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German Pages 218 Year 2017
Abbas Poya (Hg.) Koranexegese als »Mix and Match«
Globaler lokaler Islam
Abbas Poya (Hg.)
Koranexegese als »Mix and Match« Zur Diversität aktueller Diskurse in der tafsir-Wissenschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Abbas Poya Einleitung | 7
Farid Suleiman Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese | 15
Mohammed Nekroumi Zur ethischen Implikation der Abrogation im Koran Eine rechtstheoretische Verortung des Begriffspaars nāsiḫ und mansūḫ im Lichte von aš-Šāṭibīs Ethiktheorie | 45
Marianus Hundhammer Ambiguitätsintoleranz als hermeneutisches Prinzip der Koraninterpretation Zum Bild der Nicht-Muslime in der Koranauslegung Sayyid Quṭbs (1906–1966) | 71
Kathrin Klausing Aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr (gest.1973) und die Kontroverse um tafsīr bi-l-maʾṯūr und tafsīr bi-r-raʾy | 105
Nimet Seker Geschichtlichkeit in der Koranexegese Die Kontextgebundenheit der Bedeutungen des Korans | 131
Fatma Sağır Der Koran als Korrektiv Die »Mix and Match«-Hermeneutik des Asghar Ali Engineer | 163
Abbas Poya Wie der Prophet die Welt sah Zur Koranexegese bei Muḥammad Muǧtahid Šabistarī | 191
Autorinnen und Autoren | 215
Einleitung A BBAS P OYA
Der Koran ist der wichtigste Text des islamischen Denkens und Handelns. Daher sind auch die Gelehrten von der frühislamischen Zeit bis in die Gegenwart hinein stets damit befasst gewesen texthermeneutische Methoden auszuarbeiten. Dabei sind sie, je nach Erkenntnisinteresse, verschiedene Wege gegangen: von der Koranauslegung durch den Koran selbst (tafsīr alqurʾān bi-l-qurʾān) und der Koranauslegung anhand der Überlieferung (tafsīr al-qurʾān bi-l-maʾṯūr) über philosophisch, mystisch, historisch und naturwissenschaftlich geprägte Ansätze bis hin zu literaturwissenschaftlichen und narratologischen Versuchen.1 Auch wenn es das erklärte Ziel der Exegeten ist herauszufinden, was Gott meint – und dabei werden Gottes Aussagen verständlicherweise als widerspruchsfrei erachtet –, führen die diversen Auslegungsansätze naturgemäß zu unterschiedlichen Verständnissen ein und desselben Textes. Daher haben einige Querdenker der islamischen Geistesgeschichte wie der Großrichter von Basra in der Abbasidenzeit ʿUbaydallÁh b. al-Íasan alʿAnbarÐ (gest. 785) schon früh darauf hingewiesen, dass die Meinungsverschiedenheiten (iÌtilÁf) innerhalb des Islam auf den Koran zurückgehen,
1
Zu einem Gesamtbild der tafsīr-Forschung vgl. Angelika Neuwirth, „Koran.“ In Grundriß der arabischen Philologie. II: Literaturwissenschaft, hrsg. v. Helmut Gätje, 96–135 (Wiesbaden: Reichert, 1987); zur klassischen Koranexegese vgl. Ignaz Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung (Leiden: Brill, 1920); zu einigen modernen tafsīr-Ansätzen vgl. den vorliegenden Band.
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denn er sei unterschiedlich zu deuten.2 Ebenfalls verweist der renommierte und in der Zeit der Mameluken in Kairo lebende Gelehrte az-ZarkašÐ (1344–1392) in seinem koranhermeneutischen Werk al-BurhÁn fÐ ʿulÙm alqurʾÁn („Beweis für die Koran-Wissenschaften“) darauf, wie schwierig es ist, den wahren Sinn des Korans zu verstehen, und diskutiert, warum so viele unterschiedliche Koranverständnisse existieren.3 Er bekräftigt seine Annahme mit Bezug auf ein Zitat des irakischen Sufi und Koranexegeten Sahl Ibn ʿAbdallāh at-Tustarī (gest. 896) und argumentiert dafür theologisch folgendermaßen: „Denn der Koran ist die Rede Gottes. Und wie Gott keine Grenze kennt, kennt auch das Verständnis des Korans keine Grenze“.4 Diese Einschätzung teilen viele moderne Autoren. Sie betonen auf vielfältige Art und Weise, dass die Entstehung unterschiedlicher theologischer, rechtlicher und sonstiger Schulen im Islam auf die Sprache des Korans zurückgeht, dass unterschiedliche Deutungen der Sprache des Korans immanent sind, und dass ein Koranvers eine, zwei, drei oder mehrere Bedeutungen haben kann5. Soll nicht nur eine bestimmte tafsīr-Schule in den Blick genommen, sondern gerade die exegetische Vielfalt berücksichtigt werden, ist man mit einer Koranhermeneutik konfrontiert, deren Vorgehen an das »Mix and Match«-Prinzip der Mode erinnert. Einerseits stellt sie eine in sich einheitliche, harmonische und nach klar definierten Kriterien arbeitende Wissensdisziplin dar, andererseits werden viele oft sehr unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen miteinander kombiniert. Diesen Vergleich habe ich von Fatma Sağır übernommen, die den vorliegenden Band mit ihrem Artikel bereichert. »Mix and Match« wird in der Mode das geschickte Kombinieren von Kleidungsstücken oft sehr unterschiedlicher Texturen, Farben, Formen und Muster genannt, das letztlich jedoch ein stimmiges Gesamtbild ergibt.6
2
Vgl. Abū Muḥammad ad-Dinwarī Ibn Qutayba, Taʾwīl muḫtalif al-ḥadīṯ (Beirut: o. V., 1999), 96–97.
3
Vgl. Badr ad-Dīn az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 4 Bde. (Kairo: o. V.,
4
Vgl. ebd., 1:9.
1957) 1:3–8. 5
Vgl. ʿAlī Āqā-Nūrī, „Iḫtilāf-paḏirī-i qurʾān wa dasta-bandī-i musalmānān,“ Haft Āsmān 20 (2003), 180.
6
Vgl. den Artikel von Fatma Sağır im vorliegenden Band, dort Fußnote 64.
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Jede Koranexegese ist durch drei Elemente gekennzeichnet: dem Objekt, dem Subjekt sowie der Motivation bzw. dem Ziel. Bei ersterem handelt es sich um den Koran, das Subjekt hingegen ist der/die muslimische Wissenschaftler/in und letztgenanntes ist das Verstehen des Korans bzw. das Handeln im Einklang mit dem, was sich aus der eigenen Interpretation des Korans ergibt. Dies sind auch Komponenten, die diese Wissenschaft ordnen und ihr Harmonie verleihen. Gleichzeitig sind verschiedenste Zugänge zu beobachten, die durch Überschneidungen und Parallelen, aber auch durch Widersprüche und Gegensätzlichkeiten gekennzeichnet sind. Der vorliegende Band diskutiert einige einflussreiche Ansätze der Koranhermeneutik in der Gegenwart und soll gleichzeitig das Bild einer »Mix and Match«-Hermeneutik illustrieren. Der Band umfasst insgesamt sieben Beiträge; sie konzentrieren sich im Großen und Ganzen auf die Interpretationsansätze, die in den gegenwärtigen Koranexegesen eine wichtige Rolle spielen. Farid Suleimans Beitrag diskutiert die Theorien der Koranexegese bei Taqī d-Dīn Aḥmad Ibn Taymīya (1263–1328). Suleiman setzt sich in seinem Beitrag mit den neusten Forschungen im Zusammenhang mit Ibn Taymīyas Theorien zur Koranexegese auseinander. Dabei kommt er zu einer differenzierten Wahrnehmung von dem bis in die Gegenwart hinein einflussreichen Gelehrten und seiner Ansätze zur Koraninterpretation. Aufbauend auf die Analyse von Ibn Taymīyas Werk Muqaddima fī uṣūl attafsīr ist jüngst in der Sekundärliteratur die These vertreten worden, dass Ibn Taymīya die Aufgabe eines Exegeten darauf begrenzt habe, Überlieferungen, die den ersten drei Generationen des Islam (salaf) zugeschrieben werden, zu sammeln und anzuführen. Demzufolge wäre die Koranexegese eine statische und für die heutige Zeit nicht mehr fruchttragende Tätigkeit. Suleimans Analyse versucht zum einen Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese ideengeschichtlich zu kontextualisieren und zum anderen aufzuzeigen, dass sowohl in der Muqaddima als auch in anderen seiner Schriften deutliche Aussagen zu finden sind, die es notwendig machen, die oben angeführte Behauptung zu relativieren. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass Ibn Taymīya beabsichtigt hat, den Rahmen der gültigen Koranexegese an den der Jurisprudenz anzugleichen, indem er als ihre Quellen den Koran, die Sunna, den iǧmāʾ (Konsens der Gelehrten) sowie den qiyās (Analogieschluss) festlegte. Insofern können die Koranexegeten mit der Indienst-
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nahme von Rechtsfindungsinstrumentarien wie dem qiyās durchaus zu neuen Koranverständnissen bzw. Ergebnissen gelangen. Auch Mohammed Nekroumi befasst sich mit den theoretischen Ansätzen der Koraninterpretation bei einem frühen Gelehrten, nämlich bei dem andalusisch-malikitischen Rechtsgelehrten Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (1320– 1388). Im Zentrum von Nekroumis Untersuchung steht das Begriffspaar nāsiḫ und mansūḫ (abrogierend und abrogiert), welches für viele moderne Interpretationen der Scharia – wie beispielsweise bei der Frage der Polygamie – dienstbar gemacht worden ist. Nach einer kurzen Analyse des Begriffspaares bei den Rechtsgelehrten im Allgemeinen geht Nekroumi auf aš-Šāṭibīs Verständnis des Begriffspaars nāsiḫ und mansūḫ ein und kommt zu dem Schluss, dass sich der Anordnungsprozess von Versen und Suren an einem komplexen theologischen Offenbarungskonzept orientiert, welches für Leser nicht immer nachvollziehbar ist. Da sich die Offenbarung nicht nur an der aktuellen Realität orientiert, sondern auch eine für die Gläubigen unbekannte Zukunft antizipiert, sind die Offenbarungsanlässe lediglich für das konkrete Herabsendungsmotiv relevant und spielen bei dem Abwägungsprozess zwischen Verallgemeinerung und Spezifizierung einer Rechtsnorm nur die Rolle extratextueller Faktoren. Mit Blick auf die aktuelle Umbruchsphase der islamischen Theologie sieht Nekroumi am Ende seiner Studie als eine der zentralen Aufgaben der modernen Koranhermeneutik die Bemühung an, das exegetische Erbe aufzuarbeiten, sodass dessen analytisches Instrumentarium im Lichte zeitgenössischer geisteswissenschaftlicher Errungenschaften neu gelesen und verortet werden kann. Mit dem Beitrag von Marianus Hundhammer treten wir eindeutig in die heutige Zeit und deren Problemfelder ein. In der jüngsten Vergangenheit lässt sich in der deutschen/europäischen Öffentlichkeit eine Wahrnehmung des Islam als a priori gegenüber Nicht-Muslimen gewaltbereite Religion feststellen, die ihre Legitimation vor allem aus dem Koran ableitet. Neu an dieser in der Geschichte immer wieder nachweisbaren Perzeption ist, dass sich islamische Fundamentalisten und Dschihadisten ebenso wie islamfeindliche Organisationen – genannt seien an dieser Stelle Gruppierungen wie PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) oder PI (Politically Incorrect) – auf dieselben Argumentationsmuster stützen. Auch wenn die einschlägigen Koranstellen bekannt sind, bleibt trotzdem die Frage unbeantwortet, nach welchen Auslegungsprinzipien diese Muster konstruiert sind.
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Hundhammer stellt nach einem grundsätzlichen Überblick fest, dass entsprechende Korankommentare in Einzelfällen zwar bereits in der Frühphase der islamischen Gelehrsamkeit zu identifizieren sind, in ihrer Mehrzahl jedoch in der Moderne, besonders ab dem 20. Jahrhundert vorkommen. Als Spiritus Rector kann dabei der ägyptische Fundamentalist Sayyid Quṭb (1906–1966) gelten. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages konzentriert sich daher auf die koranhermeneutischen Prinzipien, die Quṭb in seiner Auslegung von Koranversen anwendete, die Nicht-Muslime betreffen. Nach einer koranwissenschaftlichen Einführung werden dabei neben Quṭbs Korankommentar Fī ẓilāl al-qurʾān weitere Schriften des Autors herangezogen, in denen er eine oftmals deutlichere Sprache als in dem Standardwerk spricht. Dabei soll argumentiert werden, dass sich die religiöse Intoleranz als normative Handlungsmaxime weder im Koran selbst, noch in der Exegese bis in die Moderne als bestimmende Interpretation nachweisen lässt, wohl aber als Teil von Quṭbs hermeneutischen Prinzipien. Ein weiterer einflussreicher Koranexeget in der modernen Zeit ist der aus Tunesien stammende Gelehrte Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ibn ʿĀšūr (1879– 1973). Ihm und seinem Ansatz der Koraninterpretation widmet sich der Beitrag von Kathrin Klausing. Mit Bezug auf die Ausführungen von Ibn ʿĀšūr in seinem Werk Tafsīr at-taḥrīr wa-t-tanwīr problematisiert Klausing die zwei richtungsweisenden Ansätze in der Koranexegese: tafsīr bi-lmaʾṯūr und tafsīr bi-r-raʾy. Man spricht von tafsīr bi-l-maʾṯūr (Exegese anhand der Überlieferung), wenn man sich bei der Koranexegese ausschließlich auf die Überlieferungen des Propheten, der Prophetengefährten oder der Personen aus den Nachfolgegenerationen stützt. Bei der tafsīr bi-r-raʾy (Exegese nach der eigenen Meinung) kommen noch weitere sprachliche, grammatische, rhetorische und stilistische Mittel zur Anwendung. Beide Methoden sind in den Koranwissenschaften lange bekannt, erfahren jedoch im 20. Jahrhundert eine neue, geschichtsdeutende Aufmerksamkeit. Ibn ʿĀšūr bleibt prinzipiell der traditionell gepflegten „Exegese anhand der Überlieferung“ treu, sieht jedoch die „Exegese nach der eigenen Meinung“ als unumgänglich. Schließlich haben sowohl die Prophetengefährten als auch die Nachfolgergeneration und die Koranexegeten ganz allgemein aufgrund ihres eigenen Verständnisses der Überlieferungen den Koran interpretiert. Es ist also, so Ibn ʿĀšūr, mit Sicherheit bewiesen, dass jeder mufassir (Koranexeget) über jene Bedeutungen der Verse sprach, die sich ihm durch eigene Überlegungen erschlossen haben.
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Eine der kontroversen Fragen bei der Koranexegese in der modernen Zeit ist die Frage nach der sogenannten historisch-kritischen Methode bzw. der historischen Kontextualisierung. Nimet Seker geht in ihrem Beitrag dieser Frage nach und untersucht, welche hermeneutischen Überlegungen die theoretische Grundlage für eine solche Methodik bilden. Dabei setzt sie sich mit den Ansätzen für geschichtliches Denken sowohl in der klassischen als auch in der modernen islamisch-theologischen Hermeneutik und Exegese des Korans auseinander. Hermeneutik versteht sie in diesem Zusammenhang als die epistemologische und theologische Reflexion von Methoden der Schriftauslegung. Diese Reflexion ist bereits in der klassischen Diskussion um die uṣūl at-tafsīr (Prinzipien der Koranexegese) angelegt. Geschichtlichkeit als ein konzeptuell gefasster Begriff findet sich erst in den Werken von zeitgenössischen muslimischen Denkern, die jedoch im seltensten Fall ohne den Rückgriff auf die klassischen Koranwissenschaften arbeiten. Seker versucht in ihrem Beitrag mit einem besonderen Blick auf die moderne und vielfältige hermeneutische Diskussion in der Türkei und im Werk des ägyptischen Literaturwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zayd aufzuzeigen, dass es den modernen Koranexegeten nicht um einen sogenannten Reformansatz geht, sondern vielmehr um eine kritische, aber auch würdigende Lektüre der klassischen exegetischen Werke mit Blick auf die zentrale Frage, was der Koran seinen Lesern und Hörern heute sagt und mit welchen legitimen Methoden er ausgelegt werden kann. Mit einem ganz anderen Ansatz der Koranexegese und mit einer anderen Region der Welt beschäftigt sich der Beitrag von Fatma Sağır. Im Mittelpunkt ihres Beitrags stehen die methodologischen Ansätze zur Koranauslegung des indischen Reformdenkers Asghar Ali Engineer (1939–2013). Der Autor strebt in seinen exegetischen Kommentaren an, dem Islam eine neue Bedeutung in einer modernen Welt in Abgrenzung zu etablierten „orthodoxen“ Deutungen zu geben, indem er sich nicht von modernen Ideen wie etwa Pluralismus, religiöser Toleranz oder Säkularismus abgrenzt, sondern eine Verschränkung seiner eigenen lebensweltlichen Realität mit den Heiligen Texten sucht. Der Koran steht im Fokus seines Denkens und somit auch seines Sozialaktivismus, das sich für Inklusion und das friedliche Zusammenleben mit dem Anderen einsetzt. Engineer begreift den Koran als Korrektiv zum Status quo und als ethisch-moralischen Leitfaden, nicht als allumfassendes Regelwerk. Dieser Prämisse folgt seine Exegese, deren Methodik und ausgewählte Ergebnisse hier vorgestellt und diskutiert werden.
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Während in anderen muslimischen Gesellschaften die Koranhermeneutik oft begleitet wird durch das Idealbild eines vergangenen muslimischen Glanzes, sind die modernen Ansätze der Koranexegese im Iran durch die Erfahrungen mit einer real existierenden islamischen Ordnung geprägt. Dort sind bei manchen traditionell ausgebildeten Gelehrten neue Ansätze zu beobachten, die anderswo kaum von derartigen Akteuren vertreten werden. Dies versuche ich am Beispiel des koranexegetischen Ansatzes von Muḥammad Muǧtahid Šabistarī zu illustrieren. Šabistarī hat zwar noch kein tafsīr-Werk vorgelegt, bemüht sich aber umso mehr um eine andere, neue Herangehensweise an den Koran. Er vertritt grundsätzlich die Meinung, dass keine Koranexegese bzw. kein Islamverständnis und überhaupt keine Erkenntnisse im luftleeren Raum entstehen, sondern jeweils von persönlichen und sozialpolitischen Umständen bzw. von Vorverständnissen oder Interessen des Autors/Sprechers abhängen. Šabistarīs zentrale These ist die menschliche Lesart der Religion/des Korans. Mit dieser These steuert er letztlich darauf zu, den Koran als Rede des Menschen Muhammad zu begreifen, in der er seine Erfahrungen mit und seine Wahrnehmungen von der Welt, in der er gelebt hat, mitteilt. Dabei ist die einzige zentrale und immanente Botschaft des Korans, die gleichzeitig den göttlichen Ursprung derselben erklärt, der Glaube an einen einzigen Gott. Geleitet von dieser Botschaft hat der Prophet die Welt, die Geschichte und den Menschen so „gelesen“, wie es im Korantext steht. Dementsprechend und im Dialog mit seinem gesellschaftlichen Umfeld hat er auch normative Bestimmungen entwickelt. Die heutigen Gelehrten können/müssen ihn mit Blick auf seine zentrale Botschaft neu und zeit/raumkonform interpretieren. Die menschliche Lesart der Religion und damit des Korans bekräftigt nochmals das wichtigste Anliegen des Bandes, die islamische Wissenschaftsdisziplin der Koranexegese als eine »Mix and Match«-Hermeneutik zu verstehen, an der verschiedene Akteure, geformt durch jeweils andere Ge- und Begebenheiten und mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen bzw. methodischen Ansätzen, beteiligt sind – eine Annahme, von der die im vorliegenden Band zusammengetragenen Beiträge auch Zeugnis ablegen.
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L ITERATUR Āqā-Nūrī, ʿAlī. „Iḫtilāf-paḏirī-i qurʾān wa dasta-bandī-i musalmānān,“ Haft Āsmān 20 (2003). Goldziher, Ignaz. Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden: Brill, 1920. Ibn Qutayba, Abū Muḥammad ad-Dinwarī. Taʾwīl muḫtalif al-ḥadīṯ. Beirut: o. V., 1999. Neuwirth, Angelika. „Koran.“ In Grundriß der arabischen Philologie. II: Literaturwissenschaft, hrsg. v. Helmut Gätje, 96–135. Wiesbaden: Reichert, 1987. Zarkašī, Badr ad-Dīn az-. al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 4 Bde. Kairo: o. V., 1957.
Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese F ARID S ULEIMAN
E INLEITUNG Taqī d-Dīn Aḥmad Ibn Taymīya (661–728/1263–1328; überwiegend in Damaskus) war ein streitbarer und produktiver Gelehrter, dessen geistiges Wirken ihm neben Anerkennung und Hochachtung auch Feindschaft und Missgunst einbrachte. Nach seinem Tod geriet sein Denken in die Peripherie muslimischer Geistesgeschichte, ist jedoch ab dem 17. Jahrhundert von dort wieder in deren Zentrum gestellt worden und erscheint im heutigen innermuslimischen Diskurs omnipräsent, ohne jedoch dabei an seiner polarisierenden Kraft verloren zu haben. Vor allem innerhalb der letzten Jahrzehnte hat die europäische Forschung ein großes Interesse an dem Damaszener Gelehrten entwickelt und seine Biographie und verschiedene Aspekte seines Denkens untersucht.1 Auch seine Rolle als Koranexeget wurde be1
Zu den wichtigsten Veröffentlichungen zählen hierbei: Sophia Vasalou, Ibn Taymiyya's Theological Ethics (New York, NY: Oxford University Press, 2016); Birgit Krawietz und Georges Tamer, Hrsg., Islamic Theology, Philosophy and Law: Debating Ibn Taymiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya, Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients 27 (Berlin: de Gruyter, 2013); Yossef Rapoport und Shahab Ahmed, Hrsg., Ibn Taymiyya and His Times, Studies in Islamic Philosophy 4 (Karachi: Oxford Univ. Press, 2010); Jon Hoover, Ibn Taymiyya's Theodicy of Perpetual Optimism, Islamic Philosophy, Theology and Science 73 (Leiden, Boston: Brill, 2007); Yahya Michot, Muslims Under Non-Muslim Rule (Oxford: Interface Publications, 2006). Eine umfangreiche
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reits mehrfach beleuchtet, zumal Ibn Taymīya als der Erste gilt, der ein eigenständiges Werk – bekannt unter dem Titel Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr2 – innerhalb des Genre der uṣūl at-tafsīr (Theorie der Koranexegese) verfasst hat.3 Jedoch ist die Forschung hier zu widersprüchlichen Ergebnissen
Bibliographie, die die Publikationen bis zu dem Jahr 2011 berücksichtigt, findet sich bei Jon Hoover, „Ibn Taymiyya.“ In Oxford Bibliographies Online – Islamic Studies (2012), http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/ obo-9780195390155/obo-9780195390155-0150.xml?rskey=cD2qxk&result=67. 2
Diese Schrift befindet sich in Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Maǧmūʿ al-fatāwā šayḫ al-islām aḥmad ibn taymīya, 37 Bde., hrsg. v. ʿAbd ar-Raḥmān ibn Muḥammad ibn Qāsim und Muḥammad ibn ʿAbd ar-Raḥmān ibn Qāsim (Riad, Mekka: Maṭābiʿ ar-riyāḍ, o. J. [1962–67]), 13:329–375. Vorzuziehen, aber wohl weniger verbreitet, ist Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr, 2., leicht verbesserte Aufl., hrsg. v. ʿAdnān Zarzūr (o. O.: o. V., 1972). Dieses Werk wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter auch Deutsch: Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Einführung in die Methodologie der Qurʾānexegese, übers. von Elsayed Elshahed (Riad: Imam Muhammad Ibn Saud University, 2000). Auf diese Schrift wird durch das Kürzel Muqaddima verwiesen, wobei beide Editionen (erstere im Sammelwerk, bezeichnet als MF, letztere als Zarzūr) sowie die deutsche Übersetzung berücksichtigt werden.
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Zu den wichtigsten Forschungsbeiträgen gehören: Didin Syafruddin, The Principles of Ibn Taymiyya's Qurʾanic Interpretation (McGill University: unveröffentl. Masterarbeit, 1994); Kristin Zahra Sands, Ṣūfī Commentaries on the Qurʾān in Classical Islam, Routledge Studies in the Qur'an (London: Routledge, 2006), passim; Mustafa Shah, „Introduction.“ In Tafsīr: Gestation and Synthesis, hrsg. v. Mustafa Shah, Tafsīr. Interpreting the Qu'ran. Critical Concepts in Islamic Studies 1, 1–157 (London: Routledge, 2013), passim; Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, hrsg. v. Shahab Ahmed und Yossef Rapoport, 123–162 (Karachi: Oxford Univ. Press, 2010); Walid A. Saleh, „Preliminary Remarks on the Historiography of tafsīr in Arabic: A History of the Book Approach,“ Journal of Qur'anic Studies 12, 1–2 (2010): passim. Mir nicht zugänglich: Elliott Bazzano, The Qurʾan according to Ibn Taymiyya: Redefining Exegetical Authority in the Islamic Tradition (University of South Carolina: unveröffentl. Dissertation, 2013).
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gelangt, und zwar sowohl in Detailangelegenheiten als auch in der Frage, in welchem Verhältnis Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese zu der ihm vorausgehenden muslimischen Tradition steht. In einem vielbeachteten Artikel aus dem Jahre 2011 positioniert sich Walid Saleh in dieser Frage in dezidierter Form, indem er schreibt: „[S]cholars have taken it [d.i. die Muqaddima] to reflect the status of hermeneutical thinking prevalent in the medieval tradition. Ibn Taymiyya’s theory was anything but representative. It was revolutionary and innovative.“4 Saleh nennt die Muqaddima ein radikales hermeneutisches Programm, dessen vorrangige Intention es sei, den Grundpfeiler sunnitischer Exegese – die Philologie – zum Einsturz zu bringen.5 Dies versuche Ibn Taymīya dadurch, dass er die Koranexegese der ersten drei Generationen von Gelehrten nicht nur als umfassend und widerspruchsfrei, sondern – und dadurch erhält die Muqaddima laut Saleh ihre Radikalität – als eigentlich auf den Propheten6 zurückgehend deklarierte.
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Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 156. Saleh stuft auch die Nachwirkung der Muqaddima als gering ein. Erst im 20. Jahrhundert sei ihr Erfolg beschert worden, vorher seien lediglich Ibn Kaṯīr (gest. 774/1373), dieser jedoch unvollständig, und asSuyūṭī (gest. 911/1505) der Methode Ibn Taymīyas in ihren tafsīr-Werken gefolgt; siehe ebd., 152–153. Für einen Vergleich zwischen der Hermeneutik und Exegese Ibn Kaṯīrs und der Ibn Taymīyas, siehe nun jüngst Younus Y. Mirza, Ibn Kathīr (d. 774/1373): His Intellectual Circle, Major Works and Qurʾānic Exegesis (Georgetown University: unveröffentl. Dissertation, 2012). Shabir Ally kommt in seiner Dissertation zu dem Ergebnis, as-Suyūṭī habe seinen tafsīr formal nach den Kriterien der Muqaddima Ibn Taymīyas verfasst, das u.a. jedoch mit der Absicht, sie damit inhaltlich zu widerlegen. Siehe Shabir Ally, The Culmination of Tradition-based Tafsīr. The Qurʼān Exegesis al-Durr al-manthūr of al-Suyūṭī (d. 911/1505) (Universität Toronto: unveröffentl. Dissertation, 2012), 312ff.
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Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur'ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 149.
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Als eine Form der Respektsbekundung lassen Muslime der Erwähnung des Propheten die Segensformel Möge der Segen und Frieden Allahs auf ihm liegen
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Jeder gültige tafsīr müsse sich somit innerhalb der Grenzen des überlieferten Materials befinden; einem Exegeten bleibe nur noch dessen Sammlung, Anordnung und ḥadīṯ-wissenschaftliche Evaluierung.7 Saleh konstatiert, dass Ibn Taymīya die Theorie der Koranexegese an die der Jurisprudenz habe angleichen wollen, jedoch nur in Bezug auf die zwei Hauptquellen des Korans und der Sunna.8 Der vorliegende Beitrag unternimmt es, Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese durch eine Analyse einer Vielzahl seiner Schriften darzustellen und ideengeschichtlich einzuordnen, letzteres vor allem durch eine Untersuchung der Ibn Taymīya zeitlich vorausgehenden Literatur im Bereich der uṣūl al-fiqh (Rechtstheorie).9 Dabei wird sich zum einen zeigen, dass Ibn Taymīya tatsächlich den methodischen Rahmen der aus seiner Sicht gültigen Exegese an den der Jurisprudenz hat ausrichten wollen, jedoch nicht nur, wie von Saleh behauptet, auf den Koran und die Sunna beschränkt. Denn er lässt darüber hinaus auch den iǧmāʾ (Konsens der Gelehrten) und den qiyās (Analogieschlusses)10 gelten. Durch die letztgenannte Quelle ergibt sich für den Exegeten sehr wohl die Möglichkeit der über den überlieferten Text hinausgehenden Meinungsbildung (iǧtihād). Zum anderen wird die ideengeschichtliche Verortung des Ansatzes von Ibn Taymīya die Aussage Salehs über die Radikalität und Originalität der Position Ibn Taymīyas zwar nicht widerlegen, jedoch zumindest relativieren.
folgen. Diese sei an dieser Stelle stellvertretend auch für alle weiteren Erwähnungen dargebracht. 7
Ebd., 128 und 149.
8
Ebd., 145–146.
9
Zu Recht weist Gregor Schwarb darauf hin, dass die Forschung bei ihrer Untersuchung der Methodiken muslimischer Koranexegese die Relevanz der uṣūlLiteratur bisher nicht ausreichend erkannt habe und diese als Quelle daher vernachlässigt worden sei. Siehe Gregor Schwarb „Capturing the Meanings of God’s Speech. The Relevance of uṣūl al-fiqh to an Understanding of uṣūl altafsīr in Jewish and Muslim kalām.“ In Mustafa Shah, Tafsīr: Gestation and Synthesis, 434–473, [Nachdruck der Erstveröffentlichung von 2007], 434f.
10 Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl verschiedener vernunftbasierter Schlusstechniken, allen voran den Analogieschluss.
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Zwar sollen im Folgenden verschiedene Werke Ibn Taymīyas herangezogen werden, im Mittelpunkt der Betrachtung wird jedoch seine Schrift Muqaddima11 stehen, da er hier seine Ansichten systematisch und ausführlich behandelt. Ibn Taymīya verfasste dieses lediglich etwa 40 Buchseiten umfassende Traktat mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann zwischen 726/1326 und 728/1328, also in seinen letzten zwei Lebensjahren, die er im Gefängnis in Damaskus verbrachte. So schreibt sein Schüler Ibn Qayyim al-Ǧawzīya (gest. 751/1350), Ibn Taymīya habe ihm an dessen Lebensende eine Schrift, hier Qāʿida fī t-tafsīr12 genannt, zukommen lassen, auf deren Rückseite Gedichtverse stünden. Eine noch genauere Datierung ist möglich, weil diese Verse, die Ibn Qayyim nachfolgend zitiert, sich auch in dem Werk Ibn ʿAbd al-Hādīs (gest. 744/1344), einem weiteren Schüler Ibn Taymīyas, finden. Dort erfährt man, dass Ibn Taymīya diese Verse in seinen letzten zwei Lebensjahren im Gefängnis verfasst haben soll. 13
11 Für die bibliographische Angabe, auch die der deutschen Übersetzung, siehe Fußnote 2. 12 Dabei handelt es sich mit einiger Sicherheit um die Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr, die diesen heute gebräuchlichen Titel erst durch den ḥanbalitischen Richter in Damaskus Muḥammad Ǧamīl aš-Šaṭṭī (gest. 1307/1890) erhalten hatte. Siehe die Einleitung des Herausgebers in Zarzūr, 24. 13 Siehe Muḥammad Ibn ʿAbd al-Hādī, al-ʿUqūd ad-durrīya fī ḏikr baʿḍ manāqib šayḫ al-islām ibn taymīya, hrsg. v. ʿAlī ibn Muḥammad al-ʿImrān, Āṯār šayḫ alislām ibn taymīya wa-mā laḥiqahā min aʿmāl 19 (Mekka: Dār ʿālam al-fawāʾid, 2011), 450. Den Hinweis auf Ibn Qayyims Erwähnung der Schrift verdanke ich dem Herausgeber, siehe Fußnote 3 auf selbiger Seite. Younus Mirza stellt richtigerweise fest, dass Ibn Taymīya im hinteren Teil der Muqaddima (MF, 13:363–378; Zarzūr, 93–115, dt. Übers., 55–68) anders als im vorderen die Überlieferungen mit vollem isnād (Tradentenkette) anführt. Mirza meint dazu, dass Ibn Taymīya die Muqaddima entweder erst nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis fertigstellte oder aber der vordere und hintere Teil voneinander unabhängige und zu verschiedenen Zeiten verfasste Schriften seien, die dann nachträglich von Ibn Taymīya selbst, einem Schüler oder einem späteren Redaktor vereinigt wurden. Siehe Mirza, Ibn Kathīr (d. 774/1373): His Intellectual Circle, Major Works and Qurʾānic Exegesis, 145, Fußnote 81. Die erstgenannte Be-
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Wie Ibn Taymīya in dieser Schrift einleitend erwähnt, kommt er hier der an ihn herangetragenen Bitte nach, eine methodische Einführung (muqaddima) in die grundlegenden Regeln (qawāʿid kullīya) zu verfassen, die dem Leser Folgendes erleichtern sollen: das Verstehen der Bedeutung des Korans, das Unterscheiden zwischen dem Wahren und dem Falschen und zwar sowohl hinsichtlich dem auf Überlieferungen als auch dem auf der Vernunft Gegründeten, sowie das Erkennen des Unterscheidungskriteriums zwischen den wahren und den falschen Interpretationen, die in den tafsīr-Werken zu finden sind.14 Ibn Taymīya behandelt diese Thematiken, wie er am Ende der Einleitung erklärt, in gestraffter Form (muḫtaṣara) auf Basis seiner Erinnerungen (min imlāʾ al-fuʾād), also wohl ohne auf seine Notizen zugreifen zu können.15 Inhaltlich lassen sich aus der Muqaddima vier Kernaussagen herausarbeiten, die im Folgenden erläutert werden: 1) Die allgemeinsten Quellen des Wissens sind zweierlei: bezeugte Aussagen eines Unfehlbaren (naql muṣaddaq ʿan maʿṣūm) sowie die als korrekt geprüfte Beweisführung (istidlāl muḥaqqaq). Ibn Taymīya argumentiert in vielen seiner Schriften für die Vereinbarkeit von Überlieferung und Vernunft. Diese zwei Wissensquellen sieht er als absolut gleichberechtigt. Kommt es zu einem Widerspruch zwischen den beiden, dann sei das besser gesicherte Wissen vorzuziehen.16
gründung kann im Gegensatz zur zweiten sicher verneint werden, da Ibn Taymīya das Gefängnis nicht mehr lebend verließ. Da auch in anderen Schriften, die zu dieser Zeit im Gefängnis verfasst wurden, volle isnāde angegeben werden, scheint mir jedoch näherliegend zu sein, dass Ibn Taymīya auch unter diesen Umständen zumindest zeitweise noch Zugriff auf Werke anderer hatte. Möglicherweise konnte er diese isnāde aber auch einfach auswendig. 14 Muqaddima, in MF, 13:329; Zarzūr, 34; dt. Übers., 17. 15 Dafür, dass er aber vielleicht auf Werke anderer zugreifen konnte, siehe Fußnote 13. 16 Siehe zu dieser komplexen Thematik: Yasir Kazi, Reconciling Reason and Revelation in the Writings of Ibn Taymiyya (d. 728/1328): An Analytical Study of Ibn Taymiyya’s Darʾ al-taʿāruḍ (Universität Yale: unveröffentl. Dissertation, 2013), 197–206.
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Mit der Wissensquelle des istidlāl muḥaqqaq lässt sich Ibn Taymīya eine Tür offen, die Walid Saleh übersieht, wenn er meint, die Muqaddima beschränke jede exegetische Tätigkeit auf die bloße Wiedergabe der Aussagen der salaf, ohne diese kommentieren oder bearbeiten zu dürfen. Am folgenden Beispiel, entnommen aus seiner Schrift Tafsīr sūra al-ʿalaq17 wird deutlich, wie Ibn Taymīya in die tiefsten Untiefen des kalam abgleiten kann, ohne dabei jedoch aus seiner Sicht den Rahmen einer salaf-basierten Koranexegese zu verlassen. In einer Passage argumentiert er für die ontologische Möglichkeit infiniter Regresse (imkān wuǧūd mā lā yatanāhā18). Wie man aus anderen Schriften erfahren kann, setzt er dabei die Bedingung, dass sich die einzelnen Glieder des regressus ad infinitum nicht in einem kausalen Verhältnis zueinander befinden.19 Dies steht im Gegensatz zu der Sicht der mutakallimūn, die die Möglichkeit einer unendlich in die Vergangenheit reichenden Kette temporär auftretender Objekte in jedem Falle verneinen. Aufhänger dieser Diskussion ist der Koranvers 96:1, in dem sich Gott verschiedene Eigenschaften bzw. Tätigkeiten zuschreibt. Den Boden für Ibn Taymīyas Ansichten zum infiniten Regress bilden die von ihm zitierten Aussagen der salaf, Gott kämen diese Eigenschaften bzw. Tätigkeiten seit allen Ewigkeiten zu. Wenn sich nun also Ibn Taymīya für die Möglichkeit einer aktual unendlichen Kette von Objekten, die aus Gottes Eigenschaften und Wirktätigkeit resultieren, ausspricht, so versteht er seine Ausführungen lediglich als eine auf Vernunftargumenten basierende Ausbuchstabierung der Meinungen der salaf.20 Bei Ibn Taymīya fällt dies unter den Begriff
17 MF, 16:367–370; auch zu finden in Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Maǧmūʾa tafsīr Ibn Taymīya: min sitt suwar al-aʿlā, aš-šams, al-layl, al-ʿalaq, al-bayyina, alkāfirūn, hrsg. v. ʿAbduṣ-Ṣamad Sharafuddīn (Bombay: ad-Dār al-qayyima, 1954), 296–299. 18 Diese Thematik ist besser bekannt unter den Ausdrücken tasalsul al-ḥawādiṯ und ḥawādiṯ lā awwala lahā, die Ibn Taymīya an dieser Stelle jedoch nicht benutzt. 19 Siehe dazu auch Hoover, Ibn Taymiyya's Theodicy of Perpetual Optimism, 93– 95. 20 Im Selbstverständnis Ibn Taymīyas gilt dies nicht nur für seine Ansichten zur Koranexegese, sondern für sein Denken allgemein. Siehe dazu auch Jon Hoover, „Perpetual Creativity in the Perfection of God: Ibn Taymiyya's Hadith Commen-
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istidlāl, wobei wohl nicht weiter erwähnt werden muss, dass er den seinigen als korrekt geprüft (muḥaqqaq) ansieht. Der Ausdruck istidlāl, der hier mit korrekt geprüfte Beweisführung übersetzt wurde, enthält in Ibn Taymīyas Theorie der Koranexegese aufgrund des unter (2) ausgeführten Postulats, dass jedwede Interpretation des Korans, die sich grundlegend von denen der salaf unterscheidet, ungültig ist, eine entscheidende Verengung. So bezieht er sich lediglich auf inferentielle Beweisführungen, die ihren Ausgangspunkt in dem über die salaf überlieferten exegetisch-relevanten Textkorpus haben. Jeder gültige tafsīr, der der Wissensquelle des istidlāl entspringt, muss also mindestens in allgemeiner oder impliziter Form schon von den salaf vorgebracht worden sein. Durch diese Eingrenzung des epistemologischen Fundaments gültiger Koranexegese wird ausgeschlossen, was Ibn Taymīya am Schluss seiner Muqaddima aufgreifen und als absolut verboten einstufen wird: der tafsīr bi-muǧarrad ar-raʾy, also eine Koranauslegung, die lediglich auf eigenem Gutdünken basiert, ohne dabei die Aussagen der salaf zu berücksichtigen.21 Man ist hier an die aus uṣūl al-fiqh bekannte Quelle des qiyās22 erinnert, unter welche eine Vielzahl von Schlussverfahren subsumiert werden, die es ermöglichen sollen, neue Normen auf Grundlage schon bestehender zu generieren. In der Muqaddima benutzt Ibn Taymīya den Terminus qiyās zwar nirgends im Sinne eines Instruments der Koranexegese; er tut dies jedoch an anderer Stelle. So schreibt er in seinem im Jahre 709/1310 verfassten Werk Buġya al-murtād im Kontext seiner Kritik an der von al-Ġazzālī in seinem Werk Ǧawāhir al-qurʾān vorgebrachten (später jedoch wieder aufgegebenen) esoterisch-philosophisch geprägten Hermeneutik23:
tary on God's Creation of this World,“ Journal of Islamic Studies 15, Nr. 3 (2004): 295–296 mit Fußnote 28. 21 Muqaddima, in MF, 13:370–5; Zarzūr, 105–115; dt. Übers., 63–68. 22 Zur Bedeutung dieses Ausdrucks, siehe oben, Fußnote 10. 23 Diese ist hier als esoterisch-philosophisch charakterisiert, weil ihr die unter manchen Philosophen (falāsifa) vertretene Ansicht zugrunde liegt, der Koran beinhalte versteckte (bāṭin) Bedeutungen, die nur Eingeweihten zugänglich seien. Die Sammelbezeichnung für alle Gruppen, die dieser Ansicht folgen, lautet Bāṭinīya; siehe dazu: Paul Walker, „Bāṭiniyya.“ In Encyclopaedia of Islam, THREE, hrsg. v. Kate Fleet et al., http://referenceworks.brillonline.com/ entries/encyclopaedia-of-islam-3/batiniyya-COM_22745.
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Falls er [nämlich al-Ġazzālī] [mit seinen Ausführungen sagen] möchte, dass ein Vers neben seinem Verweis auf die Bedeutung, auf die die in ihm vorkommenden Ausdrücke weisen, durch Andeutung (išāra, auch: Allusion) auch auf eine mit dieser Bedeutung korrespondierende (yunāsibu) weitere Bedeutung verweisen könne, so [meint er damit] den qiyās bzw. den iʿtibār (Nachsinnen oder Betrachten), den die Sufis unter dem Ausdruck išāra kennen. Die Gelehrten des fiqh bezeichnen ihn als qiyās bzw. iʿtibār und er ist nach den meisten Gelehrten gültig, sofern die an ihn geknüpften Bedingungen eingehalten werden.
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An anderer Stelle bringt Ibn Taymīya ein Beispiel für einen korrekt durchgeführten qiyās bzw. iʿtibār innerhalb der Koranexegese. So schreibt er: Jemand hört folgenden Koranvers: „Er wird nicht berührt außer von den Gereinigten“25 und meint, dass sich das [Pronomen Er] auf die wohlverwahrte Tafel oder aber auf den Muṣḥaf beziehe. Wenn er nun sagt: „Genau wie die wohlverwahrte Tafel, auf der die Buchstaben des Korans geschrieben stehen, nicht berührt wird außer von den reinen Körpern, so wird auch die Bedeutung des Korans nicht geschmeckt, außer von den reinen Herzen, also den Herzen der Gottesfürchtigen“, so handelt es 26
sich dabei um eine korrekte Bedeutung und einen korrekt durchgeführten iʿtibār.
Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, den in der Muqaddima benutzten Terminus des istidlāl im Sinne einer hermeneutischen Methode der Koranexegese konzeptionell in die Nähe der aus uṣūl al-fiqh bekannten Quelle des qiyās zu rücken. Dabei umfasst er viel mehr als nur oben angeführte Analogie; jedoch rekurriert er immer auf den – um in der aus uṣūl al-fiqh bekannten Terminologie zu bleiben – ḥukm al-aṣl (Urteil des basisbieten-
24 Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Buġya al-murtād fī r-radd ʿalā l-mutafalsifa wa-lqarāmiṭa wa-l-bāṭinīya ahl al-ilḥād min al-qāʾilīn bi-l-ḥulūl wa-l-ittiḥād, hrsg. v. Mūsā d-Duwayš (Medina: Maktaba al-ʿulūm wa-l-ḥikam, 2001), 313–314. Diese Stelle wird auch behandelt in: Yahya Michot, „Al-Ghazālī's Esotericism According to Ibn Taymiyya's Bughyat al-Murtād.“ In Islam and Rationality: The Impact of al-Ghazālī; Papers Collected on his 900th Anniversary, hrsg. v. Georges Tamer, 345–374, Islamic Philosophy, Theology and Science 94 (Leiden: Brill, 2015), 370. 25 Koran 56:79. 26 MF 13:242.
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den Elements), welcher die von den salaf vorgebrachte Interpretation des jeweiligen Koranverses ist. Wie noch weiter ausgeführt werden wird, richtete Ibn Taymīya damit den epistemologischen Rahmen gültiger Koranexegese ganz an der bekannten Vier-Quellen-Theorie der uṣūl al-fiqh aus.27 2) Die koranexegetischen Aussagen der salaf bilden den intendierten Sinn des Korans vollständig ab und basieren auf den unfehlbaren Ausführungen des Propheten, der den Koran im Gesamten erläuterte. Diese Behauptung Ibn Taymīyas steht ganz im Widerspruch zu der vorherrschenden sunnitischen Koranexegese, die den Prophetengefährten aufgrund ihrer Sprachkompetenz und zeitlichen Nähe zum Offenbarungsgeschehen zwar eine Sonderstellung zuerkannte, die ihnen zugeschriebenen Aussagen jedoch nur in Ausnahmefällen als eigentlich auf den Propheten zurückgehend und damit als bindend ansah.28 Eine Suche nach ideengeschichtlichen Vorgängern für die von Ibn Taymīya vertretene Außenseiterposition führt in das Lager der ḥadīṯ-Gelehrten bzw. der Traditionarier, die jede über das von den salaf überlieferte Material hinausgehende Koranauslegung mit Argwohn betrachten.29 So sieht z.B. der ḥadīṯ-Gelehrte at-Tirmiḏī (gest. 279/892) es als verboten an, Koranverse ohne Rückbezug auf eine vorhergehende Autorität aus den Reihen der Prophetengefährten zu interpretieren.30 Zwei Generationen später schreibt Ibn Abī Ḥātim (gest. 327/939), Autor eines teilweise erhaltenen tafsīr-Werkes31, Überlieferung und Tradie-
27 Diese vier Quellen sind, wie schon weiter oben ausgeführt: Koran, Sunna, iǧmāʿ und qiyās. 28 Eine ausführliche Darstellung der Ansichten muslimischer Gelehrter zur autoritativen Kraft der Aussage eines Prophetengefährten (qawl aṣ-ṣaḥābī), sowohl im Bereich der praxisbezogenen Normen (aḥkām taklīfīya) als auch im Bereich der Koranexegese allgemein, findet sich bei: Fahd ar-Rūmī, Qawl aṣ-ṣaḥābī fī tafsīr al-andalusī ḥattā l-qarn as-sādis (Riad: Maktaba at-tawba, 1999), 18–61. 29 Siehe auch Mustafa Shah, „Introduction“ in Tafsīr: Gestation and Synthesis, 17. 30 Ebd., 29. 31 Der erhaltene Teil umfasst Koran 1–13 und 23–29. Zur problematischen Qualität der vorhandenen Editionen, siehe Mehmet A. Koç, „Isnāds and Rijāl Expertise in the Exegesis of Ibn Abī Ḥātim (327/939),“ Der Islam 82, Nr. 1 (2005): 146–149.
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rung (an-naql wa-r-riwāya) seien der einzige Weg, die Bedeutung des Korans und der Sunna zu erkennen.32 Aḥmad Ibn Ḥanbal (gest. 241/855), der in erster Linie ein Gelehrter des ḥadīṯ gewesen ist, werden in der Frage, ob man den Koran auf Grundlage der Sprache (bi-muqtaḍā l-luġa) auslegen dürfe, sowohl Aussagen, die man als eine Erlaubnis, als auch Aussagen, die man als ein Verbot verstehen könnte, zugeschrieben.33 Nach dem ḥanbalitischen Gelehrten al-Qāḍī Abū Yaʿlā l-Farrāʾ (gest. 458/1066) führten die Verfechter eines Verbots den Koranvers 16:44 an, auf dessen Grundlage man argumentieren könnte, dass die Erläuterung des Korans Aufgabe des Propheten gewesen sei und damit niemand anderem zukomme. 34 Wer auch immer diese Meinung vertreten hat – Abū Yaʿlā nennt leider keine Namen – sagt in der Konsequenz nichts anderes aus als das, was eingangs in Punkt (2) formuliert wurde. In der ḥanbalitischen uṣūl-Literatur favorisiert man jedoch die Ansicht, Ibn Ḥanbal habe die Auslegung des Korans auf Basis der Sprache als erlaubt eingestuft. Der Großvater Ibn Taymīyas, Maǧd ad-Dīn Ibn Taymīya (gest. 652/1254), erklärt, die ablehnenden Worte, die Aḥmad Ibn Ḥanbal in dieser Frage zugeschrieben würden, deuteten entweder nicht auf ein Verbot, sondern lediglich auf eine Missbilligung (karāha), oder aber seien nur in Bezug auf diejenigen Fälle zu verstehen, in denen der offenkundige Sinn eines Koranverses zugunsten von Wortbedeutungen, die in der arabischen Sprache nur schlecht bezeugt seien, fallengelassen werde.35 Ganz eindeutig habe Ibn Ḥanbal sich, wie Abū Yaʿlā wissen lässt, dafür ausgesprochen,
32 Abū Muḥammad Ibn Abī Ḥātim, Kitāb al-ǧarḥ wa-t-taʿdīl, 9 Bde. (Beirut: Dār iḥyāʼ at-turāṯ al-ʿarabī, 1952), 1:5. 33 Al-Qāḍī Abū Yaʿlā l-Farrāʾ, al-ʿUdda fī uṣūl al-fiqh, 5 Bde., hrsg. v. Aḥmad alMubārkī (o. O.: o. V., 1993), 3:719–721. 34 Ebd., 3:720. Wie später noch ausgeführt wird, zitiert auch Ibn Taymīya diesen Vers in seiner Muqaddima. Dort allerdings mit der Intention, zu beweisen, dass der Prophet den Koran im Gesamten erläutert habe. 35 Āl Ibn Taymīya, al-Musawwada fī uṣūl al-fiqh, hrsg. v. Muḥammad Muḥyi dDīn ʿAbd al-Ḥamīd (Kairo: Maṭbaʿa al-madanī, 1964), 175–76. Die Passagen, die nicht auf Ibn Taymīyas Großvater Maǧd ad-Dīn zurückgehen, werden entweder mit qāla šayḫunā (o.ä.) oder qāla wālid šayḫinā (o.ä.) eingeleitet. Bei ersterem folgen Ibn Taymīyas Worte, bei letzterem die seines Vaters Šihāb ad-Dīn (gest. 683/1284).
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dass der tafsīr der Prophetengefährten verbindlich sei. Nachfolgend führt Abū Yaʿlā Koranverse und deren Interpretation durch die Prophetengefährten an, wobei alle Beispiele einen Bezug zum fiqh haben. Es scheint daher der Fall zu sein, dass Abū Yaʿlā das oben angeführte methodische Postulat nicht als ein koranexegetisches Grundprinzip verstanden wissen will, sondern seine Gültigkeit auf die normativen Verse (āyāt al-aḥkām) beschränkt.36 Die Sonderstellung der Prophetengefährten begründet Abū Yaʿlā damit, dass sie Augenzeugen der Offenbarung des Korans und bei dessen Erläuterung anwesend gewesen seien (šāhadū t-tanzīl wa-ḥaḍarū ttaʾwīl).37 Ibn Taymīya erläutert in konziser Form seine Sicht des autoritativen Status der Aussagen der Prophetengefährten. Er schreibt: Was nun die Aussagen der Prophetengefährten anbelangt, so sind sie in dem Falle, dass sie in ihrer Zeit Verbreitung fanden und unwidersprochen blieben, ein Beweisgrund (ḥuǧǧa) nach der Mehrheit der Gelehrten. Falls sie [die Prophetengefährten] verschiedene Ansichten vertraten, so wird diese Angelegenheit, in der sie uneinig waren, zurückgebracht zu Allah und Seinem Propheten [d.i. zu Koran und Sunna]. 38 Wenn nun einer von ihnen eine Aussage machte, der nicht von anderen widersprochen wurde und die (aber) auch nicht Verbreitung fand, so gibt es diesbezüglich eine Meinungsverschiedenheit. Die Mehrheit der Gelehrten führen sie [d.i. die Aussage des Gefährten] als einen Beweis an, so zum Beispiel Abū Ḥanīfa, Mālik sowie Aḥmad gemäß der auf ihn zurückgehenden meist verbreiteten Überlieferung (fī lmašhūr ʿanhu). Auch aš-Šāfiʿī vertritt dies in einer der zwei ihm zugeschriebenen Aussagen. In seinen späten (ǧadīda) Werken argumentiert er mit derartigem [d.i. die Aussagen der Gefährten] an vielen Stellen. Es gibt aber auch Leute, die behaupten,
36 Abū Yaʿlā l-Farrāʾ, al-ʿUdda fī uṣūl al-fiqh, 3:721–723. Sein Schüler alKalwaḏānī (gest. 510/1116) gibt diese Passage in seinem Werk stark verkürzt wieder und fügt hinzu, dass er eine gegenteilige Position vertritt. Er ist der Auffassung, die Aussagen der Prophetengefährten stellten keinen Beweisgrund (ḥuǧǧa) dar. Diese Ansicht aber auch ihr Gegenteil werden Ibn Ḥanbal zugeschrieben. Siehe Abū l-Ḫaṭṭāb al-Kalwaḏānī, at-Tamhīd fī uṣūl al-fiqh, 4 Bde., hrsg. v. Mufīd Abū ʿAmšah (Dschiddah: Markaz al-baḥṯ al-ʿilmī wa-iḥyāʾ atturāṯ al-islāmī, 1985), 1:102 (Einleitung des Hrsg.) und 2:283. 37 Abū Yaʿlā l-Farrāʾ, al-ʿUdda fī uṣūl al-fiqh, 3:724. 38 Ibn Taymīya bezieht sich hier implizit auf Koran 4:59.
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dies [d.i. die Akzeptanz der Aussagen der Gefährten als Beweis] sei seine frühere Position gewesen39.40
Auch wird in der uṣūl-Literatur diskutiert, ob dem Koran eine Bedeutung zugeschrieben werden dürfe, die in den vorhergehenden Generationen unbekannt war. Die hinter dieser Diskussion liegende Fragestellung ist aber nicht, ob der Prophet den Koran in seinem gesamten Bedeutungsumfang erläutert habe oder nicht, sondern ob die Quelle des iǧmāʿ sich auch auf Meinungsverschiedenheiten erstrecke, sodass spätere Generationen die gültige Meinung nur innerhalb des überlieferten Meinungsspektrums suchen dürften. Meist wird die Fragestellung in den Werken in folgender oder ihr ähnlicher Weise formuliert: Iḏā ḫtalafa ṣ-ṣaḥāba ʿalā qawlayn fa-hal yaǧūzu iḥdāṯ qawl ṯāliṯ? („Werden von den Prophetengefährten in einer Fragestellung zwei unterschiedliche Meinungen vertreten, darf dann hernach eine dritte Meinung vorgebracht werden?“)41 Ibn Taymīya erläutert seine Sicht der Dinge wie folgt: Interpretierten die Leute des iǧmāʿ (ahl al-iǧmāʿ)42 einen Koranvers auf eine bestimmte Weise (taʾawwala bi-taʾwīl) und machten dabei explizit, dass alle anderen ungültig seien, so darf man keine andere als diese Interpretation vertreten. Falls sie nicht explizit sagten [dass alle anderen ungültig seien], so meinten manche, dass es erlaubt sei, eine neue Interpretation vorzubringen, sofern diese nicht die vorhergehende als falsch ausweise. Andere meinten, dies sei [auch dann] nicht erlaubt, genau wie es auch nicht erlaubt sei, [in einer fiqh-bezogenen Fragstellung, in der zwei Meinungen vertreten wurden,] eine dritte Ansicht zu generieren (iḥdāṯ maḏhab
39 Die muslimische Tradition unterscheidet zwischen dem frühen (qadīm) und dem späten (ǧadīd) Denken aš-Šāfiʿīs. Siehe Eric Chaumont, „al-S̲h̲āfiʿī.“ In The Encyclopaedia of Islam 2, hrsg. v. C. E. Bosworth, E. van Donzel, W. P.
Heinrichs und G. Lecomte, 9:181a-185a (Leiden: Brill, 1997), 9:182b und 184b. 40 MF 20:14. 41 Siehe z.B. Abū Yaʿlā l-Farrāʾ, al-ʿUdda fī uṣūl al-fiqh, 4:1113. Die Nennung der Zahl zwei ist hier nur beispielhaft zu verstehen. 42 Gemeint sind die Gelehrten, also diejenigen der muslimischen Gemeinschaft, deren einheitlich vertretene Meinung in religiösen Angelegenheiten für nachfolgende Generationen verpflichtend ist.
