Kooperation statt Konfrontation: Neue Wege anwaltlichen Verhandelns [2. neu bearbeitete Auflage] 9783504381028

Von der Kunst kooperativen Verhandelns. Das Autorenteam Ponschab/ Schweizer präsentiert seine vom amerikanischen Harva

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German Pages 356 Year 2009

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Kooperation statt Konfrontation: Neue Wege anwaltlichen Verhandelns [2. neu bearbeitete Auflage]
 9783504381028

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Panschab · Schwelzer

Kooperation statt Konfrontadon Neue Wege anwaltliehen Vertlandelns

.

Panschab · Schweizer

Kooperation

stan

Konfrontation Neue Wege anwaltliehen Verhandeins von

Dr. Reiner Panschab Rechtsanwalt und

Adrian Schweizer Rechtsanwalt unter Mitarbeit von

Dr. Barbara Genius Rechtsanwältin beim BGH

2. Auflage

2010

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Dr.OttoSdunidt Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verz:eiclmet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 info®otto-schmidt.de www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-18972-3 ©2009 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Ühersetzungen, Mikroverfilml.lilge11 und die Einspei.chenmg und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: Schäper, Bonn Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Prof. Dr. Felix Addor zur 2. Auflage Unlängst rief mich ein früherer Studienkollege an. Wir bereiteten seinerzeit gemeinsam die Anwaltsprüfungen vor. Danach trennten sich unsere Wege: Er nutzte seinen Anwaltstitel, um Partner in einer weltumspannenden Wirtschaftskanzleien zu werden. Meine berufliche Karriere verlief weniger geradlinig. Sie führte mich schließlich ins Schweizer Justizministerium, wo ich für den Bereich Immaterialgüterrecht zuständig bin und hierzu auch als Unterhändler für die Schweizerische Eidgenossenschaft internationale Verhandlungen leite. Zudem bin ich nebenamtlicher Universitätsdozent für Verhandlungsführung. Nachdem wir uns über das ‚Wichtigste in Kürze‘ ausgetauscht hatten, kam er zum eigentlichen Grund für seinen Anruf: „Du kennst Dich doch im Verhandeln gut aus, oder? Ich habe da einen ganz großen Fisch an Land gezogen! Ich soll ein Team von Juristen und Wirtschaftsprüfern eines multinationalen Unternehmens in den Verhandlungen über eine Mega-Fusion leiten. Inhaltlich ist alles im grünen Bereich. Unternehmensfusionen kenne ich aus dem Effeff. Aber was das optimale Verhandlungsvorgehen betrifft, so wäre ich Dir für den einen oder anderen Insider-Tipp dankbar.“ „Deine Frage ehrt mich“, erwiderte ich, „was genau möchtest Du von mir wissen? Oder anders gefragt: was genau weißt Du schon?“ „Ich weiß auf Grund meiner Erfahrung natürlich wie solche Verhandlungen inhaltlich ablaufen und auf welche Leichen im Keller es beim Gegenüber zu achten gilt. Dennoch fühle ich mich im Verhandlungsprozess nicht sattelfest. Ich komme mir so ein bisschen vor wie ein AutoKonstrukteur, der einen Formel 1 Wagen pilotieren soll. Ich habe zwar mal einen Verhandlungskurs besucht. Der hat es aber nicht gebracht. Zu oberflächlich, zu wenig praxisrelevant.“ „Verstehe, Du möchtest von mir nun so was Ähnliches erfahren wie ‚Was Sie an der Law School nicht lernten, im Beruf aber dringend brauchen‘.“ „Mach Dich bitte nicht lustig über mich, aber ja – genau das möchte ich von Dir hören. Auf was alles ist bei der Vorbereitung zu achten? Wie können wir unsere eigenen Ziele bestmöglich erreichen und wie die andere Partei von unserer Sicht überzeugen? Was für spezifisch gewinnbringende Strategien und Taktiken gibt es zu befolgen? Und was können wir tun, wenn das Ganze aus dem Ruder zu laufen droht?“ „Und das alles sicher so fundiert, so praxisnahe, so rasch und so kostengünstig wie möglich, hab ich recht?“ „Fast“, lacht mein Gesprächspartner, „kostengünstig muss es nicht sein. Aber Deine anderen Kriterien treffen voll ins Schwarze!“ Die Fusionsverhandlungen beginnen nämlich Ende nächste Woche …“ Unter solchen Umständen ist guter Rat wirklich teuer. Wie kann man – um beim Beispiel meines Studienkollegen zu bleiben – einen Auto-Konstrukteur zu einem erfolgreichen Autorennfahrer machen? Zwar lassen sich Konfliktsituationen in Verhandlungen oft auch mit profunden Fachkenntnissen, logischer Argumentation, Erfahrungen oder gesundem MenschenverV

Vorwort stand beheben oder zumindest entschärfen. Im Zeitalter ständig zunehmender Vernetzungen und Abhängigkeiten wird es jedoch immer schwieriger, bei echten Interessenskonflikten allein mit diesen Werkzeugen einen Konsens zu erzielen. Verhandeln ist eine Tätigkeit, die immer noch von vielen unterschätzt wird: Dies betrifft die praktischen Fähigkeiten ebenso wie die theoretischen Grundlagen der Verhandlungsführung. Letztere beruhen auf Erkenntnissen, die aus der Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Spieltheorie, Ökonomie, Systemtheorie, aus der Geschichte, Konfliktforschung und auch aus der Rechtswissenschaft stammen. Durch keine andere Tätigkeit – außer vielleicht durch hochrisikoreiche Börsentransaktionen – kann man in ähnlich kurzer Zeit und mit ähnlich wenig Aufwand soviel gewinnen oder verlieren wie durch Verhandeln. Im Unterschied zu Börsentransaktionen sind kooperative Verhandlungsresultate, also solche, die zu einem echten Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten führen und daher von allen als sach- und personengerecht erachtet werden, jedoch wirklich nachhaltig. Profunde Verhandlungskenntnisse sind für uns alle – beruflich wie privat – Schlüssel zum Erfolg, wenn es darum geht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, welches wir nicht allein durch Handeln erreichen können, sondern bei dem wir auf das Zusammenwirken mit anderen angewiesen sind und daher ver-handeln müssen. Tun wir das nicht, so verbleiben als Alternativen einzig der Verzicht, der Gang zum Gericht oder die gewaltsame Durchsetzung unserer Interessen. Zu letzterem hat schon Jawaharlal Nehru, erster Ministerpräsident Indiens, treffend festgestellt: „Alle Kriege enden mit Verhandlungen. Warum also nicht gleich verhandeln?“. Verhandeln ist allerdings ein komplexer Vorgang: Fachliches Können sowie strategisches und taktisches Denken gehören ebenso dazu wie rhetorische und kommunikative Fähigkeiten sowie das Wissen um die Bedeutung der eigenen Körpersprache und derjenigen des Gegenübers. Um erfolgreiche Verhandlungsergebnisse mit einer gewissen Regelmäßigkeit und nicht bloß zufällig zu erreichen, sind wir daher gut beraten, uns das Wissen über die grundlegenden Verhandlungsprinzipien und allfällige Verhandlungsstolpersteine seriös anzueignen und durch regelmäßiges Wiederholen, Üben und Reflektieren so zu verankern, dass wir es selbst in hochkomplexen und emotional delikaten Verhandlungssituationen rasch und ohne lange zu überlegen anwenden können. Mit dem Verhandeln verhält es sich demnach wie mit dem Erlernen und Ausüben anderer Fertigkeiten, beispielsweise dem Skifahren, einer Fremdsprache oder dem Gesellschaftsrecht: Es fällt kein Meister vom Himmel! Ich finde diese Erkenntnis beruhigend: Verhandlungsfähigkeiten sind uns offenbar nicht angeboren, so dass all jene, die sie ungerechterweise nicht in die Wiege gelegt bekamen, dazu verdammt wären, gewissermaßen bis an ihr Lebensende schlechte Verhandlungspartner zu bleiben. Nein: Verhandlungsfähigkeiten lassen sich erlernen und stetig verbessern! Gerade für Juristinnen und Juristen und insbesondere für diejenigen unter ihnen, welche sich dem Anwaltshandwerk verschreiben, gehört VerhanVI

Vorwort deln zu den Alltagestätigkeiten. ‚Übung macht den Meister‘ sollte man meinen. Doch die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild: Umfragen und empirische Studien zeigen, dass gerade Verhandlungen, an welchen sich Juristen beteiligen, oftmals zu für alle Beteiligten unbefriedigenden Resultaten oder zu gar keinem Ergebnis führen 1. Das ist wenig erstaunlich, werden doch Juristen – wie die Autoren dieses Buches im ersten Teil anschaulich aufzeigen – und insbesondere solche, welche sich dem Anwaltshandwerk verschreiben, während ihrer Ausbildung und im Berufsleben darauf getrimmt, Konflikte kontradiktorisch vor Gericht auszutragen, anstatt sie auf dem Verhandlungsweg einvernehmlich unter selbständigen Persönlichkeiten zu lösen 2. Um der Perpetuierung dieser Situation den Riegel vor zu schieben, darf sich die juristische Ausbildung nicht auf die Vermittlung des materiellen und formellen Rechts beschränken. Sie muss vielmehr auch die Erarbeitung von Verhandlungskompetenzen schulen, wie sie den Berufsalltag der Juristinnen und Juristen prägen. Beim Verhandeln werden Konflikte nicht ‚entschieden‘, sondern ‚gelöst‘. Nicht ein höhergestelltes Gericht sagt, was ‚rechtens‘ ist, sondern die Parteien suchen gemeinsam und auf gleicher Ebene nach einer für alle Beteiligten interessensgerechten Lösung des Konflikts. Verhandeln liegt somit ein grundsätzlich anderes Denk-, Werte- und Verhaltensmodell zugrunde als der Jurisprudenz. Dass der Nährboden für diese Alternative zum Rechtsstreit bereits in der Ausbildung des juristischen Nachwuchses gelegt werden muss, wurde unterdessen in Deutschland erkannt (in der Schweiz wartet man auf einen derartigen Erfolg leider noch vergebens!): § 5a des Deutschen Richtergesetzes von 2003 hält fest, dass die Inhalte des juristischen Studiums auch Schlüsselqualifikationen wie es Kommunikation, Gesprächsführung, Rhetorik, Vernehmungslehre, 1 Statt vieler sei hier lediglich auf die aktuellen Studienresultate von Randall L. Kiser/Martin A. Asher/Blakeley B. McShane verwiesen. Auf Grund einer Analyse von 2054 kalifornischen Gerichtsurteilen, denen jeweils Parteiverhandlungen vorausgingen, zeigen die Autoren auf, dass die Parteien, welche ausnahmslos von einem Anwalt vertreten waren, in 61.2 % der Fälle (Klägerin) bzw. in 24.3 % der Fälle (Beklagte) irrigerweise davon ausgingen, dass der ihnen von der anderen Partei gemachte Verhandlungslösungsvorschlag schlechter sei als eine Konfliktentscheidung durch ein Gericht. Diese Parteien waren schlecht beraten: nicht nur wurden sie durch das Urteil schlechter gestellt als durch das mögliche Verhandlungsergebnis, sondern sie verloren auch unnötig Geld und Zeit; siehe Kiser et al., Let’s Not Make a Deal: An Empirical Study of Decision Making in Unsuccessful Settlement Negotiations, Journal of Empirical Legal Studies 2008, 551 ff. 2 Rudolf von Jhering’s 1872 gemachte Aussagen sind auch heute noch aktuell: „Das Leben des Rechts ist ein Kampf – ein Kampf der Völker, der Staatsmacht, der Klassen und Individuen. In der Tat hat das Recht eine Bedeutung nur als Ausdruck von Konflikten und es stellt die Anstrengungen der Menschheit dar, sich selbst zu zähmen. Aber leider hat das Recht versucht, der Gewalt und dem Unrecht mit Mitteln zu begegnen, die in einer vernünftigen Welt dereinst als ebenso befremdlich wie schändlich gelten werden. Denn das Recht hat niemals wirklich versucht, die Konflikte der Gesellschaft zu lösen, sondern nur sie zu lindern, indem es Regeln niederlegte, nach welchen sie ausgefochten werden sollen.“; siehe Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, 4. Aufl., 1874.

VII

Vorwort Verhandeln und Mediation darstellen, zu berücksichtigen haben. Ein begrüßenswerter Anfang! Bleibt zu hoffen, dass die Juristischen Fakultäten bei der Ausgestaltung des entsprechenden universitären Angebots die elementare Bedeutung der erwähnten ‚soft skills‘ nicht aus den Augen verlieren. Damit es nicht bei einem Lippenbekenntnis bleibt, braucht es nämlich gewisse Anstrengungen: Eine echte Integration von Verhandlungsführung und Mediation in der juristischen Aus- und Weiterbildung wird erst möglich, wenn die zuständigen Institutionen die finanziellen Mittel freigeben, welche nötig sind, um an den Universitäten interdisziplinäre Lehrstühle und Institute für Verhandlungslehre und alternative Streitbeilegungsmethoden zu schaffen. Dass dort dann tatsächlich die Praxis des Verhandelns geübt wird und nicht nur, wie auch schon erlebt, das „Recht des Verhandelns“ doziert wird, versteht sich von selbst! Was Sie in Ihren Verhandlungen wann und vor allem wie sagen sollten, nachdem Sie ‚Guten Tag!‘ gesagt haben, darüber gibt Ihnen das vorliegende Buch profunde Auskunft. Es ist gut aufgebaut, praxisbezogen geschrieben und somit im beruflichen wie privaten Alltag konkret anwendbar. Als Leser lernen Sie den Verhandlungsprozess als umfassende Strategie zur gemeinsamen Lösung der Interessengegensätze aller an der Verhandlung beteiligten Personen kennen und verstehen. Geschrieben worden ist es von zwei Anwälten für Anwälte; aber keineswegs nur für diese: Die Lektüre von ‚Kooperation statt Konfrontation‘ kann ich aus voller Überzeugung allen ans Herzen legen, die – wie mein ehemaliger Studienkollege – in so kurzer Zeit wie möglich ihre Verhandlungsfähigkeiten so fundiert, so praxisnaheund so kostengünstig wie möglich verbessern und dabei erst noch großen Spaß haben wollen. Die Einführung neuer Themen mittels Hägar-Comics ist nicht nur witzig, sondern sie bringt das Wesentliche besser auf den Punkt als jede Zusammenfassung es tun könnte. Die Autoren besitzen zudem die bewundernswerte Fähigkeit, komplizierte Dinge einfach und verständlich, aber nie trivial darzustellen. Die Autoren tun dies auf derart überzeugende Art und Weise, dass das Buch nun in 2. Auflage erscheint. Ein befreundeter Ökonom, dem ich das Buch vor Jahren empfahl, erzählte mir nach der Lektüre begeistert, er habe es wie einen Roman in nur einem Wochenende verschlungen. Nun sei er daran, die in den hinteren Teilen des Buches beschriebenen konkreten Schritte auf dem Wege zu einer kooperativen Verhandlungslösung mit Blick auf seine nächsten Umweltverhandlungen zu integrieren. Ich bin überzeugt, dass Sie nun verstehen, wieso ich für die von mir durchgeführten Verhandlungsseminarien bis heute davon abgesehen habe, ein eigenes Skript zu verfassen. ‚Kooperation statt Konfrontation‘ ist die Grundlektüre, die alle intus haben müssen. Im letzten Jahr hatte dies allerdings einen Haken: Da die 1. Auflage völlig vergriffen ist, beklagten sich die Studenten, dass sich außer in Bibliotheken weit und breit kein Exemplar mehr auftreiben lasse. Es ist deshalb höchste Zeit, dass wir jetzt die zweite, vollkommen überarbeitete Auflage in den Händen halten. Sie enthält neu zahlVIII

Vorwort reiche wichtige Verweise auf verhandlungstheoretische, geschichtliche und zeitgenössische Hintergründe und begrüssenswerterweise auch Ausführungen dazu, wie die Welt aussehen könnte, wenn von Beginn weg kooperativ und somit nachhaltig verhandelt würde. Sicher haben Sie unterdessen herausgefunden, was ich auf den telefonischen Wunsch meines ehemaligen Studienkollegen geantwortet habe? Richtig: Ich habe ihm das Buch von Ponschab/Schweizer zur Lektüre für das kommende Wochenende empfohlen und mich ihm für den Fall angeboten, dass er danach noch spezifische Fragen haben sollte. Er hatte offenbar keine mehr! Und die Unternehmensfusionsverhandlungen verliefen offenbar erfolgreich: Dies erfuhr ich aus den Tageszeitungen und einige Wochen später beim Mittagessen im nobelsten Restaurant in Bern, wohin er mich einlud. Dabei eröffnete er mir, dass er eine neue Stelle angetreten habe: als Chefjurist der neuen Unternehmung; so geht das! Und nun wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre! Prof. Dr. Felix Addor, RA Titularprofessor für internationale Verhandlungsführung an der Juristischen Fakultät der Universität Bern Stellvertretender Direktor und Rechtskonsulent des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum

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Vorwort Prof. Dr. Fritjof Haft zur 1. Auflage Dies ist ein kenntnisreiches, lesenswertes, glänzend geschriebenes, ja, sogar spannendes Buch zu einem wichtigen Thema. Es wendet sich zunächst an alle, die sich für die friedliche Lösung von Konflikten durch Verhandeln interessieren – ein Thema, das schlechterdings jeden Menschen angeht. Und es wendet sich zugleich gezielt an die juristischen Zunftkollegen der Autoren, die als Rechtsanwälte reiche Erfahrung mit der Bewältigung von menschlichen Konflikten gesammelt haben. Seit Jahrtausenden pflegen die Menschen ihre Konflikte als Nullsummenspiele auszutragen, bei denen auf jeden Gewinner ein Verlierer kommt. Fast ebenso lange unterstützen und verschärfen die Juristen als Richter und Rechtsanwälte diese Vorgehensweise, indem sie von den konfliktbefangenen Menschen die Einnahme von Positionen – von Ansprüchen – und deren Durchsetzung in bestimmt formulierten Aktionen – in Klagen – fordern. Das erstere nährt die Rechtsanwälte, das letztere die Gerichte, und wer diesen Wirtschaftsprozeß nicht unterstützt, der bekommt eben kein Urteil und mag sehen, wo er bleibt. Aber oftmals nützt das Urteil wenig, und fast immer läßt es die Parteien beschädigt zurück. In seinen Erinnerungen schildert Hans Fallada, wie sein Vater, weiland Reichsgerichtsrat in Leipzig, Prozesse als wahre Menschenvernichtungseinrichtungen ansah und versicherte, er werde jedem, der ihn verklage, sei es, mit welcher Forderung auch immer, alles geben, was dieser nur wolle, um ja nicht in einen Prozeß verwickelt zu werden. Daß es eine Alternative gibt, lehrt der Blick auf andere Kulturen, etwa das im vorliegenden Buch geschilderte Konfliktlösungsverhalten nordamerikanischer Indianer. Erstaunlicherweise ist diese Alternative aber erst in den letzten Jahrzehnten in das Blickfeld der Juristen geraten, zunächst in den USA, dann auch in anderen Ländern, der Schweiz, Österreich, Deutschland und anderswo. Diese Alternative zum Rechtsstreit setzt auf Problemlösung statt auf Konfliktverschärfung, auf Kreativität statt auf dogmatische Haarspalterei, auf zukunftsorientiertes Verhalten statt auf rückwärtsgerichtete Orientierung an Präzedenzfällen, auf Eigenverantwortlichkeit statt auf Unterwerfung unter das Diktat Dritter, auf Mehrung des Nutzens aller Beteiligter statt auf den Vorteil des einzelnen – kurz, auf wirkliche inhaltliche Lösungen statt auf bloß formale Entscheidungen und Beendigungen von Konflikten. Von selbst – das lehrt die Erfahrung – findet man aber nicht zu dieser Alternative. Dem steht alles entgegen – generell die Tradition des Positionsdenkens im Streitfalle und die herkömmliche Denk- und Sprechweise der Menschen, spezifisch juristisch die aus dem römischen Aktionenrecht abgeleitete Dogmatik von Forderungen und Positionen im geltenden Recht und die darauf ausgerichtete juristische Ausbildung samt entsprechender Rechtskultur. Man muß also etwas tun. In den USA wurde das längst erkannt. Alternative Dispute Resolution (ADR) ist dort ein erkanntes ProX

Vorwort blem. Die Lösungstechniken „Negotiation“ und „Mediation“ werden dort schon heute an mehr als zwei Drittel aller Law Schools intensiv erforscht und gelehrt. Die Politik nimmt den Rat dieser jungen Wissenschaft dankbar entgegen, mit segensreichen Konsequenzen. Das Friedensabkommen von Camp David wäre wahrscheinlich nicht ohne die Unterstützung des Negotiation Project der Harvard Law School zustande gekommen. Im deutschsprachigen Rechtskreis ist das anders. Hier gibt es bislang nur die Initiativen einzelner, unter denen die Autoren des vorliegenden Buches – auch aufgrund ihrer reichen Praxis in der Vermittlung von Verhandlungsfertigkeiten unter Einbezug interdisziplinärer Erkenntnisse – mit an erster Stelle zu nennen sind. Daß sie als erfolgreiche Rechtsanwälte vor dem Hintergrund langjähriger Berufstätigkeit eine fundamentale Veränderung des juristischen Weltbildes und der juristischen Grundüberzeugungen überzeugt und überzeugend anraten, belegt zur Genüge, daß es hier nicht um ferne Theorie geht. Es geht um die künftige juristische Praxis in einer Zeit, in welcher Mittelknappheit und der gegenwärtig sich abzeichnende Juristenüberschuß ohnehin drastische Änderungen erzwingen werden. Wer morgen als Jurist – und das heißt in erster Linie als Anwalt – beruflichen Erfolg haben will, der muß die Kunst und Wissenschaft des Verhandelns einfach beherrschen. An den Rechtsfakultäten wird er die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten aber gegenwärtig kaum erwerben können. Das vorliegende Buch bietet hier eine wertvolle Hilfe. Es enthält eine vorzügliche Einführung in die Kunst und Wissenschaft des Verhandelns. Es ist dabei – für deutsche Juristenbücher durchaus unüblich – locker und lesbar geschrieben (gäbe es nur mehr solche Bücher im Recht). Die geschilderten Fälle und die dazu jeweils wiedergegebenen Dialoge machen die Darstellung höchst anschaulich. Darüber hinaus ist das Buch ausgesprochen witzig. (Die Auswahl der zahlreichen Cartoons ist eine Meisterleistung für sich.) Nirgendwo wird das Buch bei alledem flach, im Gegenteil. Man nehme nur etwa die Ausführungen über das „Weltbild der juristischen Methode“ in Teil 1, und hier etwa das Kapitel über den Glauben an die „objektive Wahrheit“. An dieser Stelle haben die Autoren ein zentrales Thema der Philosophie ohne jede unzulässige Simplifizierung und ohne jede Verfälschung in einer Weise dargestellt, die auch den aphilosophischsten Rechtsdogmatiker zum Nachdenken einfach anstoßen muß, etwas, was kein „schweres“ Werk leisten kann. Kurz, dies ist ein schönes, empfehlenswertes Buch, dem ich eine weite Verbreitung wünsche. Allen Juristen, insbesondere allen jungen Juristen, rufe ich zu: Lest! Beherzigt, was Ihr lest! Ihr werdet Euer Leben – und das Leben Eurer Mandanten – bereichern! Professor Dr. Fritjof Haft Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie Juristische Fakultät der Universität Tübingen

XI

Danksagung zur 2. Auflage Dass diese 2. Auflage zu Stande kam, die letztlich zu einer grundlegenden Überarbeitung wurde, verdanke ich meinem Freund Adrian Schweizer. Nach anfänglichem Zögern konnte ich mich seinen Argumenten für eine theoretische Grundlegung dieses Buches nicht mehr erwehren. Danke, Adrian, dass Du dieses Projekt so beharrlich vorangetrieben hast. Mit Barbara Genius haben wir unser Team erfolgreich erweitert. Sie hat mit großem Engagement in der Schlussphase das ganze Buch mit der ihr als BGH-Anwältin eigenen Genauigkeit kritisch durchgearbeitet. Sie hat dabei für eine Dokumentation des wissenschaftlichen Ansatzes gesorgt, indem sie die inhaltliche Folgerichtigkeit überprüft, Redundanzen beseitigt und eine große Anzahl von Fußnoten nachgetragen hat. Auch Dir, Barbara, sei herzlich gedankt. Durch Deine Arbeit hat sich die Substanz des Buches nachhaltig vermehrt. Wie sich Dinge ändern können, zeigt die Lektüre der Danksagung zur 1. Auflage: Viele der dort genannten Personen sind vor dem oder bereits im Ruhestand – ohne ihre geistige Arbeit zu reduzieren – und meine Tochter Laura ist kein manuskriptgefährdendes Kleinkind mehr, sondern eine menschlich, schulisch und sportlich erfolgreiche junge Dame. In den Gesprächen mit ihr und ihren Geschwistern Sandra und Roman lerne ich immer wieder den Wert von Gerechtigkeit und Fairness. Aber auch die Aufgaben der Autoren können sich ändern: Hat uns Adrian bei der 1. Auflage davor bewahrt, dass dieses Buch zu „kopflastig“ wird, so schien es diesmal meine Aufgabe, es davor zu bewahren, zu „metaphysisch“ zu werden. Erfreulicherweise wird der Kreis derer, die uns helfen, die Ideen unserer Bücher bekannt zu machen, immer größer. Beispielhaft darf ich nennen und danken Fritz Jost und der gesamten juristischen Fakultät der Universität Bielefeld, die den Studenten einen beispielhaften Zugang zu Schlüsselqualifikationen ermöglichen und Sascha Süße, mit dem es einfach großen Spaß macht, gemeinsame Vorlesungen zu halten. Verhandlungen sind am erfolgreichsten, wenn die Parteien kooperieren. Das haben mir hunderte von Vorlesungen im In- und Ausland, vor allem aber die anwaltliche Praxis bestätigt. Aber die „reale Welt“ besteht eben nicht nur aus Kooperation, sondern auch aus Kampf und rechtlicher Auseinandersetzung. Deshalb ist es ebenso wichtig – aber nicht Aufgabe dieses Buches – die Regeln kompetitiven Verhandelns zu lernen und – notfalls – auch anzuwenden. Wir nennen das „die Pistole auf den Tisch legen“. Hier danke ich besonders meinen chinesischen Freunden, die mich in die Grundlagen des Feilschens und der Anwendung von List eingeführt haben. Ohne Dich, Adrian, wäre dieses Projekt nicht entstanden und ohne Sie, lieber Herr Donnerbauer, wäre kein Buch daraus geworden. Dafür Ihnen und dem Verlag besonderen Dank. XIII

Danksagung Dank auch unbekannterweise an Carol S. Pearson, die in Ihrem Buch „Der Held in uns“ (München, 1990) den Satz schreibt, der alle Fragen unserer Schüler und Freunde nach unserer Motivation treffend beantwortet: „Unvermeidlich lehren wir das, was wir zu lernen versuchen“ Im September 2009

XIV

Reiner Ponschab

Danksagung zur 2. Auflage Zuerst möchte ich ganz herzlich meinem Co-Autor und Freund Dr. Reiner Ponschab danken, dass er, nach ersten Bedenken, zugestimmt hat, unser etwas sperriges Buch zu überarbeiten, und es auf sich genommen hat, alle meine Ergänzungen, Verknüpfungen und auf den ersten Anhieb wohl nicht sehr leicht zu verstehenden neuen Modelle zu studieren und auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Ohne Dich, Reiner, wären wir vermutlich etwas weniger praktisch, als wir es jetzt sind. Dann gilt mein besonderer Dank Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof, die mir mit ihrem untrüglichen Sinn für Stringenz geholfen hat, den 6ten Teil zu schreiben und vor allem auch den 3ten und 7ten Teil neu zu formulieren, und die Versorgung der Texte, neben Reiner natürlich, mit Fußnoten übernommen hat. Ohne Dich, Barbara, wäre ich wohl meiner manchmal auftretenden gedanklichen Nachlässigkeit erlegen und manches wäre logisch viel weniger stimmig, als es jetzt ist. Nicht vergessen will ich meinen langjährigen Freund und Kommilitonen Prof. Dr. Felix Addor, der seit Jahren unser Buch in seinen VerhandlungsVorlesungen verwendet und es unermüdlich anpreist, wo er nur kann. Es ist schön, Felix, Dich auch, aber nicht nur, als Freund im Geiste zu haben. Ebenso erwähnen möchte ich natürlich unseren Lektor Rüdiger Donnerbauer, der diese zweite Auflage, die sich als zeitaufwendiger als erwartet erwiesen hat, mit endloser Geduld, Verschmitzheit und professioneller Großzügigkeit begleitet hat. Zum Schluß ein riesiges Dankeschön an unseren Herausgeber, Dr. h.c. Karl-Peter Winters, der unsere manchmal zur Juristenwelt wohl etwas quer stehenden Ideen immer mehr als unterstützt hat und unsere beiden Bücher herausgeberisch hervorragend betreut hat. Im September 2009

Adrian Schweizer

XV

Danksagung Das Erscheinen dieses Buches verdanken wir vielen Menschen. Den einen, weil sie uns unterstützt haben, den anderen, weil sie uns nicht daran gehindert haben, es zu schreiben. Allen Menschen, die so oder so daran mitgewirkt haben, dass dieses Buch erscheinen konnte, danke ich an dieser Stelle pauschal. Einige möchte ich jedoch besonders hervorheben. Besonderer Dank geht an meine Frau Dagmar. Denn mein Wunsch, dieses Buch zu schreiben, und ihr Interesse an gemeinsamer Freizeit machten uns schon sehr früh klar, dass uns hier nur kreative Optionen weiterhelfen könnten. Dagmar fand sie: Statt um Zeitanteile zu kämpfen, wurde sie CoAutorin, Diskussionspartnerin, Ideenfinderin und Korrektorin. Ich entschuldige mich an dieser Stelle dafür, dass das Buch trotz aller Straffungen in ihren Augen sicher noch geschwätzig ist. Ich danke meinen Kindern Sandra und Roman, dass sie mir schon in ihren jüngsten Jahren als kompetente Verhandlungspartner gegenübergetreten sind, von denen ich viel gelernt habe. Meiner Tochter Laura (18 Monate) danke ich dafür, dass sie meine Manuskripte nur zerknittert, aber nie zerrissen hat. Ohne die Geduld und den Idealismus unseres Verlegers Karl-Peter Winters wäre dieses Buch nie zustande gekommen; er hat nicht nur die ständigen Terminüberschreitungen toleriert, sondern uns ständig Mut gemacht, unsere Gedanken zu Papier zu bringen. Besonders danke ich auch Fritjof Haft dafür, dass er so wichtige Vorarbeiten geleistet und unser Werk durch seinen positiven Zuspruch gefördert hat. Ohne Ueli Egger, den profunden Kenner des Harvard-Konzeptes, hätte ich dieses wunderbare Verhandlungsmodell nie so intensiv kennen und schätzen gelernt. Der Prophet im eigenen Land endet oft auf dem Scheiterhaufen. Ich danke allen Partnern in meiner Sozietät, dass sie mir dieses Schicksal nicht nur erspart, sondern meine Arbeit auch mit Interesse gefördert haben. Mein besonderer Dank gilt Benno Heussen dafür, dass er mir stets das Gefühl gegeben hat, auf dem richtigen Wege zu sein. Mit Gisela und Hans-Georg Mähler teile ich die Überzeugung, dass interessengerechte Lösungen dauerhafter und reicher sind als alle rechtlichen Siege. In dieser Meinung haben mich meine Kollegen und Freunde des Ausschusses für Außergerichtliche Konfliktbeilegung des Deutschen Anwalt Vereins bestärkt. Von Walter Kauffmann habe ich gelernt, dass Verhandeln ohne Werte wertlos bleibt. Werte sind wie Leuchttürme, ohne sie strandet man auch beim Verhandeln. Hans-Peter Doormann hat mich in meiner Überzeugung beXVI

Danksagung stärkt, dass Kooperation auf Dauer erfolgreicher ist als kompetitives Verhalten. Alle unsere Ideen hätten wir weiter in unserem Herzen tragen müssen, wenn wir nicht Sieglinde Fürstenberg gehabt hätten, die sie zu Papier gebracht hätte. Nicht nur das: Mit Hingabe und viel Spaß an unseren Ideen hat sie alle Korrekturen ins Werk gesetzt und uns Feedback gegeben. Sebastian Fischoeder hat unerbittlich unsere Gedanken und Worte kontrolliert und viel zum Feinschliff des Endproduktes beigetragen. Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne meine Mandanten, die es mir ermöglicht haben, bei der Lösung ihrer Probleme neue Wege zu beschreiten. In gleicher Weise haben dazu auch die vielen Kollegen beigetragen, die mich in Verhandlungen und Seminaren gelehrt haben, dass die Zahl kooperativer Verhandler unter den Anwälten viel größer ist, als wir gemeinhin annehmen. Auf sie gründet sich meine Hoffnung und mein Vertrauen, dass die Anwälte in Zukunft einen zunehmend größeren Beitrag dazu leisten werden, befriedigende Lösungen für Konflikte zu erreichen. Ohne meinen Co-Autor und Freund Adrian Schweizer wäre das ein „verkopftes“ Buch geworden. Er hat Platz für Humor und Sinnhaftigkeit geschaffen und mir gezeigt, dass das gemeinsame Schreiben eines Buches ein Musterbeispiel kooperativen Verhandelns sein kann. München, August 1996

Reiner Ponschab

XVII

Danksagung Wenn man das Buch eines amerikanischen Autors aufschlägt, findet man, noch bevor das Buch beginnt, meistens einen Dank des Autors an alle, die ihm beim Schreiben geholfen haben. Diese Tradition gefällt uns. Wir möchten sie auch hier pflegen: Zuerst danke ich meinen Eltern Walter Schweizer und Ida Schweizer-Grünig, die mich während meiner diversen Studien und Eskapaden, oft mit wenig Einsicht in deren Notwendigkeit, aber trotzdem auf ihre besondere Art unermüdlich unterstützt haben. Danke Vater. Danke Mutter. Meiner Frau Juana Maria Tur-Llobet i Cardona und Sofia und Tanit danke ich für die Unterstützung und vor allem die Geduld, die sie während des Schreibens an diesem Buch aufgebracht haben, als ich mehr im Café Montesol hinter meinem „Mac“ saß als bei ihnen zu Hause. Professor Jörg-Paul Müller hat mir schon sehr früh gezeigt, dass nicht alle Juristen Paragraphenfresser sind. Meine Studienkollegen Fürsprecher Christian Hodler, Dr. Fritz Rothenbühler, Fürsprecher Ronald Patzold, Fürsprecher K. Bernard Wiki, Fürsprecher Andreas Kägi, Dr. Christoph Graber, Fürsprecher Peter Beck und nicht zuletzt Jens Kruse haben mir die Zeit hinter den Büchern in der Stadtbibliothek Bern durch konsequenten Unernst erheblich erleichtert. Dr. Urs Leu und Fürsprecher David Ryser haben sich nach anfänglichen erheblichen Bedenken doch noch entschlossen, mich in ihre Examensgruppe aufzunehmen, und so einen großen Teil zum guten Gelingen des Experimentes „Staatsexamen“ beigetragen. Dr. Urs Leu danke ich zusätzlich für die vielen konstruktiven Gespräche, die wir in der Entstehungsphase dieses Buches geführt haben, und für die Durchsicht und Korrektur des Manuskriptes sowie für die vielen Stangen „Gurten Bier“, die wir zusammen schon getrunken haben. Nicht vergessen möchte ich all die Kollegen und Lehrmeister, die sich redlich darum bemüht haben, aus mir doch noch einen anständigen Anwalt zu machen. Manche hatten dabei mehr Erfolg, andere weniger: Fürsprecher Peter Kientsch sel., Fürsprecher Emil Hollenweger, Fürsprecher Hans-Lukas Hopf, Fürsprecher Antonio Genna, Dr. Marco Lorez, Dr. Peter Sulger Büel, Dr. Gerhard Stoessel, Andreas R. Conrad und Erna Krebser. Franz Stowasser hat mich als erster in die Kunst des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) eingeführt, und von Robert B. Dilts habe ich am meisten gelernt. Walter Kauffmann, Gerhard Jantzen und Dr. Rolf Wabner sei herzlich gedankt, dass sie mir den Einstieg in das Business des Management-Consultants erheblich erleichtert haben. XVIII

Danksagung Nicht vergessen will ich hier auch meinen Co-Autor und Freund Dr. Reiner Ponschab. Seine umfangreichen Vorarbeiten, seine Flexibilität und seine große Geduld haben dieses Buch überhaupt erst möglich gemacht. Ebenso danke ich all den Menschen der Kanzlei Heussen Braun von Kessel, München, die uns bei der Erstellung des Buches tatkräftig unterstützt haben. Dies waren vor allem: Annemarie Wind, Sieglinde Fürstenberg und Sebastian Fischoeder. Nürensdorf, Dezember 1996

Adrian Schweizer

XIX

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort Prof. Dr. Felix Addor zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Vorwort Prof. Dr. Fritjof Haft zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

X

Danksagung zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XVI

Literaturverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII

Einleitung 1. Warum wir dieses Buch geschrieben haben . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Wie wir dieses Buch geschrieben und wie wir dabei Kooperation gelernt haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

3. Gebrauchsanweisung für dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

4. Wie das Buch aufgenommen wurde und was wir seitdem hinzugelernt haben! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Teil 1 Die Tradition: Konfliktentscheidung nach der juristischen Methode 1. Rock am See oder: Dr. von Streidt schlägt zu . . . . . . . . . . . . . . .

17

2. Die Geburt des kompetitiven Anwalts aus dem Geist der juristischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2.1 Die juristische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2.2 Das Weltbild der juristischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Teil 2 Die Alternative: Das kooperative Verhandeln 1. Kooperatives Verhandeln als Alternative zur juristischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

1.1 Was sind die Ziele der Parteien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

1.2 Welche Lösungen geben beiden Parteien die Möglichkeit, ihre Ziele zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

1.3 Wie können wir uns wechselseitig unterstützen, damit wir unsere Ziele erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 XXI

Inhaltsverzeichnis Seite

2. Die Welt des Dr. Austin Cooper oder: Welche Glaubenssätze stützen das kooperative Verhandeln? 2.1 Dr. Austin Cooper, Rechtsanwalt

61

....................

61

2.2 Das Weltbild des Dr. Austin Cooper . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

3. Gegenüberstellung der beiden Weltbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

3.1 Sorting Styles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

3.2 Das Rad der klassischen Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . .

78

3.3 Konfliktlösung und Bewusstsein (Bewusstseinslevel nach Clare W. Graves) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

3.4 Wahrnehmungspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Teil 3 Die Entscheidung: Welcher Verhandlungsstil ist richtig? 1. Durch Verhandeln gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2. Fünf Konfliktsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

3. Die verschiedenen Möglichkeiten des Verhandelns

..........

93

3.1 Kompetitives Verhandeln (Sieg/Verlust) . . . . . . . . . . . . . . . .

94

3.2 Weiches Verhandeln (Verlust/Sieg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

3.3 Kamikaze-Verhandeln (Verlust/Verlust) . . . . . . . . . . . . . . . .

101

3.4 Kooperatives Verhandeln (Gewinn/Gewinn) . . . . . . . . . . . .

104

3.5 Gewinnen um jeden Preis

..........................

108

3.6 Keine Verhandlung mehr gewollt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

3.7 Bewusstsein und Konfliktlösungsfähigkeit

.............

110

4. Welcher Verhandlungsstil ist der erfolgreichste? . . . . . . . . . . . . .

111

4.1 Wie misst man den Erfolg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

4.2 Fünf Konfliktsituationen – wie verhandle ich am erfolgreichsten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

5. Kooperatives versus kompetitives Verhandeln

..............

117

5.1 Alles oder nichts oder Alles für alle? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

5.2 Die Abwehr kompetitiven Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

5.2.1 Legen Sie die Pistole auf den Tisch! . . . . . . . . . . . . .

120

5.2.2 Bringen Sie die andere Seite mit konsequenter Rationalität zum Umdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

5.3 Streit oder Kooperation – was will der Mandant? . . . . . . . . .

124

XXII

Inhaltsverzeichnis

Teil 4 Die Vorbereitungsphase: Die Verhandlung mit dem Mandanten

Seite

1. Verhandeln Sie die Vorgehensweise: Sagen Sie, wie Sie zum Ziel kommen wollen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

2. Bauen Sie Vertrauen auf: Schaffen Sie eine gute Beziehung zum Mandanten! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

2.1 Zuhören und zusammenfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

2.2 Vertrauen durch Synchronisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132

3. Trennen Sie Absicht von Verhalten oder: Stellen Sie Interessen vor Positionen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

3.1 Absichten und Interessen des Mandanten . . . . . . . . . . . . . .

135

3.1.1 Die Ziele des Mandanten herausfinden . . . . . . . . . . .

135

3.1.2 Proaktive Ziele setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

3.1.3 Die Landkarte des Mandanten erfragen . . . . . . . . . . .

141

3.1.4 Die Dinge mit den Augen des anderen sehen . . . . . .

143

3.1.5 Die vier Wahrnehmungspositionen verstehen . . . . . .

146

3.1.6 Die Absicht hinter dem Verhalten herausfinden . . . .

149

3.2 Und die Interessen der Gegenseite? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

4. Finden Sie Möglichkeiten, die Absichten (Interessen) der Parteien zu verwirklichen: Welche Möglichkeiten gibt es innerhalb und außerhalb des Verhandlungskontextes? . . . . . . . .

158

4.1 Möglichkeiten der Verwirklichung für die Absichten des Mandanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

4.1.1 Innerhalb des Verhandlungskontextes: Welche anderen Möglichkeiten, Ihre Absichten zu verwirklichen, gibt es als diejenigen, die Sie bisher angewandt haben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

4.1.2 Außerhalb des Verhandlungskontextes: Welche anderen Möglichkeiten sehen Sie, Ihre Absichten zu verwirklichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

4.2 Und die Möglichkeiten für die andere Seite? . . . . . . . . . . . .

163

5. Suchen Sie eine gemeinsame Vision für die Parteien: Gibt es ein übergeordnetes Ziel für die Absichten beider Parteien? . . . . .

