, Jacopo 204