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ṯāliṯ). Diese Meinung ist die der Mehrheit der Gelehrten; und auch auf Basis unserer Schule [d.i. die ḥanbalitische] lässt sich keine andere als diese halten.43
Ibn Taymīyas Annahme, dass dies sowohl die Meinung der Mehrheit der Gelehrten als auch die etablierte Ansicht innerhalb der ḥanbalitischen Schule sei, ist richtig, wenn man die Fragestellung auf die Meinungsverschiedenheiten bzgl. der normativen Verse bzw. allgemein auf die im Bereich des fiqh begrenzt.44 Zwar gibt es auch in der Frage, ob es erlaubt ist, eine neue Koraninterpretation (iḥdāṯ taʾwīl ṯāliṯ) vorzubringen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der ḥanbalitischen Schule Gelehrte, die dies verneinten, es scheint sich dabei aber, anders als von Ibn Taymīya behauptet,45 um eine
43 Āl Ibn Taymīya, al-Musawwada fī uṣūl al-fiqh, 329. Für weitere in diesem Kontext relevante Passagen in den Werken Ibn Taymīyas, siehe MF 13:24, 59, 243– 244 und 361–362 (letzteres ist Teil der Muqaddima, siehe daher auch Zarzūr, 90–91; dt. Übers., 53) und MF 15:94–95, sowie Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Bayān talbīs al-ǧahmīya fī taʾsīs bidaʿihim al-kalāmīya, 10 Bde., hrsg. v. Yaḥyā Ibn Muḥammad al-Hunaydī et al. (Medina: Muǧammaʿ al-malik fahd li-ṭibāʿa almuṣḥaf aš-šarīf, 1426 [=2005/06]), 6:290–291 und 8:250. 44 Relativ ausführlich wird diese Thematik behandelt bei: Badr ad-Dīn az-Zarkašī, al-Baḥr al-muḥīṭ fī uṣūl al-fiqh, 6 Bde., hrsg. v. ʿAbd a.-Q. al-ʿĀnī (Hurghada: Dār aṣ-ṣafwa, 1992), 4:540–544. 45 Interessanterweise schreibt der schiitische Gelehrte aš-Šarīf al-Murtaḍā (gest. 436/1044), dass alle (!) die im Bereich der uṣūl al-fiqh etwas verfasst hätten (kull man ṣannafa fī uṣūl al-fiqh), der Meinung gewesen seien, dass es verboten sei, einem Koranvers eine Bedeutung zuzuschreiben, die in den vorhergehenden Generationen nicht vorgebracht wurde. Al-Murtaḍā selbst spricht sich hingegen für eine Erlaubnis aus. Siehe aš-Šarīf al-Murtaḍā, aḏ-Ḏarīʿa ilā uṣūl aš-šarīʿa (Qum: Muʾassasa al-imām aṣ-ṣādiq, 2008), 442. Bis zu der Zeit von al-Murtaḍā sind mir lediglich zwei Autoren im Bereich der uṣūl al-fiqh bekannt, die die hier vorliegende Fragestellung in direktem Bezug zur Koranexegese diskutiert haben. Der eine ist Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī, der im selben Jahr wie al-Murtaḍā verstarb und ebenfalls für eine Erlaubnis argumentierte (siehe die Angaben zu seinem Werk in Fußnote 46). Der andere ist al-Qāḍī ʿAbd al-Wahhāb (gest. 422/1031), der ein bedeutender mālikitischer Gelehrter in Bagdad gewesen ist. Seine uṣūl-Werke sind zwar verloren, aber spätere Autoren zählen ihn zu den Verfechtern eines Verbots; siehe z.B. Zarkašī, al-Baḥr al-muḥīṭ fī uṣūl al-fiqh,
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Minderheitenposition zu handeln.46 Auch schon der von Ibn Taymīya hochgelobte aṭ-Ṭabarī erachtet neue Interpretationen des Korans unter der Bedingung – und das mit Rückgriff auf das iǧmāʿ-Prinzip –, dass diese nicht alle vorhergehenden Meinungen annullierten, sondern mit diesen widerspruchsfrei koexistieren könnten, als legitim. 47 Der ḥanbalitische Ge-
4:540. Zwar ist das al-Murtaḍā zeitlich vorausgehende uṣūl-Werk von al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār verloren, sollte er die Thematik dort behandelt haben, dann jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die Weise, die al-Murtaḍā seinen Vorgängern zuschreibt. So meint ʿAbd al-Ǧabbār in einer seiner erhaltenen Schriften, dass selbst die prophetischen Koranerläuterungen auf derselben Stufe wie die der Gelehrten stünden, da sie nicht göttlich eingegeben seien, sondern den Beweisen auf Basis der Vernunft, der Sprache und der muḥkam- und mutašābih-Verse entsprängen. Siehe al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, al-Muġnī fī abwāb at-tawḥīd wa-l-ʿadl, hrsg. v. Ḫaḍr Muḥammad Nabhā, 16 Bde. (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 2012), 326 und 335. 46 Dies lässt sich zumindest für die Zeit ab aš-Šarīf al-Murtaḍā (siehe Fußnote 45) feststellen; siehe z.B. Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī, al-Muʿtamad fī uṣūl al-fiqh, 2 Bde., hrsg. v. Muhammad Hamidullah (Damaskus: Institut Français de Damas, 1964–65), 2:517. Ibn Taymīya selbst nennt Abū l-Ḥusayn als einen seiner Opponenten in dieser Frage und konstatiert, dass ihm neben anderen ar-Rāzī, alĀmidī (gest. 631/1233) und Ibn al-Ḥāǧib (gest. 647/1249) in diesem Punkt gefolgt seien, siehe MF 13:59. Siehe weiter auch: Zarkašī, al-Baḥr al-muḥīṭ fī uṣūl al-fiqh, 4:540 und ʿAlāʾ ad-Dīn al-Mardāwī, at-Taḥbīr šarḥ at-taḥrīr fī uṣūl alfiqh, 8 Bde., hrsg. v. ʿAbd a.-R. al-Ǧibrīn (Riad: Maktaba ar-rušd, 2000), 4:1650. Die ḥanbalitischen Autoren Abū Yaʿlā und Ibn ʿAqīl (gest. 513/1119) haben das hier vorliegende Thema nach meinen Recherchen nur in Bezug auf fiqh-relevante Fragestellungen erörtert und nicht in Bezug auf die Koranexegese. Anders al-Kalwaḏānī, der das Für und Wider in dieser Thematik bespricht, jedoch ohne dabei seine eigene Meinung kundzutun; siehe Kalwaḏānī, atTamhīd fī uṣūl al-fiqh, 3:321. 47 Nach aṭ-Ṭabarī sind die Koranverse von dreierlei Art: Erstens, ʿibāda- und rechtsbezogene Verse, deren Erläuterung nur durch den Propheten erfolgen könne. Zweitens, Verse die über zukünftige Ereignisse sprächen, deren genauer Zeitpunkt des Eintretens allein von Gott gewusst werde. Drittens, alle anderen Verse, in der jede sprachlich mögliche Interpretation gültig sei, solange sie nicht mit den Aussagen der salaf kollidiere. Siehe Ibn Ǧārīr aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʾ al-
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lehrte Ibn al-Mufliḥ (gest. 763/1362), ein Schüler Ibn Taymīyas, 48 ist bemüht, oben zitierte Passage mit dem Hinweis zu relativieren, dass es Ibn Taymīya lediglich darum gegangen sei, die von den salaf getadelten Koranerläuterungen der Anhänger der unerlaubten Neuerungen abzuwehren (wa-murāduhu: dafʿ taʾwīl ahl al-bidaʿ al-munkar ʿinda s-salaf).49 Bisher wurden zwei Argumentationsschemata Ibn Taymīyas dargestellt, mit denen er zu untermauern versucht, dass die koranexegetischen Aussagen der salaf umfassend und verbindlich seien. Beide wurden schon von uṣūl-Gelehrten vor ihm vorgebracht und lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Die Aussagen der Prophetengefährten stellen eine verbindliche Quelle dar (qawl aṣ-ṣaḥābī huǧǧa). (2) Wurde eine Fragestellung unter den salaf diskutiert, so ist aufbauend auf der Quelle des iǧmāʿ die gültige Meinung ausschließlich innerhalb derjenigen Aussagen zu suchen, die bereits von den salaf vorgebracht wurden. Zur weiteren Stützung seiner Theorie der Koranexegese führt Ibn Taymīya eine Behauptung an, die so in den uṣūl-Werken nicht explizit zu finden ist50 und im Folgenden diskutiert werden soll: Der Prophet habe den Koran im Gesamten erläutert, wobei diese Erläuterungen genau wie seine Sunna an die nachfolgendenden Generationen weitergegeben worden seien. Zur Untermauerung dieser Behauptung bringt Ibn Taymīya drei Argumente vor: (1) Der Prophet sei schon im Koran selbst dazu aufgefordert worden,
bayān ʿan taʾwīl āy al-qurʾān. Tafsīr aṭ-ṭabarī, 3. Aufl., 10 Bde., hrsg. v. Aḥmad ʿAbd ar-Razzāq al-Bakrī et al. (Kairo: Dār as-salām, 2008), 3:90 und 105–106 sowie seine Ausführungen zu den in Koranvers 2:1 befindlichen Einzelbuchstaben, 1:175–176. 48 Zu ihm und seinem Verhältnis zu seinem Lehrer, siehe Abdul Hakim alMatroudi, The Ḥanbalī School of Law and Ibn Taymiyyah: Conflict or Conciliation (London, New York: Routledge, 2006), 136–141. 49 Šams ad-Dīn Ibn Mufliḥ, Uṣūl al-fiqh, hrsg. v. Fahd as-Sadḥān (Riad: Maktaba al-ʿubaykān, 1999), 2:445. Interessant ist auch, dass Ibn Mufliḥ Ibn Taymīyas Namen nicht erwähnt, sondern auf ihn mit dem Ausdruck baʿḍ aṣḥābinā (einer unserer Schulkollegen) referiert. Al-Mardāwī zitiert Ibn Mufliḥ, ersetzt dabei aber den Ausdruck baʿḍ aṣḥābinā durch den Namen Ibn Taymīyas; siehe Mardāwī, at-Taḥbīr šarḥ at-taḥrīr fī uṣūl al-fiqh, 4:1651. 50 Jedoch implizit, siehe die obigen Ausführungen mit der dazugehörigen Fußnote 34.
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dessen Bedeutung offenzulegen.51 (2) Zahlreiche Überlieferungen bestätigten, dass die Prophetengefährten sowohl die Verse als auch deren intendierte Bedeutung lernten, denn sie seien, wie auch allgemein jeder Hörer, vom Koran in die Pflicht genommen worden, über dessen Inhalt nachzudenken.52 (3) Es wäre widersinnig bei einem Buch, z.B. aus der Medizin oder der Mathematik, allein die Buchstaben zu vermitteln, ohne dabei den Inhalt zu erläutern. Wie sei es dann erst mit der Rede Gottes, dem Schlüssel zur Glückseligkeit im Diesseits und Jenseits?53 Am Ende des Kapitels resümiert Ibn Taymīya: Mit den [obigen Ausführungen] wurde beabsichtigt, zu zeigen, dass die Schüler der Prophetengefährten die Bedeutung des Korans (tafsīr) von den Prophetengefährten erlernten, genau wie sie von ihnen auch das Wissen über die Sunna erlernten. Dies ist richtig, auch wenn sie manches [innerhalb des tafsīr] auf Basis von Ableitung bzw. deduktiver Beweistechniken (bi-l-istinbāṭ wa-l-istidlāl) besprachen, genau wie sie auch manche Angelegenheiten bzgl. der Sunna auf Basis von Ableitung bzw. deduktiver Beweistechniken besprachen. 54
Ibn Taymīya reicht es also nicht, wie sein Schulkollege Abū Yaʿlā den Prophetengefährten lediglich die besten Voraussetzungen zum Verstehen des Korans zuzuerkennen. Sein Anliegen besteht vielmehr darin, die Aussagen der Gefährten vom Makel der Subjektivität und Fehlbarkeit zu befreien, indem er dafür argumentiert, dass sich deren tafsīr-bezogenes Wissen überwiegend aus der aktiven exegetischen Tätigkeit des Propheten, und damit
51 Koran 16:44. 52 Ibn Taymīya verweist hier u.a. auf Koran 4:28. 53 Muqaddima, in MF, 13:331–333; Zarzūr, 35–38; dt. Übers., 19–20. Diese Argumente, aber auch die Aussage, die unter Punkt (2) angeführt wurde, finden sich auch in folgendem Werk, das irgendwann im Zeitraum zwischen 705/1306 und 707/1307 und damit zwanzig Jahre vor der Muqaddima verfasst wurde: Taqī d-Dīn Ibn Taymīya, Ǧawāb al-iʿtirāḍāt al-miṣrīya ʿalā l-futyā l-ḥamāwīya, hrsg. v. Muḥammad ʿUzayr Šams, Āṯār šayḫ al-islām ibn taymīya wa-mā laḥiqahā min aʿmāl 16 (Mekka: Dār ʿālam al-fawāʾid, 2008), 9–35, v.a. 12–17. 54 Muqaddima, in MF, 13:332–333; Zarzūr, 37–38; dt. Übers., 20.
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letztlich aus dem waḥī, also aus Gottes Offenbarung speise.55 Diese Aussagen werden dadurch zu intersubjektiv nachprüfbaren, für alle zugänglichen und bindenden Unterscheidungskriterien zwischen korrekter Exegese, die Ibn Taymīya erwartungsgemäß der Gruppe der ahl al-ḥadīṯ zuschreibt, und Eisegese56, wie man sie seiner Meinung nach unter anderem bei den Muʿtazila, den Falāsifa, den Qarāmiṭa57 und manchen der Ṣūfīs findet.58 3) Meinungsverschiedenheiten lassen sich entweder widerspruchsfrei auflösen (iḫtilāf tanawwuʿ) oder nicht (iḫtilāf taḍādd). In der Koranexegese zur Zeit der salaf findet sich fast ausschließlich erstere Form, letztere verbreitet sich erst später. Die von Ibn Taymīya aufgestellte Behauptung, die exegetischen Meinungen der salaf gingen letztlich auf den Propheten zurück, setzt deren allgemeine Widerspruchsfreiheit voraus, denn ansonsten stünde man vor dem Problem, erklären zu müssen, wieso der Prophet das eine und aber auch dessen Gegenteil gelehrt habe.59 So setzt sich auch der große Mittelteil der Muqaddima mit dieser Thematik auseinander.60
55 Dabei dürfte Ibn Taymīya u.a. al-Ġazzālī, al-Qurṭubī und Abū Ḥayyān (gest. 745/1344) als seine Widersacher im Blick gehabt haben. Siehe unten, Fußnote 59. 56 Unter den Begriff Eisegese fällt eine Interpretation dann, wenn sie einem Text eine Bedeutung zuschreibt, die von dem Autor des Texts nicht intendiert wurde. 57 Eine Subgruppe der Ismāʿīliten, die die oben in Fußnote 23 beschriebene Ansicht innerhalb der Koranexegese vertrat. Siehe zu ihnen Wilferd Madelung, „Ḳarmaṭī.“ In The Encyclopaedia of Islam 2, hrsg. v. E. van Donzel, B.
Lewis und Ch. Pellat, 4:660b-665a (Leiden: Brill, 1978). 58 Diese und andere Gruppierungen werden in der Muqaddima an mehreren Stellen angeführt; siehe z.B. in MF, 13:359–362; Zarzūr, 86–93; dt. Übers., 50–54. 59 Genau mit diesem Argument versuchten al-Ġazzālī, al-Qurṭubī und Abū Ḥayyān zu zeigen, dass die den salaf zugeschriebenen Erläuterungen des Korans überwiegend dem iǧtihād entsprängen. Siehe Mustafa Shah, „Introduction.“ In Tafsīr: Gestation and Synthesis, 30–31. Abū Ḥayyān scheint über dieses Thema sogar mit Ibn Taymīya direkt debattiert zu haben; siehe Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduc-
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Ibn Taymīya ist der Auffassung, die meisten der Meinungsverschiedenheiten der salaf seien im Bereich des fiqh angesiedelt, nicht aber in dem des tafsīr.61 Unterschiedliche Interpretationen der salaf seien in aller Regel entweder synonym, bedeutungsähnlich62 oder aber – wenn verschiedenartig – widerspruchsfrei und gleichermaßen gültig 63. Auch könne es sein, dass lediglich verschiedene Beispiele zur Erläuterung ein und derselben Bedeutung gegeben wurden.64 All dies falle unter den sogenannten iḫtilāf tanawwuʿ. Nur selten handele es sich um eine echte Meinungsverschiedenheit (iḫtilāf taḍādd oder iḫtilāf muḥaqqaq65). Diese echten, vor allem in den
tion to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 152. 60 Muqaddima, in MF, 13:333–363; Zarzūr, 38–92; dt. Übers., 21–54. 61 In einer anderen Schrift bespricht Ibn Taymīya mindestens zehn Meinungsverschiedenheiten zwischen den Prophetengefährten, viele davon im Bereich der ʿaqīda; siehe Ibn Taymīya, Ǧawāb al-iʿtirāḍāt al-miṣrīya ʿalā l-futyā lḥamāwīya, 59–82. 62 Ibn Taymīya nennt dazu folgendes Beispiel: Der koranische Ausdruck aṣ-ṣirāṭ al-mustaqīm (der gerade Weg; siehe Koran 1:6) sei jeweils mit dem Islam, dem Koran, den ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa, dem Weg des Gottesdienstes sowie dem Gehorchen Gottes und Seinem Gesandten gleichgesetzt worden. 63 So sei der koranische Ausdruck qaswara (Koran 74:51) im sprachlich gleichermaßen möglichen und gültigen Sinne von Löwe (al-asad) und Pfeilschütze (arrāmī) verstanden worden; siehe Muqaddima, in MF, 13:340; Zarzūr, 49–50; dt. Übers., 30. Walid Saleh behandelt selbige Stelle, meint jedoch aus mir nicht ersichtlichen Gründen, dass der Ausdruck qaswara nach Ibn Taymīya sowohl hunter als auch the hunted bedeuten könne; siehe Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 135. 64 So sei der koranische Ausdruck ẓālim li-nafsihi (der sich selbst Unrecht Zufügende), welcher grundsätzlich auf jeden Sünder angewendet werden könne, einmal mit dem das Nachmittagsgebet bis zur Zeit der Abendröte Herauszögernden und ein anderes Mal mit dem Zinsnehmer exemplifiziert worden. 65 Zarzūr, 54, liest hier iḫtilāf muḫaffaf (abgeschwächte Meinungsverschiedenheit), gibt aber in der Fußnote an, dass auch muḥaqqaq gemeint sein könnte. Leider wird nicht gesagt, ob sich diese Unklarheit auf das Fehlen von diakritischen Punkten an dieser Stelle des Manuskripts zurückführen lässt oder nicht. Neben
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späteren Gelehrtengenerationen anzutreffenden Meinungsverschiedenheiten gründen sich entweder auf fehlerhafte Überlieferungen (naql) oder auf fehlerhafte Schlüsse (istidlāl). Den naql unterteilt Ibn Taymīya in dasjenige, dessen Richtigkeit bestätigt bzw. verworfen werden könne und dasjenige, das sich einer solchen Evaluierung entziehe. Letzteres behandle Nebensächliches und stamme meist aus der jüdisch-christlichen Tradition (isrāʾīlīyāt), über die zum Beispiel Größe und Materialart der Arche Noah überliefert worden seien. Den isrāʾīlīyāt steht Ibn Taymīya kritisch gegenüber, auch wenn er sich bewusst ist, dass auch Prophetengefährten auf diese zurückgriffen. Er führt die dem Propheten zugeschriebene Aussage an, dass man, um einen Fehler zu vermeiden, den isrāʾīlīyāt weder Glauben schenken, noch sie der Lüge zeihen solle.66 Später in der Schrift kommt Ibn Taymīya ein zweites Mal auf die Thematik zurück und auch wenn er inhaltlich nichts Neues hinzufügt, so behandelt er sie doch an dieser Stelle ausführlicher. Ibn Taymīyas Position lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die islamischen Quellen können die isrāʾīlīyāt inhaltlich entweder bestätigen, verwerfen oder auf keine der beiden Weisen berühren. Dementsprechend soll man gegenüber ihnen dann jeweils eine bestätigende, verwerfende oder eine sich einem Urteil enthaltende Position einnehmen.67 Essentielle Angelegenheiten in der Religion fielen in erstere Kategorie, also dem naql, dessen Richtigkeit bestätigt bzw. verworfen werden könne. Ibn Taymīya räumt ein, dass die Überliefererketten der meisten im tafsīr überlieferten Aussagen bei den Schülern der Prophetengefährten enden. 68
dem Umstand, dass der Ausdruck muḥaqqaq an dieser Stelle sowohl sprachlich als auch inhaltlich vorzuziehen ist, folgt auch MF (siehe 13:343) dieser Lesart. Nicht aber Walid Saleh, der den Ausdruck iḫtilāf muḫaffaf als ein „comical oxymoron“ verstanden wissen will, der zeige, auf welch dünnem Eis sich Ibn Taymīya hier befinde. Siehe Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur'ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 159, Endnote 46. 66 Muqaddima, in MF, 13:345; Zarzūr, 57; dt. Übers., 36. 67 Muqaddima, in MF, 13:366; Zarzūr, 100; dt. Übers., 58. 68 Muqaddima, in MF, 13:346; Zarzūr, 58–59; dt. Übers., 37. Siehe diesbezüglich auch die Analyse der Tradentenketten in aṭ-Ṭabarīs tafsīr-Werk: Heribert Horst,
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Anders als erwartet, beschreibt er sie jedoch nicht mit dem Fachterminus maqṭūʿ69. Vielmehr bezeichnet er sie als marāsīl (Sing. mursal)70. Damit unterstreicht er nochmals implizit, was er zu Anfang seiner Schrift schon klar und deutlich formulierte: Die Aussagen der Schüler der Prophetengefährten im tafsīr sind in Wirklichkeit Aussagen des Propheten und gelten somit als marfūʿ71. Ibn Taymīya weiß, dass das mursal-ḥadīṯ nicht unumstritten ist72 und lässt daher nun in einer längeren Passage seine Sicht auf dessen Beweiskraft folgen.73 Die Kernaussage findet sich in seinen folgenden Worten: „Was die marāsīl angeht, so gelten sie als zweifellos gesichert, wenn sie über mehrere Überlieferungswege tradiert wurden und keine Absprache zur Falschaussage bzw. kein durch Zufall übereinstimmender Irrtum vorliegt.“74 Immer abzulehnen seien jedoch andere Arten der schwachen und auch die erfundenen (mawḍūʿ) Überlieferungen.
„Zur Überlieferung im Korankommentar aṭ-Ṭabarīs,“ ZDMG 103, Nr. 2 (1953): 305. 69 Ein ḥadīṯ, welches einem Schüler der Prophetengefährten zugeschrieben wird. 70 Ein ḥadīṯ, in dem ein Schüler der Prophetengefährten eine Aussage tätigt, die jedoch dem Propheten zuzuschreiben ist (marfūʿ). Diese Zuschreibung kann entweder explizit durch den Schüler selbst (marfūʿ lafẓan) oder aus impliziten Gründen erfolgen (marfūʿ ḥukman). 71 Siehe die Erläuterung dieses Begriffs in Fußnote 70. 72 Mursal ist zwar eine Unterkategorie der schwachen Überlieferungen (ḥadīṯ ḍaʿīf), bei den meisten Gelehrten des fiqh gelten Überlieferungen dieser Art jedoch als Beweisgrundlage. Uneinigkeit besteht vor allem darin, ob und in welcher Weise dies an Bedingungen zu knüpfen ist. Siehe dazu Aron Zysow, The Economy of Certainty: An Introduction to the Typology of Islamic Legal Theory,
Resources in Arabic and Islamic Studies 2 (Atlanta: Lockwood Press, 2013), 34–41. 73 In gleicher Weise geht er auch auf den ḫabar wāḥid ein. Darunter wird eine Überlieferung verstanden, die über nicht genug unterschiedliche Wege weitergegeben wurde, um allein auf dieser Basis auf ihre Zuverlässigkeit schließen zu können. 74 Muqaddima, in MF, 13:347; Zarzūr, 62; dt. Übers., 38, wobei die obenstehende Übersetzung meine eigene ist. Ibn Taymīyas Ansichten zum mursal-ḥadīṯ werden auch behandelt in al-Matroudi, The Ḥanbalī school of law and Ibn Taymiyyah, 61.
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Was nun den inkorrekten istidlāl angehe, also den neben dem fehlerhaften naql zweiten Grund für die Existenz widersprüchlicher Meinungen (iḫtilāf taḍādd), so komme dieser laut Ibn Taymīya auf zwei Weisen zustande: Erstens durch den Wunsch, den Koran im Sinne einer schon im Vorhinein gefassten Überzeugung zu erklären. Und zweitens durch die alleinige Berücksichtigung des sprachlich-möglichen Rahmens, ohne den Sprecher (mutakallim), den Angesprochenen (al-muḫāṭab bihi) und den Kontext der koranischen Rede (siyāq al-kalām) zu beachten.75 Ibn Taymīya führt diese Punkte aus und ergreift dabei die Gelegenheit, bestimmte aus seiner Sicht fehlgeleitete Gruppierungen zu kritisieren. An mehreren Stellen in der Muqaddima bewertet Ibn Taymīya auch konkrete tafsīr-Werke und deren Autoren. Eine positive Erwähnung finden unter anderem der tafsīr des Ibn Abī Ḥātim (gest. 327/939) und noch mehr der des aṭ-Ṭabarī. Besonders kritisch steht Ibn Taymīya dem tafsīr-Werk al-Kaššāf des azZamaḫšarī (gest. 538/1144) gegenüber und auch die Werke von Ibn ʿAṭīya (gest. 541/1147), aṯ-Ṯaʿlabī (gest. 427/1035) und al-Wāḥidī (gest. 468/1076) zeichnet er überwiegend in einem schlechten Licht. 76 Grundsätzlich, so sagt Ibn Taymīya, sei jede Meinung, die nicht mit dem tafsīr der Prophetengefährten und deren Schülern in Einklang gebracht werden könne, ein Irrtum und sein Vertreter ein mubtadiʿ (jmd., der eine unerlaubte Neuerung in die Religion, arab. bidʿa, einführt). Dies auch dann, wenn es sich bei ihm um einen muǧtahid handele, dessen Fehltritte Gott verzeihe. 77 4) Die sechs Wissensquellen der Koranexegese in absteigender hierarchischer Reihenfolge sind: Koran, Sunna, Aussagen der Prophetengefährten, Aussagen der Schüler der Prophetengefährten, Sprache des Korans, arabische Sprache allgemein.
75 Muqaddima, in MF, 13:355–356; Zarzūr, 81; dt. Übers., 47–48. 76 Muqaddima, in MF, 13:354, 358–359 und 361; Zarzūr, 75–76, 86 und 90; dt. Übers., 45–46, 50 und 52–53. In einer anderen, sehr kurzen Schrift beantwortet Ibn Taymīya die ihm explizit gestellte Frage, welche tafsīr-Werke die besten seien und was er von denen des az-Zamaḫšarī, des al-Qurṭubī (gest. 671/1273) und des al-Baġawī (gest. 516/1122, 515/1121 oder 510/1117) halte. Dabei geht Ibn Taymīya auch noch auf viele andere Werke ein; siehe MF, 13:385–388. 77 Muqaddima, in MF, 13:361; Zarzūr, 91; dt. Übers., 53, diese ist hier jedoch ungenau.
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Laut Ibn Taymīya ist die beste Methode den Koran zu erklären, ihn für sich selbst sprechen zu lassen. Was an einer Stelle mehrdeutig ist, werde an anderer Stelle aufgeklärt.78 Nach umfassender Anwendung dieses ersten Schrittes dürfe man dann jeweils nacheinander zu den Prophetenworten, den Aussagen der Prophetengefährten und schließlich zu denen ihrer Schüler übergehen. Es ist nicht ganz klar, wieso Ibn Taymīya hier nun die Beweiskraft dieser Überlieferungen am Sprecher festmacht, da es ihm doch bisher ein besonderes Anliegen war, zu zeigen, dass auch die koranexegetischen Aussagen der salaf letztlich aus dem Munde des Propheten stammen. Den Grund muss man hier wohl in einer ḥadīṯ-wissenschaftlichen Überlegung suchen, die er an anderer Stelle ausführt. Danach haben die dem Propheten direkt zugeschriebenen Worte die stärkste Beweiskraft. Befindet sich die Aussage eines Prophetengefährten mit einem mursal-ḥadīṯ79 im Widerspruch, sei erstere vorzuziehen.80 Wie soll nun aber in den Fällen verfahren werden, in denen die Schüler der Prophetengefährten widersprüchliche Interpretationen vertraten? Ibn Taymīyas Antwort darauf findet sich lediglich in einem Nebensatz, und doch lassen sich aus ihr die letzten beiden Schritte seiner hierarchischen Sechs-Stufen-Methode ableiten. In diesem Falle kehre man, so schreibt er, „zur Sprache des Korans oder zur Sprache der Sunna (ilā luġa al-qurʾān aw
78 Muqaddima, in MF, 13:363; Zarzūr, 93; dt. Übers., 55. In der Sekundärliteratur ist diese Ansicht in die Nähe von Luthers hermeneutischem Grundsatz sui ipsius interpres gerückt worden. Jedoch geht es Ibn Taymīya weder darum, den Koran als einzig gültige Erkenntnisquelle zu betrachten, noch geht es ihm um eine Entwertung der Tradition. Vielmehr möchte er sagen, dass die einzelne Koranpassage immer im Lichte aller mit ihr thematisch zusammenhängenden Verse interpretiert werden muss. Dieses in der muslimischen Exegese unstrittige Prinzip findet sich in Bezug auf die Bibel auch bei Origenes (gest. ca. 254), Augustinus (gest. 430) und dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962–5); siehe Leo D. Lefebure, „Violence in the New Testament and the History of Interpretation.“ In Fighting Words: Religion, Violence, and the Interpretation of Sacred Texts, hrsg. v. John Renard (Berkeley: University of California Press, 2012), 75–76. 79 Zur Erläuterung dieses Ausdrucks, siehe oben, Fußnote 70. 80 Siehe Āl Ibn Taymīya, al-Musawwada fī uṣūl al-fiqh, 310.
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as-sunna)81 oder zur arabischen Sprache allgemein oder zu den Aussagen der Prophetengefährten“ zurück.82 Da die Sunna und die Prophetengefährten schon in Schritt drei und vier konsultiert wurden, erscheint deren Wiederholung fehl am Platz.83 Neu hinzukommen die Sprache des Korans und die arabische Sprache allgemein als gültige Erkenntnisquellen der Exegese. Ibn Taymīya belässt es bei der bloßen Erwähnung dieser beiden Quellen; der Ausdruck luġa al-qurʾān findet sich jedoch an vielen Stellen seiner Schriften. Was Ibn Taymīya damit meint, ist die dem Koran eigentümliche Ausdrucksweise. Benutzt der Koran zum Beispiel einen Begriff an zwei unterschiedlichen Stellen in selbiger Bedeutung, dann ist das ein Indiz dafür, dass er auch an einer dritten Stelle auf diese Weise zu verstehen ist. So kann der Exeget die intendierte Bedeutung eines koranischen Ausdrucks von der lediglich semantisch möglichen unterscheiden.84
F AZIT Gegen Lebensende entwirft Ibn Taymīya in seiner Schrift Muqaddima eine stark salaf-zentrierte Theorie der Koranexegese, die jedoch in den Kernpunkten auch an verschiedenen Stellen seiner früheren Werke gefunden
81 Auch könnte man übersetzen: „zur Sprache des Korans oder zur Sunna.“ Das scheint mir aber nicht gemeint zu sein. 82 Muqaddima, in MF, 13:370; Zarzūr, 105; dt. Übers., 62, die hier jedoch ungenau übersetzt. 83 Das könnte den schwierigen Umständen geschuldet sein, in denen Ibn Taymīya diese Schrift verfasste. So sind vielleicht auch die für Ibn Taymīya untypische holprige Ausdrucksweise an manchen Stellen der Schrift und irrtümliche Namensangaben zu erklären; siehe auch Musāʿid aṭ-Ṭayyār, Šarḥ Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr. 2. Aufl. (Dammam: Dār ibn al-ǧawzī, 2008), 19, Fußnote 1 sowie 65–66, Fußnote 2. 84 So zum Beispiel zählt Ibn Taymīya drei mögliche Bedeutungen des Begriffs taʾwīl auf, versucht dann aber anhand der koranischen Verwendung des Begriffs zu zeigen, dass er – von einer Ausnahme abgesehen – immer nur in einer der drei Bedeutungen verwendet werde. Diese falle somit unter luġa al-qurʾān. Siehe MF, 13:288–291. Diese Passage ist Teil seiner Schrift al-Iklīl fī l-mutašābih wa-t-taʾwīl.
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werden kann. Seine Position steht im krassen Widerspruch zu der unter den Exegeten seiner Zeit mehrheitlich vertretenen, ist jedoch keineswegs ohne ideengeschichtliche Vorgänger. Diese findet man bei den frühen Traditionariern sowie bei manchen der uṣūl-Gelehrten. Möchte man den oben dargestellten Ausführungen aš-Šarīf al-Murtaḍās glauben, war man sich sogar bis in dessen Zeit unter letzteren einig, dass dem Koran keine Bedeutung zugeschrieben werden dürfe, die in den vorhergehenden Generationen unbekannt war.85 Die Angleichung der Methodologie des tafsīr an die des fiqh kann als ein Geniestreich Ibn Taymīyas angesehen werden, durch den es ihm gelang, seine Außenseiterposition im Bereich der Koranexegese mit der über die Jahrhunderte gewachsenen legitimatorisch-autoritativen Kraft der uṣūl al-fiqh zu untermauern. Inwieweit jedoch die Theorie Ibn Taymīyas auf die Koranexegese nach ihm wirkte, ist noch nicht abschließend geklärt.86 Auch fehlt eine tiefgehende Untersuchung dazu, ob Ibn Taymīyas eigene Exegese seiner Theorie folgt. Aufbauend auf meinem jetzigen Kenntnisstand der koranexegetischen Schriften Ibn Taymīyas schließe ich mich, jedoch mit einer Einschränkung, Elliot Bazzano an. Er ging dieser Frage in einem im Jahr 2013 gehaltenen Vortrag nach und beantwortete sie nach Darstellung von Ibn Taymīyas Schrift Risāla fī r-radd ʿalā ibn ʿarabī folgendermaßen: „Based on the Risāla then, I would argue that the paradigm Ibn Taymīya articulated in his Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr is sufficiently broad – at least in case of this limited case study – so as to give him the freedom to perform exegesis in any number of ways without contradicting his paradigm.“87 Dass Ibn Taymīya „in any number of ways“ Ko-
85 Siehe oben, Fußnote 45. Es ist unwahrscheinlich, wie oben dargestellt, dass alMurtaḍās Behauptung tatsächlich richtig ist. Der Umstand aber, dass er sie vorbringt, deutet darauf hin, dass ihm eine Vielzahl an Autoren bekannt gewesen sein dürften, auf die sie zutrifft. 86 Diese Thematik wird neben anderen behandelt bei Saleh, „Preliminary Remarks on the Historiography of tafsīr in Arabic: A History of the Book Approach,“ 6– 40. 87 Elliott Bazzano, „Assessing Ibn Taymiyya’s Qur’anic Hermeneutics: Ibn al‘Arabi and the Faith of Pharaoh“ (London, 07. März 2013), https://www. soas.ac.uk/islamicstudies/conferences/quran2013/, ab MM:SS 50:50. Bazzanos Ausführungen in seinem Vortrag scheinen auf seiner von einer Veröffentlichung zurückgehaltenen und daher mir nicht zugänglichen Dissertation zu basieren:
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ranexegese betreiben könne, ohne mit seiner Theorie in Konflikt zu geraten, ist wohl übertrieben. Mit der Quelle des qiyās lässt er aber dem Exegeten, wie oben gezeigt, tatsächlich einen breiten und weitgehend undefinierten Spielraum zur eigenen Meinungsbildung (iǧtihād) über die Bedeutungen des Korans.
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Bazzano, The Qurʾan According to Ibn Taymiyya: Redefining Exegetical Authority in the Islamic Tradition.
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Zur ethischen Implikation der Abrogation im Koran Eine rechtstheoretische Verortung des Begriffspaars nāsiḫ und mansūḫ im Lichte von aš-Šāṭibīs Ethiktheorie M OHAMMED N EKROUMI
E RKENNTNISTHEORETISCHE AUSRICHTUNG Die Koranhermeneutik befindet sich heute aufgrund zahlreicher Aufrufe zur Erneuerung des exegetischen Diskurses an einem Wendepunkt. So sehr die Reform der Auslegungsmethodik in der aktuellen Korandebatte ein dringendes Desiderat darstellt, so breitgefächert und tiefgreifend sind die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Wege zu einer zeitgemäßen Koranauslegung. Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein Schritt in Richtung der Entwicklung einer an der aktuellen Textrezeption orientierten Koranauslegung. Die methodischen Vorzüge, welche dieser Arbeit als Grundlage dienen, lassen sich im Rahmen einer theoretischen Prämisse verorten, in der die Rekonstruktion der exegetischen Tradition im Kontext des modernen erkenntnistheoretischen Umfelds als Grundbedingung angesehen wird. Dies setzt, aller Projektionsgefahr zum Trotz, eine begriffliche und hermeneutische Auseinandersetzung mit den Errungenschaften des theologischen Erbes voraus.
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Die Entscheidung für die in der Koranhermeneutik berühmte Dichotomie nāsiḫ vs. mansūḫ1 ist ebenfalls alles andere als willkürlich gefallen. Es handelt sich bei diesem Begriffspaar um eine der komplexesten und zugleich kaum untersuchten analytischen Dichotomien, deren Erforschung zwangsläufig eine Verbindung des Normativen und des Hermeneutischen nach sich zieht. In der terminologischen Übertragung beider Begriffe offenbart sich deren textwissenschaftliche Dimension: nāsiḫ als „abrogierend“ und mansūḫ als „abrogiert“ zu bezeichnen, deutet auf einen dynamischen Diskursprozess hin, bei dem der dialogische Aspekt göttlicher Offenbarung in den Vordergrund gestellt wird. Der Kerngedanke des nasḫ-Begriffs liegt darin, den von ihm suggerierten semantischen Denkinhalt fortzuschreiben. In dem Moment, in dem die islamische Gelehrsamkeit die poetisch geprägte strukturelle Besonderheit und die von einem hohen ästhetischen Wert charakterisierte textuelle Eigenart des Korans wahrnahm, sah sie sich veranlasst, ein analytisches Instrumentarium zu entwickeln: Somit kann die für Menschen zum Teil schwer zugängliche argumentative Verkettung von Gedanken und semantischen Feldern einiger eng mit Offenbarungsanlässen verbundener Versbedeutungen erschlossen werden. Es handelt sich bei der nasḫProzedur um eine Textbildungsstrategie, welche sich primär an der Ausrichtung und dem Umfeld der Auslegung orientiert. Darin liegt heute das hermeneutische Potential einer Rekonstruktion des Begriffspaars nāsiḫ vs. mansūḫ. Der kommunikationswissenschaftliche Charakter des nasḫ-Begriffs liegt darin begründet, dass das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als ein vom Menschen in Richtung Gott ausgehender Ruf verstanden wird2, wobei meist Vers 2:186 als Beleg angeführt wird: „Und wenn dich Meine Diener nach Mir fragen, so bin Ich nahe; Ich erhöre den Ruf des Bittenden,
1
Nāsiḫ und mansūḫ bilden jeweils die Aktiv- bzw. Passiv-Partizipformen des Verbs nasaḫa, das so viel bedeutet wie: aufheben, ersetzen, zurücknehmen, widerrufen, abschreiben, abfassen, etc. Vgl. Badr ad-Dīn az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, hrsg. v. Abū l-Faḍl Ibrāhīm, Bd. 2, (Kairo: Dār at-turāt, o. J.), 28–29.
2
Vgl. das Verhältnis zwischen menschlichem Wortlaut und göttlicher Bewusstseinsrede bei: Abū Bakr Muḥammad al-Bāqillānī, Iʿǧāz al-qurʾān (Kairo: Dār al-maʿārif, 1977), 47–50.
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wenn er Mich anruft. So sollen sie nun auf Mich hören und an Mich glauben, auf dass sie besonnen handeln mögen.“3 Die Reziprozität des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch vollzieht sich im Islam auf der Ebene des Wortes als Träger einer ethisch und theologisch geladenen Sprechhandlung. Dies lässt sich bereits im Bezeugungsakt erkennen. Der marokkanische Philosoph Mohammed Aziz Lahbabi schrieb dazu: „Indem man ‚bezeugt‘, bejaht man die Existenz Gottes, und das Bezeugen verweist auf die Bejahung der personalen Existenz des Zeugen; ein immerwährendes Hin und Her zwischen der Transzendenz und der Immanenz, dem Absoluten und der Endlichkeit (…). Die Person erfasst sich am Beginn und am Ende der shahada. Dort liegt ihr ontologischer Wert.“4 In der Rechtstheorie handelt es sich bei nasḫ um einen komplexen Begriff der Textdeutung und Normenableitung. Grundlegend ist hier auch die von nasḫ suggerierte Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft und Offenbarung einerseits sowie zwischen theologischer Moralnorm und dem Umfeld ihrer Anwendung andererseits. Nasḫ steht im Mittelpunkt einer Begrifflichkeit, welche die Rolle vernunftmäßiger und kontextorientierter Erschließung theologischer Verhaltensnormen aus der Offenbarung hervorhebt. Anders als in der klassischen Koranexegese, derzufolge die besondere Bedeutung des Abrogationsprinzips oftmals in seinem linguistischen Erklärungspotential liegt, definiert die Rechtstheorie nasḫ als ein Zusammenspiel gleichermaßen hermeneutischer wie moralisch-normativer Aspekte5, was für die heutige Fragestellung einer Relektüre des exegetischen Erbes von besonderem Wert ist.
3
Die folgenden Koranzitate beziehen sich auf die Übersetzung von Scheich 'Ab-
4
Mohammed Aziz Lahbabi, Der Mensch: Zeuge Gottes, Übersetzung und Kom-
5
Sayf ad-Dīn al-Āmidī, Al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 2. Aufl., hrsg. v. ʿAbd ar-
dullah as-Samit Frank Bubenheim und Dr. Nadeem Elyas. mentar von Markus Kneer (Freiburg im Breisgau: Herder, 2011), 77. Razzāq ʿAfīfī, Bd. 3 (Beirut: Maṭbaʿa al-maktab al-ʾislāmī, 1983), 146.
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N ASḪ IM P ROZESS
NORMATIVER
T EXTDEUTUNG
Das meiner Ansicht nach wahre Wesen des Abrogationsprinzips offenbart sich in seiner von Ambiguität geprägten Wortbedeutung, welche gleichermaßen Denkinhalte wie „aufheben“, „übertragen“, „abfassen“ oder „ersetzen“ konnotiert.6 Der Definition des persischen Theologen und Philosophen Faḫr ad-Dīn ar-Rāzīs (gest. 606/1210) zufolge bedeutet der Begriff nasḫ im eigentlichen Sinne „aufheben“ und im übertragenen Sinne „ersetzen“ oder „näher bestimmen“.7 Dieser von einer Vielzahl ašʿaritischer Rechtsgelehrter angenommenen semantischen Eingrenzung des nasḫ-Begriffs steht eine frühere Deutung gegenüber, welche bereits im 4. Jahrhundert von ʿAbū ʿAlī š-Šāšī (gest. 344/955) vehement verteidigt wurde – und zwar mit der Begründung, dass der Denkinhalt des „Übertragens“ im Wortlaut des Begriffs naheliegender als der des „Aufhebens“ sei, denn die dem Verbalsubstantiv zugrundeliegende Wurzel nsḫ deute insbesondere auf die Idee der Akzidenz hin.8 Eine dritte Tendenz, vertreten von Abū Ḥāmid al-Ġazzālī (gest. 505/1111) und Saif ad-Dīn al-Āmidī (gest. 631/1233), hebt den vieldeutigen Charakter des Begriffs nasḫ zwischen „aufheben“, „ersetzen“ und „näher bestimmen“ hervor und plädiert für eine Berücksichtigung des Verwendungskontexts bei der Erschließung der normativen Bedeutung. 9 Die letztere Position offenbart die Art und Weise des Verhältnisses zwischen Offenbarung und Lebenswirklichkeit des Menschen. In Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭīs (gest. 911/1505) Monumentalwerk al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān werden entsprechende Koranbelege zu den verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes nasḫ mit dem Hinweis aufgeführt, dass es sich bei den koranischen
6
Vgl. Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, 4. Aufl. (Kairo: Maṭbaʿa Būlāq, 1889), 28:4.
7
Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, Al-Maḥṣūl fī ʿilm uṣūl al-fiqh, hrsg. v. Ṭāhā Ğābir al-
8
Die Bedeutung des „Übertragens“ geht aus einer grammatischen Theorie hervor,
ʿAlwānī, Bd. 1 (Riad: Mohammed Ibn Saouds Universitätsverlag, 1979), 421. der zufolge einigen Partikeln die Rektion und die performative Kraft des Verbes im übertragenen Sinne zugeschrieben werden. „Mawāsiḫ“ genannt, rufen solche Partikel, wie etwa kāna und ihre Schwester und inna und ihre Schwester, die gleichen Kasusflexionen hervor, welche von bivalenten Verben regiert werden (Āmidī, Al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 147). 9
Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazzālī, Al-Mustaṣfā, Bd. 1 (Kairo: Maṭbaʿa Būlāq, 1904), 107 und al-Āmidī, Al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 147.
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Gebrauchsweisen um reine semantische Variationen handelt, welche – abgesehen vom Vers 16:101 – keine Rückschlüsse auf die terminologische Bedeutung des Begriffs zulassen.10 Die im Koran dem Wort nasḫ zugeschriebenen Bedeutungen weisen allerdings auf seine enge Verbindung zum Begriffsbereich der Wandelbarkeit menschlicher Realität und der damit verbundenen Rezeption göttlicher Offenbarung hin. Dabei kommt der zeitlichen Diachronie der Herabsendung der Koranverse lediglich eine historische Orientierungsfunktion zu. Bei der Bestimmung eines nasḫ-Verhältnisses müssten, nach Nasr Hamid Abu Zayd, alle entsprechenden Faktoren, welche zur Erklärung des intra- sowie des extralinguistischen Kontextes beitragen, wie etwa Vieldeutigkeitsmerkmale oder Offenbarungsanlässe, herangezogen werden. Gegen die Gefahr einer Fehlinterpretation durch eine allgemeine und auf der Grundlage des Wortlauts vollzogenen Paraphrasenerklärung waren selbst die Exegeten der ersten Generation nicht gefeit.11 So leitete Maʿd Yakrib von dem Vers 5:93, ausgehend von der zeitlichen Abfolge der Offenbarung, eine Aufhe-
10 A) nasḫ im Sinne von Aufhebung oder Beweis: (Q 22:52) „Und Wir sandten vor dir keinen Gesandten oder Propheten, ohne dass ihm, wenn er etwas wünschte, der Satan in seinen Wunsch etwas dazwischengeworfen hätte. Aber Allah hebt auf, was der Satan dazwischenwirft. Hierauf legt Allah Seine Zeichen eindeutig fest. Und Allah ist Allwissend und Allweise.“ B) nasḫ im Sinne von Ersetzen oder Austauschen: (Q 16:101) „Und wenn Wir einen Vers anstelle eines (anderen) Verses austauschen – und Allah weiß sehr wohl, was Er offenbart –, sagen sie: ‚Du ersinnst nur Lügen.‘ Aber nein! Die meisten von ihnen wissen nicht.“ C) nasḫ im Sinne von Übertragen oder Abfassen: (Q 45:29) „Dies ist Unser Buch, das mit der Wahrheit gegen euch spricht. Wir ließen (alles) niederschreiben, was ihr zu tun pflegtet.“ Diese Vorstellung einer Fortschreibung der Offenbarung geht mit der Idee einer ständigen Anpassung an die Urschrift einher: (Q 43:4) „Und gewiß, er ist in der Urschrift des Buches bei Uns wahrlich erhaben und weise.“ Oder: (Q 56:77–78) „Das ist wahrlich ein ehrwürdiger Qur'an in einem wohlverwahrten Buch.“ Vgl. u.a. ebd., 149., sowie Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 29–30. 11 Nasr Hamid Abu Zayd, Mafhūm an-naṣṣ: Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān, 8. Aufl. (Casablanca: Al-Markaz aṯ-ṯaqāfī l-ʿarabī, 2011), 121.
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bung des Alkoholverbots ab, indem er ihn als einen den Vers 5:90 abrogierenden Vers verstand. Damit setzte er den Vers 5:93 „Es lastet keine Sünde auf denjenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun, hinsichtlich dessen, was sie (bisher) verzehrt haben, wenn sie (fortan) gottesfürchtig sind und glauben und rechtschaffene Werke tun und wiederum gottesfürchtig sind und glauben und wiederum gottesfürchtig sind und Gutes tun. Allah liebt die Gutes Tuenden“ in ein Abrogationsverhältnis zum Vers 5:90 „O die ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Greuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf dass es euch wohl ergehen möge!“ Aṣ-Ṣuyūṭī bestritt jedoch mit Berufung auf al-Ḥasan al-Baṣrī vehement diesen Abrogationsfall mit der Begründung, dass der Koranvers 5:93 ausschließlich in seinem historischen Umfeld gültig sei. Vers 5:93 sei nämlich als Antwort auf eine an den Propheten gestellte Frage zu interpretieren, was mit denjenigen Menschen im Jenseits geschehe, die Alkohol vor der Herabsendung des Verbotsverses tranken.12 Die einseitige Orientierung am diachronischen Bezug oder an der lexikalischen Bedeutung kann bei einer nasḫ-Zusammensetzung zweier oder mehrerer Koranverse nur bedingt die zur Normableitung notwendige argumentative Verhältnisbestimmung hervorbringen. Bezieht man sich bei der Festlegung von nāsiḫ und mansūḫ nur auf die Anordnung im Koran, so können, nach Abu Zayd, Missverständnisse entstehen, wie bei Vers 2:234 „Und wenn welche von euch abberufen werden und Gattinnen zurücklassen, so sollen diese vier Monate und zehn Tage warten. Und wenn sie das Ende ihrer Frist erreicht haben, so besteht für euch kein Vergehen, wenn sie über sich in rechtlicher Weise verfügen. Und Gott hat Kenntnis von dem, was ihr tut“ und Vers 2:240 „Und diejenigen von euch, die abberufen werden und Gattinnen zurücklassen, haben ihren
12 Um derartige Missverständnisse im Vorfeld auszuschließen, betont aṣ-Suyūṭī die Wichtigkeit der Offenbarungsanordnung gegenüber der Anordnung im Text. Um Rücksicht auf diese nehmen zu können, bedarf es jedoch nach as-Suyuṭī eines detaillierten historischen Wissens über die Offenbarungsanlässe und deren Anordnung. Der Koranvers 5:93 wird als beispielhaft für die hohe Bedeutung der Offenbarungsanlässe beim Verständnis des Korans bezeichnet. Vgl. Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān. Bd. 1 (Kairo: Dār al-maʿrifa, 1952), 48.
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Gattinnen eine Versorgung für ein Jahr zu vermachen, ohne sie (aus dem Haus) auszuweisen. Wenn sie aber von sich aus ausziehen, so besteht für euch kein Vergehen, wenn sie über sich in rechtlicher Weise verfügen. Und Gott ist mächtig und weise“. Da es einen Konsens darüber gibt, dass der abrogierte Vers linear immer vor dem abrogierenden Vers stehen soll, sind einige Gelehrte zu dem Schluss gekommen, dass Vers 2:240 den vorstehenden Vers 2:234 abrogiert hat. Bei der Betrachtung der Offenbarungsanordnung ist Abu Zayd zufolge jedoch zu erkennen, dass trotz anderer Anordnung im Text der Vers 2:234 den Vers 2:240 abrogiert und eine Erleichterung mit sich bringt.13 Die Notwendigkeit einer ethisch orientierten Aufstellung von nāsiḫ und mansūḫ ergibt sich nach Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (gest. 790/1388) aus der Tatsache, dass sich der Anordnungsprozess von Versen und Suren an einem komplexen theologischen Offenbarungskonzept orientierte, das für die Menschen nicht immer nachvollziehbar ist. Da sich die Offenbarung nicht nur an der aktuellen Realität orientiert, sondern auch eine für die Gläubigen unbekannte Zukunft antizipiert, sind die Offenbarungsanlässe somit lediglich für das konkrete Herabsendungsmotiv relevant und spielen bei dem Abwägungsprozess zwischen Verallgemeinerung und Spezifizierung einer Rechtsnorm nur die Rolle extratextueller Faktoren. Dabei hängt die intralinguistische Untersuchung der Verhältnisbestimmung zwischen disparaten Textstellen mit demselben normativen Inhalt primär mit analytischen Begriffen, wie etwa dem nasḫ zusammen. Diese Erkenntnis warf bei den Rechtsgelehrten die grundlegende Frage der Bedeutung der „Einheit“ des Gotteswortes auf.14 Nach aš-Šāṭibī soll die Rede Gottes im Sinne einer einheitlichen Ansprache verstanden werden, die im Rahmen des Mitteilungsgeschehens eine Veränderung menschlicher Realität hervorruft. Hinsichtlich seines präskriptiven auffordernden Charakters bildet das göttliche Wort eine zusammenhängende Redestruktur – und zwar im Sinne des menschlichen Diskurses und nicht hinsichtlich der Sprache Gottes. Als allgemeiner und ewig gültiger Aufruf zur Gestaltung des Lebensvollzugs im Lichte der Gottesrechtleitung ist der Koran in sich selbst eine einzige geschlossene Rede. Die Of-
13 Vgl. Abu Zayd, Mafhūm an-naṣṣ, 125. 14 Vgl Abū Isḥāq aš-Šāṭibī, al-Muwāfaqāt, hrsg. v. Daraz (Beirut: Dār al-kutub alʿilmīya, o. J.), 88.
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fenbarung beschreibt keineswegs eine bereits vorhandene Realität, vielmehr ruft sie zur Schaffung einer neuen Realität auf. Dies wird im rechtstheoretischen Ansatz des Gelehrten aš-Šāṭibī deutlich: Wäre die Frage, ob alle Suren des Korans auf der theoretischen Ebene eine zusammenhängende Redestruktur bilden, und zwar im Sinne des menschlichen Diskurses, und nicht hinsichtlich der Sprache Gottes, so wäre die Antwort, dass die Rede Gottes in sich selbst eine einzige geschlossene Rede bildet, und nicht disparat ist, auf welcher Ebene und aus welcher Perspektive auch immer, gemäß dem, was in der Kalāmwissenschaft bereits erläutert wurde. Der Herangehensweise [an die Rede Gottes] hier dient aber der menschliche Diskurs als Hintergrund, in deren Gestalt die Offenbarung auf eine Weise, die ihnen vertraut ist, herabgesandt wurde. Dies bedarf aber der tiefgründigen Überlegung und ausführlichen Erklärung.15
Der nasḫ-Begriff ist, nach aš-Šāṭibīs Auffassung, ein wichtiges Instrumentarium zur Bildung einer für die präskriptive Lesung der Rechtsgelehrten relevanten und nachvollziehbaren einheitlichen Redestruktur. Diese Auffassung steht nicht in einem Gegensatzverhältnis zur Idee der wohlbehüteten Tafel, dem lawḥ al-maḥfūẓ, welche aus einem schöpfungstheologischen Verständnis der Offenbarung hervorgeht. Mit dieser binären Vorstellung vom Wort Gottes überwindet aš-Šāṭibī das von einigen modernen Gelehrten hervorgehobene Paradoxon, demzufolge die Idee der Fortschreibung zwecks Bildung einer einzigen in sich selbst geschlossenen Rede kaum mit dem Konzept einer vollkommenen Urschrift vereinbar ist. Darin sieht Abu Zayd vorerst die Aporien, welche aus der Annahme einer solchen Dichotomie entstehen, und nimmt dies zum Anlass, den nasḫ-Begriff als unzeitgemäß zu betrachten. Aš-Šāṭibī geht von einer eschatologischen und weltlichen Vollkommenheit des Gotteswortes aus, wohl wissend, dass die Eigenschaft der „Vollkommenheit“ auf eine bestimmte Auffassung göttlicher Rede zutrifft, nämlich auf jene in der Ewigkeit von Gott „wohl bewahrten Tafel“, der lawḥ al-maḥfūẓ. So betont aš-Šāṭibī ausdrücklich: „Was mit dem Buch in der koranischen Aussage ‚Wir haben im Buch nichts übergangen‘ gemeint ist, ist [primär] die wohl bewahrte Tafel. [Q 6:38]“.16 Damit hebt er die
15 Vgl. ebd., 3:314. 16 Vgl. ebd., 2:50.
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Sichtweise von Gottes Wort im Horizont von Endlichkeit und Unendlichkeit hervor. Der Koran als Bewusstseinsrede in der Ewigkeit (auf der Ebene der ewig geltenden Wahrheit) liegt dem Koran als Eingebung in menschlichem Wortlaut (auf der Ebene der Prophetie) zugrunde. Der Koran als Heilige Schrift untermauert die Ebene der historischen Überlieferung. Durch eine Verhältnisbestimmung unterschiedlicher Aspekte göttlichen Wortes ist es der Rechtstheorie gelungen, die Verbindung zwischen Glaubensgeboten und jussiven Aufforderungsakten zum Handeln im Heiligen Buch herzustellen. Damit hat die Jurisprudenz wie keine andere islamische Wissenschaftsdisziplin gezeigt, wie maßgeblich die Intention der Interpretation des Gotteswortes die menschliche Textauffassung in ihrer Anwendung auf die göttliche Rede beeinflussen kann. Aš-Šāṭibīs Verständnis des nasḫ basiert auf einer streng definierten ethisch-hermeneutischen Herangehensweise, bei der lediglich solche Koranverse in ein Abrogationsverhältnis gesetzt werden, denen eine paraphrastische Oberflächenstruktur zugrunde liegt, und die sich inhaltlich und normativ substantiell im Sinne der ethischen Ausrichtung ergänzen, wie etwa die drei dem Alkoholkonsum gewidmeten Koranverse: O die ihr glaubt, nähert euch nicht dem Gebet, während ihr trunken seid, bis ihr wisst, was ihr sagt, noch im Zustand der Unreinheit – es sei denn, ihr geht bloß vorbei –, bis ihr den ganzen [Körper] gewaschen habt. (Q 4:43) Sie fragen dich nach berauschendem Trunk und Glücksspiel. Sag: In ihnen [beiden] liegt große Sünde und Nutzen für die Menschen. Aber die Sünde in ihnen [beiden] ist größer als ihr Nutzen. (Q 2:219) O die ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Greuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf dass es euch wohl ergehen möge! (Q 5:90)
Die in einem Abrogationsverhältnis stehenden Verse unterhalten keine syllogistische Beziehung, da der Koran in seiner Gesamtheit für alle Zeiten und alle Menschen herabgesandt ist. Dabei wird die Abrogation als Zugang zum widerruflichen Leben des Gläubigen verstanden, sodass der Vers 4:43 keineswegs seine Bedeutung für den Gläubigen zugunsten des Verses 5:90 verliert. Dies würde das Ende der Geschichte bedeuten, bei der die Handlungsoptionen der Menschen ans Endziel gelangen, sodass kaum Raum für Umkehr und Reue besteht. Diese Deutung geht mit dem koranischen Men-
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schenbild einher, in dem die Lebenspläne der Gläubigen eine bewegliche und widerrufliche Form haben – durch eine Hin- und Herbewegung zwischen mehr oder weniger weit entfernten theologischen Idealen. Aš-Šāṭibī schließt sich somit ausdrücklich der minimalistischen Haltung bei der Festlegung abrogierter Verse im Koran an. So gelten bei ihm die Gebote, dass lediglich Pflichtverse in einem Abrogationsverhältnis stehen dürfen, welche syntaktisch und segmental voneinander getrennt im Text aufgeführt werden.17 Von der Abrogation sind vor allem Verse ausgeschlossen, die Drohung, Verheißung oder zeitliche Angaben enthalten.18 Die rechtstheoretische nasḫ-Auffassung unterscheidet sich von der exegetischen dadurch, dass die Aufhebung eines früheren Rechtsurteils durch einen neu offenbarten Vers nicht als Abrogation zu erkennen ist, sondern vielmehr als eine situationsbedingte Änderung des ursprünglichen Gebots oder Verbots, wie dies im Falle des Alkohol- oder Zinsverbots geschah. So wurden zum Beispiel Gespräche während des Gebets nach der gleichen Prozedur erst mit der Herabsendung des Verses 2:238 „Haltet die Gebete
17 Aš-Šāṭibīs Argumentation zufolge weist nur ein geringer Teil der mekkanischen Verse Abrogationsfälle auf, da diese aufgrund ihres fundamentalen glaubensethischen Inhalts zu den universalen Quellen der Rechtssetzung gehören. Er führt in diesem Zusammenhang den Vers 3:7 als Beispiel an, um ihn doch im Themenbereich der Vieldeutigkeit anzusiedeln. Was die Anerkennung abrogierter oder abrogierender medinensischer Verse angeht, so schließt er sich den Meinungen von al-Ġazzālī sowie al-Āmidī an, welche von einer überschaubaren Zahl abrogierter Verse ausgehen (vgl. ebd., 3:80). Diese minimalistische Haltung wurde später von dem Universalgelehrten as-Suyūṭī (gest. 911/1505) argumentativ untermauert, sodass er zum Beispiel nur noch 19 Verse als abrogiert anerkennt. 18 Als Beispiel für abrogationsähnliche Fälle mit Zeitangabe siehe Q 2:109: „Viele von den Leuten der Schrift möchten euch, nachdem ihr den Glauben (angenommen) habt, wieder zu Ungläubigen machen, aus Mißgunst von sich selbst aus, nachdem ihnen die Wahrheit klargeworden ist. Doch verzeiht und seid nachsichtig, bis Allah mit Seiner Anordnung kommt! Allah hat zu allem die Macht“. Aufgrund des glaubensorientierten Inhalts zählen solche Verse zu den allgemeingültigen, die nicht aufgehoben werden können. Im Vers 2:109 dienen Verzeihung und Nachsicht bis zum jüngsten Tag als Grundbedingungen im Umgang mit Andersgläubigen.
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ein, und (besonders) das mittlere Gebet, und steht demütig ergeben vor Allah“ unterbunden.19 Genauso wenig werden Abrogationsfälle in Folge der Vergänglichkeit eines Offenbarungsanlasses, wie etwa in Vers 5:105 und 3:104, von ašŠāṭibī als solche anerkannt. So steht der zur Gesinnungsethik aufrufende Vers 5:105 „O die ihr glaubt, wacht über euch selbst! Wer abirrt, kann euch keinen Schaden zufügen, wenn ihr rechtgeleitet seid. Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er kundtun, was ihr zu tun pflegtet“ in keinerlei normativem Verhältnis zum Koranvers 3:104, welcher eine Fürsorgepflicht gebietet: „Und es soll aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft, das Rechte gebietet und das Verwerfliche verbietet. Jene sind es, denen es wohl ergeht.“ Der Vers 5:105 wird allerdings in aṣṢuyūṭīs Abhandlung dem sogenannten munsaʾ zugeschrieben, was bedeutet, dass Gott das durch den Koranvers vermittelte Urteil in Vergessenheit geraten ließe, um den im Vers 3:104 verkündeten normativen Wert hervorzuheben. Der hochkomplexe Begriff munsaʾ, dessen Bedeutung unter den Korangelehrten stark umstritten ist, geht auf eine medinensische Offenbarung in Vers 2:106 zurück, welche auf eine dem Gotteswort innewohnende kommunikative Dynamik hindeutet: „Was Wir an Versen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen – Wir bringen bessere oder gleichwertige da-
19 Vgl. ebd., 3:80–81. Eine systematischere Aufstellung der sich in einem abrogationsähnlichen Verhältnis befindenden Fälle dieser Art finden sich in aṣ-Ṣuyuṭīs (gest. 911/1505) al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān unter der sogenannten Gattung der Abrogation von vorislamischen Gebräuchen. Beispiele: Eheschließung mit ehemaligen Ehefrauen von Vätern, siehe Q 4:22 „Und heiratet nicht Frauen, die (vorher) eure Väter geheiratet haben, außer dem, was bereits geschehen ist. Gewiss, das ist eine Abscheulichkeit und etwas Hassenswertes und ein böser Weg.“ Legalisierung des Talion, siehe Q 4:92 „Es steht keinem Gläubigen zu, einen (anderen) Gläubigen zu töten, es sei denn aus Versehen. Und wer einen Gläubigen aus Versehen tötet, (der hat) einen gläubigen Sklaven (zu) befreien und ein Blutgeld an seine Angehörigen aus(zu)händigen, es sei denn, sie erlassen (es ihm) als Almosen.“ Einschränkung des widerruflichen Scheidungsrechts, siehe Q 2:229 „Die (widerrufliche) Scheidung ist zweimal (erlaubt). Dann (sollen die Frauen) in rechtlicher Weise behalten oder in ordentlicher Weise freigegeben (werden)“.