164

6. Legen Sie die erforderlichen Schritte zur Vorbereitung der Verhandlung fest: Klären Sie, wer wann was tut! . . . . . . . . . . . .

165 XXIII

Inhaltsverzeichnis

Teil 5 Die Verhandlungsphase: Sieben Schritte auf dem Weg zu einer kooperativen Lösung

Seite

1. Was wissen wir bis jetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

2. Erster Schritt: Verhandeln Sie die Vorgehensweise: Vereinbaren Sie Gegenstand und Ablauf der Verhandlung! . . . . . . . . . . . . . . .

171

3. Zweiter Schritt: Bauen Sie Vertrauen auf: Schaffen Sie eine gute Beziehung zum Verhandlungspartner! . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

3.1 Die Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

3.2 Der Besprechungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

3.3 Die Eröffnungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

182

4. Dritter Schritt: Trennen Sie Absicht von Verhalten: Nennen Sie Ihre eigenen Ziele, und entdecken Sie die Ziele der anderen Seite!

184

5. Vierter Schritt: Realisieren Sie die Ziele beider Seiten: Finden Sie Möglichkeiten, die Ihren Interessen und den Interessen der anderen Seite entsprechen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

5.1 Die Optionen beider Seiten einbringen . . . . . . . . . . . . . . . .

192

5.2 Brainstorming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

6. Fünfter Schritt: Entwickeln Sie eine gemeinsame Vision: Verstärken Sie die gefundenen Lösungen auf einer höheren Ebene! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

7. Sechster Schritt: Planen Sie die Schritte auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel: Klären Sie, wer was wann tut! . . . . . . . . . . .

203

8. Siebter Schritt: Schließen Sie eine bindende Vereinbarung: Sorgen Sie dafür, dass die Verhandlungsergebnisse konkretisiert werden! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Teil 6 Die Techniken: Techniken und Modelle, die ein kooperativer Verhandler beherrschen sollte 1. Das Rad der klassischen Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

2. Konfliktlösung durch Macht: Die 36 Strategeme der List . . . . . .

211

3. Bewusstseinsebenen und Wahrnehmungspositionen . . . . . . . . . .

220

4. Woran sollte ein kooperativer Verhandler glauben: 21 Axiome effizienter Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

5. Der Paternoster der logischen Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236

XXIV

Inhaltsverzeichnis Seite

6. Die vier Wahrnehmungspositionen und die Kunst, empathisch zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

238

7. Die Kunst des Fragens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

240

7.1

Sachverhaltsorientierte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

240

7.2

Problemorientierte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

240

7.3

Prinzipienorientierte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

7.4

Zyklische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

7.5

Provokative Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

7.6

Systemische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

7.7

Zielorientierte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

7.8

Interessenorientierte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

7.9

Utilisationsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

7.10 Lösungsorientierte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

7.11 Rechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

7.12 Fragen zum Prozessrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

7.13 Metafragen

....................................

244

8. Die Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246

9. Die Sorting Styles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

10. Die widerstandsfreie Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254

11. Die nachhaltigen Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

12. Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264

Teil 7 Die Fragen: Dr. Coopers Tipps zu schwierigen Verhandlungssituationen 1. Wie steige ich in eine Verhandlung ein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Wer nennt die erste Zahl?

266

..........................

267

1.2 Soll ich mit einer möglichst hohen Forderung oder einem möglichst niedrigen Angebot beginnen? . . . . . . . . . . . . . . .

269

2. Wie kann ich umfangreiche Sachverhalte verhandeln? . . . . . . . .

272

2.1 Strukturieren

....................................

273

2.2 Visualisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276

2.3 Atomisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277

2.4 Molekularisieren

277

.................................

XXV

Inhaltsverzeichnis Seite

3. Was kann ich tun, wenn die andere Seite bessere Karten (sprich: mehr Macht) hat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277

3.1 Liegt überhaupt eine Verhandlung vor? . . . . . . . . . . . . . . .

279

3.2 Wie gut sind die Karten der anderen Seite wirklich? . . . . .

279

3.3 Wie können wir unsere Verhandlungsposition stärken?

..

280

3.3.1 Stärkung der Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

280

3.3.2 Optionen entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

3.3.3 Eigene beste Alternative verstärken . . . . . . . . . . . . .

281

4. Wie kann ich mit einem sturen Verhandlungspartner umgehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282

4.1 Kann Ihr Verhandlungspartner keine oder zu wenige Optionen entdecken, die seine Bedürfnisse angemessen erfüllen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

4.2 Hat die störrische Verhaltensweise der anderen Seite mit unserer Beziehung zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

4.3 Spielt die andere Seite „hard ball“?

..................

289

5. Wie kann ich die Interessen der anderen Seite herausfinden? . .

290

5.1 Beginnen Sie mit Ihren eigenen Interessen . . . . . . . . . . . . .

292

5.2 Finden Sie die Interessen der Gegenpartei selbst heraus . .

293

5.3 Fragen Sie nach den Interessen der anderen Seite . . . . . . . .

293

5.4 Wenn die direkte Frage nach den Interessen der anderen Seite nicht erfolgreich oder angebracht ist: Hinterfragen Sie die Interessen der anderen Seite! . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

6. Was mache ich, wenn der Verhandlungspartner unfaire Verhandlungsmethoden anwendet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

7. Wie wehre ich mich gegen unangenehme Verhandlungsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

8. Wie reagiere ich auf offene Angriffe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

9. Was mache ich, wenn mein Verhandlungspartner manipuliert?

312

10. Wie verhandle ich mit Fremden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

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Integrale Vision. Eine kurze Geschichte der integralen Spiritualität, Deutsche Ausgabe Kösel, München 2009

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Einleitung 1. Warum wir dieses Buch geschrieben haben Wie sind wir auf die Ideen zu diesem Buch gekommen? Was waren die Hintergründe, was unsere Ziele? Wir sind beide Rechtsanwälte, der eine Deutscher und der andere Schweizer, die nach unterschiedlich langer Berufspraxis ihren Beruf aufgegeben bzw. erheblich reduziert haben, um auf anderen Wegen nach Konfliktlösungen zu suchen. Als wir uns vor fast 20 Jahren trafen, stellten wir fest, dass wir in vielen Bereichen ähnlich dachten. Wir waren auf der Suche nach Möglichkeiten, Konflikte in der Wirtschaft anders zu lösen, als wir es an der Universität und in den forensischen Jahren unserer Anwaltspraxis gelernt hatten. Wir stellten damals als erste These den Satz auf, dass Anwälte oft wie „Legionäre im Dienste ihrer Kriegsherren“ aufträten und dadurch viel zur Eskalation und wenig zur interessengerechten Lösung von Problemen und zur Befriedung komplizierter Beziehungen zwischen Menschen beitrügen. Natürlich wussten wir, was sich bei unseren Untersuchungen auch immer wieder bestätigte, dass hinter einem kompetitiv agierenden Anwalt oft die geballte Emotion seines Mandanten steckt, der von ihm perfekte Dienstleistung in Sachen Vergeltung, Unterwerfung oder Kampf auf Biegen und Brechen fordert. Wenn Krieg die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist1, so ist es die Prozessführung allemal. Und nicht selten hört man Gewinner von Prozessen wie einst Pyrrhus sagen: „Noch so ein Sieg und wir sind verloren“2. Wir haben diese These damals anderen Kollegen an folgendem Beispiel erläutert: Zwei Gesellschafter sind je zu 50 % an einer GmbH beteiligt und beide alleinvertretungsberechtigte Geschäftsführer. Nachdem sie sich anfänglich sehr gut verstanden haben, entstehen ganz plötzlich starke Spannungen zwischen den Gesellschaftern, und aus der langjährigen Freundschaft wird eine erbitterte Feindschaft. Einer der beiden Kontrahenten bittet nun einen jungen Kollegen, ihm im Kampfe gegen seinen Kompagnon behilflich zu sein. Der Anwalt nimmt das Mandat mit Freude an und geht wie folgt vor: Zuerst sucht er nach Anhaltspunkten, um den anderen Gesellschafter als Geschäftsführer aus wichtigem Grund abberufen zu können und die Geschäftsanteile mit der gleichen Begründung einzuziehen. Mit einer einst1 So Carl von Clausewitz’ (1780–1831) berühmtes Postulat in seinem sehr einflussreichen, im Jahre 1832 erstveröffentlichten Hauptwerk „Vom Kriege“. 2 Der Ausdruck geht auf König Pyrrhus von Epirus (319/318–272 v. Chr.) zurück. Dieser soll nach seinem Sieg über die Römer in der Schlacht bei Asculum (Süditalien) 279 v. Chr. einem Vertrauten gesagt haben: „Noch so ein Sieg und wir sind verloren!“

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Einleitung weiligen Verfügung versucht er zudem zu verhindern, dass der „andere“ (gemeinhin der Gegner genannt, ganz richtig wäre vielleicht: der Feind) die Geschäftslokale weiterhin betreten darf. Die Gegenseite, selbst durch einen gut ausgebildeten juristischen Legionär vertreten, schießt mit gleichem Geschütz zurück, und schon bald findet man sich auf vielen Hauptund Nebenkriegsschauplätzen wieder: ordentliches Gericht, Registergericht, Strafgericht. In einem besonders wichtigen Verfahren gewinnt nun die Gegenseite, und der junge Anwalt beschließt, tiefer zu graben. Man weiß schließlich, dass der andere Gesellschafter seit Jahren gut getarnt Steuerhinterziehung betreibt. Dies zeigt er daher auch unverzüglich an; dabei hat er allerdings übersehen, dass sein eigener Mandant selbst einen Computer, der mit Mitteln der Gesellschaft angeschafft worden war, bei sich zu Hause stehen hat und diesen rein privat nutzt: Die entsprechende Strafanzeige der Gegenseite lässt nicht lange auf sich warten, und so finden sich die beiden Kompagnons sehr schnell vor dem Strafrichter wieder. Erraten Sie die Reaktion unseres jungen Legionärs? Richtig: Tiefer graben! Und so findet unser Freund heraus, dass der andere Gesellschafter seine Reisespesen unkorrekt abgerechnet hat … Doch auch die andere Seite schläft nicht und entdeckt, dass der eigene Mandant unseres Legionärs in gesellschaftswidriger Weise mit einem Konkurrenten kooperiert hat. So graben die beiden Kontrahenten tiefer und tiefer, so tief, dass man in den kommenden Monaten das Grab der Gesellschaft aushebt und alsbald den Konkurs des einst prosperierenden Unternehmens anmelden muss. Noch aber atmet die Gegenseite. Es fließt noch Blut in ihren Adern! Was könnte der junge Legionär noch tun? Solche Geschichten sind gar nicht so selten. Viele Unternehmer erzählen einem abends an der Hotelbar diese oder ähnliche Stories, die meist damit enden, dass alle Beteiligten verloren haben. Alle? Nein, natürlich nicht! Immerhin gelingt es zumindest im Regelfall den Anwälten, das Schlachtfeld mit einer erklecklichen Kriegsbeute in Form von Honoraren zu verlassen. Aber fühlen sie sich wohl nach solchen „Erfolgen“? Meist nicht, wie wir erfuhren, lieber hätten sie oft ein Unternehmen gegründet oder einen Vertrag für eine vielversprechende Kooperation geschlossen. Was hat der Anwalt aber nun falsch gemacht, kann man sich fragen? Und die Antwort ist immer dieselbe: Wir können solche Fälle analysieren, wie wir wollen, doch wir werden kaum Fehler finden, die der energische Kollege aus juristischer Sicht begangen hat. Er hat nämlich nichts anderes gemacht als die „juristische Methode“ angewandt: Er hat gefragt, welche Ansprüche sein Mandant hat, hat diese begründet und das Gericht um Anerkennung seiner Ansprüche ersucht. Damit hat er nichts anderes getan als das, was Hunderttausende von Anwälten auf unserem Planeten tagtäglich tun. Er hat gedacht und gehandelt, wie er es gelernt hat: Er hat den Fall „gelöst“. 2

Einleitung Die Maxime, die dahintersteckt, lautet: „Das Leben besteht aus Rechtsproblemen, suche daher nach Ansprüchen!“ Hören wir einmal, was der berühmte Anwalt und Unternehmer Mark H. McCormack in seinem erhellenden Buch „Die Wahrheit über Anwälte“ zu der juristischen Denkweise sagt: „Anwälte sind dazu ausgebildet und darauf programmiert, Differenzen mit juristischen Mitteln zu bereinigen. Das ist nicht einfach nur ihr Beruf und Lebensunterhalt, es ist die Brille, durch die sie die Welt betrachten. Daher können Sie von einem Anwalt nicht erwarten, dass er ein rechtliches Problem betrachtet und eine gütliche Lösung auf geschäftlicher Grundlage sieht … Die schreckliche Wahrheit ist, Sie können von einem Anwalt nicht erwarten, dass er kein Anwalt ist.“3

Nach McCormacks Meinung liegt das Problem also in der Art und Weise, wie Juristen denken. Das Problem ist somit im juristischen Weltbild, in dem Grundsatz des juristischen Denkens an und für sich zu suchen und bei den Personen, die für die Ausbildung der Juristen verantwortlich sind. Worin besteht aber nun dieses juristische Weltbild genau? Der Doyen der deutschen Soziologie, Niklas Luhmann, selbst Jurist, behauptete, dass die juristische Denkweise vor allem in der Reduktion von Komplexität besteht 4: Durch die Rückführung auf juristische Sachverhalte und justitiable Tatbestände wird aus dem Meer der pulsierenden Lebenswirklichkeit nur das herausgefischt, was sich mit einem juristischen Netz fangen lässt. Alles andere ist von geringem Interesse. Diese Reduktion von Komplexität bedeutet eine Vereinfachung der Betrachtungsweise, eine Entleerung des vollen Lebens. Damit verbunden ist aber auch gleichzeitig die Beschränkung der Lösungsmöglichkeiten für Konflikte auf „juristische Lösungen“. Wie sieht aber nun eine „juristische“ Lösung aus? Ganz einfach: Juristisch gesehen kann in einem Konflikt nur der Teil etwas gewinnen, der eine begründete Forderung, einen Anspruch hat. Die Devise heißt: Anspruch oder kein Anspruch, das ist hier die Frage! Diese „Lösungen“ haben allerdings fatale Auswirkungen: • Anstatt die Zukunft zu regeln, versuchen wir, in der Vergangenheit Fehler der anderen Seite zu finden. • Statt nach gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten für unsere Klienten zu suchen, ist es unser wichtigstes Ziel, der Gegenseite Probleme zu bereiten. • Statt den Konflikt selbst als autonome Persönlichkeit zu regeln, unterwerfen wir uns dem Spruch des „Übervaters“ Richter. 3 McCormack, Die Wahrheit über Anwälte, S. 45/46. 4 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 41, 49 ff., 143 ff.; Das Recht der Gesellschaft S. 54 ff., 565 ff.

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Einleitung Das mag in den Ohren des einen oder anderen geneigten Lesers provokativ klingen. Vielleicht tröstet es Sie, dass auch wir sehr überrascht waren, als wir feststellten, wie sehr problemorientiert und wie wenig lösungsorientiert die Tätigkeit des forensisch-orientierten Anwaltes ist. Diese Feststellung hat uns nicht mehr losgelassen und uns veranlasst, uns auf die Suche nach andersartigen Konfliktlösungen zu begeben. Erfreulicherweise war unsere Ausbeute so reichhaltig, dass Sie uns Stoff für drei Bücher bescherte.5 Worauf beruht nun das juristische Denken? Richtig: auf dem was wir die „juristische Methode“ nennen! Deren grundlegende Frage lautet: Wer kann was von wem aus welchem Rechtsgrund fordern? Oder auch, ein wenig populärer: Wer schuldet wem was aus welchem Rechtsgrund? Wer den Konflikten des Lebens mit dieser Frage entgegentritt, landet zwangsläufig vor dem Richter. Kann man aber mit dieser Frage zukunftsorientiert denken? Hilft sie nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Betroffenen zukünftig zusammenarbeiten können? Können wir mit dieser Fragestellung unter Gleichberechtigten verhandeln, oder hat sie nicht viel eher zum Ziel, es der anderen Partei schon klar zu machen, wer wem was schuldet? Viele Fragen, eine eindeutige Antwort: Die juristische Methode hat eine klare Zielrichtung: Sie führt notwendigerweise auf das juristische Schlachtfeld, und da gibt es eigentlich – außer für die Anwälte – im Regelfall nichts zu gewinnen: „Die schreckliche Wahrheit ist, dass das Nettoergebnis (Anmerkung der Verfasser: des Prozesses) praktisch immer ein Verlust ist. Ein Rechtsstreit schafft keine neuen Reichtümer. Prozesse erschließen keine Ölquellen und bauen keine Bungalows … Prozesse haben nur einen Effekt – und das auch nur manchmal –, nämlich Geld von Partei A zu Partei B zu transferieren.“

Soweit noch einmal Mark H. McCormack und seine Meinung zu den Auswirkungen der juristischen Methode6. Ist denn die juristische Methode gar nichts wert? Wir können Sie beruhigen: Es geht uns nicht darum, die juristische Methode per se zu verdammen. Sie ist, richtig eingesetzt, ein durchaus wertvolles Instrument im anwaltlichen Werkzeugkoffer; genau so, wie ein starkes Schmerzmittel in der Hausapotheke Wunder wirken kann. Aber was würden Sie von einer Hausapotheke halten, in der es nur Schmerzmittel gibt? Nochmals: Die juristische Methode hat durchaus in bestimmten Fällen ihre Daseinsberechtigung, so z.B., wenn die andere Seite nicht zahlen will, wenn 5 Neben diesem Buch haben wir zu diesen Fragen noch die Bücher „Die Streitzeit ist vorbei“ (2004) und „Schlüsselqualifikationen“ (2008) veröffentlicht. 6 A.a.O., S. 236.

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Einleitung es um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung oder um Eilmaßnahmen geht. Die meisten Fälle des juristischen Alltags sind jedoch komplex und können nicht durch den Positionenkrieg der juristischen Methode interessengerecht geregelt werden. Dazu brauchen wir eine andere, eine flexiblere und gleichzeitig komplexere Methode. Wie sieht diese Methode aus? Die Antwort auf diese Frage ist Inhalt dieses Buches. Wir wollen Ihnen eine selbstverantwortliche, lösungs- und zukunftsorientierte Methode, das kooperative Verhandeln nach dem „Friedlinger Modell“, vorstellen: Verhandeln statt Streiten. Nach den Zielen der anderen Seite fragen, aber nicht auf sie zielen. Wir möchten Ihnen in diesem Buch zeigen, wie sie verhindern können, dass die meisten eigentlich harmlosen und lösbaren Konflikte ziemlich rasch vor dem Richter landen. Wir wollen dabei vor allem folgende Fragen beantworten: 1. Wieso finden sich Anwälte, die ihre Fälle streng juristisch lösen, viel schneller in einem Prozess wieder als diejenigen, die über die Interessen statt der Positionen der Parteien sprechen? 2. Wie sieht die „andere“, das heißt lösungs- und zukunftsorientierte Vorgehensweise aus? Mit welchen konkreten, nachvollziehbaren Schritten kann man dabei vorgehen? 3. Welche Weltbilder und Glaubenssätze stehen hinter der Methode des kooperativen Verhandelns? 4. Wie verhandle ich kooperativ und wie gehe ich dabei genau vor? Was wir Ihnen vermitteln wollen, ist im Wesentlichen Anleitung zum Tun. Das kann aber kaum durch induktive Wissensvermittlung gelingen. Besser erscheint es uns, viele Geschichten zu erzählen, in denen Leute etwas tun und daraus dann Schlüsse für das eigene Verhalten zu ziehen oder das Tun einfach zu duplizieren. Wie würden Sie ein Buch über das Erlernen des Radfahrens schreiben? Indem Sie die Geschichte des Radfahrens seit dessen Erfindung durch Karl Drais im Jahre 1817 beschreiben oder die unterschiedlichen Konstruktionen von Fahrrädern? Oder indem Sie erläutern, dass man auf der linken Seite des Rades stehend mit dem linken Fuß auf das linke Pedal steigt und den rechten Fuß über den Sattel schwingt, um ihn dann auf das rechte Pedal zu setzen? Wir haben den zweiten Weg gewählt und ein Buch aus der Praxis für die Praxis geschrieben, das Sie ohne große Anstrengungen in die Hand nehmen können. Ein Buch, das Sie auch unter Palmen oder in der Sandburg lesen können. Deshalb haben wir die Theorie mit vielen Anekdoten und praktischen Beispielen aufgelockert. Es war unser Wunsch, Ihnen ein Buch zu präsentieren, das leichtverdaulich ist, ohne oberflächlich zu sein. Wir haben auch gelegentlich simplifiziert oder versucht, den Leser durch Provokation aufzurütteln. Es war aber immer unsere Absicht, dies nicht aus Selbstzweck zu tun, sondern im Dienste der Sache. Wir möchten dazu bei5

Einleitung tragen, dass Anwälte ihre Mandanten nicht nur auf das Schlachtfeld führen, sondern ihnen auch den Platz an der Sonne zeigen. Dort, wo es genügend „Recht“ für alle gibt.

2. Wie wir dieses Buch geschrieben und wie wir dabei Kooperation gelernt haben Uns beiden wurde rasch klar, dass das Schreiben dieses Buches kein leichtes Unterfangen sein würde. Aber nachdem wir das Buch fertig gestellt hatten, war uns klar, dass unsere Thesen stimmen: Wir haben sie nämlich bei unserer Arbeit als Autoren selbst immer wieder angewendet, um das Schiff, das gelegentlich auf Grund lief, wieder flott zu machen. Deshalb möchten wir Sie ein wenig in den Entstehungsprozess dieses Buches einweihen, bei dem wir unsere eigenen Thesen erproben mussten. Die erste Klippe, die wir zu umschiffen hatten, war die Tatsache, dass wir beide ziemlich unterschiedlichen Charakters sind: Adrian ist eher ein visionärer, kreativer Mensch, der in ganz kurzer Zeit sehr viele Ideen produzieren kann. Er ist ein Mensch, der gerne provoziert, verwirrt und ausführlich, dramatisierend und multidimensional erklärt. Er denkt sehr strukturiert, aber die Struktur folgt eher lateralen Gesetzmäßigkeiten als linearen. Zudem liebt er es, nicht induktiv, sondern deduktiv zu erklären: Er liefert nur das Lehrformat, lernen müssen die andern selbst. Reiner ist eher ein bedächtiger, genauer Mensch, der lieber versöhnt als provoziert. Er liebt realistische, anpassbare Lösungen und steht mit vordergründig unstrukturierten Gedanken auf Kriegsfuß. Er erklärt gerne wissenschaftlich exakt. Sicherlich eine interessante Kombination. Nur: Wie bringt man diese beiden Charaktere zwischen zwei Buchdeckel? Um das herauszufinden, sind wir verschiedene Wege, auch Irrwege, gegangen. Hätten wir am Anfang schon genau den Inhalt des Buches gekannt, so hätten wir uns folgende Fragen gestellt: 1. Was sind Eure persönlichen Interessen? 2. Wie könnt Ihr diese persönlichen Ziele erreichen und dabei auch die Interessen des anderen wahren? 3. Welche Fähigkeiten hat der eine, die der andere nicht hat? Wie könnte man diese Ressource nutzen, um den Zielen beider Seiten näher zu kommen? 4. Wie soll der Weg vom Start zum Ziel aussehen? Welche Schritte sind dabei zu gehen? Wann und wo wollen wir beginnen? Und vor allem: 5. Welche bindende Vereinbarung stellt sicher, dass wir unser gemeinsames Ziel erreichen? Intuitiv sind wir diesen Weg gegangen, ohne ihn damals schon genau zu kennen: 6

Einleitung Der erste Schritt bestand darin, dass wir uns an einem lauen Sommerabend im Jahre 1994 auf der Terrasse des Café Monopteros am Rande des Englischen Gartens in München zusammensetzten, um unsere Ziele auf Karten zu schreiben, die wir dann auf einem großen, leeren Tisch ausbreiteten. Auf diese Art und Weise lernten wir unsere individuellen Ziele kennen. Die Offenheit bei der Zielformulierung erleichterte später das Schreiben sehr. Wir wussten, was der andere mit der Arbeit beabsichtigt. So konnten wir uns gegenseitig leichter unterstützen, wo wir es nötig hatten, oder uns verzeihen, wenn wir uns zu sehr über den anderen geärgert hatten. Neben den persönlichen Zielen gab es auch gemeinsame Ziele: Wir wollten dem juristischen Streiten, wie es immer noch in großem Umfang betrieben wird, ein anderes, ein kooperatives Modell zur Seite stellen. Ein Modell, das keine Verlierer produziert, weil es nicht danach trachtet, sich gegenseitig die Ansprüche streitig zu machen, sondern danach fragt, was die wirklichen Interessen hinter unseren Positionen sind, und uns Wege aufzeigt, wie wir diese Interessen verwirklichen können. Als nächstes verhandelten wir darüber, was aus der großen Menge an Stoff tatsächlich in das Buch hinein sollte. Zunächst versuchte jeder natürlich, seine Ideen durchzuboxen. Sehr bald merkten wir aber, dass es so nicht funktionieren konnte. Also fragten wir uns, welche Ziele hinter unseren Themenwünschen steckten und wie wir es schaffen könnten, diese Ziele im Buch darzustellen. Nach gut 20 Stunden amüsanter, lehrreicher Arbeit hatten wir ein Inhaltsverzeichnis ausgearbeitet, dem wir beide zustimmen konnten. Nun konnte endlich das Schreiben beginnen: Wie aber wollten wir dabei vorgehen? Wir vereinbarten als erstes, wer welche Teile des Buches schreiben sollte. Vorgesehen war, dass wir nach der ersten Niederschrift unsere Kapitel austauschen und der andere dann das jeweilige Kapitel lesen, korrigieren und mit seinen Gedanken ergänzen sollte. Ohne es damals bemerkt zu haben, wandten wir das sogenannte „Ein-TextVerfahren“ an, das auch bei den Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel im Camp David zum Erfolg führte. Das Verfahren besteht darin, dass eine der Parteien einen Entwurf zur Lösung des Problems, auch einen Vertrag, anfertigt und diesen dann der anderen Partei zustellt. Die andere Seite prüft den Entwurf, passt ihn ihren Vorstellungen an und schickt ihn an die erste Partei zurück. Diese überarbeitet ihrerseits den überarbeiteten Entwurf und schickt ihn dann wieder an die andere Partei zurück, die dasselbe tut. Dieses Verfahren wird so lange wiederholt, bis beide mit dem gemeinsamen Produkt einverstanden sind. Das ist die Basis der Einigung. Auf diese Art und Weise entstand der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten. Doch was in der großen Geschichte funktioniert, kann in der kleinen, privaten, persönlichen Geschichte manchmal recht schwierig sein. 7

Einleitung Folgendes geschah nämlich: Reiner erhielt die kreativ-provokativ geschriebenen Kapitel von Adrian. Er las sie durch, seufzte und dachte sich: „Das ist viel zu frech. Das vergrault uns die ganze Leserschaft.“ Und er strich umgehend sämtlichen „Pfeffer“ (aus der Sicht von Adrian) und machte aus dem Entwurf ein „ordentliches“ Kapitel. Adrian seinerseits erhielt die strukturiert-kognitiven Kapitel von Reiner und langweilte sich zu Tode. Er sagte: „Das darf doch nicht wahr sein. Da schläft uns die gesamte Leserschaft ein!“, und er begann, Reiners Kapitel zu dramatisieren, wo er nur konnte. Dadurch verloren die Kapitel Struktur und Stringenz (aus der Sicht von Reiner). Nun tauschten wir beide die Kapitel aus und waren entsetzt: „Wie kann man diese wunderschönen Formulierungen einfach so streichen! So geht es aber nicht!“ Und sofort stellte jeder wieder den ursprünglichen Zustand her. Als wir dann die wieder in den Urzustand versetzten Texte erhielten, merkten wir schnell, dass wir so nicht weiterkämen. Wir mussten erneut verhandeln. Dabei fanden wir heraus, dass wir die Texte des anderen nur mit den eigenen Augen gelesen hatten und meinten, die Welt sei genau so, wie wir sie sehen und der andere sollte sie gefälligst auch so sehen. Doch die Wirklichkeit anderer Menschen ist eben meist anders als die eigene und so lernten wir – spätestens an diesem Punkt – die Bedeutung des Satzes kennen, der in unserem Buch immer wiederkehrt: „Die Landkarte ist nicht das Gebiet!“ Wir änderten also die Schreibprozesse so ab: In einem ersten Schritt sollte jeder genau so schreiben, wie er es für richtig hielt. Das Gleiche sollte auch für den „Zweit-Autor“ gelten, der das Produkt des „Erst-Autors“ erhielt. Derjenige, der sein Werk nun verändert zurückerhielt, musste sich verpflichten, bei seiner erneuten Überarbeitung nicht mehr den ursprünglichen Text heranzuziehen und auch die Änderungen nicht über den Änderungsnachweis des Computers nachzuverfolgen. So ging der Text hin und her und jeder korrigierte oder ergänzte immer nur den überarbeiteten Text. Dieses Verfahren bewährte sich sehr gut, und bald hielten wir ein Buch in den Händen, das nicht in allen Einzelheiten dem entsprach, was sich jeder von uns darunter vorgestellt hatte, aber zu 100 % unseren Absichten: Wir wollten die Gründe aufzeigen, warum Anwälte so oft kompetitiv vorgehen. Dabei wollten wir es aber nicht belassen. Denn wir haben auch ein Buch geschrieben, das zeigt, wie kooperatives Verhandeln möglich wird. Sieben leicht nachvollziehbare Schritte können Legionäre zu Unterhändlern machen. Letztlich haben wir ein Buch geschrieben, das aus rationaler Sicht sowohl dem Wohle des Mandanten als auch dem Wohle des Anwalts dient. Und ist es nicht auch genau das, was Sie wollen, wenn Sie ein Mandat übernehmen? 8

Einleitung Noch eine kleine Erläuterung zur Handhabung des Buches: Wir haben das Buch hauptsächlich in der Wir-Form geschrieben, weil unsere Erfahrungen und Überzeugungen großteils identisch sind. Wenn aber einer von uns über persönliche Erlebnisse berichtet, hat der Autor des ursprünglichen Textes die Ich-Form gewählt. Vielleicht macht es Ihnen auch Spaß herauszufinden, welche Geschichte von welchem Autor stammt? Sperrte sich das Muli, von dem die Rede sein wird, auf einer bayerischen Alm oder einer schweizerischen Alp? Damit sind wir schon beim letzten Hinweis: Das Buch ist ein Buch, das ein Schweizer und ein Deutscher geschrieben haben. Dem deutschen oder dem Schweizer Leser wird dabei gelegentlich auffallen, dass wir Begriffe verwenden, die typisch „deutsch“ oder typisch „schweizerisch“ sind und in der Umgangs- und Fachsprache des anderen Landes nicht vorkommen (so werden sich die einen fragen: „Was zum Kuckuck ist denn eine „Moderationskammer“, die anderen: „Meine Güte, was ist ein „Senat“). Gerade das finden wir aber reizvoll, denn dieses Buch soll sie anregen, einige Schritte in den Schuhen des anderen zu gehen und damit jenseits aller begrifflichen Sprache dem näher zu kommen, was wir Gewinner/Gewinner-Lösungen nennen. So gesehen, ist es in begrenztem Umfang auch ein interkulturelles Buch.

3. Gebrauchsanweisung für dieses Buch Dieses Buch ist keineswegs nur für Juristen oder gar nur für Rechtsanwälte geschrieben. Auch andere Menschen, die Gefallen an der Eskalation von Konflikten haben, könnten sich dafür interessieren, was bei dieser Form von Auseinandersetzung im Regelfall herauskommt. Die Konfliktlösung durch Kampf ist nämlich keine Eigenschaft, die vornehmlich Juristen auszeichnet, sondern zu den ursprünglichen Verhaltensweisen des Menschen gehört, der im Regelfall bei Streitigkeiten nur die Wahl zwischen Kampf und Flucht hatte. Da die kulturelle Entwicklung dem Menschen verboten hat, das Konfliktproblem mit dem Schwert zu lösen, die Lust zum Kampf aber nicht in gleichem Maß abgenommen hat, greift der kampfeslustige Mensch nun auf das Surrogat des Kampfes zurück: den Prozess. Zwangsläufig bedient er sich dabei auch des Truppenersatzes, nämlich der Rechtsanwälte. Die Auseinandersetzung mit den Glaubenssätzen der juristischen Methode, die Darstellung der Verhandlungsstile, der Vorbereitungs- und der Verhandlungsphase einer Verhandlung fordern daher allgemeine Gültigkeit. Zwar sind die Anwendungsgebiete des Verhandelns unterschiedlich, die Grundprinzipien sind jedoch immer die gleichen, das gilt sowohl für den beruflichen als auch für den privaten Bereich. Verhandeln ist eben Verhandeln. In Teil 1 machen wir Sie mit den Auswirkungen der juristischen Methode vertraut. Wir haben in Dr. Attila von Streidt einen hervorragenden Vertreter 9

Einleitung dieser Methode eruieren können, die er sehr plastisch anhand seiner Glaubenssätze über das Wesen anwaltlicher Tätigkeit präsentiert. In Teil 2 folgt dann eine Darstellung des kooperativen Verhandelns als Alternative zur juristischen Methode. Zu diesem Zweck entführen wir Sie in die Welt des Kollegen Dr. Austin Cooper und sehen, wie dieser mit völlig anderen Glaubenssätzen an den gleichen Fall herangeht, den zuvor schon Dr. von Streidt „gelöst“ hat, allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. Im 3. Teil stellen wir uns die Frage, welche Verhandlungsmethode die erfolgreichste ist, und werden insbesondere das kompetitive Verhandeln dem kooperativen Verhandeln gegenüberstellen. Die Bedeutung, die wir der Vorbereitung einer Verhandlung beimessen, ergibt sich daraus, dass wir ihr einen ganzen Teil gewidmet haben (4. Teil). Durch die Wiedergabe der Gespräche zwischen dem Anwalt Dr. Cooper und seinem Mandanten Sacksberger haben wir die Möglichkeit zu sehen, wie Dr. Cooper die Verhandlung umfangreich vorbereitet. Wir geben Ihnen in diesem Teil acht Punkte an die Hand, deren Beachtung für die Vorbereitung einer Verhandlung wichtig ist. In leicht lesbarer Verpackung erhalten Sie in den Kapiteln des 4. Teils Grundkenntnisse über Techniken der Kommunikation wie Synchronisieren, aktives Zuhören und Wechsel von Wahrnehmungspositionen. Im 5. Teil schildern wir dann die Verhandlung zwischen den Anwälten Dr. Cooper und Dr. von Streidt, deren Vorbereitung durch Dr. Cooper wir Ihnen im vorhergehenden Teil dargestellt haben. Anhand des Vorgehens von Dr. Cooper eruieren wir die sieben Schritte erfolgreichen Verhandelns und erläutern sie im Einzelnen. In Teil 6 fassen wir dann alle unsere Werkzeuge zusammen und erklären auch, was wir wo abgeschrieben und was wir selbst erfunden haben. Und zum Abschluss haben wir Dr. Cooper noch einmal dafür gewinnen können, im 7. Teil zu erläutern, welche Möglichkeiten und Techniken es gibt, besonders schwierige Verhandlungssituationen zu bewältigen. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Studium des „Friedlinger Modells“ für kooperatives Verhandeln!

4. Wie das Buch aufgenommen wurde und was wir seitdem hinzugelernt haben! Wie wurde das Buch aufgenommen? Das Buch ist zu unserer großen Freude sehr gut aufgenommen worden. Sicher auch zur großen Freude unseres Verlegers Dr. Karl-Peter Winters, der seine Entstehung sehr unterstützt hat. Wie wir erfahren haben, wurde es zu einer der meistverkauften Monographien des Verlages. Der Erfolg ist nicht selbstverständlich, da wir für unsere Abweichungen von der „wahren Lehre“ auch einige Kritik einstecken mussten. Als wir einige unserer Ideen 10

Einleitung bei dem Kongress „Verhandeln und Mediation“ 1997 an der Uni Tübingen vorgestellt haben, sind wir knapp der Steinigung entgangen (allerdings kam von einigen Teilnehmern auch begeisterte Zustimmung). Nicht viel besser war unser Auftritt bei einer Veranstaltung des Bernischen Juristenvereins in Bern im Jahre 1999, über den im Jahresbericht des Vereins Folgendes steht: „Ungewohnt waren dann sowohl Inhalt und Stil der Präsentation der Herren Schweizer und Ponschab zu Fragen der Mediation. Schweizer behandelte die Konfliktlösungsmuster der Konfrontation; auch Kapitulation und Kamikaze erwähnte er, vor allem aber Kooperation. Eher nicht zur lobenden und in unserem Kreise vielleicht erwarteten Ode geriet ihm dann aber die scharfe Kritik der juristischen Methode. Nach Ponschab ist der Erfolg des Anwaltes nicht an seinen Prozessen zu messen, sondern vielmehr an den aussergerichtlich ermittelten, gemeinsamen Interessen. Glücklich waren wir dann über das Referat von …“.

Aber es gab nicht nur Kritik, im Gegenteil, die weitgehend positive Aufnahme – vor allem durch die juristischen Praktiker – hat uns gefreut und bestätigt. Erhobenen Hauptes präsentieren wir dem geneigten Leser daher die vollständig überarbeitete und ergänzte 2. Auflage. An unseren Gedanken haben wir nichts verändert, aber vielfach unsere Argumentation vertieft und die in der 1. Auflage verborgene „Wissenschaftlichkeit“ stärker hervortreten lassen. Unser Schreibstil hat uns nämlich gelegentlich die Kritik eingetragen, dass wir nicht wissenschaftlich seien! Wir hatten den Umstand unterschätzt, dass viele Argumente mehr gelten, wenn man zeigen kann, dass sie auf gescheiten Gedanken anderer Menschen beruhen. Dachten wir doch, dass gute Gedanken für sich alleine sprechen! Kommen nicht die wichtigsten Werke der Menschheit ganz ohne Fußnoten aus, von der Bibel über den Koran bis zum Tao-te-king, dem Vermächtnis des Li-Ör mit dem ehrenden Beinamen Lao-Tse7? Die gelegentlich auftauchende Frage nach der „Wissenschaftlichkeit“ unserer Argumentation hat uns gelehrt, dass unser Werk ganz offensichtlich noch nicht die Bedeutung der vorstehend genannten Werke erreicht hat. Daher in dieser Auflage also Fußnoten. Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof, hat unsere Schreibe am Schluss auf Stringenz überprüft, redigiert, lektoriert und da und dort noch Fußnoten nachgetragen. Das Buch hat sich auch zu einer Argumentationshilfe für diejenigen entwickelt, die nicht an die Wirksamkeit des juristischen Werkzeugkastens zur Lösung von Konflikten glauben, weil sie erkannt haben, dass die Ent-

7 Das „Tao-te king“ konnte auch schon aus einem praktischen Grund keine Fußnoten tragen: Der Meister schrieb seine Sprüche auf seiner Wanderung gen Westen beim Überschreiten der Grenze Honans auf Bitten seines Schülers Jin-Hi, dem Kommandanten der Grenzfestung, in Eile nieder. Sekundärliteratur hatte er nicht in seinem Rucksack. Eine populäre Version der Entstehung des Buches hat Bertolt Brecht mit dem Gedicht „Legende von der Entstehung des Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ aus dem Jahre 1938 verfasst.

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Einleitung scheidung über Konflikte keine Konflikte löst. Sinngemäß können Sie sagen 8: „Die juristische Methode ist fehler- und vergangenheitsorientiert, sucht nach Details der Vergangenheit anstatt nach Visionen für die Zukunft und lässt die Parteien nicht selbst über ihr Schicksal entscheiden, sondern gibt diese Aufgabe in fremde Hände. Anstatt den Parteien zu helfen, ein gemeinsames Morgen zu schaffen, bewertet und beurteilt sie das Geschehen von gestern.“

Die neuen Wege, die wir meinten aufzeigen zu sollen, sind von vielen Lesern mit Begeisterung aufgenommen worden. Nicht nur unter Anwälten, sondern auch unter Managern. Ich erinnere mich an ein Gespräch bei einer Firma im Badischen, wo mir der Leiter der Personalentwicklung von einem Buch erzählte, mit dem er seinen Verkaufsaußendienst mit großem Erfolg geschult hätte. „Wissen Sie, das Konzept des Synchronisierens, das da erläutert wird, hat uns sehr überzeugt und es fiel uns auch ganz leicht, es aus dem juristischen Kontext in das Geschehen an der Verkaufsfront zu übersetzen!“

Als er mir das Buch auf mein Bitten hin zeigte, war ich sehr erstaunt, dass es sich um die „Kooperation“ handelte, und er war seinerseits mehr als verblüfft, als ich das Foto auf der Rückseite neben mein Gesicht hielt! Um den Gebrauchswert des Buches weiter zu erhöhen, haben wir nun neben dem sehr praktisch ausgerichteten Teil „Die Kunst des Fragens“ auch ein Kapitel über weitere Techniken (Teil 6) hinzugefügt, in welchem wir fast alles, was wir über angewandte, kooperative Kommunikation wissen, zusammengestellt haben. Wie ist der Bezug des kooperativen Verhandelns zur Mediation? Kaum war das Buch auf dem Markt, etablierte sich in Deutschland die Mediation. Wie Sie vielleicht bei der Lektüre bemerken werden, kommt das Wort „Mediation“ im Buch nicht vor. Das ist kein Zufall, sondern Absicht, da wir der Meinung waren, dass Mediation Verhandlungshilfe ist und somit nichts anderes als eine Anwendung unserer im Buch vorgestellten kooperativen Methode: Die Rolle des Dr. Cooper wird an einen Dritten, den Mediator, delegiert. Da diese Erkenntnis aber noch nicht Allgemeingut ist, haben wir mit „Die Streitzeit ist vorbei“ ein Buch nachgereicht, das schildert, wie die Methodik der „Kooperation“ für die Mediation genutzt werden kann. Das Buch hat sich ebenfalls sehr gut etabliert und wird mittlerweile in vielen Ausbildungen genutzt.

8 Diese Erkenntnis mag wohl von Schlieffen (Vom Rechtsstaat in die Weltgesellschaft des Verhandelns, S. 13 f.) veranlasst haben zu schreiben, dass unser Buch eine pointierte Fundamentalkritik der juristischen Methode darstelle und den Startschuss zu einer breiten Diskussion über die Wirksamkeit der juristischen Methode bilde.