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für. Weißt du denn nicht, dass Allah zu allem die Macht hat?“ As-Suyūṭī erkennt auch hier keine Abrogation an, denn diese Aussage sei als Antwort auf die Andersgläubigen, welche jegliche Veränderungen im Koran als einen Widerspruch im Wort Gottes sahen, herabgesandt worden und deswegen nicht wortwörtlich zu verstehen. In seiner Auseinandersetzung mit der semantischen Bedeutung des Wortes nasʾ tut sich der Korangelehrte Badr ad-Dīn az-Zarkašī (gest. 794/1392) schwer mit der Begründung, warum er diesen Begriff aus dem Verbstamm nasiya (vergessen) ableitet. Seinem Verständnis nach ist das Wort nunsihā eine Lesart von nansaʾuhā, was der Bedeutung einer Aufschiebung des Urteils näherkäme.20 Bemüht um eine ethisch-normative Eingrenzung des Abrogationsbegriffs, geht aš-Šāṭibī kaum auf die Unterscheidung zwischen nasʾ und nasḫ ein. Vielmehr widmet er sich der Frage nach dem moralischen Sinn der Abrogation, welcher seinem Verständnis nach in der Hervorhebung der in den mekkanischen Suren verankerten theologischen Werte und Tugenden, wie Fürsorge, Gerechtigkeit, Geduld, Versöhnlichkeit, Dankbarkeit und Treue, begründet liegt. Diese Werte macht er zum Hauptkriterium einer argumentativen Verhältnisbestimmung zwischen den thematisch in Relation stehenden Offenbarungen, die eine paraphrastische oder textuelle Zugehörigkeit suggerieren, und erschwert somit zugleich bewusst die Anwendung des Abrogationsverfahrens. Bei der diskursiv-normativen Verhältnisbestimmung unterschiedlicher Koranverse, welche ähnliche moralische Denkinhalte aufweisen, sollen laut aš-Šāṭibī zwei methodische Grundsätze in der Analyse herangezogen werden.21 Auf textueller Ebene setzt er eine umfassende Induktion voraus, in deren Rahmen eine systematische und vergleichende Quellenuntersuchung des normativen Gegenstands vollzogen wird. Auf der theologisch-moralischen Ebene müssen die aus den Textquellen rational erschlossenen ethischen Prinzipien sowohl in der Hypothesenstellung als auch bei der Formulierung der angestrebten Zielsetzung im selben Maße wie die Offenbarungsquellen bei der Normenableitung herangezogen werden. Diese in Hinblick auf die Funktion des nasḫ zum Umdenken verleitende Herangehensweise entspringt aš-Šāṭibīs Vorstellung der Hierarchie von Rechtsbeweisen, welche er ausführlich im Buch der adilla (Rechtsquellen,
20 Vgl. az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 42 und 44. 21 Vgl. aš-Šāṭibī, al-Muwāfaqāt, 3:72–79.
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Rechtsbeweise) erläutert: „Unter den Rechtsquellen gibt es zweierlei Arten: Die erstere geht auf die [schriftliche] Überlieferung zurück, während die zweite der reinen Vernunft (ar-raʾy al-maḥḍ) zugeschrieben wird. Und diese Unterteilung gilt ausschließlich für die Kategorisierung der Rechtsquellen. Ansonsten ist bei den Ableitungen von den Rechtsnormen jeder Teil von dem anderen abhängig.“22 Bei genauerer Betrachtung von aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber der herkömmlichen Definition von nasḫ ist festzustellen, dass er die Relevanz dieses Begriffs für die Jurisprudenz allmählich in Frage stellt. Dies wird deutlicher in den Koranbelegen, die seiner Untersuchung als Textgrundlage dienen. Im Zuge seiner Analyse von umstrittenen Abrogationsfällen, die er nicht als solche anerkennt, widmet er sich der Ausarbeitung des Begriffs Spezifizierung, den er dem Begriff nasḫ offensichtlich vorzieht. Seine Zurückhaltung hinsichtlich des Begriffs nasḫ rührt von der Befürchtung her, dass die reichhaltige Welt der Offenbarung durch eine einfache syllogistische und zum Teil willkürliche Herangehensweise verarmt und auf ein knappes Gerüst deontologischer Rechtssätze reduziert wird.
S PEZIFIZIERUNG ,
NÄHERE E RLÄUTERUNG UND TEXTWISSENSCHAFTLICHE R OLLE DER ABROGATION
Nach aš-Šāṭibīs Auffassung verwechselten die Maximalisten23 unter den traditionellen Gelehrten verschiedene Ebenen der Diskursprogression und führten ethisch bedeutende diskursive Verhältnisbestimmungen, welche vielmehr einer stilistischen Spezifizierung entsprechen, auf eine Aufhebung zurück. Normativ und ethisch erweist sich aš-Šāṭibīs Kerngedanke als vielversprechend, insofern als die in einem vermeintlich abrogationsähnlichen Verhältnis zueinander stehenden Koranverse ihren ursprünglichen normativen Wert beibehalten, obschon sie sich gegenseitig semantisch wie theologisch ergänzen. So deutet aš-Šāṭibī eine Vielzahl abrogierender Koranverse, wie etwa das Verhältnis von Vers 5:5 zu Vers 2:221, als nähere Bestim-
22 Vgl. ebd., 3:29. 23 Damit sind hier diejenigen Koranwissenschaftler gemeint, welche die nasḫDefinition so ausweiten, dass sie jegliche Textergänzung oder Erläuterung im Koran umfasst.
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mung, aufgrund derer der Interpretationsrahmen nicht willkürlich eingeschränkt wird: Und heiratet Götzendienerinnen nicht, bevor sie glauben. Und eine gläubige Sklavin ist fürwahr besser als eine Götzendienerin, auch wenn diese euch gefallen sollte. Und verheiratet nicht (gläubige Frauen) mit Götzendienern, bevor sie glauben. (Q 2:221) Heute sind euch die guten Dinge erlaubt. Und die Speise derjenigen, denen die Schrift gegeben wurde, ist euch erlaubt, und eure Speise ist ihnen erlaubt. Und die Ehrbaren von den gläubigen Frauen und die ehrbaren Frauen von denjenigen, denen vor euch die Schrift gegeben wurde, wenn ihr ihnen ihren Lohn gebt, als ehrbare Ehemänner, nicht als solche, die Hurerei treiben und sich Liebschaften halten. (Q 5:5)
Das Verbot, Götzendienerinnen zu heiraten, ist zwar in der Überlieferung unumstritten, doch dieses Verbot wird noch im selben Vers eingeschränkt, in dem Allah sagt: „bevor sie glauben“. Außerdem wird das Verbot durch Vers 5:5 nochmals eingeschränkt, in dem Allah den Muslimen erlaubt, die „ehrbaren“ Frauen der Schriftkundigen zu heiraten.24 Wenn mit dem Begiff nasḫ die vollkommene Aufhebung des Rechtsurteils eines Koranverses gemeint sein soll, so trifft diese Definition laut ašŠāṭibī auf eine unbedeutende Anzahl von Versen zu. Eine Vielzahl umstrittener Abrogationsfälle erweist sich, aš-Šāṭibīs Analyse zufolge, als nähere stilistische und normative Erläuterung. Häufig handelt es sich bei solchen Fällen um eine Spezifizierung des Allgemeinen, wie etwa in den beiden Versen zur Speisenordnung: Und esst nicht von dem, worüber der Name Allahs nicht ausgesprochen worden ist. Das ist wahrlich Frevel. Die Satane geben ihren Schützlingen in der Tat ein, mit euch zu streiten. Wenn ihr ihnen gehorcht, seid ihr fürwahr Götzendiener. (Q 6:121)
Dieser wird durch Vers 5:5 lediglich spezifiziert:
24 Zur Deutung des Koranverses 5:50 siehe Abū Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl al-qurʾān, Bd. 4 (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1992), 444–445.
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Heute sind euch die guten Dinge erlaubt. Und die Speise derjenigen, denen die Schrift gegeben wurde, ist euch erlaubt, und eure Speise ist ihnen erlaubt. Und die Ehrbaren von den gläubigen Frauen und die ehrbaren Frauen von denjenigen, denen vor euch die Schrift gegeben wurde, wenn ihr ihnen ihren Lohn gebt, als ehrbare Ehemänner, nicht als solche, die Hurerei treiben und sich Liebschaften halten. Wer den Glauben verleugnet, dessen Werk wird hinfällig, und im Jenseits gehört er zu den Verlierern.
Für die Koranverse, welche die Kleiderordnung der Frauen ansprechen, erkennt aš-Šāṭibī ebenfalls keine Abrogation. Q 24:60 ist eine klare Spezifizierung von Q 24:31, da sich der Adressatenkreis – Frauen im Allgemeinen und ältere Frauen im Speziellen – in den beiden Versen explizit unterscheidet.25
25 Während Vers 24:31 Frauen im Allgemeinen anspricht – „Und sag zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten, ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer dem, was (sonst) sichtbar ist. Und sie sollen ihre Kopftücher auf den Brustschlitz ihres Gewandes schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihrer Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, denen, die ihre rechte Hand besitzt, den männlichen Gefolgsleuten, die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, den Kindern, die auf die Blöße der Frauen (noch) nicht aufmerksam geworden sind. Und sie sollen ihre Füße nicht aneinanderschlagen, damit (nicht) bekannt wird, was sie von ihrem Schmuck verborgen tragen. Wendet euch alle reumütig Allah zu, ihr Gläubigen, auf dass es euch wohl ergehen möge!“ –, richtet sich der Vers 24:60 lediglich an ältere Frauen: „Und für diejenigen unter den Frauen, die sich zur Ruhe gesetzt haben und nicht mehr zu heiraten hoffen, ist es keine Sünde, wenn sie ihre Gewänder ablegen, ohne jedoch ihren Schmuck zur Schau zu stellen. Doch sich (dessen) zu enthalten, ist besser für sie. Und Allah ist Allhörend und Allwissend.“ Die allgemeine Äußerung in Vers 24:31 „Und sag zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten, ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer dem, was (sonst) sichtbar ist“ wird laut aṭ-Ṭabarī durch mehrere Überlieferungen und Propheten-Hadiṯe unterschiedlich spezifiziert. Dabei werden entweder Körperteile oder Frauenschmuck erläutert, welche mit dem Teil-
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In Anlehnung an das in der Prophetentradition verankerte Prinzip der schrittweisen Verkündung des Wort Gottes, die grundsätzlich dazu dient, den Menschen die Einhaltung der Gottesgebote zu erleichtern, erklärt ašŠāṭibī die Spezifizierung als eine ethische Weisheit, die dem Wandel menschlicher Lebenswirklichkeit Rechnung trägt.26 Abgesehen vom rezitatorischen und liturgischen Charakter ergibt sich der Sinn des Weitergeltens des Allgemeinen in der Offenbarungsbotschaft wiederum aus der Tatsache, dass sich bei erneut auftretenden alten Lebensumständen der zuerst offenbarte allgemeine Vers gilt. Es handelt sich also hierbei um eine Spezifizierung, welche eine zeitliche Verschiebung der Norm nach sich zieht, um deren Anwendbarkeit auf den richtigen Zeitpunkt zu setzen. Mit seiner minimalistischen Definition der Abrogation schließt sich ašŠāṭibī offenbar ar-Rāzīs Verständnis der Relation zwischen Abrogation und Spezifizierung an. Der hierbei zentrale taḫṣīṣ-Begriff (Spezifikation/ Erläuterung) umfasst alle Aspekte der erzählten Handlung, wie azmān (Handlungszeit), aʿyān (Handlungssubjekt) und aḥwāl (Handlungsumstände), während der nasḫ-Begriff lediglich bei der Frage der Adäquatheit der Handlung in besonderen Zeitabschnitten anwendbar wäre. 27 Sprachanalytisch gesehen setzt die Anwendung der Spezifizierung bei Normenerschließung weder beim spezifizierten noch beim spezifizierenden Koranvers eine semantische Verschiebung des Aussagewortlauts voraus. Eine durch nasḫ vollzogene Rechtsableitung führt hingegen zur semantischen Veränderung des abrogierten Koranverses durch die neue Bedeutung
satz „sonst sichtbar“ gemeint sind. Vgl.Abū Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 305. 26 Q 3:102: „O die ihr glaubt, fürchtet Allah in gebührender Furcht und sterbt ja nicht anders denn als (Allah) Ergebene!“; Q 64:16: „Daher fürchtet Allah, soweit ihr könnt. Und hört zu und gehorcht und gebt Gutes für euch selbst aus. Und diejenigen, die vor ihrer eigenen Habsucht bewahrt bleiben, das sind diejenigen, denen es wohl ergeht.“ Vgl. aš-Šāṭibī, al-Muwāfaqāt, 3:86. 27 Rāzī, Al-Maḥṣūl fī ʿilm uṣūl al-fiqh, 1:314 sowie 387–399. Al-Bayḍāwī vertritt die Gegenhypothese und ist der Auffassung, dass nasḫ-Normen umfassender wären und somit für alle Menschen verbindlich sind, während Taḫṣīṣ ausschließlich Menschen betrifft, die in einem bestimmten Kontext darauf zurückgreifen. Vgl. Nāṣir ad-Dīn ʿAbdallāh Ibn ʿUmar al-Bayḍāwī, Minhāǧ al-wuṣūl ilā ʿilm al-uṣūl (Kairo: Maṭbaʿa as-Saʿāda, o. J.), 52.
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des abrogierenden Verses. So wurde der bezeichnete Denkinhalt des Begriffs der qibla (Gebetsrichtung) aufgrund der „Ablösung“ des Verses 2:142 durch den Vers 2:144 mit einer neuen Bedeutung versehen. Der Begriff qibla konnotierte nicht mehr die Aqsa-Moschee in Jerusalem, welche in der Sunna als erste Gebetsrichtung galt, sondern wurde fortan mit der heiligen Moschee in Mekka assoziiert. Da diese nasḫ-Auffassung kaum analytisches Potential verspricht und auf eine geringe Anzahl von Verhältnisbestimmungen zwischen den normativen Koranversen anwendbar wäre, deutet aš-Šāṭibī eine Umkehr zur bisher bewährten Dichotomie des Allgemeinen und des Spezifischen an. Von den drei tradierten Arten der Abrogation, nämlich der Aufhebung der Versrezitation unter Beibehaltung der Rechtsnorm, der Aufhebung der Rechtsnorm unter Beibehaltung der Versrezitation sowie der Aufhebung der Rechtsnorm und des dazugehörigen Verses will aš-Šāṭibī offenbar nichts wissen. Im Zuge seiner Diskussion von umstrittenen Abrogationsfällen positioniert er sich eindeutig zu Gunsten der zweiten Kategorie, indem er als Rechtsgelehrter und Theologe in den anderen beiden einen klaren Widerspruch zur Vorstellung einer wohlbehüteten Tafel sieht. Des Weiteren vermittelt er durch seine Zurückhaltung gegenüber den anderen beiden Kategorien den Standpunkt, dass sich jegliche Ableitung von Normen ohne Textgrundlage, wie es in der ersten Kategorie suggeriert wird, als gegenstandlos erweist. Bei der dritten Kategorie handelt es sich um eine reine prophetische Ebene, in der die moralische Urteilsfindung nicht berücksichtigt wird.28
28 Eine Aufhebung der Versrezitation unter Beibehaltung der Rechtsnorm kann laut Ibn al-Ḥaṣṣār genauso wie die Aufhebung der Rechtsnorm mit dem dazugehörigen Vers nur zu Lebzeiten des Propheten vollzogen worden sein. Vor diesem Hintergrund lehnten einige muʿtazilitische Gelehrte vehement die Auseinandersetzung mit dem nasḫ-Begriff ab. Vgl. Abū l-Yusr al-Bazdawī, Kitāb fīhi maʿrifa al-ḥuǧaǧ aš-šarʿīya. Textes arabes et études islamiques 38 (Kairo: Publications d’Institut Français d’Archéologie Orientale, 2003).
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H INTERGRÜNDE VON AŠ -Š ĀṬIBĪS H ERANGEHENSWEISE
MINIMALISTISCHER
Die Zurückhaltung aš-Šāṭibīs gegenüber einer extensiven Definition der Abrogation geht auf die kontroverse Geschichte des nasḫ-Begriffs zurück, die erst ab der zweiten Hälfte des 7./13. Jahrhunderts kritisch aufgearbeitet wurde. Al-Āmidī äußerte große Skepsis gegenüber einem nasḫ-Begriff, der jeder textuellen Grundlage entbehrt. In seinem Monumentalwerk al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām prüfte er sämtliche Überlieferungen zur nasḫ-Theorie kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit. Nach az-Zarkašī käme jegliche Vorstellung der Abrogation jenseits expliziter Textgrundlage dem jüdischen Verständnis des budāʾ (Erscheinung, Erhellung) gleich, demzufolge der Urheber der Offenbarung auf einen Wissenserwerb durch eine immer wiederkehrende Wahrheitserscheinung angewiesen sei, was der Eigenschaft der Allwissenheit des Erhabenen im Koran widerspreche29. Nasḫ im rechtstheoretischen und ethischen Sinne soll auf die Veränderung eines durch den Textbeweis umformulierten Urteils beschränkt werden, ohne eine Veränderung des Diskurs-Urhebers an sich oder seines Wissens vorauszusetzen.30 Hinsichtlich der vermeintlichen Aufhebung der Rezitation und des damit einhergehenden Urteils, geht die Lesung – ar-Rāzīs Annahme zufolge – auf ḥadīṯe zurück, die bei den Gelehrten eine gewisse Skepsis hervorgerufen haben. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der soeben genannten Art von Abrogation nicht um eine Pseudokategorie normativer Textdeutung handelt, welche zweckgebunden in einigen unglaubwürdigen Überlieferungen herausgearbeitet wurde, um eine Veränderung des normativen Gehalts eines bestimmten Koranverses durch eine nach dem Tod des Propheten bewusst hinzugefügte vorgetäuschte Aufhebung des Textkorpus herbeizuführen31. So soll es beispielsweise einen Vers gegeben haben, der das Ehehindernis durch das zehnmalige Stillen eines Säuglings durch das Ehehindernis mit dem fünfmaligen Stillen abrogiert. Diese Urteile, die laut
29 Vgl. az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 30; eine ähnliche Position findet man auch früher bei al-Āmidī, al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 107. 30 Vgl. al-Ġazzālī, al-Mustaṣfā, 123. 31 Vgl. ar-Rāzī, Al-Maḥṣūl fī ʿilm uṣūl al-fiqh, 1:482 sowie al-Ġazzālī, AlMustaṣfā, 1:132.
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einem im Ṣaḥīḥ muslim – dem kanonischen Werk von Muslim ibn alḤaǧǧāǧ an-Naysābūrī (gest. 261/875) – überlieferten ḥadīṯ im Koran vorhanden gewesen sein sollen und nun beide nicht mehr zu finden sind, suggerieren nach az-Zarkašī die Idee einer Abrogation innerhalb der Sunna, obwohl dafür keine Anzeichen im Koran zu finden sind.32 Heftig kontrovers wurde jedoch, laut az-Zarkašī, die erste Kategorie des nasḫ unter den Rechtsgelehrten diskutiert, bei der angenommen wird, dass die Versrezitation ohne die damit einhergehende Rechtsnorm aufgehoben sein sollte. Im Zuge des Streits um den Sinn einer solchen Aufhebung, die in aš-Šāṭibīs nasḫ-Abhandlung überhaupt nicht berücksichtigt wurde, hatten sich einige Rechtsgelehrte der klassischen Epoche in widersprüchliche Aussagen und Rechtfertigungsaporien verwickelt. So erklärt ar-Rāzī, dass die Aufhebung der Rezitation in diesem Falle so vollzogen wurde, dass Gott vor dem Tode des Propheten die aufgehobenen Verse in Vergessenheit geraten ließ, so dass die Menschen in einen Zustand versetzt wurden, in dem sie sich nicht mehr an die veränderten Stellen erinnern konnten. Aufgrund einer von Gott in die Seelen der Koranleser eingehauchten Abneigung gegenüber wiederholten Rezitationen und Niederschreibungen sind die vermeintlich abrogierten Offenbarungen für immer aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden.33 Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī (gest. 1045) lehnte hingegen bereits im vierten Jahrhundert nach islamischer Zeitrechnung diese Abrogationskategorie vehement ab – mit der Begründung, dass der Zweck der Offenbarung die Rezitation von Gottes Wort wäre und dass es keinen Sinn ergebe, die Lesung eines Koranverses zu abrogieren, wenn das damit zusammenhängende Urteil immer noch gültig sein sollte.34 Die Vorstellung einer solchen Art von Abrogation speist sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Überlieferungen; es besteht jedoch keinerlei Konsens unter den Korangelehrten, ob diese Überlieferungen richtig sind oder nicht. Aus einer der umstrittensten Überlieferungen dieser Art geht die Annahme hervor, dass ein sogenannter Steinigungsvers durch die Sure 24:2 aus Gründen der Scham aufgehoben wurde.
32 Vgl. Abu Zayd, Mafhūm an-naṣṣ, 129. 33 Az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 35–37. 34 Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī, al-Muʿtamad, hrsg. v. Khalil Mays, Bd. 1 (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, o. J.), 386.
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Der Bericht zur Aufhebung des sogenannten Steinigungsverses geht auf eine ḥadīṯ-Überlieferung zurück, welche in einem ḥadīṯ-Werk namens Mustadrak zwar als glaubwürdig (ṣaḥīḥ) bezeichnet, jedoch aufgrund fehlender semantischer und theologischer Kohärenz von den ḥadīṯ-Werkkritikern zurückgewiesen wurde. Im Mustadrak wird angeführt: Zayd Ibn Ṯābit und Saʿīd Ibn al-ʿĀṣ waren dabei den Qurʾān aufzuschreiben und stolperten über diesen Vers. Zayd sagte: „Ich hörte den Propheten sagen: ‚Der (ältere) Mann und die (ältere) Frau, wenn sie Unzucht begehen, dann steinigt beide.“ ʿUmar sagte: „Als sie herabgesandt wurde ging ich zum Propheten und sagte: ‚Soll ich es aufschreiben?‘ Der Prophet machte den Anschein, es nicht zu wollen.“ ʿUmar sagte: „Siehst Du denn nicht, dass der ledige Greis wegen Unzucht gepeitscht wird, 35
während der verheiratete Jüngling bei einer solchen Tat gesteinigt wird?“
Aus dem Wortlaut der soeben genannten Überlieferung geht eine explizite Ablehnung des Propheten hervor, auf den Vorschlag ʿUmars, den umstrittenen Steinigungsvers in den Koran aufzunehmen, einzugehen. Diese Haltung konnotiert, dass sowohl für einen zinā betreibenden verheirateten wie für einen zinā betreibenden ledigen Mann dieselbe Strafe gilt, nämlich das Peitschen.36 Einen solchen Aufhebungsfall sieht der berühmte ḥadīṯ-Überlieferungskritiker ʿAbdallāh al-Ġimārī (gest. 1412/1991) als komplex an, da der allgemeine Charakter des Wortlautes, der aus dem vermeintlichen Steinigungsvers hervorgeht, kaum Rückschlüsse über die einzelnen Eigenschaften des Handlungssubjekts zulässt. Aus den allgemeinen Bezeichnungen „der (ältere) Mann und die (ältere) Frau“ erweist sich eine Ableitung spezifischer Eigenschaften, die Aufschluss geben über den Familienstand der betroffenen Person, sowohl semantisch als auch theologisch als unmöglich 37, zumal kein anderer textueller Hinweis auf diesen Vers im ḥadīṯ oder im Koran vorhanden ist. Theologisch gesehen stellt sich die Frage, wie ein Vertrauter des Propheten sich erlauben kann, sich bei der Aufnahme eines
35 Zu den Quellen dieser Debatte vgl. Muḥammad al-Ḥākim, al-Mustadrak, 4. Aufl. (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1990), 360. 36 Vgl. as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:24. 37 ʿAbdullah Ibn aṣ-Ṣiddīq al-Ġimārī, Ḏawq al-ḥalāwa bi-bayān imtināʿ nasḫ attilāwa (Kairo: Dār al-anṣār, 1982), 16.
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Verses in den Koran so stark einzumischen, dass der Prophet ihm Einhalt gebieten musste. Dies würde, laut al-Ġimārī, bedeuten, dass Gott sein Wort je nach Gefühlsneigungen seiner Diener verändern würde.38 In al-Buḫārīs Überlieferungswerk Ṣaḥīḥ al-buḫārī wird im Anschluss an diese Geschichte berichtet, dass ʿUmar die Befürchtung äußerte, die Menschen würden aufgrund ihrer zeitlichen Entfernung von der Offenbarungsphase behaupten, keinen Hinweis auf die Steinigungsstrafe im Koran zu finden und infolgedessen die Existenz einer solchen Sanktion im Islam in Frage stellen. Bemerkenswert in al-Buḫārīs Überlieferung ist, dass die sonst in den ḥadīṯ-Quellen (wie Ṣaḥīḥ Muslim) verbreitete Aussage nicht aufgeführt ist, der zufolge ʿUmar behauptete, im Koran den folgenden Vers gelesen zu haben: „Der (ältere) Mann und die (ältere) Frau, wenn sie Unzucht begehen, dann steinigt beide als Strafe von Allah“39. Al-Ġimārī stellt infolgedessen die Glaubwürdigkeit der häufig überlieferten Ergänzung zu ʿUmars Aussage in Frage, in der jener Folgendes verkündete: „Würden die Menschen nicht sagen: ‚ʿUmar fügt dem Buch Gottes etwas hinzu‘, hätte ich es [d.h. den o.g. Steinigungsvers] selber (mit der Hand) geschrieben.“ So schlussfolgert al-Ġimārī im Anschluss an az-Zarkašī, dass es sich bei dem sogenannten Steinigungsvers um einen aḥād-ḥadīṯ handelt, dessen Zurückführung auf den Propheten aufgrund der oben genannten semantischen und theologischen Aporien sehr fragwürdig ist. 40 Dabei stellt sich die Frage, ob es sich bei der tradierten Überlieferung zum sogenannten Steinigungsvers nicht eher um eine intertextuelle Deutung eines ḥadiṯ des Propheten handelt, indem die Steinigung zweier jüdischer der Unzucht bezichtigter Personen in Anlehnung an die Tora vom Propheten selbst bewilligt wurde:
38 Muḥammad al-Buḫārī, Ṣaḥīḥ al-buḫārī (Liechtenstein: Thesaurus Islamicus Foundation, 2000), ḥadīṯ-Nr. 6829. 39 Übersetzung des Autors. 40 Al-Ġimārī, Ḏawq al-ḥalāwa bi-bayān imitināʿ nasḫ at-tilāwa, 17–18. AzZarkašī weist noch darauf hin, dass diese ḥadīṯ-Überlieferung zur Kategorie des „muʿallaq“ gehört („aufgehängt“, in dem Sinne, dass zwischen Buḫārī und dem nächsten Überlieferer eine Lücke ist, Buḫārī den matn also etwas höher „aufgehängt“ hat). Vgl. Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 35.
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Nach Ibn ʿUmar: Man brachte zum Propheten einen Juden und eine Jüdin, die Unzucht begangen hatten. Er ging zu den Juden und sagte: Was findet ihr in der Tora über den, der Unzucht begeht? Sie sagten: Wir schwärzen ihre Gesichter, wir tragen sie auf einem Reittier und wenden dabei ihre Gesichter um. Dann werden sie umhergeführt. Er sagte: Bringt die Tora her, wenn ihr die Wahrheit sagt. Sie brachten sie und lasen sie vor, bis der Steinigungsvers an der Reihe war 41 […]. Da erteilte der Gesandte Gottes über sie seinen Befehl. Sie wurden gesteinigt […].42
N ASḪ IM H ORIZONT DER ETHISCHEN AUSRICHTUNG DER O FFENBARUNG Das Wissen um Abrogations- oder Spezifikationsfälle im Koran soll, nach aš-Šāṭibī, dem Anpassungsprozess der im Koran verankerten Moralnormen an die Veränderbarkeit der Lebensumstände der Gläubigen Rechnung tragen. Diese Herangehensweise entspringt dem zeitlosen Wesen der koranischen Offenbarung sowie seinem ethischen Grundsatz, der auf die Erleichterung und Glückseligkeit für die Menschheit ausgerichtet ist. Methodisch geht aš-Šāṭibī dabei von seiner ethischen Theorie der maqāṣid (Absichten und Zielsetzungen der Offenbarung) aus: Er betont bei der Behandlung des ersten Themas, dass die gesamte šarīʿa auf der ethischen Ausrichtung beruhe43, die aus den rational erschlossenen Maximen der maqāṣid hervorgehe. Darunter fallen aḍ-ḍarūriyāt (die zur Aufrechterhaltung der menschlichen Existenz erforderlichen Faktoren), al-ḥāǧiyāt (die bedürfnisbezogenen Faktoren) und at-taḥsīniyāt (die zur Erleichterung des menschlichen Lebens in der Gesellschaft beitragenden Faktoren). Die aus den Textbeweisen entnommenen Universalbestimmungen zur Rechtsableitung bezeichnet aš-Šāṭibī als al-kulliyāt an-naṣṣīya und definiert sie als die aus dem Koran und der Sunna entnommenen Prinzipien zur Erschließung der aḥkām. Diese werden von den generellen Prinzipien (alkulliyāt al-ʿāmma) unterschieden, die sich aus der rational induktiven Betrachtung (ʾistiqrāʾ) textueller Beweise, wie etwa der allgemeinen Maxime der Rechtsleitung aḍ-ḍarūrāt tubīḥ al-maḥẓūrat, ergeben. Im nasḫ zeigt
41 Zur Steinigung in der Tora: Deuteronomium 22, 22–24. 42 Ḥadiṯ belegt in Buḫārī, Muslim, Abū Dawūd, Tirmiḏī und Nasāʾī. 43 Vgl. ebd., 3:79.
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sich, nach aš-Šāṭibī, die Grundmaxime islamischer Ethik, den Gläubigen beim Vollzug ritueller und zwischenmenschlicher Pflichten Erleichterung und Entlastung zu bieten. Koranverse können nur durch Koranverse abrogiert werden, wie Vers 2:106 zeigt: „Was Wir an Versen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen – Wir bringen bessere oder gleichwertige dafür. Weißt du denn nicht, dass Allah zu allem die Macht hat?“ Zudem ist die Abrogation kein Selbstzweck, sondern eine Herangehensweise, die lediglich die unterordneten Kategorien menschlichen Handelns mit den universalen ethischen Maximen in Einklang bringen soll. Dementsprechend sollte das Abrogationsverhältnis zwischen den Versen 42:544 und 40:745 nicht etwa ausgehend von der Anordnung im Text, sondern auf der Grundlage der ethischen Maxime, welche den Schutz der „Seele“ oder des „Selbst“ im universellen Sinne hervorhebt, vollzogen werden.
S CHLUSSFOLGERUNG Die Auseinandersetzung mit dem Thema nasḫ offenbart eine der kontroversesten Grundfragen islamischer Normativität; ihre Diskussion erweist sich als unerschöpflich und stößt immer wieder auf breites Interesse. Dabei geht es um das Verhältnis zwischen Text und Kontext, mit anderen Worten um die Frage der Allgemeingültigkeit göttlicher Ge- und Verbote im Prozess veränderlicher Lebensrealitäten des Gläubigen. Die Tatsache, dass es für bestimmte Lebensfragen weder im Koran noch in der Sunna eindeutige Textstellen gibt, zeigt, wie bedeutsam analytische Begriffe (wie nasḫ) für das Verhältnis zwischen Lebensvollzug des Gläubigen und intertextuellem Verständnis der Offenbarung sind.
44 Q 42:5: „Beinahe brechen die Himmel auseinander von oben her. Und die Engel lobpreisen ihren Herrn und bitten (Ihn) um Vergebung für diejenigen, die auf der Erde sind. Ja sicherlich, Allah ist der Allvergebende und Barmherzige.“ 45 Q 40:7: „Diejenigen, die den Thron tragen, und diejenigen, die in seiner Umgebung sind, lobpreisen ihren Herrn und glauben an Ihn und bitten um Vergebung für diejenigen, die glauben: ‚Unser Herr, Du umfasst alles in Deiner Barmherzigkeit und Deinem Wissen. So vergib denjenigen, die bereuen und Deinem Weg folgen, und bewahre sie vor der Strafe des Höllenbrandes‘.“
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Wird von der minimalistischen Haltung bei der nasḫ-Definition ausgegangen, der lediglich die zweite Kategorie der Abrogation, nämlich die Aufhebung der Rechtsnorm unter Beibehaltung der Versrezitation, zugrunde gelegt wird, so ergibt sich durch die textwissenschaftliche Dimension des Begriffs ein hermeneutischer Zugang zum dialogischen Verhältnis zwischen Diskursdynamik und dem flüchtigen Charakter der Lebenswirklichkeit. Das hermeneutische Potential des nasḫ-Begriffs, dessen Funktion auf eine rein textuelle Ebene eingegrenzt wird, ergibt sich aus seiner Affinität zur Theorie der kommunikativen Dynamik: Die Aussagen innerhalb eines Diskurses unterhalten informations- und argumentationsbedingte Relationen, deren Verkettung Aufschluss über die gesamte ethische und normative Orientierung des Diskurses gibt. Wird die zweite Kategorie des nasḫ-Vorgangs aus der Perspektive der kommunikativen Dynamik (dynamisme communicatif) betrachtet, so kann der normative Wert einzelner Koranverse im Umfeld der Offenbarungsanlässe und in Anlehnung an das ethische Prinzip der Erleichterung im Lichte des stufenweise fortlaufenden Kommunikationsgeschehens als Verhältnis verstanden werden. Ausgehend von jenem Element des Diskurses, das den „schwächsten“ deontologischen Wert aufweist, setzt sich der Kommunikationsverlauf mit einem intermediären präskriptiven Akt fort, um dann denjenigen Teil des Gebots zu erreichen, der den „stärksten“/verbindlichsten jussiven Wert darstellt. Dieselbe Strategie kann auf das intertextuelle Verhältnis zwischen Koran und Sunna übertragen werden. So kann das, was der Endwert in einer Textstelle war, zum Ausgangspunkt eines neuen Wertes im folgenden Diskurs werden. Dies ist genau das, was bei der Verknüpfung von Frage und Antwort im Kommunikationsgeschehen zur Zeit der Offenbarung geschah. Bei der Verbindung von nasḫ mit der ihm zugrundeliegenden ethischen Intention ergeben sich aufschlussreiche hermeneutische Zugänge zu den komplexen theologischen Fragen der Moderne, so dass heftig umstrittene Deutungen von Koranversen, wie etwa die von Vers 4:34, im Lichte der Umfeldsfaktoren der Vers-Herabsendung historisch und sittlich aufgefasst werden können. Auf der Grundlage einer durch nasḫ suggerierten diskursiven Verhältnisbestimmung kann Vers 4:34 als eine historisch unverbindliche Vorstufe für Vers 2:229 verstanden werden:
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Die Männer stehen in Verantwortung für die Frauen wegen dessen, womit Allah die einen von ihnen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Besitz (für sie) ausgeben. Darum sind die rechtschaffenen Frauen (Allah) demütig ergeben und hüten das zu Verbergende, weil Allah (es) hütet. Und diejenigen, deren Widersetzlichkeit ihr befürchtet, ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie. Wenn sie euch aber gehorchen, dann sucht kein Mittel gegen sie. Allah ist erhaben und groß. (Q 4:34) Die (widerrufliche) Scheidung ist zweimal (erlaubt). Dann (sollen die Frauen) in rechtlicher Weise behalten oder in ordentlicher Weise freigegeben (werden). Und es ist euch nicht erlaubt, etwas von dem, was ihr ihnen gegeben habt, (wieder) zu nehmen, außer wenn die beiden fürchten, dass sie Allahs Grenzen nicht einhalten werden. Wenn ihr aber befürchtet, dass die beiden Allahs Grenzen nicht einhalten werden, dann ist für die beiden keine Sünde in dem, womit (an Geld) sie sich löst. Dies sind Allahs Grenzen, so übertretet sie nicht! Wer aber Allahs Grenzen übertritt, diejenigen sind die Ungerechten. (Q2:229)
Die Diskussion um den nasḫ-Begriff macht eines deutlich: Eine der zentralen Aufgaben der modernen Koranhermeneutik besteht in dieser aktuellen Umbruchphase der islamischen Theologie darin, das exegetische Erbe aufzuarbeiten, sodass dessen analytisches Instrumentarium im Lichte zeitgenössischer geisteswissenschaftlicher Errungenschaften neu gelesen und verortet werden kann. Vor dieser Herausforderung steht die islamische Theologie heute mehr denn je.
L ITERATUR Abu Zayd, Nasr Hamid. Mafhūm an-naṣṣ: Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān. 8. Aufl. Casablanca: Al-Markaz aṯ-ṯaqāfī l-ʿarabī, 2011. Āmidī, Sayf ad-Dīn al-. al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām. 2. Aufl., hrsg. v. ʿAbd ar-Razzāq ʿAfīfī, Bd. 3. Beirut: Maṭbaʿa al-maktab al-islāmī, 1983. Bāqillānī, Abū Bakr Muḥammad al-. Iʿǧāz al-qurʾān. Kairo: Dār al-maʿārif, 1977. Baṣrī, Abū l-Ḥusayn al-. al-Muʿtamad, hrsg. v. Khalil Mays, Bd. 1. Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, o. J. Bayḍāwī, Nāṣir ad-Dīn ʿAbdallāh Ibn ʿUmar al-. Minhāǧ al-wuṣūl ilā ʿilm al-uṣūl. Kairo: Maṭbaʿa as-saʿāda, o. J.
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Bazdawī, Abū l-Yusr al-. Kitāb fīhi maʿrifa al-ḥuǧaǧ aš-šarʿīya. Textes arabes et études islamiques 38. Kairo: Publications d’Institut Français d’Archéologie Orientale, 2003. Buḫārī, Muḥammad al-. Ṣaḥīḥ al-buḫārī. Liechtenstein: Thesaurus Islamicus Foundation, 2000. Ġazzālī, Abū Ḥāmid al-. al-Mustaṣfā. Bd. 1. Kairo: Maṭbaʿa būlāq, 1904. Ġimārī, Abdullah Ibn aṣ-Ṣiddīq al-. Ḏawq al-ḥalāwa bi-bayān imitināʿ nasḫ at-tilāwa. Kairo: Dār al-anṣār, 1982. Ḥākim, Muḥammad al-. al-Mustadrak. 4. Aufl. Beirut: Dār al-kutub alʿilmīya, 1990. Ibn Manẓūr. Lisān al-ʿarab. 4. Aufl. Kairo: Maṭbaʿa būlāq, 1889. Lahbabi, Mohammed Aziz. Der Mensch: Zeuge Gottes. Freiburg im Breisgau: Herder, 2011; Übersetzung und Kommentar von Markus Kneer. Rāzī, Faḫr ad-Dīn ar-. Al-Maḥṣūl fī ʿilm uṣūl al-fiqh, hrsg. v. Ṭāhā Ğābir alʿAlwānī, Bd. 1. Riad: Mohammed Ibn Saouds Universitätsverlag, 1979. Šāṭibī, Abū Isḥāq aš-. al-Muwāfaqāt, hrsg. v. Daraz. Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, o. J. Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn as-. al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān. Bd. 1. Kairo: Dār almaʿrifa, 1952. Ṭabarī, Abū Ǧarīr aṭ-. Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-qurʾān. Bd. 4. Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1992. Zarkašī, Badr ad-Dīn az-. al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, hrsg. v. Abū l-Faḍl Ibrāhīm. Bd. 2. Kairo: Dār at-turāt, o. J.
Ambiguitätsintoleranz als hermeneutisches Prinzip der Koraninterpretation Zum Bild der Nicht-Muslime in der Koranauslegung Sayyid Quṭbs (1906–1966) M ARIANUS H UNDHAMMER
Das Verhältnis des Islam bzw. der Muslime zu Andersgläubigen wie Christen und insbesondere Juden wird in der Öffentlichkeit oftmals als problematisch angesehen. Dabei wird der Islam zunehmend als eine Religion wahrgenommen, die im Zusammenleben in der multireligiösen Gesellschaft der Gegenwart anderen Religionen gegenüber eine feindselige Haltung einnimmt.1 Ein zentraler Vorwurf lautet, dass sich im Koran – und darauf aufbauend in wichtigen exegetischen Texten des Islam – eindeutig negative Aussagen über andere Religionen fänden. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags besteht daher in einem differenzierten Blick auf einschlägige Aussagen und Auslegungen der muslimischen Offenbarungsschrift. In einem ersten Teil wird dabei auf die ver-
1
In diesem Zusammenhang sei auf die antiislamische Programmatik von Gruppierungen wie PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) oder PI (Political Incorrect), aber auch auf rezente Forschung, die entsprechende Tendenzen in Deutschland widerspiegelt hingewiesen. Vgl. Detlef Pollack et al., Hrsg., Grenzen der Toleranz, Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Wiesbaden: VS Springer, 2014), 35–110.
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schiedenen Kategorien von Nicht-Muslimen im Koran eingegangen. Im Hauptteil erfolgt eine Analyse derjenigen koranhermeneutischen Prinzipien Sayyid Quṭbs (1906–1966), die sich einerseits auf die so genannten Buchreligionen und andererseits auf weitere, unter anderem nicht monotheistische Religionen und Gruppen beziehen.2 Ausgehend von der These, dass sich die beschriebene religiöse Intoleranz als kategorische, normative Handlungsmaxime weder im Koran selbst, noch in der Geschichte der Exegese bis in die Moderne als bestimmende Interpretation nachweisen lässt, werden diese beiden Analyseebenen schließlich anhand von Quṭbs Korankommentar Fī ẓilāl al-qurʾān und anderer relevanter Schriften des ägyptischen Islamisten weiterverfolgt. Diese diachrone Perspektive auf Ambiguität im Koran selbst, auf Diversität in der frühen und klassischen Exegese und der Tendenz der Ambiguitätsintoleranz bei Sayyid Quṭb soll aufzeigen, wie vielfältig und facettenreich islamische Toleranzbegriffe bezüglich Nicht-Muslimen sein können.3 Dabei soll insbesondere erläutert werden, inwiefern Quṭbs genuin politische Programmatik als oberste Prämisse die Koranhermeneutik bestimmt, in Bezug auf Andersgläubige mit den Prinzipien der traditionellen Koranexegese radikal bricht, aber dennoch oftmals als kanonische Lehrmeinung wahrgenommen wird.
2
Für einen allgemeinen Überblick zu den exegetischen Methoden Sayyid Quṭbs vgl. den Aufsatz von Muhammad Sameer Murtaza, „Sayyid Quṭbs hermeneutische Methoden und Auslegung des Qurʾāns am Beispiel der Sure al-baqara.“ In Jahrbuch für Islamische Theologie und Religionspädagik 1 (2012): 39–61.
3
Ich nehme dabei Bezug auf den Begriff der kulturellen Ambiguitätsintoleranz, den Thomas Bauer für die jüngere islamische Geschichte und insbesondere für die Koraninterpretation vorgeschlagen hat. Vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams (Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2011), 54–114.
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V ORBEMERKUNGEN ZU K ATEGORIEN VON N ICHT -M USLIMEN IM K ORAN Um der vermeintlich einfachen Frage der Verhältnisbestimmung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen im Korantext nachgehen zu können, sind einige Vorbemerkungen nötig. Da die muslimische Offenbarungsschrift nicht nach Inhalten und nur teilweise nach konsekutiven Erzählabschnitten aufgebaut ist, müssen weitere Analyseinstrumente für die Kategorisierung von Nicht-Muslimen herangezogen werden. Hierbei können zunächst Bezeichnungen für Nicht-Muslime gesammelt werden, die sich quer über den gesamten muṣḥaf verteilen. Die Chronologisierung der koranischen Abschnitte in mekkanische und medinensische Perioden zeigt darüber hinaus, dass es zu semantischen Verschiebungen kommen kann. Beispielsweise werden in frühmekkanischer Zeit mit dem Begriff kāfir (Pl. kuffār/kāfirūn), der in arabischen Wörterbüchern zumeist mit „Ungläubiger“ übersetzt wird, vor allem die polytheistischen Mekkaner bezeichnet, in Medina hingegen vorwiegend Christen und vor allem Juden. Beides erschließt sich aus dem jeweiligen Textumfeld und den gegebenen Möglichkeiten historischer Kontextualisierung.4 Es lässt sich auf diese Weise aber nicht erklären, warum für die „heidnischen Götzendiener“, die im Koran an keiner Stelle geschont werden, und die buchbesitzenden Christen und Juden, denen als ahl al-kitāb neben Verschmähung Toleranz und selbst Lob zukommt, derselbe Begriff verwendet wird. Nur wenn die Semantik der arabischen Sprache und ihre Geschichte berücksichtig werden, kann das Paradoxon, dass im Koran Christen und Juden einerseits als Ungläubige bezeichnet werden, andererseits gerade deshalb, weil sie gläubig sind, Lohn von Allah erhalten und sich nicht fürchten
4
Vgl. Walther Björkmann, „Kāfir.“ In Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., 12 Bde., hrsg. v. Clifford Edmund Bosworth et al., Bd. 4 (Leiden: Brill, 1997), 407–409 (fortan: EI2). Zur Geschichte des Begriffs im Islamischen Recht vgl. Meir Jacob Kister, „Do not assimilate yourselves…Lā tashabbahū,“ Jerusalem Studies in Arabic and Islam (JSAI) 12 (1989): 321–353, 321, Anm. 1, und Yohanan Friedmann, „Classification of Unbelievers in Sunni Muslim Law and Tradition,“ Jerusalem Studies in Arabic and Islam (JSAI) 22 (1998): 163–195.
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müssen, aufgelöst werden.5 Tatsächlich weist die arabische Sprache eine vergleichsweise große semantische Varianz innerhalb der Wortstämme auf (im Arabischen: die meist dreikonsonantigen Wurzeln), was eine Vielzahl von Konnotationen, Abstrahierungen und selbst gegenteiligen Bedeutungen innerhalb ein und derselben Grundstruktur zur Folge haben kann. 6 Außerdem sind diese Strukturen keineswegs selten, sondern sie gehören zum festen Repertoire des Sprachspiels und der Rhetorik des Arabischen. 7 Wenn also die sprachlichen Eigenheiten des Arabischen berücksichtigt werden, ergibt sich für die landläufige Identifizierung des Begriffs Unglauben mit kufr eine im Folgenden beschriebene Einschränkung. Analysiert man arabische Wörterbücher, so stellt sich heraus, dass die Kernbedeutung der arabischen Wurzel kāʾ-fāʾ-rāʾ im semantischen Feld des „Abdeckens“ oder im willentlichen Sinn des „Verbergens“ zu sehen ist.8 Diese Bedeutung lässt sich gesichert in der vor- und frühislamischen Dichtung nachweisen, in der die Dunkelheit der Nacht als „Bedecker“ (der Welt) beschrieben wird, eine Bedeutung, die sich nur schwer mit dem auf die Menschen bezogenen „Unglauben“ in Beziehung setzen lässt. In diesem Zusammenhang seien hier nur die Zeilen aus der Muʿallaqa des muḫaḍram-Dichters Labīd ibn Rabīʿa (gest. vermutlich 657 oder
5
Vgl. hierzu Q 2:62, Rudi Paret, Der Koran, 10. Aufl. (Stuttgart: Kohlhammer, 2007), 17. Die bei Paret in Klammern angegebenen Übersetzungsvarianten und Ergänzungen werden in diesem Aufsatz nur bei Bedarf zitiert.
6
Grundsätzlich gilt dies für die meisten semitischen Sprachen, deren erweiterte Verbalstämme in der Regel eine Kausativität, Intensivierung und Reflexivität bzw. Reziprozität ausdrücken. Darüber hinaus sind Konnotationen im Rahmen von Verben mit Präpositionalergänzungen häufig zu verzeichnen.
7
In diesem Zusammenhang sei auf die literarische Verarbeitung von solchen gegenteiligen Bedeutungen in sog. Kutub al-aḍdād verwiesen. Vgl. Bauer, Kultur der Ambiguität, 224–242.
8
Vgl. beispielsweise Edward Lane, An Arabic-English Lexicon, 8 Bde. (New York: Frederick Ungar Publishers, 1956), 7:2620ff., Muḥammad ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, 18 Bde. (Kairo: al-Maktaba at-tawfiqīya, o. J.), 1:130ff.; Georg Wilhelm Freytag, Lexicon Arabico-Latinum (Halle: Schwetschtke, 1837), 541; sowie Arne Ambros, A Concise Dictionary of Koranic Arabic (Wiesbaden: Reichert Verlag, 2004), 239–240.
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660/661)9 genannt: Ḥatta iḏā alqat yadan fī kāfirin, wa-aǧanna ʿaurāti-ṯṯuġūri ẓalāmuhā10 (Bis dass die Sterne ihre Hand zum kāfir strecken, und die Schwachstellen ihrer Grenzen durch ihre Dunkelheit bedeckt sind). Auch im Koran selbst findet sich ein Vers (Q 57:20), in dem sich weder aus der Satzsemantik noch dem näheren Textumfeld der Stelle die Bedeutung von kuffār als Ungläubige in den weiter oben diskutierten Bedeutungen ergibt,11 eine Problematik, die bereits Gelehrten wie Muḥammad ibn Qutayba (gest. 889) oder Abū l-Qāsim az-Zamaḫšarī (gest. 1144) bewusst war. 12
9
Zur Person allgemein vgl. Fuat Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, 15 Bde. (Leiden: Brill, 1967–2010), 2:126–127 sowie zu Leben und Werk Agnes Imhof, Religiöser Wandel und die Genese des Islam: Das Menschenbild altarabischer Panegyriker im 7. Jahrhundert (Würzburg: Ergon, 2004), 59–62.
10 Vgl. hierzu mit weiteren Belegen Ignaz Goldziher, Mythology Among the Hebrews (London: Longmans, Green and Co., 1877), 193. 11 „Aʿlamū annamā-l-ḥayawātu-d-dunyā laʿibun wa-lahwun wa-zīnatun watafāḫurun baynakum wa-takāṯurun fī l-amwāli wa-l-awlādi ka-maṯali ġayṯin aʿǧaba-l-kuffār nabātuhu“. Vgl. Ǧāmiʿa al-Azhar, Maǧmaʿ al-buḥūṯ al-islāmīya, al-Idāra al-ʿāmma li-l-buḥūṯ wa-t-taʾlīf wa-t-tarǧama, Hrsg., al-Qurʾān al-karīm (Kairo: Maṭābiʿ zamzam, 2010), 540. 12 Auch wenn in dem Vers eschatologische Themen behandelt werden, ist eine Zuordnung des Begriffs kuffār zum sonst landwirtschaftlichen Kontext angezeigt. Vgl. Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-qurʾān, 25 Bde. (Kairo: Markaz al-buḥūṯ wa-d-dirasāt al-ʿarabīya wa-l-islāmīya 2001), 22:416–417, Abū Muḥammad ibn Qutayba, Tafsīr ġarīb al-qurʾān (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1978), 28; oder Abū l-Qāsim az-Zamaḫšarī, Al-Kaššāf ʿan ḥaqāʾiq at-tanzīl, hrsg. v. Ḥusayn Ḫādim, 2 Bde. (Kalkutta: Lees, 1856), 2:1452, der eine Verbindung zum Aussäen (zaraʿa) der Bauern angibt (qīl alkuffār az-zurrāʿ). Zu den Personen vgl. Gérard Lecomte, Ibn Qutayba (mort en 276/889); l'homme, son oeuvre, ses idées (Damaskus: Institut Français de Damas, 1965), Sezgin, Geschichte, 1:323–328 und Carl Brockelmann, Geschichte der arabischen Literatur, 4 Bde., 2. Aufl. (Leiden: Brill, 1937–1949), 1:344– 350.
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Wie der japanische Orientalist und Koranwissenschaftler Toshihiko Izutsu (1913–1993) gezeigt hat13, hat die ursprüngliche Bedeutung der Wurzel kāʾ-fāʾ-rāʾ mit dem Erhalt von Begünstigungen zu tun, für die man sich nicht erkenntlich zeigt, also seinen Dank „verbirgt“. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass diese Konnotation, die Izutsu im Begriff Undankbarkeit zusammenfasst, zunächst keinen religiösen Hintergrund hat. Untersucht man nun im Koran die Bedeutung der Wurzel kāʾ-fāʾ-rāʾ in ihren verbalen und substantivischen Formen in ihrem jeweiligen Textumfeld, so kommt man zu einer Lesart, die diesen Begriff der Undankbarkeit untrennbar mit Allah verbindet. Izutsu argumentiert hier mit einer eigenen Übersetzung von Vers 14:28: „A-lam tara ilā-llaḏīna baddalū niʿmata-llāhi kufran waaḥallū qaumahum dāra-l-bawāri.“14 („Hast thou not seen those who paid back God’s favors with ungratefulness (kufr), and induced their people to dwell in the abode of perdition?“).15 Dieses Beispiel soll einleitend zeigen, welchen Interpretationsspielraum viele Begriffe des Korans unabhängig von exegetischen Bemühungen in sich tragen. Will man die Bandbreite an Bedeutungen im Rahmen der hier angestrebten Untersuchung von kāfir (Pl. kuffār/kāfirūna) als Bezeichnung für einen Typus von Nicht-Muslimen im Koran zusammenfassen, kommt man zu folgendem Ergebnis. In medinensischer Zeit werden mit dem Begriff vorwiegend Juden und Christen bezeichnet, in mekkanischer Zeit meist Götzendiener, also in beiden Fällen Nicht-Muslime. Es ergibt sich jedoch auch die Möglichkeit, dass mit dem Begriff nicht Unglauben, sondern eine Undankbarkeit gegenüber Gott gemeint ist. Diese Akzentuierung des Begriffs kufr wirft jedoch die Frage auf, ob die Gleichsetzung des Begriffs der Undankbarkeit Gott gegenüber mit dem Unglauben theologisch zulässig ist, und damit ob die kuffār in unserem Zusammenhang tatsächlich umstandslos als Nicht-Muslime gelten können. Eine weitere Gruppe, die der Kategorie der Nicht-Muslime im Koran zugeordnet werden kann, sind die ṣābiʾūna, die auf Deutsch meist mit dem Begriff Sābier wiedergegeben werden. Dabei weist eine semantische Wortfeldanalyse nicht wie im vorangegangenen Beispiel auf Konnotationen der
13 Vgl. Toshihiko Izutsu, Ethico-Religious Concepts in the Qurʾān (Montreal: McGill University Press, 1966), 41. 14 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 259. 15 Izutsu, Concepts, 121.
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arabischen Wurzel ṣād-bāʾ-alif, sondern eher auf einen fremdsprachlichen Eigennamen hin.16 Hierfür spricht auch eine Analyse der insgesamt drei Koranverse 2:62, 5:69 und 22:17, an denen die Sābier genannt werden, und zwar stets als Substantiv im Plural. Alle diese Stellen haben eschatologischen Charakter und sind Teil von Mahnreden, in denen im Hinblick auf das Jüngste Gericht zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen unterschieden wird.17 Die Sābier sind also als kleine Gruppe in den größeren Kontext der koranischen Eschatologie einzubetten und in diesem Zusammenhang als Nicht-Muslime anzusehen. Nachdem nun die zwei sprachlich schwierigen Begriffe kāfir (Pl. kuffār/kāfirūna) und ṣābiʾūna geklärt wurden, können wir uns den semantisch und sprachlich eindeutigeren weiteren Kategorien von NichtMuslimen im Koran zuwenden. Einen Sonderfall stellen dabei die Zoroastrier dar. So klar die koranische Benennung al-maǧūs als Fremdwort altiranischen Ursprungs identifiziert werden kann, so schwierig verhält es sich mit weiteren Analyseebenen der innerkoranischen, sprachlichen oder historischen Kontextualisierung, da der Begriff nur an der oben genannten Stelle in Vers 22:17 vorkommt. Dennoch ist eine sprachhistorische Zuordnung des Begriffs zu den Anbetern oder Priestern Zoroasters und damit zu NichtMuslimen deutlich angezeigt. 18 Etwas anders verhält es sich bezüglich der Juden, die im Koran begrifflich in verschiedenen Formen vorkommen, die einerseits semantisch und
16 Vgl. hierzu Josef Horovitz, Koranische Untersuchungen (Berlin: De Gruyter, 1926), 121f.; Ambros, Dictionary, 309; sowie Hans Heinrich Schaeder, „Die Kantäer,“ Die Welt des Orients 4 (1950): 288–298, 290. 17 Hierfür sprechen zudem aus syntaktischer Sicht die nahezu identischen Anfänge der Verse. Auch das häufige elliptische Vorkommen der restlichen Sätze der Āya in eschatologischen Narrativen im Koran unterstützt diese Ansicht (falahum aǧruhum ʿinda rabbihim wa-lā ḫaufun ʿalayhim wa-lā hum yaḥzanūna in Q 2:112, Q 2:262, Q 2:274 und Q 2:277 sowie der Satzteil wa-lā ḫaufun ʿalayhim wa-lā hum yaḥzanūna in Q 2:38, Q 3:170, Q 5:69, Q 6:48, Q 7:35, Q 7:49, Q 10:62, Q 41:30, Q 43:68 sowie in Q 46:13). 18 Vgl. Michael Morony, „Madjūs.“ In EI2, 5:1110; Francis Steingass, A Comprehensive Persian-English dictionary, including the Arabic words and phrases to be met with in Persian literature (London: Routledge, 1892), 1179 und Mary Boyce, A History of Zoroastrianism, 3 Bde. (Leiden: Brill, 1975–1991), 1:251.
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andererseits historisch differenziert werden können. 19 Am häufigsten werden Juden im Koran mit der Bezeichnung Banū Isrāʾīl (Stamm Israels/Kinder Israels) beschrieben. Die insgesamt 40 Stellen rekurrieren aber zumeist auf religionsgeschichtliche jüdisch-christliche Narrative (insbesondere auf die Moses-Erzählung), was sich an ihrem elliptischen, also immer wiederkehrenden Vorkommen im Rahmen der eschatologischen Erzählungen des Korans festmachen lässt. 20 Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass diese Passagen des muṣḥaf weder historisch mit den jüdischen Stämmen Medinas, noch universell-apologetisch mit dem Judentum als Religion kontextualisiert werden können. Weiterhin werden Juden im Koran durch die arabische Wurzel hāʾ-wāw-dāl beschrieben.21 Dabei lassen sich auf substantivischer Ebene die Formen Yahūd und Hūd und auf verbaler Ebene die Form hāda unterscheiden. Die acht Verse, in denen der Koran von Yahūd spricht, lassen sich aufgrund des Textumfelds, der Textart und der Periodisierung des Korans der medinensischen Zeit zuordnen, in denen Muhammad gegen seine zeitgenössischen jüdischen Antagonisten von den drei Stämmen der Banū n-Naḍīr, der Banū Qaynuqāʿ und der Banū Qurayẓa agierte.22 Sicherlich handelt es sich hierbei in allen Fällen um apologetische Rede. Ob damit aber statt den zwischen 622 und 63223 in Medina
19 Aus der Menge der einführenden Literatur seien verwiesen auf Johan Bouman, Der Koran und die Juden: Die Geschichte einer Tragödie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990); Uri Rubin, Between Bible and Qurʾān: The Children of Israel and the Islamic Self-Image, Studies in Late Antiquity and Early Islam 17 (Princeton: Darwin Press, 1999) und Karl-Josef Kuschel, JudenChristen-Muslime: Herkunft und Zukunft (Düsseldorf: Patmos, 2007), 78–113. 20 Vgl. Muḥammad Abū n-Nīl, Banū isrāʾīl fī l-qurʾān al-karīm. 2. Aufl. (Kairo: Dār al-fikr al-islāmī, 1988); und Hamed Khani et al., „Banū Isrāʾīl.“ In Encyclopaedia Islamica, hrsg. v. Wilferd Madelung et al. (Leiden: Brill Online, 2015). 21 Ṣalāḥ Abū Ismāʿīl, Al-Yahūd fī l-qurʾān al-karīm (Kairo: Dār aṣ-ṣaḥwa, 1989). 22 Vgl. Q 2:120, Q 5:18, Q 5:51, Q 5:64, Q 9:30 und Q 5:82, wobei in derselben Āya die Christen gelobt werden. Q 3:67 bezieht sich auf den biblischen Kontext der Abrahamsgeschichte, der aber wiederum in eine Apologie gegen ahl al-kitāb (Q 3:64ff.) eingebettet ist; ähnlich (wenn auch in anderem Ton) verhält es sich mit Q 2:113 und dem Textumfeld der Stelle ab Q 2:109. 23 Für Datumsangaben wird die christliche Zeitrechnung nach gregorianischem Kalender verwendet.
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ansässigen Juden das Judentum und damit die jüdische Religion gemeint ist, darf zumindest stark bezweifelt werden. Ebenso verhält es sich mit den drei medinensischen Versen, in denen Hūd (in Abgrenzung zum Eigennamen des koranischen Propheten Hūd) vorkommt.24 Schließlich verbleibt als Bezeichnung für Juden noch das Verb hāda, das sich an elf Koranstellen findet, an zehn Stellen identisch in der Relativkonstruktion allaḏīna hādū, die sich sehr einheitlich mit „denjenigen, die Juden waren oder sind“ übersetzen lassen.25 Umso schwieriger zu deuten ist gerade vor diesem Hintergrund die einzige Stelle, an der das Verb in einer anderen Form vorkommt, nämlich in Vers 7:156, in der die an Allah gerichtete Bittrede Moses um Vergebung und Barmherzigkeit mit dem Satz inna hudnā ilayka endet. Da sich hier keine im Satzgefüge schlüssige Konnotation des Verbs mit Präpositionalergänzung anbietet, erscheint der Satz wörtlich in reiner fuṣḥā gelesen mit dem Objektbezug auf Allah semantisch unklar. Zusätzlich erschwert wird die Interpretation auch deshalb, weil keine weiteren Referenzstellen im Koran mit dieser Präpositionalergänzung existieren. Wenn also oben gezeigt werden konnte, inwiefern die sprachliche Analyse den Interpretationsspielraum innerhalb des Korantextes erweitern kann, zeigt das vorliegende Beispiel auch die methodischen Grenzen dieses Vorgehens auf. 26 Etwas einfacher verhält es sich mit den Nennungen der Christen im Koran, nicht zuletzt deshalb, weil die Herkunft der wichtigsten Bezeichnung, an-naṣārā (sing. an-naṣrānī), mit Ausnahme weniger Kommentatoren, als Fremdwort höchstwahrscheinlich aus dem syro-aramäischen Sprachraum
24 Vgl. die ausführliche Diskussion bei Simon Hopkins, „On the Word for ‘Jew(s)’ in Arabic.“ In Dhimmis and others. Jews and Christians in the World of Classical Islam, Israel Oriental Studies 17, hrsg. v. Uri Rubin et al. (Tel Aviv: Tel Aviv University Press, 1997), 11–28. 25 Vgl. Q 2:62, Q 4:46, Q 4:160 mit Verweis auf spezifisch jüdische Verbote, sowie Q 5:41, Q 5:44, Q 5:69, Q 6:146, Q 7:156, Q 16:118, Q 22:17 und Q 62:6. 26 Zudem könnte man von semitistischer Seite Hinweisen nachgehen, dass es sich bei der arabischen Verbalform hāda um ein Derivat eines ursprünglich hebräischen oder aramäischen Fremdwortes handelt, welches somit anderen morphosyntaktischen Gesetzmäßigkeiten folgen würde. Vgl. Hopkins, „‘Jew(s)’ in Arabic,“ 12f. und Rudi Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz. 5. Aufl. (Stuttgart: Kohlhammer, 1993), 175–176.
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weitgehend anerkannt ist. 27 Ein Zusammenhang mit der arabischen Wurzel nūn-ṣād-rāʾ (Grundbedeutung helfen), wie von diesen Exegeten beispielsweise für die anṣārī ilā-llāh in den Versen 3:52 und 61:14 angenommen, erscheint aus grammatischen und sprachwissenschaftlichen Gründen wenig wahrscheinlich. Die 14 Verse, an denen an-naṣārā im Koran genannt werden sind ebenso wie die einzige Stelle, an der der Singular an-naṣrānī benutzt wird – ob in der Aussage negativ oder positiv – alle konkret Christen zuzuordnen.28 Ebenso verhält es sich mit der Bezeichnung von Christen mit dem Begriff ahl al-inǧīl, die an nur einer Stelle in Vers 5:47 vorkommt. Auch hier liegt eindeutig ein Fremdwort vor, das sich von dem griechischen evangelion ableitet, wobei nicht exakt geklärt ist, über welche sprachlichen Zwischenstufen das Wort ins Arabische einging. 29 Auch die erzählerische Einbettung des Begriffs in die Geschichte Jesu als Träger des Evangeliums weist auf eine Zuordnung zum Begriff Christen hin. Genau gegenteilig verhält es sich mit der Kontextualisierung der koranischen naṣārā zu historisch im Einflussgebiet Muhammads nachweisbaren christlichen Konfessionen oder Sekten. Zu dieser Frage existiert – im Kontrast zu verschiedenen Stellen die Juden und die Mušrikūn betreffend – in der Forschung nach wie vor kein einheitliches Bild.30
27 Aus der Fülle von Literatur sei verwiesen auf Mahdī Bāzargān, Und Jesus ist sein Prophet: Der Koran und die Christen (München: C. H. Beck, 2006), 37–90 und Jane Dammen McAuliffe, Qurʾānic Christians: An Analysis of Classical and Modern Exegesis (Cambridge: Cambridge University Press, 1991). 28 Vgl. Muḥammad ʿAbd al-Bāqī, Al-Muʿǧam al-mufahras li-alfāẓ al-qurʾān alkarīm (Beirut: Dār al-fikr, 1995), s. v. n-ṣ-r. 29 Hierbei erscheinen entweder das Syro-Aramäische oder das Amharische am plausibelsten. Vgl. Arthur Jeffery, The Foreign Vocabulary of the Qurʾān, Gaekwad’s Oriental Series 79 (Baroda: Oriental Institute, 1938), 71–72; Elsaid Badawi et al., Dictionary of Qurʾānic Usage, Handbook of Oriental Studies 85 (Leiden: Brill, 2008), 56–57 sowie Ambros, Dictionary, 314. 30 Dies betrifft die Frage christlicher Präsenz vor allem in Mekka, aber auch Medina und dem Ḥiǧāz insgesamt, und deren Einfluss auf Muhammad zu Lebzeiten. Zur Präsenz teilweise oder vollständig christlicher arabischer Stämme, des nestorianischen, monophysitischen, äthiopischen und byzantinischen Christentums sowie gnostischer und weiterer christlicher Gruppierungen auf der arabischen
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Die Mušrikūn, in älterer Forschung oft nicht ganz zutreffend als Anhänger eines einheitlichen altarabischen Polytheismus beschrieben, kommen schließlich in verbalen, substantivischen und partizipialen Formen der arabischen Wurzel šīn-rāʾ-kāf an 168 Stellen im Koran vor, weshalb eine eingehende Analyse den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde.31 Dennoch
Halbinsel des beginnenden siebten Jahrhunderts vgl. Barbara Finster, „Arabien in der Spätantike. Ein Überblick über die kulturelle Situation der Halbinsel in der Zeit von Muhammad,“ Archäologischer Anzeiger (1996), 287–319, hier 295; John Trimingham, Christianity Among the Arabs in Pre-Islamic Times (London: Longman, 1979), 71–86; Wolfgang Hage, Das Orientalische Christentum (Stuttgart: Kohlhammer, 2007), 42–44 und 200–221; Marijke Metselaar, Die Nestorianer und der frühe Islam. Wechselwirkungen zwischen den ostsyrischen Christen und ihren arabischen Nachbarn (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009), 39–50; und Philip Wood, „We Have No King but Christ“. Christian Political Thought in Greater Syria on the Eve of the Arab Conquest (C. 400–585) (New York: Oxford University Press, 2011), 132–256. Zu christlichem Eremitentum und Klöstern vgl. ʿIrfān Šahīd, Byzantium and the Arabs in the Fifth Century (Washington: Dumbarton Oaks Trustees for Harvard University, 2006), 510–512 sowie den Aufsatz von Edmund Beck, Das christliche Mönchtum im Koran, Studia Orientalia 13, 3 (Helsinki: Societas Orientalis Fennica, 1946). 31 Grundsätzlich sei darauf verwiesen, dass nach aktuellem Forschungsstand für die Großregion Nord- und Zentralarabien nicht von einer dominierenden polytheistischen Religion, sondern eher von mehreren verschiedenen überregionalen Kulten auszugehen ist, die allerdings religionssystematisch vergleichbar sind. Für den Ḥiǧāz und vor allem für Mekka mehren sich in rezenter Forschung die Anzeichen für einen dominierenden Henotheismus. Vgl. hierzu Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang (Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2010), 332–393, insbesondere 337– 338; Imhof, Religiöser Wandel, 51–57; sowie allgemein Gerald Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History, Cambridge Studies in Islamic Civilisation (Cambridge: Cambridge University Press, 1999). Die Quellenlage zu vor- und frühislamischen Hochgötterkulten ist insgesamt aus religionshistorischen Gründen als schwierig einzustufen. Vgl. hierzu Rosa Klinke-Rosenberger, Das Götzenbuch Kitâb Al-Aṣnâm des Ibn al-Kalbî (Leipzig: Harrassowitz, 1942), 37–38; Julius Wellhausen, Reste arabischen
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sind auch hier sprachliche, syntaktische und historische Kontextualisierungen möglich, die kurz umrissen sein sollen. Die am weitesten verbreitete Bedeutung von „Beigesellung“, namentlich weiterer Gottheiten zu Allah, ist unzweifelhaft eine kausativische Konnotation der Grundbedeutung „teilhaben“, die nicht unbedingt etwas mit der Götzendienerschaft der (vor allem mekkanischen) Zeitgenossen Muhammads oder weiter gefasst dem Polytheismus zu tun haben muss. Dies zeigt sich beispielsweise in der Rede Allahs an Iblīs in Vers 17:64 oder in den Höllenstrafen, die die Ungläubigen gemeinsam in den Versen 37:33 und 43:39 erleiden müssen.
Z UM B ILD DER N ICHT -M USLIME IN DER K ORANINTERPRETATION S AYYID Q UṬBS Gerade die im Vorangegangenen dargestellten, aus dem Korantext selbst erschließbaren Unterscheidungen wurden und werden vor allem in modernen Tafāsīr wie auch in der Rhetorik islamistischer Bewegungen immer wieder negiert, um religiös untermauerte apologetische und polemische Argumente zu konstruieren. Die Koraninterpretation Sayyid Quṭbs stellt dabei in Bezug auf Nicht-Muslime sicherlich die Auslegung dar, die den dominierenden Einfluss auf islamistische Kräfte ausübte. Während der politischen Programmatik Quṭbs viel Beachtung geschenkt wurde, trifft dies für die hermeneutischen Prinzipien, auf denen der Muslimbruder seine Koranauslegung aufbaute, weniger zu.32
Heidentums. 2. Aufl. (Berlin: De Gruyter, 1927), 33–34; Gerald Hawting, „The Literary Context of the Traditional Accounts of Pre-Islamic Idolatry,“ Jerusalem Studies in Arabic and Islam (JSAI) 21 (1997): 21–41; Francis Peters, Muhammad and the origins of Islam, State University of New York Series in Near Eastern Studies (Albany: State University of New York Press, 1994), 109; Sergio Noja, „Le religioni dell’Arabia preislamica.“ In Storia delle Religioni, 5 Bde., hrsg. v. Giovanni Filoramo (Rom: Laterza 1994–1997), 3:101–122; sowie die Studie von Susanne Krone, Die altarabische Gottheit al-Lāt, Heidelberger Orientalistische Studien 23 (Frankfurt am Main: Peter Lang, 1992), insbesondere 163–240. 32 Vgl. Sabine Damir-Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption (Würzburg: Ergon, 2003), 179–
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Dass in der klassischen Koranexegese verschiedener Richtungen genau zur Frage der Nicht-Muslime unterschiedliche Meinungen existierten, die Gelehrten aber die beschriebenen Ebenen historischer Kontextualisierung und Apologetik in der Regel zu trennen wussten, findet dabei selten Beachtung. Vielleicht ist es daher hilfreich, mit Thomas Bauer von einer ursprünglichen Ambiguitätstoleranz zu sprechen, die sich mit dem Einzug der (westlichen) Moderne in die arabische Welt, also durch einen kulturellen Fremdeinfluss, zur Ambiguitätsintoleranz entwickelt hat.33 Ein Beispiel für unterschiedliche Auslegungen vornehmlich negativer Aussagen der Offenbarungsschrift über Nicht-Muslime und ihre Einengung auf eine bestimmte letztgültige Interpretation in der Moderne stellt die Deutung der Verse 2:87 und 88 bei Sayyid Quṭb dar. Dort heißt es: Wa-la-qad ātaynā Mūsā-l-kitāba wa-qaffaynā min baʿdihi bi-r-rusuli wa-ātaynā ʿĪsā ibn Maryama-l-bayyināti wa-ayyadnāhu bi-rūḥi-l-qudusi a-fa-kulla-mā ǧāʾakum rasūlun bi-mā lā tahwā anfusukumu-stakbartum fa-farīqan kaḏḏabtum wa-farīqan taqtulūna. (87) Wa-qālū qulūbunā ġulfun bal-laʿanahumu-llāhu bi-kufrihim faqalīlan mā yuʾminūna. (88)34 (Wir haben doch dem Mose die Schrift gegeben und nach ihm die Gesandten folgen lassen. Und wir haben Jesus, dem Sohn der Maria, die klaren Beweise gegeben und ihn mit dem heiligen Geist gestärkt. Aber waret ihr denn nicht jedes Mal, wenn ein Gesandter euch etwas überbrachte, was nicht nach eurem Sinne war, hochmütig und erklärtet ihn für lügnerisch oder brachtet ihn um? (87) Und sie sagten: Unsere Herzen sind unbeschnitten. Aber nein! Gott hat sie für ihren Unglauben verflucht. Darum sind sie so wenig gläubig. (88)35
Will man die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte dieser Verse knapp zusammenfassen, so lässt sich zunächst festhalten, dass hierbei verschiedene hermeneutische Prinzipien zum Einsatz kamen, darunter in der Frühphase beispielsweise intratextuelle und narrative, in der klassischen Phase vor allem traditions-(ḥadīṯ-)zentrierte, aber auch so genannte rationalistische
202, insbesondere 190–202 und Murtaza, Methoden und Auslegung, der allerdings in seiner Übersicht (41–49) den Sonderfall der Nicht-Muslime nicht berücksichtigt. 33 Vgl. Bauer, Kultur der Ambiguität, 54–114. 34 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 13. 35 Vgl. Paret, Koran, 19–20.
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ebenso wie philosophische oder mystische Ansätze. Man muss also von einer Vielzahl unterschiedlicher hermeneutischer Herangehensweisen sprechen; ebenso verschieden und facettenreich sind die Ergebnisse dieser Interpretationen anzusehen. Bei frühen und klassischen Koranexegeten dominiert in Bezug auf den ersten Vers 2:87 interessanterweise die Darstellung der unterschiedlichen Opfergruppen,36 während die religionshistorische Dekontexualisierung und die wortwörtliche „Dämonisierung“ der Juden nur in Einzelfällen zu finden ist.37 In den enzyklopädischen Werken der klassischen Phase wurden entsprechend der kompilatorischen Herangehensweise zumeist alle bis dato auffindbaren Meinungen zu den Koranversen gesammelt, was nicht selten zu einem widersprüchlichen Bild führte, das die Autoren oft nicht weiter bewerteten. Anders gingen die so genannten rationalistischen Koraninterpreten, allen voran die Schule der Muʿtazila vor, wobei die hier behandelte Stelle ein treffendes Beispiel für diese Herangehensweise darstellt, die von der Erschaffenheit des Offenbarungstextes ausgeht. 38 Das letzte Wort des sonst durchgehend im Perfekt stehenden Verses fa-farīqan kaḏḏabtum wafarīqan taqtulūna steht im Imperfekt. Geht man mit der Mehrheit der traditionellen Koranexegeten davon aus, dass der Koran ein unerschaffenes Abbild des unveränderlichen Wort Gottes ist, erscheint eine Erklärung dieses
36 So beispielweise bei ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gest. 687 oder 688) und Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭabarī (gest. 923). Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 2:226; und Yousef Meri, Tanwīr al-Miqbas min Tafsīr Ibn ʿAbbas (Amman: Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, 2007), 15. 37 Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 722) bringt den Hochmut der Juden in diesem Vers mit der Arroganz von Iblīs in Verbindung, den er als den Führer der Juden bezeichnet. Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 2:226. 38 Vgl. hierzu Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 6 Bde. (Berlin: De Gruyter, 1991–997), 4:179–227, und Sabine Schmidtke, „Neuere Forschungen zur Muʿtazila,“ Arabica. Journal of Arabic and Islamic Studies 45 (1998): 379–408, und Thomas Hildebrandt, Neo-Muʿtazilismus? Intention und Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam, Islamic Philosophy, Theology and Science 71 (Leiden: Brill, 2007), 353– 417.
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plötzlichen Tempuswechsels schwierig. Az-Zamaḫšarī schreibt hierzu: „Allah sagte nicht ‚getötet‘ hier, denn die Juden würden immer noch in der Zukunft versuchen, den Propheten mit Gift und Magie zu töten.“39 Diese Interpretation weicht nun von der Traditionslinie ab, beinhaltet eine zeitliche Dekontextualisierung und ein klares Urteil über die negative Motivation der Juden. Freilich könnte man, ebenfalls ausgehend von der Erschaffenheitsprämisse, argumentieren, dass der Wechsel an dieser Stelle schlicht und ergreifend der sprachlichen Struktur des zu Anfang nur mündlich vorgetragenen Korans geschuldet sei, genauer gesagt, dass sich die Imperfektendung im Gegensatz zur Perfektendung des Verbs an dieser Stelle genau in das Schema der koranischen Reimprosa (saǧʿ) einfügt. Man kann also in Bezug auf Vers 2:87 Folgendes feststellen. Es existieren verschiedene Interpretationen, aus denen zwei Tendenzen hervorstechen: eine religionshistorische Kontextualisierung und eine generelle – historisch dekontextualisierte – negative Bewertung der Juden als (Religions-) Gemeinschaft. Diese beiden Tendenzen lassen sich aber nicht dezidiert an bestimmten Methoden und Schulen oder Personen und Gruppen wie etwa den salaf aṣ-ṣāliḥ oder den Muʿtaziliten festmachen.
U NIVERSALISMUS UND HISTORISCHE D EKONTEXTUALISUNG ALS HERMENEUTISCHE G RUNDPRINZIPIEN Interessanterweise wird bei Sayyid Quṭbs Interpretation der Stelle in seinem exegetischen Hauptwerk Fī ẓilāl al-qurʾān zwar die nicht zeitgebundene, gewissermaßen universelle Verurteilung der Juden inhaltlich aufgegriffen. Darüber hinaus wird aber auf jeden weiteren Rekurs auf hermeneutische Prinzipien und Methoden, islamische Denkschulen oder einzelne einflussreiche Exegeten bewusst verzichtet, was ein hermeneutisches Grundmerkmal der meisten modernen muslimischen Korankommentare darstellt.40 39 Az-Zamaḫšarī, al-Kaššāf, 1:685. 40 Vgl. hierzu Stefan Wild, Mensch, Prophet und Gott im Koran. (Münster: Rhema, 2001); P. J. Lewis, „The Qurʾān and Its Contemporary Interpretation,“ alMushir 24 (1982): 133–44; und Rotraud Wieland, „Exegesis of the Qurʾān: Ear-
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Quṭb sieht im ersten Teil des Verses eine bewusste Anspielung Allahs auf die Geschichte der Israeliten, die aber für alle Muslime Gleichnischarakter haben soll. So seien die alttestamentlichen jüdischen Gemeinschaften Beispiele für die ethnozentristischen, nationalistischen oder sektiererischen Motive, die in korrupten Gesellschaften aufträten.41 Allah erzähle diese Geschichten als Warnung an alle Muslime, allerdings nicht nur vor den beschriebenen negativen Charaktereigenschaften und ihren gesellschaftlichen Folgen, sondern: „ḥattā lā taslub minhum al-ḫilāfa fī l-arḍ wa-l-amānallatī nāṭahā bihimi-llāhi“42 (Zu dem Zweck, dass sie nicht des Kalifats [der Nachfolge und Stellvertretung der Herrschaft des Propheten Muhammad] und der Aufgabe, mit der Allah sie beauftragt hat, beraubt werden). Diese Schlüsselstelle illustriert eine der Grundlinien der politischen Programmatik Quṭbs, die die Vorherrschaft des Islam vor anderen Religionen als gottgegeben voraussetzt. Dieser Anspruch lässt sich jedoch nicht in einer universellen Form aus dem Koran ableiten, auch wenn dort in Vers 3:110 von der Umma als der besten aller Gemeinschaften die Rede ist. Was sich aber dem politischen Konzept, das dem tafsīr Quṭbs zugrunde liegt entnehmen lässt, ist die Konstruktion eines gottgegebenen globalen Führungsanspruchs der Muslime, der durch Fremdeinflüsse bedroht sei und verteidigt werden müsse. Neben dem grundsätzlich chauvinistischen Unterton unterstreichen die zahlreichen antisemitischen Aussagen in seinem Werk diese Tendenz. Diese universalistische Koraninterpretation und vor allem deren inhärente historische Dekontextualisierung zeigt sich allerdings nicht nur in Quṭbs großem Korankommentar, sondern auch in kürzeren Abhandlungen und Essays. Hierbei tritt auch klar zu Tage, dass Quṭb mit seiner Koraninterpretation gegenwartsbezogene politische Ziele und damit ein teleologisches Erkenntnisinteresse verfolgte.43
ly Modern and Contemporary.“ In Encyclopaedia of the Qurʾān, hrsg. v. Jane Dammen McAuliffe et al. (Leiden: Brill Online, 2015, fortan: EQ). 41 Sayyid Quṭb, Fī ẓilāl al-qurʾān, 8 Bde. (Beirut: Dār iḥyāʾ at-turāṯ al-ʿarabī, 1971), 1:85. 42 Ebd., 86. 43 Zum Universalismus bei Sayyid Quṭb vgl. Sayed Khatab, The Power of Sovereignty. The Political and Ideological Philosophy of Sayyid Qutb, Routledge Studies in Political Islam 3 (London: Routledge, 2006), 56–64.
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Einen Schlüsseltext stellt hierbei die Schrift Maʿrakatunā maʿa-l-yahūd („Unser Kampf mit den Juden“) dar, die Sayyid Quṭb Anfang der 1950er Jahre vor dem Hintergrund des Krieges von 1948, der Vertreibung der Palästinenser und der Gründung des Staates Israels verfasste. Quṭb beschreibt hier neben der gottgegebenen überzeitlichen Sublimität der Muslime die Juden als deren ebenso überzeitlichen Antagonisten, die den Islam seit der Schaffung des islamischen Staates in Medina mit Feindschaft konfrontiert hätten.44 Betrug und Intrigen seien die Mittel der Juden, unter denen die muslimische Gemeinschaft seit jeher leide.45 Mehr noch: es handele sich um einen Krieg, der seit fast vierzehn Jahrhunderten nicht erloschen sei, und dessen Flammen in allen Ecken der Erde loderten. 46 Dieser Kampf zwischen Islam und Judentum würde ewig weiter andauern, denn die Juden würde nur die Zerstörung des Islam zufriedenstellen.47 Diese Ausführungen lassen sich weder religions- noch koranwissenschaftlich begründen. Dennoch zeigt sich in der Analyse der Rhetorik und des Duktus der Schrift, dass es Quṭb gelingt, politisch motivierten Antisemitismus, der den Antizionismus als Ziel hat, in die Sprache und den Duktus des Korans zu kleiden.48 Damit wird ein scheinbar schöpfungsinhärentes, überzeitlich-universelles Geschichtsbild konstruiert, das in einfacher Sprache ein auch für Laien leicht verständliches Ziel formuliert: Die Juden sind die ewigen Feinde der direkt angesprochenen muslimischen Adressaten des Textes. Daher ist auch „Unser Kampf“ ewig, und entsprechend sind die Maßnahmen in dem Konflikt zu wählen und die Feinde zu behandeln.
44 Der Text wurde 1970 in einer Sammlung verschiedener kleinerer Schriften Quṭbs unter dem Titel „Maʿrakatunā maʿa l-yahūd“ herausgegeben. Vgl. Zayn ad-Dīn ar-Rakkābī, Hrsg., Maʿrakatunā maʿa l-yahūd (Dschidda: The Government Writer, 1970), 55. Eine englische Übersetzung findet sich in Ronald Nettler, Past Trials and Present Tribulations. A Muslim Fundamentalist’s View of the Jews, Studies in Antisemitism (Oxford: Pergamon, 1987), 72–89. Für die aktuellste Ausgabe vgl. Sayyid Quṭb, Maʿrakatunā maʿa l-yahūd, 10. Aufl. (Kairo: Dār aš-šurūq, 1989). 45 Ar-Rakkābī, Hrsg., Maʿrakatunā, 41. 46 Ebd., 55–56. 47 Ebd., 61. 48 Im weiteren Verlauf des Textes finden sich verschiedene Ausführungen bezüglich einer weltweiten zionistischen Verschwörung. Vgl. ebd. 49–50 und 58–59.
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H IERARCHISIERUNG VON N ICHT -M USLIMEN UNTER DEM P RIMAT POLITISCHER P ROGRAMMATIK Diese Feindschaft leitet Quṭb aus der in seinen Augen eindeutigen Aussage Allahs in Vers 5:82 ab, in der es heißt: la-taǧidanna ašadda-n-nāsi ʿadāwatan li-llaḏīna āmanū-l-yahūda wa-llaḏīna ašrakū49 („Wahrlich, du wirst finden, dass die Menschen, die den Gläubigen am feindlichsten gesinnt sind, die Juden sind und die, die beigesellen“).50 Da diese Stelle letztlich das Hauptargument Quṭbs für seine antisemitische Geschichtsperzeption liefert, lohnt es sich, dessen Stichhaltigkeit auf koranwissenschaftlicher Ebene nachzuprüfen. Zunächst einmal soll festgehalten werden, dass die Juden hier an erster Stelle vor „denjenigen, die beigesellen“ genannt werden, dies aber aus arabistisch-linguistischer Perspektive keine Wertung darstellen muss. Die „feindseligsten der Leute“ können also satzsemantisch gleichermaßen bei Juden und (in diesem Fall mekkanischen) Mušrikūn zu finden sein.51 Interpretiert man die angeführte Stelle wie Quṭb universalistisch, so müsste man zudem in Betracht ziehen, dass die Juden insgesamt im Koran und mehr noch in der Koranexegese als ahl al-kitāb deutlich weniger negativ bewertet werden als die Mušrikūn. Quṭb geht zwar auf diese Inkohärenz ein, allerdings mit dem wenig überzeugenden Argument, dass gerade diese Stelle ein Beweis dafür sei, dass die Juden trotz ihres Status als Buchbesitzer zu den schlimmsten Feinden der Muslime gehörten. Dieser Status würde nicht die existierende Realität ändern – eine weitere, wenn auch weniger deutliche Referenz auf die politische Situation der damaligen Gegenwart. 52 Weiterhin muss angemerkt werden, dass dieser medinensische Vers von Quṭb unvollständig wiedergegeben wird. Die Selektivität hat ihren Grund, denn der Satz enthält nicht nur ein negatives Urteil über Nicht-Muslime, in diesem Fall Juden und Mušrikūn, sondern auch eine vergleichende Gegenüberstellung mit den Christen, die ihrerseits positiv dargestellt werden: „wa-la-taǧidanna aqrabahum mawaddatan li-llaḏīna āmanū llaḏīna qālū
49 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 121. 50 Hartmut Bobzin, Der Koran (München: C. H. Beck, 2012), 103. 51 Zur Diskussion über Poly- oder Henotheismus in Mekka während der Genese des Islam vgl. Fußnote 29. 52 Vgl. hierzu ar-Rakkābī, Hrsg., Maʿrakatunā, 54–55.
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innā naṣārā“53 („Und du wirst wahrlich finden, dass die Menschen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, die sagen ‚Wir sind Christen‘„).54 Es ist anzunehmen, dass diese Aussage dem von Quṭb postulierten Vorherrschaftsanspruch des Islam gegenüber den Nicht-Muslimen entgegenstand. Weiterhin untergräbt die Aussage die von Quṭb breit dargestellte negative Rolle der christlichen imperialistischen Staaten, die von ihm als Helfershelfer einer jüdisch-zionistischen antiislamischen Verschwörung dargestellt werden. Diese Wahrnehmung, die von Sayyid Quṭb nicht nur in diesem Essay kolportiert wird, gehört gewissermaßen zum antiimperialistischen Repertoire des Muslimbruders, lässt sich aber auf Grundlage des Korantextes nicht nachvollziehen.55 Zuletzt ist neben der Unvollständigkeit des Verses vor allem das weitere Textumfeld der Koranstelle in Betracht zu ziehen. Für gewöhnlich werden diese Passagen von der muslimischen Tradition und oft auch der westlichen Orientalistik als religionshistorische (Re-)Formulierung der koranischen Eschatologie und Apologetik gegen Juden und Christen gesehen. Hierbei wendet sich Allah direkt an Muhammad, um ihn über die Israeliten des Alten Testaments, bezeichnet mit Banū Isrāʾīl, aber auch über Christen, Jesus und Maria zu informieren.56 Geht man von dieser religionshistorischen Interpretation aus, erscheint Quṭbs Auslegung spätestens dann nicht mehr nachvollziehbar, wenn er die biblisch-koranischen Personen und Gruppen zum Judentum schlechthin erklärt, sie zudem aus dem Kontext der
53 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 121. 54 Bobzin, Koran, 103. 55 Neben den Äußerungen im Essay „Unser Kampf gegen die Juden“ finden sich entsprechende Ausführungen Quṭbs vor allem in der 1953 erschienenen Schrift „Māḏā ṣanaʿtum li-abṭāl filasṭīn“, die ebenfalls in der Edition von Zayn ad-Dīn ar-Rakkābī erschienen ist (26–32). Vgl. ebenso ar-Rakkābī, Hrsg., Maʿrakatunā, 56–57, wo von einem „Krieg der Kreuzfahrer und Zionisten“ gegen den Islam die Rede ist. 56 Als wichtiges Argument für diese Sichtweise wird die Verwendung der ersten Person Plural (Q 5:70, als pluralis majestatis), des Imperativs (Q 5:76–77), und der zweiten Person Singular (Q 5:82) angeführt. Vgl. hierzu Thomas O'Shaughnessy, Word of God in the Qurʾān, Biblica et orientalia 11 (Rom: Biblical Institute Press, 1984) und Hans Zirker, Der Koran. Zugänge und Lesarten (Darmstadt: Primus, 1999), 51–102.
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Religionsgeschichte löst und mit den Zionisten des 20. Jahrhunderts gleichsetzt. Selbst wenn man hypothetischen historisch-kritischen Überlegungen zur Situation Muhammads und seiner Gemeinde kurz nach der Hidschra in Medina, in der sich der politische Konflikt mit den drei jüdischen Stämmen zugespitzt hatte, nachgeht, wäre Quṭbs universalistische Auslegung nicht nachzuvollziehen, da sich die koranische Textstelle und ihr Umfeld auf konkrete Personen und Gruppen sowie historisch belegbare Ereignisse beziehen würde.57 Insgesamt ist diese eigentümliche Mischung von (religions-)historischer Kontextualisierung und der Verallgemeinerung solcher relativ selektiv gewählter Beispiele sowie deren Einfügung in ein universalistisch-zyklisches Geschichtsbild das, was man als hermeneutische Prinzipien Quṭbs bezeichnen könnte. Diese spiegeln sich auch in seiner Interpretation des folgenden Verses 2:88 wider, in dem die Antwort der Juden auf die Vorwürfe der Arroganz, der Unaufrichtigkeit und des Mordes in Vers 2:87 zu finden ist: „Wa-qālū qulūbunā ġulfun bal-laʿanahumu-llāhu bi-kufrihim fa-qalīlan mā
57 Insbesondere die zwei Verse vorher in Q 5:80 erfolgte Feststellung im Präsens „tarā kaṯīran minhum yatawallawna-llaḏīna kafarū“ („Du siehst, dass viele von ihnen Freunde derer werden, die ungläubig sind“), könnte als Hinweis auf die Grabenschlacht, die im Jahr 627 stattfand, gedeutet werden, die an mehreren Stellen im Koran (vor allem in Q 33:9–33:35) Erwähnung findet. Es ist denkbar, dass hier auf eine Kriegsallianz zwischen den Banū an-Naḍīr und den Muhammad feindlich gesinnten (mit allaḏīna kafarū bezeichneten) Qurayš angespielt wird, und es sich bei der Stelle und ihrem Textumfeld um eine erinnerte und verschriftlichte Predigt oder Mahnrede Muhammads handelt. Vgl. Ǧāmiʿa alAzhar, al-Qurʾān al-karīm, 121, und Bobzin, Koran, 103. Weitere Stellen, die mit den Banū an-Naḍīr kontextualisierbar sind, finden sich in derselben Sure in Q 5:11 und mit Q 5:42 im weiteren Textumfeld (weiterhin in Q 2:84, 2:178, 2:256, Q 4:51, 4:60 und vor allem Q 59:2–59:15). Vgl. hierzu Marco Schöller, „Naḍīr (Banū al-).“ In EQ, Brill Online; Michael Lecker, „Did Muḥammad conclude treaties with the Jewish tribes Naḍīr, Qurayẓa and Qaynuqāʿ?“ Israel Oriental Studies 17 (1997): 29–36; Irving Zeitlin, The historical Muhammad (Cambridge: Polity Press, 2007), 12–15 und 124–135; sowie Marco Schöller, „In welchem Jahr wurden die Banū l-Naḍīr aus Medina vertrieben?“ Der Islam 73 (1996): 1–39.
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yuʾminūnā“58 („Und sie sagten: ‚Unsere Herzen sind unbeschnitten‘. Aber nein! Gott hat sie für ihren Unglauben verflucht. Darum sind sie so wenig gläubig.“)59 Während sich zu Vers 2:87 in der Geschichte der Koranexegese wie beschrieben unterschiedliche Auslegungen, aber zwei Haupttendenzen feststellen lassen, ist die Situation bezüglich des Verses 2:88 komplizierter. Der wichtigste Grund hierfür liegt in der Ambiguität mehrerer Satzteile des Verses. Zunächst liegt mit ġulf ein Begriff vor, dessen sprachgenealogische Herkunft und dessen Bedeutung sich weder intratextuell noch sprachwissenschaftlich schlüssig erklären lässt,60 womit das Hauptargument, mit dem die Juden sich gegen die Vorwürfe verteidigen, unklar bleibt. Entsprechend unterschiedlich fallen die Interpretationen in der frühen und klassischen Koranauslegung aus, die zudem auf unterschiedlichen Lesarten (qiraʾāt) basieren. Ein Teil der Kommentatoren liest an der Stelle ġuluf als Plural von ġilāf. So kommt der Prophetengenosse ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gest. 687 oder 688)61 zu der Ansicht, dass die Herzen der Juden Wissen aufnehmen könnten, sie aber nicht in der Lage seien, Muhammads Wissen oder Rede zu begreifen.62 Eine weitere Gruppe interpretiert ġulf als Plural von aġlāf und spricht wenig konkret – wie Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 722)63 – von einer „Verschleierung“ der Herzen64 oder wie ʿIkrima (gest. 723 oder 724)65 von „Siegeln“ auf denselben.66 Während der Begriff kufr im letzten Satzteil des Verses ballaʿanahumu-llāhu bi-kufrihim fa-qalīlan mā yuʾminūna der Bedeutung
58 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 13. 59 Vgl. Paret, Koran, 20. 60 Neben der behandelten Stelle kommt die arabische Wurzel mit Q 4:155 nur ein weiteres Mal im Koran vor. Vgl. Freytag, Lexicon, 452, Lane, Lexicon, 6:2283f., und Ibn Manẓūr, Lisān, 10:113f. 61 Zur Person vgl. Sezgin, Geschichte, 1:25–28. 62 Vgl. Yousef Meri, Hrsg., Tanwīr al-miqbas min tafsīr ibn ʿabbas (Amman: Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, 2007), 15. 63 Zur Person vgl. Sezgin, Geschichte, 1:29. 64 Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 2:28. 65 Zur Person vgl. Joseph Schacht, „ʿIkrima.“ In EI2, 3:1081. 66 Vgl. Abū l-Fidāʾ ibn Kaṯīr, Tafsīr al-qurʾān al-ʿaẓīm, hrsg. v. Muḥammad Ḥusayn Šams ad-Dīn, 9 Bde. (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1998), 1:215.
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„Unglauben“ zuzuordnen ist,67 ergibt sich für den Teilsatz fa-qalīlan mā yuʾminūna eine weitere Lesartenproblematik. Dabei bestehen unter anderem Varianten, die fa-qalīlun mā yuʾminūna68 in den Nominativ setzen oder gar die Partikel mā für irrelevant erklären und somit fa-qalīlan yuʾminūna lesen.69 Diese Unterschiede sind aber entscheidend, denn sie beschreiben, was passierte, nachdem Allah die Juden „für ihren Unglauben verflucht“ hat. Im einen Fall sind alle Juden „wenig gläubig“ (fa-qalīlan mā yuʾminūna), in einem weiteren Fall „glauben sie an wenig“ (fa-qalīlan yuʾminūna), und eine dritte Variante besteht darin, dass „wenige von ihnen gläubig sind“ (fa-qalīlun mā yuʾminūna). Während die ersten beiden Lesarten von allen Juden sprechen, jedoch unterschiedliche Grade von (schwacher) Religiosität andeuten, teilt die dritte Variante die Juden in eine große Gruppe von Ungläubigen und eine kleine Gruppe von Gläubigen. Dass alle Juden wie bei Sayyid Quṭb Ungläubige und daher zu bekämpfen seien (so der Tenor seiner und anderer islamistischer Koranauslegung) lässt keine dieser Lesarten zu – sei sie kanonisch oder nicht.
ANTISEMITISMUS ALS TELEOLOGISCHES E RKENNTNISINTERESSE IN S AYYID Q UṬBS K ORANHERMENEUTIK Sayyid Quṭb greift an dieser Stelle die auf der Lesung ġulf (Pl. aġlāf) basierende Interpretation im Sinne versiegelter Herzen auf. Weiterhin interpretiert er zwei Intentionen der Juden. Einerseits dient Quṭb diese Aussage dazu, zu rechtfertigen, dass Juden es immer wieder abgelehnt hätten, den Islam anzunehmen, eine Ansicht, die sich durchaus auch in älteren vormodernen Korankommentaren findet. Hier weicht Quṭb von seiner sonstigen 67 Dies liegt vor allem im gemeinsamen Vorkommen mit dem Verb amana begründet. Zur Semantik von Gegensatzpaaren im Koran vgl. Izutsu, Concepts, 119–177. 68 Vgl. die Auslegung von Qatāda ibn Diʿāma (gest. zwischen 734 und 736) in ʿAbd ar-Razzāq aṣ-Ṣanʿānī, Tafsīr al-qurʾān, hrsg. v. Muṣtafā Muḥammad, 4 Bde. (Riad: Maktaba ar-rušd, 1989), 1:51. Zur Person vgl. Sezgin, Geschichte, 1:31f. 69 Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 2:234–235.
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Vorgehensweise ab, nicht auf die Tradition zu rekurrieren. Andererseits gibt er jedoch an, Juden hätten dies gesagt, um Muhammad und seine Anhänger zu entmutigen, die neue Religion zu präsentieren.70 Diese Interpretation wiederum erschließt sich meines Wissens nicht aus älteren tafāsīr. Noch weniger kann man aus dem Textumfeld der Stelle oder dem erzählerischen Aufbau der Mahnrede schließen, dass die hier beschuldigten Juden nun ihrerseits die junge Umma und ihren Führer auf religiösapologetischer Ebene unter Druck setzten. Man kann vielmehr, wie auch schon im vorangegangenen Beispiel, diese Aussage den antisemitischen Tendenzen in Quṭbs tafsīr und der in ihrem inneren Zusammenhang notwendigen Dämonisierung der Juden als universelle, zeitunabhängige Feinde des Islam zuordnen. Dabei dekontextualisiert er historisch gesehen einerseits die Interpretation des „geringen Glaubens“ der Juden, während andererseits seine Interpretation des Beginns des Verses wa-qālū qulūbunā ġulf als Entmutigung Muhammads sowie seiner Anhänger eine Historisierung des Entstehungshintergrundes einer relativ unklaren Stelle darstellt. Um dieses genuine Wechselspiel zwischen universalistischen und zeitlich kontextbezogenen Auslegungen in Quṭbs Methode – die im Hinblick auf die Nicht-Muslime weder auf die Traditionarier noch direkt auf den Korantext Bezug nimmt71 – zu illustrieren, soll hier noch einmal jene Passage zu Vers 2:88 in Quṭbs Korankommentar untersucht werden, die direkt an die Aussage wa-qālū qulūbunā ġulf anknüpft: Sie sagten dies zu Muhammad und seinen Anhängern, um sie davon zu entmutigen, ihnen die neue Religion zu präsentieren, und um ihre eigene Ablehnung, den Islam anzunehmen zu akzeptieren. Aber der wirkliche Grund, nach der Sūra, ist dass Gott sie wegen ihres Unglaubens abgelehnt hat. Deshalb bestrafte Gott sie durch seine Ablehnung, was heißt, dass sie nicht von seiner Führung profitieren können, die sie schon abgelehnt hatten. Sie haben in der Regel sehr wenig Glauben gezeigt – in allen Epochen.72
70 Quṭb, Ẓilāl al-qurʾān, 1:56. 71 Zur Anwendung traditioneller, nicht-literaturwissenschaftlicher Methoden bei Quṭb im Allgemeinen vgl. Murtaza, Methoden und Auslegung, 41–49. 72 Quṭb, Ẓilāl al-qurʾān, 1:56.
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Auch hier lohnt sich ein Blick in weitere Schriften Quṭbs, in denen dessen Geschichtsbild bezüglich des Verhältnisses von Juden und Muslimen klarer zu Tage tritt. Hier konkretisiert sich, was mit dem ewigen (epochenübergreifenden) geringen Glauben der Juden gemeint ist. Der Antagonismus zwischen Muslimen und Juden beruht dabei auf einem zyklischen Geschichtsbild, in dem die Juden als ewige Feinde wiederkehren und demzufolge immer bekämpft werden müssen. Dieses hermeneutische Paradigma liegt Quṭbs Interpretationen von Koranstellen in Bezug auf Juden zu Grunde, egal ob es sich um mekkanische oder medinensische Verse, um Banū Isrāʾīl, Hūd, Yahūd oder allaḏīna hādū handelt. Interessanterweise dient Quṭb als wichtigste Schriftgrundlage für seine universalistische, historisch dekontextualisierende Auslegung mit Q 17:4 ein Koranvers, der vermutlich gerade auf religionshistorische Begebenheiten anspielt: „wa-qaḍaynā ilā banī isrāʾīla fī-l-kitābi la-tufsidunna fī-l-arḍi marratayni wa-la-taʿlunna ʿuluwwan kabīran“73 („Und wir haben für die Kinder Israel in der Schrift die Entscheidung getroffen: ‚Ihr werdet zweimal auf der Erde Unheil anrichten, und ihr werdet sehr mächtig sein‘„).74 Die Bezeichnung Banū Isrāʾīl ebenso wie die Referenzen auf die beiden Tempelzerstörungen in Jerusalem im weiteren Textumfeld (so Vers 17:7) sprechen für eine religionsgeschichtliche Verortung des Verses in der Antike um die Zeitenwende, die im weiteren Textumfeld in eine eschatologische Mahnrede eingebettet ist. Quṭb stellt allerdings nur bei dem „ersten Mal“, bei dem die Juden „Unheil“ anrichteten eine Verbindung zu den historischen Ereignissen in Jerusalem her, verzichtet allerdings bewusst auf konkrete Referenzen, und bedient sich unter anderem koranischer Sprache. Allah habe daraufhin seine Diener, die große Stärke, Mut und Macht besessen hätten, gegen die Juden geschickt.75 Nun aber entkoppelt Quṭb das in Vers 17:4 explizit genannte „zweite Mal“ von einem historischen Bezug zu einem Einzelereignis. Er spricht im Folgenden nur von „wiederholten“ Übeltaten der Juden, ohne die Diskrepanz zu der Koranstelle zu klären. Dies ist freilich notwendig, um das oben beschriebene zyklische Geschichtsbild zu konstruieren, mit dem
73 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 169. 74 Paret, Koran, 103. 75 Ar-Rakkābī, Maʿrakatunā, 63.
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Quṭb anhand von drastischen Beispielen die Fortdauer der „ewigen jüdischen Gefahr“ bis in die Gegenwart legitimieren möchte: Und die Juden kehrten zu Übeltaten zurück, sodass Allah den Muslimen Macht über sie gab. Daraufhin vertrieben die Muslime sie von der gesamten arabischen Halbinsel. Dann kehrten die Juden wiederum zu Übeltaten zurück, und infolgedessen sandte Allah andere seiner Diener gegen sie, bis in die Ära der Moderne. Dann brachte Allah Hitler, um über sie zu herrschen. Und heute sind die Juden ein weiteres Mal zu Übeltaten zurückgekehrt, in der Form von ‚Israel‘, welches den Arabern, die die Besitzer des Landes sind, Kummer und Leid brachte.76
N ICHT -M USLIME UND S AYYID Q UṬBS ǦĀHILĪYA K ONZEPT : D AS B EISPIEL DER ṢĀBI ʾ ŪNA Wie bereits oben gezeigt wurde, können die Sābier (aṣ-ṣābiʾūna) aufgrund von sprach- und literaturwissenschaftlichen Kriterien als kleine Gruppe von Nicht-Muslimen im Koran identifiziert werden, da sie an drei Stellen in sehr ähnlicher Form vorkommen. Ebenso klar ist aber, dass man außer der Zuordnung der Sābier zu anderen Nicht-Muslimen im Rahmen der eschatologischen Erzählungen an den genannten drei Stellen nichts aus dem Koran erfährt. Daher kann eine dieser Stellen (Q 2:62) stellvertretend untersucht werden, wo es heißt: „Inna-llaḏīna amanū wa-llaḏīna hādū wa-n-naṣārā wa-ṣ-ṣābiʾīna man amana bi-llāhi wa-l-yawmi-l-āḫiri wa-ʿamila ṣāliḥan falahum aǧruhum ʿinda rabbihim wa-lā ḫaufun ʿalayhim wa-lā hum yaḥzanūna.“77 („Diejenigen, die glauben und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Sābier, die, die an Gott und den jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen keine Angst zu haben, und sie werden nicht traurig sein.“)78 Generationen von Mufassirīn sahen sich mit diesen schwierigen innerkoranischen Voraussetzungen konfrontiert und äußerten unterschiedliche Ansichten, ohne jedoch den religiösen Status der Gruppe zu klären.
76 Ebd. 77 Ǧāmiʿa al-Azhar, al-Qurʾān al-karīm, 10. 78 Vgl. Paret, Koran, 17.
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Dabei lässt sich erneut eine grundsätzliche Diversität in den Auslegungen feststellen, in der jedoch zwei Tendenzen dominieren. Einerseits werden die Sābier als eigenständige monotheistische Religionsgemeinschaft angesehen, die meist im mesopotamischen Raum verortet wird. 79 Andererseits bestehen Interpretationen, die die Sābier als Religionsgemeinschaft zeigt, die dem Islam in der religiösen Praxis nahesteht, deren Mitglieder jedoch nicht als Muslime anerkannt werden.80 Beide Interpretationen berücksichtigen den historischen Kontext des frühen Islam. In Sayyid Quṭbs Kommentar findet sich eine Interpretation, die daher zunächst ungewöhnlich scheint, weil sie auf das vorislamische südarabische Volk der Sabäer rekurriert. Wie bereits beschrieben wurde, vermied Quṭb meist konkrete historische Bezüge, um seiner eigenen Programmatik Rechnung zu tragen; so auch in diesem Fall. Wie also erklärt Quṭb, dass die in der Zeit der Ǧāhilīya lebenden nicht-monotheistischen Sabäer, deren Religion sich in der Verehrung der Gestirne begründete, im Koran eine Sonderstellung unter den Nicht-Muslimen einnehmen, ja in einem Atemzug mit den monotheistischen ahl al-kitāb genannt werden? Näheres erfahren wir in seinem tafsīr, in dem er schreibt, dass die Sabäer an der Götzenverehrung gezweifelt hätten, weiter zum Monotheismus im Glauben Abrahams gefunden hätten (fahtadū ilā t-tauḥīd) und sich so von den heidnischen arabischen Zeitgenossen abspalteten.81 Diese religions- und koranwissenschaftlich fragwürdige Argumentation versucht Quṭb nun etymologisch zu begründen, da sich der Name aṣṣābiʾūna von der arabischen Wurzel ṣād-bāʾ-hamza ableite, die beschreibe, dass sich die Sābier von der Religion ihrer Vorväter abgewendet hätten
79 So beispielsweise bei Saʿīd b. Zayd (gest. 673). Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 2:32. Zur Person vgl. Arendt Jan Wensinck, „Saʿīd ibn Zayd.“ In Enzyklopädie des Islam. 1. Aufl., 5 Bde., hrsg. v. Martijn Theodoor Houtsma et al. (Leiden: Brill, 1913–1938), 4:71. 80 So bei al-Ḥasan al-Baṣrī (gest. 728). Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 2:36. Zur Person vgl. ausführlich Hans Heinrich Schaeder, „Ḥasan al-Baṣrī. Studien zur Frühgeschichte des Islam,“ Der Islam 14 (1925): 1–75. 81 Quṭb, Ẓilāl al-qurʾān, 1:67. Zum Ǧāhilīya-Konzept bei Quṭb vgl. ausführlich Sayed Khatab, The Political Thought of Sayyid Quṭb. The Theory of Jahiliyyah, Routledge Studies in Political Islam 2 (London: Routledge, 2006).
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(mālū ʿan dīn ābāʾihim).82 Zwar lässt sich die Bedeutung des Verbs ṣabaʾa mit der Präpositionalergänzung ʿan als „abweichen von“ gut belegen, die Verknüpfung mit Religion im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen aber nur in der Exegese selbst finden.83 Mit dieser wenig tragfähigen und selektiven Methodenmischung gelingt es Quṭb, die Sābier als eine Art Proto-Muslime konkret dem theologischen Konzept der Ḥanīfīya (yataʿabbadūna ʿalā l-ḥanīfīya al-ūlā)84 zuzuordnen, was letztendlich in seiner generellen Programmatik wiederum der Verfestigung des überzeitlichen Führungsanspruchs des Islam dient.
S CHLUSSBETRACHTUNG Sayyid Quṭbs hermeneutische Prinzipien folgen dem teleologischen Interesse, eine überzeitliche Vorherrschaft des Islam über andere, nichtmuslimische Religionen zu konstatieren. Daher ist sein wichtigstes hermeneutisches Prinzip im Universalismus zu sehen, den dieses monokausale, prädestinatorische Geschichtsbild erfordert. Dabei stellt sich die schwierige Frage, mit welchen Bezügen der Islamist arbeitete und auf welche wissenschaftliche Theorien und Strömungen er reagierte. Wie gezeigt wurde, bricht Quṭb bewusst mit den Methoden der traditionellen muslimischen Gelehrsamkeit. Offenbarungsanlässe, die überlieferungszentrierte Auslegung und der Rekurs auf andere Mufassirīn als traditionelle Methoden spielen allgemein als hermeneutische Prinzipien eine geringe, im Fall der Nicht-Muslime eine zu vernachlässigende Rolle und werden eher selektiv verwendet. Weitere Ansätze werden in einer Art Eklektizismus eher als Strategeme denn als Teile einer neuen, interdisziplinären Methode eingesetzt. Dies betrifft, wie gezeigt werden konnte, historischkontextuelle, sogenannte rationale, sprachwissenschaftliche, philologische und philosophische Methoden. Dieser eklektizistische Ansatz folgt jedoch keinem kontrastiven oder gar interdisziplinären Konzept. Vielmehr werden verschiedene, geeignet erscheinende Ansätze je nach Bedarf angewendet,
82 Quṭb, Ẓilāl al-qurʾān, 1:67. 83 Vgl. Badawi, Dictionary, 506–507; Lane, Lexicon, 4:1641; sowie Ambros, Dictionary, 158 und 309. 84 Quṭb, Ẓilāl al-qurʾān, 1:67.
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auch in teilweise widersprüchlicher Kombination. Das Ziel bleibt dabei stets die Unterordnung unter das Paradigma des überzeitlichen, zyklischen Geschichtsbildes, das Quṭb vom Verhältnis der Muslime und NichtMuslime zeichnet. Sicherlich liegt diese Herangehensweise zu einem Teil darin begründet, dass Sayyid Quṭb kein ausgebildeter Religions- oder gar Korangelehrter im klassischen Sinn war. Umso problematischer ist, dass gerade seine hermeneutischen Prinzipien in Bezug auf Angehörige anderer Religionen den gesellschaftlichen Diskurs in vielen islamischen Ländern entscheidend geprägt haben. Dies trifft in besonderem Maße auf die dargestellte Hierarchisierung der Nicht-Muslime zu. Die Juden werden dabei als die gefährlichsten Widersacher der Muslime dargestellt, die aufgrund göttlicher Vorherbestimmung über eine gewissermaßen ewig währende feindselige Natur gegenüber den Muslimen verfügen, während Christen als deren Helfer, jedoch nicht als schöpfungsimmanente Aggressoren fungieren, und weitere Gruppen von Nicht-Muslimen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die hermeneutischen Prinzipien in der Koranauslegung Quṭbs bezüglich der NichtMuslime sind daher einem politisch motivierten, universalistisch-prädestinatorisch argumentierten zyklischen Geschichtsbild geschuldet, das sich meiner Ansicht nach weder auf den Koran noch auf die traditionelle Koranexegese in dieser Form berufen kann. Im Fall des ideologischen Antisemitismus als hermeneutischem Grundprinzip ist darüber hinaus davon auszugehen, dass dieser ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ist, an dessen Etablierung Sayyid Quṭb den wahrscheinlich größten Anteil hatte. Damit soll nicht bestritten werden, dass es im vormodernen Islam und auch in der Koranauslegung Judeophobie und antijudaistische Elemente gegeben hat, die zu Mord und Pogromen führten. Wie gezeigt wurde, trifft dies selbst in einer historischen Mikroperspektive auf den Koran zu. In beiden Fällen ist jedoch der rassistisch-genozidale Charakter nicht gegeben. Allerdings soll auch nicht mit Bernard Lewis davon ausgegangen werden, dass Antisemitismus dem Islam völlig fremd war und erst aus Europa in die Welt des Islam transplantiert worden wäre.85 Auch die These eines sukzes-
85 Zitiert nach Bassam Tibi, From Sayyid Qutb to Hamas. The Middle East Conflict and the Islamization of Antisemitism. The Yale Initiative for the Study of Antisemitism Working Paper Series 5 (New Haven: The Yale Initiative for the Study of Antisemitism, 2010), 4.
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siven Islamisierungsprozesses des ursprünglich europäischen Antisemitismus, wie er für das Wirken Quṭbs und speziell die Koranexegese wiederholt angenommen wurde, kann beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht aufrechterhalten werden.86 Sicher ist, dass der Prozess der Einführung und Legitimierung des Antisemitismus durch Sayyid Quṭb maßgeblich beeinflusst wurde, und es bleibt zu hoffen, dass durch diesen Beitrag die Frage nach der Legitimität der beschriebenen hermeneutischen Methoden und der Rolle der Ambiguitätsintoleranz als hermeneutischem Prinzip neu gestellt wird.
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86 Diese Frage kann erst beantwortet werden, wenn Forschungsbelege für die tatsächliche Beeinflussung Quṭbs durch den europäischen Antisemitismus vorliegen. Vgl. ebd., sowie für die Koranexegese Murtaza, Methoden und Auslegung, 61.
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Aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr (gest. 1973) und die Kontroverse um tafsīr bi-l-maʾṯūr und tafsīr bi-r-raʾy K ATHRIN K LAUSING
E INLEITUNG Das 20. Jahrhundert ist der Schauplatz für die bislang tiefgreifendste Neuschreibung des historischen Genres des Tafsīr1. Walid Saleh konnte schlüssig nachweisen, dass sich im 20. Jahrhundert der Blick einer neuen, im Nationalstaat formierten Gelehrtenschaft auf den tafsīr änderte. Dabei stand die Einteilung des Genres in tafsīr bi-l-maʾṯūr und tafsīr bi-r-raʾy2 im Vordergrund.3 Tafsīr bi-l-maʾṯūr ist der Ausdruck, der für den Kommentar des
1
Mit Tafsīr meine ich in diesem Beitrag das literarische Genre des vollständigen Vers-für-Vers-Kommentars, die Schreibung tafsīr steht für alle anderen Gebräuche des Wortes.
2
Im Verlauf des Beitrags werden die Bedeutungsspannen der Begriffe tafsīr bi-lmaʾṯūr und tafsīr bi-r-raʾy diskutiert. Aufgrund der Komplexität ziehe ich es vor, beide Ausdrücke nicht zu übersetzen.
3
Walid A. Saleh, „Preliminary Remarks on the Historiography of tafsīr in Arabic: A History of the Book Approach.“ In Tafsīr. Interpreting the Qu’ran, hrsg. v. Mustafa Shah, 289–324 (London: Routledge, 2013). Seit 2015 liegt eine türkische Übersetzung dieser wichtigen Forschungsarbeit vor: A. Salih Velid, „Arapça Tefsir Tarihi Yazımında Başlangıç Mülahazaları: Kitabi Yaklaşım Ta-
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Korans anhand von Überlieferungen, die auf den Propheten4, die Prophetengefährten oder deren zwei Nachfolgegenerationen zurückgehen, einschlägig geworden ist. Tafsīr bi-r-raʾy, wörtlich „der Meinung nach“, bezeichnet in der nachformativen Periode des tafsīr die Kommentierung einzelner Verse auf der Basis von sprachlicher Argumentation, beleuchtet also grammatische, rhetorische und stilistische Ebenen der Bedeutung einzelner Worte, Sätze oder auch Versgruppen. Beide in den Koranwissenschaften lange bekannten Begriffe erfahren im 20. Jahrhundert eine neue, geschichtsdeutende Funktion. Der tafsīr bi-l-maʾṯūr ist von nun an die normative Grundlage innerhalb der sunnitischen Koranauslegung, seine Vertreter die neuen Klassiker. 5
rihi.“ Çukurova Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi 15, Nr. 1 (2015): 271– 309. 4
Muslime lassen der Erwähnung des Propheten die Segensformel „Möge der Segen und Frieden Allahs auf ihm liegen“ folgen. Die Segensformel an dieser Stelle steht stellvertretend auch für alle weiteren Erwähnungen im Text.
5
In der Tat ist der von Rašīd Riḍa Anfang des 20. Jahrhunderts herausgegebene Korankommentar des Ibn Kaṯīr zur Ikone des tafsīr schlechthin avanciert; er war einer der ersten Massendrucke islamischer Fachliteratur. So zählt auch der Herausgeber der 2014 erschienenen deutschen Übersetzung des Kommentars zur ersten Sure des Korans den Korankommentar Ibn Kaṯīrs zu den bekanntesten Werken der klassischen tafsīre. Vgl. Ibn Kaṯīr, Tafsīr Ṣūrat (sic) al-Fātiḥa, hrsg. v. Mahmoud Haggag (Düsseldorf: Islamische Bibliothek, 2014), 7. Nun ist es jedoch so, dass Ibn Kaṯīrs Korankommentar zwar chronologisch als klassisch, im Sinne von „vor der Moderne entstanden“, eingeordnet werden kann, inhaltlich aber einen völligen Bruch mit der über Jahrhunderte dominierenden Madrasatradition eher sprachlich (also Kommentare bi-r-raʾy) und diskursiv orientierter Kommentare wie dem Kaššāf von az-Zamaḫšarī oder Anwār at-tanzīl von alBayḍāwī darstellt. Diese Einordnung von Ibn Kaṯīrs Kommentar ist wohl eine moderne historische Projektion, hat doch der Kommentar weder in das Curriculum der Madrasa Einzug gehalten, noch besonders viele Superkommentare vor dem 20. Jahrhundert nach sich gezogen – beides sind aber die sichersten Anzeichen für eine starke Rezeption. Siehe dazu: Walid A. Saleh, „Preliminary Remarks on the Historiography of tafsīr in Arabic: A History of the Book Approach.“ In Tafsīr. Interpreting the Qu’ran.
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Um die inhaltlichen Entwicklungen der Koranexegese und der Koranwissenschaften bis in die Moderne zu verstehen ist es notwendig sich verschiedenen kontrovers diskutierten hermeneutischen Vorüberlegungen der Koranexegeten und -kommentatoren zu widmen – die Kontroverse, ob der tafsīr bi-r-raʾy die gleiche Legitimität wie der tafsīr bi-l-maʾṯūr beanspruchen kann, ist wohl eine der für das 20. Jahrhundert wirkmächtigsten. Diese Kontroverse ist Gegenstand des dritten Vorworts des modernen Tafsīr attaḥrīr wa-t-tanwīr des Tunesiers aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr (gest. 1393/1973), welches den Hauptuntersuchungsgegenstand dieses Beitrags darstellt. Aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr ist einer der wenigen Korankommentatoren in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer für die vornationale Madrasatradition noch typischen Ausbildung und Karriere. Seine profunde Kenntnis und Evaluation der Tradition fließt in seinen Korankommentar ein und macht seine Schrift bis heute zu einem Standardwerk. Eine Evaluation und Analyse seines monumentalen und wohl wichtigsten Korankommentars des 20. Jahrhunderts blieb bislang in den westlichen Islamwissenschaften aus. In arabischsprachiger Fachliteratur oft zitiert ist er jedoch unumgänglich, um die Entwicklung des Genres des tafsīr im letzten Jahrhundert zu verstehen. Vor allem sein 125 Seiten starkes Vorwort in zehn Teilen ist von Bedeutung, da Ibn ʿĀšūr hier schlaglichtartig und kenntnisreich die 1400-jährige Geschichte der Koranexegese analysiert, Diskussionen zusammenfasst, Akzente setzt und darauf aufbauend eigene Methoden entwickelt. Wie jeder gelehrte Autor bezieht sich Ibn ʿĀšūr auf den historischen Fachdiskurs. Dabei greift er manche Positionen direkt auf, wie die von alĠazzālī (gest. 505/1111), andere wiederum nur implizit, wie die von Ibn Taymīya. Im Folgenden sollen deshalb drei Beispiele aus der Geschichte verdeutlichen, welche Fragen sich die Korankommentatoren in Bezug auf die Legitimität der Koranauslegung stellten und welche sie dabei als zentral hervorhoben. Dabei geht es weniger darum, ob Ibn ʿĀšūr sich wirklich auf diese konkreten Positionen bezieht und welcher Gelehrte welche Position zuerst vertreten hat, sondern vielmehr um eine knappe Darstellung des Meinungsspektrums innerhalb dessen Ibn ʿĀšūr argumentiert. Der Ausgangspunkt in der Frage nach der Legitimität des raʾy in der Korankommentierung ist meistens der Wortlaut eines ḥadīṯ, der in unterschiedlichen Überlieferungen wiedergegeben wird. Der Bedeutung nach droht demjenigen, der Aussagen über den Koran nach seiner subjektiven Meinung (bi-
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raʾyihi) oder ohne Wissen (bi-ġayr ʿilm) macht, ein Platz im Höllenfeuer. 6 Die drei im Folgenden dargestellten Positionen bieten den Hintergrund für aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūrs Abhandlung zur Legitimität des raʾy im tafsīr.