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Einleitung Wie kam der Infotainment-Stil an? Ebenfalls Neuland hatten wir betreten mit der Art und Weise, wie wir unser Wissen weitergegeben haben: Wir haben uns erlaubt, kein juristisches Lehrbuch zu schreiben, sondern Geschichten zu erzählen. Das hat unseren Lesern eine entspannte Lektüre erlaubt. Viele schrieben uns tatsächlich, dass sie das Buch am Strand oder in der Badewanne gelesen haben. Auf unsere Frage, wie effektiv denn eine solche Lektüre gewesen sei, hörten wir etwa von unserem Freund und Kollegen Dr. Fritz Rothenbühler aus Bern folgende Schilderung, die wir stellvertretend für andere gerne wiedergeben: „Als praktizierender Anwalt hatte ich natürlich keine Zeit, das Buch unter der Woche zu lesen, und auch am Wochenende hatte ich mir die Lektüre wohl mehrfach vorgenommen, aber es dann aber doch nicht geschafft, da ich auch noch etwas Zeit für meine Kinder haben wollte. Dafür habe ich es dann in den Ferien am Strand in Kenia gelesen und mich köstlich amüsiert an der Art und Weise, wie Austin Cooper die Fälle löst. Wie ich dann am Montag nach den Ferien in die Kanzlei zurückgekommen bin, habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass ich wohl zum ersten Mal einem Klienten nicht gleich von Anfang an einen juristischen Rat gegeben, sondern ihn nach seinen Zielen gefragt habe. Das fand ich schon erstaunlich. Aber noch Verblüffenderes fand dann einige Wochen später statt: Ich war in einer Verhandlung an dem berühmten Punkt angekommen, wo nichts mehr geht. Alle hatten ihre Standpunkte dargelegt und keiner von uns wollte weichen. Bleiern hing die Zeit im Raum. Dann kam mir plötzlich Cooper in den Sinn, wie der immer und immer wieder zusammenfasst, was die Gegenseite gesagt hat, und ich habe es einfach probiert. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind Sie der Meinung, dass …!“ Und oh Wunder, die Gegenpartei nickte, lächelte und plötzlich ging es weiter. Am Abend habe ich dann ins Büchergestell gegriffen und nachgelesen, wie es wirklich geht, das, was Ihr als „backtracking“ bezeichnet, und seit damals ist diese Technik in meinem Repertoire. Später ist es mir dann immer wieder passiert, dass mir in einer Verhandlung irgendeine Szene aus Eurem Buch in den Sinn gekommen ist und ich bewusst oder unbewusst die dort dargestellte Technik angewendet, und oh Wunder, festgestellt habe, dass sie wirkt! Am Abend habe ich dann jeweils im Buch nachgelesen und hatte eine weitere Technik in meinem Werkzeugkasten, die mich zu einem noch besseren Verhandler macht. Und das, das muss ich ehrlich sagen, ist mir bis jetzt mit keinem anderen Buch geschehen!“

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Einleitung Was sind die wichtigsten neuen Erkenntnisse? Eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Zeit war die „Entdeckung“ des Rades der klassischen Konfliktregelung:

litigation/arbitration verurteilen RECHT

annihilation vernichten MACHT

INTERESSEN conciliation vorschlagen

negotiation verhandeln

konfrontativ kooperativ

mediation vermitteln Rad der klassischen Konfliktlösungsformen

Wir werden weiter unten noch vertieft darauf eingehen 9. Wichtig scheint an dieser Stelle Folgendes: Konfliktregelung durch Macht erfolgt durch unfreiwilliges Nachgeben oder die Angst des Schwächeren: Ich mache, was der andere will, weil er mir sonst „die Haare kürzt“. Konfliktregelung durch Recht funktioniert durch Zwang: Wenn ich nicht tue, was der Richter anordnet, werden mich seine Sendboten (z.B. Gerichtsvollzieher) dazu zwingen. In der Konfliktregelung durch Interessenausgleich, zu der die Mediation und das kooperative Verhandeln gehören, fallen die äußeren Motivatoren weg, die mich zu einem bestimmten Verhalten veranlassen. Was tritt an ihre Stelle? Eine innere Motivation, die man wohl auch „Erkenntnis“ oder „Lernen“ nennen kann. Wann findet nun „Erkennen/Lernen“ statt? Nur dann, wenn der Weg nach innen nicht durch den vermeintlichen Feind von außen abgelenkt wird! Und das ist selten der Fall in der eigentlichen Verhandlung, sondern findet vor allem statt in der Vorbereitungsphase, wenn wir als Anwalt mit dem Mandanten die Verhandlungsstrategie entwerfen. In dieser Phase scheint es uns für die Ermöglichung dieses „Lerneffekts“ entscheidend, 9 Siehe unten Teil 2, 3.2, S. 78 ff. und Teil 6, 1., S. 209 ff.

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Einleitung a) dass der Anwalt in der Lage ist, den Mandanten durch die vier Wahrnehmungspositionen 10 zu führen, d.h. aus dem Kopf (kognitiv) in den Bauch (somatisch) und zurück oder, um es etwas „wissenschaftlicher“ auszudrücken, vom dissoziierten Denken zum assoziierten Fühlen und zurück zu begleiten; b) dass der Anwalt in der Lage ist, den Mandanten die logischen Ebenen11 hinauf- und hinunterzuführen, da ein Problem nie auf derselben Ebene gelöst werden kann, auf der es entstanden ist. Konfliktlösung und dort vor allem kooperatives Verhandeln und Mediation sind, so wie wir es heute sehen, der Einstieg in den Paternoster der logischen Ebenen; c) wenn wir nachhaltige Lösungen haben wollen, dann kommen wir in der praktischen Anwendung von Ken Wilber’s AQAL-Modell12 nicht darum herum, dem Mandanten folgende Fragen zu stellen, die er dann alle mit „Ja!“ beantworten muss: 1. Fühlt sich diese Lösung für Sie gut an? (Wahrhaftigkeit, 1st position) 2. Fühlen Sie, dass die andere Partei sich mit dieser Lösung auch gut fühlen wird? (Gerechtigkeit, 2nd position) 3. Woran wird man erkennen können, dass diese Lösung den Konflikt beseitigt haben wird? (Wahrheit, 3rd position) 4. Erfüllt das System die ihm zugedachte Funktion mit dieser Lösung auch weiterhin? (funktionelles Passen, 4th position) Zusammengefasst heißt das vermutlich: Wer als kooperativer Verhandler Erfolg haben will, sollte sich neben sieben Jahren in Jurisprudenz, einigen Wochen in kooperativem Verhandeln oder Mediation, auch noch ein wenig in Coaching ausbilden lassen!13 Das wär’s für den Moment. Lassen Sie uns mit der Moritat von Dr. Cooper beginnen. Der erste Akt heißt: Rock am See! Viel Vergnügen!

10 11 12 13

Siehe unten Teil 6, 6., S. 238 ff. Siehe unten Teil 6, 5., S. 236 f. Siehe unten Teil 6, 11., S. 261 ff. Hinweise und Hilfe für solche nicht-juristischen Ausbildungen findet der interessierte Leser etwa unter www.firm-web.de oder www.eucon-institut.de/akade mie.html.

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Teil 1 Die Tradition: Konfliktentscheidung nach der juristischen Methode 1. Rock am See oder: Dr. von Streidt schlägt zu In Bad Friedlingen, der bekannten Kleinstadt im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet, praktizieren mehrere Anwälte. Einer davon ist Dr. Austin Cooper, Citroën-DS-21-Fahrer und weitgereister Anhänger der in großen Teilen des Landes noch unbekannten Methode des „kooperativen Verhandelns“. Er praktiziert erst seit einigen Monaten in Bad Friedlingen. Mit ihm werden wir uns später noch eingehender befassen. Zuerst wenden wir uns einem anderen, alteingesessenen Bad Friedlinger Anwalt zu, einem Anwalt, der an den besten Universitäten studiert hat und großes Ansehen auf nationalem und internationalem Parkett genießt. Er trägt einen großen Namen. Er stammt aus dem Geschlechte derer von Streidt. Dr. Attila von Streidt ist ein Anwalt, der stolz darauf ist, alle Konflikte streng „de arte iuris“ zu lösen. Sein Leitspruch, der an der Wand seines mit modernen Möbeln von Charles und Ray Eames bestückten Besprechungszimmers hängt, lautet deshalb: „Was den alten Römern recht war, kann uns nur billig sein“. Mit diesem Spruch im Kopf und viel kämpferischem Blut in den Adern hat er es weit gebracht. Er nennt einen Jaguar Double Six, eine Villa am Stadtrand mit angegliederter Kanzlei, ein Rustico im Tessin und 21 Aufsichtsratssitze sein Eigen. Er ist, wie es sich für einen guten Anwalt gehört, mit einer Tochter aus allerbestem Fabrikantenadel verheiratet. Schauen wir einmal zu, wie Dr. von Streit arbeitet, etwa an einem Tag im Frühsommer. Die Sonne strahlt bereits kräftig auf Bad Friedlingen. Dr. von Streidt erhält auf Empfehlung eines Parteifreundes Besuch von Dr. Seelig. Dr. von Streidt begrüßt Dr. Seelig mit einem kräftigen Handschlag und bietet ihm einen Tropfen aus eigenem Anbau als Willkommenstrunk an. Dr. Seelig nimmt einen kräftigen Schluck und beginnt zu erzählen: „Es geht um ein Grundstück am Friedlinger See, Dr. von Streidt, das mir sehr am Herzen liegt. Das Grundstück hat direkten Seeanstoß, und meine Familie und ich verbringen unsere Wochenenden dort draußen. Meine Kinder baden gerne im See, meine Frau bräunt sich dort liebend gerne, und ich erhole mich vom Arbeitsstress. Sie müssen wissen, ich leite eine Werbeagentur in der Stadt, und das zehrt manchmal schon sehr an den Nerven.“ Der Anwalt nickt. „Die Story kenne ich“, denkt er, „nun wird gleich ein ‚Aber‘ auftauchen, höchstwahrscheinlich in der Form eines Nachbarn, 17

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Die Tradition

schrecklichste Taten

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der an jedem Wochenende wüste Orgien auf dem Nachbargrundstück feiert“. Und tatsächlich, das „Aber“ kommt: „Alles wäre toll, wenn da nicht Dr. Rödelmeier wäre. Rödelmeier ist der Eigentümer des Nachbargrundstückes. Er hat zwei Söhne, die sind im besten Flegelalter und die wissen an den Wochenenden tatsächlich nichts Besseres zu tun, als sich mit anderen Rüpeln aus der Stadt im Strandhaus meines Nachbarn zu treffen und dort mit ihren Musikinstrumenten zu üben. Dabei inszenieren sie den schrecklichsten Lärm, den man sich nur vorstellen kann. Ein Gejohle und Gekreische von unvorstellbarer Disharmonie!“ „Kein Problem, Dr. Seelig! Dem Rödelmeier werden wir es zeigen. Ich erinnere mich an einen Fall, der ähnlich gelagert war. Damals hat ein Kollege zuerst zu schlichten versucht, aber das hat nur weiteres Ungemach gebracht. Ich habe den Fall dann übernommen und gleich richtig zugeschlagen. Eine Wischi-Waschi-Haltung bringt da nichts. Ich empfehle deshalb, dass wir Dr. Rödelmeier gleich verklagen. Ein Schuss vor den Bug bestimmt die Richtung des Schiffes. Zuerst müssen wir aber noch Beweisstücke sammeln.“ Dr. Seelig nimmt nun an den kommenden drei Wochenenden den „schrecklichen Lärm“ auf Tonband auf und lässt den Lärm messen. Beim dritten Termin ist auch eine Urkundsperson anwesend. Dr. von Streidt reicht daraufhin die Klage ein. Dr. Rödelmeier besorgt sich nun seinerseits einen Anwalt, und dieser, clever wie er ist, schießt zurück und reicht eine Widerklage ein: Er behauptet, dass es sich bei den Bäumen auf dem Grundstück von Dr. Seelig keinesfalls um geschützten „alten, gewachsenen Bestand“ handle, sondern dass die meisten Bäume noch nicht einmal zehn Jahre alt und von Dr. Seelig nur gepflanzt worden seien, um seinem Mandanten den Platz an der Sonne streitig zu machen. Sein Mandant habe einen Anspruch auf sofortige Beseitigung oder zumindest vorschriftsgemäßes Kappen der Bäume und verlange, dass dies innerhalb eines Monats geschehe. Die angebliche Lärmbelästigung sei selbstverständlich absolut innerhalb der Norm, die Seelig zu ertragen habe. Zudem komme der vermeintliche Lärm nicht aus seinem Garten, sondern zweifelsfrei vom benachbarten Strandbad. Auf diesen ersten Schriftwechsel folgt ein Einigungsversuch vor dem Richter, der aber erfolglos bleibt. Beide beharren auf ihren Standpunkten, und der Richter ordnet einen weiteren Schriftwechsel an. Er weist die Parteien zudem an, ihre Anliegen besser zu begründen. Dr. Attila von Streidt rät nun Dr. Seelig, sich zu überlegen, ob er sich von Rödelmeier sonst noch in seinen nachbarlichen Rechten verletzt fühle, und gemeinsam finden sie heraus, dass Rödelmeier seine Hecke, die die beiden Grundstücke trennt, 50 cm zu nah an die Grundstücksgrenze gepflanzt hat. Dr. von Streidt rügt diesen Sachverhalt vor Gericht, worauf die Gegenpartei 19

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herausfindet, dass der Bootssteg, den Dr. Seelig letztes Jahr gebaut hatte, nicht bewilligt war. Dr. von Streidt kann durchsetzen, dass Dr. Rödelmeier die Hecke vorschriftsgemäß zurückpflanzt, der Bootssteg kann wegen einer Gesetzeslücke stehen bleiben. Gegen den Bau einer die beiden Grundstücke endgültig trennenden, hässlichen Betonmauer, die Dr. Rödelmeier darauf errichten lässt, kann nichts unternommen werden. Für diese Schandtat musste sich Dr. Seelig rächen. Gemeinsam mit seinem Anwalt findet er heraus, dass … Dieser Fall ist selbstverständlich erfunden. Aber wer hat nicht schon ähnliche Fälle in seiner eigenen beruflichen Praxis erlebt? Fälle, die anfangs ganz einfach und harmlos erscheinen und sich tagtäglich zu immer größeren Monstren entwickeln. Einer scheinbaren Logik gehorchend, die sich unserem Zugriff entzieht. Was aber hat Dr. von Streidt falsch gemacht, dass der Fall einen solchen Ausgang genommen hat? Nichts! Er hat nur „de arte iuris“ gehandelt, so wie es sich eben für einen Anwalt gehört: Er hat für seinen Mandanten Ansprüche gefunden, diese sachkundig begründet und die gegnerischen Ansprüche kunstgerecht entkräftet. Vor der Moderationskammer (Aufsichtskammer der Anwälte) würde er mit reiner Weste dastehen. Die meisten Kollegen würden seiner Vorgehensweise zustimmen und sagen: „Wenn ich den Fall hätte lösen müssen, hätte ich es vielleicht nicht genau gleich, aber doch ähnlich gemacht.“ Ein vernünftiger Geschäftsmann würde sich an den Kopf greifen und sagen: „Seid ihr denn verrückt? Ein solches Resultat kann man doch nicht mit ruhigem Gewissen stehenlassen! Da ist doch etwas vollkommen schiefgelaufen!“ Was aber ist schiefgelaufen? Hätte Dr. Seelig einen anderen Anwalt nehmen sollen? Die Gefahr, bei diesem Versuch auf einen Kollegen zu treffen, der ähnlich denkt und handelt, wäre ziemlich groß gewesen – denn fachlich (also juristisch) war das Verhalten von Dr. von Streidt einwandfrei. Liegt der Fehler etwa nicht in der konkreten Vorgehensweise, sondern in der juristischen Denkweise an sich? Etwa in dem Vorgehen nach der „juristischen Methode“? Schon mehrmals haben wir den ehemaligen Anwalt und scharfen Anwaltskritiker Mark H. McCormack zitiert. Wohl am spitzesten hat er die juristische Methode mit den nachfolgenden Worten gegeißelt: „Anwälte neigen zu der Meinung – wie Dobermänner –, sie seien in die Welt gesetzt, um die Zähne zu fletschen. Während ihrer Abrichtung hat man ihnen die Überzeugung eingeimpft, dass ihre Herren und Meister genau das wollen“. 1

1 A. a. O., S. 99.

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Einige von uns werden jetzt einwenden, dass solche Aussagen nur für die Verhältnisse in den USA gelten können, wo ein anderes Rechtssystem gilt, wo Erfolgshonorare die Anwälte zu Haien werden lassen und Laienrichter als Mitglieder der Jury unsinnige Entscheidungen fällen 2 – oder betreffen uns diese Feststellungen doch? Sind unsere Juristen vielleicht doch von ihrer Ausbildung eher darauf ausgerichtet, Eskalation zu fördern, statt Konflikte interessengerecht zu lösen? Hätte man den Fall des Dr. Seelig denn überhaupt anders lösen können, als es Dr. von Streidt versucht hat? Nehmen wir einmal an, Dr. Seelig wäre nicht zu Dr. von Streidt gegangen, sondern zu Dr. Austin Cooper, dem anderen Anwalt, der in der gleichen Stadt praktiziert, dem Anwalt, der neben der Kunst der anwaltlichen Kriegsführung auch die Kunst des kooperativen Verhandelns gelernt hat, die sich von der juristischen Denkweise des Dr. von Streidt fundamental unterscheidet. Nehmen wir einmal an, die Sache wäre so abgelaufen: Am Wochenende nach dem ersten Kontakt fuhr Dr. Seelig mit seinem Anwalt Dr. Cooper zum See hinaus. Dr. Seelig zeigte voller Stolz den alten Baumbestand auf seinem Anwesen und auch den kleinen Bootssteg, den 2 Carl Truman, 19-jährig, erhielt 74 000 Dollar zuzüglich Arztkosten zugesprochen, weil ihm sein Nachbar mit seinem Honda Accord über die Hand gefahren war. Mr. Truman hatte offenbar übersehen, dass sein Nachbar am Steuer seines Autos saß, als er daran war, dessen Raddeckel zu stehlen … Terrence Dickson, Pennsylvania, wollte das Haus, in welches er soeben eingebrochen war, durch die Garage verlassen. Bedingt durch eine Störung des Öffnungsmechanismus am Garagentor war er nicht in der Lage, dieses zu öffnen. Er konnte aber auch nicht ins Haus zurück, da die Türe automatisch ins Schloss gefallen war und ohne Schlüssel nicht mehr geöffnet werden konnte. Die Bewohner des Hauses weilten in den Ferien. Mr. Dickson überlebte die acht Tage Aufenthalt in der Garage nur, weil er eine Kiste Pepsi und Trockennahrung für Hunde in der Garage zur Verfügung hatte. Er verklagte die Eigentümer des Hauses wegen der erlittenen Torturen, entstanden durch die vorgefundene Situation, und erhielt eine halbe Million Dollar zugesprochen. Ein Restaurant in Philadelphia wurde dazu verurteilt, Amber Carson 113 000 Dollar auszuzahlen, nachdem sie sich das Steißbein gebrochen hatte, weil sie auf verschüttetem Sodawasser ausgerutscht war. Dieses war auf den Boden gelangt, weil Ms. Carson 30 Sek. zuvor ihrem Freund ihr Glas Sodawasser während eines Streites an den Kopf geworfen hatte … Kara Walton, Delaware, gewann ihren Prozess gegen ein Nachtlokal einer Nachbarstadt, nachdem sie sich zwei Zähne ausgeschlagen hatte, als sie aus dem Fenster der Toilette auf den Boden stürzte. Dies geschah, weil sie sich um die Bezahlung ihrer Rechnung in Höhe von 3,50 Dollar drücken wollte. Das Gericht sprach ihr 12 000 Dollar plus die Zahnarztkosten zu … Ein Volksgericht in Texas sprach Kathleen Robertson 780 000 Dollar zu, weil sie sich einen Knöchel verstaucht hatte, als sie über ein kleines Kind stolperte, welches in den Gängen eines Supermarktes herumrannte. Die Eigentümer des Supermarktes waren sehr erstaunt über den Gerichtsentscheid, handelte es sich beim betreffenden Kind um jenes der Mrs. Robertson …

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er letztes Jahr selbst errichtet hatte. Noch war es still, es war auch noch früh am Morgen. Um 11.00 Uhr aber, die beiden saßen gerade gemütlich beim zweiten Frühstück, dröhnte tatsächlich vom Nachbargrundstück eine verstärkte Bassgitarre „loud and proud“ herüber. Nach einigen Takten fiel eine Leadgitarre ein, dann kam das Schlagzeug hinzu, und als letztes Instrument ließ sich ein Keyboard hören. Dr. Seelig sprang auf: „Hören Sie, hören Sie!“ Doch was tat Dr. Cooper? Er griff – mit einem Lächeln – zu einer seiner „seltsamen Methoden“: Zuerst beruhigte er seinen Mandanten, holte dann seine alte Gitarre aus dem Auto und zog den widerstrebenden Dr. Seelig vor die Türe des Nachbarhauses. Eine halbe Stunde spielte er selbst in der Band mit (Dr. Seelig quälte dazu eine Rimba) und fand anschließend heraus, dass die Burschen mitnichten die Absicht hatten, Dr. Seelig mit ihrer Musik zu stören. Sie übten nur für ihre Schulschlussfeier. Als Übungslokal benutzten sie mehr notgedrungen als freiwillig das Rödelmeier’sche Strandhaus, da sie in der Stadt keinen Übungsraum gefunden hatten. Es stellte sich weiter heraus, dass Dr. Seelig den jungen Männern im Keller seiner Werbeagentur einen solchen Raum zur Verfügung stellen konnte. Dieses Angebot nahmen die Schüler gerne an. Nun mussten sie nicht mehr an den See hinausradeln, und die „seelige“ Familie konnte ihre wohlverdiente Ruhe genießen. Weiter kam man überein, dass die Werbeagentur von Dr. Seelig den Musikern einen knalligen Folder für ihr Konzert gestalten würde, wenn sie dafür an seinem Betriebsfest aufspielen würden. Die Knaben waren einverstanden, und man besiegelte die Zusammenarbeit durch gemeinsames Leertrinken der letzten Cola-Dose, die noch zu finden war. Die Lösung scheint so einfach. Warum hat sie aber Dr. von Streidt nicht gefunden? Ja, warum hat er sie nicht nur nicht gefunden, sondern darüber hinaus durch sein Verhalten den Konflikt geradezu erst entfacht? Unterstellen wir ruhig, dass es tatsächlich seine feste Absicht war, Dr. Seelig zu helfen, und dass ihm sogar daran gelegen war, den Konflikt zwischen den Parteien zu lösen. Warum ging dann aber alles, trotz dieser guten Absichten, derart schief? Wir behaupten, dass es nicht am Charakter des Dr. von Streidt liegt, sondern an der juristischen Methode, die er praktiziert. Der Grund ist, um noch präziser zu sein, nicht in der juristischen Methode alleine zu suchen, sondern vielmehr in den Überzeugungen, die dieser Methode zugrunde liegen. Diese Überzeugungen nennen wir nachfolgend, einer Diktion von Robert Dilts 3 folgend, Glaubenssätze. 3 Vgl. Dilts, Die Veränderung von Glaubenssystemen.

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Wer überzeugt ist, als Anwalt Legionär seines Mandanten zu sein, wird sich immer im Scharmützel wiederfinden. Wer hingegen glaubt, als Anwalt Konfliktlöser und Unterhändler zu sein, wird bestrebt sein, hinter der Maske des kriegerischen Verhaltens das Gesicht der positiven Absicht zu erkennen. Wir meinen, dass sich hinter der kompetitiven Methode des Dr. von Streidt und der kooperativen Methode des Dr. Cooper ganz unterschiedliche Glaubenssätze verbergen, die zu unterschiedlichen Arten des Denkens und Handelns führen. Um die unterschiedlichen Überzeugungen dieser beiden Methoden sichtbar zu machen, haben wir für jeden unserer beiden Anwälte nachfolgend sieben Glaubenssätze formuliert. Vielleicht zuerst noch eine Frage: Wie kommen wir zu den Glaubenssätzen, die unser Weltbild bestimmen? Wie kommen einige Anwälte dazu, zu glauben, dass sie ihre Gegner bekämpfen sollen, während andere glauben, dass es das Beste für alle ist, wenn man zunächst den Kuchen größer macht und ihn dann friedlich teilt? Die Ausprägung unserer Glaubenssätze hängt stark mit unserer Erziehung und unseren tradierten Werten zusammen: Erziehung im Elternhaus, Erziehung in der Schule, Erziehung im Gymnasium, Erziehung an der Universität. Die Erziehung an der Universität und die nachfolgende Ausbildung als Referendare und Kandidaten vor Gericht oder in der Anwaltskanzlei prägen die Glaubenssätze, die entscheiden, wie Juristen ihren Beruf sehen und ausüben. Sehen wir uns daher einmal an, welche Überzeugungen, Verhaltensweisen und Lösungsansätze unsere beiden Anwälte prägen. Dr. von Streidt glaubt

Dr. Cooper glaubt

1. Ein Baum ist kein Baum, sondern eine Sache! Oder: Es gibt eine objektive, wahrnehmbare Wirklichkeit!

1. Die Landkarte ist nicht das Gebiet! (Korzybski) Oder: Es gibt nur subjektive Wahrnehmung und Vorstellung!

2. Ein Königreich für einen Anspruch! Oder: Nur wer klagen kann, kann nicht klagen!

2. Mich interessiert nicht, woher die Dinge kommen, sondern wohin sie gehen! (Seneca) Oder: Wichtig ist nicht, welche Ansprüche Menschen haben, sondern was sie wirklich wollen!

3. Der Papa wird’s schon richten! (Helmut Qualtinger) Oder: Konflikte kann letztendlich nur der Richter lösen!

3. Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott! (Sprichwort) Oder: Wir lösen unseren Konflikt selbst!

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Dr. von Streidt glaubt

Dr. Cooper glaubt

4. Der Anwalt ist der Legionär seines Mandanten! Oder: Ich gewinne, wenn Du verlierst!

4. Keiner, der einem anderen hilft, hilft nicht zugleich sich selbst! (Seneca) Oder: Ich gewinne dann am meisten, wenn wir beide gewinnen!

5. Wo warst Du gestern? Oder: Der erfolgreiche Anwalt ist ein Archäologe auf dem Feld der Sachverhalte!

5. Wenn wir die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander streiten lassen, werden wir die Zukunft verlieren! (Winston Churchill) Oder: Lasst uns heute das Morgen gestalten!

6. Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert! Oder: Gute Anwälte konzentrieren sich auf Details.

6. Nicht kleckern, sondern klotzen! (Redensart) Oder: Nur große Ideen führen zu großen Taten!

7. Wo ist das Haar in der Suppe? Oder: Gute Anwälte konzentrieren sich darauf, was andere falsch gemacht haben!

7. Ich überlege mir immer, ob mein Handeln ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung ist! (Michail Gorbatchev) Oder: Wer nach Fehlern sucht, wird Probleme finden. Wer aber nach Lösungen sucht, hat schon begonnen, die Probleme zu lösen!

2. Die Geburt des kompetitiven Anwalts aus dem Geist der juristischen Methode 2.1 Die juristische Methode Um die juristische Methode einmal näher darzustellen, haben wir uns um eine Quelle bemüht, von der wir sicher sein können, dass sie die juristische Methode unvoreingenommen darstellt. Wir sind dabei auf das Buch „Übungen im Obligationenrecht“ von Bucher/Wiegand 4 gestoßen, aus dem wir nachfolgend zitieren wollen. Beide Autoren waren Universitätsprofessoren. Prof. Wiegand ist Deutscher. Er hat in Deutschland studiert und sich dort habilitiert. Prof. Bucher war ein erfolgreicher schweizerischer Anwalt, bevor er dem Ruf an eine Universität gefolgt ist. Heute sind beide emeritiert. Wir gehen einmal davon aus, dass also das nachfolgend zitierte Gedankengut sozusagen grenzüberschreitend das darstellt, was man für den deutschen Sprachraum als die juristische Methode bezeichnen kann. Nach Auffassung der genannten Autoren besteht das juristische Handwerkszeug in der Einübung 4 Bucher/Wiegand, Übungen im Obligationenrecht: Fallsammlung mit Lösungsvorschlägen; zwischenzeitlich erschienen in 3. Auflage mit Markus Reber.

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„derjenigen Technik, die bis heute für das Berufsbild des Juristen typisch geblieben ist: • Analyse des vorgegebenen Sachverhaltes, • Ermittlung der rechtlich relevanten Tatsachen durch Inbezugsetzung des Lebenssachverhaltes zu verschiedenen in Betracht kommenden Normen, Subsumtion des als relevant erkannten Sachverhaltes zur als einschlägig befundenen Norm und damit Entscheidung einer konkreten Streitsituation zwischen privaten Bürgern, was wesensmäßig Aufgabe der Privatrechtsordnung bzw. des sie anwendenden Juristen ist …“ 5

Nachdem Bucher/Wiegand erläutert haben, was sie unter juristischer Denktechnik verstehen, gehen sie näher auf die „juristische Methode“ ein: „… erweist sich jene Methode als die geeignetste zur Lösung von Fällen, die auch die älteste ist. Sie wurde schon von den römischen Juristen praktiziert und von ihren mittelalterlichen Nachfahren in einem berühmten Merksatz zusammengefasst, der lautet: quis, quid, a quo, qua causa?“

In der modernen Übertragung formuliert man diese Frage folgendermaßen: Wer kann was von wem aus welchem Rechtsgrund verlangen? Dieses Vorgehen wird vielfach als Anspruchsmethode bezeichnet und vor allem in Deutschland geradezu kultiviert. Es geht dabei um Folgendes: • Man ermittelt, was die Parteien voneinander verlangen, z.B. dass die eine Partei von der anderen Zahlung begehrt, die Gegenpartei aber behauptet, sie sei nicht an den Vertrag gebunden bzw. sie wolle ihn auflösen. • Dann überlegt man abstrakt, auf welcher Grundlage die eine Partei ihr Verlangen nach Zahlung abstützen könnte, welche Möglichkeiten andererseits in Betracht kommen, um einen einmal geschlossenen Vertrag rückgängig zu machen. (…) • Durch die beiden skizzierten Schritte werden die im Streit stehenden Rechtsfragen herausgeschält und gleichzeitig andere ebenfalls denkbare, im konkreten Falle aber nicht zu erörternde Probleme ausgeschlossen. (…) „Im Mittelpunkt dieses dem aktionenrechtlichen Denken entstammenden Vorgehens steht die Frage nach der Durchsetzbarkeit von Rechten oder Ansprüchen, weshalb sie auch die Anspruchsmethode genannt wird.“ (S. 16 ff. [Hervorhebungen durch die Verfasser]) „Die Beherrschung der Technik der Konflikt-Entscheidung ist auch außerhalb eigentlicher Streitsituationen immer noch das Hauptelement des beruflichen Handwerkszeugs: Wenn der Jurist (den wir uns als beratenden Anwalt vorstellen können) gefragt wird, welche Ansprüche in einer gegebenen Situation gestellt werden können oder – noch allgemeiner – wie man sich verhalten solle, könnten auch diese Fragen mit Blick auf mögliche Konfliktsituationen beantwortet werden.“6

Genau nach dieser Methode ist Herr Rechtsanwalt Dr. Attila von Streidt auch vorgegangen: Er hat zusammen mit Dr. Seelig den Sachverhalt ermittelt. Als gewiefter Anwalt wusste er, was wesentlich ist und was nicht. Er 5 Bucher/Wiegand, a.a.O., S. 15. 6 Ebd.

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Anwälte wissen genau, worauf es ankommt

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hat feinfühlig das, was für die Falllösung wesentlich ist, herausgeschält, oder wie Bucher/Wiegand meinen: „Der erfahrene Jurist wird die Frage nach dem zur Stützung des erhobenen Anspruches in Betracht kommenden Rechtsgrund in der Regel ohne langes Überlegen, sozusagen intuitiv, beantworten können. Durch jahrelange Übung geschult, entwickelt er einen gewissen Instinkt für das, worauf es ankommt.“ 7

Dr. Attila von Streidt unterbricht Dr. Seelig deshalb, als dieser von seiner Werbeagentur in der Stadt erzählen will. Das ist wohl nett, hat aber mit dem rechtlich relevanten Sachverhalt nichts zu tun. Professionell ermittelt er die zur Lösung dieses Falles in Betracht kommenden Normen, wählt aus, prüft, verwirft, subsumiert und findet schließlich den für diesen Sachverhalt erfolgversprechendsten Anspruch. Beim darauffolgenden Studium der einschlägigen gerichtlichen Entscheidung stellt er fest, dass der Anspruch auf „ungestörten Besitz“ nur ab einem bestimmten Immissionspegel als rechtsrelevant begründet angesehen werden kann. Deshalb legt er sich auf die Lauer und fängt an drei Wochenenden die auf das Seelig’sche Grundstück herüberschwappenden Schallwellen auf. Um einen hieb- und stichfesten Beweis zu führen, nimmt er beim dritten Mal einen Notar mit. Nun ist er allen seinen anwaltlichen Pflichten aufs Vortrefflichste nachgekommen und bläst zur Jagd, der Entscheidung der Streitsituation vor dem zuständigen Gericht. Der Richter nimmt die Klage entgegen und stellt sie dem beklagten Dr. Rödelmeier zu. Dr. Rödelmeier nimmt sich nun ebenfalls einen Anwalt, und dieser wendet bei der Abfassung seiner Rechtsschrift ebenfalls die juristische Methode an: Er reduziert den ihm vorgetragenen Lebensausschnitt auf juristisch relevante Sachverhalte, subsumiert diese unter die in Betracht kommenden Rechtsnormen, findet und begründet die Ansprüche seines Mandanten und sucht ebenfalls eine Entscheidung beim Richter. Beide gehen vorbildlich nach den Regeln ihres Berufsstandes vor, aber trotzdem wird der Konflikt nicht gelöst, sondern genau das Gegenteil tritt ein: Er eskaliert! Beide Parteien finden neue Ansprüche und verlangen die Durchsetzung dieser Rechte vor Gericht: Rödelmeier muss nicht nur seinen Söhnen das Spielen am Wochenende verbieten, nein, er muss auch noch die Hecke zurücksetzen. Dafür rächt er sich mit dem Mauerbau. Dr. Seelig hat wohl jetzt seine Ruhe am Wochenende, nur ist sein Ferienhaus zum sommerlichen Hochofen verkommen, weil er die schattenspendenden Bäume kappen musste. Wo am Anfang nur ein kleiner Streit um ein bisschen Lärm an zwei Tagen der Woche war, ist am Schluss ein dauernder, irreparabler Schaden entstanden. Die zwischen den Grundstücken errichtete Mauer ist nur ein äußeres Sinnbild 7 Bucher/Wiegand, a.a.O., S. 18.

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für die geistige Situation, in die sich die beiden Kontrahenten hineinmanövriert haben. Nach einem solchen Desaster stellt sich die Frage, ob es nicht nur an der Streitsucht der Parteien liegt, wie viele Anwälte immer wieder behaupten, wenn solche Debakel am Ende ihrer Bemühungen stehen, sondern vielleicht auch an der juristischen Denk- und Vorgehensweise. Dass es genau so und nicht anders kommen muss, weil eben alle Seiten, inklusive des Richters, die „juristische Methode“ angewendet haben. Oder spitz ausgedrückt: Ein Streit, der „de lege artis“ gelöst wird, artet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Krieg aus. Zu einem Krieg, in dem die verarmten Parteien, wenn sie ihn überhaupt überleben, am Ende nur noch eine Lebensschuld zu begleichen haben: die Bezahlung der Rechnungen ihrer Anwälte. „Behaltet Eure Hoffnungen, hier könnt Ihr sie gebrauchen!“ sollte über der Eingangstür mancher Kanzlei in Goldlettern stehen. Dann wüssten die Mandanten, auf was sie sich mit den Herren Dres. von Streidt einlassen. Wenn es tatsächlich so ist, dass die juristische Methode per se oder systemimmanent wenig dazu geeignet ist, Lösungen zu finden, die allen Parteien gerecht werden, dann ist es doch sicher sinnvoll, sich einmal genauer mit dieser Methode zu beschäftigen, um herauszufinden, welche Glaubenssätze hinter der juristischen Methode stehen. 2.2 Das Weltbild der juristischen Methode Im nachfolgenden Kapitel werden wir uns mit den grundlegenden Überzeugungen der Juristen befassen. Für die grundlegenden Überzeugungen haben Bateson/Dilts den Begriff Belief geprägt8, der in der deutschen Fachsprache mit Glaubenssatz übersetzt wird. Ein Glaubenssatz hat nichts mit religiösen Überzeugungen zu tun, sondern stellt eine logische Ebene dar, die sich bestimmend auf Fähigkeiten, Verhalten und Umwelt der betreffenden Person auswirkt. 9 Die logischen Ebenen10 sind ein Modell, mit dessen Hilfe man herausfinden kann, in welchen Ebenen menschliche Erfahrungen in unserem Bewusstsein gespeichert sind und in welcher Rangordnung sie sich gegenseitig beeinflussen. Bateson und Dilts nennen in ihrem Modell sechs solcher Ebenen: Es gibt Erfahrungen, die der Zugehörigkeit zuzuordnen sind und andere, die die Identität betreffen. Einige Erfahrungen haben Einfluss auf die Glaubenssätze, andere auf die Fähigkeiten oder das Verhalten, während wiederum andere den Kontext der Umwelt bestimmen. 8 Dilts, Identität, Glaubenssysteme und Gesundheit. Höhere Ebenen der NLP-Veränderungsarbeit. 9 Zur Wirkung von Glaubenssätzen vgl. die Darstellung der logischen Ebenen bei Dilts, Die Veränderung von Glaubenssystemen, S. 15 ff. 10 Zum Paternoster der logischen Ebenen vgl. unten Teil 6, 5., S. 236 ff.

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Die logischen Ebenen der Veränderung (Robert Dilts/Gregory Bateson/Bertrand Russel/Alfred North Whitehead) Zugehörigkeit mit wem? für wen?/Heimat, Lebensaufgabe, Mission, Dharma, Sinn/ich gehöre zu Identität wer?/Rolle, Vision, Zweck/ich bin Beliefs, Werte, Motive warum?/Motivation, Interesse, Ziel/ich glaube, ich will Fähigkeiten wie?/Strategie/ich kann Verhalten was?/Aktion/ich mache, ich tue Umwelt wo? wann?/Reaktion/ich wähle

Bateson und Dilts stellen nun die Behauptung auf, dass jede Ebene von den darüberliegenden Ebenen beeinflusst wird. Für uns Anwälte würde das etwa heißen, dass unsere Zugehörigkeit zum Stand der Anwälte unsere Identität als prozessierender Anwalt bestimmt. Das zeigt sich etwa darin, dass Herr Nyfenegger, der sowohl Mitglied der Familie Dr. Sebastian und Maya Nyfenegger-Wälti als auch des Standes der bernischen Fürsprecher ist (im Kanton Bern tragen die Rechtsanwälte als Zugehörigkeitsmerkmal zum Stand des Anwälte den Titel „Fürsprecher“), vor Gericht nicht mit „Vater“, sondern mit „Herr Fürsprecher“ angesprochen wird. Andere Zugehörigkeiten schaffen andere Identitäten, hier Zugehörigkeit zur Anwaltschaft, dort zur Familie. In der Familie denkt selbstverständlich niemand daran, Herrn Nyfenegger als Herrn Fürsprecher zu bezeichnen. Die Identität, die wir aus unserer Zugehörigkeit erwerben, formt unsere Glaubenssätze. So glaubt der deutsche Rechtsanwalt beispielsweise, dass es richtig ist, vor Gericht in der Robe aufzutreten, während der Fürsprecher glaubt, dass es ratsam sei, vor dem Bundesgericht (also dem höchsten Gericht der Schweiz) einen schwarzen Anzug zu tragen. Die Idee, vor irgendeinem Gericht im Lande in der Robe aufzutreten, ist ihm völlig fremd. Daran glaubt er nicht einmal im Traum. Andererseits glauben sowohl Herr Rechtsanwalt als auch Herr Fürsprecher daran, dass es beim Lösen der Fälle das Vorteilhafteste sei, die juristische Methode anzuwenden. Die Fähigkeit, einen Fall mit der juristischen Methode zu lösen, bestimmt dann ihrerseits wiederum das Verhalten: Wir werden bei der Anwendung der juristischen Methode, bei dem, was uns der Klient erzählt, selektiv zuhören und damit den Sachverhalt auf das juristisch notwendige reduzieren. Später werden wir den Lauf der Dinge so „organisieren“, dass der Fall schließlich mit größerer Wahrscheinlichkeit vor dem Gericht endet als ei29

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Identität

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ner einvernehmlichen Regelung zugeführt wird. Damit haben wir aus der Vielzahl der uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die uns am meisten zusagende Umwelt, den Gerichtssaal, ausgewählt. Von entscheidender Bedeutung in dieser Hierarchie sind die Glaubenssätze. Diese bestimmen unsere Fähigkeit, unser Verhalten und unsere Umwelt. Wer nun die Fähigkeit, einen Fall kompetitiv zu lösen, durch die Fähigkeit des kooperativen Verhandelns ergänzen möchte, tut gut daran, nicht nur die neuen Fähigkeiten zu lernen, sondern auch Einfluss zu nehmen auf die darüberliegenden Glaubenssätze. Sie sind die Drehscheibe unseres Tuns. Wer sie verändern kann, wird eine wesentlich nachhaltigere Veränderung seiner Fähigkeiten und seines Verhaltens erzielen als jemand, der bloß versucht, sein Verhalten zu ändern. Glaubenssätze liegen auf einer höheren logischen Ebene als Fähigkeiten und haben daher starken Einfluss auf die Fähigkeit, die juristische Methode gezielt und situationsgerecht anwenden zu können. Wir werden uns deshalb zuerst einmal mit den anwaltlichen Glaubenssätzen beschäftigen und dabei unsere eigenen Erfahrungen verwenden, die wir als Studenten, Kandidaten, Referendare, junge Mitarbeiter in Anwaltskanzleien und praktizierende Anwälte gemacht haben. Wir möchten aufzeigen, wie sich im Laufe der Ausbildung unbewusst verschiedene Glaubenssätze einprägen. Glaubenssätze, die es erlauben, die juristische Methode erfolgreich anzuwenden. Gleichzeitig lassen diese Glaubenssätze die Fähigkeit verkümmern, Konflikte ohne Streit lösen zu können. Die Verwunderung über diesen Lauf unserer Karrieren hat uns nachdenken lassen und schließlich veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Nicht gegen die Rechtsanwälte, sondern für sie. Vielleicht erkennt sich der eine oder andere Kollege in unseren Beschreibungen wieder. Vielleicht auch nicht.

! 1. Glaubenssatz: Es gibt eine objektiv wahrnehmbare Wirklichkeit. Oder: Ein Baum ist kein Baum, sondern eine Sache! Der erste, von den meisten Anwälten unbewusst verinnerlichte Glaubenssatz hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie wir Juristen den Sachverhalt, den uns vorgetragenen Lebensausschnitt, betrachten: Wir gehen davon aus, dass wir, wenn wir nur intensiv genug ermitteln und nachforschen, so etwas wie eine objektive Wirklichkeit aus dem herausfiltern können, was unsere Partei und die Gegenpartei als subjektive Darstellungen schildern. Das Ergebnis bezeichnen wir dann als „unstrittigen“ oder „bewiesenen Sachverhalt“. Dabei gehen wir davon aus, dass das, was die Parteien unbestritten vortragen, und das, was Zeugen oder Dokumente belegen, dasjenige ist, was tatsächlich stattgefunden hat. Wir glauben, dass es hinter der subjektiven Wahrnehmung von Lebensumständen eine objektiv feststellbare Wirklichkeit gibt. Dr. Attila von Streidt ist diesem Grundsatz gefolgt, indem er sich von Dr. Seelig die Probleme schildern ließ. Es war klar 31

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Ein Baum ist kein Baum, sondern eine Sache!

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/(EINE WITZE,

BITJE ! 8EANTY'.{)RTEN SIE NUR MEINE Fl?ACE. !!

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und offensichtlich, dass die Kinder von Dr. Rödelmeier in ihrem Ferienhaus am Friedlinger See am Wochenende unerträglichen „Lärm“ machten. • Wir können diese objektive Wirklichkeit erkennen und beurteilen. Oder: Ein Baum ist kein Baum, sondern eine Sache! Wenn es aber so ist, dass die Juristen das als die wahre Welt ansehen, was sie, gefiltert durch ihre juristische Brille, wahrnehmen, so reduziert sich die Vielfältigkeit des Lebens auf einen juristisch geläuterten Sachverhalt. Das ist sicherlich erforderlich, um Recht anzuwenden, erschwert aber interessengerechte Lösungen ungemein, weil ein Teil der Lebenswirklichkeit, auf den es den Parteien ankommt, völlig ausgeblendet wird. Denn unsere Glaubenssätze bestimmen, wie wir die Welt sehen und was wir in ihr wahrnehmen. Dies habe ich als Student der Jurisprudenz ziemlich schnell erfahren: Ich begann mein Rechtsstudium im Herbst 1979 in Bern. Vorher war ich im Militärdienst, habe die Rekrutenschule und die Unteroffiziersschule absolviert und kam, da die militärischen Schulen in der föderalistischen Schweiz nicht zum gleichen Zeitpunkt enden, in dem das Studium an den Universitäten beginnt, erst drei Wochen nach Semesterbeginn an die Universität. Mein Aufenthalt in den Kasernen hatte mich stark geprägt. Das merkte ich etwa daran, dass ich, wie im Theorieunterricht in den Militärschulen, sofort einschlief, wenn ich mich im Auditorium setzte. Diese Angewohnheit, die im militärischen Kontext durchaus Sinn gemacht hatte – wir mussten den Schlaf nachholen, den man uns in Nachtübungen gestohlen hatte –, wirkte im universitären Umfeld eher deplatziert, und ich gewöhnte mir dieses Muster rasch wieder ab. Etwas länger dauerte es aber schon, meine militärische Sichtweise der Zeit durch die studentische Betrachtungsweise zu ersetzen. Anfangs war ich immer pünktlich und erschien zu allen Vorlesungen zur vollen Stunde. Sehr bald musste ich aber einsehen, dass in universitären Kreisen die „akademische Viertelstunde“ regiert, d.h. alle konsequent 15 Minuten zu spät kommen. Auch das lernte ich schnell. Schon etwas mehr Mühe hatte ich, mich von der Vorstellung zu lösen, dass wir mittags nicht „Verpflegung fassen“ sollten, sondern uns in der Mensa „Food zwischen die Ohren schieben“ würden. Auch hatte ich Schwierigkeiten, zu lernen, dass hier nicht „entschieden und angeordnet“ wurde, sondern alles „ausdiskutiert“ und „basisdemokratisch beschlossen“ werden musste. Ich wechselte meine Sprache, sprach, wie es gefordert wurde und stellte im Laufe der Zeit fest, dass sich dadurch auch mein Weltbild immer mehr änderte: Anstatt optimistisch und dynamisch, wie ich bis dahin war, wurde ich jetzt einfühlsam, wehleidig und betroffen. Ich ersetzte meine militärische Landkarte der Welt durch eine andere – und da diese Landkarte damals die Landkarte der neuen „Weinerlichkeit“ war, fühlte ich mich auch bald „sehr betroffen“. Ich wurde immer mehr zu einem, der schlicht gegen alles war. Ich wurde einer von denen, die nur mit schwarzen Stiften malten. 33

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Aus heutiger Sicht kann ich leicht sagen, dass es damals meine Weltanschauungen waren, die meine Befindlichkeit geprägt haben. Damals war ich aber durch meine Sichtweise der Dinge total gefangen und glaubte, dass die Welt genau so war, wie ich sie wahrnahm: Da gab es eine „herrschende Klasse“, und dieser „herrschenden Klasse“ gehörte das „Kapital“. Da ihr das „Kapital“ gehörte, durfte sie ungestört den „Mehrwert“ abschöpfen und damit die „arbeitende Klasse ausbeuten“… Immer mehr gefangen nahm mich auch die juristische Betrachtungsweise der Welt: Ich lernte, dass Herr von Wartburg nicht einfach Frau von Wartburg-Sarasin schlagen konnte, wenn sie ihn geärgert hatte, sondern dass es „Lebensumstände“ sind, in denen sich bestimmte „Sachverhalte“ entwickeln, die unter Umständen zu „Tatbeständen“ werden können, wenn „rechtlich geschützte Güter“ verletzt worden sind. Wie Sie sich denken können, wurde mein Leben durch solche detaillierte Kenntnisse nicht gerade einfacher, doch ich war ganz stolz auf mich, weil ich nun wusste, dass ich dann, wenn ich Frau von Wartburg-Sarasin mein Motorrad zur Flucht vor ihrem Peiniger „leihen“ würde, ihr an meinem Motorrad „Besitz“ eingeräumt hätte, während das „Eigentum“ bei mir blieb. Dieses neue Wissen drückte sich auch in meinem Kommunikationsverhalten aus. So sagte ich zu meinem Bruder, der sich Timberland-Schuhe gekauft hatte, nicht „Hast Du jetzt auch ein Paar Timbis“, sondern „Ich sehe, Du bist jetzt auch Eigentümer eines Paares Schuhe der Marke Timberland“. Was war geschehen? Ich hatte begonnen, meine Welt mit der juristischen Brille zu sehen, und hatte angefangen, sie nach juristischen Maßstäben zu messen. Mehr, ich begann zu glauben, dass die Welt tatsächlich so sei. Dass es tatsächlich so etwas wie „Sachverhalte“, „Tatbestände“, „Besitz“ und „Eigentum“ gibt. Ich hatte angefangen zu glauben, dass meine subjektiven Abbildungen der Welt, die Landkarten, die ich durch meine juristische Brille wahrnahm, identisch mit dem Gebiet seien, das sie abbildeten. Ein Baum war kein Baum mehr, sondern eine Sache. Meine Freundin Andrea war nicht mehr meine Freundin Andrea, sondern Trägerin von strafrechtlich geschützten Gütern, Besitzerin, Eigentümerin, Schuldnerin oder Gläubigerin. So begann ich Jurist zu werden und die Welt wie ein Jurist zu betrachten. Damals, vor vielen Jahren …

! 2. Glaubenssatz: Ein Königreich für einen Anspruch! Oder: Nun wer klagen kann, kann nicht klagen! 34

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Der zweite Glaubenssatz beschreibt die selektive Wahrnehmung des Anwaltes, der die juristische Methode anwendet: Der Anwalt ist nicht an den Lebensumständen an sich interessiert, sondern am „juristisch relevanten Sachverhalt“. Der Anwender der juristischen Methode reduziert die Komplexität des Sachverhaltes somit auf juristisch verwertbare Lebensumstände. Alles, was nicht juristisch erfasst werden kann, fällt durch das weitmaschige Geflecht seines Wahrnehmungssiebes. Denn der Anwender der juristischen Methode weiß, dass nur der Sachverhalt, der einen juristischen Anspruch begründet, seinem Mandanten einen Vorteil bringt. Denn nur den begründeten Anspruch kann er vor Gericht, wohin all sein Denken und Handeln letztendlich führt, für seine Mandanten in Nutzen, sprich: in ein Urteil, umwandeln. Dr. von Streidt hat sich aus diesen Gründen nicht für den Lebensumstand interessiert, dass Dr. Seelig eine Werbeagentur in der Stadt betreibt, denn dies begründet in diesem konkreten Fall keinen juristisch verwertbaren Anspruch. Für Dr. von Streidt war es viel wichtiger, festzuhalten, dass Dr. Seelig Eigentümer des Hauses und des Grundstückes am See ist und dass das Getöse auf dem Nachbargrundstück zulässige Lärmgrenzen überschreitet. Aus diesen rechtlichen Grundlagen konnte er dessen Ansprüche auf ungestörten Besitz ableiten. Was unterscheidet nun aber den Computerfreak, der die Tatsache, dass eine Ehefrau ihren Ehemann erdolcht hat, als „Folge eines Kompilationsproblemes“ deutet, vom Dr. jur., der über „Mord oder Totschlag?“ nachdenkt? Es ist die Wichtigkeit der Materie für das soziale System, das die unterschiedlichen Landkarten des Computermenschen und des Anwaltes regelt! Selbstverständlich ist eine moderne, funktionierende Wirtschaft ohne Computer heute schwer vorstellbar. Aber unsere Vorfahren haben auch gelebt ohne sie. Und manche sagen, nicht einmal schlecht. Haben sie aber ohne Recht gelebt, ohne dieses Regelwerk, das die sozialen Beziehungen regelt? Ist eine Geburt möglich, ohne dass dies irgendwelche juristischen Folgen hätte? Gibt es eine Heirat ohne Rechtsfolgen? Kann man sterben, ohne dass dies irgendwelche juristischen Folgen hätte? Es gibt keinen rechtsfreien Raum! Passt mir das Recht in der Schweiz nicht, kann ich den Rhein gen Osten überschreiten, und ich lande in Liechtenstein. Gilt da aber kein Recht? Weit gefehlt, da gilt nur kein Schweizer Recht mehr, es gilt liechtensteinisches Recht. Also lass ich mich den Rhein hinuntertreiben bis in die Mitte des Bodensees. Gibt es da kein Recht? Mitnichten! Der Rest des Obersees bleibt vorläufig die einzige Gegend in Europa, wo zwischen den Nachbarstaaten nie Grenzen festgelegt wurden. Hier gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen, die alle auf Gewohnheitsrecht zurückgeführt werden. Man weiß im Moment wohl immer noch nicht, welches Recht gilt (österreichische Rechtsauffassung: Kondominium/Haldentheorie oder Schweizer Rechtsauffassung: Realteilungstheorie), aber rein aus der Tatsache, dass sich die Staaten Deutschland, Österreich und Schweiz seit Jahren darum streiten, welches Recht wo gilt, 35

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Ein Königreich für einen Anspruch

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OHNE DIESES DOKUMENT DÜRFEN SIE KEINE BURG

STÜRMEN!!

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kann unzweifelhaft geschlossen werden, dass auch der Bodensee nicht von Juristen verschont geblieben ist. Ist aber nicht wenigstens die offene See rechtsfreie Zone? Keinesfalls! Der Luftraum? Weit gefehlt! Der Weltraum? Auch der nicht! Das Recht regelt alles und jedes. Und aus dieser Tatsache schöpft die Rechtskunde ihre Macht. Wer sich im Recht auskennt, ist schlicht mächtiger als der, der sich nicht auskennt. Einer meiner Professoren hat einmal gesagt: „Wenn irgendein Beamter irgendetwas von Ihnen will, fragen Sie einfach nach der Rechtsgrundlage seines Anliegens und nach der Stelle, bei der Sie sich über ihn beschweren können, und Sie werden sehen, wie sich sein Verhalten Ihnen gegenüber schlagartig ändern wird!“ Der Psychologe kann wohl argumentieren, dass es für seinen Klienten bedeutungsvoll und geradezu heilend war, dass er es endlich gewagt hatte, seinem Vater auf seine höchstpersönliche Art und Weise die Meinung zu sagen, um damit aus dem Panzer einer dreißig Jahre dauernden Bevormundung auszubrechen, als er im Garten der Villa seines alten Herrn dessen Cadillac Eldorado Touring Coupé mit einem Seitenschneider, einem Schweißbrenner und der Trennscheibe in ein zeitgenössisches Kunstwerk mit dem Titel „ein postpaternales Fanal“ verwandelt hat. Was aber von viel größerer Bedeutung für die Zukunft des Sohnes sein kann, ist die Tatsache, dass ihn der Vater mit Hilfe seines Hausjuristen wegen „Sachbeschädigung“ und „Hausfriedensbruchs“ angezeigt hat und sich nun überlegt, ob er ihn auf den Pflichtteil setzen soll oder ob das Verhalten des misslungenen Sprösslings gar ausreicht, ihn gänzlich zu enterben. Der Geheimbund der Juristen regelt zwischenmenschliche Beziehungen mit mehr Macht als die Geheimbünde anderer Berufsgruppen. Der Unterschied zwischen Juristen und Nichtjuristen liegt also nicht darin, dass sie ihr Fachgebiet durch bestimmte Begriffe codieren. Das tun andere auch. Der Unterschied liegt in der Wichtigkeit der sozialen Auswirkungen der Codierungen. Die Macht juristischer Argumentation habe ich während meines Studiums einmal selbst drastisch erfahren: Mein Freund André erzählte mir eines Tages, dass er letzte Woche seine 900er Kawa aus der Garage, die sich in der übernächsten Häuserzeile befindet, zum Flottmachen für die große Osterausfahrt geholt habe. Da er in Eile gewesen sei, habe er weder Sturzhelm noch Nummernschild montiert. Zudem habe er die Rakete auf der kurzen Strecke von der Garage zum Bastelkeller kurz auf 100 km/h „hochgepowert“ und sei dabei geblitzt und von einer Polizeistreife angehalten worden. Die „Bullen“ hätten auch noch festgestellt, dass seine Pneus völlig abgefahren seien, und nun „stecke er echt in der Bredouille“. Ich riet ihm, ruhig zu bleiben, sich die Akten zu besorgen und dann bei mir vorbeizukommen. Gemeinsam fanden wir nach einigen zusätzlichen 37

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Nachforschungen heraus, dass die Beamten die für das vorschriftsgemäße Erfassen der Temposünder notwendigen Tests nicht regelkonform durchgeführt hatten und zudem gar nicht mehr im Dienst, sondern auf der Heimfahrt waren. Für seine Verfehlungen konstruierten wir sicherheitshalber auch noch aberwitzige Begründungen, wie beispielsweise die, dass ein abgefahrener Pneu auf der nachweislich trockenen Straße besser hafte als ein gerillter. Von dieser Tatsache könne man sich bei jedem Motorradrennen überzeugen. André, der an der ETH studierte, besorgte sich noch entsprechende Testunterlagen. Die ganzen Argumente brachten wir in juristisch korrekte Formen und Wortwendungen und schickten sie an die zuständige Stelle. André hat von der Sache nie mehr in seinem Leben etwas gehört! Ich habe damals für mich daraus gelernt, dass die juristische Sichtweise unter all den Sichtweisen, unter denen wir einen Lebensvorgang betrachten können, eine der mächtigsten ist. Das Ziel der anwaltlichen Tätigkeit ist es demnach, Recht zu haben, seine Sichtweise, seine Landkarte, als die einzig richtige darzustellen. Anwälte wollen nicht diskutieren, sondern überzeugen. Sie sind Rechthaber, weil sie dazu ausgebildet worden sind, aber auch weil sie festgestellt haben, dass der, der begründete Ansprüche hat, Recht bekommt. Und wenn man im Leben Recht haben will, geht es darum, Ansprüche zu finden und diese zu begründen. Wenn man so vorgeht, hat man Erfolg. Wenn man so vorgeht, hat man Recht. Ein Autoverkäufer hat mir einmal gesagt, dass er ein Auto nie an einen Lehrer oder Anwalt verkaufen würde. Auf meine erstaunte Frage, wie er darauf komme, antwortete er: „Mit diesen beiden Berufsgruppen gibt es nur Scherereien. Die Lehrer glauben, dass sie immer Recht hätten, und die Anwälte haben immer Recht.“ Die Denkweise der juristischen Methode wird noch besonders durch die Stellung des Richters im Rahmen dieses Denksystems untermauert.

! 3. Glaubenssatz: Konflikte kann nur der Richter lösen! Oder: Der Papa wird’s schon richten! (Helmut Qualtinger) Der dritte Glaubenssatz befasst sich mit der Person, die entscheidet, wessen Ansprüche nun rechtens sind und welche nicht. Diese Person ist der Richter. Jeder Anwalt extrahiert aus den Lebensumständen juristisch relevante Sachverhalte und subsumiert sie unter anspruchsbegründende Normen nur mit einem Ziel: Er will dem Richter beweisen, dass sein Mandant im Recht und die Gegenpartei im Unrecht ist. Deshalb hat Dr. von Streidt nicht mit Dr. Rödelmeier Kontakt aufgenommen, denn er wusste aus langen Jahren anwaltlicher Erfahrung, dass dies nichts bringt. Er ging deshalb gleich von Anfang an zu einer professionellen und übergeordneten Konfliktentscheidungsstelle, dem Gericht. 38

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Nach der Ausbildung an der Universität beginnt die Referendarzeit. Ich hatte das Glück, dass meine Tätigkeit als „Anwaltslehrling“ ein Teil des Studiums war. Ich konnte schon sehr früh, nämlich im 7. Semester, praktische Gerichtserfahrung sammeln. Schon im Studium war mir die besondere Stellung der Gerichte im anwaltlichen Denken aufgefallen. Es gab bei all dem, was die Professoren lehrten, einerseits die Gesetzbücher, daneben aber, und das war mindestens ebenso wichtig, die Gerichte, die sagten, wie die juristische Wahrheit der Gesetze nun in der Praxis auszusehen hätte. Unter all diesen Gerichten gibt es in der Schweiz ein Gericht, das überragende Bedeutung hat. Es ist das Bundesgericht in Lausanne. Dort wird entschieden, was für die Rechtsanwender als wahr und als nicht wahr zu gelten hat, wer Recht und wer Unrecht hat. Seine Entscheidungen werden in schweinsledernen Folianten gebunden und gleich neben die Bibel gestellt. Die Wichtigkeit des Richters im anwaltlichen Denken kann weiter aus den scheinbar belanglos gebrauchten Worthülsen geschlossen werden, die da und dort klirrend in die Debatten geworfen werden: „Ich bin der festen Überzeugung, Herr Kollege, dass Sie im Unrecht sind. Sie mögen mir wohl jetzt noch nicht glauben, aber der Richter wird mir Recht geben!“ „Wie das Bundesgericht in seinem Urteil vom 15.02.1991 für Recht erkannt hat …“ „Richtig oder falsch ist irrelevant. Meinen Rechtsstandpunkt teile ich mit dem Gericht …“ Diese Redensarten erinnern mich an die Sprache kleiner Kinder, die wissen, dass es einen Vater oder eine Mutter gibt, die mächtiger sind als sie selbst und es dem aufmüpfigen Spielkameraden, der nicht erlaubt hat, dass sie in „seinem“ Sandkasten Burgen bauen, schon zeigen werden, „wo Gott hockt“, wie wir bei uns in der Schweiz sagen. Ist es bei Gericht anders? Nein. Der Richter muss oft die Rolle des Vaters übernehmen, der zwischen den streitenden Kindern schlichtet. Er hat mehr Macht als die Kinder. Warum? Weil die „Kinder“ glauben, sie seien nicht in der Lage, ihre Konflikte selbst zu lösen! Einen besonders eindrucksvollen Richter-Vater erlebte ich am Amtsgericht, an dem ich meine Sporen als Gerichtspraktikant verdiente: Konstantin Aplanalp. Aplanalp war ein schlanker, sportlicher Asket, der neben seiner richterlichen Tätigkeit Brigadegeneral war, wovon er aber nie sprach. Er führte die Verhandlungen immer freundlich, listig und sehr väterlich bestimmt durch. Ehescheidungsverhandlungen liefen etwa nach dem folgenden Modell ab: Der Anwalt der klagenden Partei fing mit seinem Vortrag an. Aplanalp ließ ihn einige Minuten sprechen und fragte dann direkt den Klienten, wie er 39

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die Sache sehe. Dieser pflichtete dem Anwalt zuerst ruhig bei. Meistens wurden die Klienten dann emotionaler und beschimpften schließlich den Noch-Ehepartner. Der Gerichtspräsident hörte ruhig zu und gebot mit einer eindeutigen Geste der rechten Hand den Anwälten oder der Gegenpartei Einhalt. Die Geste bedeutete: Hier wird nichts richtiggestellt, hier wird zugehört! Nach dieser meistens etwa zehnminütigen Tirade ging der klagenden Partei die Luft aus und Aplanalp fragte die andere Partei, was sie davon halte. Nun brüllte die andere Partei los und Aplanalp hörte abermals geduldig zu, machte sich Notizen und lächelte verständnisvoll. Wenn auch die andere Partei geendet hatte, versteinerte sich sein Gesicht und er blaffte in den Gerichtssaal: „Ich habe Ihnen jetzt 20 Minuten meiner kostbaren Zeit geopfert und mir diese peinlichen Vorstellungen angehört. Ich muss Ihnen sagen, dass ich dies nicht noch einmal auch nur eine Minute tun werde. Sie sitzen hier vor einem Richter und nicht vor einem Psychiater. Ich habe nichts dagegen, dass Sie sich wie kleine Kinder anbrüllen und schmutzige Wäschestücke um die Köpfe hauen. Aber, lassen Sie es mich bitte drastisch ausdrücken, hier ist nicht der Platz für solch pubertäres Gewäsch. Wenn Sie das Gefühl haben, sich anspucken zu müssen, dann lassen Sie es mich wissen. Wir werden die Verhandlung aussetzen und ich werde Ihnen einen Psychiater besorgen, bei dem Sie Ihre Emotionen loswerden können. Hier ist kein Platz dafür. Hier entscheiden wir, wer das Sorgerecht für die Kinder erhält, wer Unterhalt zahlt und wie die Besuchszeiten geregelt werden. Das interessiert mich. Alles andere mag auch interessant sein, hat aber hier nichts zu suchen. Ich gebe Ihnen jetzt genau drei Minuten Zeit, sich zu entscheiden, ob Sie sich weiter mit Exkrementen bewerfen oder die Hand reichen wollen zu einer konstruktiven, rechtlichen Lösung. Die Verhandlung ist für drei Minuten unterbrochen!“ Die Parteien zuckten zusammen, zogen ihre Köpfe ein und schauten zu ihren Anwälten hoch. Dann berieten sie sich mit ihnen und beteuerten nach drei Minuten wie begossene Pudel, dass sie bereit seien, ihren Teil zu einer konstruktiven Lösung beizutragen. Die Verhandlung dauerte meistens noch knapp eine Stunde und war dann zu Ende. Am Ende der Verhandlung bedankten sich die beiden Anwälte für die lösungsorientierte Verhandlungsführung beim Herrn Präsidenten. Ich war sehr beeindruckt von seinem Stil, die Verhandlungen zu führen, und fragte ihn einmal, wie er dazu gekommen sei: „Ich habe einfach keine Zeit, mir diesen ganzen Schwachsinn anzuhören. Ich will es aber auch nicht. Für die Seelenpflege bin ich nicht zuständig. Da sollen sie zum Psychiater oder Pfarrer gehen. Ich spreche Recht. Recht ist das, was der Richter für Recht erklärt. Das hat schon Prof. Max Kummer sehr zutreffend festgestellt. Diese Rechtsfindung geht nach objektiv feststellbaren Kriterien vor sich. Da hat der ganze emotionale Schwachsinn einfach keinen Platz. Ich habe mir dann überlegt, wie ich dies am besten durchsetzen kann. Wir kamen dann auf die Lösung, die ich jetzt 40

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Richter haben die Macht, die wir ihnen geben

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RoTWEIN ZUM FISCH SERVIERT.

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seit Jahren mit großem Erfolg praktiziere: entweder Psychiater oder Richter. Die Parteien können wählen. Die Anwälte spielen mit, nicht zuletzt deshalb, weil sie sehen, wie wenige von meinen Urteilen angefochten werden.“ Ich fand die Argumentation bemerkenswert und fragte dann einen Anwalt, was er von diesem Vorgehen „seines Präsidenten“ halte: „Mir ist es selbst immer peinlich, wenn meine Mandanten ausfällig werden. Aber viele von ihnen scheinen es zu brauchen. Viele, und dies ist in Ehesachen besonders tragisch, missbrauchen uns Anwälte und vor allem auch das Gericht zur Deponierung von Gefühlsschrott, der sich über Jahre zwischen den beiden angesammelt hat. Ich selbst mag das nicht und unterstütze deshalb die klare Prozessführung unseres Herrn Präsidenten.“ Ich pflichtete dem Herrn Kollegen damals bei. Schon bald kam mir aber ein anderer Gedanke: Könnte es nicht sein, dass die Anwälte in ihrem Übereifer, ihren Mandanten vor rechtlichen Nachteilen zu schützen, diesen Krieg zwischen den beiden Parteien geradezu anheizen?

! 4. Glaubenssatz: Der Anwalt ist der Legionär seines Mandanten. Oder: Ich gewinne, wenn Du verlierst! Der vierte Glaubenssatz beschreibt die Beziehung des nach der juristischen Methode arbeitenden Anwalts zu seinem Mandanten: Der Anwalt ist in den meisten uns bekannten Rechtsordnungen nicht „Diener am Recht“ oder „Diener der friedlichen Konfliktlösung“, sondern gilt als parteilicher „Interessenvertreter“ seines Mandanten (mag man ihn auch mit so wohlklingenden Namen wie „Organ der Rechtspflege“ betiteln). In dieser Stellung sieht er seine Rolle darin, dass er seinem Mandanten als exzellenter Kampfgefährte in der Schlacht vor Gericht beisteht. Diese Schlacht kennt, wie alle Schlachten, nur zwei Endzustände: den Zustand des Siegers und den Zustand des Verlierers. Der Anwalt ist bestrebt, seinen Mandanten zum Sieger und die Gegenseite zum Verlierer zu machen, denn es gilt: „The winner takes it all!“ – das heißt, die unterlegene Partei muss nicht nur die bittere Niederlage einstecken, nein, sie muss zusätzlich auch noch die Gerichtskosten und die Kosten der beteiligten Anwälte bezahlen … Dr. von Streidt ist bekannt als gnadenloser Landsknecht im Dienste seines Kriegsherrn. Mit geübtem Kämpferblick hat er erkannt, dass die Hecke zu nahe am Grundstück seines Mandanten gepflanzt wurde. Er wusste, dass er in der Schlacht für seinen Mandanten einen entscheidenden Vorteil erringen kann, wenn er den Gegner demütigt, indem er die Rückversetzung der Hecke verlangt. Der Gegenanwalt, nicht verlegen und ebenfalls ein ausgezeichneter Kenner des juristischen Schwertkampfes, verlangte „Beseitigung oder zumindest Kappen“ der Bäume und die Beseitigung des Bootssteges. 42

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Der vierte Glaubenssatz geht daher davon aus, dass der Anwalt die Interessen seines Mandanten am besten vertritt, wenn er seinem Mandanten zum Sieg und der Gegenpartei zur Niederlage verhilft. Auch dazu einige Beispiele aus der Zeit meiner „Anwaltswerdung“: Nach meiner Tätigkeit als Gerichtssubstitut durfte ich endlich als Anwalt arbeiten. Zuerst war ich ein Jahr bei einem „alten Kämpfer“ in Bern tätig. Danach machte ich meine „Fürsprecherprüfung“ und ging als angestellter Mitarbeiter in eine mittelgroße Wirtschaftskanzlei nach Zürich. Eines wurde mir sofort beigebracht: Als Anwalt war ich nicht mehr wie zu meiner Zeit als Student oder Richtergehilfe „Diener am Recht“, sondern ich war nun „Interessenvertreter“ meines Mandanten. Ich verdiente mein Geld damit, dass ich den schützenden Schild meiner sieben Jahre Rechtsstudium vor meinen Mandanten hielt, um alle Unbill von ihm abzuhalten. Mein Mandant war mir zum unbedingten Schutze anempfohlen. Wie sieht eine solche Verteidigung, ein solcher rechtlicher Schutzschild, in einem konkreten Fall, etwa einem Arbeitskonflikt, aus? Nehmen wir nun einmal an, ein Mandant kommt zu mir, dessen Arbeitgeber ihm gekündigt hat und von mir vertreten werden will. Er teilt mir mit, dass er sich eigentlich sowieso beruflich verändern wollte und mit dem Gedanken gespielt habe, dass ihm sein bisheriger Arbeitgeber bei der Verschaffung eines Arbeitsplatzes bei einem anderen Unternehmer hätte behilflich sein können; jetzt komme die Kündigung aber aus finanziellen Gründen ganz und gar ungelegen. Jeder normale Mensch würde nun sagen: „Gut, wenn das so ist, setzen wir uns mal zusammen und versuchen, die Sache in Frieden lösen.“ Nicht so der Anwalt. Der Anwalt muss aufpassen, dass sein Mandant keine Rechtsnachteile erleidet. Von Nachteil kann aber sein, wenn der Mandant die kurze Frist von drei Wochen für eine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht versäumt, weil er auf eine einvernehmliche Regelung hofft. Also wird er Klage erheben und in Kauf nehmen, dass im Prozess unvereinbare und überzogene Positionen bezogen werden, welche einer interessengerechten Lösung sodann im Wege stehen. Ich habe oft erlebt, dass Parteien, die am Anfang sehr kooperativ waren, gerade durch den übermäßigen Schutz, den ich ihnen als ihr Anwalt zukommen ließ, zu kämpfenden, speienden Hyänen geworden sind. In einer Ehescheidung hatten die Parteien schriftlich ausgemacht, wer welchen Teil des Hausrates übernimmt, und an einem Wochenende fand schließlich die Realteilung statt. Ich bat meinen Mandanten nun, um ihn vor rechtlichen Nachteilen zu bewahren, die Gegenstände, die er erhalten hatte, genau zu prüfen und mir zu sagen, ob sie intakt seien oder nicht. Der Mandant prüfte das Radio und entdeckte, dass der Einstellknopf abgebrochen war. Beim 24-teiligen Teeset stellte er fest, dass zwei Tassen nicht 43

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Der Anwalt als Legionär seines Mandanten

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mehr der Originalausführung entsprachen. Beim Durchzählen der Skatkarten fehlten drei Stück . . . Dies listete ich fein säuberlich auf und schickte es der Gegenpartei. Nach einer Woche kam die Retourkutsche: Die Gegenpartei schickte ihrerseits eine detaillierte 20-seitige Liste von allen bezogenen Gegenständen. Die Fehlerliste allein umfasste elf Seiten. Das brachte natürlich meinen Mandanten in Rage. Er spuckt Galle auf seinen kleinlichen Ehepartner und war beim nächsten Meeting schon sehr viel weniger kooperativ. Stattdessen war er nun versessen darauf, dem andern nachzuweisen, wie kleinlich er sei und was er alles falsch mache oder falsch gemacht habe. Und ich als Anwalt, was habe ich damals getan? Ich habe mich bekreuzigt, gestöhnt und fühlte mich abermals darin bestätigt, dass die Klienten ja nur eins im Sinn hätten: der Gegenpartei eins überzubraten. Es sei traurig aber wahr. So sei eben das Leben. Haben wir Anwälte uns aber auch schon einmal darüber Gedanken gemacht, dass gerade unsere Funktion als „Interessenvertreter“ der einen Partei genau dieses kleinkarierte Verhalten fördert? Dass wir durch den übermäßigen Schutz unserer Klienten genau diese wechselseitige Eskalation provozieren? Mir ist diese systemimmanente Eskalationstendenz sehr früh aufgefallen. Ich habe sie mit einem meiner juristischen Lehrmeister, einem kampfeslustigen und kampferprobten Anwalt besprochen und erhielt folgende Antwort: „Herr Kollege, Sie haben viel zu viel Verständnis für die Gegenpartei. Sie argumentieren viel zu psychologisch. Damit vergeben Sie sich Prozesschancen. Ein guter Anwalt hat nur ein Ziel: die ‚Interessen‘ seiner Partei so gut wie möglich zu vertreten und durchzusetzen. Dazu ist es notwendig, die Gegenpartei als Feind zu sehen, den es zu vernichten gilt. Sie sind der Legionär Ihres Mandanten, Herr Kollege. Schreiben Sie sich das mit einem dicken Filzstift hinter beide Ohren!“ Das ist eine klare und eindeutige Handlungsanweisung. Sie entspricht genau dem, was wir heute unter Sieger-/Verlierer-Denken bezeichnen, und führt zu einem Schlagabtausch, der allerdings auf Dauer noch nie einen Sieger hervorgebracht hat. Dieses Denken führt zum Krieg. Der Prozess ist oft nichts anderes als Krieg. Die anwaltliche Tätigkeit ist dann nichts als Kriegshandwerk. Das Schlachtfeld ist das Gericht. Clausewitz lässt grüßen. Dieses martialische Denken beherrscht genauso wirtschaftliche Auseinandersetzungen. Es war meine Aufgabe, meiner Partei in jedem Vertrag so viele Vorteile wie möglich zu verschaffen und meiner Gegenpartei möglichst viele Nachteile: Ihre Niederlage sollte mein Sieg sein. Ein anderer Kollege erzählte mir mit Stolz, wie er früher, als er noch für eine große Holding Firmen aufkaufte, die Verhandlungen generalstabsmäßig plante: 45

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„Zuerst haben wir die Verträge vorbereitet, die so geschickt formuliert waren, dass sie der Gegenpartei scheinbar nur Vorteile einräumten, uns aber alle Nachteile auferlegten. Wir haben sehr viel Zeit damit verbracht, dies so honigkuchenhaft wie möglich zu formulieren. In Wahrheit war es natürlich gerade umgekehrt: Alle angeblichen Vorteile waren umformulierte Nachteile, und unsere Nachteile waren umformulierte Vorteile. Dann tauschten wir die Verträge aus. Die Korrekturvorschläge der anderen Seite beantworteten wir immer erst in der letzten Minute, am liebsten einen Tag vor der Unterzeichnung. Das Terminieren der Unterzeichnung war besonders wichtig. Dazu suchte meine Sekretärin jeweils den für alle einfliegenden Parteien ungünstigsten Moment aus. Die Vertragsgegner sollten übernächtigt und müde zum Verhandlungstermin erscheinen. Damit es ihnen ja nicht zu wohl wurde, senkten wir die Raumtemperatur auf 16 Grad und langweilten die Gegner durch endlose Folienorgien. Nach zwei bis drei Stunden, wenn die Gegner nur noch einen Wunsch hatten, nämlich so rasch wie möglich ins Bett zu kommen, um ihren Jetlag auszuschlafen, schoben wir die Verträge in ihrer letzten Fassung über den Tisch. Nach höchstens fünf Minuten waren sie meistens unterzeichnet. Und die Firma gehörte uns. Wie vereinbart zahlten wir 2/3 des Verkaufspreises sofort. Das letzte Drittel bezahlten wir aber nie. Sobald wir die Firma in Händen hatten, fanden wir Leichen im Keller und argumentierten nun, wir seien betrogen worden und nicht verpflichtet, den Restkaufpreis zu bezahlen. So habe ich meinen Mandanten Millionen Dollar gespart.“ Der Kollege verlor die Holding nach einigen Jahren als Klientin. Man munkelte, sie hätten einen noch skrupelloseren Rechtsvertreter gefunden.

! 5. Glaubenssatz: Der erfolgreiche Anwalt ist ein Archäologe auf dem Feld der Sachverhalte. Oder: Wo warst Du gestern? Die moderne Kommunikationswissenschaft des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) arbeitet mit so genannten Sorting Styles oder Meta-Programme 11 (auf deutsch: Wahrnehmungskategorien). Sie sind vorbewusste Raster, nach denen wir die meisten unserer Entscheidungen vorsortieren. Es gibt beispielsweise Menschen, die suchen einen neuen Job nach folgendem Muster: „Also: In meiner nächsten Anstellung will ich keinen nervösen, nörgelnden Chef mehr haben. So viele dusselige Kollegen will ich auch nicht mehr haben. Zudem mag ich kein so mickriges Salär mehr.“

11 Näher dazu unten Teil 2, 3.1, S. 74 ff.

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Wo warst Du gestern?

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Andere suchen sich ihre Stelle unter anderen Gesichtspunkten: „Ich will eine Anstellung, in der ich einen zuvorkommenden, großzügigen Chef habe. Ich möchte im Team arbeiten und 20 % mehr verdienen als bisher.“ Was ist der Unterschied? Die erste Person wählt sich ihre Stelle reaktiv aus, sie weiß, was sie nicht will. Die zweite Person wählt sich ihre neue Stelle proaktiv aus. Sie weiß, was sie will. Die Neurolinguisten folgern daraus, dass die erste Person ihre Umwelt nach „weg von“ (weg von nervösem Chef, weg von dusseligen Kollegen) sortiert, die anderen nach „hin zu“ (hin zu zuvorkommendem Chef, hin zu teamorientiertem Arbeiten). Andere Wahrnehmungskategorien sind beispielsweise „gleich“ (genauso wie etwas, das ich früher gemacht habe) oder „ungleich“ (anders als früher). Eine wichtige Wahrnehmungskategorie ist auch die Einheitsgröße, in der wir denken. Wenn Sie wissen möchten, welches Ihre bevorzugten Wahrnehmungskategorien sind, denken Sie einmal über folgende Fragen nach: • Wahrnehmungskategorien gleich/ungleich: Wenn Sie in ein neues Restaurant gehen, bestellen Sie etwas, von dem Sie wissen, dass es Ihnen schmeckt (gleich), oder nehmen Sie eines der Gerichte, das Sie noch nie gegessen haben (ungleich)? Fahren Sie seit 20 Jahren die gleiche Automarke oder wechseln Sie gerne von VW zu Citroën, von Citroën zu Lancia, von Lancia zu Lexus, von Lexus zu Skoda? Verbringen Sie Ihre Ferien, so lange Sie denken können, mit Ihrer Familie am Wolfgangsee, oder sind Sie letztes Jahr mit Ihrem Ehepartner nach Feuerland gefahren, und möchten Sie vielleicht nächstes Jahr nach Tasmanien reisen? • Wahrnehmungskategorien große Einheiten/kleine Einheiten: Wenn Sie dann nach Tasmanien verreisen, genügt es Ihnen, wenn Sie wissen, wo es liegt und Sie das Flugticket, die erste Hoteladresse und den Reiseführer im Gepäck haben oder haben Sie sich in nächtelanger Kleinarbeit einen minutiösen Routenplan zusammengestellt, der auch berücksichtigt, dass Sie dreimal pro Woche Hausmannskost essen können? Kennen Sie Ihre Lebensziele oder sichern Sie jeden Karriereschritt tausendfach ab? Ein Meisterdenker in großen Einheiten war Albert Einstein, der einmal sinngemäß formulierte: „Was mich in meiner Arbeit interessiert, ist, was sich Gott gedacht hat, als er das Universum erschaffen hat. Der Rest sind Details!“ Weitere wichtige Wahrnehmungskategorien sind: Vergangenheits- oder Zukunftsausrichtung, fehler- oder lösungsorientiertes Denken. Bei unserer Analyse der anwaltlichen Arbeit haben wir herausgefunden, dass der typische, erfolgreiche Anwender der juristischen Methode in klei48

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nen Einheiten (das heißt buchhalterisch), vergangenheitsbezogen und fehlerorientiert denkt. Mit den drei genannten Wahrnehmungskategorien wollen wir uns in diesem und in den beiden folgenden Kapiteln auseinandersetzen. Beginnen wir mit der Orientierung in der Zeit: Ist das anwaltliche Denken eher an der Zukunft oder an der Vergangenheit orientiert? Diese Frage lässt sich sehr einfach beantworten: Die juristische Methode fragt, ob ein Anspruch existiert und wie dieser Anspruch zu begründen ist. Die Denkrichtung ist somit eindeutig nicht der Zukunft zugewandt, sondern der Vergangenheit. Wer es nicht glaubt, schaue sich einmal in der Bibliothek eines Juristen um. Besteht die Bibliothek hauptsächlich aus Büchern, die Pläne und Entwürfe enthalten, wie wir in Zukunft konfliktfreier kommunizieren können? Mitnichten! Der größte Teil des Buchbestandes eines Juristen besteht aus der Sammlung von Bänden, in welchem ein Gericht von gestern über einen Sachverhalt von vorgestern geurteilt hat. In England können Urteile, die einen Prozess der Gegenwart entscheiden sollen, hunderte von Jahren alt sein. Ein großer Teil meiner Arbeit beim Strafgericht bestand dann auch darin, Urteile über Sachverhalte, die sich oft schon vor Jahren zugetragen hatten, rechtslogisch zu begründen. Als Referendar beim Anwalt musste ich oft tagelang nichts anderes tun, als jahrzehntealte Dokumente nach juristisch verwertbaren Fakten zu durchforsten. Als junger Mitarbeiter listete ich wochenlang Ereignisse für wichtige Prozesse auf. Wenn ich die Kanzlei abends verließ, war ich oft erstaunt, dass wir tatsächlich schon Ende des 20. Jahrhunderts lebten. Welche Orientierung in der Zeit hatte Dr. von Streidt? Auch er lebte vorwiegend in der Vergangenheit: Er fand einen Anspruch, mit dem er das Recht seines Mandanten auf ungestörten Genuß der wochenendlichen Stille begründen konnte. Im weiteren Verlauf seiner „Forschungen“ entdeckte er, dass Rödelmeier vor Jahren die Hecke zu nah an der Grenze gepflanzt hatte, und eine besonders glückliche Hand zeigte er darin, als er mit einem Gesetz aus dem letzten Jahrhundert die vom Gesetzgeber gewollte Regelungslücke bezüglich des Bootssteges nachweisen konnte. Manchmal bedauert es Dr. von Streidt in stillen Stunden, dass er nicht Archäologe geworden war.