AL -M ĀTURĪDĪ ( GEST . 333/944) UND DIE U NTERSCHEIDUNG ZWISCHEN TA ʾ WĪL UND TAFSĪR „Wer über den Koran [etwas] seiner eigenen Meinung nach aussagt, der nehme seinen Platz im Feuer ein.“ Ausgehend von diesem ḥadīṯ, in dem das Wort fassara (tafsīr ist das dazugehörige Verbalnomen) benutzt wird, unterscheidet al-Māturīdī laut Götze zwischen den beiden Worten taʾwīl und tafsīr.7 Beide sind in der späteren Entwicklung des Genres des Korankommentars oft synonym verwendet worden, al-Māturīdīs Unterscheidung ist jedoch klar. Tafsīr ist nach ihm diejenige Erklärung der Verse des Korans, die ausschließlich den Prophetengefährten zusteht. Dies liegt daran, dass die Prophetengefährten die Offenbarung (tanzīl) erlebten und die Umstände der Offenbarung kannten. Ihre Erklärung ist also von besonderer Bedeutung, da sie wie eine direkte Zeugenaussage zu betrachten ist.8 Taʾwīl ist bei ihm Deutung, die den Gelehrten zusteht. Das Wort taʾwīl meint darüber hinaus, dass verschiedene Deutungsmöglichkeiten eines Wortlauts in Betracht gezogen werden. Taʾwīl hat von daher nicht den Stellenwert des tafsīr. Taʾwīl ist kein Zeugnis von Gott, sondern zeigt lediglich verschiedene Deutungsmöglichkeiten auf. Er ist eine Deutung von Menschen mit dem Wissen, dass Gott es am besten weiß.9 Taʾwīl ist die Angabe
6
1. Variante: „Wer über den Koran [etwas] seiner eigenen Meinung nach aussagt, der nehme seinen Platz im Feuer ein.“ 2. Variante: „Wer über den Koran [etwas] ohne Wissen [darüber zu haben] aussagt, der nehme seinen Platz im Feuer ein.“
7
Manfred Götz, „Māturīdī und sein Kitāb ta'wīlāt al-Qur'ān.“ Der Islam 41 (1965), 33.
8
Ebd., 32–33.
9
Möglicherweise spielt al-Māturīdī hier auf Vers 3:7 an: „Er ist es, Der das Buch (als Offenbarung) auf dich herabgesandt hat. Dazu gehören eindeutige Verse – sie sind der Kern des Buches – und andere, mehrdeutige. Was aber diejenigen angeht, in deren Herzen (Neigung zum) Abschweifen ist, so folgen sie dem, was
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einer Möglichkeit mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, den der Gelehrte mit weiteren Belegen untermauert.10 Der Wortlaut des ḥadīṯ verbietet raʾy; die Praxis der Gemeinde um den Propheten und ihrer Lehre zeigt aber laut al-Māturīdī, dass die eigene Meinung zulässig als Hilfe bei der Erschließung von verschiedenen Bedeutungen ist. Tafsīr kann nur den äußeren Wortsinn (ẓāhir) eines Verses aufdecken, taʾwīl kann hingegen auch den inneren Wortsinn (bāṭin) mancher Verse erkunden.11 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass raʾy nach alMāturīdī zulässig ist; er nennt diese Vorgehensweise taʾwīl. Der taʾwīl darf allerdings nicht den Anspruch auf alleinige und eigentliche Bedeutung erheben und soll zudem verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten hervorheben. Letztendlich ist taʾwīl nach der Auffassung al-Māturīdīs schon von den Prophetengefährten praktiziert worden. Man könnte auch sagen, dass alMāturīdī die Vorgehensweise des Mufassirs beschreibt: Er gibt Deutungsmöglichkeiten an und diskutiert, welche davon seiner Meinung nach mit welchem Beweis die schlüssigste ist.12
AL -Ġ AZZĀLĪ UND
DIE K ORANERLÄUTERUNG NACH DER SUBJEKTIVEN M EINUNG Auch al-Ġazzālī nimmt den oben genannten ḥadīṯ als Anlass für eine Diskussion im Rahmen des vierten Buches der Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn über die Rezitation und Interpretation des Korans. Laut al-Ġazzālī gibt es zwei Möglichkeiten, diese Überlieferung zu verstehen: Entweder muss das Verständnis des Korans auf die Überlieferung (naql) und auf das, was von Autoritäten im Bereich der Exegese gehört wurde, begrenzt und das Entdecken von
davon mehrdeutig ist, im Trachten nach Irreführung und im Trachten nach ihrer Missdeutung. Aber niemand weiß ihre Deutung außer Allah. Und diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind, sagen: ‚Wir glauben daran; alles ist von unserem Herrn.‘ Aber nur diejenigen bedenken, die Verstand besitzen.“ Ich verwende für die Koranzitate in diesem Artikel die Übersetzung von Bubenheim und Elyas mit leichten Anpassungen. 10 Ebd., 33. 11 Ebd., 38. 12 Ebd., 36.
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(neuen) Bedeutungen und die eigenständige Meinungsfindung abgeschafft werden. Oder aber mit dem ḥadīṯ muss etwas anderes gemeint sein. Die erste Möglichkeit schließt al-Ġazzālī aus, denn: Die Bedingung müsste direkt vom Propheten gehört werden und sich auf den kompletten Koran beziehen. Sie bezieht sich tatsächlich aber nur auf einen kleinen Teil. Als Beleg wird von al-Ġazzālī angeführt, dass die Prophetengefährten hinsichtlich der Bedeutung eines Verses nicht immer derselben Meinung waren. Tatsächlich waren die Meinungen bereits in der Gefährtengeneration so unterschiedlich, dass es unmöglich ist, sie miteinander in Einklang zu bringen. Noch dazu sind nicht alle Meinungen vom Propheten belegbar legitimiert oder abgelehnt worden. Es ist also klar, dass jeder Exeget aufgrund seiner eigenen Überlegungen zu einem Ergebnis kam. Es gibt ein Gebet des Propheten für Ibn ʿAbbās, in dem der Prophet Gott bittet: „Lehre ihn das Verstehen (taʾwīl) des Korans.“ Al-Ġazzālī stellt die Frage: Wenn taʾwīl ausschließlich, so wie die koranische Offenbarung, vom Propheten gehört werden muss und kann, warum sollte dann Ibn Abbas der einzige sein, der hier eine Ausnahme darstellt?13 Al-Ġazzālī kommt zu dem Schluss, dass hier also etwas anderes gemeint sein müsse. Verboten ist seiner Meinung nach die Exegese mit der raʾy-Methode nur aus einem der folgenden zwei Gründe: (1) Der raʾy eines Exegeten ist beeinflusst von seiner Natur und seinen Neigungen. Er interpretiert also zu seinen eigenen Gunsten. Und zwar entweder trotz seines Wissens um die Scharia – so zum Beispiel könnte ein Interpret eine illegitime Erneuerung in Glaubensdingen mit dem Ziel zu legitimieren versuchen, einen Diskussionsgegner zu verwirren, obwohl er weiß, dass dies nicht das vom Vers Gemeinte ist. Oder ohne Wissen um die Scharia – ein Interpret folgt vollkommen den eigenen Neigungen, ohne die die Interpretation anders ausgefallen wäre. Oder weil es ein berechtigtes Anliegen gibt, für das ein Beleg gesucht wird – obwohl ein bestimmter Vers nicht passt, wird er als Beleg verwendet. Al-Ġazzālī führt hier als Beispiel den Vers 20:24 an („Geh zu Pharao, denn gewiss, er überschreitet das Maß (an Frevel)“). Manche Prediger würden diesen Vers anführen, um Menschen vor einem frevelnden Herzen zu warnen. Die Verwendung eines Koranverses in diesem Zusammenhang verstärkt dann die Ermahnung. Dies ist
13 Abū Ḥāmid al-Ġazzālī, The Recitation and Interpretation of the Qurʾan: AlGhazālī's Theory (Selangor: Univ. Kebangsaan Malaysia, 1979), 90–92.
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eine laut al-Ġazzālī illegitime metaphorische Lesung des Verses. Dieser „Kunstgriff“ wird von manchen Predigern zwar in guter Absicht angewandt; dennoch ist es verboten, so seine Predigten auszuschmücken. (2) Das Verbot kann sich auch auf eine allgemeine Vorgehensweise eines Interpreten beziehen. Dieser ist: - schnell dabei, den äußeren Aspekt der arabischen Sprache wiederzugeben, zwar nach ihren Regeln, jedoch ohne profundes sprachwissenschaftliches Wissen. So kommt es dazu, dass diesem Interpreten Fremdworte, mehrdeutige Termini, oder aber Auslassungen, Verkürzungen, Zurückstellungen entgehen und somit der ganze Sinn eines Verses. - nicht gründlich in der äußeren Exegese, beeilt sich aber tiefere Bedeutungen des Verses herauszustellen. Al-Ġazzālīs Fazit lautet: Erst muss das überlieferte Wissen der sprachlichen Besonderheiten untersucht werden. Die äußere – sprachliche! – Bedeutung ist also der erste Schritt der Exegese. So ist der Exeget sicher vor leichten Fehlern und kann dann mit tieferem Wissen tiefere Bedeutungen herausstellen.14
I BN T AYMĪYAS ( GEST . 1328) M UQADDIMA FĪ AT -TAFSĪR UND DER B EGINN EINER HERMENEUTISCHEN W ENDE
UṢŪL
Mit Ibn Taymīyas Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr15 beginnt eine bislang beispiellose Aufwertung der traditionsbasierten Kommentierung des Korans. Die Muqaddima hat mehrere Korankommentatoren motiviert, von denen Ibn Kaṯīr wohl der heute bekannteste sein dürfte.16 Nach Saleh ist die Muqaddima auch die erste Abhandlung, die sich dem Feld des Korankom14 Ebd. 15 Eine deutsche Übersetzung von Elsayed Elshahed liegt seit 2000 vor: Aḥmad Ibn Taymīya, Einführung in die Methodologie der Qurʾānexegese, 1. Aufl., hrsg. v. Elsayed Elshahed (Riad: Imam Muhammad Ibn Saud University, 2000). 16 Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, hrsg. v. Shahab Ahmed und Yossef Rapoport, 123– 162 (Karachi: Oxford Univ. Press, 2010), 124.
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mentars auf eine normative Weise nähert, ohne das Vorwort eines eigenen Kommentars zu sein.17 Ibn Taymīya formuliert zunächst eine Wissensdefinition, die grundlegend für sein Programm ist: Wissen in Bezug auf den Koran kann entweder durch ein unfehlbares Individuum überliefert oder durch akzeptierte vernunftgemäße Beweise verteidigt werden. Alles andere ist abzulehnen oder nicht logisch verifizierbar. Es gibt also entweder göttliche Quellen – wie Propheten, die man durch die Überprüfung ihrer Überlieferung verifizieren kann – oder eben logische Beweise.18 Ibn Taymīyas Methode besteht aus folgenden vier Schritten: Zunächst muss die richtige Interpretation eines Verses im Koran selbst gesucht werden, dann in den Überlieferungen, in denen es um den Propheten geht, dann in den Zeugnissen, die seine Gefährten hinterlassen haben, und schließlich in den Interpretationen der Nachfolgergenerationen. Dem tafsīr bi-r-raʾy steht Ibn Taymīya äußerst skeptisch gegenüber und sieht nur wenig Anwendungsmöglichkeiten dafür. Vor allem die bis zu seiner Zeit so weithin akzeptierte relative Polyvalenz unterschiedlicher Deutungen ist ihm zuwider.19 Ibn Taymīya ist der Ansicht, dass der Prophet den Gefährten den Koran nicht nur rezitiert, sondern auch in seiner Gänze erläutert hat. 20 Der An-
17 Ebd., 125. 18 Ebd., 126–127. 19 Shabir Ally, The Culmination of Tradition-based Tafsīr. The Qurʼān Exegesis al-Durr al-manthūr of al-Suyūṭī (d. 911/1505) (Universität Toronto: unveröffentl. Dissertation, 2012), ii–iii. 20 Als Beleg führt er den 44. Vers der Sure an-Naḥl an: „[…] Und Wir haben zu dir die Ermahnung hinabgesandt, damit du den Menschen klarmachst (litubayyina li-n-nās mā nuzzila ilayhim), was ihnen offenbart worden ist, und auf dass sie nachdenken mögen.“ Der moderne Historiograph Muḥammad Ḥusayn aḏ-Ḏahabī evaluiert die Argumentationen der raʾy-Befürworter und -Gegner kritisch. Von Ibn Taymīyas Argumenten lässt er wenig gelten. Den angeführten Koranvers 16:44 versteht aḏ-Ḏahabī nicht als Auftrag an den Propheten, den gesamten Koran im Detail zu erläutern. Die Erläuterungen des Propheten an seine Gefährten erklärten nur die Verse oder Abschnitte, die den Gefährten unverständlich waren, nicht die, die ihnen ohnehin klar waren. Muḥammad Ḥusayn aḏ-Ḏahabī, at-Tafsīr wa-l-mufassirūn (Kairo: Dār al-kitāb al-ʿarabī, 1961), 48– 49.
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spruch, der hier durchscheint, ist also hoch: Der Koran kann ausschließlich durch Rückgriff auf authentisch überliefertes Material, welches auf den Propheten, seine Gefährten oder die Vertreter der Nachfolgegeneration zurückgeht, erklärt werden.21 Ein weiteres Charakteristikum der Lehre Ibn Taymīyas ist seine ablehnende Haltung gegenüber Uneinigkeiten. Nach Ibn Taymīya gab es davon nur wenige in der Gefährtengeneration und nur unwesentlich mehr in der Nachfolgergeneration.22 Aus diesem Grund ist für ihn auch erklärungsbedürftig, wenn Uneinigkeiten innerhalb des überlieferten exegetischen Materials unter der Nachfolgergeneration (den salaf) zustande kommen.23 Generell lässt Ibn Taymīya auch philologische Argumente zu, deutet aber auch diese in Richtung Eindeutigkeit. 24 Diese Unstimmigkeiten haben laut Ibn Taymīya unterschiedliche Ursachen und können folgendermaßen erklärt und damit beseitigt werden: Unterschiedliche Meinungen kommen zustande, weil unterschiedliche aber synonyme Ausdrücke verwendet werden.25 Manche Unterschiede sind das Resultat von Ausdrücken, die gegenteilige Bedeutungen umfassen – wie qaswara in Vers 74:51 sowohl einen Schützen als auch einen Löwen meinen kann.26 Ibn Taymīya stellt fest, dass echte Meinungsunterschiede erst nach den salaf-Generationen zunahmen. Die besten Kommentare aus der späteren Zeit sind für Ibn Taymīya diejenigen, die die Interpretationen der salaf ohne weitere Kommentierung zusammenfassten, da diese frei von Meinungsunterschieden waren.27
21 Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 128. 22 Ebd., 130. 23 Ebd., 131. 24 Ibn Taymīya, Einführung in die Methodologie der Qurʾānexegese, 34. 25 Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 132. 26 Ibn Taymīya, Einführung in die Methodologie der Qurʾānexegese, 30. 27 Walid A. Saleh, „Ibn Taymiyya and the Rise of Radical Hermeneutics: An Analysis of An Introduction to the Foundations of Qur’ānic Exegesis.“ In Ibn Taymiyya and His Times, 139.
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M UḤAMMAD
AṬ -Ṭ ĀHIR B .
ʿĀŠŪR ( GEST . 1393/1973) 28
Muḥammad aṭ-Ṭāhir b. Muḥammad aṭ-Ṭāhir b. Muḥammad b Muḥammad aš-Šāḏilī b. ʿAbd al-Qādir b. Muḥammad b. ʿĀšūr29 wurde 1879 in Tunis geboren. Seine Familie stammt von spanischen Muslimen ab, die nach dem Ende der islamischen Herrschaft in Andalusien im 15. Jahrhundert nach Marokko flüchteten und im 17. Jahrhundert in das heutige Tunesien übersiedelten.30 Die Familie entwickelte sich dort innerhalb einiger Generationen zu einer angesehenen Gelehrtenfamilie, die im 19. Jahrhundert Teil der religiösen Gelehrtenschicht mit Zugang zur Zaytūna-Universität wurde. AṭṬāhir b. ʿĀšūr besuchte zunächst eine der traditionellen tunesischen kuttāb (Koranschulen), wo er in der arabischen Sprache und Grammatik und der Koranrezitation unterrichtet wurde. Zudem lernte er ein wenig Französisch. Seine Ausbildung zum Gelehrten begann er im Jahr 1892 an der berühmten Zaytūna-Universität.31 Dort studierte er bei einer Reihe angesehener malikitischer Gelehrter in den Bereichen arabische Grammatik, Rhetorik, uṣūl alfiqh, Philosophie und Theologie, Logik und Prophetenbiographie. 32 Ibn ʿĀšūr stieg an der Zaytūna-Universität und im tunesischen System immer weiter auf, bis er Šayḫ der Zaytūna-Moschee und mālikitischer
28 Die folgenden Angaben zum Autor und seinem Korankommentar sind in Teilen schon erschienen in Kathrin Klausing, Geschlechterrollenvorstellungen im Tafsīr. Reihe für Osnabrücker Islamstudien (Frankfurt am Main: Lang, 2014) und Kathrin Klausing, „Two Twentieth-Century Exegetes Between Traditional Scholarship and Modern Thought: Gender Concepts in the Tafsīrs of Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabā'ī and al-Ṭāhir Ibn ʿĀshūr.“ In Tafsīr and Islamic Intellectual History. Exploring the Boundaries of a Genre, 419–440, Qur'anic studies series (2014). 29 Rānīya Ǧihād Ismāʿīl aš-Šūbakī, aṭ-Ṭāhir b. ʿāšūr wa-ǧuhūduhu l-balāġīya fī ḍawʾ tafsīrihi at-taḥrīr wa-t-tanwīr „al-maʿānī wa-l-badīʿ“ (Gaza: al-Ǧāmiʿa al-Islāmīya Ġazza - Kullīya al-Ādāb, 2009), 6. 30 Ebd., 7. 31 Basheer M. Nafi, „Ṭāhir ibn ʿĀshur – The Career and Thought of a Modern Reformist ʿālim, with Special Reference to His Work of tafsīr,“ Journal of Qurʾanic Studies 7 (2005): 1–32, 2 und 8. 32 Aš-Šūbakī, aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr wa-ǧuhūduhu l-balāġīya, 8.
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Großmuftī wurde und so zur öffentlichen Person.33 Ab den 1960ern zog er sich aus gesellschaftlichen Debatten immer mehr zurück und konzentrierte sich auf seine intellektuellen Tätigkeiten.34 Ibn ʿĀšūr ist Autor von mehr als vierzig Büchern und unzähligen Kurzessays und Fatwas. Die darin abgedeckten Gebiete sind fiqh, Rechtstheorie, tafsīr und auch Poesie, arabische Sprache und Literatur. 35 Auf dem Gebiet des islamischen Rechts hat er sich vor allem im Bereich maqāṣid aššarīʿa36 einen Namen gemacht, worüber er eine ausführliche Abhandlung verfasste.37
33 Nafi, „Ṭāhir ibn ʿĀshur – The Career and Thought of a Modern Reformist ʿālim, with Special Reference to His Work of tafsīr,“ 10. 34 Ebd., 12. 35 Ebd., 13. 36 Der Begriff maqāṣid aš-šarīʿa (wörtl. „Ziele der Scharia“) beinhaltet die Vorstellung, dass Gottes Gebote und Verbote, wie sie durch die verschiedenen Rechtsquellen wie Koran und ḥadīṯ zum Ausdruck kommen, bestimmte Ziele verfolgen, also nicht nur eine starre Regelsammlung darstellen. Siehe dazu R. M. Gleave, „Maḳāṣid al-Sharīʿa“. In Encyclopaedia of Islam, Second Edition, hrsg. v. P. J. Bearman, Th. Bianquis und C. E. Bosworth, 12:569 (Leiden: Brill, 2004). 37 M. Izzi Dien, Islamic law: From Historical Foundations to Contemporary Practice. The New Edinburgh Islamic Surveys (Edinburgh: Edinburgh Univ. Press, 2004), 73–79; Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ibn ʿĀšūr, Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmīya, hrsg. v. Muḥammad Maysawī (Beirut: Dār lubnānī, 2004).
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K ORANKOMMENTAR Der Tafsīr at-taḥrīr wa-t-tanwīr38 („Kommentar der Befreiung und Erleuchtung“) wird zu den „wichtigsten Werken der islamischen Wissenschaften auf internationalem Niveau“ gezählt.39 Der akademische Nachhall zumindest in der muslimischen Welt scheint dies zu bestätigen: Immer wieder erscheinen Artikel, Abschlussarbeiten und Dissertationen zu Ibn ʿĀšūrs Gesamtwerk. Von besonderem Interesse sind dabei in vielen Fällen seine Theorien zu den Maqāṣid aš-Šarīʿa, aber eben auch sein Korankommentar.40 Tafsīr at-taḥrīr wa-t-tanwīr war Ibn ʿĀšūrs letztes großes Werk. Der erste Band erschien 1956. Die beiden ersten Teile des Korankommentars wurden in einem Kairiner Verlag veröffentlicht; die restlichen Teile dann in den Folgejahren in einem tunesischen Verlag. Es gibt insgesamt dreißig Bände nach den dreißig Teilen, in die der Koran traditionell eingeteilt wird.
38 Der ursprüngliche volle Name des Kommentars ist Taḥrīr al-maʿnā l-sadīd watanwīr al-ʿaql al-ǧadīd min tafsīr al-Kitāb al-Maǧīd (wörtl. übersetzt: „Kommentar des glorreichen Buches mithilfe von Befreiung der treffenden Bedeutung und Erleuchtung des neuen Verstandes“); er wurde aber später vom Autor abgekürzt. Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ibn ʿĀšūr, Tafsīr at-tahrīr wa-t-tanwīr (Tunis: adDār at-tūnsīya li-n-našr, 1984), 8. 39 Zitiert nach aš-Šūbakī, aṭ-Ṭāhir b. ʿāšūr wa-ǧuhūduhu l-balāġīya, 14. 40 Siehe hierzu folgende sechs Arbeiten aus der jüngsten Zeit aus Saudi-Arabien, der Türkei und Malaysia: Isrār Aḥmad Ḫān, „Naẓm al-qurʾān wa-manhaǧ ibn ʿāšūr fīhi. Dirāsa taqwīmīya,“ Maǧalla al-Islām fī Āsiyā (2011): 57–78; Ergin Çoban, Taberî ve Tahir İbn Âşûr Tefsir Mukaddimelerinin Usûl Açısından Değerlendirilmesi (Universität Marmara, 2004); Annaoraz Nurmuhammedov, „İbn Asur ve Mukaddimesi Bağlamında Tefsir Usulündeki Yeri.“ (Universität Uludağ, 01.01.2005); aš-Šūbakī, aṭ-Ṭāhir b. ʿāšūr wa-ǧuhūduhu l-balāġīya; Faruk Vural, „Tahir İbn Âşûr ve et-Tahrîr ve’t-Tenvîr İsimli Tefsiri,“ (Universität Marmara, 01.01.2002); Aḥmad az Zahranī, „Aṯar ad-dalālāt al-luġawīya fī ttafsīr ʿinda ṭ- ṭāhir b. ʿāšūr fī kitābihi. at-Taḥrīr wa-t-tanwīr,“ (Ǧāmiʿa Umm alQurā, 01.01.2006). An dieser Stelle gilt mein Dank Serdar Aslan und Navid Chizari für hilfreiche Hinweise.
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Erst 1970 wurde die komplette Ausgabe der dreißig Bände zum ersten Mal herausgegeben.41 Ibn ʿĀšūr geht in seinem tafsīr-Werk Vers für Vers vor, wobei er auch Verse zu kleineren Gruppen zusammenfasst und diese dann geschlossen kommentiert. Ibn ʿĀšūr macht starken Gebrauch von der schon vorhandenen tafsīr- und anderer Fachliteratur. Er geht an einzelnen Stellen sehr genau auf die grammatikalische Struktur eines Verses oder Versabschnitts ein, zitiert andere Gelehrte und deren unterschiedliche Meinungen (in den Bereichen ḥadīṯ, fiqh oder tafsīr) und diskutiert dies, um zu einem eigenen Urteil zu kommen bzw. manche Meinungen zu widerlegen. Diese Vorgehensweise beschreibt aš-Šūbakī folgendermaßen: [Ibn ʿĀšūr] teilt die Suren zunächst in Abschnitte ein, er beginnt dann seinen Kommentar mit der Erläuterung der inneren Zusammenhänge (al-munāsaba)42 der Sure, darauf folgt die Erläuterung ästhetischer und rhetorischer Punkte, eine Diskussion der verschiedenen Meinungen der Gelehrten, die den Vers betreffen, dann fügt er die Erläuterung und Genese seiner eigenen Meinung basierend auf rhetorischen, sprachlichen und grammatischen Argumentationen hinzu. Darauf folgen rechtliche Diskussionen, historische Ereignisse und verschiedene Rezitationsarten als Quellen der Exegese.43
Aš-Šūbakī beschreibt diese Vorgehensweise als rationalistisch in der Analyse, ohne jedoch die Überlieferungen außer Acht zu lassen.44 Ibn ʿĀšūr selbst schreibt in seinem Vorwort, dass ihm weniger daran gelegen ist zu
41 Nafi, „Ṭāhir ibn ʿĀshur – The Career and Thought of a Modern Reformist ʿālim, with Special Reference to His Work of tafsīr,“ 17. 42 Der Begriff munāsaba (Beziehung, Verbindung, Zusammenhang) wird in den Koranwissenschaften ursprünglich für die Idee verwendet, dass es einen sprachlichen und/oder inhaltlichen Zusammenhang zwischen aufeinanderfolgenden Versen und Suren gibt. Verschiedene Ansätze existieren dazu bereits bei azZarkašī und ar-Rāzī und werden in der Moderne auch von Sayyid Quṭb und Amīn Aḥsan Iṣlāḥī weiterverfolgt. Siehe dazu Salwa M. S. El-Awa, Textual relations in the Qurʾān: Relevance, Coherence and Structure. Routledge Studies in the Quran (London: Routledge, 2006), 11–22. 43 Aš-Šūbakī, aṭ-Ṭāhir b. ʿāšūr wa-ǧuhūduhu l-balāġīya, 17. 44 Ebd., 18.
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wiederholen was frühere Kommentatoren schrieben, sondern zu erwähnen und zu erläutern, was bislang nicht erwähnt und erläutert wurde. Ibn ʿĀšūr will rhetorische Feinheiten und Zusammenhänge beleuchten, die vorherige Kommentatoren nicht wahrgenommen haben.45 In seinem Vorwort gibt Ibn ʿĀšūr durch eine Aufzählung der für ihn wichtigsten Korankommentare auch eine kurze Einschätzung der tafsīrTradition. Dabei kommt er zu interessanten Feststellungen, wie beispielsweise, dass al-Bayḍāwīs (gest. ca. 716/1316) Korankommentar eine Zusammenfassung des Kaššāf von Zamaḫšarī (gest. 538/1144) und des Mafātīḥ al-Ġayb von ar-Rāzī (gest. 606/1210) ist. Ibn ʿĀšūrs Haltung in der Diskussion um die Legitimität von tafsīr bi-r-raʾy wird schon anhand dieser Auflistung klar: Zu den 13 wichtigsten Werken des Genres aus der gesamten islamischen Geschichte zählt lediglich der enzyklopädische Kommentar aṭ-Ṭabarīs46 (gest. 310/923) zu Ibn ʿĀšūrs Quellen aus der Kategorie des tafsīr bi-l-maʾṯūr. Der Kommentar Ibn Kaṯīrs47, zu Ibn ʿĀšūrs Zeit bereits sehr populär48, findet hingegen keine Erwähnung.49 Insgesamt besteht das gut 125 Seiten lange Vorwort aus zehn Teilen, die verschiedene Themenbereiche beleuchten, die laut Ibn ʿĀšūr Grundlage des Werkzeugkastens eines Exegeten im Sinne von beherrschten Methoden sind.50 Zu den Hilfswissenschaften des tafsīr gehören z.B.: das Arabische, die Wissenschaft der Überlieferungen (ʿilm al-āṯār), die Geschichte der frühen Araber (aḫbār alʿarab), Grundlagen des Rechts (uṣūl al-fiqh), Theologie (ʿilm al-kalām) und die Wissenschaft der Rezitationsarten (ʿilm al-qirāʾāt).51
45 Ebd., 15. 46 Muḥammad Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Tafsīr aṭ-ṭabarī l-musammā ǧāmiʿ al-bayān fī taʾwīl āy al-qurʾān, 16 Bände, hrsg. v. Ḥānī al Ḥāǧǧ und ʿImād Zakī al Bārūdī (Kairo, 2004). 47 Ibn Kaṯīr, Tafsīr al-qurʾān al-ʿaẓīm, hrsg. v. ʿAlī Šīrī (Beirut: Dār iḥyāʾ at-turāṯ al-ʿarabī, 1987). 48 Walid A. Saleh, „Preliminary Remarks on the Historiography of tafsīr in Arabic: A History of the Book Approach.“ In Tafsīr. Interpreting the Qu’ran. 49 Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ibn ʿĀšūr, Tafsīr at-tahrīr wa-t-tanwīr, 30 Bände (Tunis: ad-Dār at-tūnsīya li-n-našr, 1984), 1:7. 50 Das gesamte Vorwort ist Gegenstand einer ausführlichen Studie zu Ibn ʿĀšūrs Methodik, die derzeit von der Autorin durchgeführt wird. 51 Ebd., 18.
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T AFSĪR OHNE R ÜCKGRIFF AUF S UNNA GEMÄSS M EINUNG UND G RAMMATIK
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TAFSĪR
Wie schon bei al-Māturīdī und al-Ġazzālī ist auch in Ibn ʿĀšūrs Abhandlung folgender ḥadīṯ Ausgangspunkt der Ausführungen: Ibn ʿAbbās berichtet, dass der Prophet sagte: „Wer über den Koran etwas aufgrund der eigenen Meinung sagt, der nehme seinen Platz im Feuer ein.“52 Ibn ʿĀšūr geht allerdings darüber hinaus und führt zunächst weitere Überlieferungen der Aussagen von Gefährten an. Zunächst hält Ibn ʿĀšūr fest, dass die Anzahl des Kommentarmaterials zum Koran, das sich nicht auf Überlieferungen bezieht, sondern mithilfe der oben erwähnten Hilfswissenschaften erhoben wurde, immens ist. Angesichts dessen muss man sich fragen, wie der von Tirmiḏī überlieferte ḥadīṯ einzuschätzen ist. Auch die Zurückhaltung mancher Vertreter der Gefährten in Bezug auf die Erläuterung des Korans wirft Fragen auf. So wurde von Abū Bakr aṣ-Ṣiddīq überliefert, dass er in dem Vers wa fākihatan wa-abban (Q 80:31)53 nach der Bedeutung (ʿan at-tafsīr) des Ausdrucks abb gefragt wurde und darauf sagte: „Welche Erde trägt mich [noch], welcher Himmel gibt mir Schatten, wenn ich etwas über den Koran ohne Wissen sage?“54 Ibn ʿĀšūr macht sich also daran, zu beweisen, dass der tafsīr bi-r-raʾy erlaubt ist. Zunächst leitet er seine Abhandlung durch rhetorische Fragen an den Leser ein: Wenn dem nicht so wäre, wäre dann der tafsīr des Korans nicht beschränkt auf ein paar wenige Blätter? Aischa sagte: „Der Gesandte Allahs erklärte von dem Buch Gottes nichts außer abgezählte Verse, die ihm Ǧibrīl beibrachte.“55
52 Im Text wird noch eine weitere Variante angeführt. In einer anderen Überlieferung heißt es: „Wer über den Koran etwas ohne Wissen sagt, der nimmt seinen Platz im Feuer ein.“ Siehe ebd., 28. 53 „und Früchte und Futter“. 54 Ebd. 55 Ebd.
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M EINUNGSUNTERSCHIEDE
IN DEN
Ü BERLIEFERUNGEN
Ibn ʿĀšūr geht davon aus, dass der Text des ḥadīṯ als Verbot aufzufassen ist. Allerdings ist er der Meinung, dass dieses Verbot nicht annähernd so umfassend zu verstehen ist, wie dies von ihm nicht namentlich genannte Gelehrte behaupteten. Sicherlich wäre dann das Genre nicht annähernd so umfangreich ausgefallen und hätte sich „auf die Erklärung einzelner Wörter des Korans aus dem Blickwinkel des Arabischen beschränkt und [wäre] somit bedeutungslos unter den Wissenschaften geblieben“. Nun ist es aber so, dass laut Ibn ʿĀšūr viele Aussagen der Gefährten zu einem großen Teil auf ihrer eigenen Meinung und auf ihrem eigenen Wissen beruhen: Al-Ġazzālī und al-Qurṭubī sagen: „Es ist nicht richtig, dass alles was die Gefährten über den Koran kommentiert haben vom Propheten gehört wurde, dies aus zwei Gründen: 1. Es ist nicht gesichert [überliefert], dass der Prophet den Koran vollständig erläutert hat. Dies geschah nur für einen kleinen Teil [des Korans] gemäß der Überlieferung ʿĀʾišas. 2. Sie hatten unterschiedliche Ansichten im tafsīr, und diese Meinungsunterschiede sind nicht miteinander in Einklang zu bringen.“56
Ibn ʿĀšūr ist der Auffassung, dass es völlig unvernünftig ist, anzunehmen, die Gesamtheit der Meinungsunterschiede der kommentierenden Gefährten sei durch den Gesandten Allahs gehört und somit akzeptiert worden. Denn: Wenn einige davon gehört wurden, dann hätte der Überlieferer diesen Umstand ja erwähnt und vom Propheten überliefert und hätte ihm den Meinungsunterschied vorgelegt. Es sei also mit Sicherheit bewiesen, dass jeder Mufassir über die Bedeutungen der Verse sprach, die ihm durch eigene Überlegungen klar wurden. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī sagt in seinem Kommentar: In den Grundlagen des Rechts wurde bereits bewiesen, dass die Aussage eines salaf zu einem bestimmten Vers von einem Nachfolgenden aus einem anderen Blickwinkel erweitert werden kann. Wenn von einem Gefährten im Korankommentar zu einem Vers eine Sichtweise erwähnt wurde, dann verbietet dieser Umstand den Nach-
56 ʿĀšūr 1984, 28.
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folgenden nicht, eine weitere Deduktion aus einem anderen Blickwinkel vorzunehmen zu dem betreffenden Vers.57
B EDEUTUNG VON
RA ʾ Y
Es bleibt jedoch die Frage, vor welcher Art des raʾy in dem betreffenden ḥadīṯ gewarnt wird. Da dies zu Unsicherheiten im Umgang mit tafsīr geführt hat, erläutert Ibn ʿĀšūr fünf Arten des Zustandekommens von unzulässigem raʾy im tafsīr: Mit unzulässigem raʾy ist gemeint, dass ohne Ansehen der Belege aus der arabischen Sprache, der Ziele der Scharia, des Abrogierenden und Abrogierten sowie der Anlässe der Offenbarung Erläuterungen zum Koran geäußert werden. Dies ist selbst dann unzulässig, wenn (zufälligerweise) dadurch eine richtige Interpretation zustande kommt. In diesem Zusammenhang muss laut Ibn ʿĀšūr auch das überlieferte zögernde Verhalten Abū Bakrs verstanden werden: Sein Zögern ist allein darauf zurückzuführen, dass er Angst hatte eine Aussage zu treffen, für die er keine Belege zur Verfügung hatte, oder über Themen zu sprechen, die der Auslegung nicht notwendigerweise bedurften. Ibn ʿĀšūr erwähnt an dieser Stelle eine Überlieferung, die belegen soll, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung Abū Bakrs handelte. Abū Bakr wurde einmal nach dem Wort al-kalāla in der Sure an-Nisāʾ gefragt58, woraufhin er das Wort erklärte und auch seine Vorsicht zum Ausdruck brachte: „Ich antworte darauf nach meiner Meinung und wenn ich richtigliege, dann kommt es von Allah. Wenn ich irre, dann kommt es von mir und vom Satan“. Eine Erklärung auf Basis des raʾy wäre also nach dieser Argumentation Ibn ʿĀšūrs zulässig, wenn Belege und/oder eine Notwendigkeit vorliegen würden. 59 Eine hastige und unvollständige Konsultation des Korans und der tafsīrLiteratur wird notwendigerweise keine andere Grundlage als die eigene Meinung haben. Dann genügt auch nicht, dass der Kommentator sich auf Wissen über die arabische Sprache bezieht. Auf diese Weise kommen Feh-
57 Ebd., 29. 58 Dieser Begriff kommt nur in den Versen 4:12 und 4:176 vor und wird mit „Mann ohne lebende Eltern und Kinder“ übersetzt. 59 Ebd., 30.
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ler in der Interpretation zustande: Wer die Koranstelle „Was dich an Gutem trifft, ist von Allah“ (Q 4:79) nur nach dem offenkundigen Wortsinn (ẓāhir) kommentiert, wird zu dem Ergebnis kommen, dass lediglich das Gute von Allah kommt und das Schlechte von den Taten der Menschen. Allerdings werden hier andere, wichtige Belege aus der Scharia ausgelassen, die aussagen, dass nichts passiert außer durch den Willen Allahs, wie in Vers 4:78: „Sag: Alles ist von Allah.“60 Einige Kommentatoren lassen ihren Korankommentar zu sehr durch die eigene Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule (maḏhab) oder Glaubensrichtung (niḥla) beeinflussen. In diesem Fall ist die Zielrichtung des Kommentars schon von vornherein festgelegt. Dies hat zur Folge, dass ein solcher Kommentator den Koran benutzt, um seine eigene Meinung zu untermauern, da er verstandesmäßig so eingestellt ist, dass es außerhalb seiner maḏhab keine Wahrheit geben kann. Es gibt auch die Einstellung, dass der Koran nur basierend auf dem, was der sprachliche Ausdruck impliziert, auszulegen ist. Von diesen Kommentatoren wird laut Ibn ʿĀšūr behauptet, dass die wortwörtliche Bedeutung die einzig intendierte ist, was eine erhebliche Einschränkung der Exegeten darstellt.61 Das Ziel der Warnung vor dem raʾy in diesem ḥadīṯ ist, Vorsicht im Nachdenken (at-tadabbur) und Kommentieren (at-taʾwīl) walten zu lassen und Exzesse zu vermeiden. Allerdings wurde dieser Aspekt aus Gottesfurcht unter den Gelehrten verstärkt und übertrieben. Dies ging laut Ibn ʿĀšūr so weit, dass im tafsīr nichts mehr erwähnt wurde, was nicht durch Koran und Überlieferung abgesichert wurde oder über das Wortwörtliche hinausging.62 Dieses Denken hat sich unter manchen Gelehrten so stark verbreitet, dass die Angst vor dem Kommentieren nun überwiegt. Tatsächlich sind laut Ibn ʿĀšūr davon viele der Gelehrten betroffen (ahl al-ʿilm wal-faḍl). 63
60 Ebd., 30. 61 Ebd., 31. 62 Ebd. 63 Ebd., 32.
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W IDERSPRÜCHE
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DER RA ʾ Y -G EGNER
Nachdem Ibn ʿĀšūr die grundsätzliche Legitimität von raʾy diskutiert hat, widmet er sich im weiteren Verlauf den spezifischen Argumenten gegen raʾy als Grundlage für den Korankommentar. Er nennt grundsätzlich keine Autoren der von ihm kritisierten Position, sondern umschreibt diese als diejenigen, die sich auf die Aussage festgelegt haben, dass der tafsīr des Korans nicht dem widersprechen darf, was überliefert wurde. Sie wollen damit erreichen, dass nur das, was über den Propheten an Korankommentar zu einigen Versen überliefert wurde, akzeptiert wird, wenn es einer akzeptierten Überlieferungskette in der ṣaḥīḥ- oder ḥasan- Kategorie entspricht.64
Nun ist es aber so, dass durch diese Annahme ein bedeutendes Charakteristikum des Korans, nämlich das seiner vielfältigen Bedeutungen, eingeengt wird. Ibn ʿĀšūr macht außerdem auf den Widerspruch zwischen proklamierter Methode und tatsächlicher Quellenlage aufmerksam. Einerseits kritisierten Vertreter dieser Haltung alle vorhergegangenen Korankommentatoren wegen ihrer (fehlerhaften) Auslegung. Andererseits ist es so, dass die Führer der Muslime aus der Generation der Gefährten sich nicht beschränkt haben auf das, was ihnen von den Auslegungen des Propheten überliefert wurde. So führt Ibn ʿĀšūr an, dass ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb selbst gelehrte Leute zur Bedeutung von Versen befragte und ihnen dabei nicht zur Bedingung machte, nur das zu überliefern, was vom Propheten als Kommentar überliefert wurde. Selbst wenn man die Definition ausweitet und nur das akzeptiert, was ausschließlich vom Propheten oder von den Gefährten überliefert wurde, kommt laut Ibn ʿĀšūr relativ wenig Material zusammen, wie durch das tafsīr-Werk ad-Durr al-manṯūr65 von as-Suyūṭī (gest. 911/1505) belegt
64 Ebd. 65 Ad-Durr al-manṯūr hier zu erwähnen und nicht etwa den Kommentar von Ibn Kaṯīr als stellvertretend für überlieferungsbasierte Kommentare, erscheint aus Ibn ʿĀšūrs Sicht schlüssig, wird as-Suyūṭīs Werk aus dem 16. Jahrhundert doch allgemein als der Höhepunkt dieses Ansatzes angesehen, da er ausschließlich Überlieferungen ohne weitere Kommentierung sammelt. Ally gelangt zu der Ansicht, dass as-Suyūṭī mit ad-Durr den Ansatz Ibn Taymīyas unterschwellig
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ist. Dies bedeutet, dass die Koranexegese davon nur zu einem sehr geringen Grad profitiert. Vieles davon, so zum Beispiel die exegetischen Überlieferungen von ʿAlī ibn Abī Ṭālib, ist nur zum Teil im ṣaḥīḥ-Status, vieles eher dem ḍaʿīf (schwach) oder erfundenen Bereich zuzuordnen. Das exegetische Material, das durch Ibn Masʿūd, ʿAbdallah ibn ʿUmar, Anas ibn Mālik und Abū Hurayra überliefert wurde, besteht zum größten Teil aus Aussagen, die auf individueller Meinung basieren, und belegt zudem Meinungsunterschiede. Aufgrund des wenigen Textmaterials wenden die raʾy-Gegner einen erweiterten Begriff von maʾṯūr an, verstehen darunter auch das, was vor der Verschriftlichung der ersten tafsīre überliefert wurde. Darunter fällt dann beispielsweise auch das, was von den Schülern von Ibn ʿAbbās und Ibn Masʿūd tradiert wurde. Hier schlussfolgert Ibn ʿĀšūr richtig, dass dadurch ein sehr weites Feld eröffnet wird, welches für den raʾy spricht, da auch die Vertreter der Nachfolgegeneration (at-tābiʿīn) den Koran erklärten, ohne dies zu belegen.66 Auch unterschieden sich ihre Aussagen sehr stark voneinander, was belegt, dass auch sie die Verse nach ihrem Verständnis auslegten. Dies ist laut Ibn ʿĀšūr jedem bekannt, der mit dem betreffenden Textmaterial der Prophetengefährten und der Nachfolgegeneration vertraut ist, welches am umfassendsten durch den tafsīr von aṭ-Ṭabarī (gest. 310/923) gesammelt wurde.67 Auf Grundlage des tafsīr von aṭ-Ṭabarī gelingt Ibn ʿĀšūr noch ein weiteres Argument zur Erwiderung der Argumente der Vertreter eines tafsīr bil-maʾṯūr. Dieser Gruppierung gilt der tafsīr von aṭ-Ṭabarī als eines der frü-
zu widerlegen suchte. Die Traditionen, die as-Suyūṭī anführt, belegen folglich, dass die meinungsbasierte Kommentierung des Korans die überlieferungsbasierte Kommentierung ergänzt. Sie belegen nach Ally außerdem, dass die frühen Exegeten, die Gewährsmänner für das von Ibn Taymīya favorisierte exegetische Material, keine einheitliche Koranexegese lieferten und dies notwendigerweise zu einem polyvalenten Ergebnis führe. Allein die bloße Existenz verschiedener Rezitationsarten hat zwingend verschiedene Bedeutungen zur Folge; siehe Ally, The Culmination of Tradition-based Tafsīr. The Qurʼān Exegesis al-Durr almanthūr of al-Suyūṭī (d. 911/1505), ii–iii. 66 ʿĀšūr, Tafsīr at-tahrīr wa-t-tanwīr, 32. 67 Abū Ǧaʿfar Muḥammad Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarīs (gest. 310/923) Korankommentar hat den Titel Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-qurʾān („Die Sammlung der deutlichen Interpretationen der Verse des Korans“).
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hesten Werke dieser Richtung und wird so im historischen Rückblick ein Eckpfeiler für die Konstruktion einer vermeintlich sunnitischen Tradition des tafsīr bi-l-maʾṯūr. Jedoch, so führt Ibn ʿĀšūr an, ist aṭ-Ṭabarī gar nicht als Beispiel gegen raʾy und für den ausschließlichen Gebrauch von aṯār (allgemein: Traditionen) geeignet. Immerhin ist es noch der Autor selbst, der zunächst die (seiner Meinung nach) passenden Überlieferungen zu einem Vers zusammenstellt, einer Wahrscheinlichkeitsdiskussion unterzieht und, wie im Falle aṭ-Ṭabarīs, mit Zitaten von Redegewohnheiten der Araber (kalām al-ʿarab) begründet. Die Bezeichnung tafsīr bi-l-maʾṯūr wird also der Arbeitsweise aṭ-Ṭabarīs nicht gerecht, die wie dargestellt einen hohen Anteil an raʾy beinhaltet.68
ABGRENZUNG DES TAFSĪR BI - R - RAʾ Y VON I NTERPRETATION DER B ĀṬINĪYA UND DEN AHL AL - IŠĀRĀT
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Den bisherigen Ausführungen zufolge ist für Ibn ʿĀšūr geklärt, dass ein tafsīr auf der Grundlage von raʾy den Quellen nach legitim, ja sogar notwendig und der Gelehrtentradition nach der Standard ist. Im zweiten Teil seiner Abhandlung erläutert er mit einigen Beispielen, was im Sinne des angeführten ḥadīṯ mit nicht-legitimen (maḏmūm) tafsīr bi-r-raʾy gemeint ist. Ganz allgemein ist damit das Auslegen des Korans der Neigung und Voreinstellung nach gemeint. Meistens geschieht dies unter Nichtbeachtung der offensichtlichen Bedeutungen einzelner Ausdrücke des Korans und durch Hervorhebung des inneren Wortsinns (al-bāṭin). Eine der Gruppierungen, die von Ibn ʿĀšūr dieser Auslegungsweise zugeordnet werden, ist die als Bāṭinīya bekannte frühe Ismāʿīlīya. Historisch war es nach Ibn ʿĀšūr zu einem bestimmten Zeitpunkt, als die Lehren der Ismāʿīlīya sich konsolidierten, notwendig, diese Lehren auch innerhalb der gesamten Gelehrtenschaft auf Grundlage des Korans und des ḥadīṯ zu verteidigen. Die Argumentation war dabei wie folgt: Der Koran sei eine Metapher von versteckten Bedeutungen aufbauend auf offensichtlichen Ausdrücken, mit denen sich die Laien unter den Muslimen beschäftigen sollen. Die Erläuterung der verborgenen Bedeutungen ist allerdings nur Angelegenheit
68 Ebd., 33.
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der religiösen Führer.69 Das folgende Beispiel verdeutlicht Ibn ʿĀšūrs Kritik. So führt er an, dass der Ausdruck al-aʿrāfi riǧāl im Koranvers 7:4670 von Vertretern der Bāṭinīya als „Leute der Erkenntnis und des Wissens“ gedeutet wird.71 Eine zweite Gruppierung, von Ibn ʿĀšūr ahl al-išārāt (wörtl. „Leute der Hinweise“) genannt, geht davon aus, dass die tatsächliche Bedeutung einiger Verse des Korans nicht erschlossen werden kann, wenn man diese wortwörtlich nimmt; notwendig ist vielmehr eine metaphorische Deutung. Allerdings, so Ibn ʿĀšūr, ist es hier wichtig zu betonen, dass diese Art der Kommentierung von ihren Vertretern nicht tafsīr genannt wird. Der betreffende koranische Ausdruck oder Vers wird in dieser Art des Kommentierens lediglich als angemessener Ausgangspunkt betrachtet, um weitere Ausführungen zu platzieren. Aus diesem Grund wurde diese Art der Betrachtungen auch Hinweise (išārāt)72 genannt – und nicht Bedeutungen. Dies ist auch das Unterscheidungsmerkmal zur Bāṭinīya. Hier stellt sich für Ibn ʿĀšūr nun die Frage, ob diese Art des raʾy in manchen Fällen nicht doch legitim ist. Dieser Frage folgt eine längere Ausführung verschiedener gelehrter Meinungen, die darüber uneins sind. So habe al-Ġazzālī in der Iḥyāʾ bestimmte Arten dieser Kommentierung als erlaubt betrachtet, wie das folgende Beispiel einer metaphorischen Assoziation anhand eines ḥadīṯ-Textes verdeutlicht: 73
69 Ebd. 70 Und zwischen ihnen ist ein Vorhang. Und auf den Höhen sind Männer, die jeden an seinem Merkmal erkennen. Sie rufen den Insassen des (Paradies)Gartens zu: „Friede sei auf euch!“ Sie sind aber in ihn nicht eingetreten, und sie begehren (es) doch. 71 Ebd., 34. 72 Ibn ʿĀšūr betont, dass išāra nicht zu verwechseln ist mit dem dalāla al-išāra innerhalb der Rechtstheorie. Hier werden Normen im übertragenen Sinne belegt. Wie z.B. in Q 18:19: „So schickt einen von euch mit diesen euren Silbermünzen in die Stadt“ Dieser Vers wird beizeiten als Beleg für die Zulässigkeit von Vollmachten (wakāla) angeführt, siehe Robert Gleave, Inevitable Doubt: Two Theories of Shīʿī Jurisprudence. Studies in Islamic Law and Society (Leiden: Brill, 2000), 151; ʿĀšūr, Tafsīr at-tahrīr wa-t-tanwīr, 36. 73 Ebd., 34.
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Zur Deutung [folgender] Aussage des Propheten: „Die Engel betreten kein Haus, in dem ein Hund oder ein Bild ist.“ In diesem ist sowohl das wortwörtliche als auch der Hinweis, dass das Herz ein Haus ist. [Das Herz] ist der Landeplatz der Engel und die Behausung ihrer Einflüsse. Niedrigen Eigenschaften wie Wut, Gelüste, Neid, Böswilligkeit oder Stolz sind wie der bellende Hund im Herzen, außer die Engel greifen ein und schlichten. Aus einem solchen Herz tritt kein Licht hervor.
Hiermit ist laut Ibn ʿĀšūr nicht gemeint, dass der Ausdruck Haus „Herz“ bedeuten würde und Hund „verabscheuenswürdige Eigenschaften“. Aber mithilfe der išāra-Methode ist es in diesem Beispiel möglich, eine (legitime) Mahnung in diese Richtung zu formulieren. Um selbst zu einer Beurteilung der Zulässigkeit der išāra-Methode zu kommen, unterscheidet Ibn ʿĀšūr drei Arten der verwendeten išārāt: Eine išāra kann eine implizite Ähnlichkeit mit der wörtlichen Bedeutung eines Verses hervorheben. Der folgende Vers 2:114 dient als Beispiel: „Und wer ist ungerechter als wer verhindert, dass an Allahs Gebetsstätten Sein Name genannt wird“. Ibn ʿĀšūr führt an, dass Gebetsstätten (masāǧid) ein Hinweis, also eine išāra, auf Herzen ist. Denn das Herz ist der Ort an dem die Niederwerfung (suǧūd) vor Gott beginnt. Die Ähnlichkeit beruht hier auf der Wortverwandtschaft zwischen suǧūd, zu dem die Absicht im Herzen gefasst wird, und dem im Vers verwendeten masāǧid. In so einem Fall ist es legitim einen Koranvers zu erwähnen, da dies lediglich zur Betonung eines Sachverhalts geschieht.74 Ein weiterer Gebrauch der išāra beruht auf dem Klangbild eines Wortes oder Satzteils. Am besten verdeutlicht dies der folgende interpretatorische Vorgang zu Vers 2:255: „Wer ist es denn (man ḏā llaḏī), der bei Ihm Fürsprache einlegen könnte?“. Hier wird das Lautbild der tatsächlichen Abfolge „wer ist es denn“ (man ḏā llaḏī) in der Form „wer sich demütig ergibt“ (man ḏalla ḏī) als išāra formuliert. Gemeint sei also, dass Menschen mit einer besonderen Demut Fürsprache bei Gott einlegen können. Dies entspricht jedoch nach Ibn ʿĀšūr in keiner Weise der (von Gott) intendierten Bedeutung dieser Worte und ist von daher unzulässig. 75 Išāra wird auch in Form einer metaphorischen Umdeutung angewendet in ermahnenden Predigten. Dies wird beispielsweise im Vers 73:16 deut-
74 Ebd., 36. 75 Ebd.
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lich: „Es widersetzte sich Pharao dem Gesandten. Da ergriffen Wir ihn mit hartem Griff.“ Auch hier wird wieder das Herz als das Gemeinte (dieses Mal von Pharao) gedeutet – ein Herz, welches dem Gesandten nicht gehorche.76 Zusammenfassend kommt Ibn ʿĀšūr zu dem Schluss, dass die išāra immer in einem der genannten Fälle vorkommt. Sie ist zwar in manchen Fällen zulässig, dennoch kommt ihr nicht der Status eines (argumentativen) Beleges (dalīl) zu. In manchen Fällen grenzt sie sogar unterschwellig an die Methode der Bāṭinīya oder überschneidet sich ganz mit ihr. Als Kriterium für die Gültigkeit einer išāra soll das Überprüfen von weiteren angeführten Referenzen im Kommentar dienen. Ibn ʿĀšūr fasst seine Ausführungen für die Leser seines Korankommentars als ein Kriterium für diese Unterscheidung auf.
F AZIT Aus Ibn ʿĀšūrs Perspektive schließen sich tafsīr bi-l-maʾṯūr und tafsīr bi-rraʾy nicht gegenseitig aus. Beide Methoden betrachtet er als essentiell für eine gelungene Auslegung des Korans. Diese Diskussion ist allerdings auf Seiten der raʾy-Gegner im tafsīr als exklusiv verhandelt und so wohl zu einer Kontroverse geworden, die mit der Muqaddima einen prominenten Ausdruck gefunden hat. Die Argumentation Ibn ʿĀšūrs versucht hingegen nicht, Überlieferungen aus dem tafsīr auszuschließen, sondern vertritt einen inklusiven Ansatz mit dem Ziel, Bedeutungsvielfalt, wo legitim, zu bewahren und zu entdecken.
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76 Ebd.
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Geschichtlichkeit in der Koranexegese Die Kontextgebundenheit der Bedeutungen des Korans N IMET S EKER
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In den akademischen Diskussionen um eine Methodologie der Koranexegese wird häufig die Forderung nach einer sogenannten historisch-kritischen Methode oder einer „historischen Kontextualisierung“ formuliert. Diese nahezu schlagwortartig verwendeten Begriffe scheinen auf die Existenz einer breit akzeptierten hermeneutischen oder exegetischen Methodologie hinzudeuten, die bei näherer Betrachtung zunächst jedoch unscharf bleibt. Denn jenseits von den in diesem Zusammenhang evozierten Assoziationen mit einer reformorientierten Programmatik stellen sich eine Reihe von Fragen. Dazu zählt etwa die Frage, welche hermeneutischen Überlegungen die theoretische Grundlage für eine historisierende Methodik bilden. Dieser Beitrag möchte daher den bereits existierenden Ansätzen für geschichtliches Denken in der klassischen wie modernen Hermeneutik und Exegese des Korans nachgehen. Unter Hermeneutik verstehe ich in diesem Zusammenhang die epistemologische und theologische Reflexion von Methoden der Schriftauslegung. Diese Reflexion ist bereits in der klassischen Diskussion um die uṣūl at-tafsīr (Prinzipien der Koranexegese) angelegt, auf die ich aus diesem Grunde in diesem Aufsatz zurückblicken möchte. Geschichtlichkeit wird als Konzept erst von zeitgenössischen muslimischen Denkern diskutiert, die jedoch im seltensten Fall ohne Rückgriff auf die klassischen Koranwissenschaften arbeiten. Das Verständnis vom Koran
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als eine Herabsendung in Raum und Zeit und folglich als eine geschichtliche Verkündigung wird in den klassischen Koranwissenschaften aus einer breiten Überlieferung von Offenbarungsberichten abgeleitet. Die stufenweise (tadrīǧan) Übermittlung der Koranverse vom Erzengel Gabriel an den Propheten Muhammad gehören dabei zu einem Kernelement des muslimischen Verständnisses von der Offenbarung des Korans. 1 Mit dem Tod des Propheten gilt auch die Offenbarung als endgültig abgeschlossen.2 Ein geschichtliches Verständnis von der Herabsendung des Korans, bei dem die Offenbarung als ein Ereignis gedacht wird, bildet die Grundlage für das Bewusstsein für die zeitliche und damit hermeneutische Distanz zum Gegenstand der Auslegung. Demnach sandte Gott sein Wort herab, das in einem konkreten, zeitlich und geographisch begrenzten Rahmen durch den Propheten Muhammad verkündet wurde, und in seiner sprachlichen Ausformung sowie in seiner Botschaft auf die Realität der Ersthörer hin ausgerichtet war. Dies bedeutet weiterhin, dass der Wortlaut wie auch die Botschaft des Korans diese historische sprachliche und kulturelle Wirklichkeit der Ersthörer widerspiegeln. Aus diesem Grunde meinen Vertreter einer geschichtlich ausgerichteten Methodenlehre, dass sich die Sinnzusammenhänge des Korans am ehesten aus diesem engeren Verkündigungskontext heraus erschließen lassen.3 Die Diskussion um geschichtliche Elemente in der Exegese und Hermeneutik des Korans wird in der muslimischen Welt spätestens seit den 1980er Jahren mit zunehmender Intensität geführt.4 Sie fand ihren vorläufigen Höhepunkt in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren vor allem in den Publikationen mehrerer Ankaraner Professoren, die später unter dem
1
Badr ad-Dīn Muḥammad az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, hrsg. v. Muḥammad Abū l-Faḍl Ibrāhīm (Kairo: Maktaba dār at-turāṯ, 1404), 1:231; Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, hrsg. v. Markaz ad-dirāsāt al-qurʾānīya (Madina: al-Maktaba al-ʿarabīya as-suʿūdīya, 1426), 1:268–275.
2
As-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, 1:178–179.
3
Ömer Özsoy, „Türkiye’de Kur’an Hermeneutiği Tartişmaları. Bir Soykütüğü Denemesi,“ Tefsire Akademik Yaklaşımlar, hrsg. v. Mehmet Akif Koç, İsmail Albayrak (Ankara: Otto, 2013), 234.
4
Özsoy, „Türkiye’de Kur’an Hermeneutiği Tartişmaları,“ 231–236.
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Namen „Ankaraner Schule“ als eine Gruppe wahrgenommen wurden.5 Anlehnungen an die zeitgenössische Debatte um eine geschichtlich angelegte Hermeneutik und Exegese finden sich auch bei dem ägyptischen Denker Nasr Hamid Abu Zayd (gest. 2010) und dem türkischen Professor für Koranexegese Mustafa Öztürk (geb. 1965). Für den deutschsprachigen Raum hat Felix Körner sowohl einige Texte der „Ankaraner“ als auch Mustafa Öztürks durch kommentierte Übersetzungen zugänglich gemacht.6 Wer des Türkischen nicht mächtig ist, kann jedoch weder die Diskussion, die ab Mitte der 2000er Jahre vor allem durch die Beiträge Öztürks stärker ins Rollen kam, weiter verfolgen noch den Ursprung dieser Debatten kennen. Anders als oftmals angenommen, geht es diesen Wissenschaftlern weniger um einen sogenannten Reformansatz, der das bisher Dagewesene für nichtig erklärt und eine radikal neue Hermeneutik und exegetische Methode ex nihilo zu etablieren versucht, sondern vielmehr um eine zwar kritische, aber auch würdigende Lektüre der klassischen exegetischen Werke mit Blick auf die zentrale Frage, was der Koran seinen Lesern und Hörern heute sagt und mit welchen legitimen Methoden er aktuell ausgelegt werden kann. Das Verweisen auf Inkohärenzen in der klassischen Hermeneutik und Exegese gehört zu diesem Unterfangen ebenso dazu wie der Versuch, zeitgenössische philosophische Konzepte für die
5
Felix Körner, Alter Text, neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, übers. Felix Körner (Freiburg i. Br.: Herder, 2006), 12; ders., Revisionist Koran Hermeneutics in Contemporary Turkish University Theology. Rethinking Islam (Würzburg: Ergon, 2005), 60. Der Name leitet sich vor allem aus dem Namen des Verlages „Ankara Okulu“ ab, in dem auch Bücher von Mustafa Öztürk publiziert werden.