! 6. Glaubenssatz: Gute Anwälte konzentrieren sich auf Details. Oder: Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert Denken erfolgreiche Anwälte in großen oder in kleinen Einheiten? Sind Anwälte Visionäre oder Buchhalter? Diese Frage hat mir der Seniorpartner 49

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meiner Kanzlei, in der ich damals arbeitete, schon zu Beginn meiner Tätigkeit klar und deutlich beantwortet: „Herr Kollege, Sie sind nun Mitarbeiter in einer großen Kanzlei. Wenn Sie unsere Akten durchblättern, werden Sie sehen, dass wir für bedeutende internationale Konzerne arbeiten. Die große weite Welt ruft. Dies ist aber nicht die Tätigkeit, mit der sich ein Anwalt wirklich beschäftigt. Die Tätigkeit des Anwaltes ist in Tat und Wahrheit Knochenarbeit. Sie besteht im tagtäglichen Suchen und Finden von minimalen Spuren. Sie besteht im mühsamen Begründen von Ansprüchen und im präzisen Abfassen von Rechtsschriften. Behalten Sie das vor Augen, wenn Sie nach London oder Paris fliegen werden!“ Meine Fähigkeiten als juristisch geschulter Buchhalter konnte ich dann auch gleich unter Beweis stellen: Einer unserer Mandanten, ein großer Computerhersteller, hatte eine Werbekampagne mit einem Bild lanciert, das einen an René Magritte erinnernden Wolkenkopf zeigte. Kaum war die Kampagne gestartet, meldete sich ein Mitbewerber und verlangte deren Einstellung mit der Behauptung, er besitze die Rechte an dem von unserer Mandantin benutzten Bild. Dazu schickte die Rechtsabteilung uns einen Auszug aus dem Markenregister. Tatsächlich war ein von der Seite abgebildeter Menschenkopf als das Zeichen der Firma hinterlegt. Ich konnte für unsere Seite nachweisen, dass die Werbeagentur als Vorlage tatsächlich ein Magritte-Bild verwendet hatte, wozu sie auch die Rechte erworben hatte. Das war schon nicht schlecht. Ich wollte aber mehr. Irgendwie kam mir nämlich das Zeichen der Gegenpartei bekannt vor. Wo hatte ich diesen Kopf nur schon mal gesehen? Ich wusste, dass es in einem Trickfilm gewesen sein muss, den ich in den 70er Jahren gesehen hatte. Aber welcher war es? Ich ging an die Universität Zürich, wo gerade ein filmwissenschaftliches Institut aufgebaut wurde. Aber niemand konnte mir helfen. Ich telefonierte mit Verleihern und besuchte Filmbuchhandlungen in Bern und Zürich. Endlich wurde ich fündig: Die Gegenpartei hatte die Figur tatsächlich aus einem Film gestohlen, und zwar aus Roland Topors „La planète sauvage“. In einem netten Brief schrieb ich dann der Gegenpartei, dass ich herausgefunden hatte, wo sie ihren Kopf kopiert hatten, und ich eröffnete ihr, dass ich selbstverständlich mein Wissen verwerten würde, wenn sie weiter die Kampagne unserer Mandantin torpedierte. Der Brief tat seine Wirkung, denn wir hörten nie mehr etwas von der anderen Seite. Meine Fähigkeit, eine haarkleine Spur gnadenlos verfolgen zu können, tat auch mir gut: Ich war fortan in unserer Kanzlei der Spezialist für Immaterialgüterrecht. Ein anderes Beispiel anwaltlicher Detailarbeit erzählte mir ein Partner einer deutschen Großkanzlei, die vor allem durch ihre Künste auf dem Gebiet des Kartellrechts bekannt geworden war. Mit großer Verehrung beobachtete ich als junger Anwalt das Tun des Meisters. Eines Tages nahm er mich beiseite, um mir das größte seiner Erfolgsgeheimnisse zu verkünden: „Wissen Sie, 50

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Herr Kollege, der wichtigste Körperteil des Anwalts ist nicht sein Kopf, sondern sein Hintern.“ Als er meinen zwischen Enttäuschung und Desillusion schwankenden Gesichtsausdruck bemerkte, fuhr er fort: „Wissen Sie, auch ich habe einmal als junger Anwalt begonnen und geglaubt, mit meinen guten Examensnoten und meinem profunden juristischen Wissen sei ich unaufhaltsam auf der Straße des Erfolges. Bis ich dann bemerkte, dass es in der Praxis nicht um die Lösung rechtlich schwieriger Examensklausuren geht, sondern darum, rechtlich günstige Sachverhalte für die Klienten zu ermitteln. Was nutzt Ihr ganzes juristisches Wissen, wenn der Sachverhalt nicht ausreicht, dass Sie darauf einen für Ihre Partei günstigen Anspruch stützen können? In unserem Beruf treffen Sie aber meist auf die Welt unbekannter Sachverhalte, die Sie so aufklären müssen, dass Sie einen Anspruch für Ihre Mandantschaft begründen können. Also eigentlich sind Sie meist mehr Detektiv und weniger Rechtsgelehrter. Als Detektiv müssen Sie Spuren verfolgen und sichern, Zeugen ausfindig machen und – das ist das Besondere an unserer Arbeit – Sie müssen Tonnen von Papier durcharbeiten, um möglicherweise auf den entscheidenden Hinweis zu stoßen. Sie haben ja sicher schon von meinem ‚Mehl-Fall‘ 12 gehört. Die Brüsseler Behörden hatten den Verdacht, dass zwischen verschiedenen europäischen Mehlproduzenten Preisabsprachen bestünden und überraschten zwei Mitglieder des Vorstandes unserer Mandantschaft bei einem gemeinsamen Frühstück mit mehreren Vertretern anderer europäischer Mehlproduzenten. Da die Behörden nicht so recht glauben wollten, dass man sich nur getroffen habe, um Verbesserungsmöglichkeiten der Mehlqualität zu besprechen, beschlagnahmten die Fahnder nicht nur die Unterlagen der anwesenden Herren, sondern auch zahlreiche Akten bei der gleichzeitig durchgeführten Durchsuchung der Büros der beteiligten Unternehmen. Den Fund der Kartellfahnder nutzte die Kommission, um unserer Mandantin eine Buße von 15 Mio. Franken aufzubrummen. Unsere Mandantin beauftragte mich mit dem Fall und ich ließ mir alle Akten aus Brüssel kommen, nachdem unser Hausschreiner mein ganzes Zimmer mit Aktenregalen ausgestattet hatte. Daraufhin teilte ich meinen Mandanten mit, dass ich in den nächsten zwei Monaten anderweitig ausgebucht sei, übergab meine laufenden Fälle dem Kollegen Bachmaier, setzte mich in mein Zimmer und brachte außen das Schild ‚Do not disturb‘ an. Meine Sekretärin brachte mir das Mittagessen ins Zimmer. So lebte ich einige Zeit mit 324 Aktenordnern in meiner Klausur und las und las und las. … Nach knapp 14 Tagen, es war genau bei Ordner 67, fand ich in einer Plastikhülle, gut versteckt zwischen anderen Papieren, den Aktenvermerk des Vorstandsvorsitzenden unserer Mandantin, in dem dieser sich Preisabsprachen widersetzt und vor deren Folgen gewarnt hatte. Aufgrund einiger anderer Umstände gelang es uns nicht, die volle Unschuld unserer Mandantin zu beweisen, aber die Buße wurde auf 4 Mio. Franken reduziert. Also hatte ich mit meinem Hintern für die 12 Alle Angaben sind zur Wahrung der Verschwiegenheit auch noch nach mehr als 40 Jahren geändert.

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Mandantin 11 Mio. Franken verdient, also rund eine Million pro Tag. Nicht schlecht, oder?“ Auch Dr. von Streidt war ein guter vergangenheitsorientierter Spürhund: Mit Ausdauer fand er heraus, dass die Hecke im Durchschnitt 47,3 cm zu nahe an der Grenze gepflanzt war. Der 6. Glaubenssatz basiert auf der Überzeugung, dass auch die kleinste Kleinigkeit von entscheidender Bedeutung sein kann!

! 7. Glaubenssatz: Gute Anwälte konzentrieren sich auf die Fehler anderer. Oder: Wo ist das Haar in der Suppe? Der Anwalt ist bestrebt, seinen Anspruch zu begründen und den Anspruch der Gegenpartei zu entkräften. Dabei empfiehlt es sich, mit der Lupe vorzugehen und nichts ungeprüft zu lassen. Die anwaltliche Tätigkeit ist somit primär fehler- und mikrokosmosorientiert. Hier hat Dr. von Streidt mit glücklicher Hand feststellen können, dass Dr. Seelig infolge einer Gesetzeslücke keine Bewilligung zum Bau des Bootssteges brauchte. Es gelang ihm somit, den Anspruch der Gegenpartei zu entkräften. Auch ich lernte fehlerorientiert zu denken: Ein typischer Fall ereignete sich einmal in meiner Zeit als Mitarbeiter in der Wirtschaftskanzlei in Zürich. Eine meiner Mandantinnen, eine international tätige Holding, wurde von einer amerikanischen Firma in den USA verklagt. Eine amerikanische Tochter der Holding sollte verkauft werden. Der Verkauf kam aber nicht zustande. Der Interessent behauptete nun, er sei betrogen worden. Die Eigentümer hätten gar nie verkaufen wollen. Er forderte Schadensersatz in Höhe von rund 50 Mio. Dollar. Als ich den Betrag las, erschrak ich: 50 Millionen Dollar! Das war zweifellos Chefsache. Ich ging zu meinem Chef, der übrigens auch persönlich verklagt wurde, und schilderte ihm den Fall. Er blieb sehr gelassen und meinte bloß: „Es wird nie so heiß gegessen, wie gekocht wird! Gehen Sie mal zu Dr. Senftleben, der wird Ihnen zeigen, wie wir unseren amerikanischen Angreifer hinhalten können!“ Dr. Senftleben belehrte mich dann, dass internationale Rechtsverfolgung strengen formellen Regeln unterläge und dass man sich solche Prozesse am leichtesten vom Halse halten könnte, wenn man sich auf die formalen Fehler der Gegenpartei konzentrieren würde und diese sukzessiv rügen würde. Als erstes sollte ich schauen, ob die Klage formgerecht zugestellt wäre. Das war sie natürlich nicht. Sie war uns einfach mit der Post zugestellt worden. Dies stellt – völkerrechtlich gesehen – eine Verletzung des schweizerischen Hoheitsrechtes dar. Wir schickten die Klage deshalb dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartment zu, das bei der amerikanischen 52

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Botschaft protestierte. Nach zwei Monaten wurde uns die Klage völkerrechtskonform zugestellt. Als Nächstes rügten wir, dass die Klage in englisch und somit nicht in einer schweizerischen Gerichtssprache abgefasst worden war. Nach zwei Monaten kam die Klage auf Deutsch übersetzt zurück. Nun rügten wir, dass der Übersetzer nicht formgerecht vereidigt worden war. Die nächste Sendung enthielt auch dieses Dokument. Jetzt rügten wir das Fehlen einer Überbestätigung (Affidavit) der vereidigenden Stelle. So ging es nun weiter. Immer fanden wir etwas, was nicht regelkonform durchgeführt wurde. Wir rügten diese Regelverletzung, und die „armen“ Gegner bemühten sich, diesen Fehler auszubügeln, während wir uns schon vorsorglicherweise darüber Gedanken machten, was wir als Nächstes rügen wollten. Nach etwas über einem Jahr transatlantischen Hin und Hers übergaben wir den Fall einem Kollegen in Chicago, der weiter Pingpong mit der Gegenpartei spielte. Es fiel ihm leicht, denn auch er war geschult in der unter allen Anwälten dieser Erde verbreiteten Denkweise, Fehler beim anderen zu finden. Als ich die Kanzlei verließ und mich selbständig machte, war das Hickhack immer noch in vollem Gange und hatte unsere Partei bereits über 200 000 Franken nur an Anwaltsgebühren gekostet. Gute Anwälte haben ein berufsmäßig antrainiertes Misstrauen. Sie finden jeden Fehler mit schlafwandlerischer Sicherheit, wie etwa mein Kollege Dr. von Meienthal, der einmal einen Fall betreute, an dem ein anderer Kollege schon jahrelang erfolglos herumgebastelt hatte. Die Akten umfassten acht Mappen, die ihm die Sekretärin auf den großen Tisch im Besprechungszimmer legte. Dr. von Meienthal zog sich für eine Stunde mit den Akten zurück und kam dann in mein Büro. In der Hand hatte er einen Vertrag, den er aus dem Aktenmeer gefischt hatte: „Dieses Papier ist der Vertrag, auf den die Gegenpartei ihre Ansprüche stützt. Prüfen Sie einmal, ob die Herren, die da unterschrieben haben, tatsächlich unterschriftsberechtigt waren.“ Ich besorgte mir Handelsregisterauszüge und stellte mit Freuden fest, dass beide Herren, die für die Gegenpartei unterschrieben hatten, erst kurze Zeit vor der Unterzeichnung zu Geschäftsführern ernannt worden waren. Da der Vertrag aber vor der Publizierung der Eintragung unterzeichnet worden war, lag keine rechtswirksame Vertretung vor (dies ist im Bereich des deutschen Rechts anders, wie der rechtskundige deutsche Leser sicher festgestellt hat). Damit war der Fall in nur zwei Stunden gelöst, die Ansprüche der Gegenpartei abgewehrt. Meine Bewunderung für Dr. von Meienthal war grenzenlos. Ich glaube aber heute, dass eine solche fehlerorientierte Denkweise nicht abends an der Türe der Kanzlei einfach aufhört. Der juristisch Geprägte 53

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wird unbewusst auch im Privatleben misstrauisch alles nach Fehlern abtasten: Er wird seiner Frau nachweisen, dass ihre blaue Hose nicht zum türkisfarbenen Hemd passt, und den Dachdeckern, die gerade sein Haus neu gedeckt haben, wird er das Leben sauer machen, weil er herausfinden wird, dass sie überdurchschnittlich viele Ziegel beim Decken zerbrochen haben. Je länger er diese Fähigkeit, überall und zu jeder Zeit die Fehler der anderen zu entdecken, trainiert, desto misstrauischer und pessimistischer wird er werden. Alle scheinen ihn betrügen zu wollen, und sein Leben wird „Ein Leben voller Fallgruben“ 13 werden. Der 7. Glaubenssatz des Dr. von Streidt beruht auf der Überzeugung, dass ein guter Jurist fehlerorientiert arbeitet. Er blickt scharf auf alles, was falsch ist, und findet mit Leichtigkeit die Fehler der Gegenpartei. Andererseits meidet er nach besten Kräften alle Situationen, in denen er selbst Fehler machen kann. Ein fehlerorientiertes Leben führte beispielsweise auch mein Kollege Dr. Senftleben. Eines Morgens kam er mit schwarz umrandeten Augen, aber voller Stolz in mein Büro und sagte: „Herr Kollege! Heute morgen um 4:00 Uhr bin ich zitternd aus dem Schlaf aufgewacht, weil mir noch eine Fehlermöglichkeit in unserem Lizenzvertragsentwurf in den Sinn gekommen ist. Ich bin dann in mein Studierzimmer gegangen und habe nach Regelungsmöglichkeiten gesucht. Um 7.13 Uhr hatte ich auch diese Sache unter Kontrolle.“ In einem solchen Leben muss das berühmte halbvolle Glas immer halbleer sein! Interessant an dem eingangs beschriebenen Fall der Klage aus USA ist vielleicht noch, dass sich zu Beginn der Auseinandersetzungen einmal alle Anwälte der Töchter der Holding bei einem deutschen Kollegen im Frankfurter Bankenviertel trafen, wo wir die Vorgehensweise konzertieren wollten. Der deutsche Kollege, ein erfahrener Anwalt und Notar von etwa 60 Jahren, eröffnete die Sitzung mit folgenden Worten: „Ich möchte Sie bitten, sehr geehrte Kollegen, bevor wir überhaupt anfangen, uns juristisch den Kopf über die Vorgehensweise zu zerbrechen, sich zu überlegen, ob es angesichts der horrenden Kosten, die auf uns zukommen werden, nicht sinnvoller ist, der Gegenpartei 30 000 Franken anzubieten, wenn sie dafür die Klage zurückzieht. Ich weiß, das ist nicht juristisch gedacht, aber ökonomisch. Ich erwarte nämlich Prozesskosten von mehreren 100 000 Franken, die uns, auch wenn wir gewinnen, was ich für sehr wahrscheinlich halte, nicht zurückerstattet werden. Was halten Sie davon?“ Die Anwälte der beteiligten Gesellschaft und deren Geschäftsführer sprangen entrüstet auf, sprachen von verletzter Ehre, riefen „Dem Kerl werden wir es zeigen!“ und lehnten das Angebot ab. 13 So lautet der treffende Buchtitel des Romans des marokkanischen Schriftstellers Driss Ben Hamed Charhadi, Greno 1985.

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Als der Prozess etliche Jahre später entschieden wurde, wurde die gegen die Holding und ihre Tochtergesellschaften gerichtete Klage abgewiesen. Der Haken dabei war nur, dass die Beklagten für ihre Anwälte gut 500 000 Franken an Prozesskosten zu zahlen hatten. Was es die Beteiligten wirtschaftlich gekostet hat, dass ein Teil des Managements sich jahrelang auf diese Auseinandersetzung konzentrierte, hat niemand berechnet . . . Nach all diesen Erfahrungen begannen wir zu ahnen, dass es auch eine andere Betrachtungsweise als die unter Anwälten übliche geben könnte. Doch wie sieht die aus? Welche Glaubenssätze liegen dieser Betrachtungsweise zugrunde? Welche Schritte sind notwendig, um mit dieser Denkweise möglicherweise schneller, effizienter und friedlicher ans Ziel zu kommen? Gibt es vielleicht eine Methode, mit der ich mein Ziel erreichen kann, ohne die andere Seite zum Verlierer stempeln zu müssen? Die Antwort auf diese Fragen werden wir erhalten, wenn wir im nächsten Teil Dr. Austin Cooper, einem Anwalt, der in der Methode des kooperativen Verhandelns geschult ist, über die Schultern sehen.

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Teil 2 Die Alternative: Das kooperative Verhandeln 1. Kooperatives Verhandeln als Alternative zur juristischen Methode In den vorstehenden Kapiteln haben wir dargestellt, wohin die Konfliktbearbeitung führen kann, wenn wir die „juristische Methode“ anwenden. Die Konflikte werden dann tatsächlich, wie Bucher/Wiegand treffend feststellen, „entschieden“1. Wie wäre es aber, wenn Konflikte nicht „entschieden“, sondern „gelöst“ würden? Wenn nicht ein höhergestellter Richter, also ein Ungleicher, sagt, wer Recht und wer Unrecht hat? Wenn sich die Parteien des Konfliktes selbst finden könnten, um gemeinsam nach Lösungen aus dem Konflikt zu suchen? Um dies zu erreichen, täten wir gut daran, nicht zu fragen: Wer schuldet wem was aus welchem Rechtsgrund? Denn wenn wir die juristische Methode anwenden, landen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dort, wo juristisches Denken letztlich hinführt, nämlich vor dem Richter. Wir wären stattdessen besser beraten, zu fragen: „Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es, um unsere Interessen soweit wie möglich zu verwirklichen?“ Mit dieser Frage verlassen wir den Boden der juristischen Methode, denn wir denken dann nicht mehr in kleinen Einheiten, problemorientiert und vergangenheitsbezogen (also in Ansprüchen), sondern in großen Einheiten, zukunftsgerichtet, lösungsorientiert (also in Zielen). Winston Churchill hat das Dilemma der juristischen Methode treffend so formuliert: „Wenn wir die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander streiten lassen, werden wir die Zukunft verlieren“ (und Dr. Cooper hat diese Aussage zu einer seiner Glaubenssätze gemacht, wie wir noch sehen werden).

Das kooperative Verhandeln folgt einem gänzlich anderen Denkschema als die juristische Methode. Es fragt nicht nach den Ansprüchen der Partei, sondern nach ihren Zielen und deren Verwirklichung. Der erfolgreiche Verhandler stellt sich drei Fragen: 1.1 Was sind die Ziele der Parteien? Der kooperative Verhandler geht davon aus, dass die Parteien primär nicht Ansprüche, sondern Ziele haben, die sie verwirklichen möchten. Der erfolg1 Vgl. oben Teil 1, 2.1, S. 24 ff.

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reiche Verhandler wird also in einem ersten Schritt seine eigenen und sodann die Ziele der anderen Seite ermitteln. Wichtigste Voraussetzung dafür ist es, die Ziele einer Partei von ihrem Verhalten zu trennen. Das Verhalten ist die Art und Weise, mit der eine Partei versucht, ihre Ziele zu verwirklichen. Dr. Seelig wollte, dass die Jungmusiker aufhörten, zu spielen (Verhalten). Sein primäres Ziel, das ihn zu diesem Handeln veranlasste, war aber etwas anderes: Er wollte die Ruhe am See genießen können. Um dieses Ziel zu erreichen, sah er allerdings für die andere Seite nur eine Verhaltensmöglichkeit, obwohl es natürlich viele andere Wege gibt. Wenn ich mein Augenmerk auf die Ziele richte, verbreitere ich die Palette der Möglichkeiten, richte ich es dagegen auf das Verhalten, schränke ich sie ein. Albert Einstein hat einmal treffend formuliert: „Our thinking creates problems that the same type of thinking will not solve.“ 2 Verhaltensprobleme können also, legt man die Erkenntnis von Einstein zugrunde, nie auf der Ebene des Verhaltens, sondern nur auf einer höheren Ebene gelöst werden. Ziele sind dem Verhalten übergeordnet. Wenn mich also das Verhalten der anderen Partei stört, komme ich zu einer akzeptablen Lösung für beide Seiten im Regelfall nicht dadurch, dass ich die andere Partei zwinge, ihr Verhalten einseitig zu ändern, sondern dadurch, dass ich zunächst nach ihren Zielen frage und, ausgehend von den Zielen, gemeinsame Lösungsmöglichkeiten durch beidseitig akzeptierte Verhaltensänderungen finde. Wenn wir nach Zielen fragen, wollen wir wissen, was die Parteien wirklich wollen. Die Bandmitglieder beabsichtigen in unserem Fall primär nicht, Dr. Seelig zu stören, sondern für ihr Schulfest zu üben. Dr. Seelig will seinerseits primär nicht die Musiker überall auf der Welt am Üben hindern, sondern er will einfach seine Ruhe genießen. Wenn wir also einmal die Wünsche beider Seiten auf der Verhaltensebene gegenüber stellen, so ergäbe sich folgender (wie es scheint unlösbarer) Konflikt: Band: Am Wochenende am See Musik spielen. Dr. Seelig: Am Wochenende keine Musik auf dem Nachbargrundstück. Konfrontieren wir dagegen die Parteien auf der Zielebene, so ergibt sich Folgendes: Band: Für das Schulfest üben. Dr. Seelig: Sich vom Arbeitsstress in Ruhe erholen. Wenn wir diese Unterscheidung verinnerlichen, könnten wir ungeahnte Lösungsmöglichkeiten finden! Dann sähen wir beispielsweise, dass die Kol2 Zitiert nach Dilts, Strategies of Genius, Vol. II, S. 29.

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lision nicht in den Zielen liegt, sondern in dem Verhalten. Auf der Basis dieser Erkenntnis können wir nun an die Arbeit gehen, ein Verhalten zu finden, das unseren eigenen Zielen entspricht und die Ziele der anderen Seite nicht stört. Anders als bei der juristischen Methode fragen wir beim kooperativen Verhandeln zuerst nach den Zielen der anderen Seite, um dann aus der Vielfalt der möglichen Verhaltensweisen diejenige auszusuchen, die es beiden Seiten ermöglicht, ihr Ziel zu erreichen. Kooperatives Verhalten erhält und fördert die Komplexität der Lösungsmöglichkeiten, die juristische Methode reduziert sie. Eskalation reduziert die Fülle von Lösungen, fortgeschrittene Eskalation lässt schließlich nur noch eine Lösung übrig: den Kampf! Am Ende steht dann oft der gemeinsame Untergang.3 1.2 Welche Lösungen geben beiden Parteien die Möglichkeit, ihre Ziele zu erreichen? Wenn wir erst einmal herausgefunden haben, was die Parteien wirklich wollen, was ihr Ziel hinter ihrem Verhalten ist, haben wir meistens schon sehr viel gewonnen. Der Pulverdampf verfliegt ebenso wie der Glaube, der andere wolle uns vorsätzlich schädigen. Nun können beide Parteien kreativ nach Lösungsmöglichkeiten suchen, die es erlauben, ihre Ziele zu verwirklichen. Im vorliegenden Fall wäre es sinnvoll, wenn sich die Parteien fragen würden: Wie könnte man das Zusammenleben gestalten, damit sowohl Dr. Seelig die Ruhe am See genießen als auch die Musiker für das Schulfest ausreichend üben können? Die Lösung, die Dr. Cooper initiiert hat, bestand darin, dass Dr. Seelig den Schülern am Wochenende einen Keller in seiner Werbeagentur zur Verfügung stellt, wo sie üben können, während er sich zur gleichen Zeit am See in Ruhe erholen kann. 1.3 Wie können wir uns wechselseitig unterstützen, damit wir unsere Ziele erreichen? In einem letzten Schritt wird die Kooperation gefestigt, und dadurch werden Synergien erzeugt. Der eine stellt dem anderen seine unbenutzten Ressourcen zur Lösung seiner Probleme zur Verfügung und umgekehrt. Wie könnte so etwas in der Praxis aussehen? Lassen Sie es uns einfach an unserem Beispielsfall erläutern: Die Band spielt am Betriebsfest von Dr. Seelig auf und die Werbeagentur gestaltet den Folder für das Konzert der Band. 3 Glasl unterscheidet in seinem Buch „Konfliktmanagement“, S. 233 ff., neun Eskalationsstufen eines Konflikts. Die letzte Stufe nennt er treffend „Gemeinsam in den Abgrund“.

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In der Beantwortung der Fragen, die wir Ihnen auf den vorstehenden Seiten vorgestellt haben, liegt das Geheimnis erfolgreichen Verhandelns begründet, egal, ob Sie mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten über die Begrenzung nuklearer Rüstung verhandeln oder mit Ihrem halbwüchsigen Sohn über die Benutzung Ihres Autos. Es klingt alles so einfach, und doch ist die Umsetzung nicht immer einfach. Denn dieser Weg ist nicht in Kommentaren und Gesetzen vorgezeichnet – und kein Gerichtsurteil kann Ihnen bestätigen, dass Sie recht haben. Aber eins wird eintreten: Der Konflikt wird gelöst! Wenn Synergien zusammenwirken, lösen sich fast alle Konflikte, denn: Die Lösung des Problems bemerkt man am Verschwinden des Problems!4 Soviel zu den Grundsätzen des kooperativen Verhandelns. Wie sie diese Grundsätze in der Praxis in einzelne Schritte umsetzen können, werden wir Ihnen in Teil 4 und 5 zeigen. Lassen Sie uns nun aber zunächst einmal herausfinden, welche Glaubenssätze das Denken des Dr. Cooper beherrschen und wie sie sich von den Überzeugungen unterscheiden, auf denen die juristische Methode beruht.

2. Die Welt des Dr. Austin Cooper oder: Welche Glaubenssätze stützen das kooperative Verhandeln? 2.1 Dr. Austin Cooper, Rechtsanwalt In Bad Friedlingen, dem Ort, wo Dr. Attila von Streidt praktiziert, gibt es – wie wir ja bereits wissen – seit kurzer Zeit einen neuen Anwalt, Dr. Austin Cooper mit Namen. Er hat, wie Dr. von Streidt, an den besten deutschen und schweizerischen Universitäten das Recht studiert. Da er sich aber für eine breitflächige Ausbildung interessiert, hat er auch noch Psychologie und Kommunikationswissenschaften studiert, Letzteres auch in den USA. Bei seinen Studien ist Dr. Cooper viel in der Welt herumgekommen. Sein Steckenpferd ist die Rechtsethnologie. Fasziniert hat er studiert, wie andere Völker ihre Konflikte lösen. Besonders beeindruckte ihn dabei ein Erlebnis, das er vor Jahren in New Mexico gemacht hat, als er miterleben durfte, wie nordamerikanische Indianer mit Streitigkeiten umgehen. Nach dieser Erfahrung wusste er, dass es auch andere Methoden gibt, als nach Ansprüchen zu suchen, diese zu 4 Dieser Satz stammt in seiner ursprünglichen Form aus dem Werk „Tractatus Logico-Philosophicus“ (dort unter 6.521) des österreichisch-englischen Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951). Für alle, die sich an Logik erfreuen können, ein wirklich lesenswertes Buch! Adrian Schweizer arbeitet im Moment an einem Buch über Coaching. Es wird genau diesen Titel tragen.

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begründen und den Richter entscheiden zu lassen. Dieses Erlebnis war der Beginn seiner Suche nach kooperativen Lösungsmöglichkeiten. In einem indianischen Dorf in der Nähe von Santa Fe waren zwei Familien über eine Kleinigkeit in Streit geraten. Man sprach kein Wort mehr miteinander, beschimpfte und bespuckte sich stattdessen nur noch. Dieser Zustand war auf Dauer nicht erträglich, und deshalb beschlossen die beiden Familienältesten, ein Friedensritual durchzuführen: Die Familien trafen sich mit ihren Freunden an einer heiligen Stätte außerhalb des Dorfes. Gemeinsam suchten sie dann, ohne ein Wort zu sprechen, Holz und entzündeten ein großes Feuer. Alle setzten sich um dieses Feuer. Niemand durfte sprechen. Die einzige Tätigkeit, die erlaubt war, war Holz nachzulegen und ins Feuer zu schauen. Nach vier Tagen und Nächten fielen sich die Familien in die Arme und gingen nach Hause. Die Idee der Indianer ist, dass gemeinsames Tun die Menschen verbindet, dass das Feuer die Seelen reinigt und gewissermaßen den „Streitgegenstand“ verbrennt. „Ein paar Stunden gemeinsam gegangen, gefangen, gelangen wir zum Fluss“, meinte ein indianischer Freund. Damals konnte Dr. Cooper mit diesen Erklärungsversuchen noch wenig anfangen, aber er wusste, dass er einen Weg gefunden hatte, der neu war und den zu gehen es sich lohnen würde. 2.2 Das Weltbild des Dr. Austin Cooper

! 1. Glaubenssatz: Die Landkarte ist nicht das Gebiet! (Alfred Korzybski) Oder: Es gibt keine objektive Wirklichkeit, sondern nur subjektive Wahrnehmung und Vorstellung. Eine weitere, tiefprägende Erfahrung machte Dr. Cooper auf der anderen Seite des Globus in einem thailändischen Kloster. Dr. Cooper glaubt seit diesem Aufenthalt im Kloster, dass er, so sehr er sich auch bemüht, nicht über die eigene, subjektive Wahrnehmung hinauskommen kann. Er glaubt, dass dies auch bei anderen Menschen der Fall ist. Alles, was Menschen wahrnehmen, ist subjektiv. Unsere Wahrnehmung ist immer nur eine Abbildung der Welt, und diese Abbildung ist höchstens eine Annäherung an den abgebildeten Gegenstand. Wie er später bei seinen Untersuchungen herausfand, näherte er sich damit der Auffassung der so genannten radikalen Konstruktivisten. 5 5 Wer sich näher für dieses Thema interessiert, dem seien die Werke von Wissenschaftlern wie Ernst von Glasersfeld, Paul Watzlawick, Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Francisco Varela empfohlen. Hierbei handelt es sich meist um Wissenschaftler, die, ausgehend von ihrem ursprünglichen, meist naturwissenschaftlichen Hintergrund, fachübergreifend und in Kooperation mit anderen Erkenntnistheoretikern arbeiteten. Nach deren epistemologischen Erkenntnissen

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Da die Welt nur gefiltert durch die fünf Sinne des jeweiligen Betrachters wahrgenommen werden kann, werden wir als Menschen wohl nie erfahren, wie die Welt objektiv wirklich, also ohne Betrachtung durch unsere Sinne, ist. „Die Landkarte ist nicht das Gebiet“, so hat es der polnische Sprachwissenschaftler Alfred Korzybski in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts formuliert 6. Wie aber kam Dr. Cooper zu seiner eigenartigen Einsicht? Der buddhistische Mönch im thailändischen Kloster, in das sich Cooper zu Studienzwecken einige Monate zurückgezogen hatte, hatte mit seinen Studenten folgendes Experiment durchgeführt: „Schauen Sie sich bitte einmal diese Blume an, die ich in der linken Hand halte. Wenn Sie diese Blume lange genug beobachtet haben, nehmen Sie bitte ein Blatt Papier und zeichnen Sie die Blume ab.“ Die Studenten zeichneten eifrig und versuchten, die Blume so genau wie möglich auf das Papier zu bringen. Nach zehn Minuten ließ der Mönch die Blume fallen und sagte: „Genug gezeichnet. Legen Sie bitte die Abbildungen in die Mitte und betrachten Sie, was Sie gezeichnet haben.“ Die Studenten sahen nun, was sie abgebildet hatten. Die einen hatten die Blume mit Bleistift gezeichnet, andere mit Filzschreiber. Die Blütenblätter leuchteten rot, wenn der Zeichner einen roten Stift benutzt hatte, und blau, wenn sein Stift blau war. Die meisten hatten die Blume verkleinert dargestellt. Einige hatten auch die Hand mitgezeichnet. Der Mönch schaute in die Runde und kommentierte: „Wenn Sie Ihre Werke miteinander vergleichen, werden Sie feststellen, dass diese sehr wenig miteinander zu tun haben. Ein fremder Betrachter würde mich vielleicht sogar auslachen, wenn ich ihm erzählte, Sie hätten alle die gleiche Blume gezeichnet. Sie werden sicher sagen, dass die Abweichungen nur so groß sind, weil Sie nicht besser zeichnen können. Vielleicht. Aber überlegen Sie einmal, was herausgekommen wäre, wenn Sie nicht eine Blume hätten zeichnen, sondern über einen Mann berichten sollen, der eine kurze Ansprache gehalten hat. ist eine Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich. Jede Wahrnehmung ist ohne Ausnahme subjektiv. Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Radikaler_Konstrukti vismus Näheres zu diesen Problemen bei Ponschab, Wahrnehmung und Wirklichkeit oder das Meer in der Pipette, in: Festschrift für Benno Heussen. 6 Alfred Korzybski (1879–1950); bekanntestes Zitat aus seinem 1933 vollendeten Werk „Science and Sanity – An Introduction to Non-Aristotalien Systems and General Semantics“, Institute of General Semantics 1995.

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Wie viele verschiedene Männer hätten dann plötzlich in Ihren Köpfen Platz genommen, nachdem der Redner das Podium verlassen hat? Es hätte genauso viele Männer gegeben wie Personen, die zugehört haben! Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir uns endlos missverstehen, selbst dann, wenn wir das „Gleiche“ erlebt haben: Alle werden verschiedene Eindrücke von demselben Ereignis haben. Eine endlose Quelle möglicher Missverständnisse . . . Das ist aber erst der Anfang! Schauen Sie einmal hin und vergleichen Sie die Zeichnungen mit der Blume, die ich vorhin in meiner Hand hielt. Wie groß ist da die Übereinstimmung? Seien Sie ehrlich! Praktisch null! Fast nichts ist originalgetreu abgebildet! Weder die Farbe stimmt noch die Größe.“ Dieses Erlebnis erinnerte Dr. Cooper an eine Geschichte, die er von einem befreundeten Anwalt in Barcelona gehört hatte: Pablo Ruiz Picasso wurde eines Tages während einer Zugfahrt in Nordspanien von einem Reisenden angesprochen, der sich darüber aufregte, dass seine kubistischen Frauenbilder so wenig mit der Wirklichkeit zu tun hätten. „Wie würden Sie denn Ihre Frau zeichnen?“ fragte der weltberühmte Maler amüsiert. „Ich würde meine Frau genau so wiedergeben, wie ich sie sehe!“ antwortete der Reisende nach einigem Überlegen. „Genau das habe ich auch gemacht“, erwiderte Picasso. „Aber Meister, Sie wollen doch nicht behaupten, dass Ihre Frau zwei Gesichter und vier Augen hat!“ erwiderte der Mann erstaunt. „Doch, genau das habe ich gesehen. Wie sehen Sie denn Ihre Frau?“ Der Reisende griff in sein Portefeuille und holte eine Fotografie seiner Frau heraus und hielt sie Picasso unter die Augen: „Meister, genauso würde ich sie zeichnen, wenn ich zeichnen könnte, denn genau so sieht sie aus!“ „Tatsächlich,“ antwortete Picasso, „Ihre Frau ist also in Wirklichkeit nur 10 cm groß?“ Wir können die Welt nicht objektiv sehen. Alles, was wir erfassen können, sind subjektive Eindrücke, die mit dem, was wirklich vor unseren Augen, Nasen, Ohren, Zungen und Händen passiert, sehr wenig zu tun haben. Wir haben keinen Zugriff auf das, was sich objektive Wirklichkeit nennt. Es gibt nur eine subjektive Wahrnehmung, die wir aber für wirklich halten. Aus dieser Einsicht heraus hat Dr. Cooper genau auf die Schilderung des Dr. Seelig gehört, als ihm dieser seine Geschichte erzählte. Er wusste, dass er nicht wie Dr. Seelig dachte und fühlte. Alles, was er tun konnte, war, den 65

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Fall, den ihm sein Mandant vortrug, als interessante, neue Landkarte zu betrachten und sich von ihm die Gegenden und Landstriche zeigen zu lassen und so mehr und mehr zu versuchen, in die Gedanken- und Gefühlswelt des Dr. Seelig einzutauchen. Deshalb hat er genau zugehört und viel nachgefragt. Immer wieder hat er das wiederholt, was er gehört hat, und überprüft, ob das, was er verstanden hat, auch dem entspricht, was Dr. Seelig gemeint hat. Dr. Seelig nickte jedes Mal. Aktives Zuhören 7 nennt man das, wenn man klärt, ob man das Gesagte so versteht, wie es der andere gemeint hat und ob man das Ungesagte mit den richtigen Worten wiedergibt, wenn man die Modems von Sender und Empfänger gleichschaltet und Misskommunikation keine Chance lässt. Nun hatten sie schon zwei Landkarten. Dr. Cooper schlug nun vor, um eine weitere Landkarte zu erhalten, an einem Wochenende zusammen mit Dr. Seelig zu den jungen Leuten an den See zu gehen, um sie zu fragen, warum sie ausgerechnet an den Wochenenden im Strandhaus übten. Dr. Seelig fand den Vorschlag ungewöhnlich. Als Mann der Werbung war er aber für Neues offen. So fuhren sie am folgenden Wochenende an den See hinaus, wo sich folgende, Ihnen schon teilweise bekannte Szene abspielte: Zuerst zeigte Dr. Seelig seinem Anwalt sein Anwesen. Besonders stolz war er auf den alten Baumbestand und den kleinen Bootssteg, den er letztes Jahr selbst errichtet hatte. Noch war es still, es war ja auch noch früh am Morgen. Um elf Uhr aber, die beiden saßen gerade gemütlich beim zweiten Frühstück, dröhnte tatsächlich vom Nachbargrundstück „loud and proud“ eine verstärkte Baßgitarre herüber. Nach einigen Takten folgte eine Leadgitarre, dann kam das Schlagzeug hinzu, und als letztes Instrument stieg ein Keyboard ein. Dr. Seelig sprang auf: „Hören Sie, hören Sie!“ Der Anwalt beruhigte seinen Mandanten, holte seine eigene alte Gitarre aus dem Auto und bat ihn, ihm zu dem anderen Haus zu folgen, was der auch tat, allerdings ohne große Freude. 7 Unter aktivem Zuhören wird die gefühlsbetonte Reaktion eines Gesprächspartners auf die Botschaft eines Sprechers sowie dessen Akzeptanz und bedingungslose positive Beachtung durch den Zuhörer verstanden. Der US-amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers (1902–1987) hat das aktive Zuhören erstmals als Werkzeug für die Gesprächspsychotherapie beschrieben (vgl. näher http://de.wikipedia.org/wiki/Aktives_Zuhören#Nach_Rogers). Es umfasst in der von uns vertretenen Bedeutung neben der wahrnehmenden Wiedergabe des Gehörten, des Paraphrasierens („Ja, ich höre Dir zu und möchte gerne wissen, ob ich Dich verstanden habe“), auch die emotionale Ebene („Ich nehme wahr, dass Du Dich …fühlst“) und die Klärung nonverbaler Äußerungen durch das so genannte Verbalisieren („Ich habe den Eindruck, dass Du im Moment das oder jenes fühlst“). Die beiden letzten Postulate werden von den Vertretern des NLP strikt abgelehnt. Sie bezeichnen es als „Mindreading“, da sie davon ausgehen, dass wir subjektiv nicht wissen können, was der andere subjektiv denkt oder fühlt. Sie lassen höchstens die Fragen „Was denkst Du darüber?“ oder „Was fühlst Du dabei?“ zu.