6
Mehmet Paçacı, „Klassische Koranexegese. Was war das?,“ übers. Felix Körner, Münchner Theologische Zeitschrift 58 (2007): 127–139; Mustafa Öztürk, „Der Koran als geschichtliche Rede,“ übers. Felix Körner, Lebendiges Zeugnis 63 (2008): 84–108; Ömer Özsoy, „Erneuerungsprobleme zeitgenössischer Muslime und der Koran,“ in Alter Text, neuer Kontext, 16–28; ders., „Die Geschichtlichkeit der koranischen Rede und das Problem der ursprünglichen Bedeutung von geschichtlicher Rede,“ in Alter Text, neuer Kontext, 78–98; Mehmet Paçacı: „Der Koran und ich. Wie geschichtlich sind wir?,“ in Alter Text, neuer Kontext, 32–69; ders., „Was ist in der Moderne aus Koran und Koranexegese geworden?,“ in Alter Text, neuer Kontext, 130–159.
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Weiterentwicklung der frühen und klassischen Hermeneutiken des Korans fruchtbar zu machen.7 In dieser Diskussion wird Geschichtlichkeit auf zwei Arten gedacht: Die Geschichtlichkeit der Bedeutungen des Korans einerseits, die Geschichtlichkeit des Verstehens des Exegeten andererseits. Der entscheidende Punkt, dass zwischen diesen beiden Prinzipien zu differenzieren ist, wird in einigen zeitgenösssichen Zugängen übersehen. Viel wichtiger noch erscheint mir, dass beide Aspekte, die letztlich für zwei unterschiedliche Hermeneutiken stehen können, oftmals auf problematische Art und Weise
7
İlhami Güler, „Muhtar Bir İrade (Allah’ın İradesi) ve Mümkün Bir Tarihin (610–632) ‘Kelam-ı Kadim’e ve ‘Zorunlu Tarihe’ Dönüşmesi,“ in III. Kur’an Haftası. Kur’an Sempozyumu, hrsg. v. Osman Kayaer (Ankara: Fecr, 1998), 211–227; Ömer Özsoy, „Müzakere,“ in III. Kur’an Haftası. Kur’an Sempozyumu, 249–253; Mehmet Paçacı, „Bir Yorum Eleştirisi. Çağdaşçı Kur’ân Yorumu Üzerine,“ in VII. Kur’an Haftası. Kur’an Sempozyumu, hrsg. v. Tuncer Namlı (Ankara: Fecr, 2005), 69–92; ders., „Anlama (Fıkıh) Usulüne Dair,“ in Kur’an ve Ben Ne Kadar Tarihseliz?, hrsg. v. Mehmet Paçacı (Ankara: Ankara Okulu, 2002), 31–52; ders., „Kur’an ve Ben Ne Kadar Tarihseliz?,“ in Kur’an ve Ben Ne Kadar Tarihseliz?, 53–79; Ömer Özsoy, „Çağdaş Bir Sorun Olarak ‘Kur’an’ın Anlaşılması’ Sorunu,“ in Kur’an ve Tarihsellik Yazıları, hrsg. v. Ömer Özsoy (Ankara: Kitâbiyât, 2004), 143–150; Mustafa Öztürk, „Tefsirde Usûl(süzlük) Sorunu,“ in Tefsir Tarihi Araştırmaları, hrsg. v. Mustafa Öztürk (Ankara: Ankara Okulu, 2005), 9–27; ders., „Kur’an’ın Tarihsel Bir Hitap Oluşu Keyfiyeti,“ in Kur’an ve Tefsir Kültürümüz, hrsg. v. Mustafa Öztürk (Ankara: Ankara Okulu, 2010), 11–33; ders., „Klasik Sünnî Tefsir Literatürü Üzerine Genel Bir Değerlendirme,“ in Kur’an ve Tefsir Kültürümüz, 65–98, ders., „Kur’an’ın Kur’an’la Tefsiri. Bir Mahiyet Soruşturması,“ in Kur’an, Tefsir ve Usûl Üzerine. Problemler, Tespitler, Teklifler, hrsg. v. Mustafa Öztürk (Ankara: Ankara Okulu, 2011), 9–28; ders., „Tefsirde Bir Usûl Kavramı Olarak ‘Müteşabih’in Mahiyet ve Medlûlu,“ in Kur’an, Tefsir ve Usûl Üzerine, 99–121; ders., „Kur’an ve Otantik Anlamı Keşif Projesi. Şatibî’nin Kur’an’ı Anlama Yöntemine Dair Bir İnceleme,“ in Kur’an’ı Kendi Tarihinde Okumak. Tefsirde Anakronizme Ret Yazıları, hrsg. v. Mustafa Öztürk (Ankara: Ankara Okulu, 2013), 43–75. Im arabischsprachigen Raum vor allem: Nasr Hamid Abu Zayd, Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān (Beirut: al-Markaz aṯ-ṯaqāfī l-ʿarabī, 2011).
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miteinander vermischt werden.8 Hinzu kommt, dass in kritischen Repliken auf diese hermeneutische Diskussion die Frage der Geschichtlichkeit auf die Frage der Geschichtlichkeit der göttlichen Verfügungen (aḥkām) reduziert wird.9 Dabei reicht das Anliegen der zeitgenössischen Hermeneutiker viel weiter. Sie berühren im Grunde dieselben epistemologischen Fragen, die bereits in der formativen Phase10 hermeneutischen Denkens aufgekommen waren.
8
Amina Wadud, Qurʾan and Woman. Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective (Oxford, New York: Oneworld, 1999), 5–6; Aysha A. Hidayatullah, Feminist Edges of the Qurʾan (Oxford, New York: Oxford University Press, 2014), 78–86. Diese Vermischung geht möglicherweise auf Fazlur Rahman zurück, der bereits selbst bei der Vorstellung seiner „double movement“-Methode auf folgendes Problem hingewiesen hatte: Wenn laut HansGeorg Gadamer jedes Verstehen durch ein subjektives Vorverständnis geprägt ist, dann kann die Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung, die Fazlur Rahman als die objektive Bedeutung fasst, und die Übertragung dieser durch iǧtihād in den aktuellen Verstehenskontext nicht mehr zu einem objektiven Ergebnis führen. Da klassisch die subjektive Meinung (raʾy) als ein wichtiges Instrumentarium im iǧtihād und im taʾwīl gilt, sind diese Überlegungen richtig. Fazlur Rahman löst jedoch diesen hermeneutischen Widerspruch in seiner Lehre nicht auf, sondern belässt es bei der Feststellung: „If Gadamer’s thesis is correct, then the double-movement theory I have put forward has no meaning at all,“ Fazlur Rahman, Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition (Chicago: University of Chicago Press, 1984), 8–9.
9
Öztürk, „Kur’an’ın Tarihsel Bir Hitap Oluşu Keyfiyeti,“ 27.
10 Koranhermeneutische Überlegungen finden sich bereits in den Einleitungen (muqaddimāt) zu den frühesten schriftlich erhaltenen exegetischen Werken etwa bei Muqātil b. Sulaymān, Tafsīr muqātil b. sulaymān, hrsg. v. ʿAbdallāh Maḥmūd Šiḥāta, Bd. 1 (Beirut: Muʾassasa at-tārīḫ al-ʿarabī, 1423), 25–29; Abū ʿUbayda Maʿmar b. al-Muṯannā, Maǧāz al-qurʾān, 1, hrsg. v. Fuat Sezgin (Kairo: Maktaba al-ḫānǧī, 1954), 1–8; ʿAbd ar-Razzāq b. Hammām aṣ-Ṣanʿānī: Tafsīr ʿabd ar-razzāq, hrsg. v. Maḥmūd Muḥammad ʿAbduh, Bd. 1 (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1419/1999), 249–255. Auch aṭ-Ṭabarī und al-Māturīdī sind noch darum bemüht, hermeneutische Grundbegriffe systematisch zu reflektieren. Aus diesem Grund kann die formative Phase der uṣūl at-tafsīr zwischen dem 2./8. Jahrhundert und dem 4./10. Jahrhundert angesiedelt werden.
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Eine dritte Form von Geschichtlichkeit kann auch gedacht werden, nämlich die Geschichtlichkeit des Korans bzw. die Einbettung des Korans in einen metageschichtlichen Kontext. Dieser Punkt weckt berechtigte Assoziationen vor allem an einen historischen Ansatz wie er beispielsweise von Angelika Neuwirth verfolgt wird.11 Da ich mich in diesem Beitrag zunächst nur auf die klassische und zeitgenössische muslimische Hermeneutik beziehen möchte, lasse ich diese dritte Ebene der Geschichtlichkeit hier außen vor; auch weil die Thematisierung dieses Ansatzes größeren Raum benötigt, wenn man ihm gerecht werden möchte.
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Im Wesentlichen berühren die verschiedenen Punkte der Diskussion Grundsatzfragen bezüglich der Exegese und Hermeneutik des Korans: Die Tätigkeiten des Erklärens (tafsīr) bzw. Interpretierens (taʾwīl) implizieren bereits eine Differenz zwischen dem Exegeten12 und dem auszulegenden Gegenstand, hier dem Koran. Die Notwendigkeit zur Auslegung und Erläuterung entsteht aus der Andersheit von Sender/Sprecher/Autor sowie Empfänger/Hörer/Leser einer jeden Kommunikationsform. Dies bildet die erste Ebene der hermeneutischen Distanz oder hermeneutischen Differenz in der Koranhermeneutik.13 Die zweite Ebene der hermeneutischen Distanz betrifft den geschichtlichen Charakter der Herabsendung (inzāl, tanzīl) selbst: Mit zunehmender zeitlicher, geographischer, kultureller und sprachkonventioneller Entfernung zum Herabsendungsgeschehen nimmt das Vermögen, den Koran korrekt zu verstehen, ab. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass diejenigen, die zu den unmittelbar Adressierten gehörten (Prophet, Prophetengefährten,
11 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010), 19–67. 12 In diesem Aufsatz verwende ich die unbestimmte männliche Form in einem umfassenden Sinne, das heißt, unausgesprochene weibliche Formen sind darin stets impliziert. Ist vom „Exegeten“ die Rede, sind damit potentiell weibliche Exegeten immer mit gemeint. 13 Körner, Revisionist Koran Hermeneutics, 22f.
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Polytheisten, Juden und Christen in Mekka und Medina) eine geringere hermeneutische Distanz zum Herabsendungsgeschehen aufweisen als spätere Generationen.14 Weiterhin ist im Fall dieser Ersthörer davon auszugehen, dass sie, weil sie am Offenbarungsgeschehen teilgenommen haben, die koranische Verkündigung unmittelbar verstanden haben im Gegensatz zu nachfolgenden Generationen, die den Korantext ausgelegt haben. Rückblickend lässt sich tatsächlich aus den Überlieferungsketten (isnād, Pl. asānīd) rekonstruieren, dass exegetisches Denken bereits in der Generation, die den Prophetengefährten (ṣaḥāba) nachfolgte (tābiʿūn), begonnen hat. Die Häufung von isnāden, die auf tābiʿūn oder auf die ihr nachfolgende Generation (tābiʿ at-tābiʿīn) zurückgehen, gilt heute als Indiz dafür, dass in dieser Zeit Studienzirkel gegründet wurden, in denen exegetisches Wissen unterrichtet und vor allem mündlich weitergegeben wurde.15 Aus diesen Studienzirkeln entstanden die exegetischen Schulen von Mekka, Medina und dem Irak.16 Die lückenlose Überlieferung von den Ersthörern über die tābiʿūn zu den tābiʿū t-Tābiʿīn (also den ersten drei Generationen) gilt in der Koranhermeneutik – neben der Sunna des Propheten – als ein Mittel,
14 Ömer Özsoy, „Kur’an’ın İfade Özellikleri,“ in Kur’an ve Tarihsellik Yazıları, hrsg. v. Ömer Özsoy, (Ankara: Kitâbiyât, 2004), 11–12; ders., „Kur’an Hitabının Tarihselliği ve Tarihsel Hitabın Özgün Anlamı Sorunu,“ in Kur’an ve Tarihsellik Yazıları, 63; Mehmet Paçacı, „Klasik Tefsir Neydi?,“ in Çağdaş Dönemde Kur’an’a ve Tefsire Ne Oldu?, hrsg. v. Mehmet Paçacı, (Istanbul: Klasik, 2008), 112–113; as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:2266–2267. 15 Mehmet Akif Koç hat dies aus den isnāden im Tafsīr von Ibn Abī Ḥātim herausgearbeitet. Vgl. Mehmet Akif Koç, İsnad Verileri Çerçevesinde Erken Dönem Tefsir Faaliyetleri. İbn Ebî Hâtim Tefsir Örneğinde Bir Literatür İncelemesi (Ankara: Kitâbiyât, 2003), 126–133, 160–161; ders., „Isnāds and Rijāl Expertise in the Exegesis of Ibn Abī Ḥātim (327/939),“ Der Islam 83: 167. 16 Zu den frühesten exegetischen Studienzirkeln bzw. „Schulen der Koranexegese“ vgl. Muḥammad Ḥusayn aḏ-Ḏahabī, at-Tafsīr wa-l-mufassirūn (Teheran: Āvand Dāneš, o. J.), 1:70–86. Zur mündlichen wie auch schriftlichen Weitergabe exgetischen Wissens von den Prophetengefährten an die nachfolgende Generation vgl. Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums (Leiden: Brill, 1967), 1:4, 20–23, 25–34, 53–84; Jonathan A. C. Brown, Hadith. Muhammad’s Legacy in the Medieval and Modern World (Oxford, New York: Oneworld, 2009), 18– 24.
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Gewissheit über die Bedeutungen des Korans zu erlangen.17 Die Beschäftigung mit Besonderheiten der koranischen Sprache in verschiedenen Wissenschaften, u.a. in „den seltenen Wörtern des Korans“ (ġarīb al-qurʾān), „den Auslegungen des Korans“ (maǧāz al-qurʾān), „den schwierigen Ausdrücken des Korans“ (muškil al-qurʾān), „den Bedeutungen des Korans“ (maʿānī l-qurʾān), „den Ambiguitäten des Korans“ (mubhamāt al-qurʾān) oder „den Polysemien des Korans“ (al-wuǧūh wa-n-naẓāʾir)18 ab dem zweiten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung (hiǧrī), wertet man heute als Hinweis darauf, dass das Wissen um die Sprache des Korans, und damit seine Bedeutungen, mit wachsender zeitlicher Entfernung verloren ging, und dass die dazugehörigen Werke aus der Notwendigkeit heraus entstanden, die Bedeutungen des Korans vor dem Verschwinden zu bewahren. 19 Ab dem 3. Jahrhundert hiǧrī entstand dann die Koranexegese als Wissenschaft, wie sie uns in den heute erhaltenen exegetischen Werken vorliegt. In Hinblick auf die Frage der hermeneutischen Distanz greifen mehrere Prinzipien der Geschichtlichkeit des Korans ineinander, die für die zeitgenössische Diskussion prägend sind, sich aber in Grundzügen mit der hermeneutischen Reflexion der klassischen Phase überschneiden.
17 Abū Manṣūr al-Māturīdī, Taʾwīlāt ahl as-sunna. Tafsīr al-māturīdī, hrsg. v. Maǧdī Bāsallūm (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 2005), 1:349; Abū l-ʿAbbās Tāqī d-Dīn Ibn Taymīya, Muqaddima fī uṣūl at-tafsīr, hrsg. v. ʿAdnān Zārzūr, 2. Aufl. (Beirut: Dār al-qurʾān al-karīm, 1392), 33, 38, 55. 18 Beispielsweise Abū ʿUbaida Maʿmar b. al-Muṯannā, Maǧāz al-qurʾān, hrsg. v. Fuat Sezgin (Kairo: Maktaba al-ḫānǧī, 1954); Yaḥyā b. Ziyād al-Farrāʾ, Maʿānī l-qurʾān, hrsg. v. Muḥammad ʿAlī Naǧǧār (Kairo: Dār al-kutub al-miṣrīya, 1955–1972); Abū Muḥammad b. Abdallāh b. Qutayba, Taʾwīl muškil al-qurʾān, hrsg. v. as-Sayyid Aḥmad Ṣaqr (Kairo: Maktaba dār at-turāṯ, 1393/1973); Muqātil b. Sulaymān, al-Wuǧūh wa-n-naẓāʾir fī l-qurʾān al-karīm, hrsg. v. Ḥātim Ṣāliḥ aḍ-Ḍāmin (Dubai: Markaz ǧumʿa al-māǧid li-ṯ-ṯaqāfa wa-t-turāṯ, 1427/2006). 19 İsmail Cerrahoğlu, Tefsir Tarihi, 5. Aufl. (Ankara: Fecr, 2010), 209–216; Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, 1:23–26, 35–36.
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Im Folgenden werden daher in einer Gegenüberstellung frühklassische und klassische Ansätze20 sowie zeitgenössische Zugänge bezüglich Intentionalität, Arabizität und Redehaftigkeit versus Texthaftigkeit des Korans diskutiert. Die (autor-)intentionale Verstehens- und Interpretationshermeneutik der klassischen Methodologie Ziel der klassischen Exegese war es, die von Gott intendierten und durch seinen Willen (murād Allāh) im Koran festgeschriebenen Bedeutungen zu verstehen und zu erklären.21 Es ist also gerade nicht gemeint, dass sich die Bedeutungen der Wortlaute in einem Verstehens- oder Interpretationsprozess beim Exegeten erst generieren. Vielmehr wird ein (autor-)intentionales Verstehensmodell zu Grunde gelegt: Die herabgesandten Verse besitzen eine feststehende Bedeutung, die durch den Propheten und die Ersthörer zugänglich gemacht wurden.22 Dementsprechend wird tafsīr als diejenige Tä-
20 Da ich mir der Problematik einer jeden begrifflichen Klassifizierung bewusst bin, verwende ich der Einfachheit halber in diesem Beitrag die Begriffe frühklassisch und klassisch: „frühklassisch“ etwa für die beiden Zeitgenossen Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī und Abū Manṣūr al-Māturīdī, und zwar weil bei beiden noch eine Eigenständigkeit im hermeneutischen Denken zu beobachten ist, was sich an einem kaum existierenden Einfluss der Rechtshermeneutik (uṣūl al-fiqh) zeigt, die sich im 4./11. Jahrhundert noch nicht entwickelt hatte. Beispielsweise verwendet aṭ-Ṭabarī Begriffe wie ẓāhir (offenkundig, evident) oder ʿāmm (allgemein) noch in ihrem etymologischen Sinne und nicht als termini technici, wie sie später in den uṣūl al-fiqh als feststehende Termini gefasst werden, vgl. Atik Aydın, İbn Cerir et-Taberi’nin Kur’an Anlayışı ve Te’vil Tercihlerı (Ankara: Ankara Üniversitesi, elektronisch veröffentliche Dissertation, 2004), 98–107, 113–117. Zudem ist ein systematisierendes Denken und Vorgehen bei aṭ-Ṭabarī und al-Māturīdī erkennbar, das Spuren in der späteren Hermeneutik hinterlassen hat. Später ist der Einfluss aus den uṣūl al-fiqh bei klassischen Gelehrten eindeutig erkennbar, im Bereich der ʿulūm al-qurʾān-Literatur gilt dies etwa für Badr ad-Dīn az-Zarkašī und Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī. 21 Al-Māturīdī, Taʾwīlāt ahl as-sunna, 1:349; az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm alqurʾān, 2:149. 22 In den uṣūl al-fiqh [aber auch in der klassischen Koranhermeneutik, vgl. Muḥyi
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tigkeit bestimmt, welche die durch den Propheten und die ṣaḥāba überlieferten Bedeutungen des Korans eruiert und darlegt. Mit tafsīr versucht man, die von Gott intendierten und in der Geschichte von den Erstadressaten verstandenen Bedeutungen aufzudecken und zu rekonstruieren.23 In der klassischen iǧtihād-Lehre wird das Verstehen der göttlichen Intention scharf in die Kategorien iṣāba (Zutreffen) und ḫaṭaʾ (Falschsein) unterteilt. Demnach wird von der Existenz einer klaren göttlichen Intention ausgegangen, die in der Auslegung entweder getroffen (aṣāba) oder aber nicht getroffen werden kann (ḫaṭaʾ).24 Für die Ersthörer wie den Propheten und die Ṣaḥāba (sowie theoretisch für alle anderen Ersthörer wie auch die Polytheisten) gilt, dass ihr Verstehen die göttliche Intention stets erfasst hat, weil der Koran unmittelbar sie adressiert hat. Hier wird dem Verstehen der Ersthörer ein autoritativer Status zugeschrieben, weil es auf ihrer Zeugenschaft (mušāhada) vom Offenbarungsgeschehen und dem Hören (samʿ, istimāʿ) des Korans in der Verkündigungssituation basiert.25 Eine zweite Dimension „des Hörens“ kommt hinzu: Die mündliche Überlieferung des exegetischen Wissens von den Ersthörern an die tābiʿūn, und von diesen an die darauf folgende Generation, wie es der Übernahme des Wissens (taḥammul al-ʿilm) in den klassischen ḥadīṯ-Wissenschaften
d-dīn al-Kāfiyaǧī, Kitāb at-taysīr fī qawāʾid ʿilm at-tafsīr, hrsg. v. İsmail Cerrahoğlu (Ankara: Ankara Üniversitesi İlâhiyat Fakültesi Yayınları, 1974, 22– 23, 31–32] wird davon ausgegangen, dass durch die Setzung des Ausdrucks (waḍʿ al-lafẓ) im Koran durch Gott bestimmte Aussagen gemacht werden. Aus diesem Grunde wird die genaue Kenntnis von Grammatik, Syntax und Lexik entscheidend für das korrekte Verstehen der Intention. Die Terminologie und Klassifizierung von Ausdrücken in den uṣūl al-fiqh ist auch in die hermeneutischen und methodologischen Werke der ʿulūm al-qurʾān eingeflossen. Im Itqān von as-Suyūṭī erstreckt sich dies über die Kapitel 43 bis 51. Vgl. as-Suyūṭī, alItqān fī ʿulūm al-qurʾān, 4:1335–1534. 23 Mustafa Öztürk, Tefsirin Halleri (Ankara: Ankara Okulu, 2013), 31–33. 24 Ömer Özsoy, „Kur’an ve Tarihsellik Tartışmalarında Gözden Kaç(ırıl)anlar,“ in Kur’an ve Tarihsellik Yazıları, 81. 25 Al-Māturīdī, Taʾwīlāt ahl as-sunna, 1:349; Abū l-Ḥasan al-Wāḥidī, Asbāb nuzūl al-qurʾān, hrsg. v. Kamāl Basyūnī Zaġlūl (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1311/1991), 10; az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:150.
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entspricht.26 In diesem Zusammenhang zitiert Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest. 911/1505) in seinem Kompendium der Koranwissenschaften al-Itqān fī ʿUlūm al-qurʾān folgende Aussage des Gelehrten al-Qāḍī Šams ad-Dīn alḪuwayyī (gest. 637/1259): Die Menschen können die Intention im Wort Gottes entweder durch direktes Hören von Ihm oder durch das Hören von jemandem, der es von Ihm gehört hat, wissen. Aber den tafsīr des Korans kann man nicht mit definitiver Bedeutung kennen, außer man hört es vom Gesandten und das ist äußerst schwierig.27
Das Verstehen der Ersthörer ist folglich geschichtlich: Es ist ein abgeschlossener Prozess, und es gilt, die Kenntnis davon durch Überlieferungen (āṯār, riwāyāt) zu bewahren. Daraus ergibt sich, dass die von Gott intendierten Bedeutungen begrenzt28 und potentiell erfassbar sind. Hinzu kommt, dass diese intendierte Bedeutung mit Gewissheit nur die Ersthörer verstanden haben.29 Diese Gedankenführung impliziert, dass nicht alle Menschen zu den unmittelbar Adressierten der Wortlaute gehören. So wurde beispielsweise der Begriff qaum (Volk) im Ausdruck wa-innahu la-ḏikrun laka wa-liqaumika (Q 43:44, „Siehe, das ist eine Mahnung für dich und dein Volk“)30 durch den Prophetengefährten Ibn ʿAbbās (gest. um 68/688) sowie die Tābiʿīn Muǧāhid b. Ǧabr (gest. 103/721) und Qatāda b. Diʿāma (gest. 117/735) als Verweis auf den Stamm der Qurayš verstanden und nicht etwa als ein allgemeiner Ausdruck, der sich auf die gesamte Menschheit bezieht.31 Ebenso wurden Wendungen wie yā ayyuhā n-nās („O, ihr Men-
26 Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, 1:58–60. 27 As-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, 6:2268. 28 Az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:169. 29 Al-Māturīdī, Taʾwīlāt ahl as-sunna, 1:349; az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm alqurʾān, 2:150; al-Kāfiyaǧī, at-Taysīr fī qawāʾid ʿilm at-tafsīr, 9; as-Suyūṭī, alItqān fī ʿulūm al-qurʾān, 6:2261, 2264. 30 Hartmut Bobzin, Der Koran. Neu übertragen von Hartmut Bobzin (München: C.H. Beck, 2010), 435. 31 Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-qurʾān, hrsg. v. ʿAbdallāh b. ʿAbd al-Muḥsin at-Turkī (Kairo: Dār haǧr, 1422/2001) 20:602–603; Mustafa Öztürk, „Kur’an’ın Tarihsel Bir Hitap Oluşu Keyfiyeti,“ 13.
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schen“) nicht als eine allgemeine Adressierung der Menschheit, sondern als eine direkte Anrede der spezifischen Adressaten im historischen Mekka bzw. Medina verstanden.32 Moderne Hermeneutiker wie Ömer Özsoy, Mehmet Paçacı und Mustafa Öztürk befinden sich daher mit ihrer Überlegung, dass das Verstehen der Ersthörer genauso geschichtlich war wie dasjenige späterer Generationen, weitestgehend in Übereinstimmung mit der frühen und klassischen Hermeneutik. Es lässt sich folglich über die Frage, ob die Bedeutungen des Korans nur in der zeitgenössischen Diskussion als geschichtlich betrachtet werden oder nicht, streiten: Klassisch galten die Bedeutungen als metaphysisch feststehende Entitäten (maʿānī), die in historisch-situativen Umständen von Prophet und Ṣaḥāba korrekt verstanden und umgesetzt wurden. Die Geschichtlichkeit findet sich hier im Moment des Verstehens der Ersthörer wieder. In der zeitgenössischen Diskussion gibt es eine klare Tendenz, die Bedeutungen des Korans als geschichtlich zu sehen, die dahinter liegende Botschaft aber als überzeitlich und ahistorisch: Mustafa Öztürk etwa geht davon aus, dass sowohl die Ebene des sprachlichen Ausdrucks (lafẓ) als auch die der Bedeutungen (maʿānī) fast ausnahmslos an der geschichtlichen Situation ausgerichtet und nur die Kernbotschaften überzeitlich übertragbar sind.33 Dies meint im Umkehrschluss nicht, dass das Wort Gottes für spätere Generationen unbedeutend geworden ist. Vielmehr setzt an diesem Punkt die Frage an, wie der Transfer der geschichtlichen Bedeutung auf spätere Generationen gelingen kann und soll.34 Der klassische Lösungsweg hierfür ist der Analogieschluss (qiyās).35 Aufgrund der begrenzten Fälle von Rechtssprüchen im Koran ergibt sich hierbei jedoch das Problem, für po-
32 Beispielsweise yā ayyuhā n-nās („O ihr Menschen“) (Q 2:21, 4:1, 4:170, 10:57, 22:1) bedeutet yā ahl makka („O ihr Mekkaner“), vgl. Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī, Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, Tafsīr al-imāmayn al-ǧalālayn, hrsg. v. ʿAbd al-Qādir al-Arnāʾūṭ (Damaskus: Dār ibn kaṯīr, 1407), 4, 76, 104, 215, 332. 33 Öztürk, „Kur’an’ın Tarihsel Bir Hitap Oluşu Keyfiyeti,“ 11–13, 17–18. Özsoy spricht dies indirekt aus, vgl. Özsoy, „Kur’an Hitabının Tarihselliği,“ 53, 64. 34 Paçacı, „Kur’an ve Ben Ne Kadar Tarihseliz?,“ 61. 35 Özsoy, „Kur’an ve Tarihsellik Tartışmalarında,“ 71–72; ders., „Das Unbehagen der Koranexegese,“ Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien 1 (2015): 56.
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tentiell unendlich neue Fälle passende Lösungen zu finden, die der göttlichen Intention entsprechen. In der Hermeneutik des Korans spricht man von taʾwīl, wenn sich der tafsīr erschöpft hat, und erweiterte Interpretationen notwendig werden. Dabei wird die subjektive Meinung (raʾy) des Exegeten zum Urteilskriterium.36 Die Bedingung für einen korrekt erfolgten taʾwīl ist aber, dass er auf dem Verstehen der Ersthörer aufbaut. Die Urteilskraft der Ersthörer wird somit durch die subjektive Meinung des Exegeten interpretativ aktualisiert; die objektive Bedeutung, die durch den tafsīr vorliegt, wird damit in subjektive (und jeweils subjektiv unterschiedliche) Verstehenskontexte und damit in andere Geschichtlichkeiten transportiert.37 Die Arabizität des Korans Die Koranhermeneutik hat sich stets auch aus den selbstreflexiven Aussagen des Korans gespeist: Dazu gehört die wiederholte Aussage, dass der Koran „eine klare arabische Lesung“ und ein Buch „in klarem Arabisch“ sei.38 Verbunden damit ist der Aufruf zur Reflexion und zur Gottesfurcht: „Siehe, wir sandten es herab als Lesung auf Arabisch, vielleicht begreift ihr ja“39 (Q 12:2, innā anzalnāhu qurʾānan ʿarabiyyan laʿallakum taʿqilūn). Damit ruft Gott mit Seinem Wort selbst zu einer hermeneutischen Reflexion Seines Wortes auf. Gemäß dieser epistemologischen Beziehung zwischen der Verfasstheit des Korans in Arabisch und dem Verstehen des Korans hat sich in der Frühzeit hermeneutischen Denkens bereits ein Zugang entwickelt, der darauf beruht, dass die Aussagen des Korans primär
36 Paçacı, „Anlama (Fıkıh) Usulüne Dair,“ 33–40. Zur Diskussion über den Stellenwert von iǧtihād und raʾy vgl. az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:156–157, 160–164. 37 Paçacı, „Çağdaş Dönemde Kur’an’a ve Tefsire Ne Oldu?,“ in Çağdaş Dönemde Kur’an’a ve Tefsire Ne Oldu?, hrsg. v. Mehmet Paçacı (Istanbul: Klasik, 2008), 55; Özsoy, „Kur’an Hitabının Tarihselliği,“ 62–63. 38 Vgl. Q 12:2, 13:37, 16:103, 20:113, 26:195, 39:28, 41:3, 42:7, 43:3, 46:12. Stefan Wild, „An Arabic Recitation. The Meta-Linguistics of Qur’anic Revelation,“ in Self-Referentiality in the Qur’an, hrsg. v. Stefan Wild (Wiesbaden: Harrassowitz, 2006), 135–157. 39 Bobzin, Der Koran, 201. Vgl. auch Q 41:3, 43:3, 46:12.
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ẓāhir (evident, offenkundig) seien, beispielsweise bei Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfiʿī (gest. 204/820).40 Was bedeutet denn nun „in einem klaren Arabisch“? Für Muḥammad b. Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gest. 310/923), dessen exegetisches Werk – neben Abū Manṣūr al-Māturīdīs (gest. 333/944) Taʾwīlāt al-qurʾān – für die frühklassische Koranhermeneutik prägend gewesen ist, basiert die Hermeneutik des offenkundigen Sinns auf dem Faktum, dass die Adressaten in ihrer Muttersprache angesprochen worden sind.41 Dieses Arabisch gilt ihm als ein (historischer) Dialekt des Ḥiǧāz. Laut aṭ-Ṭabarī entsprechen die „sieben Lesarten“ sieben verschiedenen Dialekten (luġāt sabʿ) dieses Arabischen.42 Genauso wie aṭ-Ṭabarī bemerkt auch Ömer Özsoy, es sei nicht denkbar, dass Gott in einer unklaren Sprache spreche oder Ausdrücke verwende, die für die Ersthörer nicht verständlich gewesen seien.43 Der Koran als göttliche Kommunikation bedient sich folglich einer Sprachkonvention (muwāḍaʿa), die sich aus dem Sprach- und Verstehensvermögen der Erstadressierten speist. Das Prinzip der arabischen Verfasstheit – oder Arabizität – wurde in der klassischen hermeneutischen Lehre mit dem Konzeptbegriff bayān44 weiterentwickelt, wonach der Koran als eine göttliche sprachliche Kommunikation einen klaren, verständlichen, erklärenden Charakter hat und aus dem sprachlichen Ausdruck heraus die Bedeutungen ableitbar sind. Den Gegenstand der arabischen Sprachwissenschaften in der frühen Exegese
40 Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfiʿī, ar-Risāla, hrsg. v. Aḥmad Muḥammad Šākir (Kairo: Muṣṭafā l-Bābī l-Ḥalabī, 1357), 51–52. 41 aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 1:11. 42 Ebd., 52. 43 Ebd., 11–12; as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, 6:2266; Özsoy, „Kur’an’ın İfade Özellikleri,“ 11–13; Nasr Hamid Abu Zayd, „The Qurʾan. God and Man in Communication“ (Vortrag, Universität Leiden), http://www.stichtingsocrates.nl/ Zayd/The%20Qu'ran%20God%20and%20man%20in%20communication%20%20Oratie%20Rijksuniversiteit%20Leiden.pdf 44 Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī, Bunya al-ʿaql al-ʿarabī. Dirāsa taḥlīlīya naqdīya li-naẓm al-maʿrifa fī-ṯ-ṯaqāfa al-ʿarabīya, 11. Aufl. (Beirut: Markaz dirāsāt alwaḥda al-ʿarabīya, 2013), 13–248; Serdar Kurnaz, Methoden zur Normderivation im islamischen Recht. Eine Rekonstruktion der Methoden zur Interpretation autoritativer textueller Quellen bei ausgewählten islamischen Rechtsschulen (Frankfurt a. M.: EBV 2016), 335–398.
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bildet also ein spezifischer historisch-regionaler Dialekt – und nicht irgendeine ahistorische Form des Arabischen.45 Es wundert daher nicht, dass eine Vielzahl der exegetischen Überlieferungen aus der Generation der salaf in aṭ-Ṭabarīs überlieferungsbasiertem Werk Ǧāmiʿ al-bayān lexikalischer oder semantischer Art sind. Die Arabizität des Korans zeigt sich jedoch nicht nur auf semantischer Ebene. Heute wird darunter zunehmend auch eine kulturelle und eine lokalgeographische Situiertheit46 verstanden, etwa gemäß der Aussage von Q 42:7, in dem von einem Ort namens umm al-qurrāʾ die Rede ist, der vielen klassischen tafsīr-Werken zufolge für Mekka steht:47 So gaben wir dir [Muhammad], was vorzutragen ist, auf Arabisch ein, auf dass du der Städte Mutter [Mekka] warnst, und alle, die in ihrem Umkreis sind, und dass du vor dem „Tag der Sammlung“ warnst, an dem es keinen Zweifel gibt [...].48
Heutigen Hermeneutikern gilt Sprache als ein Bedeutung generierendes Medium, und vor allem als ein Kultur und Weltanschauung transportierendes System. So finden wir bei Nasr Hamid Abu Zayd eine bewusste Überbetonung des geschichtlich-kontextuellen Einflusses auf die Entstehung des koranischen Wortlautes: Der Text des Korans gilt ihm als ein Produkt der Kultur (muntaǧ ṯaqāfī) der Ersthörer. Die koranische Sprache ist somit auf seine Ersthörer hin verschiedentlich ausgerichtet: auf ihr Weltbild, ihren psychischen Zustand, ihre soziale und politische Situation, ihr Rechtsemp-
45 Al-Ǧābirī, Bunya al-ʿaql al-ʿarabī, 20–24; Robert Gleave, Islam and Literalism. Literal Meaning and Interpretation in Islamic Legal Theory (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2013), 96–97, 120–124. 46 Öztürk, „Kur’an’ın Tarihsel Bir Hitap Oluşu Keyfiyeti,“ 15; Özsoy, „Kur’an’ın İfade Özellikleri,“ 13–14. 47 Vgl. aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 20:469; Ismāʿīl b. ʿUmar b. Kaṯīr, Tafsīr alqurʾān al-ʿaẓīm, hrsg. v. Muṣṭafā s-Sayyid Muḥammad et. al. (Kairo: Muʾassasa qurṭuba/Maktaba awlād aš-šayḫ li-t-turāṯ, 1421/2000), 12:256; Abū l-Faraǧ b. al-Ǧawzī: Zād al-masīr fī ʿilm at-tafsīr (Beirut, Damaskus: al-Maktab al-islāmī, 1404/1984), 7:274; Abū ʿAbdullāh Muḥammad al-Qurṭubī, al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-qurʾān, hrsg. v. ʿAbdallāh at-Turkī (Beirut: ar-Risāla,1437/2006), 18:447; alMaḥallī, as-Suyūṭī, Tafsīr al-ǧalālayn, 483. 48 Bobzin, Der Koran, 426.
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finden, ihren Glauben und ihre Spiritualität. Der Koran greift kommentierend in ihre Realität ein, die nicht die der späteren Generationen ist, welche sich diesen nur über den Umweg der Rekonstruktion, und dies auch nicht in Gänze, erschließen können. Das Verstehensvermögen der Erstadressaten wirkt aber nicht passiv oder einseitig auf den Wortlaut ein. Vielmehr reagiert der Wortlaut auf den Kontext der Ersthörer. Dieser Gedanke ist auch der klassischen Lehre nicht fremd, in der Gelehrte wie Badr ad-Dīn azZarkašī (gest. 794/1392) von einer „auf die Bedürfnisse“ der Hörer abgestimmten Herabsendung sprechen (ʿalā ḥāǧa).49 Bei Abū Zayd wird der Text des Korans aber darüber hinaus selbst zu einem „Produzenten von Kultur“.50 Abū Zayd versteht dabei Sprache nicht als eine Korrelation von zufällig aufeinandertreffenden Elementen, sondern als ein Realität ordnendes System. In diesem Sinne ist seine Aussage, der Koran sei ein „Kultur produzierender Text“, zu verstehen. Die Sprachlichkeit des Korans wirke ordnend auf ihre Hörer und deren Umfeld ein, und auf diese Weise auch auf die späteren Generationen.51 Das Prinzip der Arabizität im Sinne einer sprachlichen und kulturellen Prägung des Korans durch das Weltbild seiner Ersthörer hatten bereits der Theologe und Rhetoriker ʿAbd al-Qāhir alǦurǧānī (gest. 471/1078) und der Rechtsgelehrte Abū Iṣḥāq aš-Šāṭibī (gest. 790/1388) formuliert.52 Wie wirkt sich das Prinzip der Generierung von Bedeutung aus dem historischen Verstehen des Propheten und der ṣaḥāba nun konkret auf die exegetische Methodologie aus? Was ist der exegetische Nutzen davon? Ömer Özsoy hat dazu ein sehr anschauliches Beispiel geliefert: Die anthropomorphen Gottesbeschreibungen im Koran sind keine iso-
49 Az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 1:235-236, 259; as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:403, 407. 50 Abū Zayd, Mafhūm an-naṣṣ, 24. 51 Abū Zayd, Mafhūm an-naṣṣ, 24; ders., „Mafhūm ʻat-tārīḫīya’. Al-Muftarā ʿalayh.“ In at-Tafkīr fī zaman at-takfīr. Ḍidda l-ǧahl wa-z-zayf wa-l-ḫurāfa, 5. Aufl. (Kairo: Maktaba madbūlī, 1995), 218–227. 52 Ibrāhīm b. Mūsā š-Šāṭibī, al-Muwāfaqāt fī uṣūl aš-šarīʿa, hrsg. v. ʿAbdallāh Darrāz (Kairo: Maktaba at-tiǧārīya al-kubrā, 1975) 2:64–66; ʿAbd al-Qāhir alǦurǧānī, ar-Risāla aš-šāfīya, in Ṯalāṯ ar-rasāʾil fī iʿǧāz al-qurʾān, hrsg. v. Muḥammad Ḫalafallāh, Muḥammad Zaġlūl Salām, 3. Aufl. (Kairo: Dār maʿārif bi-miṣr, 1976), 117–119.
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lierten Aussagen, sondern zeichnen ein Bild von Allah als einem König, der die Welt beherrscht.53 Gott wird nicht nur als absolut allwissend und allmächtig beschrieben, als einziger mächtig über das Entstehen und Vergehen von Leben, den Aufstieg und Niedergang ganzer Völker oder die Bewegung der Gestirne. Vielmehr wird Er als ein herrschender König (malik)54 und Souverän (mālik)55 dargestellt mit allen Eigenschaften, die ein idealtypischer König besitzt: Er sitzt auf einem Thron (ʿarš)56, Seine Herrschaft (mulk) ist unteilbar57. Er regiert die gesamte Welt, indem seine Befehle (amr) durch eine Heerschar von absolut Untergebenen (malāʾika, Engel) ausgeführt werden.58 Dieser Feststellung kann hinzugefügt werden, dass das semantische Feld m-l-k das Verhältnis zwischen Herrscher und Diener, zwischen Herr (rabb) und Sklave ausdrückt. Die Gottergebenen sind Diener-Sklaven des Königs (ʿabd, Pl. ʿibād), und auch der Gottesdienst (ʿibāda) drückt dieses hierarchische Verhältnis aus. Der Bedeutungszusammenhang zwischen malik/rabb und ʿabd ist sicherlich nicht zufällig gewählt, sondern bezieht sich auf eine Vorstellungswelt, die den Ersthörern nicht fremd war: die Realität von hierarchischen sozialen Strukturen, in der Sklavenhalter (arbāb, Sg. rabb, Herren) ihre Sklaven (mamlūk) „besaßen“.59 In Vers 16:75 ist der Sklave ein „Diener in Besitzschaft“ (ʿabd mamlūk). Die weibliche Form dafür lautet in der Sprache des Korans ama (Pl. imāʾ, Q 2:221, 24:32). Zwar erwähnt der Koran diesen Begriff ausschließlich in der profanen Bedeutung von Sklavin. Den Begriff imāʾ Allāh im Sinne von Dienerinnen Gottes finden wir jedoch vielfach im ḥadīṯ des Propheten, etwa im ḥadīṯ „Verbietet nicht den Dienerinnen Gottes [den Zugang] zu den Häusern Gottes!“ (lā
53 Özsoy, „Kur’an’ın İfade Özellikleri,“ 15–16; ders., Sünetullah. Bir Kur'an İfadesinin Kavramlaşması, 2. Aufl. (Ankara: Fecr, 1999), 144–150. 54 Vgl. Q 20:114, 23:116, 59: 23, 62:1, 114:2. 55 Vgl. Q 1:4, 3:26. 56 Vgl. Q 7:54, 10:3, 13:2, 20:5. 57 Vgl. Q 17:111, 25:2. 58 Vgl. Q 16:49, 66:6. 59 Die häufigste Form, in der im Koran auf das reale rechtliche Verhältnis von Herr und Sklave Bezug genommen wird, findet sich in den Ausdrücken mā malakat aymānukum/aymānuhum/aymānuhunna/yamīnuka (das, was eure/ihre/ deine rechte Hand besitzt), etwa in Q 4:3, 24:31, 24:58.
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tamnaʿū imāʾ Allāh masāǧid-Allāh) sowie „Schlagt nicht die Dienerinnen Gottes!“ (lā taḍrubū imāʾ Allāh).60 Auch in diesem Sprachgebrauch spiegelt sich das Verhältnis von Sklavin/Gottergebene und Herr/König/Gott wider. Die anthropomorphen Zuschreibungen reichen jedoch noch weiter: Gott wird mit einer oder zwei Händen (yad)61, einem Gesicht (waǧh)62, Augen63 und einer „Seite“ (ǧanb)64 beschrieben; es wird auch davon gesprochen, dass Er sich auf den Thron setzt (istiwāʾ ʿalā l-ʿarš)65. Schließlich wird Er im Lichtvers als das Licht der Himmel und der Erde beschrieben (Q 24:35). Auch wenn die muʿtazilītischen und ašʿarītischen Theologen im Zuge der frühen Diskussionen um den Anthropomorphismus (tašbīh) diese Beschreibungen als Metaphern oder Symbole verstehen wollten, zeigt eine Recherche von exegetischen Überlieferungen, dass sich die Ersthörer etwa den Thron Gottes geradezu plastisch vorgestellt haben: Als eine Leuchte, die Himmel und Erde miteinander verbindet, bestehend aus roten Rubinsteinen, oder aus rotem, grünem oder gelbem Licht, auf vier oder acht Säulen stehend, getragen von Engeln, deren Füße den Boden berühren und Köpfe in die siebte Stufe des Himmels hineinragen.66 Für spätere Generationen rückt die gegenständliche Vorstellung von Gottes Thron in die Nähe des Anthropomorphismus, weswegen diese Überlieferungen in den Korankommentaren kaum Erwähnung finden. Und doch geben sie das Verstehen der Ersthörer wieder. Der Hinweis darauf, dass die
60 Muḥammad b. Ismāʿīl al-Buḫārī, al-Ǧāmiʿ aṣ-ṣaḥīḥ, hrsg. v. Muḥammad Zuhayr b. Nāṣir an-Nāṣir (Beirut: Dār ṭawq an-naǧā, 1422), kitāb al-ǧumʿa 900; Abū l-Ḥusayn Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ, al-Musnad aṣ-ṣaḥīḥ, hrsg. v. Muḥammad Fuʾād ʿAbd al-Bāqī (Beirut: Dār iḥyāʾ at-turāṯ al-ʿarabī), kitāb aṣ-ṣalā 136/442; Abū Dāwud as-Siǧistānī, Sunan abī dāwud, hrsg. v. Šuʿayb al-Arnāʾūṭ (Beirut: Dār ar-risāla al-ʿilmīya, 1430/2009), kitāb aṣ-ṣalā 566. 61 Vgl. Q 3:73, 5:64, 38:75, 48:10, 57:29. 62 Vgl. Q 2:115, 2:272, 6:52, 13:22, 18:28. 63 Vgl. Q 11:37, 20:39, 23:27, 52:48, 54:14. 64 Vgl. Q 39:56. 65 Vgl. Q 7:54, 10:3, 13:2, 20:5, 25:59, 32:4, 57:4; rabb al-ʿarš: Q 21:22, 23:86, 23:116, 27:26, 43:82 ; ḏū l-ʿarš: Q 17:42, 40:15, 81:20, 85:15. 66 Ibn al-Ǧawzī, Zād al-masīr fī ʿilm at-tafsīr, 3:212f.; Öztürk, „Kur’an’ın Tarihsel Bir Hitap Oluşu Keyfiyeti,“ 21–23.
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Gelehrtengeneration nach den Ersthörern die Interpretation der Anthropomorphismen abgelehnt hat, tritt an dessen Stelle.67 Angesichts dieses Verstehens der Ersthörer deutet die Tatsache, dass bereits ab der Generation der Gelehrten al-Auzāʿī (gest. 157/774), Sufyān aṯ-Ṯawrī (gest. 161/777), Layṯ b. Saʿd (gest. 175/791), Mālik b. Anas (gest. 179/795), Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) und Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 241/855) über die Frage diskutiert wurde, ob die Anthropomorphismen interpretiert werden dürfen oder nicht, auf eine zunehmende hermeneutische Distanz dieser frühen Gelehrten zum Offenbarungsgeschehen hin.68 Eine Exegese, die sich am Verstehen des Propheten, seiner Gefährten und der Tābiʿīn orientiert, kann folglich zu völlig anderen Erkenntnissen über die Bedeutung des Textes führen, und soll den Befürwortern dieser Hermeneutik zufolge missbräuchlichen Interpretationen entgegenwirken. Die zeitgenössische Debatte bewegt sich daher meines Erachtens ganz klar auf die Frage zu, welche Lesart autoritativ ist, bis wohin die Bedeutungen dehnbar sind bzw. wo der Spielraum der Exegese endet. Hier werden im Übrigen in Grundzügen Fragen wieder aufgegriffen, die schon die frühklassische Diskussion um die Stellung der subjektiven Meinung (raʾy) bestimmt hatten.69 In gewisser Weise handelt es sich um eine Fortsetzung der bekannten Diskussion um die Stellung der freien, von der überlieferten Bedeutung losgelösten Reflexion auf der einen Seite und der ursprünglichen Bedeutung, wie sie die Ersthörer verstanden, auf der anderen (ʿaql/raʾy versus naql/riwāya).
67 Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, ad-Durr al-manṯūr fī tafsīr bi-l-maʾṯūr, hrsg. v. ʿAbdallāh at-Turkī (Kairo: Markaz haǧr li-l-buḥūṯ wa-d-dirāsāt al-ʿarabīya alislāmīya, 1424/2003), 6:421–423. 68 Ṣubḥi aṣ-Ṣāliḥ, Mabāḥiṯ fī ʿulūm al-qurʾān, 30. Aufl. (Beirut: Dār al-ʿilm li-lmalāyīn, 2013), 284–286; Muḥammad ʿAbd al-ʿAẓīm az-Zarqānī, Manāhil alʿirfān fī ʿulūm al-qurʾān, 4. Aufl. (Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya, 1434/2013), 432–436. 69 Vgl. az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 2:161–163.
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Der Koran als Rede und Text Den Koran in seiner Geschichtlichkeit zu verstehen bedeutet, ihn von seiner Redehaftigkeit her zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen Koran als Rede und Koran als Text hat weitreichende hermeneutische und methodische Implikationen. In der zeitgenössischen Diskussion wurde diese Unterscheidung zuerst von Ömer Özsoy vorgenommen und dann von Mehmet Paçacı aufgegriffen. Der redehafte Charakter basiert nicht auf theoretischen hermeneutischen Überlegungen, sondern lässt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des Korans ableiten, etwa aus den Sequenzen, die dem Muster yasʾalūnaka – qul! („Sie fragen dich – sprich!“) folgen.70 Hier antwortet Gott auf konkrete Ereignisse und Fragen von verschiedenen Ersthörern.71 Nicht nur die sprachliche Verfasstheit der göttlichen Mitteilung, auch ihr prozesshafter Charakter gibt Aufschluss über die historisch-situative Einbettung der göttlichen Anrede der Erstadressaten.72 Aus der Chronologie der Herabsendung (tartīb an-nuzūl) lässt sich eine andere Reihenfolge von Versen und Suren rekonstruieren als die bestehende Anordnung von Versen und Suren im muṣḥaf, die als Rezitationsanordnung (tartīb at-tilāwa) bezeichnet wird. Das Konzept von einer prozessualen Herabsendung, welche auf die Fragen und Bedürfnisse der Ersthörer reagiert, lässt sich nicht mit einem ahistorischen, ausschließlich textualistischen73 Zugang vereinbaren, wie er sich in der spätklassischen Hermeneutik des Korans zunehmend durchsetzte.74
70 Özsoy, „Unbehagen der Koranexegese,“ 37–38. 71 Vgl. Q 2:189–222, 5:4, 7:187, 8:1, 17:85, 18:83, 20:105, 79:42. 72 Abū Zayd, „The Qurʾan. God and Man in Communication,“ 4–5. 73 Textualistische Zugänge sind gekennzeicht von einer besonderen Fokussierung auf den Koran als einen in sich geschlossenen und kohärenten Text, der sich aus sich selbst heraus erklären und verstehen lässt. Oftmals werden dabei der geschichtliche Kontext und das in der muslimischen Tradition überlieferte kontextuelle Wissen nicht beachtet. 74 Als Beispiel für eine textualistische, an innertextueller Kohärenz orientierte Hermeneutik und Exegese kann die Wissenschaft von den Zusammenhängen [im muṣḥaf] zwischen Versen und Suren (ʿilm al-munāsabāt bayn al-āyāt wa-ssuwar) gelten. Diese Subdisziplin der Koranwissenschaften entstand erst in der Spätklassik und fand ihren Niederschlag beispielsweise in Werken wie Tanāsuq
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Indes finden sich zahlreiche Ansätze auch in der klassischen Koranhermeneutik, die eine dialogische Struktur der koranischen Anrede nahelegen, etwa das Konzept von der stufenweisen Herabsendung 75, das Konzept der situativen Anrede der Ersthörer, wie sie teilweise in den Offenbarungsanlässen (asbāb an-nuzūl) überliefert ist, wie auch das Konzept von den „Bestätigungen ʿUmars“ (muwāfaqāt ʿUmar), wonach die Aussagen von Prophetengefährten wie ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb (gest. 23/644) wörtlich in den Korantext übernommen wurden. Diese Elemente bestätigen den prozessualen und dialogischen Charakter des herabgesandten Korans, welcher Ereignisse wie Kriege oder den Umzug des Propheten von Mekka nach Medina kommentiert, sowie auf die Fragen und Bedürfnisse der Ersthörer in ihrem historisch-situativen Kontext antwortet. Aus diesem Grunde können wir heute annehmen, dass der Koran für diese Ersthörer eine zeitgemäße Anrede gewesen ist. Die klassische Vorstellung von der Herabsendung des Korans dagegen geht von zwei Stufen aus. Zunächst wurde der Koran in der Nacht des Schicksals in Gänze von der himmlischen wohlverwahrten Tafel (al-lawḥ al-maḥfūẓ) auf die nicht näher bestimmte irdische Stufe namens bayt alʿizza herabgesandt. Von dort wurde er dann stückweise und auf die Bedürfnisse der Ersthörer hin in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren durch den Engel Gabriel an den Propheten übermittelt, welcher die Verse und Versgruppen verkündete. In dieser Konzeption steht die wohlverwahrte Tafel im Zentrum; die Herabsendung gilt als eine vertikale Form der Kommunikation, bei welcher der Prophet und die Hörer passive Empfänger der Botschaft sind. Dabei wird die wohlverwahrte Tafel nicht etwa als urewiges göttliches Wissen, sondern als eine konkrete Texttafel mit einem feststehenden Wortlaut und der herabgesandte Koran als die wörtliche Abschrift dieser Tafel gedacht.76 Dieses Konzept der Herabsendung erzeugt allerdings ein hermeneutisches Spannungsfeld. Denn hier wird Offenbarung zum einen als ein pro-
ad-durar fī tanāsub as-suwar von Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī oder Naẓm ad-durar fī tanāsub al-āyāt wa-s-suwar von Burhān ad-Dīn al-Biqāʿī. 75 Az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 1:231. 76 Az-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, 1:236; Daniel A. Madigan, The Qur’an’s Self-Image. Writing and Authority in Islam’s Scripture (Princeton: Princeton University Press, 2001), 48–49.
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zessuales und dialogisches Ereignis in einem geschichtlichen Kontext gedacht, und zum anderen von der Präexistenz der Worte im muṣḥaf, und damit von der Offenbarung als einem vorherbestimmten Geschehen ausgegangen. Bei dem Versuch, die Hermeneutik der klassischen exegetischen Methodologie zu verstehen, betont Mehmet Paçacı immer wieder, dass im klassischen tafsīr von der Redehaftigkeit des Korans ausgehend versucht wird, die Bedeutungen der Verse in ihrem geschichtlich-situativen Kontext zu erklären. Die klassischen exegetischen Wissenschaften, die auf dem Verstehen der Ersthörer aufbauen und daher auf die Überlieferung und die sprachliche Entschlüsselung großen Wert legen, haben sich ausführlich mit der historischen Situiertheit beschäftigt, woraus Wissenschaften u.a. bezüglich asbāb an-nuzūl (Anlässe der Herabsendung), an-nasḫ (Abrogation) und al-makkī wa-l-madanī (örtlichem Bezug) entstanden sind.77 Die hermeneutischen Überlegungen bezüglich der Rede- bzw. Texthaftigkeit des Korans bauen auf dem Umstand auf, dass der Koran nach seiner Verkündigung eine Veränderung erfahren hat, von einer mündlich in einer konkreten Kommunikationssituation verkündeten Botschaft zu einem verschriftlichten und kanonisierten Text wurde. Die Eigenschaften der Rede unterscheiden sich jedoch von denen eines Textes, so dass sich unterschiedliche hermeneutische Prämissen bei der exegetischen Annäherung an eine texthafte Form bilden. Laut Paçacı führt der Verlust der mündlichkommunikativen Elemente (und des Wissens um die situativen Umstände) zu einer Entfernung von der Sprecherintention. Der Koran werde mit der Verschriftlichung zu einem entkontextualisierten Text, in den beliebige Bedeutungen hinein projiziert werden können, um missbräuchliche (ideologi-
77 As-Suyūṭī kennt noch mehr solcher Wissenschaften, wie die „Kenntnis von [den Herabsendungen] während der Prophet zu Hause und auf Reisen war (maʿrifa al-ḥaḍarī wa-s-safarī),“ die „Kenntnis von [den Herabsendungen] am Tag und in der Nacht (maʿrifa an-nahārī wa-l-laylī),“ die „Kenntnis von [den Herabsendungen] im Sommer und im Winter (aṣ-ṣayfī wa-š-šitāʾī)“. Vgl. as-Suyūṭī, alItqān fī ʿulūm al-qurʾān, 1:114–151. Die Frage, ob die dort gesammelten Überlieferungen beispielsweise für eine herabsendungschronologische Lektüre des Korans fruchtbar gemacht werden können, ist bisher noch nicht untersucht worden.
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sche) Interpretationen vorzunehmen.78 Aus diesem Grund meint Paçacı, dass die Entstehung der klassischen überlieferungsbasierten Wissenschaften, welche zur Dokumentation des extratextuellen Kontexts dienten – wie beispielsweise die ʿilm asbāb an-nuzūl, die auf der Überlieferung von Offenbarungszeugen, also Ṣaḥāba basieren –, mit dem zunehmenden Verlust des Wissens über den extratextuellen Kontext zusammenhingen. Paçacı versteht tafsīr daher als eine deskriptive Wissenschaft, welche versucht, die hermeneutische Distanz zu überwinden und die intendierten Bedeutungen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang, also in der Verkündungssituation zu erklären.79 Ömer Özsoy betont, dass mit der zunehmenden Entwicklung der klassischen Koranwissenschaften sich ein Zugang etablierte, der den Koran nicht mehr als eine geschichtliche, ereignishafte Rede, sondern als einen in sich geschlossenen, auf sich selbst verweisenden und aus sich selbst heraus erklärbaren Text verstand. Bei der heute auch weithin angenommenen Texthaftigkeit des Korans wird aber eine damit verbundene zentrale Frage nicht beachtet: Wer sind die unmittelbaren Adressaten des Korans? Richtet sich der Wortlaut ausschließlich an die Ersthörer, oder ist der Koran ein ahistorischer Text, der alle späteren Adressaten und ihre Verstehenskontexte mitberücksichtigt?80 Özsoy argumentiert durch Zuhilfenahme des autorintentionalen Verstehensmodells, dass Rede und Text unter unterschiedlichen Bedingungen entstehen. Der Verfasser einer Schrift wisse zum Zeitpunkt der Niederlegung seines Textes nicht, ob seine Intention recht verstanden wird. Daher werde ein Text so konstruiert, dass er ohne die Anwesenheit des Autors und ohne einen extratextuellen Kontext verständlich ist. Dagegen befinde sich der Sprecher einer Rede in einem lebendigen Dialog und könne die Reaktion der Adressaten aufnehmen. Daher müsse davon ausgegangen werden, dass die Intention der Rede in der aktiven Sprechsituation stets richtig verstanden werde. Da der Koran jedoch verschriftlichte Rede ist, und aus unterschiedlichen Stücken aus einer stufenweisen Herabsendung zu
78 Paçacı, „Çağdaş Kur’an’a ve Tefsire Ne Oldu?,“ 48–55; ders., „Klasik Tefsir Neydi?,“ 112–115. 79 Tafsīr wird hier im Sinne der tafsīr-Bestimmung von Abū Manṣūr al-Mātūrīdī verstanden, al-Māturīdī, Taʾwīlāt ahl as-sunna, 1:349; vgl. auch Öztürk, Tefsirin Halleri, 40–41. 80 Özsoy, „Kur’an Hitabının Tarihselliği,“ 53.
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einem vollständigen Buch zusammengefügt worden ist, sei sein Status zwischen Text und Rede anzusiedeln: Er ist textuelle Rede ohne zunächst nachvollziehbaren Kontext.81 Somit führe eine Betrachtung des Textes (muṣḥaf) allein nicht zur intendierten Bedeutung. Die klassische Koranhermeneutik bewege sich daher im Spannungsfeld zwischen einer Hermeneutik des ahistorischen, in sich kohärenten und einheitlichen (kanonischen) Textes und einer Hermeneutik der kontextgebundenen, geschichtlichen Rede.82 Die logische Weiterentwicklung eines rein textualistischen Ansatzes gipfelt laut Mustafa Öztürk in modernen koranistischen, das heißt koranzentrierten Ansätzen.83 Diese betrachteten nur noch den Text des Korans als einzige Quelle, um ihn für kontextlose, anachronistische Lektüren zu verwenden.84 Damit könnten dem Koran beliebige Bedeutungen zugeschrieben und der Text zu allen Themen zum Sprechen gebracht werden. Der Koran gilt hier als einzige Quelle des Islam, die Sunna wird zweitrangig, prophetische ḥadīṯe und Traditionen der ersten Generationen werden größtenteils abgelehnt. Der Zugriff auf den „reinen“ Text soll dazu dienen, zu einem imaginierten „reinen Islam“ zurückzukehren, frei von theologischen, methodologischen und als sektiererisch geltenden Überfrachtungen des klassischen Islams. Als koranische Legitimation für diese Herangehensweise werden Verse wie „Nichts ließen wir im Buch unbeachtet“ (mā farraṭnā fī l-kitābi min šaiʾin, Q 6:38) und „Die Entscheidung liegt allein bei Gott“ (ini l-ḥukmu illā li-llāh, Q 6:57, 12:40, 12:67) herangezogen. Hier kommt wieder die Frage auf: Wie haben die Gefährten und tābiʿūn diese Verse verstanden? Der Begriff al-kitāb in Vers 6:38 wird im klassischen tafsīr als umm al-kitāb, al-lawḥ al-maḥfūẓ oder ewiges göttliches Wissen verstanden und nicht als herabgesandtes Wort Gottes, wie die Koranisten es anführen. Und die Aussage ini l-ḥukmu illā li-llāh deutet keineswegs daraufhin, dass Gott mit dem Korantext für alle Zeiten alles gesagt habe.85
81 Ebd., 57–56. 82 Özsoy, „Unbehagen der Koranexegese,“ 51–55. 83 Vgl. Aisha Y. Musa, „The Qur’anists,“ Religion Compass 4, Nr. 1: 12–21. 84 Öztürk, Çağdaş İslam Düşüncesi ve Kur’ancılık (Ankara: Ankara Okulu, 2013), 233–245. 85 Aṭ-Ṭabarī, Ǧāmiʿ al-bayān, 9:234; Abū l-Qāsim az-Zamaḫšarī, al-Kaššāf ʿan ḥaqāʾiq ġawāmiḍ at-tanzīl wa-ʿuyūn al-aqāwīl, hrsg. v. ʿĀdil Aḥmad ʿAbd al-
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AUSBLICK : D IE G ESCHICHTLICHKEIT DES V ERSTEHENS Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sowohl in der klassischen Exegese als auch in zeitgenössischen Ansätzen zahlreiche Überlegungen und Methoden gibt, beliebigen und missbräuchlichen Interpretationen des Korans die Grundlage zu entziehen. Das intentionale Verstehensmodell, der arabische Charakter sowie die Rede- bzw. Texthaftigkeit des Korans bilden drei hermeneutische Prinzipien, die einen Rahmen für die Grenzen der legitimen Interpretation bilden. Dieser Rahmen gründet auf vielfache Weise auf dem geschichtlichen und ereignishaften Charakter der Offenbarung. Gleichzeitig erlaubt dieser Rahmen eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten und führt nicht in einen exegetischen Reduktionismus. Die angenommene hermeneutische Distanz zum Offenbarungsgeschehen und zum Text sowie die schiere Fülle und Komplexität des Materials, das die traditionelle Exegese hervorgebracht hat, dürfte jeden Korankommentator zu einer „exegetischen Demut“ zwingen, wodurch Ansprüche auf die absolute Wahrheit oder Richtigkeit der eigenen Auslegung relativiert werden dürften. Der Vehemenz, mit der moderne koranistische Ansätze ihre Wahrheitsansprüche vertreten, kann daher wiederum mit einer hermeneutischen Überlegung entgegengetreten werden, indem diese hermeneutischen Prinzipien aufgegriffen werden: Wenn tafsīr diejenige exegetische Tätigkeit ist, die auf dem autoritativen, weil auf Zeugenschaft basierenden Verstehen der Ersthörer beruht, dann kann die subjektive Meinung beim taʾwīl als erweiterte exegetische Tätigkeit nicht als eine ungebändigte, „reine Vernunft“ operieren, sondern ist an begrenzte Bedeutungen gebunden. Konsequent weitergedacht bedeutet dies für eine rein textualistische Exegese wie die koranistische, dass sie sich in beliebigen Projektionen von Bedeutungen in den Text hinein verlieren wird, weil sie keine Mechanismen kennt, die den potentiell endlosen Interpretationsmöglichkeiten eine Grenze setzt. Mawǧūd, ʿAlī Muḥammad al-Muʿawwiḍ (Riad: Maktaba al-ʿubaikān, 1418), 2:342; al-Maḥallī, as-Suyūṭī, Tafsīr al-ǧalālayn, 132; as-Suyūṭī, ad-Durr almanṯūr, 6:45; Mustafa Öztürk, „Dinî Hükümlerin Kaynağını Kur’an ile Sınırlandırma Eğiliminin Kaynakları ve Tutarlılığı.“ In Dinî Hükümlerin Kaynağı ve Dinî Metinlerin Anlaşılması Konusundaki Çağdaş Yaklaşımlar Çalıştayı, hrsg. v. Cengiz Kallek (Istanbul: İSAM, 2010), 49–52.
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Die Frage entzündet sich weiterhin an dem Punkt, an dem es um Bedeutungsgewissheit oder Bedeutungswahrscheinlichkeit geht. Während der hermeneutisch denkende Exeget aufgrund der angenommenen hermeneutischen Distanz zum Koran sich seiner Geschichtlichkeit und seines geschichtlichen Verstehens vollkommen bewusst ist, glaubt der Textualist sich direkt und ahistorisch auf Gottes Autorität berufen zu können. Problematisch wird dies in einigen modernen Ansätzen, wenn die aufgehobene hermeneutische Distanz auch zur Aufhebung exegetischen Denkens führt. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Beanspruchung der Freiheit, „nein zum [Koran-]Text zu sagen“ (saying no to the text), wenn herausfordernde Passagen wie „die Männer stehen über den Frauen“ oder „schlagt sie [die Ehefrauen]!“ (Q 4:34) zu lösen sind.86 Angesichts der Vielzahl von Methoden der Textauslegung können solche Ausführungen im besten Fall als exegetische Kapitulation bezeichnet werden.
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86 Vgl. Nimet Seker, „‚Ermahnt sie, meidet sie im Bett und schlagt sie!‘ Zur Frage der Geschlechtergewalt in Q 4:34,“ in Gewalt in Heiligen Schriften von Islam und Christentum, hrsg. v. Klaus von Stosch, Hamideh Mohagheghi (Paderborn: Schöningh, 2014), 130–135.
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Der Koran als Korrektiv Die »Mix and Match«-Hermeneutik des Asghar Ali Engineer F ATMA S AĞIR in memoriam Mariella Ourghi Ein lebendiger Glaube ist nicht möglich ohne freien Willen. Deshalb begann ich, den Islam zu interpretieren, um ihn für das zeitgenössische Leben und für Laien bedeutender zu machen. Ich habe kontinuierlich über den Islam und moderne Herausforderungen geschrieben, um den Islam zu einem lebendigen und bedeutenden Glauben zu machen. Auch hilft er mir sehr im Kampf gegen kommunale Mächte und Sekten. Meine beiden Kämpfe stärken sich gegenseitig. ASGHAR ALI ENGINEER. AUS DER DANKESREDE ZUR VERLEIHUNG DES ALTERNATIVEN FRIEDENSNOBELPREISES
E INLEITUNG In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Reformdenker 1 oder progressive muslimische Denker, wie sie gelegentlich genannt werden, in Erscheinung getreten. Zu prominenten Denkern aus dem arabisch- oder persischsprachi1
Ich verzichte aus stilistischen Gründen auf das „Durchgendern“ der deutschen Sprache. Überall dort, wo die grammatikalisch maskuline Form gewählt wird, sind Frauen, Männer und alle anderen Geschlechter gleichermaßen eingeschlossen.
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gen Raum sind zahlreiche Arbeiten in der Forschungsliteratur zu finden, was über den im Folgenden vorgestellten südasiatischen Autor nicht gesagt werden kann. Außer meiner 2015 erschienenen Dissertation 2 findet sich leider keine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Schriften des indischen Sozialaktivisten und Reformdenkers3 Asghar Ali Engineer, dessen hermeneutischer Ansatz in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert werden soll. Asghar Ali Engineer wurde 1939 in eine Familie von ismailitischschiitischen Bohra4-Geistlichen geboren.5 Er wuchs in behüteten Verhältnissen in einem multireligiösen Umfeld auf, welches durch das indische
2
Vgl. Fatma Sagir, Diversität und Anerkennung. Eine kritische Studie der Texte des zeitgenössischen islamischen Denkers Asghar Ali Engineer (1939–2013) (Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2015).
3
Zum Begriffe der religiösen Reform siehe die hilfreiche Definition von Waardenburg: „A religious reform addresses an existing religious tradition“ und weiter: „the conscious, mostly peaceful transformation of a given religion, reconsidering its truth to be affirmed in the community, or its norms to be applied in behaviour, both of which are to improve the human situation in society. Reform in religion has intimate links with critical needs in the society concerned.“ Jacques Waardenburg, Muslims as Actors. Islamic meanings and Muslim interpretations in the perspective of the study of religions (Berlin: Walter de Gruyter, 2007), 377.
4
Zur religionshistorischen Genese der Dawoodi-Bohra und ihrer religiösen Praxis vgl. Sagir, 55–68; sowie Farhad Daftary, Hrsg., A Modern History of the Ismailis. Continuity and Change in a Muslim Community. (London: Tauris, 2011). Vgl. auch, bedingt durch die geschlossene Gemeinschaftsstruktur, die bisher einzige Ethnographie zu den Dawoodi-Bohras in Indien: Jonah Blank, Mullahs on the Mainframe. Islam and Modernity Among the Daudi Bohras (Chicago: University of Chicago Press, 2001).
5
Vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 73–88. Informationen zur Biographie Engineers beruhen auf meinen persönlichen Gesprächen und Begegnungen (2006 bis 2013) mit dem Autor während meiner Feldstudien sowie auf der 2011 erschienenen Autobiographie: Vgl. Asghar Ali Engineer, A Living Faith. My quest for peace, harmony and social change. An autobiography of Asghar Ali Engineer (New Delhi: Orient Blackswan, 2011).
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Kastenwesen bedingte soziale Disparitäten aufweist.6 Engineers Erfahrungen im Zusammenleben Angehöriger verschiedener religiöser Traditionen waren prägend für sein Leben und Werk. Bereits während seines Ingenieursstudiums wurde er Zeuge von Gewaltexzessen, den sogenannten communal riots, zwischen Hindus und Muslimen.7 Diese Ereignisse erschütterten den jungen Mann und begründeten sein Engagement für den Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften. Was aber führte den Sozialaktivisten zur Auseinandersetzung mit dem Koran? Die Biographie Engineers liefert zahlreiche Indizien zur Beantwortung dieser Frage. Eines der beiden Leitmotive seiner Koranexegese ist Engineers Aktivismus, wie das diesem Kapitel vorangestellte Zitat deutlich zum Ausdruck bringt. Nach dem Studium arbeitete Engineer als Bauingenieur für die Stadtverwaltung Bombays, die er Anfang der 1980er Jahre verließ, da, so Engineer in seiner Autobiographie, die Möglichkeiten, sich der gängigen Korruption zu entziehen, immer geringer wurden. Darüber hinaus wünschte sich Engineer, sich ganz seiner Schreibtätigkeit und seinem Einsatz für die friedliche Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften Indiens zu widmen. Für dieses Engagement wurde er 2004 mit dem Alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Das zweite bedeutende Leitmotiv für seine exegetische Arbeit findet sich in der innerreligiösen Kritik. 1972 wurde er aufgrund seiner Kritik an der absoluten Autorität des religiösen Führers der Bohra-Gemeinde, dem Da’i, „exkommuniziert“. Seine Kritik richtete sich dabei auch gegen das vielschichtige Abgabesystem, mit dem die Familie des Da’i die einfachen
6
Vgl. PewResearchCenter. The Global Religious Diversity (2014), http:// www.pewforum.org/2014/04/04/global-religious-diversity/ (zuletzt geprüft am 20.05.2017); The Global Religious Landscape (2012), http://www.pewforum. org/2012/12/18/global-religious-landscape-exec/ (zuletzt geprüft am 20. Mai 2017).
7
Weiterführend zur bis heute andauernden Problematik des communalism, welcher durch die jüngste Hindu-nationalistische Stimmung im Land jederzeit zu explodieren droht, vgl. die Arbeiten von Paul Brass, Veena Das, Julia Eckert und Romila Thapar.
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Gläubigen in ein Abhängigkeitsverhältnis brachte.8 Gemeinsam mit anderen Kritikern aus der Gemeinde gründete er die Reformbewegung Progressive Dawoodi Bohras.9 Bereits als Siebzehnjähriger hatte sich Engineer der Niederwerfung (arab. sajda) vor dem religiösen Führer der Bohras verweigert, da er die Überzeugung vertrat, dass die Sajda ausschließlich Gott vorbehalten sei. Die daraufhin durch Angestellte der religiösen Führung gewaltsam erzwungene Sajda wurde zu einem Schlüsselmoment 10 in der Emanzipation Engineers zum Kritiker innerreligiöser Missstände.11 Als Reformdenker ist Engineer der Koran sein engster „Verbündeter“. Dieser wesentliche Aspekt des Glaubens findet in der Forschung zu muslimischen Reformdenkern kaum Beachtung. Das mag unter anderem auch an der Natur des Glaubens liegen. Dazu stellt der Religionswissenschaftler Friedrich-Wilhelm Graf fest: „Wie jede andere Bewusstseinseinstellung kann Religion immer von innen und außen beobachtet werden. Das Bild, das sich ein frommer Mensch von seinem Glauben macht, ist niemals in die analytischen Deutungssysteme restlos integrierbar, die gelehrte Religionsexperten von außen entwickeln.“12 Dennoch soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass der Aspekt des Glaubens ein entscheidendes Motivationsmoment in der Wahrnehmung und Herangehensweise Engineers ist.13 Dass er gläubig ist, nimmt einen bedeutenden Raum in seinem Islamund Weltbild ein, auch wenn er dem Koran zunächst auf rein funktionale Weise begegnet.14 Dies hat unter anderem den Zweck, die eigenen Argumente, Positionen und Engineers individuelles Religionsverständnis zu untermauern. Dieses spirituelle Motiv seiner Koranexegese wird durch die
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Fünf Anschläge durch Anhänger des Da’i überlebte Engineer. Bei diesen Attentaten wurden sein Haus und seine Bibliothek geplündert, Artikel sowie ein noch nicht fertiggestellter Korankommentar vernichtet.
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Vgl. zur Reformbewegung Sagir, Diversität und Anerkennung, 68–72. Zur Selbstdarstellung der Bewegung siehe dawoodi-bohras.com.
10 Vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 73–86. 11 Vgl. Engineer, A Living Faith, 14f. 12 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (München: Beck, 2007), 10. 13 So lautet ein Ergebnis meiner Studie, für die ich über 400 Artikel Engineers untersucht habe (vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung). 14 Diese Vorgehensweise bezeichne ich als relevanzorientierte Versauswahl.
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negative Erfahrung mit seiner Gemeinschaft unterfüttert. Sie wendet sich von ihm ab, da sie seine Kritik und individuelle Religiosität nicht teilt. Engineer glaubt an die Wahrheit und Gerechtigkeit des Korans. Bei und durch ihn sucht er Schutz und Orientierung. Für Engineer steht der Koran somit im Mittelpunkt seiner Argumentation und seines Weltbildes. Er ist sein ethisch-moralischer Referenzrahmen und so entwirft er eine ethischmoralische Leitlinie für die Lektüre des Korans. Die von Engineer als Qurʾanic ethics, spirit of the Qurʾan oder Qurʾanic values bezeichneten Werte der Barmherzigkeit und Weisheit durchziehen nahezu programmatisch alle seine Texte.15 Engineer führt die Benachteiligung von Frauen sowie das Fehlen ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit als Belege für die Abwesenheit dieser Werte an. Dies gelte sowohl im muslimischen Kontext als auch in der indischen Gesellschaft im Allgemeinen.16 Einen Vers, der die vorislamische Sitte des Tötens von Mädchen thematisiert, bringt er in Bezug zur indischen Praxis der Abtreibung weiblicher Föten. Das bestätigt Engineer in seiner Überzeugung, dass der Koran wahr sei und auch für die Gegenwart eine Botschaft habe. Neben diesen Aspekten spielt das negative Image des Islam und die damit verbundenen negativen Stereotype 17 von Muslimen eine bedeutende Rolle für Engineers exegetisches Engagement. Sein Wunsch ist es diese Stereotype zu entkräften. Dieser Wunsch leitet auch seine Konzentration auf die Themen, mit denen er sich in seinen Texten auseinandersetzt. Sie dominieren ebenfalls den Islam-Diskurs. Muslimische Reformdenker (und auch jene, die nicht als solche gelten) befinden sich in permanenter Auseinandersetzung mit diesem negativen Image, auf
15 Diese Werte thematisiert Engineer an zahllosen Stellen, aber am eindrücklichsten in dem Grundsatzpapier What I believe, welches auf der Website der PDB zu finden ist, vgl. http://dawoodi-bohras.com/about_us/people/engineer/believe/ (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 16 Diese Themen dominieren auch seine Texte, die sich eigentlich laut der Textüberschrift mit der Methodik der Koranlektüre auseinandersetzen sollen (vgl. Text Nr. 5 und Nr. 1). In beiden Texten thematisiert er Vers 4:34 und den Genderdiskurs. 17 Stereotype sind Urteilssimplifizierungen und Vereinfachungen einer komplexen Realität. Sie konstruieren soziale Gruppenidentitäten und Erwartungshaltungen an diese. Vgl. John Dovidio et al., The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping and Discrimination (Los Angeles: Sage Publishing, 2010).
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das sie reagieren. Jedem negativen Stereotyp wird ein positives entgegengesetzt, so dass eine Weiterentwicklung außerhalb dieser Dialektik quasi unmöglich erscheint. Diese Themen erstrecken sich über den Koran, das Zusammenleben mit anderen, die Geschlechterdifferenz, die Religion und den Säkularismus.
AUTOR
UND
T EXTPRODUKTION
Asghar Ali Engineer publizierte die Ergebnisse seiner exegetischen Arbeit vornehmlich auf seiner Website www.csss.isla.com im Rhythmus von 14 Tagen.18 Darüber hinaus hielt er auch international viele Vorträge. Bis auf vereinzelte urdusprachige Publikationen zwischen 1960 und 1980, verfasste Engineer seine Texte auf Englisch, so dass sie eine beeindruckende Reichweite erzielen. Die exegetische und sozialaktivistische Arbeit verband Engineer geschickt in seinen Artikeln, die von internationalen Universitäten, Multiplikatoren des interreligiösen Dialogs, Blogs und südasiatischen und südostasiatischen Zeitschriften und Zeitungen abgedruckt wurden. Im Unterschied zu anderen Reformdenkern, die sich ebenfalls mit dem Koran auseinandersetzen – wie etwa Shabestari oder Abu Zayd19 –, tut Engineer dies nicht auf akademisch-wissenschaftlicher, sondern auf pragmatischer Ebene, entsprechend seiner sozialaktivistischen Überzeugung, dass eine neue, progressive Exegese zu Veränderungen in der Gesellschaft und damit zur Verbesserung der Situation von Individuen führen muss. Der Duktus von Engineers Texten erinnert an Predigten. Sie sind appellativ, programmatisch und die darin betriebene Exegese ziel- und relevanz-
18 Auch in den Hausorganen Indian Journal of Secularism, Secular Perspective, Islam and Modern Age als Printversion; zahlreiche Sammelbände und Monographien, vgl. Werksverzeichnis auf www.csss-isla.com. 19 Vgl. Fatma Sagir, Interview mit Nasr Hamid Abu Zayd. Abu Zaid und die Reformen des Islam (Deutschlandfunk. Tag für Tag. 18.06.2008). Fatma Sagir, Interview mit dem iranischen Gelehrten Mohammad Mojtahed Shabestari. Der Islam ist eine Religion, kein politisches Programm. Teil I. Qantara.de. Sowie Plädoyer für eine säkulare Hermeneutik. Interview mit dem iranischen Gelehrten Mohammad Mojtahed Shabestari. Teil II. Qantara.de. 11.07.2008.
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orientiert.20 Im Vergleich zu den meisten Reformdenkern lebt Engineer als Mitglied der 140 Millionen starken muslimischen Minderheit in Indien in einem säkularen und demokratischen Staatswesen, das ihn in der Ausübung seines Rechts auf Meinungs- und Religionsfreiheit schützt.21 Engineer ist einer der wenigen Reformdenker, die ihre intellektuellen und spirituellen Auseinandersetzungen mit dem Islam und dem Koran mit einem gesellschaftspolitischen, sozialaktivistischen Engagement verschränken. Engineer und seine NGO Centre for the Study of Secularism and Society wurden von der Heinrich-Böll-Stiftung und vielen weiteren internationalen und nationalen Stiftungen finanziell gefördert.22 Seine religiös-theologische Ausbildung erhielt Engineer in jungen Jahren durch seinen Vater. Später setzte er diese in Eigenregie fort, sodass er sich tiefgehende Kenntnisse der klassischen islamischen Disziplinen wie tafsīr, kalam und fiqh aneignete. Er beherrschte Arabisch, Persisch, Gujarati, Urdu, Hindi und Englisch. Aufbau der Texte 23 Engineer thematisiert in der Einleitung seiner Texte meist einen aktuellen Anlass oder ein Stereotyp, wie etwa in dem Text mit der Überschrift Armed Fight is not Jihad,24 eine Überschrift, die bereits programmatisch ist und
20 Dies ist ein Ergebnis meiner Dissertations-Studie (2015), für die ich 434 Artikel ausgewertet habe. 21 Zu Engineers Positionen zu Säkularismus und Demokratie vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 166–82. 22 Die Organisation, die seit dem Tod Engineers durch seinen Sohn Irfan Engineer weitergeführt wird, setzt die Arbeit im interreligiösen Dialog und im Bereich des Sozialaktivismus fort. 23 Engineers Texte, die in diesem Artikel zitiert werden, werden mit den Kürzeln der Websites (csss und iis) wiedergegeben, auf denen sich die Texte abrufen lassen. Gemeinsame Adresse: http://www.csss-isla.com/iis/iis-archives.htm (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 24 Asghar Ali Engineer, Armed Fight is not Jihad (iis: 2003).
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auf die argumentative Richtung des Textes hinweist. 25 Engineer26 greift hier ein negatives Stereotyp (der Islam ist eine Religion der Gewalt) auf: „The author is bent upon proving that jihad in Islam is nothing but an ‚armed warfare‘ against non-Muslims.“27 Anschließend diskutiert er die Positionen im Artikel und führt seine Gegenargumente (hier: der Islam ist eine Religion des Friedens) an. Die Texte, die ich als exegetische Kommentare kategorisiere, folgen in der Regel diesem Aufbau; sie beziehen sich stets auf den Koran: 28 Sie bestehen aus einer Einleitung (Aufgreifen eines Stereotyps und/oder eines tagesaktuellen Anlasses), einem Hauptteil (Diskussion und Argumentation) sowie einem Schluss (Korrektur des aufgegriffenen Stereotyps). Adressaten Zu Beginn des exegetischen Prozesses steht Engineers Kritik an bestehenden Missständen sowohl in der islamischen Welt und unter den Muslimen als auch durch die von ihm angenommene weltweit negative Stereotypisierung der Muslime. Für beide Phänomene macht er unter anderem die Fehlinterpretationen des Korans verantwortlich. Auf dieser Annahme fußen – so lautet ein Ergebnis meiner Studie – sowohl sein Sozialaktivismus als auch seine exegetische Arbeit. Diese Überzeugung ist die „Brille“, durch die er den Koran liest und interpretiert. Sie formt sein exegetisches Narrativ. Diesen Missständen wünscht Engineer ein Korrektiv entgegenzusetzen und sucht es im Koran, da er den Koran selbst als Korrektiv für Missstände über die Zeit seiner Offenbarung hinausgehend begreift. Auf diese Weise findet Engineer zu eigenen Interpretationen, mit denen er sich sowohl in einer
25 Der Text bezieht sich auf einen Artikel des islamkritischen amerikanischen Journalisten Daniel Pipes, der über eine Islam-Konferenz an der Harvard University berichtet. 26 Die Texte und Aussagen Engineers werden von mir ohne grammatikalische oder orthographische Korrekturen wiedergegeben. 27 Ebd. 28 Zum Überblick über die Textkategorien unter Heranziehung von Methoden qualitativer Inhaltsanalyse nach Phillip Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (Weinheim/Basel: Beltz, 2010). Vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 97–100.
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muslimischen exegetischen Tradition verortet, als auch sich von solchen tradierten Lesarten abgrenzt, die er nach seinem Verständnis als „unQurʾanic“ bewertet. Dabei kommt er sicher nicht immer zu ganz neuen (exegetischen) Erkenntnissen,29 doch er präsentiert seine Überlegungen einem Publikum, für das diese Hermeneutik und diese spezifische Sicht auf Religion und Moderne neu ist und die diese für sich als relevant erachtet. Wer sind die Adressaten seiner Texte? Engineers Lesart des Korans ist derart stark auf die Harmonie in der Gesellschaft und die Spiritualität des Individuums ausgerichtet, dass sie Menschen entgegenkommt, die die Diskrepanz zwischen tradierten religiösen Vorstellungen und modernen Einstellungen zum Leben als nahezu unüberwindbar empfinden. Sie suchen Wege, ihre Tradition in der Gegenwart fortzudenken, neu zu definieren und dabei nicht auf ihre Spiritualität zu verzichten.30 Ihr Interesse erklärt sich zweifelsohne aus der Unzufriedenheit mit Antworten heraus, die („orthodox“) tradierte Lesarten und Deutungen des Korans auf Fragen des modernen Lebens geben. Diese werden nicht als zufriedenstellend oder praktikabel erachtet. Der rege Austausch auf Onlineportalen zu Fragen des Islam oder der Fatwa ist ein deutliches Indiz für dieses Bedürfnis. International aufsehenerregende Fatwas verweisen auf die Diskrepanz zwischen der lebensweltlichen Erfahrung und der damit zusammenhängenden Sinnsuche von Gläubigen und etablierten Gelehrten, wie etwa jüngst die Skandale um die Online-Fatwas der türkischen Religionsbehörde Diyanet veranschaulichen.31 Infolge solch haarsträubender, lebensferner Äußerungen muslimi-
29 Wie etwa seine Lektüre des Verses 4:34 zur körperlichen Züchtigung der Ehefrau durch ihren Ehemann verdeutlicht. Engineers Interpretation reiht sich ein unter jene Exegeten, die hier das Wort ḍaraba (schlagen) in den Mittelpunkt ihrer Exegese stellen und durch das hermeneutische Instrument der lexikalischen Reverenz, dem Koranvers eine neue Übersetzung und damit Bedeutung zu verleihen suchen. Vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 153–160. 30 Ich gebe hier die von diesen Adressaten empfundene Diskrepanz von Tradition zu moderner Gegenwart wieder, und nehme diese Annahme zunächst einmal auf der pragmatischen Ebene als gegeben an. Aus Gründen der Stringenz klammere ich hier eine theoretische Diskussion dieser Konzepte (Tradition/Moderne) aus. 31 Diese hatte in den vergangenen Jahren zahlreiche irritierende Fatwas proklamiert, darunter 2016 eine, die den Inzest bzw. sexuellen Missbrauch einer Tochter durch ihren Vater zumindest indirekt erlaubte, da sie besagte, solch eine
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scher Gelehrsamkeit, ist es nur plausibel, dass sich Gläubige nach alternativen Deutungen des Islam und seiner Heiligen Quellen umsehen. Ein Reformdenker wie Engineer, dessen Überlegungen in der Anonymität des Internets völlig geschützt rezipiert werden können, erfährt in diesem Zusammenhang besonders viel Aufmerksamkeit. Engineer schöpft aus einem reichen Fundus an Kuriositäten zu dieser Problematik, die sich besonders häufig im Bereich der Geschlechterbeziehung, der Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft finden. In Indien hat die Thematik des Zusammenlebens von Muslimen und Hindus angesichts der historischen und gesellschaftlichen Sensibilitäten eine besondere Brisanz. So ist es nicht verwunderlich, dass Engineer in seinen Texten diese beiden Themen in den Vordergrund stellt, wenn er von der Verantwortungslosigkeit der ulama32 spricht und ihnen Fahrlässigkeit und Manipulation unterstellt. Sie seien nur am Erhalt eines ungerechten, patriarchalen Systems in der Gesellschaft interessiert. 33 Sie sind nach Engineers Auffassung für die Rückständigkeit der Muslime verantwortlich, besonders, weil sie das Prinzip des iǧtihād als Rechtsfindungsinstrument nicht mehr anwendeten.34 Sie seien fahrlässig und ignorant, hielten starr an althergebrachten, mittelalterlichen Interpretationen fest, ohne sich für die Herausforderungen des modernen Lebens mit der nötigen Bildung zu wappnen und Kenntnisse über den Kontext, in dem sie leben und arbeiten, zu erwerben.35
Handlung würde den Nikah zur Ehefrau nicht ungültig machen. Diese Fatwa wurde infolge des massiven öffentlichen Protestes zurückgezogen. Die FatwaWebsite der Behörde wurde mittlerweile geschlossen, vgl. http://www. radikal.com.tr/turkiye/diyanet-isleri-baskani-gormez-baba-kiz-fetvasiyla-ilgiliilk-kez-konustu-1498473/ (zuletzt geprüft am 20.05.2017). Eine Fatwa zum Verbot des Augenbrauenzupfens für Musliminnen, oder solch eine, die das Händchenhalten von Paaren in der Öffentlichkeit verbieten wollte, wurden ebenfalls ausgesprochen. 32 Die islamische Gelehrsamkeit wird von Engineer unter diesem Begriff subsumiert. 33 Engineer bezeichnet sie auch als ulama-caste oder ruling class of ulama. 34 Eine Kritik, die sich auch bei vielen anderen Reformdenkern findet. 35 Vgl. Asghar Ali Engineer, Women’s Plight in Muslim Society (csss: 2006); ders., Women’s Discourse in Qur’an. Right-based or duty-based (iis: 2007).
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V ERSTEHENSWEGE : M IT
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BEGREIFBAR MACHEN Der komplexe Charakter des Korans als Offenbarungstext ist grundsätzlicher Natur und ihm wesensimmanent. Darin unterscheidet sich der Koran nicht von anderen Heiligen Schriften. Er stellt den Leser (und den Gläubigen) vor vielfältige Herausforderungen. Diesen ist die muslimische Gelehrsamkeit in der Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlich begegnet. Sie hat verschiedenartige Instrumentarien zur Lektüre und zum Verständnis des von ihr als Wort Gottes verstandenen Textes entwickelt. Nicht nur die reiche tafsīr-Literatur und das Entstehen verschiedener tafsīr-Schulen zeugen davon; auch erbitterte und bisweilen blutige Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit verweisen auf die ungebrochene Aktualität und Brisanz dieses Diskurses. Mit der Tradition der tafsīr-Schulen, wie etwa der der Muʿtaziliten36, und mit kanonischen tafsīr-Werken, wie beispielsweise dem des Ṭabarī, ist Engineer vertraut. Die schiitische tafsīr-Tradition mit ihrer Betonung der allegorischen Bedeutung des Korans dient ihm ebenfalls als wichtige Quelle. Mit seinem eigenen exegetischen Schaffensprozess sieht Engineer sich innerhalb dieser Traditionen verortet und als ein Gelehrter, der die Tradition in der Gegenwart weiterdenkt. Innerhalb dieses Narrativs stellt die subjektive, individuelle Exegese keinen Bruch, wie häufig behauptet, sondern ein Fortlesen dieser Tradition dar.
H ERMENEUTISCHE T ECHNIKEN
UND I NSTRUMENTE
Die hermeneutischen Techniken, die Engineer auf pragmatischer Ebene zum Verständnis des Korans einsetzt, sind in keinem seiner Texte zusammenhängend und systematisch aufgeführt. Daher sollen sie im Folgenden überblicksartig vorgestellt werden:
36 Weiterführend zur Popularität dieser Schule, vgl. Suleiman A. Mourad, „The Survival of the Mu’tazila Tradition of Koranic Exegesis in Shi’i and Sunni tafsir.“ Journal of Qur’anic Studies 12 (2010): 83–108.
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Den Text durch den Text verstehen; Lektüre des Korantextes unter Heranziehung von Reverenzversen oder im Textzusammenhang nach innerer Logik und Stringenz. Historisch-kritische Lektüre unter Heranziehung historischer Quellen oder der Offenbarungsanlässe, sofern sie überliefert sind. Ḥadīṯ-Lektüre; ḥadīṯe, deren Authentizität als sicher gilt, oder deren Authentizität von Engineer nicht angezweifelt wird. Lektüre von Beispielen aus der frühen islamischen Geschichte, die Engineer für den Umgang mit und die Interpretation von spezifischen Koranversen nachahmenswert erscheinen. Heranziehen anderer Gelehrtenmeinungen oder anderer Exegesen. Lexikalische Dekonstruktion von Begriffen und kritische Reflexion von Schlüsselbegriffen zur Neuübersetzung des Korantextes und zur Lektüre in Abgrenzung zur etablierten Lesart. Dechiffrieren des Korantextes in Korrelation zur modernen lebensweltlichen Realität (Überprüfen der Gültigkeit/Anwendbarkeit). Als Instrumentarium hierfür dient zuvorderst die Kategorisierung der Koranverse in kontextgebundene (contextual) und normative (normative), allegorische vs. nicht-allegorische (mutašābih/muḥkam), medinensische vs. mekkanische sowie in abrogierende vs. abrogierte (nāsiḫ/mansūḫ).
K ONTEXTGEBUNDENE K ORANVERSE
VERSUS NORMATIVE
Die Kategorisierung der Koranverse in kontextgebundene und normative bildet ein wesentliches Ordnungsmoment in der exegetischen Arbeit Engineers. Als Ausganspunkt dient ihm der in der islamischen Gelehrsamkeit kontrovers diskutierte Vers 3:7. Der ambivalente Charakter des Offenbarungstextes wird hier bestätigt und angekündigt. Entscheidend sind die Ausdrücke āyātun muḥkamātun (in etwa: eindeutige Verse) und mutašābihātun (in etwa: mehrdeutige/ähnliche Verse).37 Dieses in der
37 In der Tradition der tafsīr-Literatur findet sich eine umfassende und andauernde Debatte über die Bedeutung dieser Begriffe und die Definition dieser Konzepte.
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tafsīr-Literatur umstrittene Begriffspaar bildet die Grundlage der Debatte um die Deutungshoheit. Engineer versteht unter normativen Koranversen solche, die als ewig gültig erachtet werden, das heißt, sie sind überzeitlich und stehen über allen religiösen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren und Bedingungen. Kontextgebundene Koranverse hingegen sind Verse, die auf einen konkreten historischen Kontext, auf ein konkretes historisches Ereignis hinweisen, beispielsweise etwa Verse, die den Umgang mit Sklaven beschreiben. Diese haben gemäß Engineer ihre Anwendbarkeit (application) verloren.38 Jedem kontextgebundenen Vers sieht Engineer einen normativen Vers gegenüberstehen, da er davon überzeugt ist, dass der Koran zur Korrektur eines bestehenden negativen Status quo offenbart worden sei: „The Qurʾan does not support status quo. It wants believers to transcend and subvert it and if it is not immediately possible to do so to at least reform it to the extent possible. (...).“ 39 In eine dritte Kategorie ordnet Engineer Verse ein, die er zwar als konkret und in einem historischen Kontext verortet sieht, aber aus denen er dennoch eine Norm herausliest, die über den konkreten Kontext hinausgehend gültig ist, wie etwa Verse, die die Zakat-Abgabe betreffen.40 Mehrdeutige Verse sind für Engineer allegorisch zu verstehen und daher offen für verschiedene Interpretationen. Es ist eine moralische Frage für Engineer, wie der Text gelesen wird. Im Folgenden soll die hermeneutisch-exegetische Vorgehensweise von Engineer anhand zweier Beispiele nachvollzogen werden. Engineer übt mit einer Ausnahme keinerlei direkte Kritik an bestimmten Gelehrten. Diese Ausnahme bildet Yusuf al-Qaradawi mit seinen Aussagen zum Thema Frauen und zur Frage der Vereinbarkeit von Säkularismus und Islam. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl des ersten Beispiels zu sehen. Im zweiten Beispiel stellt Engineer eine für seine lebensweltliche Realität in Indien hochbrisante und existenziell relevante Frage. Sind Hindus ahl al-kitāb (Leute der Schrift)? Diese Frage ist innerhalb des indischen
Vgl. Leah Kinberg, „Ambigious.“ In Encyclopaedia of the Qur’an, hrsg. v. Jane McAuliffe, 70–76 (Leiden: Brill, 2001). 38 Vgl. Asghar Ali Engineer, On Normative and Contextual in Unterstanding the Qur’an (iis: 2006). 39 Ebd. 40 Ebd.
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Kontextes insofern wichtig, als dass sie versucht, eine religiöse Legitimation für den freundlichen und friedlichen Umgang mit den Hindus zu finden, so dass eine Alternative zu bekannten religiösen oder religiös motivierten Positionen geschaffen wird, die die Andersartigkeit der jeweiligen Religionsgemeinschaften kolportiert und damit auch ihre Unversöhnlichkeit. Nicht nur in den brutalen communal riots werden diese Legitimationen abgerufen; bereits im Vorfeld können sie Spannungen und Konflikte noch befeuern. Diesem Umstand versucht Engineer etwas entgegenzusetzen, da der gesellschaftliche Frieden in Indien von diesen wiederkehrenden Zusammenstößen ernsthaft bedroht ist. Um sich dieser Frage zu stellen, setzt sich Engineer zunächst mit dem Begriff des kufr/kāfir auseinander. Sein Erkenntnisweg soll hier nachgezeichnet werden. Beispiel 1: „Why this negative attitude towards women?“
1
In dem folgenden Beispiel positioniert sich Engineer zu dem 2005 international aufsehenerregenden Ereignis, bei dem die amerikanische Muslimin Amina Wadud in New York öffentlichkeitswirksam dem gemeinsamen Freitagsgebet von Männern und Frauen als Imam vorstand und eine Hutba hielt.42 In seinem Artikel On a Muslim Woman Leading the Congregational Prayer (2005)43 geht Engineer dabei der theologischen Frage nach, ob eine
41 Asghar Ali Engineer, Women’s Discourse in Qur’an. Right-based or dutybased? (iis: 2007). 42 Amina Wadud (geb. 1952) ist Nahost-Wissenschaftlerin und feministische Theologin, die in den 1970er Jahren zum Islam konvertierte. Ihre Dissertation Qur’an and Woman (1993) gilt als Grundlagenwerk für muslimische Feministinnen und feministische Theologinnen. 1994 hatte sie bereits eine Hutba in einer Moschee in Kapstadt/Südafrika gehalten. Dieses hatte Proteste hervorgerufen, dennoch waren die Reaktionen gering im Vergleich zu denen, die 2005 folgten. Dies dürfte unter anderem der intensiven weltweiten Berichterstattung führender Medien geschuldet sein. Yusuf al-Qaradawi verurteilte ihre Handlungen in einer Sendung des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera. Noch 2013 sagte die Regierung des indischen Bundesstaates Tamil Nadu einen geplanten Vortrag an der Universität Madras zu Gender, Reform und Islam von ihr ab, da sie Ausschreitungen befürchtete. 43 Sämtliche Zitate in diesem Beispiel sind diesem Text entnommen.
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muslimische Frau ein geschlechtergemischtes rituelles Gebet leiten darf. In diesem Zusammenhang kritisiert Engineer Yusuf Al-Qaradawi,44 einen führenden Gelehrten, den er stellvertretend für die orthodoxe Gelehrsamkeit sieht. Qaradawi veröffentlichte im März 2005 auf der Website Islam Online eine Fatwa, das im Zentrum der Kritik steht.45 Die Grundthese Engineers lautet: Für die benachteiligte Stellung der Frau sei nicht der Islam, sondern die männliche Gelehrsamkeit verantwortlich. Im Beispieltext bezieht sich Engineer auf die weitgehend ablehnende Reaktion der islamischen Gelehrsamkeit. Stellvertretend fasst er die Aussagen des damaligen Großmuftis von Ägypten, Ali Gomaa,46 zusammen. Danach dürfe eine Frau zwar das Gebet einer reinen Frauengemeinde leiten, aber kein gemischtgeschlechtliches gemeinsames Gebet. Diese Meinungen nennt Engineer claim, also Behauptung, deren Legitimität er mit der koranischen Position kontrastieren möchte: Is there any authoritative argument (nass) against a woman leading mixed gender prayer in Koran? Certainly not. All agree that there is no such denial in Koran. Though Koran does not refer to the issue directly, there are verses in Koran, which can support a woman leading such mixed congregational prayers. [Hervorhebung FS]
44 Wird gelegentlich auch al-Qaradawi geschrieben; Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926) ist ein ägyptischer muslimischer Theologe, der als der populärste und einflussreichste seiner Zunft gilt, der er in zahlreichen Vereinigungen vorsteht, wie beispielsweise der International Union of Muslim Scholars. Sein bekanntestes Buch ist das 1960 erschienene al-Ḥalāl wa-l-ḥarām fī l-islām (dt. Das Verbotene und das Erlaubte im Islam), das in zahlreichen Sprachen erhältlich ist. Mit seiner TV-Sendung erreicht er bis zu 60 Millionen Zuschauer weltweit. 1997 gründete er die ebenso populäre Website Islam Online, auf der er Fragen einer internationalen muslimischen Leserschaft zum Islam beantwortet. Zu Qaradawi gibt es eine Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten. Weiterführend beispielsweise: Bettina Gräf und Jakob Skoovgard-Petersen, Hrsg., Global Mufti. The phenomenon of Yusuf al-Qaradawi (London: Hurst & Co., 2009). 45 Zu diesem Ereignis findet sich eine Fülle an Publikationen; die klassischen muslimischen Positionen z.B. online hier http://www.wluml.org/node/2027 (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 46 (geb. 1952), amtierte von 2003–2013.
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Weil es kein Verbot im Koran dazu gebe, lehnt Engineer ebenfalls ein Verbot ab. Zur Unterstützung dieser Position führt er Beispiele aus der Sira an, wie etwa, dass die Prophetengefährtin Umm Waraqah gemeinsame Gebete von Männern und Frauen geleitet haben soll. In einem zweiten Schritt bezieht er sich auf ausgewählte Gelehrtenmeinungen, die aufgrund dieses Beispiels zu einem befürwortenden Ergebnis gelangen. 47 Die Kernfrage laute, ob der Prophet die Leitung des gemeinsamen Gebetes nur Umm Waraqah erlaubt habe, oder ob es eine allgemeingültige Regelung sei. Engineer folgt jenen Gelehrten, die die Entscheidung des Propheten für eine allgemeingültige Regelung halten und kritisiert die Argumentation jener, die ein Verbot befürworten. Diese argumentierten, dass im Falle von zwei Personen, derjenige das Gebet leiten solle, der physisch stärker, also stabiler sei, sowie derjenige, der die höhere Bildung habe. Die Kritik Engineers richtet sich hierbei auf die axiomatische Annahme der Gelehrten, Frauen seien das schwächere Geschlecht und kämen folglich nicht in Frage: „But a woman can be greater ‘alimah than a man and it was on this principle that the Prophet (PBUH) allowed her to lead mixed congregational prayer.“ Engineers Kritik an Qaradawi greift populäre Meinungen zum Thema auf, die Qaradawi in seiner Fatwa wiedergibt und verteidigt: a) In der islamischen Geschichte hat es das noch nie gegeben, b) die Frau ist schwach und c) der Körper der Frauen lenkt die Männer während des Gebets ab. Methodisch führt Engineer Qaradawis Aussagen auf und konfrontiert diese mit seinen Entgegnungen, wie der folgende Ausschnitt verdeutlicht: […] Qardawi says in his fatwa that throughout Muslim history it has never been heard of a woman leading the Friday Prayer or delivering the Friday sermon, […]. It is established that leadership in prayer in Islam is to be for men. [Hervorhebungen FS]
47 Zu den Ansichten im islamischen Recht, siehe Christopher Melchert, „Whether to Keep Women Out of the Mosque. A Survey of Medieval Islamic Law.“ In Authority, Privacy and Public Order in Islam. Proceedings of the 22nd Congress of L’Union Européenne des Arabisants et Islamisants, hrsg. v. Barbara Michalak-Pikulska, 59–69 (Leuven: Orientalia Lovaniensia Analect, 2006).
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Darauf entgegnet Engineer: With due respect to the Sheikh I must say first of all Muslim men, particularly ‘ulama have decided that a woman cannot be ruler or head of the state. [...] Qardawi, like other traditional ‘ulama, I am sure, considers woman’s rule as illegitimate. And if he does not, then he should not object to a woman leading mixed congregational prayer.
Insbesondere der letzte Satz verrät, dass Engineer mit den intellektuellen Klimmzügen muslimischer Gelehrter zu diesem Thema bestens vertraut ist. Wenn eine Frau zu schwach ist, das gemeinsame Gebet zu leiten, dann ist sie ebenfalls zu schwach, eine Gemeinde oder einen Staat zu führen, lautet eine wohlbekannte Argumentation muslimischer Gelehrter zu dieser Frage, die Engineer hier aufgreift. Die Autorität und die Deutungshoheit, die die etablierte Gelehrsamkeit hier für sich behauptet, stellt Engineer in Frage bzw. lehnt sie gar ab: Secondly his argument that it is well established that „leadership in prayer in Islam is to be for men.“ The question is who has established that? The Koran? No. The holy Prophet’s Sunnah? No. And every one agrees that Islamic Shariah is based on Koran and Sunnah. It is not for anyone to establish Islamic rules. This assertion on the part of Yusuf al-Qardawi is not right and certainly not based on Islamic sources. Sheickh Qardawi, in order to justify traditional practice [...] comes out with very strange logic, even obsession with sex. [Hervorhebungen FS]
In diesem Textbeispiel wird deutlich, dass sich zwei gänzlich konträre Islambilder, mehr noch Weltbilder, gegenüberstehen, die um Wahrheitsanspruch und Deutungshoheit kämpfen. Engineer geht bei seiner Neudeutung (mehr noch: Umdeutung) unterschiedliche methodische Wege. Die Lehrmeinung Qaradawis wird auf ihre Logik hin geprüft. Zur Überprüfung ihrer Legitimität stellt Engineer folgendes fest: I really wonder on the Sheikh’s logic. On one hand he says prayer is an act of concentration and submission to Allah and humility to him and on the other he argues that woman’s sexuality will interfere with concentration. Of what use is a Muslim’s concentration if he gets sexually excited even in the sacred and spiritual act of prayer and submission to Allah. Better he does not pray.
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Qaradawi argumentiert in seiner Fatwa, Frauen sollten hinter den Männern stehen, damit sie die Männer nicht sexuell animierten, daher sehe die Scharia vor, dass Männer das Gebet leiteten. Engineer lehnt dies ab: The Koran does not even remotely suggest that men are sexually more excitable than women and so women should be wrapped in cloth from head to toe to spare men the sin of rape or adultery.
Für sein Gegenargument beruft sich Engineer auf Vers 29:45, den er eingebettet in die Autoritätsfrage aufführt: „Whom should we listen to? To Ulama or to Allah who says prayer is antidote for all indecency and evil?“ Die Aussagen Qaradawis sind für Engineer nicht mit Koran und Sunna vereinbar, sondern allein dessen persönliche Ansichten: This may be Sheikh’s view; it is certainly not the Koran’s and the Sunnah’s view. Qardawi thinks the Prophet did not know what he knows about the men’s sexuality and permitted Umm Waraqah to lead prayer. And he also thinks that only men’s sexual feelings can be stirred, not women’s when they pray behind men.
Die gesamte Argumentationslinie, die Qaradawi hier mit seinen Aussagen repräsentiert, ordnet Engineer gesellschaftspolitisch wie folgt ein: The problem is not with sexuality but with men’s ego that he does not want to pray behind a woman. Men have total control on all social and religious institutions and in no case wants to give up this control.
Zum Abschluss des Textes begrüßt er Amina Waduds Initiative und dann schließt Engineer, ohne vorherige Erwähnung, mit einem Verweis auf den ägyptischen Reformtheologen Muḥammad ʿAbduh48 ab: „We have always sidelined reformers like Muhammad Abduh of Egypt who stood for gender justice and true Qurʾanic spirit. We need not one but many Abduhs.“
48 Der ägyptische Gelehrte Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) gilt als einer der bedeutendsten muslimischen Reformdenker des 19. Jahrhunderts. Die von ihm und seinem Schüler Rashid Rida herausgegebene Zeitschrift Al-Manār war ein wegweisendes Organ für das moderne muslimische Denken.
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Diese letzte Wendung ist ein starkes Indiz für den Wunsch Engineers sich und auch Amina Wudud innerhalb einer historischen Tradition des Strebens nach Reform zu verorten. Gleichzeitig weist er auf die Existenz dieser Reformtradition hin, und zwar ironischerweise in Ägypten, also dem Herkunftsland von Qaradawi. Beispiel 2: Sind Hindus ahl al-kitāb? 49 Zum Aufbau seiner Argumentation diskutiert Engineer folgende Begriffe und Begriffspaare: muʾmin und muslim, kāfir, dār ul-islām und dār ul-harb sowie jihād,50 oder irtidād und murtadd (dt. Apostasie, Apostat)51 sowie shirk im Sinne von Polytheismus.52 In diesem Kontext verhandelt er die Frage, ob Hindus ahl al-kitāb seien. Diese Frage bejaht er an verschiedenen Stelle: „Some people out of ignorance describe Hindus as kafirs. They neither know Qurʾan properly nor Hindu religion.“ Hindus könne man nicht als kāfir bezeichnen, denn nur diejenigen, die die Wahrheit nicht anerkannten, seien kāfir: Thus anyone who hides is called kafir and since those Arabs of Mecca who refused to accept higher truth revealed from Allah and hid it were called kafirs. It is important to note that only those who hide higher truth and morality based on this truth are called kafirs (plural kuffar). However, it does not mean all those who are not Muslims are kafirs as they can also possess truth, though in different form or through other prophets.
Die Begriffe kufr/kāfir gehören zu den Schlüsselbegriffen in Engineers Texten. Dies ist sicher damit zu erklären, dass er dem Vorwurf der Apostasie ausgesetzt war, oder gar als kāfir bezeichnet wurde.53 Diese Erfahrung
49 Sofern nicht anders vermerkt, sind sämtliche Zitate für dieses Beispiel folgendem Text entnommen: Asghar Ali Engineer, On Kufr, Jihad and Cow Slaughter, and Dar al-Harb (csss: 2006). 50 Vgl. Asghar Ali Engineer, India is Darul Aman, Mr. Singhal (csss: 2009). 51 Vgl. Asghar Ali Engineer, Islam and Punishment for Apostasy (iis: 2006). 52 Vgl. Asghar Ali Engineer, Qur’an and Other Religions (iis: 2006). 53 Vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 73.
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fließt in seine exegetische Definition des Terminus, dessen Zuordnung nur Gott allein überlassen sein solle: In dubbing someone as kafir various motives are at work including ones disagreement and personal ego or even vested interest. Thus a true Muslim who follows the spirit of the Koran would refrain from using such terms. It should be left to Allah to decide.
Entsprechend seiner charakteristischen Vorgehensweise weist Engineer einleitend auf Missverständnisse hin und formuliert sein exegetisches Ziel: Whenever I lecture on Islam or even on communalism and secularism participants usually ask me about kufr, jihad, Dar al-Islam and Dar al-harb and position of cow slaughter. There is widespread misunderstanding about these terms not only among non-Muslims but also among Muslims themselves. It is therefore necessary to throw light on these terms in Islam. It is highly necessary to remove misunderstandings about these terms in the interest of peace and harmonious co-existence with NonMuslims both in Islamic and non-Islamic countries. [Hervorhebung FS]
Dieses Ideal („Weltfrieden“) gilt es zu erreichen. Hier zeigt sich Engineers grundsätzliches Anliegen und einer der wichtigsten Aspekte zum Verständnis seines Denkens und Wirkens. An anderer Stelle macht Engineer deutlich, dass ihm Propheten und weise Menschen als Vorbilder dienten. Sie hätten sein Verständnis des Begriffs kāfir entscheidend verändert: [...] I had inherited certain fixed meaning but now a new meaning dawned which was more in conformity with the Qurʾanic spirit. It is not that one who does not accept Islam is kafir and one who does, is always a muʾmin.54
Engineer problematisiert den Umgang und die Popularität solcher Schlüsselbegriffe. Der Islam sei der Friktion unterlegen. Jede Gruppe habe dabei die um den Wahrheitsanspruch konkurrierende Gruppe als kāfir oder Häretiker abstempeln wollen. Dieser Feststellung folgt die Begriffsklärung. Sie beginnt mit einer historisch-kritischen Kontextualisierung. Die hier dis-
54 Asghar Ali Engineer, Religion as I View it (iis: 2010).
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kutierten Schlüsselbegriffe bezeichnet der Linguist Izutsu 55 als ethical terms oder solche, die die Weltanschauung des Korans wiedergeben, wie etwa kufr.56 Izutsu ordnet Begriffe des Korans – wie etwa kufr – in einen semantischen Kontext ein: kufr/kāfir wird nicht als Teil des Gegensatzpaares gläubig-ungläubig/Glaube-Unglaube definiert, sondern zum Begriffspaar dankbar-undankbar/Dank-Undank (kufr-shukr) gehörig. Kufr bedeutet in dieser Anordnung, dem Schöpfer den Dank zu verweigern, im Gegensatz zu denjenigen, die ihm danken.57 Obwohl Engineer Izutsu nirgends erwähnt, baut er seine Argumentation zur Definition von kufr/kāfir ähnlich auf und findet zu einer eigenen Definition: „The word kafir literally means one who hides. According to Imam Raghib al-Asfahani, who compiled the dictionary of Qurʾan, the word kafara means to hide.“ Engineers Definition beschreibt einen egoistischen, rücksichtslosen Menschen als kāfir: A real kafir is one who lives for himself and for comforts of his own life making serious compromises with fundamental values of life such as truth, justice, compassion, human dignity and inflicts suffering on others for his own comforts and lust for power and self. He lives in this world. And real mu'min (believer) is not only one who formally accepts Islam but one whose life is a continuing struggle for truth and who refuses to compromise with falsehood, is an embodiment of compassion and is always engaged in relieving others’ suffering.58
Explizit versucht er an keiner Stelle eine Neudefinition der Begriffe, sondern wiederholt seine Absicht der Klärung. Dennoch nimmt er faktisch eine Umdeutung der Begriffe vor. Er ändert ihre Konnotation. Damit macht er ein Angebot einer Definition, einer Interpretation und folglich auch einer spezifischen Lesart. Es bleibt allerdings dem Leser überlassen, dieses An-
55 Toshihiko Izutsu, The Structure of the Ethical Terms in the Koran. A study in semantics (Tokio: Keio Institute, 1959). 56 Vgl. Izutsu, passim. In Zusammenhang mit kufr diskutiert Izutsu Begriffe, die er semantisch mit kufr assoziiert, wie beispielsweise fāsiq oder shirk. Vgl. Izutsu, 145–67. 57 Vgl. Izutsu, 22 sowie ausführlich zur Undankbarkeit vgl. ebd., 113–18. Kufr im Gegensatz zu īmān vgl. ebd., 118–22. 58 Engineer, Religions as I View it.
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gebot mit anderen Interpretationen zu vergleichen und einzuordnen, es zu kritisieren oder zu übernehmen. Dies ist eine für Engineer typische Vorgehensweise.59 Obwohl der Koran die Hindus nicht als ahl al-kitāb aufführe, so sage Gott im Koran, er habe allen Menschen Propheten und Gesandte geschickt (Vers 16:36), sodass diejenigen, die nicht explizit als ahl al-kitāb aufgeführt seien, nicht ausgeschlossen werden dürften. Für seine Argumentation zieht Engineer Sufi-Persönlichkeiten heran: The Sufi saints like Mazhar Jan-I-Janan also included the Hindus in this category arguing that how Allah can forget to send His Messengers to India as He has promised to send His Messengers to all the nations. [...] He also feels Hindus are monotheists as they believe in God who is nirgun and nirakar (i.e. without attributes and shape), which is highest form of tawhid (monotheism).
Der Umgang Engineers mit Sufis in seinen Texten und seiner Argumentation deutet darauf hin, dass sie zur Darstellung einer ethisch-moralischen und historischen Dimension seiner Position dienen und dabei diese Position als Teil einer sowohl muslimischen als auch spezifisch indischen Tradition verorten. Um diesen Ansatz zu verdeutlichen, bezieht sich Engineer vornehmlich auf das Image der Sufis in der Gegenwart. Er knüpft seine Argu-
59 Nie beteiligte sich Engineer an einer Diskussion, die durch seinen Artikel ausgelöst wurde, oder reagierte auf Kritik. Eine Ausnahme bildet der Vorwurf der willkürlichen Versauswahl und der damit einhergehenden Subjektivität und Selektivität, die der Soziologe Yoginder Sikand ihm machte, ohne ihn namentlich zu nennen. Auf diesen Vorwurf, mit dem andere Reformdenker ebenfalls konfrontiert sind, gehe ich an verschiedenen Stellen meiner Dissertation ein. Die Subjektivität und Selektivität, so lautet meine These, ergibt sich aus der Relevanz, die der Heilige Text für das Individuum hat. Nicht alles ist für jeden gleichermaßen wichtig und relevant. Es wird nicht mehr der gesamte Koran gelesen, um ihn zu verstehen, sondern, so lautet ein Ergebnis meiner Studie, der Koran wird gelesen, um die Welt zu verstehen. Vgl. Sagir, Diversität und Anerkennung, 108–118; vgl. Yoginder Sikand, Muslims in India Since 1947, Islamic perspectives on inter-faith relations (London: Routledge Courzon, 2004), 28. Engineers Replik findet sich hier: Engineer, On Normative and Contextual Understanding of the Qur’an (iis: 2006).
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mentation an das, wofür die Sufis „stehen“, also welche Symbolik und Botschaft sie repräsentieren und womit sie assoziiert werden („moderater Islam“). In diesem Zusammenhang spielt der historische oder wissenschaftliche Diskurs lediglich eine untergeordnete Rolle. Für Engineers Argumentation, so indiziert die Lektüre seiner Texte, genügt es, dass Sufi in der öffentlichen Wahrnehmung und medialen Rezeption positiv konnotiert ist. Dieser Sufi-Islam (Engineer) gilt ihm als Korrektiv zum orthodox Islam.60 Zwar erwähnt er, dass einige Sufis sich auch in der Politik engagiert hätten – das weist darauf hin, dass Engineer sich dieser vielfältigen Geschichte 61 bewusst ist –, aber diese Information wird von ihm nicht weiterverfolgt oder
60 Bereits im 11. Jahrhundert versuchten Gelehrte dieser Dichotomie zu entkommen, wie zum Beispiel Al-Ghazzali. Vgl. Sarah F.D. Ansari, Sufi Saints and State Power. The Pirs of Sindh, 1843–1947 (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), 4f. Über die Versuche, Theologie und Sufismus zu „versöhnen“, sowie zur Beziehung zwischen Theologie und Sufismus siehe weiterführend die Artikel in Ayman Shihadeh, Hrsg., Sufism and Theology (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007) die das Thema im sunnitischen und schiitischen Kontext beleuchten. 61 Auf dem indischen Subkontinent und in anderen Einflussgebieten der Sufis existierten zahlreiche Schulen, Strömungen und Persönlichkeiten, die zu den lokalen (Herrscher-)Eliten gehörten. Siehe weiterführend dazu die Fallstudie von Ansari (1992), in der sie auch auf die Arbeit von Richard Eaton, Sufis of Bijapur 1300– 1700. Social roles of Sufism in medieval India (Princeton: University Press, 1978) hinweist, der die verschiedenen Rollen, die die Sufis in der Gesellschaft einnahmen, aufzeigt und so am populären Bild des asketischen, weltabgewandten Sufis kratzt. Siehe auch einführende Darstellungen der Geschichte der Sufis wie zum Beispiel Nile Green, Sufis. A global history (Chichester [u.a.]: WileyBlackwell, 2012); Annemarie Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik (München: Beck, 2005). Zu Sufis in der Gegenwart und in der Auseinandersetzung mit der modernen Welt siehe Martin van Bruinessen and Julia Howell, Hrsg., Sufism and the ‘Modern’ in Islam (London [u.a.]: Tauris, 2007).
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nur verkürzt wiedergegeben;62 denn sie ist nicht relevant für die Argumentation, die ein spezifisches überwiegend homogenes Bild der Sufis transportieren soll.