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Sie mussten zweimal läuten, dann endlich kam ein etwa 14-jähriger Junge und öffnete die Türe. Sein mürrisches Gesicht hellte sich auf, als er die Gitarre sah. „Wollen Sie mitspielen?“ fragte er. Dr. Cooper bejahte, und schon bald spielten sie zu fünft. Dr. Seelig wurde eine Rimba in die Hand gedrückt, und er musste nun mitschrummen. Er hatte gar keine andere Chance! Was haben die beiden Doktores getan? Sie haben ihre eigene Welt verlassen und sich einige Schritte auf Neuland, auf das Gelände und den Lebensraum des Nachbarn, vorgewagt. Damit haben sie Vertrauen geweckt, Mauern gar nicht erst aufgebaut und so die besten Voraussetzungen für die kommenden Verhandlungen geschaffen. Dies meinte wohl auch ein amerikanischer Kollege des Dr. Cooper, der stolz auf seine indianische Abstammung war, als er sagte: „Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht wenigstens einen Tag in seinen Mokassins gestanden hast.“ Daneben hatte Dr. Cooper auch die Methode der Indianer angewendet, die er in New Mexico kennengelernt hatte: Dadurch, dass sie gemeinsam gespielt hatten, hatten sie Vertrauen oder Rapport, wie die Kommunikationswissenschaftler sagen, aufgebaut. Gemeinsames Tun, dort Holz sammeln und über Stunden ins gleiche Feuer schauen, hier gemeinsam Akkorde schrummen, ist der Beginn der Verständigung – und eine erste gemeinsame Basis! Der Unterschied zwischen Dr. von Streidt und Dr. Cooper besteht nun darin, dass Dr. Cooper nicht gleich nach Ansprüchen suchte, auf die sich Dr. Seelig hätte stützen können. Ihn interessierte zunächst vielmehr das Ziel von Dr. Seelig. Welcher Wunsch lag hinter seiner Absicht, die Burschen zum Schweigen zu bringen? Ebenso interessiert war er am Ziel der Jungmusiker. Wollten die wirklich Dr. Seelig stören oder verfolgten sie mit ihrer Musik nicht etwa andere Ziele? Er hatte nämlich den Verdacht, dass im Grunde keine der Parteien der andern etwas zuleide tun wollte, dass sie vielmehr nicht über die entsprechenden Möglichkeiten verfügten, ihre Ziele so zu verwirklichen, dass sie einander nicht stören würden. Dies führt uns zum nächsten Glaubenssatz des Dr. Cooper:

! 2. Glaubenssatz: Mich interessiert nicht, woher die Dinge kommen, sondern wohin sie gehen! (Seneca) Oder: Wichtig ist nicht, welche Ansprüche Menschen haben, sondern was sie wirklich wollen! Als Dr. Cooper Dr. Seelig in seiner Kanzlei nach seinen Zielen gefragt hatte, hatte dieser geantwortet: 67

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„Ist doch klar, ich will den Lärm weghaben!“ Darauf meinte Dr. Cooper: „Sie wollen den Lärm weghaben. Was hätten Sie gerne stattdessen?“ „Meine Ruhe will ich haben! Was denn sonst!“ „Wann wollen Sie diese Ruhe haben?“ „Dann, wenn ich draußen bin, von Freitagabend bis Montagmorgen. Ist doch logisch!“ „Das heißt, Dr. Seelig, in der Zeit von Montag mittag bis Freitag nachmittag ist es Ihnen gleichgültig, ob an Ihrem See Ruhe herrscht oder nicht, weil Sie dann ja eh nicht da sind?“ „Das stimmt.“ „Ihr Ziel ist es also, wenn ich zusammenfassen darf, in der Zeit von Freitagabend bis Montagmorgen die Stille der Natur in ihrem Strandhaus genießen zu können; stimmt das?“ „Natürlich, das habe ich doch von Anfang an gesagt.“ „Nicht ganz, Ihr Ziel war es, die jungen Leute zum Schweigen zu bringen, und jetzt ist etwas anderes daraus geworden: Sie wollen die Ruhe genießen können. Das ist ein Unterschied.“ „Wenn Sie meinen. Sie sind mein Anwalt. Sie müssen es wissen.“ Somit wusste Dr. Cooper, was das Ziel von Dr. Seelig war. Nun wollte er auch noch wissen, was denn die eigentlichen Ziele der Jungmusiker sind. Nachdem sie drei, vier Stücke zusammen geschrummt hatten, fragte er deshalb, was denn das Ziel ihres Übens sei. „Ist doch klar,“ antworteten diese, „wir üben für die Abschlussfeier an unserer Schule. In den Schulfächern sind wir alle nicht so blendend, aber wir denken, dass wir durch eine gute Performance auf der Schlussfeier einige Punkte gutmachen können.“ Dr. Cooper schaute zu Dr. Seelig, dessen Gesicht sich langsam entspannte. Die Burschen hatten also wirklich nicht die Absicht, ihn zu quälen. Im weiteren Gespräch fand Dr. Cooper nun heraus, dass sie gar nicht freiwillig hier draußen am See übten. Viel lieber würden sie irgendwo in der Stadt üben, wenn sie nur einen geeigneten Übungsraum finden könnten. Sie hatten lange gesucht, aber ohne Erfolg. Dr. Cooper sah nun klarer und wusste, dass sie zur Lösung dieses Problems keinen Richter brauchten. Dazu waren Dr. Seelig und die jungen Leute erwachsen genug. Die Erkenntnis führt uns zum nächsten Glaubenssatz des Dr. Cooper. 68

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! 3. Glaubenssatz: Hilf dir selbst, dann hilft Dir Gott. (Sprichwort) Oder: Wir lösen unsere Konflikte selbst! Für die meisten Konflikte braucht der kooperative Verhandler keinen Richter, denn selten geht es bei Konflikten um ein Problem, das nach einer juristischen Lösung ruft. Außerdem wusste Dr. Cooper, dass Gerichtsurteile Gewinner und Verlierer erzeugen. Er aber wollte eine Lösung, bei der beide Seiten als Gewinner dastehen. Somit sind wir schon bei dem nächsten Glaubenssatz von Dr. Cooper, dem so genannten Gewinn/Gewinn-Denken, auf das wir an anderer Stelle noch ausführlich eingehen werden: 8

! 4. Glaubenssatz: Keiner, der einem andern hilft, hilft nicht zugleich auch sich selbst! (Seneca) Oder: Ich gewinne dann am meisten, wenn wir beide gewinnen! Dr. Cooper überlegte sich nun Folgendes: Gibt es eine Lösung, bei der nicht einer gewinnt und der andere verliert, sondern eine, bei der beide gewinnen? Gibt es eine Lösung, bei der die Band üben kann und Dr. Seelig seine Ruhe hat? Die Runde erörterte unter diesem Gesichtspunkt verschiedene Varianten: • Wäre es möglich, dass die Musiker mit Kopfhörern spielen? Das ging nicht, weil sie kein Mischpult hatten. • Könnte man das Strandhaus nicht besser dämmen, damit weniger von dem „Groove“ nach außen dringt? Das ging aus Kostengründen nicht. • Könnten die Musiker nicht unter der Woche üben? Das ging auch nicht, weil sie da Schule hatten. Nach einigem Hin und Her fanden die Parteien schließlich eine Lösung, mit der beide Seiten zufrieden waren: Dr. Seelig erklärte sich bereit, der Band einen unbenutzten Kellerraum in seiner Werbeagentur zur Verfügung zu stellen. Die Musiker nahmen dankbar an. Endlich hatten sie einen Raum in der Stadt gefunden. Dadurch würden sie Zeit gewinnen; denn das Radeln an den „blöden“ See, wo sie auch noch gegen die Mücken kämpfen mussten, entfiel nun gänzlich.

! 5. Glaubenssatz: Wenn wir die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander streiten lassen, werden wir die Zukunft verlieren! (Winston Churchill) Oder: Lasst uns heute das Morgen gestalten! Aus der eben geschilderten Art, wie Dr. Austin Cooper den Fall löste, lässt sich auch leicht ablesen, dass er kein vergangenheitsorientierter Pessimist, 8 In Teil 3, 3., S. 93 ff.

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Nicht kleckern, klotzen!

schrecklichste Taten

ALS DER BtLEIDICTE IN DIESEM DUELL HABEN SIE DAS RECHrAUF 'DIE WAHL DER. WAFFa\1

© 1996 K1ng Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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sondern ein zukunftsorientierter Optimist ist. Ihn interessiert nicht, welche Ansprüche sein Mandant hat und wie diese zu begründen sind, denn diese Ereignisse liegen alle in der Vergangenheit. Ihn interessiert viel mehr, was die Ziele seines Mandanten sind. Ziele befinden sich in der Zukunft, da, wo wir die meiste Zeit unseres Lebens verbringen werden. Wenn sich mit der anderen Seite keine gemeinsame Lösung finden lässt, ist immer noch genug Zeit, sich in das Studium der Gesetze und Kommentare zu vertiefen.

! 6. Glaubenssatz: Nicht kleckern, sondern klotzen! Oder: Nur große Ideen führen zu großen Taten! Vielleicht erwarten Sie nun, dass sich Dr. Cooper als nächstes haarklein überlegt, wie er das Erreichte formulieren, festhalten und absichern könnte, dass er einen zwanzigseitigen Vertrag entwirft, der alle möglichen, denkbaren und kaum denkbaren Sachverhalte bis ins Kleinste regelt: Wer bezahlt den Strom, den die Gitarren brauchen? Dürfen die Musiker die firmeneigenen Cola-Dosen leertrinken? Wie steht es mit der Benutzung der Toiletten? Dürfen sie die Toiletten der Mitarbeiter oder die Toilette des Chefs benutzen? Die Welt dieser Gedanken ist aber nicht die Welt des Dr. Cooper. Er lässt seine Gedanken mehr in großen Einheiten schweifen und fragte sich: „Wie könnten die beiden Parteien ihre Zusammenarbeit verstärken? Gibt es vielleicht so etwas wie ein übergeordnetes Ziel, an dessen Verwirklichung beide interessiert sind?“

! 7. Glaubenssatz: Ich überlege mir immer, ob mein Handeln ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung ist! (Michail Gorbatchev) Oder: Wer nach Fehlern sucht, wird Probleme finden. Wer aber nach Lösungen sucht, hat schon begonnen, die Probleme zu lösen! „Wie, Herr Dr. Seelig, könnten Sie zukünftig von der Band und wie könnten die Burschen von der Werbeagentur profitieren?“ Dr. Seelig runzelte die Stirn, überlegte hin und her und schlug dann vor, dass die Band am Betriebsfest seiner Werbeagentur aufspielen sollte. Dies würde seine Mitarbeiter freuen, und er wäre von den Kosten, die das Engagement einer teuren Combo verursacht hätte, entbunden. Die Band erhielt im Gegenzug dazu von der Werbeagentur Dr. Seelig ein perfekt gestaltetes Programmheft für ihr Konzert auf der Abschlussfeier. Damit hatten beide Parteien ein übergeordnetes Ziel erreicht; also ein Ziel, das über dem primären Ziel (Üben/Ruhe haben) steht. Beide Seiten erhielten zusätzliche Leistungen, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Mit diesem lösungsorientierten Denken war Dr. Cooper meilenweit entfernt vom problemorientierten Denken der juristischen Methode. Seien 71

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wir einmal ehrlich: Hätten wir uns nicht, wenn wir den Fall hätten lösen müssen, wohl vor allem Gedanken darüber gemacht, was die jungen Leute für Hintergedanken haben und was in der Zusammenarbeit alles schiefgehen könnte? Die erforderlichen Präventionsmaßnahmen hätten wir dann fein säuberlich in Reglemente und Ordnungen gekleidet. Vielleicht hätte es eine „Gemeinsam vereinbarte Hausordnung zur Benutzung der Seelig’schen Kellerräume durch die Schülerband Bad Friedlingen“ gegeben. Das wäre anfänglich ganz gutgegangen. Nach einiger Zeit hätten wir aber feststellen müssen, dass genau der wichtigste Punkt, an dem sich nun eventuell ein Streit entzünden könnte, nämlich die Frage, ob die Band um drei weitere Spieler erweitert werden darf (wer bezahlt den zusätzlich verbrauchten Strom?), leider nicht geregelt wurde. Wir würden uns ärgern darüber, dass wir diesen wichtigen Sachverhalt nicht vorausgesehen hatten. Dr. Cooper hat es aber gar nicht soweit kommen lassen. Als kooperativer Verhandler ist er ganz einfach anders eingestiegen. Er hat nicht nach Ansprüchen gesucht, sondern versucht, Lösungen zu finden. Dies konnte er mit einer derartigen Leichtigkeit tun, weil er als kooperativer Verhandler ein anderes Weltbild hat. Lassen Sie uns die Glaubenssätze des Dr. Austin Cooper zusammenfassen: Das Weltbild des Dr. Austin Cooper • Anstatt an das Bestehen einer objektiven, für jeden Menschen gleichen und verifizierbaren Wirklichkeit zu glauben, kennt er die absolute Relativität der Subjektivität. Mercedes ist eine Zigarettenmarke, ein weiblicher Vorname und das Auto mit dem Stern. Jeder, der bei diesem Namen an eines dieser drei Dinge denkt, hat recht, und das ist gut so: Die Landkarte ist nicht das Gebiet! • Anstatt mit der juristischen Methode nach hieb- und stichfesten Argumenten für einen Streit zu suchen, glaubt Dr. Cooper daran, dass es sinnvoller und nützlicher sei, nach den wirklichen Interessen der Parteien zu suchen und Möglichkeiten zu finden, diese zu erfüllen: Mich interessiert nicht, woher die Dinge kommen, sondern wohin sie gehen! • Anstatt an die Allmacht eines rechtsprechenden Richtervaters glaubt er als kooperativer Verhandler an das Prinzip der Selbstverantwortung. Er glaubt, dass sein Mandant und die Gegenpartei fähig und willens sind, die Lösungen für ihre Probleme selbst zu erarbeiten und selbst dafür zu sorgen, dass sie in die Tat umgesetzt werden. Kinder brauchen Eltern, Erwachsene brauchen andere Erwachsene. Entscheidungen durch Dritte sind oft nicht Lösungen des Problems, sondern die Quelle von neuen Problemen: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott! • Anstatt Legionär seines Mandanten zu sein, versteht sich Dr. Cooper als Unterhändler seines Klienten. Er weiß, dass er dann am besten lebt, wenn 72

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auch auf die Gegenpartei Sonnenstrahlen fallen: Keiner, der einem anderen hilft, hilft nicht zugleich sich selbst! • Anstatt mit archäologischem Fleiß im Gestern herumzubuddeln, beschäftigt sich der kooperative Verhandler mit der Zukunft, weil er weiß, dass er dort den größten Teil seines Lebens verbringen wird: Wenn wir die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander streiten lassen, werden wir die Zukunft verlieren! • Anstatt mit buchhalterischem Erbsenzählen beschäftigt sich der kooperative Verhandler lieber mit den wichtigen Dingen des Lebens. Ihn interessiert mehr, wohin das Flugzeug fliegt, als die Tatsache, dass Passagier Rademacher eine unpassende Krawatte trägt: Nicht kleckern, sondern klotzen! • Anstatt nach Fehlern hält Dr. Cooper nach Lösungen Ausschau, weil ihm wirkliche Freude näherliegt als Schadenfreude: Ich überlege mir immer, ob mein Handeln ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung ist! „Kooperatives Verhandeln macht einfach allen Parteien mehr Spaß!“, dachte Dr. Cooper und ließ die neuen Freunde am See zurück. Er hatte an diesem Sonntagnachmittag einen weiteren Termin in seiner Kanzlei. Dort wartete nämlich bereits August Sacksberger auf ihn, der riesige Probleme mit seinem Kompagnon Mehltau hatte. Als Dr. Cooper seine Kanzlei betrat, wartete Herr Sacksberger schon und begrüßte ihn freudig: „Den Kerl werden wir jetzt richtig einsacken, Dr. Cooper. Und ich bin sicher, Sie können mir dabei gute Dienste leisten, nicht wahr?“ Dr. Austin Cooper lächelte. „Den Mehltau einsacken wollen Sie, Herr Sacksberger. Mehltau in den Sack! Hört sich gut an … Und welches Ziel verfolgen Sie mit dieser Aktion?“ Doch bevor wir uns dem nächsten Fall des Dr. Cooper zuwenden, wollen wir zuerst einmal danach fragen, welche Möglichkeiten des Verhandelns es überhaupt gibt. Lassen Sie uns also einmal die „Stilkunde des Verhandelns“ näher betrachten. Noch ein interessantes Detail: Bei der Konzeption des Buches habe ich die Cooper’sche Lösung auch einem meiner ehemaligen Studienkollegen, der heute ein bekannter Anwalt in Bern ist, vorgetragen. Er fand die Lösung sehr sinnvoll, meinte aber: „Das ist keine juristische Lösung!“ Wie recht er hat!

3. Gegenüberstellung der beiden Weltbilder Seit wir das Buch vor über zehn Jahren geschrieben haben, sind uns noch viele Modelle begegnet, die uns erlauben, die beiden Verhandlungsstile miteinander zu vergleichen und aufzuzeigen, dass der kooperative Denkstil von Dr. Cooper auf die lange Dauer dem konfrontativen Denkstil von Dr. von 73

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Streidt überlegen ist. Diese „Welterklärungsversuche“ wollen wir Ihnen natürlich nicht vorenthalten. Nachfolgend erläutern wir nur die Modelle, die wir anwenden, um die Denkstile unserer beiden Helden zu vergleichen. Weitere Modelle und eine Vertiefung der nachstehend geschilderten Modelle finden Sie in Teil 6 des Buches. Zuerst ein Modell, das wir Ihnen bereits vorgestellt 9 haben, das wir hier aber noch vertiefen möchten, da damit die Fundamentalkritik 10 an der juristischen Methode zur Lösung von Konflikten, wie unser Buch ja immer wieder bezeichnet wird, besonders schön unterlegt werden kann: 3.1 Sorting Styles Die „Sorting Styles“ 11 sind, wie vorne bereits erwähnt 12, vorbewusste Entscheidungs- oder Denkmuster, nach denen wir in den meisten Fällen handeln. So gibt es Menschen, die, wenn ihnen etwas geschieht, was sie nicht erwartet haben, gleich den Weltuntergang vor ihrem inneren Auge auftauchen sehen, während andere sich über den Ausbruch aus der Routine freuen und mit Freude daran denken, wie sie diese Herausforderung meistern könnten. Die ersten denken problemorientiert, die zweiten lösungsorientiert. Dann gibt es Menschen, die sich im Flugzeug etwa schrecklich darüber aufregen, dass sie kein vegetarisches Essen bekommen; dass sie im Flieger nach Guantanamo anstatt nach Guadalajara sitzen, wird ihnen erst später auffallen. Diese Menschen pflegen die Sorting Styles „kleine Einheit“, wo vielleicht „große Einheit“ angesagt wäre. Die Entdeckung der Sorting Styles geht auf Richard Bandler 13 zurück. Robert Ornstein 14 verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Für unsere Betrachtung schauen wir uns einmal folgende Sorting Styles an: Gleich versus ungleich Ziehe ich das, was ich schon kenne, dem, was ich noch nicht kenne, vor oder nicht? Verlange ich in einem Restaurant in Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei, lieber einen Skorpionspieß oder versuche ich, unbedingt Wiener Schnitzel mit Pommes zu bekommen?

9 In Teil 1, 2.2, S. 46 ff. 10 Vgl. von Schlieffen, Vom Rechtsstaat in die Weltgesellschaft des Verhandelns, S. 13 f. Siehe oben Teil 1, 2., S. 24 ff.; vgl. auch Einleitung, 4., S. 12. 11 Näher dazu Bagley/Reese, Beyond Selling – Die neue Dimension im Verkauf, S. 145 ff.; Cameron-Bandler/Lebeau, Die Intelligenz der Gefühle; siehe auch: Schweizer, „Sie irren sich, Herr Kollege!“ oder: Warum Anwälte nicht verhandeln können, in: DACH, Mediation, S. 17 ff. 12 Siehe oben Teil 1, 2.2, S. 46 ff. 13 Vgl. Dilts/DeLozier, Encyclopedia of Systemic Neuro-Linguistic Programming and NLP New Coding, S. 756. 14 Ornstein, Die Wurzeln der Persönlichkeit.

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Kleine Einheit versus große Einheit Empfinde ich Freude an der Berechnung der siebten Stelle nach dem Komma oder interessiert mich meine Lebensaufgabe in der übernächsten Inkarnation? Problemorientiert versus lösungsorientiert Falle ich gerne in Panik oder liebe ich Herausforderungen? Selbst versus andere versus beide Denke ich zuerst an mich, an Dich oder an uns beide? Wie interpunktiere ich den folgenden Satz? Schreibe ich es so: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ 15 oder verändere ich nur eine Kleinigkeit und schreibe: „Der gute Mann denkt an sich, selbst zuletzt“? Vergangenheit versus Gegenwart versus Zukunft Erzähle ich mit Vorliebe von meinen Eroberungen aus der Studienzeit, überlege ich mir, was ich gerade jetzt tun könnte, was mir noch mehr Spaß bietet oder überlege ich mir am liebsten, wie meine Kanzlei in fünf Jahren ausschauen soll? Selbstverantwortlich versus fremdverantwortlich Entscheide ich nach eigenen (inneren) oder fremden (äußeren) Kriterien? Kaufe ich mir mein neues Auto, um anderen zu imponieren oder weil mir dieses Modell einfach Spaß macht? Absolut versus relativ Suche ich nach der Wahrheit oder nach Möglichkeiten? Versuche ich, anderen nachzuweisen, dass sie Unrecht haben oder akzeptiere ich, dass wir nur Landkarten, nicht aber das Gebiet erkennen können? Wenn wir uns nun einmal überlegen, welchen Denkmustern von Streidt gefolgt ist, so ergibt sich folgendes Bild: Von Streidt hat die Meinung seines Mandanten als absolut (richtig) hingestellt (absolut versus relativ); er hat versucht, diese durch Sachverhalte aus der Vergangenheit zu begründen (Vergangenheit versus Gegenwart versus Zukunft); dazu ist er sehr pingelig oder wenigstens peinlich genau und buchhalterisch vorgegangen: Er hat eine Zahl nach der andern vorgerechnet (kleine Einheit versus große Einheit); dabei ging es ihm nicht darum, was richtig war, sondern was falsch war, er war also problemorientiert (problemorientiert versus lösungsorientiert);

15 So steht es in Friedrich von Schillers „Wilhelm Tell“, 1. Aufzug.

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weiter war er nicht bereit, seine Meinung auch nur um einen Deut zu ändern, er benutzte alle Argumente nur, um seine alte, gleiche Meinung zu bekräftigen (gleich versus ungleich); bei seinen Versuchen, den Konflikt für seinen Mandanten günstig zu lösen, hat er nur an Möglichkeiten gedacht, die den eigenen Mandanten zum Sieger machen, aber nicht überlegt, ob andere Möglichkeiten bestehen, die beide Parteien zu Gewinnern machen – das blieb Austin Cooper vorbehalten (selbst versus andere versus beide); und er hat darauf verzichtet, die Sache „unter Männern“ zu regeln und hat stattdessen ein Gericht angerufen. Es war also seine Absicht, für seinen Mandanten die Verantwortung für den Ausgang des Konfliktes in fremde Hände zu legen (selbstverantwortlich versus fremdverantwortlich). Wie ist nun im Gegensatz dazu Dr. Cooper vorgegangen: Dr. Cooper hat betont, dass es sinnvoller sei, gemeinsam die Zukunft zu gestalten als sich gegenseitig die Vergangenheit aufzurechnen (Vergangenheit versus Gegenwart versus Zukunft); er hat nicht auf Biegen und Brechen an der Sicht der Dinge seines Mandanten festgehalten, sondern war unvoreingenommen bereit, sich die Gegenmeinung anzuhören (selbst versus andere versus beide); Dr. Cooper hat auch darauf hingewiesen, dass es vielleicht sinnvoller ist, über die durch die bevorstehenden Streitereien gefährdete Zukunft der Idylle am See zu sprechen, als Kommastellen zu prüfen (kleine Einheit versus große Einheit); Dr. Cooper hat auch versucht, gemeinsame Lösungen zu finden, und darauf verzichtet, den Finger in die Wunden der Gegenpartei zu legen (problemorientiert versus lösungsorientiert); ebenfalls hat er versucht, selbstverantwortliche Auswege aufzuzeigen, anstatt ein fremdes Gericht ein Urteil sprechen zu lassen (selbstverantwortlich versus fremdverantwortlich); dadurch hat er auch gezeigt, dass sein Mandant durchaus bereit ist, seine eigene Sicht der Dinge zu verändern (gleich versus ungleich); und die gefundene Lösung diente am Schluss beiden Parteien (selbst versus andere versus beide). die Lösung, die von Streidt gesucht hat, folgte somit den Sorting Styles: gleich, kleine Einheit, problemorientiert, selbst bezogen, vergangenheitsorientiert, fremdverantwortlich, absolut. Die Lösung, die Dr. Cooper gesucht hat, folgt somit folgenden Sorting Styles: anders, große Einheit, lösungsorientiert, auf beide bezogen, zukunftsorientiert, selbstverantwortlich, relativ. 76

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Dieselben Muster spiegeln sich in ihren Grundüberzeugungen: Dr. von Streidt glaubt

Dr. Cooper glaubt

1. Ein Baum ist kein Baum, sondern eine Sache! Oder: Es gibt eine objektive Wirklichkeit!

1. Die Landkarte ist nicht das Gebiet! (Korzybski) Oder: Es gibt keine objektive Wirklichkeit, sondern nur subjektive Wahrnehmung und Vorstellung! Relativ!

Absolut!

Gleich!

2. Mich interessiert nicht, woher die Dinge kommen, sondern wohin sie gehen! (Seneca) Oder: Wichtig ist nicht, welche Ansprüche Menschen haben, sondern was sie wirklich wollen! Anders!

3. Der Papa wird’s schon richten! (Helmut Qualtinger) Oder: Konflikte kann letztendlich nur der Richter lösen! Fremdverantwortlich!

3. Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott! (Sprichwort) Oder: Wir lösen unseren Konflikt selbst! Selbstverantwortlich!

4. Der Anwalt ist der Legionär seines Mandanten! Oder Ich gewinne, wenn Du verlierst!

4. Keiner, der einem anderen hilft, hilft nicht zugleich sich selbst! (Seneca) Oder: Ich gewinne dann am meisten, wenn wir beide gewinnen! Beide!

2. Ein Königreich für einen Anspruch! Oder: Nur wer klagen kann, kann nicht klagen!

Selbst! 5. Wo warst Du gestern? Oder: Der erfolgreiche Anwalt ist ein Archäologe auf dem Feld der Sachverhalte! Vergangenheitsorientiert! 6. Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert! Oder: Gute Anwälte konzentrieren sich auf Details! Kleine Einheit!

5. Wenn wir die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander streiten lassen, werden wir die Zukunft verlieren! (Winston Churchill) Oder: Lasst uns heute das Morgen gestalten! Zukunftsorientiert! 6. Nicht kleckern, klotzen! Oder: Nur große Ideen führen zu großen Taten! Große Einheit!

7. Wo ist das Haar in der Suppe? Oder: Gute Anwälte konzentrieren sich darauf, was andere falsch gemacht haben!

7. Ich überlege mir immer, ob mein Handeln ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung ist! (Michail Gorbatchev) Oder: Wer nach Fehlern sucht, wird Probleme finden. Wer aber nach Lösungen sucht, hat schon begonnen, die Probleme zu lösen!

Fehlerorientiert!

Lösungsorientiert!

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So sieht es aus. Und was sind nun die Sorting Styles von Dr. Streidt genau? Kommen die Ihnen nicht bekannt vor? Genau: Es sind die Muster des Denkens der juristischen Methode und somit sind sie, wenn wir das pointiert sagen, das Haupthindernis für kooperativ verhandelte Lösungen! Glauben Sie es nicht? Dann lassen Sie es uns anders erklären: Als Anwalt übernehme ich einen Fall. Ich suche im Sachverhalt nach dem juristischen Anspruch (absolut) und begründe diesen (Vergangenheit). Dann reiche ich die Klage bei Gericht ein (fremdverantwortlich). Der Gegenanwalt findet jede Menge Fehler in meiner Klageschrift (fehlerorientiert, kleine Einheit) und bestreitet alles, was nicht der Rechtsmeinung seines Mandanten entspricht (gleich). Das Gericht beurteilt den Fall und spricht Recht (absolut, fremdverantwortlich). Die hier dargestellte Lösung von Konflikten durch Recht mit der juristischen Methode oder Interessenausgleich mit kooperativem Verhandeln führt zur Frage, nach welchen Mechanismen Konflikte überhaupt gelöst werden können. Dazu haben wir das Rad der klassischen Konfliktlösung ersonnen: 3.2 Das Rad der klassischen Konfliktlösung 16 Um das Rad der klassischen Konfliktlösung leicht erklären zu können, haben wir uns folgende Geschichte ausgedacht: Nehmen wir einmal an, Sie würden irgendwo in der Savanne Afrikas an Ihrem Wasserloch sitzen und vor sich hin dösen. Die Sonne brennt auf ihrer Haut und es riecht nach Büffelmist. Alles scheint gut, doch plötzlich wird die Idylle gestört: Ein Eindringling kommt und macht Ihnen das Wasserloch streitig! Was machen Sie? Geben Sie sich zivilisiert und geben klein bei? Mitnichten! Sie verteidigen ihr Wasser, da davon ihr Leben abhängt, und versuchen, den Eindringling zu verscheuchen! Der wehrt sich aber und so raufen, balgen und streiten Sie sich den ganzen Tag. Zuerst nur mit Worten, dann mit den Fäusten und je heftiger es wird, desto mehr wird die Kampfeslust in Ihnen angestachelt und Sie wollen eigentlich nur noch eins: Den Eindringling vernichten! Dies erweist sich aber als nicht so leicht, denn der Eindringling ist stärker als erwartet und mindestens ebenso kräftig wie Sie, und so zieht sich der Kampf den ganzen Tag hin. Abends sinken Sie ermattet nieder, schlafen mit einem Auge offen, und am nächsten Morgen geht es weiter. Scheinbar endlos, bis Sie erkennen: Wir haben ein Patt! Was nun? Sie stellen die Kämpfe ein und beginnen zu verhandeln! Wie wäre es möglich, dass sie beide das Wasserloch benutzen könnten? Der eine am Morgen, der andere am Nachmittag? Ihr Vorschlag wird vom Eindringling abgelehnt. Dann macht er einen Vorschlag, den Sie nun natürlich ablehnen, um gleich einen anderen Vorschlag zu machen. Und was macht 16 Vgl. auch oben Einleitung, 4., S. 14.

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er damit? Er schlägt ihn in Bausch und Bogen! Und so geht es weiter: Vorschlag! Abgelehnt! Gegenvorschlag! Abgelehnt! Nach etwa drei Tagen intensivstem Verhandlungspingpong merken Sie: So geht es nicht weiter! Sie beschließen, dass Sie nun einen unabhängigen Dritten benötigen, der die Verhandlung führt. Am nächsten Wasserloch treffen Sie den Häuptling eines benachbarten Stammes und bitten ihn, mit Ihnen eine Lösung zu finden, und schon bald sind sie mitten in einer Mediation. Aber auch damit kommen Sie nicht weiter. Also beschließen Sie, dem Mediator das Vorschlagsrecht zu geben. Er nimmt es an und macht einen Vorschlag, den der Eindringling annimmt und Sie selbstverständlich ablehnen. Den nächsten Vorschlag nehmen Sie an und der Eindringling lehnt ihn ab. Nach kurzer Zeit ist klar: Der Schlichter ist gescheitert! Da Sie den Konflikt lösen wollen, greifen Sie zu einem letzten Mittel: Sie geben dem Verhandlungsführer nicht nur das Vorschlagsrecht, sondern auch das Recht, ein Urteil zu sprechen und dieses gegen sie zu vollstrecken. Aus dem Verhandlungsführer wird ein Schieds-Richter! Der Richter verurteilt Sie zur Abgabe des Wasserloches, da nach seiner Meinung der Anspruch des Eindringlings besser ist als der Ihre und Sie ziehen von dannen, organisieren Widerstand und kommen in einer Woche selbst als Eindringling zurück mit dem einen Ziel: Den anderen zu vernichten! Wenn wir diesen Endloskreis aufzeichnen, sieht es etwa so aus:

litigation/arbitration verurteilen RECHT

annihilation vernichten MACHT

INTERESSEN conciliation vorschlagen

negotiation verhandeln

konfrontativ kooperativ

mediation vermitteln Rad der klassischen Konfliktlösungsformen

Wir werden weiter unten noch einmal darauf zurückkommen 17. Wichtig scheint uns Folgendes: 17 Unten Teil 6, 1., S. 209 ff.

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Die klassischen Konfliktlösungsarten können in drei Gruppen eingeteilt werden: Die Gruppeneinteilung erfolgt nach der Kernidee der jeweiligen Konfliktlösung und das sind Macht, Recht und Interessenausgleich: Konfliktlösung durch Macht: Vernichten und konfrontatives Verhandeln Konfliktlösung durch Interessenausgleich: Kooperatives Verhandeln und Mediation Konfliktlösung durch Recht: Schlichter, Schiedsgericht und ordentliches Gericht Wie wir sehen, ist es möglich, dass wir Konflikte mit Macht, Interessenausgleich oder Recht regeln können. Dr. von Streidt zieht die Form der Macht (konfrontatives Verhandeln) und des Rechtes (Gericht) der Form des Interessenausgleiches vor. Dr. Cooper bevorzugt die kooperative Form des Interessenausgleiches. Er begründet es damit, dass er etwa auf die Sorting Styles hinweist und sagt: „Die Unterwerfung des Gegners durch Macht ist keine sinnvolle Methode, mit der sich nachhaltige Lösungen erzielen lassen. Ebenso ist die juristische Methode, da sie egoistisch und vergangenheitsorientiert nach Fehlern sucht, nicht in der Lage, den beiden Parteien zu helfen, eine gemeinsame zukunftsorientierte Lösung zu generieren! Beide Methoden schaffen Feinde, statt Feindschaft zu beenden“. Einige Mandanten stimmen ihm zu, andere lehnen ab: „Das geht nie! Die Gegenpartei wird sich nie auf so was einlassen! Sie wird uns als Feiglinge auslachen!“ Oder: „Ich glaube nicht, dass wir für diesen Konflikt selbständig eine Lösung erarbeiten können. Wir brauchen den Staat, der uns sagt, wer Recht hat und wer nicht!“ Anfangs glaubten wir, dass es nur eine Frage der Argumente sei, die Mandanten von unserer Erkenntnis zu überzeugen, aber mit der Zeit erkannten wir, dass dem nicht so ist: Auch Mandanten, die wir als extrem intelligent einstuften, konnten oder wollten diesen Ideen nicht folgen. Wir fragten uns, was es denn sonst sein könne, dass Menschen etwas so Offensichtliches nicht erkennen konnten. Im Jahre 2007 stießen wir dann auf die Forschungen von Clare Graves und nun hatten wir eine Antwort: Ob jemand eine kooperative Lösung einer konfrontativen vorzieht, hängt nicht von seiner Intelligenz ab, sondern von seinem Bewusstseinsgrad! Um komplexe Probleme lösen zu können, muss man komplex denken können!

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3.3 Konfliktlösung und Bewusstsein (Bewusstseinslevel nach Clare W. Graves) Die Frage der Bewusstseinsstufen und ihre Bedeutung für die Art des Verhandelns haben wir ausführlich am Ende des Buchs untersucht 18. An dieser Stelle wollen wir nur einen kurzen Überblick geben, um auch unter diesem Gesichtspunkt das Vorgehen unserer beiden Helden analysieren zu können. Der amerikanische Professor Clare Graves hat bei seinen Forschungen herausgefunden, dass die Frage, ob ein Mensch etwas verstehen kann, nichts mit seiner Intelligenz zu tun hat, sondern vom Grad seines Bewusstseins abhängt. Dieses von den Autoren Beck und Cowan „Spiral Dynamics“19 genannte Modell unterscheidet acht Bewusstseinsstufen, die bedingt sind durch die Entwicklung des einzelnen Menschen sowie der Menschheit insgesamt. Wenn man die klassischen Konfliktlösungsmöglichkeiten mit diesem Modell verbindet, ergibt sich Folgendes: Mit Macht lösen Menschen Konflikte, die sich hauptsächlich in den ersten drei Bewusstseinszuständen (instinktiv, animistisch und egozentrisch) aufhalten: Sie versuchen, auch komplexe Konflikte mit trivialen (Flucht) und einfachen (Macht) Konfliktlösungstools zu lösen. Mit Recht lösen Menschen Konflikte der zwei nächsten Stufen (systemgläubig, erfolgsorientiert): Sie verwenden auch für komplexe Konflikte am liebsten die komplizierten Konfliktlösungstools des Rechts 20. Für die Konfliktlösung durch Interessensausgleich braucht man mindestens Level 6 (soziozentrisch; darüber noch integrativ und holistisch): Hier erst ist man in der Lage, komplexe Probleme mit komplexen Konfliktlösungstools anzugehen. Zugänglich für Konfliktlösung durch Macht: Bewusstseinsstufen 1–3; erste menschliche Gemeinschaften bis Feudalreiche, Kindheit bis Pubertät: Dem Bewusstsein ist die Idee des modernen, demokratischen Staates oder der gemeinsamen Festlegung und freiwilligen Befolgung von Regeln noch fremd. Regeln sind vorgegeben und müssen eingehalten oder gebrochen werden! Etwa 30 % der Bevölkerung. Zugänglich durch Konfliktlösung durch Macht und Recht: Bewusstseinsstufen 1–3 und 4–5: Rechtsstaat bis Leistungsgesellschaft: Das Bewusstsein akzeptiert die moderne Staatsidee. Es ist aber noch nicht zur Innenschau fähig, die nach unbewussten Motiven (Werte, Glaubenssätze, Motive) des eigenen und fremden Handelns fragt. In der persönlichen Entwicklung des Menschen ist dies die Zeit von der Lehre und Ausbildung bis zum erfolgreichen Ausleben des ersten Berufes oder der ersten Karriere. 18 Teil 6, 3., S. 221 ff. 19 Beck/Cowan, Spiral Dynamics – Leadership, Werk und Wandel. 20 Siehe auch Schweizer, Techniken des Mediators – Übersicht, in: Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, S. 327.

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Rechnet man die Stufen 1–3 (30 %) und 4–5 (60 %) zusammen, so ergibt sich, dass etwa 90 % der Bevölkerung diesen Stufen angehören. Zugänglich für Konfliktlösung durch Macht, Recht und Interessenausgleich: Auf die Bewusstseinsstufen 6–8 entfielen dann die verbleibenden 10 % der Bevölkerung. Das wäre das, was man heute als Postmoderne oder Postleistungsgesellschaft bezeichnet: Die Menschen haben erkannt, dass das, was sie bis jetzt für wahr und richtig gehalten haben, nicht unbedingt mit dem übereinstimmt, was für sie wahrhaftig ist, und sind aus ihren bisherigen Tätigkeiten ausgestiegen (Bewusstseinsstufe 6). Menschen der Bewusstseinsstufe 7 (1 % der Bevölkerung) haben im Ausstieg ihre ganz persönliche Weltanschauung gefunden und steigen an einem Platz in der Gesellschaft wieder ein, der sowohl ihren Bedürfnissen, als auch denen der Gesellschaft entspricht. Als leuchtende Beispiele kann man hier etwa den berühmten Urwaldarzt Dr. Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela und vermutlich auch Bill Gates nennen. Menschen der Bewusstseinsstufe 8 gelten als erleuchtet. Wenn man sich diesem Ergebnis der Untersuchungen von Graves et al. anschließen würde, dann käme man zu dem Ergebnis, dass 90 % der Bevölkerung aufgrund ihrer Bewusstseinsentwicklung noch nicht in der Lage wären, aus eigener Lern-Erfahrung zu „erkennen“, dass eine kooperative Lösung einer konfrontativen Lösung und eine Konfliktregelung durch Interessenausgleich einer solchen durch Recht oder Macht auf die lange Dauer überlegen ist. Dieses Ergebnis ist natürlich extrem und überraschend. Aber selbst wenn die prozentuale Aufteilung nicht unseren eigenen Erfahrungen entsprechen sollte, dürfte es doch eine Erfahrung des Anwaltsberufes sein, dass die meisten Menschen, die einem im professionellen Umfeld begegnen, für alle Konflikte zu Konfliktlösungen durch Macht und Recht tendieren: Sie müssen sich das für eine Konfliktlösung durch Interessenausgleich nötige komplexe Denkvermögen zuerst noch antrainieren. So tat es auch unser Dr. Attila von Streidt. Aus adeligem Geschlecht stammend, hatte er die Schulzeit auf Eliteanstalten zugebracht, wo man ihn gelehrt hatte, das Hergebrachte zu schätzen und mit Konflikten in der erlernten Tradition umzugehen. Die Klasse, der er angehörte, weiß, wie man seinen Besitzstand mehrt und verteidigt. In dieser Hinsicht war er völlig eins mit seiner Frau Rosamunde, Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten. Sein Studium hatte ihn darin bestärkt, Konflikte mit allen Mitteln des Rechts zugunsten seiner Mandanten zu lösen. Auf diesem Gebiet hatte er höchste Eleganz entwickelt und fühlte sich mit Stolz als ein Söldner des Rechts, der für seine Klienten vor Gericht in den Kampf zieht. Unter diesen Voraussetzungen möchten wir ihn gerne in Stufe 4 des Modells von Graves einordnen, der vor allem konventionell geprägte, patriotische Menschen angehören, die Ordnung schaffen wollen. Es ist wohl auch nicht völlig überraschend, dass man unter Ihnen viele Angehörige militärischer Verbände findet … Dr. Austin Cooper war da aus anderem Holz geschnitzt. Sein Leben war bunt und durch viele unterschiedliche Eindrücke geprägt verlaufen. So hatte er seine juristischen Kenntnisse ergänzt durch die Studien der Kommuni82

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kationswissenschaft und Psychologie, war viel in der Welt herumgekommen und hatte nicht nur bei den Indianern in New Mexiko gelebt, sondern auch längere Zeit in einem thailändischen Kloster verbracht. Bei all seinen Reisen hatte er sich auch mit der Frage beschäftigt, wie andere Völker mit ihren Konflikten umgehen. Dabei hatte er gelernt, dass die Menschen die Welt unterschiedlich sehen, dass wir also nicht die objektive Wirklichkeit wahrnehmen, sondern nur Landkarten der Wirklichkeit. Offensichtlich scheint es nach der Erfahrung Coopers so zu sein, dass wegen der beschränkten Wahrnehmung kein Mensch sagen kann, was wirklich richtig ist. Insofern lautet auch seine Erkenntnis: Alle Menschen haben Unrecht oder wie er es vorzog zu sagen: Alle Menschen haben (aus ihrer Sicht) Recht. Was kann es da Sinn machen, sich zu streiten, welche Weltsicht nun die richtige ist. Bei solcher Erfahrung kann die bevorzugte Konfliktlösung nur darin bestehen, zunächst einmal herauszufinden, wie die andere Seite die Welt sieht, um dann eine Lösung zu finden, die Raum für die Weltsicht aller Konfliktparteien bietet. Kooperative Konfliktlösung also. Bei diesem Bewusstsein tendieren wir dazu, ihn auf Stufe 7 des Graves’ schen Modells einzuordnen, auf der wir integrative Menschen finden, die autonom und unabhängig von der Meinung anderer sind. Unter ihnen gibt es viele Wiedereinsteiger, Menschen, die nach ihrer „Heldenreise“21 wieder zurückgekehrt sind und zu Hause ihr Leben auf anderer Basis fortsetzen. So erleben wir auch Dr. Cooper, den seine Reisen vom Kämpfer zum Unterhändler gewandelt haben. 3.4 Wahrnehmungspositionen 22 Die Frage, welche Fähigkeit ein bewussterer Mensch hat, die ein weniger bewusster Mensch nicht hat, würden wir heute wie folgt beantworten: Ein bewussterer Mensch ist in der Lage, mehr Wahrnehmungspositionen einzunehmen als ein weniger bewusster. Wir werden weiter unten noch vertieft auf die Wahrnehmungspositionen eingehen23. Hier nur soviel: Grinder/DeLozier 24, auf die das Konzept zurückgeht, unterscheiden ursprünglich drei Wahrnehmungspositionen: 1st position, 2nd position, 3rd position. Später wird noch eine vierte hinzugefügt: 4th position 25: 21 Die Reise eines mythischen Helden (Heldenfahrt) ist durch typische Situationsabfolgen gekennzeichnet, die zur Entwicklung des Helden führen. Josef Campbell unterscheidet in seinem Klassiker „Der Heros in tausend Gestalten“, 12 typische Stationen einer Heldenreise. Durch seine Erlebnisse durchschreitet der Held Initiation und Transformation und kehrt geläutert zurück. Nach seiner Rückkehr hat er im Allgemeinen große Schwierigkeiten, die Erfahrungen im wiedergewonnenen Alltagsleben umzusetzen, weil seine Umwelt diese Entwicklung nicht mitgemacht hat und dem Helden mit Unwissen und Unwillen begegnet. 22 Vgl. oben Einleitung, 4., S. 15. 23 Im Teil 4, 3.1.5, S. 146 ff. und 6, 6., S. 238 ff. 24 Grinder/DeLozier, Der Reigen der Daimonen, Vorbedingungen persönlichen Genies. 25 Vgl. Dilts/DeLozier, Encyclopedia of Systemic Neuro-Linguistic Programming and NLP New Coding, S. 938 ff.