F AZIT Was bedeutet der Koran für Engineer und welche hermeneutischen Techniken setzt er ein, um zu seinen Interpretationen zu gelangen? Was ist seine Absicht bzw. seine Motivation? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages. Bei der Lektüre der reichen Fachliteratur zum Thema Islam in der Gegenwart und dabei vor allem zum Thema Reformislam drängt sich der Eindruck auf, dass muslimische Denker heute vornehmlich damit beschäftigt sind, Imagepflege zu betreiben. So stellt sich die Frage, ob ohne Referenz auf das negative Image des Islam in der westlichen Welt noch eigene Ideen entwickelt und die eigene Tradition weitergeführt werden können. Das Unterfangen, diese Frage zu beantworten, könnte sich als obsolet herausstellen, da sich der Islam auch in der nahen Zukunft stets in der Auseinandersetzung mit der westlichen Welt 63 befinden wird. Engineer bezieht sich in seiner Exegese und damit verbunden in der Auswahl seiner hermeneutischen Instrumente konkret auf das negative Image des Islam, die tradierten Stereotype, denen er eine andere Tradition und ein anderes, positives Image des Islam entgegensetzen möchte, das als Korrektiv zum negativen Stereotyp des Islam dienen soll. Sein Appell ist folglich programmatisch und dient in erster Linie der Aufklärung. So ist es nicht erstaunlich, wie der vorliegende Beitrag verdeutlichen sollte, dass Engineer eine Art »Mix and Match«-Hermeneutik64 praktiziert, das heißt, er
62 „Some Sufis were also concerned with just governance and setting up just social order in keeping with the Qur’anic teachings and hence participated in political struggles for this purpose but not in struggle for political power.“ Vgl. Engineer, Sufism. Its origin and impact on Indian Islam (csss: 2006). 63 Mir ist die Problematik und Begrenztheit dieses Terminus bewusst. 64 »Mix and Match« nennt man in der Mode das Zusammenstellen der Bekleidung durch das geschickte Kombinieren verschiedener Texturen, Farben, Formen und Muster, das letztlich ein stimmiges Gesamtbild trotz aller Brüche ergibt und
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stellt sein breitgefächertes Instrumentarium in den Dienst eines ganz spezifischen, meist zuvor formulierten oder auch nur erahnten Lektüreziels. Das Lektüreziel – die Untermauerung der eigenen Position in Abgrenzung zu etablierten Positionen und Lehrmeinungen, die er ablehnt – ist dem gesamten exegetischen Prozess übergeordnet. Infolgedessen nutzt Engineer alle möglichen Verstehenswege, um an sein Ziel zu gelangen, ohne sich einer spezifischen Schule des tafsīr anzuschließen, auch wenn er selbst keine neuen Instrumente entwickelt. Seine eigenwillige Methode des Von-allem-Etwas findet sich flächendeckend bei allen zeitgenössischen Reformdenkern, die auf eine bloße Repetition von tafsīr-Positionen vergangener Zeiten verzichten und die individuelle, subjektive Anstrengung in den Mittelpunkt stellen, um zu einem eigenen Verständnis zu gelangen. Dies wird unter bewusster oder unbewusster Heranziehung tradierter Verstehensmethoden erreicht. Engineers methodologische Ansätze und die damit verbundenen hermeneutischen Instrumentarien sind daher auch nicht neu, wie die vorgestellten Beispiele zeigen (lexikalische Bedeutungen sowie ḥadīṯ wurden diskutiert). Sie wollen keiner spezifischen theologischen Richtung folgen – Engineer selbst verstand sich als Muslim bilā maḏāhib –, sondern vielmehr ein Fortdenken der Tradition in der Gegenwart erzielen, damit die Tradition nicht erlischt, aber auch damit sie nicht erstarrt (Stichwort iǧtihād). Diese Methodik und die spezifische Motivation negative Stereotype zu überwinden führen dazu, dass der Koran gelesen und interpretiert wird, und zwar mit dem ausschließlichen Ziel, die Welt zu verstehen. In diesem Prozess ist Asghar Ali Engineers Vorgehensweise und Stimme beachtenswert.
damit etwas Neues schafft. Ohne Engineers Herangehensweise bagatellisieren zu wollen, bietet sich der Vergleich hier dennoch an.
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Wie der Prophet die Welt sah Zur Koranexegese bei Muḥammad Muǧtahid Šabistarī A BBAS P OYA
E INFÜHRUNG Muḥammad Muǧtahid Šabistarī, um dessen Standpunkt zur Koranauslegung es in diesem Beitrag gehen soll, ist der gegenwärtig prominenteste iranische Gelehrte, der sich zu neuen methodischen Ansätzen der Koranexegese geäußert hat. Es gibt einige bekannte und weniger bekannte Koraninterpretationen, die in den letzten Jahrzehnten im Iran veröffentlicht worden sind. Neben dem allseits geachteten al-Mīzān fī tafsīr al-qurʾān („Der Maßstab der Koranexegese“) des Philosophen und Rechtsgelehrten Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī (1892–1981) stehen noch die zwei folgenden und unvollständigen Koranexegesen für einen progressiven Ansatz: Partawī az qurʾān („Ein Lichtstrahl aus dem Koran“) des Reformgelehrten und Verfechters des sogenannten islamischen Sozialismus Maḥmūd Ṭāliqānī (1914–1979) und Tafsīr nawīn („Die moderne Exegese“) des Intellektuellen und politisch-religiösen Aktivisten Muḥammad Taqī Šarīʿatī (1907– 1987). Vergleichsweise traditionell gehen die zwei folgenden Koraninterpretationen vor: Tafsīr-i namūna („Die auserwählte Exegese“) von Groß-
Eine englische Fassung dieses Beitrags ist bereits erschienen in: Abbas Poya und Farid Suleiman, Hrsg., Unity and Diversity in Contemporary Muslim Thought (Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2017), dort 208–227.
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ayatollah Makārim Širāzī (geb. 1924) und Mafāhim al-qurʾān („Die Bedeutungen des Korans“) von Großayatollah Ǧaʿfar Subḥānī (geb. 1930). Während Ṭāliqānī und Šarīʿatī um eine wissenschaftliche, sozialkritische, reformorientierte und allgemeinverständliche Exegese des Korans bemüht sind, werden in den beiden anderen tafsīr-Werken im Großen und Ganzen die herkömmlichen exegetischen Methoden gepflegt. Šabistarī hat zwar noch kein tafsīr-Werk vorgelegt, bemüht sich aber umso mehr um eine andere, neue Herangehensweise an den Koran. Damit fordert er die herkömmliche Lesart des Korans in den traditionellen Lehrstätten heraus. Gleichzeitig hält er offensichtlich die Versuche von Ṭāliqānī und Šarīʿatī, den Islam bzw. den Koran angemessen zu verstehen, für unzureichend. Šabistarī sieht grundsätzlich die offizielle Lesart (qirāʾt-i rasmī) der Religion und damit des Korans, die er als zu sehr fiqh (Normenlehre) orientiert erachtet, in der Krise und plädiert für eine interpretative Öffnung der Religion bzw. des Korans. Šabistarī ist der Überzeugung, dass die religiösen Texte auf verschiedene Art und Weise verstanden und ausgelegt werden können, dass jede religiöse Lesart kritisiert werden darf und dass man durch Reflexion über verschiedene Lesarten zu einer angemessenen Auslegung der Religion/religiösen Texte kommen kann. 1 Auf der anderen Seite berührt er mit diesem Anliegen einen Themenbereich, mit dem sich kaum einer der religiösen Intellektuellen (rūšanfikrān-i dīnī) intensiv befasst hat. Als religiöse Intellektuelle 2 werden die zumeist nachrevolutionären iranischen Denker bezeichnet, die gegen die offizielle Lesart des Islam argumentieren und für ein Religionsverständnis plädieren, das in Einklang mit den Menschenrechten steht und eine demokratische Regierungsform sowie individuelle/gesellschaftliche Freiheiten anerkennt. Neben Šabistarī zählen dazu noch der vorrevolutionäre Intellektuelle ʿAlī Šarīʿatī und die insbesondere nach der Gründung der Islamischen Republik bekannt gewordenen ʿAbdulkarīm Surūš und Musṭafā Malikyān. Während sich Šarīʿatī mit der Ideologisierung des Islam, Malikyān hauptsächlich mit ethischen Fragestellungen und Surūš mit epistemologischen Themen be-
1
Vgl. M. Muǧtahid Šabistarī, Naqdī bar qirāʾt-i rasmī az dīn (Teheran: Ṭarḥ-i
2
Mehr zu diesem Phänomen vgl. Abbas Poya, Denken jenseits von Dichotomien.
Nū, 2000a), 7. Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext (Bielefeld: transcript, 2014), 136–142.
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fasst haben, hat sich Šabistarī die Auseinandersetzung mit den neuen methodischen Ansätzen bei der Auslegung des Korans zur Hauptaufgabe gemacht. Der Ausgangspunkt ist bei allen diesen Denkern die Frage nach dem Verhältnis zwischen religiösen/islamischen Vorgaben und modernen Herausforderungen.
B IOGRAPHIE3 Muḥammad Muǧtahid Šabistarī wurde 1936 in der Ortschaft Šabistar in der iranischen Provinz Ostazarbaijan geboren. 1951 ging er nach Qum, um die klassisch-islamischen Wissenschaften zu studieren. Er lernte achtzehn Jahre lang die arabische Sprache und beschäftigte sich mit islamischer Philosophie, Theologie, Rechtslehre und Rechtsmethodik. 1969 kam er nach Hamburg, um das dortige Islamische Zentrum in der Imam Ali Moschee zu leiten. Während seines insgesamt neunjährigen Aufenthalts in Deutschland hat er sich u.a. mit verschiedenen religiösen Auffassungen – insbesondere des Christentums, des Judentums und des Buddhismus – auseinandergesetzt und sich in interreligiösen Dialogen profiliert. Nach der Gründung der Islamischen Republik (1979) kehrte er in den Iran zurück und nahm am kulturellen wie auch politischen Geschehen des Landes in dieser äußerst turbulenten Zeit aktiv teil. Er gründete eine eigene Zeitschrift, AndКa-i islāmī („Islamisches Denken“), die aber aus finanziellen Gründen nach nur wenigen Ausgaben abgesetzt werden musste. Šabistarī trat zudem oft als Gastexperte oder Redner im Radio und Fernsehen auf. Schließlich wurde er bei den ersten Wahlen nach der Islamischen Revolution zum Mitglied des Parlaments bestimmt. Mit der zunehmend rigoros werdenden offiziellen Politik
3
Siehe
dazu
seine
kurze
Autobiographie
auf
seiner
Website:
http://
mohammadmojtahedshabestari.com/biography.php (zuletzt geprüft am 20.05. 2017); S. Mahmoud Sadri, „Sacral Defense of Secularism: The Political Theologies of Soroush, Shabestari, and Kadivar,“ International Journal of Politics, Culture and Society 15, Nr. 2 (2001), 260–261; Farzin Vahdat, „Postrevolutionary Islamic modernity in Iran: The intersubjective hermeneutics of Mohamad Mojtahed Shabestari.“ In Modern Muslim Intellectuals and the Qur’an, hrsg. v. Suha Taji-Farouki, Nachdruck, Qur’anic Studies Series 1 (Oxford: Oxford Univ. Press, 2010), 198–201.
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des Landes konnte er sich jedoch nicht anfreunden und nahm immer mehr Abstand vom politischen Geschäft. Später folgte er einer Einladung des Ministeriums für Wissenschaften (wizārat-i ʿulūm) und begann, als Universitätsdozent im Fachbereich Philosophie und Islamische Theologie zu arbeiten. Nach einiger Zeit wechselte er zum Fachbereich Religion und Mystik. 2006 wurde Šabistarī wie viele weitere andersdenkende Universitätsdozenten zwangspensioniert. Er hat aber seinen Kontakt zu europäischen Akademien stets aufrechterhalten, war immer wieder als Gastprofessor oder Gastredner an wissenschaftlichen Einrichtungen in Österreich oder Deutschland präsent. Šabistarī gehört mittelweile zu den bekanntesten intellektuellen Kritikern der offiziellen Politiken seines Landes und des islamischen Rigorismus ganz allgemein. Šabistarī war auch vor der Gründung der Islamischen Republik und insbesondere in seiner Qumer Zeit geistig produktiv. Er zählte zu den wenigen fortschrittlich denkenden Gelehrten und schrieb in der damals bekanntesten und sehr gut ausgestatteten theologischen Zeitschrift Maktab-i islām („Die Schule des Islam“).4 Šabistarī teilte mit vielen anderen religiösen Denkern den Traum von einer idealen islamischen Ordnung. In dieser Zeit zielten seine Bemühungen darauf ab, die traditionellen religiösen Vorstellungen neu auszulegen und sie mit den revolutionären Ideen der jungen Generation in Einklang zu bringen.5 Diese Phase seines Denkens ist allerdings nicht der Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Nach dem Bruch mit der offiziellen Politik seines Landes bemühte sich Šabistarī insbesondere um die Ausarbeitung neuer Theorien zur Koranexegese. Sein wichtigstes Anliegen dabei ist aufzuzeigen, dass keine Koranexegese bzw. kein Islamverständnis und überhaupt keine Erkenntnisse im luftleeren Raum entstehen, sondern jeweils von persönlichen und sozialpolitischen Umständen bzw. von Vorverständnissen oder Interessen des Autors/Redners abhängen.6 Diese Annahme muss selbstverständlich auch für ihn selbst und seine Erkenntnisse gelten. Šabistarīs koranexegetische Überlegungen stehen in
4
Ebd., 199.
5
Vgl. Muḥammad Manṣūr Hāšimī, Dīn-andīšān-i mutaǧaddid. Rūšanfikrī-i dīnī az šarīʿatī tā malikyān (Tehran: o. V., 2006), 235.
6
Vgl. M. Muǧtahid Šabistarī, Hirminuytīk, kitāb, sunnat (Teheran: Ṭarḥ-i Nū, 2000b), 7–9.
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der Tat in direktem Zusammenhang mit seinen Ansichten zu politischen oder ethischen Themen.7 Daher werden im Folgenden kurze Exkurse in Šabistarīs Haltung zu Demokratie und zu Freiheit und Vielfalt religiöser Lesarten unternommen, bevor seine koranexegetischen Ansätze besprochen werden.
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BESTMÖGLICHE
R EGIERUNGSFORM
Šabistarī zufolge sind der Religion/dem Islam vor allem Freiheit und Gerechtigkeit wichtig. Religion/Islam biete kein bestimmtes Modell der Regierungsform. Jene Regierungsform, die Freiheit und Gerechtigkeit besser gewährleiste, werde von der Religion/vom Islam unterstützt. In der heutigen Zeit jedoch sei die Demokratie die einzige Regierungsform, welche Freiheit und Gerechtigkeit garantiere. Daher sei auch ein demokratisches politisches System zu unterstützen.8 Dabei ist sich Šabistarī durchaus der Gefahr bewusst, dass man demokratische Spielregeln missbrauchen und mit dem Ziel des Machterhalts vor Augen undemokratisch handeln kann. Aus diesem Grund bekräftigt Šabistarī einerseits, dass sich Gläubige durchaus aus ihrer religiösen Überzeugung heraus für die Demokratie entscheiden können/sollen. Auf der anderen Seite hebt er hervor, dass sie nicht, allein weil sie die Mehrheit stellen, auf die Einhaltung der überkommenen Schariaregeln pochen dürfen.9 Man könne nicht, so Šabistarīs Argumentation, mit Verweis auf die Mehrheitsentscheidung einige offensichtlich diskriminierende und mit den Menschenrechten nicht vereinbare Scharia-Regeln umsetzen.10 Er geht noch einen Schritt weiter, indem er feststellt, dass der Umstand, dass der Wille der Mehrheit respektiert wird, noch nicht Demo-
7
Sarkohi stellt den Zusammenhang umgekehrt her: „Šabistarīs Haltung zu Demokratie und Menschenrechten hängt im hohen Maße mit seinem Verständnis von Religion und ihrer Interpretation zusammen.“ Arash Sarkohi, Der Demokratie- und Menschenrechtsdiskurs der religiösen Reformer in Iran und die Universalität der Menschenrechte (Würzburg: Ergon Verlag, 2014), 72.
8
Vgl. M. Muǧtahid Šabistarī, Taʾammulātī dar qirāʾt-i insānī az dīn (Teheran:
9
Vgl. ebd., 150–151 und 178–179.
Ṭarḥ-i Nū, 2004), 147. 10 Vgl. ebd. und Šabistarī, Naqdī bar qirāʾt-i rasmī az dīn, 116–117.
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kratie garantiere; es müssten vor allem Freiheit und Gleichberechtigung als grundlegende Menschenrechte in der Gesellschaft gewährleistet sein.11 Um jeden Missbrauch von Demokratie auszuschließen, stellt Šabistarī ferner Konzepte wie religiöse Demokratie oder demokratisch-religiöser Staat in Frage.12 Mit derartigen Formulierungen versuchte ʿAbdulkarīm Surūš, der 2004 vom Time Magazine zu einem der „100 einflussreichsten Menschen der Welt“ gewählt wurde, nicht nur dem offiziellen politischen System der wilāyat-i faqīh (Herrschaft der Rechtsgelehrten) im Iran etwas entgegenzuhalten, sondern auch ein spezifisch demokratisches Konzept für eine religiös geprägte Gesellschaft wie die des Irans zu entwerfen.13 Šabistarī hat allerdings nichts dagegen, wenn mit dem Zusatz religiös (dīnī) gemeint ist, dass Menschen aus religiöser Überzeugung heraus Demokratie gutheißen. Man dürfe damit aber nicht die wesentlichen Voraussetzungen einer demokratischen Gesellschaft, nämlich Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung aller Bürger, zunichtemachen. 14 Daher plädiert er dafür, die politische Sphäre von den religiösen Fragen zu trennen. In einem Interview mit der Online-Zeitschrift Qantara.de im Jahre 2012 fasst er seine Ansichten zum Thema Trennung zwischen Religion und Staat folgendermaßen zusammen: Ich vertrete die Meinung, dass religiöse und politische Institutionen unterschiedliche Institutionen mit unterschiedlichen Aufgaben sind. Deswegen gibt es in diesem Sinne eine Trennung. Aber das bedeutet nicht, dass die Religiosität der Menschen keine moralischen oder ethischen Impulse für die Politik geben kann. Das ist möglich. Deswegen sage ich nicht, dass Politik und Religion voneinander getrennt sind, sondern ich sage immer: Politische und religiöse Institutionen sollen voneinander getrennt sein. Aber natürlich kann und soll es eine Zusammenarbeit zwischen ihnen geben.15
11 Ebd., 179. 12 Vgl. ebd., 180. 13 Vgl. Poya, Denken jenseits von Dichotomien, 153–63. 14 Vgl. Šabistarī, Taʾammulātī dar qirāʾt-i insānī az dīn, 145–52. 15 http://de.qantara.de/content/interview-mit-mohammad-mojtahed-shabestariwarum-islam-und-demokratie-zusammen-passen (zuletzt geprüft am 20.05. 2017).
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Šabistarī ist der Überzeugung, dass es keine spezifisch islamische Regierungsform gibt. Der Prophet hatte in seinen Augen nicht die Aufgabe, ein bestimmtes politisches System vorzustellen oder zu realisieren; er war vielmehr ein Prophet wie alle anderen auch und hatte das Ziel, Menschen vor Unheil zu retten und ihnen eine spirituelle Lebensführung beizubringen.16 Die politische Praxis des Propheten und die der ersten Generation der Muslime sei nicht von Gott bestimmt und damit nicht heilig gewesen, sondern menschliche (insānī), weltliche-säkulare (ʿurfī) und historischräumlich bedingte Praxis und damit anfechtbar und nicht für immer und überall geltend.17 Der Prophet habe sich innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit bewegt und versucht, in deren Rahmen seine moralischen und rechtlichen Vorstellungen zu realisieren. Daher habe der Islam zwar zur Besserung der Situation der Frauen der damaligen Zeit beigetragen, aber nicht die patriarchalischen Strukturen beseitigt. Auch im politischen Bereich habe der Prophet kein eigenes Herrschaftsmodell entwickeln, sondern zur Besserung der bestehenden politischen Herrschaftsverhältnisse beitragen wollen. Der Prophet habe vor allem als moralische Instanz gehandelt.18 Šabistarī findet keinen islamischen Einwand gegen die Demokratie. 19 Im Gegenteil, er argumentiert leidenschaftlich für sie, indem er Freiheit und Gerechtigkeit als grundlegende religiöse Werte ansieht, die am besten in einem demokratischen System gewährleistet sind. 20 Er macht jedoch deutlich, dass die Frage, ob pro oder kontra Demokratie, eine Entscheidungs-
16 Vgl. Šabistarī, Taʾammulātī dar qirāʾt-i insānī az dīn, 155–156. 17 Vgl. ebd., 156–157. 18 Ebd.,
167–168.
Vgl.
ebenfalls
http://de.qantara.de/content/interview-mit-
mohammad-mojtahed-shabestari-warum-islam-und-demokratie-zusammen-pass en (zuletzt geprüft am 20.05.2017). Zu Šabistarīs Ansichten zur Demokratie und ganz allgemein zum Verhältnis von Demokratie und iranischem Islam vgl. Amirpur, Katajun: „Islam und Demokratie – Die Geschichte einer Aneignung.“ Blätter für deutsche und internationale Politik 11 (2011), 87–95. 19 Zum Verhältnis von Religion/Islam und Demokratie bei Šabistarī vgl. seinen von Katajun Amirpur ins Deutsche übertragenen Beitrag „Demokratie und Religiosität.“ In Unterwegs zu einem anderen Islam. Texte iranischer Denker, hrsg. v. Katajun Amirpur (Freiburg im Breisgau: Herder, 2009), 25–36. 20 Vgl. ebd., 147.
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frage und keine religiös-epistemologische Frage ist. Man müsse sich letztlich auch als Muslim positionieren, ob man Demokratie wolle oder nicht. Die Frage, ob sich der Islam mit der Demokratie vereinbaren lässt, ist falsch gestellt. Das habe ich immer gesagt. Die richtige Frage lautet: Wollen die Muslime Demokratie oder nicht? Meine Antwort lautet: Wenn die Muslime Demokratie wollen, dann werden sie eine Interpretation des Islam finden, die mit Demokratie zu vereinbaren ist. Wenn sie keine Demokratie wollen, dann werden sie diese Interpretation nicht finden.21
F REIHEIT
UND
V IELFALT
RELIGIÖSER
L ESARTEN
Ein zentrales Anliegen von Šabistarī ist der Schutz bürgerlicher Freiheiten, der Menschenrechte sowie der Meinungs- und Gesinnungsfreiheit.22 Für ihn ist wichtig, dass in einer Gesellschaft der Gläubigen kein Kritiker Angst vor irgendwelchen „roten Linien“ hat. Im Gegenteil, man müsse den Kritikern genügend Platz einräumen, damit sie ohne Angst ihre Meinungen äußern könnten. Es sei der gläubige Mensch, der sich angesichts der geäußerten Kritikpunkte die Frage stellen müsse, wie er seine Überzeugung angemessen darlegen und vertreten könne.23 Šabistarī versteht Religiosität als ein immerwährendes Gespräch zwischen den Menschen und Gott, als einen ständigen Austausch zwischen den Lesern und den religiösen Quellen. Auf der anderen Seite seien die religiösen Schriften ambig und sollten immer von neuem gelesen, verstanden und interpretiert werden. Wenn die religiösen Texte, so Šabistarī, eindeutig wären, würde das Gespräch zwischen Gott und Mensch seine Bedeutung verlieren. Einige würden allerdings, so führt er im Anschluss aus, die Kommunikation zwischen Gott und Mensch für abgeschlossen erklären, indem sie
21 http://de.qantara.de/content/interview-mit-mohammad-mojtahed-shabestari-wa rum-islam-und-demokratie-zusammen-passen (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 22 Zum Verhältnis von Religion/Islam und Menschenrechten bei Šabistarī vgl. seinen von Katajun Amirpur ins Deutsche übertragenen Beitrag „Die Menschenrechte und das Verständnis der Religion.“ Amirpur (2009), 37–44. 23 Šabistarī, Hirminuytīk, kitāb, sunnat, 203.
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eine neue Interpretation und eine moderne Auslegung religiöser Texte nicht wagen wollen.24 In einem anderen Beitrag kommt Šabistarī zu folgendem Ergebnis: Da sich der religiöse Glaube nur in Freiheit entfalten könne, müsse die äußere [politische] Freiheit als eine notwendige Bedingung für die innere [geistige] Freiheit erachtet werden. So könne sich der Glaube in verschiedenen Regierungsformen zwar unterschiedlich entwickeln; er würde sich aber nicht mit einem exklusiven und totalitären Religionsverständnis vertragen. Herrschten solche Bedingungen vor, werde der Glaube zugrunde gehen.25 Grundsätzlich versteht Šabistarī das Denken als einen Prozess, der nie endet: Gedanke kommt von Denken, überall, wo der Gedanke eingeschränkt wird, geht ihm diese Eigenschaft verloren. Denken heißt ganz allgemein, dass Gedanken nie eingeschränkt sein dürfen. Es geht daher mit Freiheit einher.26
An anderer Stelle schreibt er: Wenn wir sagen, dass jenes Wissen über Gott und jene Eigenschaften, die wir Gott zugeschrieben haben, die absolute Definition Gottes darstellen, und dass kein anderer das Recht hat, etwas anderes über Gott zu sagen, behaupten wir im Grunde, dass wir über Gott verfügen. [...] Wenn wir Gott einengen, so leugnet Gott den Menschen und nimmt ihm seine Freiheit weg.27
Šabistarī zufolge ist die Offenbarung an die freien Menschen gerichtet. Die Philosophie der Offenbarung beinhalte, dass Gott den Menschen als ein freies Wesen erkenne. Wenn Gott den Menschen nicht als frei erkenne, dann spreche er nicht mit ihm, sondern nötige ihn.28 Šabistarī wehrt sich dagegen, den Glauben als etwas Starres anzusehen. Da der Mensch innerhalb mannigfaltiger gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen lebt, so Šabistarīs Argument, kann auch sein Glaube zur Insti-
24 Ebd., 302. 25 M. Muǧtahid Šabistarī, Imān wa āzādī (Teheran: Ṭarḥ-i Nū, 2000c), 64–89. 26 Ebd., 23. 27 Ebd., 26. 28 Ebd., 28.
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tution werden. Wenn die Religion aber zur Institution wird, besteht die Gefahr, dass der Mensch selbst von dieser Institution verleugnet wird. Denn Gott, mit dem der Mensch frei kommunizieren kann, wird durch die Institution der Religion ersetzt.29 Wird in einem islamischen Kontext für Meinungsfreiheit und die Freiheit der Gedanken argumentiert, stößt man unweigerlich auf den Begriff iǧtihād (eigenständige Meinungsbildung eines Gelehrten). Genauso ergeht es auch Šabistarī. Dabei plädiert er für eine dynamische und umfassende Art des iǧtihād, um den verschiedenen Formen der Religiosität gerecht zu werden. Die herkömmliche und nur im Bereich des Textes angesiedelte Form des iǧtihād ist für ihn nicht ausreichend und schlussendlich zum Scheitern verurteilt. Die Entscheidung, sich einer Religion anzuschließen, muss laut Šabistarī aus freien Stücken geschehen. Zwinge man Menschen eine Religion mittels Propaganda oder gar durch Anwendung von Gewalt auf, sei dies Verrat an der Religion: Wenn manche denken, dass der Glaube wie eine Ware ist, die den Menschen mit Propaganda z.B. im Fernsehen oder Radio aufgezwungen werden kann, oder dass er eine Ordnung ist, welche mit Gewalt durchgesetzt werden kann, oder dass er eine Ideologie ist, mit der die junge Generation einer Gesellschaft infiltriert werden kann, oder dass er nur eine Wissenschaft ist, über die neben anderen Arten von Wissenschaften Bücher geschrieben werden müssen, und für deren Vermittlung Lehrer ausgebildet werden müssen, liegen sie wahrlich falsch. Vielmehr ist der Glaube die freieste, wichtigste und würdevollste Entscheidung eines Menschen. Jedes Wort und jede Tat, die jene freie Entscheidung zugrunde richtet und ihre Würde verletzt, sei es auch im Namen der Religion, ist ein Verrat gegenüber dem Glauben selbst.30
H ERMENEUTIK RELIGIÖSER T EXTE Geleitet von seinem Freiheits- und Politikverständnis versucht Šabistarī in dem Buch Hirminuytīk, kitāb, sunnat („Hermeneutik, Koran und Sunna“) zuerst zu erklären, warum eine „moderne“ hermeneutische Herangehensweise an den Koran wichtig ist.
29 Ebd., 29. 30 Ebd., 42.
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Die vorherrschende Denkweise in den wissenschaftlich-religiösen Zirkeln im Iran, so stellt Šabistarī fest, sei die, dass man ohne Vorverständnisse, ohne Interessen und ohne Erwartungen den Koran und die Überlieferungen auslegen könne oder sogar müsse.31 Diese Annahme habe dazu geführt, dass sich kaum mit den Vorverständnissen, Interessen und Erwartungen einzelner Exegeten oder Rechtsgelehrter auseinandergesetzt worden sei.32 Es sei davon ausgegangen worden, so Šabistarī weiter, dass jeder, der die Sprache und die entsprechende Methodologie beherrsche, automatisch zu den richtigen Erkenntnissen gelange. 33 Dabei seien kaum die philosophischen, theologischen, anthropologischen, soziologischen oder psychologischen Hintergründe einer koranexegetischen oder rechtlichen Annahme berücksichtigt worden.34 Šabistarī selber ist jedoch der Überzeugung, dass die Sicht des Exegeten auf die Dinge und damit dessen Interpretation des Korans stark davon beeinflusst sind, was seine Vorverständnisse, Interessen und Erwartungen sind.35 Das Ausgangsproblem stellt für Šabistarī die Begegnung religiöser Überzeugung mit der Moderne und dem mit ihr einhergehenden Fortschrittsgedanken dar. Šabistarī bekräftigt, dass ein Spannungsverhältnis zwischen vorhandenen religiösen Vorstellungen und der modernen Lebenspraxis besteht. Er spricht von drei möglichen Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Moderne und Scharia.36 Bei einer ersten Gruppe herrscht laut Šabistarī die Auffassung vor, dass die Scharia vollkommen ist, und dass sie jede mögliche Frage beantwortet. Dieser Sichtweise zufolge sei der iǧtihād der vergangenen Zeiten völlig ausreichend, die Scharia brauche keine Erneuerung und das Tor des iǧtihād müsse geschlossen bleiben.37 Demnach seien mögliche neue Interpretationen bzw. Reinterpretatio-
31 Šabistarī, Hirminuytīk, kitāb, sunnat, 7. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd. 34 Ebd., 8. 35 Ebd., 9. 36 Ebd., 92. 37 Wenn von der Schließung des Tors des iǧtihād (insidād bāb al-iǧtihād) die Rede ist, geht es vor allem um die Frage, ob die Gelehrten auch nach der Etablierung der vier sunnitischen Rechtsschulen den iǧtihād als eigenständige Rechtsfindungsmethode weiter praktiziert haben oder nicht. Sowohl Islamwissenschaft-
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nen der Scharia als zweifelhaft und destruktiv zu betrachten. 38 Die zweite Gruppe, deren Auffassung Šabistarī als ifrāṭī (unangemessen) beschreibt, habe nichts gegen die islamische Glaubenslehre, lehne allerdings die normativen Vorschriften des Islam grundlegend ab und plädiere für die Übernahme anderer Lebensordnungen.39 Damit spielt Šabistarī offenkundig auf linke und westlich-liberale Haltungen in inneriranischen Diskursen an, die er deutlich ablehnt. Zu einer dritten Gruppe zählt Šabistarī die Reformer, die er selber augenscheinlich unterstützt. Nach Auffassung dieser Gruppe gehört das Normative auch zum Islam, muss jedoch einem ständigen iǧtihād unterzogen werden. Ein solch kontinuierlicher iǧtihād bedeutet für Šabistarī, dass die eigenen theologischen und anthropologischen Vorstellungen stets durch die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse überprüft werden.40 Šabistarī diagnostiziert bei den traditionellen Gelehrten eine verzerrte Wahrnehmung, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis von Religion und wissenschaftlichen oder philosophischen Annahmen geht. Sobald von einem Widerspruch zwischen wissenschaftlichen und philosophischen Annahmen einerseits und religiösen Überzeugungen andererseits die Rede ist, interpretierten einige Gelehrte ihn als Widerspruch zwischen dem, was der Mensch kraft seiner Vernunft verstehe, und dem, was Gott gesagt habe. In der Folge behaupteten diese, so Šabistarī weiter, dass man im Falle eines Widerspruchs zwischen menschlicher Annahme und göttlicher Aussage sich Gott unterzuordnen habe. Šabistarī hält eine derartige Fragestellung und die darauffolgende Antwort für irreführend. Es gibt in seiner Darstellung keinen Widerspruch zwischen Mensch und Gott, sondern nur zwischen den Annahmen einiger Menschen und denen der anderen. Es sei doch der Mensch, der sich mit den religiösen Texten auseinandersetze und seine Schlussfolgerungen als religiöse Annahmen verkünde. Für Šabistarī steht
ler/innen als auch muslimische Gelehrte vertreten diesbezüglich unterschiedliche Meinungen, wobei in jüngster Zeit die Frage hier wie da zunehmend bejaht wird. Eingehend dazu vgl. Abbas Poya, Anerkennung des Iğtihād – Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der Iğtihād Diskussion (Berlin: Klaus Schwarz, 2003), 67–69. 38 Šabistarī, Hirminuytīk, kitāb, sunnat, 92. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. ebd.
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der Widerspruch am Ende zwischen religiösen Annahmen einerseits und wissenschaftlichen/philosophischen Annahmen andererseits, wobei es sich in beiden Fällen um etwas Menschliches handelt.41 Šabistarī selber ist um einen hermeneutischen Weg zur Auflösung des oben genannten Widerspruchs bemüht. Die eigentliche Aufgabe eines modernen Exegeten sieht er darin, die Zusammenhänge zwischen den religiösen Überzeugungen einerseits und den Vorverständnissen, Interessen und Erwartungen des Interpreten andererseits herauszuarbeiten. Nichts anderes bedeute Hermeneutik. Šabistarī geht bei seiner These von der grundlegenden Annahme aus, dass ein Muslim bei jeder religiösen Erkenntnis, beim Erkennen Gottes und des Propheten, beim Wahrnehmen und Verstehen von Aussagen des Propheten und bei der Gestaltung des eigenen Lebens nach der Lehre des Propheten, unweigerlich von überliefertem Wissen und den Erkenntnissen der Wissenschaften beeinflusst ist. Daher könne die religiöse Überzeugung bzw. Praxis der Muslime nicht unabhängig von den sonstigen Erkenntnissen betrachtet werden. 42 Als ausgebildeter Rechtsgelehrter versucht Šabistarī in seinen Arbeiten zu zeigen, dass ein Gelehrter heute viel mehr als die herkömmliche uṣūlWissenschaft (Rechtsmethodik) kennen muss, um den iǧtihād anwenden zu können. Der moderne Gelehrte müsse sich über die traditionelle Rechtslehre bzw. -methodik hinaus mit der Hermeneutik auseinandersetzen und sie bei seinem iǧtihād berücksichtigen, um einen zeitgemäßen Islam bieten zu können. Der Gelehrte müsse auf die Entwicklungen und Veränderungen der Welt und auf die Historizität der religiösen Vorstellungen achten und dürfe die tradierten Scharia-Bestimmungen nicht als etwas ewig Geltendes ansehen. Um seine These zu begründen, greift Šabistarī auf klassische, uṣūlwissenschaftliche Annahmen zurück und bekräftigt dabei, dass bereits klassische Gelehrte diese diskutiert und berücksichtigt hätten. Sie hätten beispielsweise festgelegt, dass eine wörtliche Bedeutung (dalālat-i lafẓī) eine vermeintliche Bedeutung (dalālat-i ẓannī) sei.43 Damit spielt Šabistarī offensichtlich darauf an, dass jedes Verständnis des Korans – auch eine rechtliche Interpretation der koranischen Aussagen – ein kurzlebiges Verständ-
41 Ebd., 232–233. 42 Ebd., 34–43. 43 Ebd., 32.
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nis sein kann, und dass keine Lesart der textlichen Quellen den Anspruch auf Endgültigkeit erheben darf. Dieser hermeneutische Ansatz führt Šabistarī in seinen politischen Überlegungen zu der These, dass der Koran weder klar definierte Regierungsmethoden noch eine bestimmte Regierungsform vorschreibt, sondern vielmehr eine gerechte Art des Regierens. Die Aufgabe der Religion bestehe nicht darin, Regierungsmethoden oder eine Regierungsform festzuschreiben, sondern vielmehr darin, allgemeine Werte zu bestimmen, nach denen zu regieren sei.44 Daher könnten sich, so Šabistarī, die Regierungsmethoden und -formen stets ändern. Was konstant bleiben müsse, sei die Maxime des gerechten Handelns, an die sich die Regierenden zu halten hätten.45
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Šabistarīs Versuche, moderne hermeneutische Ansätze in das Religionsverständnis bzw. in die Koranexegese einzuführen und dabei stets die Rolle der Vorverständnisse, Interessen und Erwartungen des Subjektes in Betracht zu ziehen, münden unweigerlich in die These der „menschlichen Lesart der Religion“ (qirāʾt-i insānī az dīn). Seit jeher sind die Koranexegeten darum bemüht gewesen, möglichst sichere Wege zu finden, um das zu verstehen, was Gott gemeint hat, ganz gleich ob sie sich dabei philologischer, historischer, literaturwissenschaftlicher oder anderer Mittel bedient haben. Diesen Versuchen liegt die Annahme zugrunde, dass Gott eine alle Bereiche des Lebens umfassende Ordnung beabsichtigt. Diese Absicht hat er über den Propheten im Koran verkündet. Gläubige sind verpflichtet, den Sinn seines Wortes, das im Koran manifestiert worden ist, zu verstehen und umzusetzen. Šabistarī stellt diese Denktradition auf den Kopf und formuliert die Frage der Exegese völlig anders. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei exegetischen Perspektiven: der „Perspektive Gottes auf den Menschen“ und der „Perspektive des Menschen auf Gott“. Bei ersterer geht man davon aus, dass Gott will, dass die Menschen religiös sind, und er auch bestimmt, was
44 Ebd., 60. 45 Vgl. ebd.
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er von ihnen will. Im Unterschied dazu wird bei letzterer angenommen, dass der Mensch [von sich aus] einen religiösen/spirituellen Weg einschlägt, sich dabei Gott zuwendet und am Ende für sich die Inhalte und Dimensionen eines religiösen Lebens definiert. Šabistarī selber nimmt die zweite Perspektive ein und definiert sie als die menschliche Lesart der Religion.46 Die menschliche Lesart der Religion, so führt Šabistarī seine Theorie weiter aus, reduziert den Menschen nicht auf seine religiöse Dimension, sondern berücksichtigt gleichzeitig alle weiteren Ebenen des menschlichen Lebens, die philosophischen Aspekte genauso wie die rechtlichen und sonstigen Gesichtspunkte. In der menschlichen Lesart der Religion geht es um eine spirituelle Haltung, für die sich der Mensch selbst entscheidet, auch wenn man in den monotheistischen Religionen durch das Vorbild der Propheten dazu angeregt wird. Damit rückt der Mensch ins Zentrum des Religionsverständnisses. Dabei wird der Mensch nicht als etwas Abstraktes definiert, sondern als ein historisches Wesen mit all seinen Erfahrungen und Prägungen berücksichtigt. In dieser Lesart gehört Religion dem Menschen und nicht umgekehrt. In der anderen eher traditionellen Lesart von Religion wird der Mensch auf ein Bündel von Erkenntnissen und Bestimmungen reduziert, die heilig, übersinnlich und weit entfernt von menschlicher Vernunft sind. In dieser Sichtweise gibt es eine Trennung zwischen Mensch und Gott. Demnach ist die Offenbarung (waḥy) ein übersinnliches und heiliges Phänomen, welches in die Welt des Menschen eindringt, ihn und seine Welt verändert und zerstört. Keine Erkenntnis wird berücksichtigt, es sei denn, sie entstammt der übersinnlichen Welt.47 Insgesamt stellt Šabistarī seine menschliche Lesart der Religion (qirāʾat-i insānī az dīn) der offiziellen Lesart der Religion (qirāʾat-i rasmī az dīn) gegenüber, der er ein eigenes Werk widmet. 48 Mit der offiziellen Lesart der Religion meint er die mit der Scharia belastete und auf den Staat fixierte (fiqhī/ḥukūmatī) Auslegung der Religion und religiöser Texte; sie unterstütze die offizielle iranische Politik und werde wiederum von ihr unterstützt.49 Diese Lesart bediene sich einer Sprache der Pflichten (zabān-i
46 Vgl. Šabistarī, Taʾammulātī dar qirāʾt-i insānī az dīn, 7–8. 47 Ebd., 81–85. 48 Šabistarī, Naqdī bar qirāʾt-i rasmī az dīn. 49 Vgl. Šabistarī, Taʾammulāti dar qirāʾt-i insānī az dīn, 60.
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taklīf) und sei stets darum bemüht, anderen vorzuschreiben, was erlaubt und was verboten sei. Diese Sprache werde nicht nur im Bereich der Riten, sondern auch im Zusammenhang mit politischen sowie sozialen und zwischenmenschlichen Fragen verwendet.50 Demgegenüber plädiert Šabistarī für eine Sprache der Rechte (zabān-i ḥaqq) und ist der Meinung, dass in der heutigen Zeit in politischen, sozialen oder ökonomischen Fragen nicht mehr in der Sprache der Pflichten (zabān-i taklīf) gesprochen werden sollte. Heute bestehe die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen. Dabei gehe es nicht um die Wahl zwischen dem Richtigen (ḥaqq) und dem Falschen (bāṭil), sondern um die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die jede für sich gesehen ihre Berechtigung hätten.51 In der heutigen Zeit gebe es in allen Lebensbereichen unterschiedliche Antworten auf Fragen, von der Frage, wie man eine Ehe eingehe oder Kinder erziehe bis hin zu ethischen und politischen Fragen, beispielsweise wie Gerechtigkeit zu definieren oder zu realisieren sei. Niemand könne behaupten, dass eine Lösung definitiv richtig sei und alle anderen falsch. Daher muss gemäß Šabistarī eine menschliche Lesart der Religion bzw. religiöser Texte diese Vielfalt an Möglichkeiten auch bei religiösen und exegetischen Fragen anerkennen und berücksichtigen. 52 Darüber hinaus ist Šabistarī der Überzeugung, dass jeder Text auf verschiedene Art und Weise gelesen und ausgelegt werden kann. Da der Zugang zur Religion/zum Islam ausschließlich über Texte bestehe, könne auch sie/er unterschiedlich gelesen und interpretiert werden. Die historischen Erfahrungen stützten diese Annahme. In jeder Zeitepoche, abhängig von den Vorverständnissen, Vorstellungen, Interessen und Bedingungen, gebe es unterschiedliche Wahrnehmungen der Religion und der religiösen Texte. So kommt Šabistarī zu dem folgenden Ergebnis: Die Lesart der Religion ist gleichbedeutend mit der Lesart der religiösen Texte. Und die religiösen Texte können auf verschiedene Art und Weise verstanden und auslegt werden. Aus diesem Grund finden sich vielfältige Lesarten der Religion. Die Geschichte der Religion ist ein klares Zeugnis dieser Tatsache.53
50 Ebd., 60–61. 51 Ebd., 61–62. 52 Ebd., 62. 53 Šabistarī, Naqdī bar qirāʾt-i rasmī az dīn, 7.
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So hält es Šabistarī angesichts moderner hermeneutischer Untersuchungen für unangemessen, eine bestimmte Auslegung des Textes zur einzig möglichen und richtigen zu erklären. Kein Text dürfe auf eine einzige Auslegung beschränkt werden. Der Islam sei in jeder möglichen Ausprägung eine Interpretation des Korans und der Sunna, und jedes Verständnis des Korans und der Sunna, soweit es das Prophetentum nicht leugne, habe seine Berechtigung.54 Šabistarī will allerdings mit dieser These keinem epistemologischen Relativismus das Wort reden und hebt hervor – ohne das Thema erkenntnistheoretisch weiter zu diskutieren –, dass richtige Auslegungen möglich sind, und dass es dafür auch bestimmte Merkmale gibt: Die Annahme, dass es verschiedene Lesarten der religiösen Texte gibt, heißt nicht, dass beim Lesen und Auslegen der Religion Anarchie herrschen soll, und dass alle Lesarten richtig sind und keine Argumentation nötig ist. […] Nur jene Lesart ist akzeptabel, die kohärent und bewiesen ist, aber es kann eben zahlreiche kohärente und beweisbare Auslegungen geben.55
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In seiner Überlegung zur menschlichen Lesart der Religion bzw. der religiösen Texte ist Šabistarī konsequent, indem er in einer weiteren These konstatiert, dass der Koran „als ein arabischer Text anzusehen ist, den jeder, gläubig oder ungläubig, verstehen kann, und der nur auf einen Menschen, den Propheten des Islam, zurückzuführen und damit als Rede eines Menschen zu verstehen ist.“56 Insofern stellt der Koran für Šabistarī eine monotheistische Lesart der Welt dar, die auf hermeneutischen Erfahrungen des Propheten beruht. 57
54 Ebd., 114. 55 Ebd., 7 und 151. 56 http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=229&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 57 Ebd.
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Diese These formuliert er in seiner Untersuchung zur „prophetischen Lesart der Welt“ (qirāʾat-i nabawī az ǧahān) aus.58 Šabistarī geht zunächst davon aus, dass es sich beim Koran um eine menschliche Rede (kalām-i insānī) handelt, die zwar einen göttlichen Ursprung (manšaʾ-i ilāhī) hat, unmittelbar aber auf den Menschen Muhammad zurückzuführen ist. So sieht er den Koran bzw. die Koranverse als historische(s) Zeugnis(se) (šawāhid-i tārīḫī) an und den Propheten als einen Menschen, der diesen Text hervorgebracht hat. Dabei betont er, dass der Text des Korans sowohl wörtlich als auch inhaltlich auf Muhammad zurückzuführen ist.59 Gleichzeitig macht er deutlich, dass er nicht wie viele andere Gelehrte den Propheten als ein Sprachrohr (kānāl-i ṣawṭī) ansehen möchte, einen Menschen, der lediglich die ihm eingegebenen Wörter weiterverbreitet hat, ohne an der wörtlichen oder inhaltlichen Produktion des Textes aktiv beteiligt gewesen zu sein. Šabistarī hebt hingegen hervor, dass erst dann von einer menschlichen Rede (kalām-i insānī) gesprochen werden kann, wenn sie wörtlich wie auch inhaltlich das Produkt eines Menschen ist. Der Koran sei ein Text, der in einem über zwanzig Jahre andauernden Zeitraum und im ständigen Dialog mit Menschen und historischen Ereignissen entstanden sei.60 Mit Bezug auf den deutschen Theologen und Philosophen Albert Keller definiert Šabistarī die Sprache als Ausdrucksmittel/Zeichensystem (šaklhā-i iẓhārāt), welches aus fünf Elementen besteht: Sprechenden, Hörenden/Adressaten, Kontext, Gemeinschaft, in der die Sprache gesprochen wird, und der Sinn, der vermittelt wird. Diese fünf Elemente, so Šabistarī, müssten alle vorhanden sein, damit man überhaupt von Sprache/Rede ausgehen könne. Auch im Zusammenhang mit dem Koran müsse der Prophet am Entstehen des gesprochenen Wortes beteiligt gewesen sein, damit man sagen könne, dass Muhammad gesprochen habe, und dass er dabei ernst genommen worden sei.61 Hätte der Prophet lediglich als „Sprachrohr“ oder „Rezitator“ fungiert, könnte man weder die Aufforderungen des Korans zum „Nachdenken“ und zum „Verstehen“ noch die Bemühungen der Ko-
58 Der Beitrag ist auch in digitalisierter Form auf seiner Website zu lesen. Vgl. ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Vgl. ebd.
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ranexegeten um das Verstehen des Textes nachvollziehen.62 Auf die Frage, was dann die Offenbarung (waḥy) heißt, antwortet er, dass waḥy im Sinne von „Befähigung zum Sprechen“ (tawānāsāzī ba suḫan guftan) zu verstehen ist. Zur Bekräftigung seiner These verweist Šabistarī auf den Gebrauch dieses Begriffs in anderen Zusammenhängen. Im Vers 16:68 sei beispielsweise auch die Rede von der Offenbarung an die Bienen. Gemeint sei damit aber, dass Gott den Bienen eingegeben, sie befähigt hat, sich Häuser in den Bergen, in den Bäumen und in den Spalieren zu nehmen. 63 In einem anderen Beitrag stellt Šabistarī fest, dass „das Hinabsenden des Buchs/Korans“ (inzāl al-kitāb)64 nicht bedeutet, wie allgemein angenommen, Gott hätte dem Propheten das Werk, das man als Koran kennt, hinabgesandt. Die koranische Formulierung inzāl al-kitāb verweise vielmehr auf einen andauernden Prozess der Aufdeckung (inkišāf) der Welt durch den Propheten. In diesem Prozess wurde ihm die Welt wie ein Buch geöffnet, in dem er lesen konnte.65 Wenn wir nun als bewiesen erachten, so Šabistarīs Schlussfolgerung, dass der Koran die Rede des Propheten ist, und dass der Text des Korans ein sprachliches, menschliches Verhältnis zwischen dem Propheten und den Zuhörern/Lesern widerspiegelt, so können bei der Untersuchung des Korans alle wissenschaftlichen Methoden angewendet werden, die man auch sonst bei der Untersuchung sprachlicher Produktionen verwendet. Man könne sich also bei der Koranexegese sprachphilosophischer, sprachwissenschaftlicher, hermeneutischer, historisch-kritischer und sonstiger Methoden bedienen. Er bekräftigt dabei, eine solche methodische Öffnung sei nicht nur zulässig; sie sei sogar notwendig.66
62 Ebd. 63 Vgl. ebd. 64 Der Ausdruck kommt an einigen Stellen im Koran vor, u.a. bei 4:105 und 5:48. 65 Vgl. http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=369&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 66 http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=229&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017).
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Passend zu seiner These, dass der Koran die Rede des Propheten ist, und dass er vermittelt, wie der Prophet die Welt sah und las, 67 bezeichnet Šabistarī den Koran in seinen neuesten Ausführungen als ein Narrativ über eine religiöse Auslegung der Welt. 68 Der Koran teile mit, wie der Prophet die Welt gesehen habe und nicht, wie die Welt tatsächlich sei. Der Koran umfasse Muhammads Sicht der Dinge, wie er die Naturereignisse gelesen, wie er die Geschichte verstanden und wie er über den Menschen gedacht habe.69 Der Koran bestehe zum größten Teil aus Erzählungen, die eine Botschaft beinhalten; sie lieferten aber keinen zusammenhängenden Bericht über die Welt, wie sie ist (ǧahān-i wāqiʿ).70 Um seine These zu bekräftigen, führt Šabistarī die Schöpfungsgeschichte im Koran (7:11–30) an. In diesen Versen wird über das Erschaffen von Adam, die Haltung des Satans gegenüber diesem Ereignis, die Verführung von Adam und seiner Frau durch den Satan und die Verbannung der beiden aus dem Paradies berichtet, um am Ende die Menschen dazu aufzufordern, sich dem einzigen Gott zuzuwenden. Šabistarī zufolge weist der Text insgesamt eine innere Kohärenz auf, indem er eine bestimmte Botschaft vermittelt und uns zum Nachdenken anregt. Die einzelnen Ereignisse, von denen in diesem Abschnitt berichtet wird, liegen aber völlig zusammenhangslos nebeneinander. Es handelt sich dabei also, so Šabistarīs Schlussfolgerung, um einen narrativen Text, der einen Effekt erzeugen will, und keinen Bericht über die Welt, wie sie (gewesen) ist, liefern möchte.71 Šabistarīs Ansatz zum Verstehen des Religiösen bzw. der religiösen Texte ist zweifelsohne ein Plädoyer für die Abkehr von der herkömmlichen
67 Diese Annahmen werden nochmals von Šabistarī in einem weiterführenden Beitrag zu diesem Thema bekräftigt. Vgl. http://mohammadmojtahedshabestari.com /articles.php?id=229&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 68 Zum Thema Koran als Narrativ bei Šabistarī vgl. seine Ausführungen in: http:// mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=299&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017) und http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id= 300&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 69 Vgl. http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=300&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 70 Vgl. http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=299&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017). 71 Vgl. ebd.
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und vorherrschenden Koranexegese. Er beinhaltet aber auch eine Kritik an manchen modernen Ansätzen wie dem der sogenannten wissenschaftlichen Exegese (tafsīr-i ʿilmī). Mit der wissenschaftlichen Interpretation des Korans versuchten manche Gelehrte zu zeigen, dass der Koran bereits alle möglichen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vorwegnimmt. 72 Eine Annahme, die Šabistarī mit seiner These, der Koran spiegle den Erkenntnisstand der Prophetenzeit, konsequent zurückweist. Darüber hinaus stellt Šabistarī mit seiner Sichtweise die Überzeugung mancher Gelehrter in Frage, dass im Koran bereits alle möglichen normativen Fragen beantwortet worden sind, und dass alle im Koran formulierten normativen Bestimmungen auch für heute gelten. Demgegenüber argumentiert Šabistarī, dass die im Koran angesprochenen normativen Bestimmungen mit den konkreten Erfahrungen des Propheten in seinem speziellen historischen und gesellschaftlichen Kontext zu tun haben. Laut Šabistarī sind die normativen Bestimmungen des Korans – und er meint sowohl die ʿibādāt (Handlungen im Rahmen der Gott-Mensch-Beziehung) als auch die muʿāmalāt (Handlungen im Rahmen der Mensch-Mensch-Beziehung) – das Resultat einer kontextbedingten Auslegung damaliger gesellschaftlicher Wirklichkeiten im Ḥiǧāz, die darauf zielen, diese Gesellschaftswirklichkeiten in Einklang mit dem Willen Gottes zu bringen. Sie dürften jedoch nicht als Bestimmungen für alle Gesellschaften und alle Zeiten verstanden werden. 73
Z USAMMENFASSUNG Šabistarī steuert mit seinen Ansätzen zur Hermeneutik des Korans letztlich darauf zu, den Koran als Rede des Menschen Muhammad zu begreifen, in der er seine Erfahrungen mit und seine Wahrnehmungen von der Welt, in der er gelebt hat, mitteilte. Dabei ist die einzige zentrale und immanente Botschaft des Korans, die gleichzeitig den göttlichen Ursprung derselben
72 Allgemein zu „moderner“ Koranexegese und speziell zur „wissenschaftlichen“ Koranexegese vgl. Rotraud Wielandt, „Exegesis of the Qur’ān: Early Modern and Contemporary.“ In Encyclopaedia of the Qurʾān, hrsg. v. Jane D. McAuliffe, 5 Bde. + Index, 2:124–142 (Leiden: Brill, 2001–06), 123ff. 73 http://mohammadmojtahedshabestari.com/articles.php?id=159&title (zuletzt geprüft am 20.05.2017)
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erklärt, der Glaube an einen einzigen Gott (payām-i tawḥīdī). Geleitet von dieser Annahme hat der Prophet die Welt, die Geschichte und den Menschen so wahrgenommen, wie es im Korantext steht. Dementsprechend und im Dialog mit seinem gesellschaftlichen Umfeld hat er auch normative Bestimmungen formuliert. Die heutigen Gelehrten können/müssen den Koran mit Blick auf seine zentrale Botschaft neu und zeit-/raumkonform interpretieren. Eine bestimmte Regierungsform ist weder vom Koran abzuleiten, noch von den Handlungen des Propheten oder seiner Weggefährten. Das zentrale Anliegen einer Religion und damit des Islam ist der Schutz von Freiheit, Gerechtigkeit und den Menschenrechten. Da im Rahmen einer Demokratie diese Werte besser zu wahren sind, kann sie vom Islam nur befürwortet werden. Was bei Šabistarī besonders ins Auge fällt, ist die Kohärenz seiner Gedanken. Seine freiheitlichen politischen/ethischen Überlegungen stehen im Einklang mit seinem offenen koranexegetischen Ansatz. Šabistarīs zuletzt beschriebene Sichtweise des Korans als kontextbedingtes Narrativ ist nur die logische Folge seiner Annahme, dass der Koran die Rede des Menschen Muhammad ist. Diese Annahme wiederum steht in direktem Zusammenhang mit seiner hermeneutischen Überzeugung, dass jeder Text/jede Rede von Vorverständnissen, Interessen und Erwartungen des Autors/Redners geprägt ist. Darüber hinaus müssen Šabistarīs Ausführungen zur Auslegung der Religion und religiöser Texte als überkonfessionelle Überlegungen verstanden werden. Auch wenn Šabistarī vom Islam ausgeht, kann man seine Überlegungen gut auf Religion im Allgemeinen übertragen und sich als Leser/in über seine/ihre eigene Kultur/Konfession/Religion Gedanken machen.
L ITERATUR Hāšimī, Muḥammad M. Dīn-andīšān-i mutaǧaddid. Rūšanfikrī-i dīnī az šarīʿatī tā malikyān. Tehran: o. V., 2006. Poya, Abbas. Anerkennung des Iğtihād – Legitimation der Toleranz. Möglichkeiten Innerer und außerer Toleranz im Islam am Beispiel der Iğtihād Diskussion. Berlin: Klaus Schwarz, 2003. ———. Denken jenseits von Dichotomien. Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext. Bielefeld: transcript, 2014.
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Autorinnen und Autoren
Hundhammer, Marianus, ist nach Tätigkeiten an den Universitäten München, Bamberg und Halle seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Islamisch-Religiöse Studien der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Koran und Koranexegese sowie frühislamische Geschichte. Klausing, Kathrin, studierte Deutsch als Fremdsprache und Islamwissenschaft an der TU und der FU Berlin. 2011 promovierte sie am Arabistischen Seminar der FU Berlin zu Geschlechterrollenvorstellungen im tafsīr (Koranexegese). Sie ist seit 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück tätig. Dort lehrt und forscht sie im Bereich Koranexegese und Koranwissenschaften. Zusammen mit Annett Abdel-Rahman hat sie 2015 das Zentrum für Islamische Religionspädagogik in Niedersachsen gegründet. Nekroumi, Mohammed, 1961 in Fes (Marokko) geboren, ist seit Oktober 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Normenlehre und Textwissenschaft am Department Islamisch-Religiöse Studien an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Er schloss 1985 sein Masterstudium an der Universität Fes ab und studierte Allgemeine Linguistik und Islamwissenschaft an der Universität Aix-en-Provence (Frankreich). 1996 erhielt er in Frankreich die Doktorwürde und arbeitete von 1996 bis 2014 als Dozent für Arabische Linguistik, als Post-Doc Wissenschaftler und Lehrbeauftragter für Islamisches Recht und Koranhermeneutik an den Universitäten Bonn, Tübingen und Münster sowie an der Freien Universität Berlin.
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Poya, Abbas, ist habilitierter Islamwissenschaftler und hat an den Universitäten Hamburg, Freiburg im Breisgau und Zürich gearbeitet und gelehrt. Zurzeit leitet er die Nachwuchsforschergruppe „Norm, Normativität und Normenwandel“ am Department Islamisch-Religiöse Studien an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Theorie des islamischen Rechts, religiöse Pluralität und intellektuelle Geschichte im Islam und Gerechtigkeit. Zu seinen Publikationen gehört: Denken jenseits von Dichotomien. Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext, Bielefeld 2014. Sağır, Fatma, ist promovierte Islamwissenschaftlerin, Kulturanthropologin, Übersetzerin und Autorin. Sie ist assoziiertes Post-doc-Mitglied des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Freiburg, Mitarbeiterin am Orientalischen Seminar Freiburg und Teaching Fellow am University College Freiburg. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Moderne Koranexegese, Reformislam sowie Muslime in nichtmuslimischen Kontexten, Muslime in Social Media, Popkultur und Performanz. Seker, Nimet, wurde an der Goethe Universität Frankfurt a.M. mit einer Arbeit zur Hermeneutik und Methodenlehre der Koranexegese (uṣūl attafsīr) promoviert. Derzeit ist sie dort als Post-Doc im Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Hermeneutik und Exegese des Korans, klassische Koranwissenschaften (ʿulūm al-qurʾān) sowie feministische und geschlechtersensible Lesarten des Korans. Dabei beschäftigt sie sich sowohl mit vormodernen als auch mit zeitgenössischen Ansätzen. Suleiman, Farid, hat sein Master-Studium in Islamic Studies an der Universität Leiden in den Niederlanden abgeschlossen. Seit 2013 gehört er der Nachwuchsforschergruppe „Norm, Normativität und Normenwandel“ am Department Islamisch-Religiöse Studien an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg an und arbeitet dort an seiner Dissertation mit dem Titel „Die Grundlagen der Attributenlehre Ibn Taymiyyas. Mit einer Analyse ausgewählter Beispiele göttlicher Attribute“.
Islamwissenschaft Thorsten Gerald Schneiders (Hg.)
Salafismus in Deutschland Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung 2014, 464 S., kart. 27,99 € (DE), 978-3-8376-2711-4 E-Book PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2711-8 EPUB: 24,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-2711-4
Zekirija Sejdini (Hg.)
Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung Neue Ansätze in Europa 2016, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3395-5 E-Book PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3395-9
Theresa Beilschmidt
Gelebter Islam Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland 2015, 270 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3288-0 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3288-4
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Islamwissenschaft Florian Kreutzer
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Abbas Poya
Denken jenseits von Dichotomien Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext 2014, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2590-5 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2590-9
Sabine Schmitz, Tuba IĴik (Hg.)
Muslimische Identitäten in Europa Dispositive im gesellschaftlichen Wandel 2015, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2561-5 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2561-9
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