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1. Wahrnehmungsposition Ich bin in meiner Erinnerung an eine bestimmte Situation (Erster Schultag, Verleihung des Anwaltpatentes, Hochzeit) ich selbst. 2. Wahrnehmungsposition Ich bin in der gleichen Erinnerung nicht ich selbst, sondern eines meiner Gegenüber, wie meine Lehrerin, der Justizminister, meine Frau. 3. Wahrnehmungsposition Ich bin in der gleichen Erinnerung weder ich selbst, noch ein Gegenüber, sondern sehe mir die Szene von außen als Beobachter an. 4. Wahrnehmungsposition Ich bin nicht Teil des Geschehens der Erinnerung, sondern sehe von ganz außen zu, etwa von Sirius B. Ich habe auch einen Überblick über die Zeit und weiß, was vorher schon geschehen ist, und ahne, was nachher noch geschehen kann. Ich kann das, was ich sehe, mit anderen Erfahrungen von mir und anderen außerhalb unseres Systems vergleichen. Lassen Sie uns die Wahrnehmungspositionen einmal praktisch üben: Ich sitze auf der Terrasse des „Grandhotel Giessbach“ 26 in Brienz. Das „Giessbach“ liegt 200 Meter oberhalb des tiefblauen Brienzersees und ist ein Hotelpalast wie aus dem Märchen: Hier ein Türmchen, hier ein Balkon, dort eine Veranda. Die Terrasse wird von Bäumen gesäumt. Vögel zirpen darin, die Giessbachfälle rauschen. Touristen im Wanderkostüm oder amerikanisch buntgekleidet sitzen an den Tischen. Einige fragen: „Was it here, where Sherlock Holmes died?“ Es riecht nach Kaffee und in der Ferne hört man das Abfahrtsignal des Kursschiffes. Wenn Sie jetzt aus Ihren eigenen Augen schauen und das sehen, was Sie jetzt gerade sehen, also etwa dieses W O R T, dann sind Sie „1st position“, also in sich selbst. Wenn Sie nun die Augen schließen und in meine Geschichte einsteigen, indem Sie etwa auf einen der Balkone des Grandhotels hochgehen und dann zu mir hinuntersehen, der ich da unten am Tisch sitze und schreibe, dann sind sie „3rd position“. Wenn Sie nun noch versuchen, mit meinen Augen zu sehen, wie ich da mit Blick auf den See und das Brienzerrothorn schreibe, den Mac vor mir auf dem Tisch, und versuche, Ihnen das näherzubringen, was es heißt, „2nd position“ zu sein, dann sind Sie „2nd position“. Wenn Sie dann auch noch das Lakritz schmecken, das ich im Mund habe, dann sind Sie wirklich „2nd position“! Wenn Sie nun unseren Planeten, unser Sonnensystem und unsere Galaxie verlassen und in Gedanken vom Andromedanebel auf sich selbst sehen, dort wo Sie sich jetzt gerade aufhalten und wie Sie mich beobachten und mich sehen, dann sind Sie in der „4th position“.

26 http://www.giessbach.ch/showimage.php?id=208.

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Diese Übung ist nicht einfach, da Sie von uns verlangt, unsere Sinne als Ganzes anders einzusetzen, als wir es gewohnt sind. Wir werden aufgefordert, nicht nur zu „denken“ sondern bewusst Positionen in unseren Landkarten einzunehmen und dann noch wahrzunehmen, welche anderen Informationen uns unser Nervensystem nun liefert: Einmal bin ich Selbst, dann ein Anderer, dann der Beobachter und dann schau ich mir alles von außen an! Das ist schon viel verlangt, oder? Diese verschiedenen Wahrnehmungspositionen hängen auch eng mit den Bewusstseinsstufen zusammen. Unsere Hypothese ist folgende: Menschen der Bewusstseinslevel 1 (instinktiv) und 2 (animistisch) sind nicht in der Lage, die 2., 3. und 4. Position einzunehmen. Sie agieren rein aus dem unreflektierten Gefühl der ersten Position. Menschen des Bewusstseinslevels 3 (egozentrisch) beginnen, sich von außen zu sehen und sind in der Lage, neben dem Fühlen mit dem Denken zu beginnen (entdecken ihre Unfreiheit im Feudalreich oder in der Pubertät), d.h., eine 3., reflektierende Position einzunehmen. Bis hier werden Konflikte regelmäßig mit trivialen (Flucht) und einfachen (Macht) Mitteln gelöst. Ab Bewusstseinslevel 3 beginnt die Fähigkeit, Konflikte mit komplizierten Mitteln wie Recht zu lösen. Menschen des Bewusstseinslevels 4 (systemgläubig) verfügen permanent über die Außensicht der 3. Position und im Level 5 (erfolgreich) glorifizieren sie diese: Cogito ergo sum! So geht auch Attila von Streidt an seine Fälle heran. Mögen seine Klienten auch die merkwürdigsten Dinge anstellen, nichts könnte ihn davon abhalten, das Verhalten seiner Mandanten ausschließlich mit deren Augen zu sehen und es mit großer Überzeugungskraft zu rechtfertigen. Er sieht also alles aus der 1. Position und der 3. Position des Rechtes. In seinen Augen hat der Klient Recht und nichts wäre ihm ferner, als auch einmal zu versuchen, die Dinge mit den Augen der anderen Konfliktparteien, in seiner Sprache: der Gegner, zu sehen. Unbedingte Parteigängerschaft für die eigene Klientel ist auch die Strategie seines Erfolges, nach dem Motto: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“ Wenn man ihn beauftragt, weiß man als Mandant, dass er unbeugsam und mit voller Überzeugung für die eigene Sache, zu der er den Konflikt des Mandanten stets macht, streiten wird. Seine hohe Intelligenz, die, wie wir inzwischen wissen, nicht notwendigerweise zu hohem Bewusstsein führt, gestattet es ihm, die Dinge im System, also von außen zu sehen. Alles, was passiert, kann er einordnen und zu einem logischen Gesamtbild zusammenfügen, was ihm bei den Richtern (die hinter vorgehaltener Hand über die Mengen an Schwachsinn klagen, der ihnen täglich offeriert wird) hohes Ansehen eingetragen hat. Sein Vortrag ist schlüssig, er kann geordnet begründen, warum seine Partei Recht und die andere Unrecht hat. Menschen im Level 6 (soziozentrisch) entdecken die Ungerechtigkeit, die durch das Leben in einer reinen Leistungsgesellschaft entsteht. Um diese 85

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Ungerechtigkeit wahrnehmen zu können, braucht es die Innensicht in das Leiden der anderen: 2nd position. Hier beginnt vermutlich die Fähigkeit zum komplexen Interessenausgleich, die sich in den Leveln 7 und 8 festigt: Ab Level 7 (integrativ) sind sie in der Lage, alles was sie bis jetzt getan haben, in Bezug zur Zeit und in Bezug zur Tiefenstruktur ihres Tuns zu sehen: Sie entdecken aus persönlicher Erfahrung, dass Verhandeln, Autofahren und „Liebe machen“ der gleichen Metastruktur folgen, wenn man im Flow sein will. Unser Freund Austin Cooper, von dem wir glaubten, ihn der Stufe 7 zuordnen zu sollen, ist dagegen der Meinung, dass Konflikte nur gut zu lösen sind, wenn man die Dinge auch aus der Sicht der anderen Seite betrachtet, aus der 2. Position, also das macht, was man in der Fachsprache Perspektivenwechsel nennt. Als er neulich mit Dr. von Streidt zu einem Stammtisch von Richter-Mediatoren eingeladen war, konnte er auch gut nachvollziehen, warum die anwesenden Richter mit großer Begeisterung von ihrer neuen Aufgabe erzählten, gemeinsam mit den Parteien deren jeweilige Sichtweise nachzuvollziehen. Nicht so von Streidt. Als er nach der Veranstaltung mit Cooper bei einem Bier zusammensaß, regte er sich zutiefst auf über diesen neumodischen „Schmarrn“. Die Richter seien doch zum Richten und Entscheiden in ihre Position bestellt worden, nicht aber um als „Warmduscher“ zu arbeiten, wie er sich drastisch ausdrückte. Cooper lächelte ihn verschmitzt an und sagte: „Lieber Herr Kollege, ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber Sie haben auch Recht!“ Ihm fehlt einfach der Glaube, dass nur eine Partei Recht haben kann. Das haben ihm seine vielen Reisen ins Ausland, der Aufenthalt in fremden Kulturen und seine immer wieder praktizierte Innenschau in Klöstern und Meditationszentren gezeigt. Er konnte alles, was geschah, auch aus der 4. Wahrnehmungsposition sehen. Streidt aber brummte ein wenig vor sich hin und bestritt den Rest des Abends lieber damit, gemeinsam mit Cooper von Bergtouren zu schwärmen und die Qualität des genossenen Bieres zu loben. Wenn wir dieses Modell zu Ende denken, könnte das heißen, dass Menschen, denen nicht bewusst ist, dass eine Konfliktregelung durch Interessenausgleich einer solchen durch Macht oder Recht auf die lange Dauer überlegen ist, nicht in der Lage sind, sich in die Situation anderer zu versetzen und zu erkennen, dass sie auf einer höheren Stufe das Gleiche wollen und so eigentlich nur ihre Zeit damit verschwenden, gegen eingebildete Gegner zu kämpfen, anstatt mit diesen gemeinsam in die gleiche Richtung zu schreiten. Diesen Menschen fehlt auch das, was vermutlich Menschen ab Level 7 haben: Diese benötigen keine äußere Autorität mehr wie den Staat, die ihnen sagt, was sie zum Wohle aller Anderen zu tun haben, da sie durch die Möglichkeit, 4th position zu gehen, gelernt haben, hinter die Dinge zu sehen und danach zu handeln. Kurzfristige Lösungen, die nur durch Angst (Macht) oder staatliche Autorität (Recht) induziert werden, haben sie nicht mehr nötig, da sie nur Lösungen akzeptieren, an die sie persönlich glauben. 86

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Teil 2

Wir hoffen, Sie haben die theoretische Analyse des Verhandlungsstiles unserer beiden Friedlinger Anwälte gut überstanden und daraus eigene Erkenntnisse gewinnen können. Schauen wir uns nun einmal an, in welcher Weise ein Verhandler Gewinn generieren kann und wie er sich verhalten sollte, wenn die andere Seite noch nicht in der Lage ist, komplexen Lebenssituationen mit komplexem Denken zu begegnen.

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Teil 3 Die Entscheidung: Welcher Verhandlungsstil ist richtig? Sicherlich werden Sie inzwischen Stellung bezogen haben: Als Liebhaber der juristischen Chirurgie werden Sie unsere Kritik an der Streidt’schen Konfliktbehandlung unangebracht finden, mehr noch: Vielleicht können Sie auf zahlreiche Siege in Ihrer juristischen Laufbahn zurückblicken, die Sie als „Weichei“ niemals errungen hätten. Das Durchsetzen von Ansprüchen ist nun einmal Kampf, und wo gehobelt wird, fliegen eben Späne! Oder: Sie empfinden große Sympathie mit der Art, wie Dr. Cooper an seine Fälle herangeht. Das mit der Gitarre war doch eine großartige Idee, und außerdem zeigt es sich doch an diesem Fall so schön, wo man hinkommt, wenn man bei Problemen nur Ansprüche im Kopf hat! Halt, nicht so schnell! Bevor wir Sie nun endgültig bitten, sich zu entscheiden, welchen unserer Friedlinger Staranwälte Sie zu Ihrem Idol machen wollen, müssen wir Sie und uns fragen, ob es denn wirklich nur Konfliktlösungen à la Streidt oder à la Cooper gibt? Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten, um an Konflikte heranzugehen? Und wenn dem so ist, was ist die erfolgreichste Methode? Oder gibt es die Methode gar nicht, die für alle Fälle passt? Müssen wir eventuell mehrere Verhandlungsstile bereithalten und jeweils den geeignetsten einsetzen wie ein Golfspieler, der für jeden Schlag das richtige Eisen aus seiner Golftasche zieht? Könnte es sein, dass manchmal Verhandeln gar nicht die richtige Lösung ist?

1. Durch Verhandeln gewinnen All das, was wir im Abschnitt 2.3 und im Teil 6 schreiben, sind unsere Landkarten, mit denen wir versuchen, die Welt des Verhandelns abzubilden und zu ordnen. Landkarten sind nichts anderes, als die subjektiven Darstellungen einer objektiven Wirklichkeit, die wir nicht erfassen können. Alles, was wir schreiben, ist also unsere subjektive Meinung von den Dingen, die irgendwo draußen, unfassbar für eine objektive, d.h. identische Abbildung, existieren. Alles, was Sie hier lesen und sehen, ist also nichts anderes als unsere Wahrnehmung, und wir akzeptieren damit auch, dass Sie, sehr geehrter Leser, eine andere Wahrnehmung haben können. Natürlich werben wir für unsere Sicht der Dinge, aber zu behaupten, dass sie die (einzig) richtige sei, würde bedeuten, dass wir unsere eigene Theorie in Frage stellen. Nach unserer Wahrnehmungstheorie gibt es eben nicht richtig oder falsch, 89

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sondern nur eine andere Art der Wahrnehmung 1. Die Welt des Dr. von Streidt ist ebenso „richtig“ wie die des Dr. Cooper. Dennoch unterscheidet sich die Sichtweise des Dr. Cooper erheblich von der des Dr. von Streidt. Cooper setzt in der Bearbeitung des Konfliktes nicht auf eine scheinbar objektive Außenbetrachtung, sondern betrachtet ihn konsequent als eigene Landkarte: Er nimmt den Konflikt nicht als etwas wahr, das scheinbar so ist, weil andere dies sagen, und schaut dann auch nicht in Gesetzesbüchern nach, welche Ansprüche man hier nun vor Gericht vortragen könnte, sondern betrachtet konsequent seine eigene Landkarte (und bittet den Mandanten, dies auch zu tun) und fragt sich, wie man nun diese eigene Landkarte verändern könnte, damit der Konflikt gelöst wird. Er gebraucht dazu keine äußeren, sondern nur innere Ressourcen, indem er sich etwa fragt, was beide Parteien wirklich wollen und was ihre im Inneren verborgenen Interessen hinter den nach außen demonstrierten Positionen sind. Er schlägt damit vor, den Konflikt nicht primär im Äußeren zu lösen, sondern im Inneren: Wenn ich erkenne, dass der Andere nicht mein Feind ist, sondern einer, der mir beim Erreichen meiner eigenen Ziele helfen könnte, stehe ich anders in der Welt. Dieser Schritt vom Äußern zum Innern ist der große Paradigmenwechsel, der den Übergang ausmacht von den konfrontativen Formen der Konfliktlösung durch Macht oder Recht zu der kooperativen Form des Interessenausgleichs. Anstatt mich zu fragen: „Wie kann ich den Gegner besiegen?“, frage ich mich: „Was will ich eigentlich? Was will der andere wirklich? Was wollen wir beide?“ und „Wie kann der andere mir helfen, meine Ziele zu erreichen? Wie kann ich ihm umgekehrt helfen?“ Wenn man nun aber erklären will, welche Vorteile der kooperative Weg bringen kann, ist es vielleicht sinnvoll, diese rein subjektive Betrachtungsweise um eine äußere – scheinbar objektive – zu ergänzen und zu fragen, wie man Konflikte so lösen kann, dass auch der andren Seite ein Gewinn verbleibt, ohne dass dadurch der andere geschmälert wird oder auch: Welche Verhandlungsart bringt wem welchen Gewinn und welchen Vorteil kann es haben, gar nicht zu verhandeln oder Verhandlungen abzubrechen?

2. Fünf Konfliktsituationen Um Ihnen die Spannbreite möglicher Verhandlungen vor Augen zu führen, könnten wir nun versuchen, nicht mit noch mehr theoretischen Modellen zu arbeiten, sondern uns fünf völlig verschiedene, mitunter auch extreme und keinesfalls alltägliche Situationen anzusehen, die durch Verhandlungen geklärt werden sollen. In einem zweiten und dritten Schritt wäre dann zu klären, welche Verhandlungsstrategie die effizienteste in der jeweiligen Situation ist. Versuchen wir es einmal so: 1 Näher dazu Ponschab, Wahrnehmung und Wirklichkeit oder das Meer in der Pipette, in: Festschrift für Benno Heussen, S. 183 ff.

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1. Situation: Sekretärin Eines Morgens kommt Ihre Sekretärin bestimmten Schrittes in Ihr Büro und verkündet Ihnen mit entschlossener Miene, dass sie unbedingt 10 % mehr Gehalt brauche. Sie denken: „Ist das nun das Resultat davon, dass ich sie auf meine Kosten in das berühmte Persönlichkeitsentwicklungsseminar ‚Die Sperre‘ geschickt habe?“ Da Sie vor kurzem ein großes Mandat verloren haben, das etwa 20 % Ihres Umsatzes ausgemacht hat, und Sie für dieses Mandat erheblich in eine aufwendige EDV-Anlage investiert haben, trifft Sie dieser Wunsch nicht nur unerwartet, sondern auch in einem Zeitpunkt, in dem Sie ihn nicht ohne weiteres finanziell verkraften können. Wie werden Sie sich verhalten? 2. Situation: Basar Sie machen Ferien im zauberhaften Marrakesch und besuchen dort auch einen der zahlreichen Basare. Sie atmen die fremden Düfte ein und erfreuen sich am Farbenspiel des fahlen Lichtes in den engen Gassen. Plötzlich erblicken Sie eine wunderschöne Messingvase. Ein Stück, von dem Ihr Partner seit Jahren schwärmt. Sie entschließen sich, die Vase zu kaufen und lassen sich vom Händler ansprechen. Wie werden Sie sich verhalten? 3. Situation: Verkehrsunfall Sie betreuen einen Mandanten, der in einen fürchterlichen Verkehrsunfall verwickelt worden ist: Ihr Mandant fuhr auf einer Überlandstraße korrekt hinter einem Lastwagen, der Butanflaschen geladen hatte. In einer engen Kurve löste sich ein Teil der Ladung und 24 Flaschen knallten auf die Straße. Viele Flaschen explodierten und begannen zu brennen. Ihr Mandant schlitterte, vollbremsend, in das Inferno hinein. Der Lastwagenfahrer verbrannte an der Unfallstelle, Ihr Mandant konnte sich lichterloh brennend aus dem Wagen retten und in den Bach am Rande der Straße stürzen. Die Schuld an diesem Unfall trägt eindeutig der Fahrer des Lastwagens, da er es unterlassen hatte, die Ladung vorschriftsgemäß zu sichern. Ihr Mandant hat bei dem Unfall schwere Verletzungen davongetragen, sein Fahrzeug ist ausgebrannt. Sie haben nun einen gemeinsamen Termin mit dem Schadensregulierer der Versicherung vereinbart, um die Höhe des Schadensersatzes zu klären. Wie werden Sie sich verhalten? 4. Situation: Serum gegen Schlangenbiss Sie machen mit ihrem Sohn eine Urlaubsreise in Indien. In der Nähe von Alang, wo Sie zusammen den berühmten Schiffsfriedhof besichtigen wollen, wird Ihr Sohn von einer Giftschlange gebissen. Sie erfahren von einem 91

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Entscheidung

Die Entscheidung

schrecklichste Taten

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© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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Einheimischen, dass im nächsten größeren Ort, in der Tempelstadt Palistena, ein Weißer wohnt, der das erforderliche Serum gegen den Schlangenbiss besitzt. Sie organisieren einen Mahindra-Jeep und rasen in die Stadt. Als Sie den Mann voller Aufregung erreichen, stellen Sie fest, dass es sich um eine äußerst zwielichtige Person handelt. Er verfügt zwar über das Schlangenserum, verlangt dafür aber einen horrenden Preis. Wie werden Sie sich verhalten? 5. Situation: Entführung Stellen Sie sich vor, Sie vertreten einen Mandanten in einer Sorgerechtssache. Trotz jahrelangen Kampfes ist es Ihnen nicht gelungen, dass Ihrem Mandanten das Sorgerecht für die fünfjährige Tochter zugesprochen wird. Nach einiger Zeit erhalten Sie plötzlich einen Anruf der Polizei mit der Bitte, sich sofort vor der Wohnung Ihres Mandanten einzufinden. Er hat die Entscheidung des Gerichtes nicht verkraftet und die Tochter beim Heimweg vom Kindergarten entführt. Er hat sich nunmehr in seiner Wohnung verbarrikadiert und droht, sowohl seine Tochter als auch sich selbst umzubringen, falls die Polizei versucht, die Wohnung zu stürmen. Sie wissen, dass Ihr Mandant Schusswaffen besitzt. Er hatte außerdem mehrfach dunkel angedeutet, dass er eine abweisende Entscheidung des Gerichts niemals akzeptieren werde. Ihr Mandant hat nun ausdrücklich nach Ihnen verlangt. Noch bevor Sie sich über das Funktelefon der Polizei mit ihm in Verbindung setzen können, hat Sie der Polizeipräsident gebeten, die Polizei zu unterstützen, um das Kind möglichst unversehrt aus den Händen Ihres Mandanten zu befreien. Wie werden Sie sich verhalten? Bewusst haben wir bei den vorstehenden Fällen keine Lebenssituationen ausgesucht, die Ihnen nur als Juristen begegnen können. Denn: Verhandeln ist Verhandeln. Es macht grundsätzlich keinen Unterschied, ob Sie mit einem ausländischen Staatsoberhaupt einen Vertrag über Truppenentflechtung aushandeln, für einen Mandanten einen Lizenzvertrag schließen oder mit dem Kellner darüber streiten, ob Sie einen anderen Nachtisch bekommen können. Übrigens: Haben Sie bemerkt, dass unsere Frage am Ende des „Falles“ lautet: „Wie werden Sie sich verhalten?“ und nicht: „Wie ist die Rechtslage?“ oder: „Welche Ansprüche hat X?“

3. Die verschiedenen Möglichkeiten des Verhandelns Wie kann man diese Situationen unabhängig von der eigenen Landkarte betrachten? Man könnte sich etwa fragen, wer aus der Sicht eines unabhängigen Dritten die Verhandlung als Sieger oder als Besiegter verlässt. Dies ergäbe dann vier Möglichkeiten2: 2 Siehe dazu auch: Schweizer, „Sie irren sich, Herr Kollege!“ oder: Warum Anwälte nicht verhandeln können, in: DACH, Mediation, S. 1 ff.

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Ich habe gewonnen, Du hast verloren! Ich habe gewonnen, Du hast gewonnen! Ich habe verloren, Du hast verloren! Ich habe verloren, Du hast gewonnen! Stellen wir uns diese Antworten einmal als Koordinatenkreuz vor. Die eine Koordinate zeigt den eigenen Gewinn an, die andere den Gewinn der anderen Partei.

100 %

Sieger

Gewinner/ Gewinner

Eigener Gewinn

50 %

Kompromiss

Verlierer

Resignation

50 %

100 %

Gewinn der anderen Seite

In diesem Koordinatenkreuz sind natürlich zahlreiche Positionen möglich (wo würden Sie sich selbst Ihrer Natur nach als Verhandler einordnen?), und diese Positionen können nicht nur von Person zu Person variieren, sondern auch bei ein und derselben Person je nach Tagesform, Laune und Situation. Um die Darstellung zu vereinfachen, haben wir über das Koordinatenkreuz vier Quadranten gelegt und diesen Verhandlungsstile zugeordnet, die wir als die vier Grundpositionen des Verhandelns beschreiben wollen. Daneben gibt es noch zwei sehr wichtige Positionen, die wir beziehen können, wenn wir nicht verhandeln wollen. 3.1 Kompetitives Verhandeln (Sieg/Verlust) Der kompetitive Verhandler denkt: „Ich ziehe den größten Profit aus der Verhandlung, wenn der andere verliert“. Diese Denkweise bezeichnen wir als Sieger-/Verlierer-Strategie oder kompetitives Verhandeln. Diese Einstellung geht davon aus, dass ich nur so viel 94

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gewinnen kann, wie der andere verliert. Die Regeln sind klar und eindeutig: Das Spiel dient dazu, festzustellen, wer den Platz als Sieger oder als Verlierer verlässt. Sie entspricht dem instinktiven, archaischen und feudalen Bewusstsein der Typologie nach Graves/Beck/Cowan. Wir sind vorne unter Teil 2, 3.3 bereits kurz darauf eingegangen und werden weiter hinten unter Teil 6, 3. noch ausführlich darauf zurückkommen. Menschen dieser Bewusstseinsstufen gehen davon aus, dass sie nur dann gewinnen, wenn der andere den Platz als Besiegter verlässt. Menschen, die in diesen Bewusstseinsstufen denken, haben, so unsere Hypothese, in Konfliktsituationen nur Zugang zur 1. Wahrnehmungsposition (ich). Eine andere Sicht der Dinge als ihre eigene ist ihnen fremd. Sie regeln deshalb ihre Konflikte ausschließlich durch Elimination des Gegners, also durch Macht und Recht. Ihr Denken ist wenig komplex und lässt nichts anderes zu. In der Entwicklung der Psyche ist dies die Form, zu der wir in der Kindheit, der Jugend und der Adoleszenz Zugang haben. Trotz ihrer Trivialität ist die Strategie als durchaus gängige Denk- und Handlungsweise bei Konflikten auch unter Erwachsenen anerkannt. Vermutlich aber nur unter solchen, die nie gelernt haben, komplexer zu denken. Weiter bringt kompetitives Verhandeln in der Regel mit sich, dass Interessenkonflikte im Wege des „Basarverhandelns“ ausgetragen werden und – eine besonders unangenehme Folge – eskalieren. Denn wer kompetitiv verhandelt, fragt im Regelfall nicht nach eigenen oder fremden Interessen, sondern bezieht Position: „Ich will es so, wie ich es will, und wenn Du nicht willst, dann musst Du weg!“ Nach Clare W. Graves können 30 % der Bevölkerung entsprechend ihrer Bewusstseinsstufe nicht anders als so verhandeln. Komplexere Verhandlungsformen bleiben ihnen unzugänglich. Ein mittlerweile berühmt gewordener Streit entwickelte sich 1995 um die geplante Versenkung einer Bohrinsel in der Nordsee, als sich der Ölkonzern Shell auf die Position zurückzog: „Ich will meine Bohrinsel versenken“, was die Naturschutzorganisation Greenpeace dazu veranlasste, genauso positionell zu sagen: „Du wirst die Bohrinsel nicht versenken!“ Diese Auseinandersetzung endete in einer beispiellosen Eskalation, an deren Ende ein Sieger mit starken Beschädigungen (Greenpeace) und ein Besiegter/Verlierer (der Ölkonzern und die britische Regierung) zurückblieben. 3 Ähnliche Situationen finden sich auch in der Politik, deren „Fortsetzung“ „mit anderen Mitteln“ nach einem geflügelten Wort ja der Krieg sein soll 4. 3 Eine genaue Beschreibung und Analyse findet sich in unserem Buch „Schlüsselqualifikationen“ unter 4.4. 4 Der Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ stammt von dem preußischen General Carl von Clausewitz (1780–1831) in seinem nicht vollendeten Hauptwerk „Vom Kriege“ (Erstes Buch, Erstes Kapitel, 24.), das sich mit der kriegswissenschaftlichen Politologie beschäftigt. Seine Theorien über Strategie, Taktik und Philosophie hatten großen Einfluss auf die Entwicklung des Kriegswesens in allen westlichen Ländern. Sie werden bis heute an wichtigen Militärakademien gelehrt und finden zudem im Bereich der Unternehmensführung sowie im Marketing Anwendung.

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Entscheidung

Ein Beispiel hierfür ist die sinnlose Eskalation des Konfliktes um die Falklandinseln zwischen Großbritannien und Argentinien. Auf dieser Denkweise fußt im Kern auch die „juristische Methode“, bei der Konflikte „entschieden“ werden und über „Recht“ und „Unrecht“ geurteilt wird: Der Sieger hat „Recht“, der Verlierer „Unrecht“. Allerdings ist hier die eigene Macht oder die Macht des Gegners an den Staat delegiert, der sie als Zwang dem angedeihen lässt, der vor Gericht verloren hat. Kompetitives Verhalten geht, wie das ökonomische Denken an sich, von einer Mangelsituation aus, und so ist für viele Menschen die Welt ein Ort des Mangels. Ein Ort, an dem nicht genug da ist: nicht genug an Geld, nicht genug an Arbeit und nicht genug an Ruhm für alle. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch meist nur um die noch nicht entwickelte Fähigkeit, die Situation aus anderen inneren Perspektiven als der eigenen zu sehen. Damit vergibt man sich alle Optionen, die man generieren könnte, wenn man die gleiche Situation auf der eigenen Landkarte von außen, aus der Sicht der anderen und aus einer Sicht von außerhalb des Systems sehen könnte. Wer bei sozialen Konflikten lediglich danach fragt, ob eine Anspruchsgrundlage gegeben ist, für den gibt es in dieser Welt nur Sieger (diejenigen, die eine Anspruchsgrundlage haben) und Verlierer (diejenigen, die keine Anspruchsgrundlage haben). Etwas anderes gilt, wenn es dem Gericht gelingt, die Parteien zu kooperativem Verhandeln und zum Abschluss eines angemessenen Vergleichs zu bewegen. Muss der Prozess geführt werden – und es gibt auch nach unserer Auffassung notwendige Prozesse –, dann ist es sicherlich erforderlich, die eigenen Möglichkeiten kompetitiven Verhaltens auszuschöpfen. Kompetitives Verhandeln ist nicht per se falsch. Es kann auch durchaus zielführend sein, vor Gericht zu klagen, so etwa, wenn die Gegenpartei komplexere Konfliktregelungsformen als Macht und Recht nicht anerkennt. Dies kann der Fall sein, wenn vereinbarte Regelungen bewusst verletzt werden, Rechts- oder Statusfragen geklärt werden müssen oder Eilverfügungen des Gerichts erforderlich sind. So kann kompetitives Verhandeln angebracht sein, wenn es wirklich nur ums Geld geht (aber wann geht es das schon?) und/oder es nicht darauf ankommt, gute Beziehungen herzustellen, zu pflegen oder auf dem Laufenden zu halten. Also immer dann, wenn man ziemlich sicher sein kann, miteinander zukünftig nichts mehr zu tun zu haben. Aber wer weiß das schon so genau. Meist sieht man sich im Leben doch häufiger als man denkt. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Vorfall aus meiner Militärzeit. Im Rahmen der Offiziersausbildung hatte ich einen Ausbilder, der mich mit besonderer Intensität „schliff“ und mir bei dieser Gelegenheit recht drastisch vor Augen führte, dass er Abiturienten nicht leiden konnte. Wie der Zufall es wollte, wurde der Unteroffizier in meinen damaligen Standort abkommandiert, nachdem ich zum Leutnant befördert war. Als er auf mich zukam, grüßte er mich als Ranghöheren zuerst. So besagt es die Dienstvorschrift. Bei seinem Gruß fiel mir auf, dass er unvorschriftsmäßig 96

Teil 3

Entscheidung

den kleinen Finger vom Ringfinger abspreizte. Das war meine Chance. Ich ließ den Unteroffizier drei Meter zurücktreten, mich nochmals passieren und ordnungsgemäß grüßen. Ich gebe zu, dass diese Rache vielleicht kleinlich war, aber ich kann nicht leugnen, dass ich dabei Genugtuung für die vielen Schleifereien empfand, die er mir angetan hatte. Man sieht sich eben – oft – zweimal im Leben. Vielleicht sollten wir uns doch nicht so sicher sein, wenn wir besonders kompetitiv vorgehen, dass wir den anderen nicht mehr sehen werden. In unserem Koordinatenkreuz positionieren wir die Sieg-/Verlust-Position so:

100 %

Sieg/ Verlust

50 %

Eigener Gewinn

50 %

100 %

Gewinn der anderen Seite

3.2 Weiches Verhandeln (Verlust/Sieg) Diese Strategie gehorcht dem Satz: „Ich verliere, Du gewinnst!“ Dies ist die Strategie der „Softies“, die Strategie derer, die bei Konflikten nachgeben, weil sie in ihren Landkarten keine anderen Wahlmöglichkeiten haben. Wir nennen diese Denkweise Verlierer-/Sieger-Strategie oder weiches Verhandeln. Der weiche Verhandler entspricht dem soziozentrischen Bewusstseinslevel 6. Er hat das konformistische Level und das Level der Leistungsgesellschaft hinter sich gelassen, da er gesehen hat, welche sozialen Ungerechtigkeiten ein reines Leistungsdenken auslöst. Dies ist ihm aufgefallen mit der Aneignung der 2. Wahrnehmungsposition. Er ist mitfühlend geworden. Allerdings ist er dort drin steckengeblieben und bewertet oft die Bedürfnisse der anderen höher oder wichtiger als seine eigenen. 97

Teil 3

Entscheidung

Weicher Verhandler

schrecklichste Taten

TYPISCH SOFTY- IMME:R. ANCSr, ;JENIANDEN ZU Kf?ÄNKEN

© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

98

Entscheidung

Teil 3

Uns ist dieses Verhalten idealtypisch in den 70er und 80er Jahren in den selbstverwalteten Genossenschaften aufgefallen: Damals gab es viele Gaststätten oder Handwerksbetriebe, die nach dem Prinzip der Selbstverwaltung funktioniert haben. Man hat sich in Kooperativen zusammengeschlossen, um der ausbeuterischen Tendenz des Kapitalismus zu entfliehen: Alle Menschen waren gleich wichtig und alle haben, egal was sie leisten konnten oder wollten, gleich viel Lohn erhalten. Damit konnte niemand mehr durch andre ausgebeutet werden. Das hat sehr gut funktioniert für die, die wenig leisteten, aber eher schlecht für die Fleißigen. Diese haben nun sich selbst statt andere ausgebeutet: Du gewinnst, auch wenn ich dabei verliere! Für den „weichen“ Verhandler scheint, so gesehen, das Leben ebenfalls eine Mangelsituation zu sein, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Der Glaubenssatz des weichen Verhandelns lautet: „Es ist nicht genug für uns beide da, deshalb verzichte ich.“ Um freundlich zu sein, aus dem Gefühl der Schwäche oder um Wohlwollen zu erregen oder zu erkaufen oder aus einem ideologischen Prinzip heraus, überlässt der weiche Verhandler der anderen Seite mehr, als er eigentlich möchte. Auch in diesem System sind nur Verlierer und Sieger anzutreffen. Der weiche Verhandler ist allerdings – bezogen auf den kompetitiven Verhandler – auf der anderen Seite zu Hause, er gehört zu den Verlierern. Auf den Malediven im Indischen Ozean, wo ein Teil dieses Buches entstand, ist es inzwischen streng verboten, Fische, insbesondere Haie, zu füttern. Denn man hat herausgefunden, dass Haie durch das Füttern nicht etwa zahmer und freundlicher, sondern aggressiv werden und bei Fütterungen mehrfach Menschen erheblich verletzt haben. Menschen, die weich verhandeln, sind ein gefundenes Fressen für Verhandlungshaie. Weiches Verhandeln erzeugt bei kompetitiven Verhandlern keinen Dank, sondern steigert die Fresslust der anderen, welche sich aufgefordert fühlen, die Grenzen des Möglichen auszutesten. Haie kann man durch Füttern nicht zufriedenstellen, kompetitive Verhandler nicht durch Nachgeben. Weiches Verhandeln ist im Regelfall nicht effektiv. Auch Chamberlain hat es nicht geholfen, dass er gegenüber Hitler (vermutlich Bewusstseinslevel 2 oder 3) nachgiebig war.5 5 Bei mehreren Treffen mit Adolf Hitler glaubte Chamberlain, durch Nachgeben gegenüber den „berechtigten“ Forderungen Hitlers, einen Krieg verhindern zu können. Am 30. September 1938 kam es zur Unterzeichnung des Münchner Abkommens. Unter Vermittlung des italienischen Diktators Benito Mussolini, den Hermann Göring eingeschaltet hatte, gaben der britische Premierminister Arthur Neville Chamberlain und der französische Ministerpräsident Édouard Daladier mit dem Abkommen dem Diktator Adolf Hitler ihre Zustimmung zum Anschluss des Sudetenlandes an den übrigen deutschen Sprachraum. Obwohl im Abkommen nicht vereinbart, bedeutete das Münchner Abkommen faktisch das Ende der 1918 entstandenen multinationalen Tschechoslowakei.

99

Teil 3

Entscheidung

Weiche Verhandler lassen es manchmal nicht beim „Verlorenhaben“ bewenden. Vor allem dann, wenn sie nicht freiwillig nachgegeben haben. Das schlechte Gefühl, das sie empfinden, wenn sie beim Verhandeln „zweiter Sieger“ geworden sind, schlägt oft in Rachsucht oder in den Wunsch um, es dem anderen einmal „richtig zu zeigen“. Dann regredieren sie ebenfalls in ein früheres Level zurück, verlieren den Zugang zur 2. Wahrnehmungsposition und sehen nur noch die erlittene Schmach (1st position): Rachsucht und Revanche sind Gefühle, die unglaubliche Energien freisetzen können. Erfahrene Fußballtrainer wissen das, wenn sie Spieler auf die Ersatzbank verdonnern. Sie wissen, dass solche Spieler, wenn sie dann wieder spielen dürfen, sehr viel Kraft freisetzen, um dem Trainer zu zeigen, dass er Unrecht hatte. Auch die großen Rächergestalten der Weltliteratur sind in ihre Rolle durch Demütigung hineingewachsen: Michael Kohlhaas, der Graf von Monte Christo, Franz Moor, um nur einige zu nennen. Das Thema Rache und Vergeltung ist bei allen Spielen, bei denen die eine Seite verliert, ein wichtiges Thema. Wir werden später noch einmal darauf zu sprechen kommen. Es liegt also im eigenen Interesse des Verhandlers, bei seinem Verhandlungspartner nicht das Gefühl zu erzeugen, dass er als Verlierer aus dieser Verhandlung hervorgeht. Die Energien, die er damit weckt, können sich durchaus bei nächster Gelegenheit gegen ihn richten. Denn auch Menschen, die ansonsten angeblich unter Gedächtnisschwund leiden, können die Erinnerungen an Demütigung und Unrecht vortrefflich speichern, um bei passender Gelegenheit Revanche zu üben. Der kompetitive Verhandler muss nämlich für seine (kurzfristigen) Erfolge oft teuer bezahlen. Kennen Sie wirklich erfolgreiche6 Menschen, die ihr Leben lang andere Menschen über den Tisch gezogen haben? Wir haben keine gefunden.

6 Vielleicht fragen Sie sich, was „erfolgreich“ eigentlich bedeutet. Zu Recht. Wir kommen weiter unten unter 4., S. 111 ff., darauf zurück.

100

Teil 3

Entscheidung

In unserem Koordinatenkreuz positionieren wir den weichen Verhandler so:

100 %

50 %

Eigener Gewinn

Verlust/ Sieg

50 %

100 %

Gewinn der anderen Seite

3.3 Kamikaze-Verhandeln (Verlust/Verlust) Die Landkarte dieses Verhandlers sieht wie folgt aus: „Ich habe bereits verloren, und mein Ziel ist es, auch Dich zum Verlierer zu machen.“ Eine solche Position ergibt sich zwingend aus der von uns verwendeten Matrix. Aber gibt es sie auch wirklich im Leben? Zuerst hatten wir Mühe, das zu glauben. Bis wir von Michael Grinder hörten, auch er habe sehr stark daran gezweifelt, dass es sowas gibt. Als dann aber seine Kinder in die Pubertät gekommen seien, habe er es besser gewusst: „Die haben irgendwie gedacht, dass sie gegenüber den Eltern und dem Leben eh keine Chancen hätten und uns nun das Leben auch schwermachen sollten!“ Ich glaubte ihm zuerst nicht so recht. Als aber unsere Kinder in die Pubertät kamen, begann ich zu ahnen, dass daran etwas sein könnte: Rationale Argumente haben plötzlich nicht mehr gefruchtet. Alle Vorschläge wurden mit „Nein!“ beantwortet. Eine Tochter hat gar etwa Jahr lang nicht mehr mit mir gesprochen. Sämtliche Freundlichkeiten halfen nichts. Sie kannte mich erst wieder, als ich eines Tages meine Strategie änderte und für sie am Mittagstisch keinen Teller mehr hinlegte. Interessant scheint es mir so gesehen auch, dass die Amokläufe in amerikanischen und europäischen Schulen der letzten Jahre auch nicht durch irgendwen, sondern durch pubertierende Jungen ausgeführt wurden7. Das Verlust-Verlust-Denken könn7 Nicht zu dieser Gruppe würden wir die modernen islamistischen Selbstmordattentäter zählen: Diesen wird, wenn sie sich für Allah opfern, ein Platz am Tisch des Religionsstifters versprochen, darüber hinaus der Zugang zu einem Harem an Jung-

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Kamikaze-Verhandler

schrecklichste Taten

'DAS ISTNUR FAIRDU KAUFST DIR ::JA AIJCH IMMER

GRösSERE

KLBDER.

ICH WUSSTE. DAS WAR EIN FEHLER. SOBALD'S RAUSWAR!

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te so vermutlich tatsächlich die innere Landkarte von Amokläufern und Kamikaze-Fliegern sein. Der Verlust-Verlust-Stratege selbst sieht sich als jemand, der bereits verloren hat. Er glaubt nicht, dass es für ihn auch nur die Chance eines Gewinnes geben kann. Deshalb hat er auch nur noch eines im Sinn: Die Gegenpartei ebenfalls zum Verlierer zu machen. Gibt es aber solche inneren Landkarten auch außerhalb des Selbstmordkontextes und außerhalb der Pubertät? Überlegen Sie sich einmal unter diesem Aspekt, was passiert, wenn Sie einem besonders ehrgeizigen Mitarbeiter eröffnet haben, dass er nicht Partner in Ihrer Kanzlei werden wird. Sie möchten sich, da Sie vor allem an zukünftigen Partnern interessiert sind, von ihm trennen und haben ihm deshalb zum Ende des Jahres gekündigt. Bis dahin vergeht aber noch ein halbes Jahr. Es kann sein, dass der Mitarbeiter sich mit dieser Tatsache abfindet und sich nach einer anderen Kanzlei umsieht. Es kann aber auch sein, dass er sich nun als Verlierer fühlt und sich rächen möchte: Er will nur eines: Sie ebenfalls zum Verlierer machen, und übersieht im nächsten Vertrag ein besonders wichtiges Detail . . . Viele Prozesse vor Arbeitsgerichten scheinen auch nach dieser Struktur zu funktionieren: Huber wurde berechtigterweise fristlos gekündigt. An eine Wiederbeschäftigung ist nicht zu denken. Das Vertrauensverhältnis ist nachhaltig gestört. Huber hat seine Arbeitsstelle endgültig verloren und denkt auch nicht im Schlaf daran, mit seinen alten Kollegen weiter zusammenzuarbeiten. Er will aber, dass sein ehemaliger Arbeitgeber auch „Blut lassen“ soll. Deshalb erhebt er Klage gegen die Kündigung vor dem Arbeitsgericht, um den Arbeitgeber unter Druck zu setzen. In Vergleichsverhandlungen präsentiert er stets Maximalforderungen. Oder: Wie ist der deutsche Fiskus zu den Daten der Steuerflüchtlinge in Liechtenstein gekommen? Gab es da nicht einen Mitarbeiter einer liechtensteinischen Treuhandgesellschaft, der sich ungerecht entlassen fühlte? Noch etwas, was uns aufgefallen ist: Verlust-/Verlust-Situationen sind meist die Folge ausgeprägter Sieg-/Verlust-Strategien. Stark kompetitives Verhalten fördert ein Umfeld, in dem Kamikaze-Verhalten entstehen kann. Wenn ich jemanden durch meinen Verhandlungsstil zum „ewigen Verlierer“ stemple, kann es passieren, dass der andere irgendwann gar nicht mehr daran denkt, selbst etwas zu gewinnen, sondern nur noch daran, mich auch zum Verlierer zu machen. Wir nennen ein solches Verhalten Verlierer-/Verlierer-Strategie oder Kamikaze-Verhandeln. frauen. Diese Zukunftsaussichten sind, wenn man sich das oft triste und vermutlich sexlose Leben der jungen Männer zwischen 20 und 30 anschaut, durchaus etwas, wofür es sich zu sterben lohnt. Diese Männer gehören so wohl eher dem Typ des win-lose-Denkens an.

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Allerdings treffen wir solches Verhandeln selten in Verhandlungen, es ist im Regelfall als menschliche Verhaltensweise außerhalb von Verhandlungen anzutreffen. Daher wollen wir uns in diesem Zusammenhang kurzfassen. Und so sieht die Position des Kamikaze-Verhandlers bildlich dargestellt aus:

100 %

50 %

Eigener Gewinn

Verlust/ Verlust

50 %

100 %

Gewinn der anderen Seite

3.4 Kooperatives Verhandeln (Gewinn/Gewinn) Diese Konfliktlösungsstrategie geht nach dem Motto vor: „Ich gewinne dann am meisten, wenn auch Du vom Verhandlungsergebnis profitierst.“ oder „Ich gewinne, wenn auch Du gewinnst!“ Diese Strategie ist die Gewinn-Gewinn-Strategie, die Strategie des kooperativen Verhandelns. Es ist die Strategie, die auch Dr. Austin Cooper anwendet. Es ist die Strategie, die wir für die generell erfolgreichste Verhandlungsstrategie halten. Diese Strategie setzt voraus, dass wir nach den Grave’schen Bewusstseinsleveln das Leistungsbewusstsein überwunden haben, sicher soziozentrisch denken können und vielleicht schon integrativ. Wir müssen dazu Zugang zu allen vier Wahrnehmungspositionen haben: Meine Sicht, die Sicht des anderen, die Sicht auf uns beide und die Sicht auf das System, in welchem wir uns befinden. Die nachstehenden Gedanken entstanden auf einer kleinen Insel der Malediven, umgeben von einem paradiesischen Atoll. Bei den Tauch- und 104

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Schnorchelgängen konnte man das Leben im Riff ausführlich beobachten. Hier schien alles miteinander verwoben. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich eine Fülle von Farben und Formen. Hier kennt man sich, hier hat alles irgendwie miteinander zu tun. Nach wenigen Tagen wusste man, wo welche Schwärme von Fischen standen oder unter welchen großen Tischkorallen welche Fische ihre Siesta hielten. Majestätisch schwebte ab und zu ein Rochen vorbei, oder war es „der“ Rochen, immer der gleiche? Die gegenseitige Abhängigkeit dieser Welt wird einem besonders bewusst, wenn man die kleinen Putzerfische beobachtet, die andere, größere Fische säubern. Bei ihrem „Job“ schwimmen sie in die Kiemen und das Maul der größeren Fische, ohne allerdings von ihnen verspeist zu werden, obwohl diese „Futteraufnahme“ ganz einfach wäre: Die großen Fische bräuchten nur das Maul zu schließen. Aber offensichtlich pflegen hier die Großen gegenüber den Kleinen kooperatives Verhalten; zu Recht, denn wenn ein Fisch die Putzerfische fressen würde, würde sich dies sicher bald „herumsprechen“. Dann würden die Putzerfische möglicherweise diesen Fisch meiden, und er müsste eben sehen, wie er mit den Unreinheiten an seinem Körper zurechtkäme. Das kooperative Verhandeln geht davon aus, dass die Welt im Wesentlichen interdependent ist, also auf wechselseitiger Abhängigkeit beruht. Will ein Verhandler sein Ziel erreichen, ist er auf die Mitwirkung des Verhandlungspartners angewiesen, sei es auch nur dergestalt, dass die andere Seite den geschlossenen Vertrag auch wirklich erfüllt. Als wir 2007 begannen, uns mit den Grave’schen Bewusstseinsleveln auseinanderzusetzen, wurde uns plötzlich gewahr, dass die Beschreibung des Riffs nichts anderes war als die systemische Betrachtungsweise aus der 4. Position! Ich erlebte postkonventionell, was es heißt, das alles miteinander verbunden ist. Der kooperative Verhandler wird sich, nachdem er seine eigenen Ziele (1st position) festgestellt hat, zunächst einmal darüber Gedanken machen, welche Ziele die andere Partei (2nd position) verfolgt, und wird dann gemeinsam mit dem Verhandlungspartner untersuchen, ob sich diese Ziele durch gemeinsam erarbeitete Lösungen (3rd position) erreichen lassen, und am Schluss noch prüfen, ob die gefundene Lösung kompatibel mit dem Gesamtsystem ist (4th position). Er arbeitet damit als Erstes an seiner inneren Landkarte und sucht hier nach mehr Wahlmöglichkeiten. Dies tut er, indem er den Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven (vier Wahrnehmungspositionen) und unterschiedlichen Leveln (logische Ebenen) betrachtet. Dieses Vorgehen erweitert seine Denk- und Handlungsalternativen gewaltig. Er konzentriert sich somit darauf, in sich selbst Ressourcen zu erschließen, um Lösungen zu finden, die beide Seiten und das System zufriedenstellen. Die Lösung sucht und findet er zuerst in sich selbst und seine Vorstellung von der Welt gleicht vermutlich dem beschriebenen Korallenriff. Die Überzeugung des kooperativen Verhandelns lautet daher: „Es ist genug für alle da.“ Da das „genug“ natürlich nicht immer vordergründig zu greifen ist, erfordert diese Art des Verhandelns kreatives, konstruktives Denken und die 105

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Der kooperative Verhandler findet Lösungen, die beide Seiten zufriedenstellen!

-----------~----------~ schrecklichste Taten

© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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Überzeugung, dass es auch in dem aktuellen Verhandlungsfall „genug“ für alle gibt. Wir scheinen dazu zu neigen, diesen Satz zunächst grundsätzlich zu bejahen, dann aber zu begründen, warum genau in diesem speziellem Fall nicht „genug für alle“ da ist. Wir können oder wollen manchmal die 4. Position nicht sehen. Wie das nachfolgende Beispiel aus einem Verhandlungsseminar zeigt, in dem die Teilnehmer und der Seminarleiter (einer der Autoren) die Fülle der Ressourcen nicht auf Anhieb sahen: Die Teilnehmer waren Rechtsanwälte aus Arbeitgeberverbänden, deren Tätigkeit hauptsächlich darin bestand, bei Tarifverhandlungen mitzuwirken oder Arbeitgeber bei Arbeitsstreitigkeiten zu vertreten. Als ich die Anwesenden aufforderte, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, antworteten die Teilnehmer zunächst, Sätze wie „den Kuchen vergrößern“ hörten sich zwar gut an, doch in ihrer Praxis könnten sie damit nichts anfangen. Die Fronten seien starr, die Gegenseite im Regelfall nur aufs Geld aus und darüber hinaus häufig ideologisch belastet. Bei Arbeitsgerichten hätte man als Arbeitgebervertreter außerdem einen schweren Stand, da Arbeitsrichter in der Regel mehr Sympathien für die Arbeitnehmer hätten. Diese Argumente, die am Abend des ersten Seminartages vorgebracht wurden, bereiteten mir eine schlaflose Nacht: Offensichtlich lag hier eine derart kompetitive Situation vor, dass kooperative Ansätze fehl am Platz waren. Die Intention des Seminars, nämlich kooperatives Verhalten zu vermitteln, schien gescheitert und Sie können sich sicherlich vorstellen, wie mir bei dieser Erkenntnis mitten in einem laufenden Seminar zumute war. Dennoch gab ich nicht auf und stellte den Teilnehmern am Morgen des nächsten Tages die Aufgabe, den Satz: „Bei uns ist alles besonders schwierig, weil …“ zu Ende zu führen und darzulegen, warum sich kooperative Ansätze so schwer umsetzen ließen. Damit erlaubte ich den Teilnehmern ganz in die 1. Position einzusteigen. Dies hat oft, wie wir gleich sehen werden, befreiende Wirkung. Als zweite Aufgabe bat ich die Teilnehmer, in Gruppenarbeit die Frage zu beantworten: „Wie könnten andere unter derartig schwierigen Verhältnissen in anderen oder gleichen Situationen kooperative Ansätze verwirklichen?“ Ich konnte gar nicht aufhören zu staunen, welche Ideen nunmehr die gleichen Teilnehmer servierten, die am Abend vorher noch behauptet hatten, dass kooperative Ansätze nicht möglich wären. Woran mag das gelegen haben? Vielleicht lag es daran, dass ich mit „andere“ und „in anderen oder gleichen Situationen“ den Blick auf das gesamte System ermöglicht hatte. Meine Frage zwang sie in die 2., 3. und 4. Position zu gehen! Letztlich erkannten die Teilnehmer dieses Seminars, dass sie zusammen mit den Vertretern der Gewerkschaften und den Richtern das gleiche „Riff“ bewohnten. 107

Teil 3

Entscheidung

Kehren wir zu unserem Koordinatenkreuz zurück: Hier erhält der kooperative Verhandler den letzten noch freien Quadranten.

100 %

Gewinn/ Gewinn

50 %

Eigener Gewinn

50 %

100 %

Gewinn der anderen Seite

3.5 Gewinnen um jeden Preis Es gibt auch Konfliktsituationen, bei denen das Motto lautet: „Ich muss um jeden Preis gewinnen, alles andere ist egal.“ Dies sind meistens Situationen, in denen meine Wahlmöglichkeiten extrem eingeschränkt sind. Meistens geht es dabei um ein wichtiges Ding, manchmal gar um Leben oder Tod, und der Schlüssel zum Ziel liegt in der Hand eines anderen. Es können aber auch andere Situationen sein, wie den Mietvertrag für eine Wohnung zu erhalten, die ich dringend brauche, oder den letzten freien Platz in einem Flugzeug zu bekommen, weil am Zielflughafen die Maschine wartet, die mich zu einer Besprechung bringt, von der die Existenz des Unternehmens abhängt. Vermutlich sind diese Situationen übrigens extreme Formen des Interessenausgleiches: Mein Interesse ist, zu überleben oder ein für mich als absolut existentiell empfundenes Gut zu sichern. Das kann ich im Moment nur mit der einen Strategie, zu welcher der andere den Schlüssel in Händen hält. Ich kann mir den Schlüssel aber weder mit Macht beschaffen, noch habe ich einen (durchsetzbaren) rechtlichen Anspruch darauf. Die einzige Chance, die ich habe, ist die, mich so attraktiv wie möglich zu machen und meinem Gegenüber das, was ich habe, zur Verwirklichung seiner Interessen anzubieten. Meine Attraktivität kann sich in Geld, Können oder was auch immer manifestieren. Beispiele dafür sind etwa die jüdischen Geldfälscher, die zum Überleben für die Nazis Pfund- und Dollarnoten gefälscht haben oder die Frauen, die sich in Kriegszeiten dem ranghöchsten Offizier anbieten und 108

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Teil 3

so Schutz vor den vergewaltigenden Soldaten finden und damit das eigene Überleben sichern. 3.6 Keine Verhandlung mehr gewollt Diese Position bedeutet, dass man der anderen Seite klar zu erkennen gibt, unter bestimmten Umständen nicht (mehr) verhandeln zu wollen und sich stattdessen auf eine Rechts- oder Machtposition zurückziehen will. Dies ist die „Notbremse“, wenn Verhandlungen einen völlig ungewollten Verlauf nehmen oder Ereignisse eintreten, die mich zu einem vollständigen Überdenken meiner Strategie bewegen. Die Amerikaner nennen es in ihrer unvergleichlichen Art, Dinge auf den Punkt zu bringen, die „go-away-alternative“. Das Motto lautet: „Ich verhandle nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind.“ Solange die andere Seite daran interessiert ist, mit mir ein bestimmtes Verhandlungsergebnis zu erzielen, ist dieses Verhalten, richtig angewandt, sehr machtvoll. Stellen Sie sich einmal die obenbeschriebene 8 Szene vor, in der die Verhandlungspartner übernächtigt in kalten Räumen mit Folienorgien gepeinigt wurden. Stellen Sie sich weiter vor, Sie hätten in dieser Situation den Mut aufgebracht, etwa Folgendes zu sagen: „Tut mir leid, aber Ihre Heizung scheint einen Defekt zu haben. Außerdem sind wir müde. Unter solchen Bedingungen würden Sie sicher auch ungern verhandeln, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir die Verhandlung auf morgen vertagen? Dann hätten Sie insbesondere auch die Möglichkeit, Ihre Heizung zu reparieren.“ Lässt dann die „böse“ Partei nicht nach und sagt beispielsweise: „Ach, kommen Sie, wir sind doch gleich fertig, es dauert doch nur noch eine halbe Stunde“, dann gibt es nur eins: Stehen Sie auf und gehen Sie. Wir sind sicher, dass Sie anderntags einen Verhandlungspartner vorfinden werden, der Respekt vor Ihnen hat (und eine funktionierende Heizung). Auch als kooperativer Verhandler dürfen Sie nicht versäumen, in den richtigen Situationen die Pistole auf den Tisch zu legen9: Wer mir mit Macht begegnet und meine Rechts- oder Interessenposition nicht respektiert, dem muss ich ebenfalls mit Macht begegnen, da mein Gegenüber im Moment nur diese Sprache zu respektieren scheint! So viel zu den verschiedenen Verhandlungspositionen. Lassen Sie uns nun alles, was wir gesagt haben, graphisch zusammenstellen und uns dann der Frage widmen, welcher Verhandlungsstil der erfolgreichste ist. 8 In Teil 1, 2.2, S. 46. 9 Mehr darüber unter 5.2.1, S. 120 ff.

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Teil 3

Entscheidung

3.7 Bewusstsein und Konfliktlösungsfähigkeit Bewusstsein und Konfliktlösungsfähigkeit winner – loser

loser – loser

loser – winner

winner – loser

Wahrnehmungspositionen

1 und beginnendes 3

1

Konfliktlösungsfähigkeit

Macht

Bewusstseinslevel

winner – winner

1 3

1 3 und beg. 2

1 2 3 und beg. 4

Recht

1 2 3 4

1 2 3 4

Interessenausgleich

1

2

3

4

5

6

7

8

beige

purpur

rot

blau

orange

grün

gelb

türkis

leistungsorientiert

soziozentrisch

integral

holistisch

Beruf

Aussteiger

Wiedereinsteiger

Erleuchtete

soziologisch

instinktiv

magisch

feudal

konformistisch

Kindheit

Jugend

Pubertät

Lehre Studium Militär

entwicklungspsychologisch

Konfliktlösungsform konfrontativ

kooperativ

Moral praekonventionell

110

prae. + konv.

konventionell

konv. + postkonv.

postkonventionell

Entscheidung

Teil 3

4. Welcher Verhandlungsstil ist der erfolgreichste? 4.1 Wie misst man den Erfolg? Voraussetzung für die Beurteilung von Methoden und Stilen der Verhandlung ist die Definition des Erfolgs bei Verhandlungen. Waren zum Beispiel die Versailler Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg ein Erfolg für die Alliierten? Bedenkt man, dass das Deutsche Kaiserreich maßgeblich Verantwortung für den Beginn des Krieges trug und unzweifelhaft den Krieg auch verloren hatte, so mag es durchaus gerechtfertigt erscheinen, dass es sich als Verlierer des Krieges unter das Joch zu beugen hatte. Aber war das ein Erfolg für die Sieger? Namhafte Historiker und Zeitgenossen sahen einen Grund für das Erstarken der Nationalsozialisten in der Tatsache, dass viele Deutsche die Last der Versailler Verträge abschütteln wollten.10 Wir wissen natürlich, dass das ein „heißes“ Thema ist, das auch politisch gerne missbraucht wurde. Uns geht es hier aber nicht um Recht oder Unrecht, sondern allein darum, zu zeigen, welche Gefahren von „Verträgen“ ausgehen, die auf dem Prinzip „Sieg/Verlust“ basieren. So bemerkte der britische Premierminister Lloyd George in seinem Memorandum vom 25.3.1919 zur Behandlung Deutschlands auf der Versailler Friedenskonferenz: „Unsere Bedingungen dürfen hart, sogar grausam und selbst erbarmungslos sein, um Genugtuung zu erlangen, aber gleichzeitig können sie so gerecht sein, dass das Land, dem sie auferlegt werden, in seinem Herzen fühlen wird, dass es kein Recht zur Klage hat. Aber Ungerechtigkeit und Anmaßung, ausgespielt in der Stunde des Triumphes, werden nie vergessen und vergeben werden.“

Der amerikanische Außenminister Robert Lansing sagte am 8.5.1919: 10 Dass die Siegermächte angesichts der untereinander bestehenden Widersprüche Deutschland von den Verhandlungen ausschlossen und ihm nur am Schluss schriftliche Eingaben gestatteten, diskreditierte den Vertrag vor allem in der deutschen Öffentlichkeit als „Diktat von Versailles“. Da im Falle einer Ablehnung ein Einmarsch der alliierten Truppen drohte, votierte die Nationalversammlung am 22. 6. 1919 mit 257 gegen 138 Stimmen für die Annahme des Vertrags. Es war später erklärtes Ziel der deutschen Außenpolitik, diese „Fesseln von Versailles abzuschütteln“. Ministerpräsident Philipp Scheidemann trat in dieser Situation zurück: Am 12. 5. 1919 begründete er seinen Schritt in der Weimarer Nationalversammlung mit der zum geflügelten Wort gewordenen Frage: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“. Neben der Art seines Zustandekommens beschädigte der Inhalt des Vertrages nachhaltig sowohl das Ansehen der Westmächte als auch das Vertrauen in die Staatsform der Demokratie. Manche Historiker sehen in dem Vertrag eine wichtige Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Inwieweit der Vertrag von Versailles tatsächlich zur „Machtergreifung“ Hitlers beigetragen hat, ist wohl kaum definitiv zu klären.

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„Hass und Erbitterung, wenn nicht Verzweiflung, müssen die Folgen derartiger Bestimmungen sein. Es mag Jahre dauern, bis diese unterdrückten Völker im Stande sind, ihr Joch abzuschütteln, aber so gewiss wie die Nacht auf den Tag folgt, wird die Zeit kommen, da sie den Versuch wagen …“

Der französische Historiker Jacques Bainville schrieb im Jahre 1939/1940: „Man kann sagen, dass der Friedensvertrag von Versailles den ewigen Krieg organisiert.“

Der spätere 1. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, schrieb 1932: „Die Geburtsstätte der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles.“

Offensichtlich hatten die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg daraus gelernt. Obwohl es sich bei dem Verursacher des Zweiten Weltkrieges wiederum um den deutschen Staat, repräsentiert durch das Naziregime, handelte und durch dieses Regime grauenvollste Verbrechen begangen worden waren, wurde Deutschland nicht auf Dauer zum Verlierer gestempelt, sondern man ermöglichte es ihm, sich zu einem gleichwertigen Partner zu entwickeln. Die Ergebnisse dieser Politik der Sieger sind bekannt. Wenn wir den Erfolg einer Verhandlung beurteilen wollen, so ist die wichtigste Frage, welche Zeitspanne wir dafür zugrunde legen. Dazu ein Beispiel aus dem Wirtschaftsleben: Der Jahresabschluss eines Unternehmens lässt keine verbindliche Aussage darüber zu, ob es erfolgreich geführt wird oder nicht. Wir alle wissen, wie einfach es ist, kurzfristig gewünschte Bilanzergebnisse herbeizuführen, stille Reserven aufzulösen etc., kurzum: Bilanzen zu schönen. Ob ein Unternehmen wirtschaftlich arbeitet, zeigt sich nur über einen langen Zeitraum. Nur durch langfristige Betrachtung können kurzfristige „Erfolge“, die erhebliche Begleitschäden herbeiführen, als Misserfolge entlarvt werden: Wie würden Sie den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens beurteilen, das preisgünstig produziert, dabei aber in erheblichem Maße gegen Umweltvorschriften verstößt? Würde dieses Unternehmen ordnungsgemäß bilanzieren, so müsste es zu Lasten seines Gewinnes erhebliche Rückstellungen für zukünftige Entsorgungs- oder Entschädigungsmaßnahmen bilden, die auf kurz oder lang vermutlich die entstandenen Gewinne übersteigen würden. Manchmal entsteht Profit dadurch, dass die Produktionsmittel, die Produktionsumgebung oder die Mitarbeiter ausgebeutet werden. Die Folgen zeigen sich stets, aber nur eben nicht sofort.11

11 Auch die aufgrund der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 entbrannten Diskussionen um die Gewährung von Boni für Manager zeigen, dass sich die Öffentlichkeit immer mehr dem Gedanken ausschliesslicher Belohnung nachhaltiger Erfolge zuwendet, dass heißt, dass ein Bonus nur für solche Erfolge gewährt werden soll, die einem Unternehmen langfristig verbleiben.

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Zusammenfassend können wir sagen: Ob eine Verhandlungsmethode erfolgreich ist, zeigt sich also, wenn ich ihre Ergebnisse systemisch und über einen längeren Zeitraum betrachte. Erfolgreich bedeutet, dass sie nachhaltige Ergebnisse erzielt, also von allen, die durch die Lösung betroffen sind, als wahrhaftig, gerecht, wahr und funktionell passend erkannt werden.12 Um das herauszufinden, müssen wir die nachfolgenden Fragen beantworten: 1. Fühlt sich diese Lösung für mich gut an? (Wahrhaftigkeit, 1st position) 2. Fühlt die andere Partei sich mit dieser Lösung auch gut? (Gerechtigkeit, 2nd position) 3. Woran wird ein Außenstehender erkennen können, dass diese Lösung das zu lösende Problem gelöst haben wird? (Wahrheit, 3rd position) 4. Erfüllt das System die ihm zugedachte Funktion mit dieser Lösung auch weiterhin? (funktionelles Passen, 4th position) Wie wir an den nachfolgenden Beispielen sehen werden, ist Nachhaltigkeit für alle Beteiligten nur in kooperativen Verhandlungen zu erzielen. Aber leider besteht das Leben nicht nur aus kooperativen Verhandlungen, auch „Du oder Ich-Situationen“ und ähnliche Fälle gehören zur Realität unseres Lebens. Auch auf dem Basar in Quingdao werden Sie mit dem HarvardKonzept nicht weit kommen. Bitte vergessen Sie in diesen Fällen alles, was wir über kooperatives Verhandeln erzählt haben und ziehen Sie das kompetitive Schwert aus der Scheide, Ihr Partner schärft schon eifrig die Klinge. 4.2 Fünf Konfliktsituationen – wie verhandle ich am erfolgreichsten? Lassen Sie uns mit dieser Erkenntnis, dass ein Verhandlungsergebnis bei kooperativen Verhandlungen nur dann ein wirklicher Erfolg ist, wenn es langfristig und nachhaltig wirkt, zu den Ausgangsbeispielen zurückkehren: 1. Fall: Sekretärin Dr. Attila von Streidt würde den Fall wohl wie folgt beurteilen: „Einen Anspruch auf Gehaltserhöhung hat sie sicher nicht. Außerdem habe ich gegenwärtig kein Geld. Zudem war die gute Frau in letzter Zeit ziemlich unkonzentriert. Alles was ich ihr anbieten kann – dann bin ich aber sehr, sehr großzügig – ist eine Gehaltserhöhung in einem halben Jahr. Besser wäre es wohl, sie zu entlassen und eine jüngere Ersatzkraft einzustellen!“ 12 Vgl. oben Einleitung, 4., S. 15; zum Begriff der Nachhaltigkeit vertiefend unten Teil 6, 11., S. 261 ff.

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Soweit die Sicht des kompetitiven Verhandlers Dr. von Streidt. Er löst den Konflikt mit Macht und Recht. Er geht dazu in 1st and 3rd position: Er sieht seine Position und die rechtliche Außensicht. Wie mag sich die Verhandlung aber entwickeln, wenn man sie aus der Sicht des kooperativen Verhandlers betrachtet? Wie würde Dr. Austin Cooper den Fall angehen? Er würde wohl zunächst einmal fragen: Warum möchte die Sekretärin mehr Geld haben? Geht es wirklich nur um Geld, oder steht dahinter ein konkretes Bedürfnis für einen bestimmten Zweck? Er geht damit in 2nd position und öffnet sich damit für den Interessenausgleich. Nehmen wir einmal an, Sie würden hier wie Dr. Cooper vorgehen und bei dieser Gelegenheit erfahren, dass Ihre Sekretärin ihr fünfjähriges Kind (das sie allein erzieht) in einem Privatkindergarten unterbringen will, der erheblich teurer ist als der öffentliche Kindergarten, aber auch die Möglichkeit zu flexibleren Abholzeiten bietet. Wenn dem so wäre, dann müssten Sie feststellen, dass Ihre Sekretärin ein vitales Interesse daran hat, mehr Geld zu bekommen. Aber es geht eben primär nicht ums Geld, sondern um die Unterbringung des Kindes. Dies ist nun der Punkt, wo die Kreativität des kooperativen Verhandlers gefragt ist. Sie könnten etwa als kooperativer Verhandler mit Ihrer Sekretärin übereinkommen, dass die Gehaltserhöhung erst in einem halben Jahr wirksam wird, sie bis dahin aber die Möglichkeit hat, in einem Maß Überstunden zu machen, dass sie das notwendige Geld bekommt. Die flexiblere Handhabung der Abholzeiten in dem Privatkindergarten würde Ihrer Sekretärin nämlich die Möglichkeit verschaffen, diese Überstunden zu leisten. Überstunden, die Sie sich eigentlich immer schon von ihr gewünscht hatten. Oder: Gäbe es z.B. die Möglichkeit, dass Ihre Frau das Kind der Sekretärin zusammen mit Ihrer eigenen Tochter aus dem Kindergarten abholt und es dann in die Kanzlei bringt, jedenfalls so lange, bis die Gehaltserhöhung wirksam wird? Oder: Können Sie Ihrer Sekretärin ein Darlehen gewähren, das später mit einem Teil des Weihnachts- und Urlaubsgeldes verrechnet wird? Oder, oder, oder … Alle diese Lösungen gewähren den Parteien eine nachhaltige Zufriedenheit, weil sie sich für beide Seiten gut anfühlen. Gut anfühlen, weil die Interessen beider Seiten (bessere Verfügbarkeit der Sekretärin und die gute Unterbringung des Kindes) verwirklicht werden und damit auch das Problem gelöst ist. Das würde auch ein Außenstehender erkennen. Die Lösung stützt das System (Anwaltskanzlei), weil die Sekretärin nunmehr ohne Stress den für den Fortbestand der Kanzlei wichtigen Wunsch nach Überstunden erfüllen kann. Die Lösung ist somit nachhaltig. Wie Sie sehen, ist bei diesem Fall sicherlich der kooperative Ansatz der erfolgversprechendste, da es hier um die Wahrung von langfristigen Interes114

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sen auf beiden Seiten geht. Mit der Sekretärin leben Sie wahrhaft im gleichen Riff. Mit der Methode des Dr. von Streidt dagegen werden Sie häufig Stellensuchanzeigen schalten müssen. 2. Fall: Serum Wie aber sieht es aus, wenn Sie mit diesem merkwürdigen weißen Mann in Palistena über den Verkauf des Serums verhandeln mit dem Sie das Leben Ihres Sohnes retten können? Hier handelt es sich um eine „Gewinnen wollen um jeden Preis“-Situation: Ich brauche das Serum, um das Leben meines Sohnes zu retten. Einen rechtlichen Anspruch habe ich nicht darauf, ihm die Pistole vor den Kopf halten kann ich auch nicht, also muss ich mich so attraktiv wie möglich machen und dies bedeutet: so viel Geld bezahlen, wie er eben verlangt. Also: Geben Sie ihm, was er will, und retten Sie das Leben Ihres Kindes! 3. Fall: Basar Nun zu der Situation auf dem marokkanischen Basar: Hier überlege ich zuerst, wie viel ich als Höchstgrenze bezahlen will. Dann überlege ich mir weiter, wie viel Spaß ich an der Verhandlung haben werde. Da ich ohnehin nicht an einer langfristigen Beziehung zu dem Händler interessiert bin und ihn vermutlich nach Abschluss des Geschäftes nie mehr sehen werde, gehe ich davon aus, dass es sich hier um ein Gewinner-/Verlierer-Spiel handelt. Also versuche ich möglichst viel zu gewinnen. Dann lege ich los. Ich lasse mir Tee einschenken, rede über Belanglosigkeiten und höre mir dann den ersten illusorischen Preisvorschlag des Marokkaners an. Auf seine „Mondzahl“ antworte ich mit einer anderen „Mondzahl“ und wir lachen beide. Es gibt mehr Tee und wir verhandeln weiter. Zwischendurch erklärt er mir, dass meine Preisvorstellungen seine Familie ins Unglück stürzen würden, worauf ich ihm erkläre, dass er doch unter diesen Bedingungen das Stück dann besser nicht verkaufe. Irgendwann treffen wir uns dann irgendwo zwischen unseren ersten Angeboten. Da dieser Treffpunkt näher an meiner erstgenannten Zahl liegt, bin ich ganz stolz auf mich und glaube als Sieger vom Platz zu gehen. Wie damals in Achmedabad (Indien): Ich war ganz happy, eine kleine Gebetsglocke zu 20 % des ursprünglichen Preises gekauft zu haben, bis ich dann erlebte, wie ein einheimischer Freund eine identische Glocke beim selben Händler zu 10 % meines Preises gekauft hatte. Oder: Auf Bali kaufte ich ein Paar Turnschuhe zum Fünffachen des Preises, den der Kellner bezahlt hatte! Oder: Eine Bekannte erzählte mir von einem wunderbaren Teppich, den sie in einem Basar in Jodhpur gekauft hatte und dann in ihrem Hotelzimmer verwahrte. Am nächsten Tag ging sie wieder einkaufen; währenddessen drang der Händler mit Hilfe des Hoteliers in ihr Zimmer ein und tauschte den Teppich gegen ein weniger kostbares Exemplar aus. Nur mit 115

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Hilfe der Polizei und des Umstands, dass sie den Teppich fotografiert hatte, kam sie wieder zu ihrem Original. Oder: Ein letztes Beispiel: Ein Freund kaufte einige kostbare Möbel in Varanasi und ließ sie sich nach Hause schicken. Selbstverständlich kamen billige Imitate bei ihm in Hamburg an. Er hat mittlerweile schon den dritten Anwalt mit der Sache betraut. Was lernen wir daraus? Wer gerne Sieger/Verlierer spielt, muss sich nicht wundern, wenn die Gegenpartei mit ihm das gleiche Spiel spielt und er am Schluss als Verlierer vom Platz geht! 4. Fall: Entführung Dieser Fall ist extrem schwierig zu lösen, insbesondere, wenn wir davon ausgehen, dass der Entführer Ihr Mandant ist und es möglicherweise auch wieder sein will, wenn die Kindesentführung gerichtlich „verhandelt“ wird. Sollen Sie nun bereit sein, Ihren Mandanten dazu zu veranlassen, unter Ausnutzung des Ihnen entgegengebrachten Vertrauens die Tür einen Spalt weit zu öffnen, um mit ihm besser sprechen zu können (wohl wissend, dass die hinter Ihnen verdeckt stehenden Polizisten diese Chance sofort wahrnehmen werden, um die Wohnung zu stürmen und Ihren Mandanten zu verhaften oder gar durch einen gezielten Schuss unschädlich zu machen). Aber ist dieser Vertrauensbruch nicht weniger wichtig, als der Gefahr zu begegnen, die dem Leben des Mädchens droht? Wie Sie sich letztlich entscheiden, ist und bleibt Ihre persönliche Sache – und wir beneiden Sie um diese Entscheidung nicht. Vielleicht helfen aber folgende Überlegungen: Ihr Mandant spielt vermutlich ein Verlierer-/Verlierer-Spiel. Er sieht keinen Weg mehr, ohne Tochter weiterzuleben. Also will er sie in den Tod mitnehmen. Er entspricht so der Struktur der in die Falle gelockten Entführer. Sie haben oft innerlich aufgegeben und sehen keine Möglichkeit mehr für sich, als Sieger aus dem Spiel zu kommen. Sie wollen deshalb oft nur noch eines: Dass auch Sie das Spiel als Verlierer verlassen! Solche Menschen brauchen Skatpartner im Jenseits. Wenn Sie das Mädchen wirklich retten wollen, könnte Ihr richtiger Verhandlungsstil wohl nur sein: Gewinnen um jeden Preis, das heißt, es darf Sie nicht stören, wenn am Schluss Ihr Mandant unschädlich gemacht wird – möglicherweise, nachdem er aufgrund Ihrer Finte die Tür geöffnet hat. Also Konfliktlösung durch Macht. Der Mandant wird diese Lösung sicher nicht als gerecht empfinden, dass er als Dank dafür, dass er Ihnen vertraut hat, verhaftet oder unschädlich gemacht wird. Für ihn ist es also keine nachhaltige Lösung. Wie ist es aber mit dem Kind? Dadurch, dass der Vater durch den Polizeieingriff auf jeden Fall langfristig „aus dem Verkehr“ gezogen wird, braucht das Kind weitere Eingriffe seines Vaters nicht mehr zu befürchten. Andererseits verliert es 116

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seinen Vater für immer oder zumindest für lange Zeit. Eine sehr kompetitive Situation. Nachhaltigkeit ist hier nicht erzielbar. 5. Fall: Unfall Diesen Fall kann man mit einfachem oder trivialem Denken wie folgt betrachten: „Hier geht es nur ums Geld, und davon will ich als Anwalt gegenüber der Versicherung so viel wie möglich herausschlagen. Dass hier längerfristige Interessen im Spiel sind, scheint unwahrscheinlich. Kompetitives Verhandeln (Macht/Recht) scheint hier die richtige Methode zu sein. Sieg-/ Verlust-Verhandeln ist angesagt.“ Wirklich? Wie wäre es aber nun, wenn wir den Fall systemisch betrachten würden und ihm mit komplexem Denken begegnen würden anstatt mit trivialem? Wie wäre es, wenn Sie davon ausgehen, dass Sie als Rechtsanwalt nicht nur einmal im Leben mit Versicherungsgesellschaften zu tun haben, sondern häufig in Schadensregulierungen tätig werden könnten und darauf angewiesen sind, dass der Versicherungsregulierer mit Ihnen auch in Zukunft und auch in anderen Fällen vernünftige Vereinbarungen schließt? Denn zukünftig müssen ja die Dinge nicht immer so eindeutig zugunsten der von Ihnen vertretenen Mandanten liegen wie hier. Sollten Sie möglicherweise hier gezwungen sein, auf das Riffleben mit dem Versicherungsregulierer Rücksicht zu nehmen? Könnte es also sein, dass Sie auch hier um Nachhaltigkeit bedacht sein sollten, wenn Sie langfristig gesehen Erfolg haben wollen? Was auf den ersten Blick als einfache Sieger-/ Verlierer-Situation ausschaut, entpuppt sich beim zweiten Hinsehen möglicherweise als Gewinner-/Gewinner-Spiel: Interessenausgleich anstatt Powergame! Wenn es Ihnen gelingt, mit der Versicherung auf einer rationalen Basis durch das Hinzuziehen objektiver Kriterien (Verkehrswerttabellen, Rechtsprechung etc.) zu verhandeln, werden Sie ein faires Ergebnis erzielen können, das einen gerechten Ausgleich für den entstandenen Schaden darstellt und vor allem die Interessen Ihres Mandanten wahrt. Dadurch werden Sie das Problem, eine angemessene Wiedergutmachung zu erhalten, lösen und auch zukünftig auf dieser Basis mit der Versicherung gut verhandeln können. In diesem Fall läge also eine nachhaltige Lösung vor. Gehen Sie dagegen kompetitiv vor, dann wird es, wie wir im Fall 3 schon geschrieben haben, wohl kaum zu einem nachhaltigen Ergebnis kommen.

5. Kooperatives versus kompetitives Verhandeln 5.1 Alles oder nichts oder Alles für alle? In diesem Buch gehen wir davon aus, dass es sinnvoll ist, komplexe Konflikte mit komplexem Denken anzugehen anstatt mit trivialem oder kompliziertem. Wir schlagen deshalb vor, dass eine kooperative Konfliktlösung durch Interessenausgleich einer konfrontativen durch Macht oder Recht 117

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vorzuziehen ist. Doch diese Form ist, wie wir schon dargelegt haben, nicht immer und unter allen Umständen der einzig richtige Weg, vor allem dann nicht, wenn unser Verhandlungspartner beharrlich eine andere Art des Verhandelns wählt, etwa weil er in seinem Bewusstsein noch nicht in der Lage ist, komplex zu denken, also noch nicht fähig ist, den Sachverhalt aus allen vier Wahrnehmungspositionen und über alle logischen Level zu prüfen. Oder: Weil der Mandant es schlicht nicht will. Hier muss nun auch der kooperative Verhandler die Zähne zeigen oder wie wir sagen: die Pistole auf den Tisch legen und Recht mit Recht und Macht mit Macht begegnen. In unserem Weltbild ist der kooperative Verhandler kein Gutmensch, der, wenn er links geohrfeigt wird, auch noch die andere Wange hinhält. Er ist vielmehr ein Artist, der seine Waffen flexibel denen des Gegners anpasst. Dazu mehr im nächsten Kapitel. Nun noch etwas zum Weltbild des kompetitiven Verhandlers: Das kompetitive Verhandeln bewegt sich auf den Bewusstseinsleveln 1–5. Der kompetitive Verhandler ist noch nicht in der Lage, nach innen zu schauen und festzustellen, worum es ihm und den anderen wirklich geht. Die berühmte Liedstrophe von Mick Jagger „You can’t always get what you want but if you try, sometimes well, you might find you get what you need!“ scheint er noch nicht verinnerlicht zu haben. Er meint noch, dass die Erfüllung seiner Wünsche genau in der Verwirklichung der Positionen besteht, die er einfordert, und dass das, was er haben will, ein anderer geben muss. Er geht, wie wir schon erläutert haben, immer von einer Mangelsituation aus. Dieser Verhandlungsstil basiert auf dem Nullsummenspiel: Was ich gewinne, musst Du verlieren. Wer jedoch in der Lage ist, komplex zu denken, wer gelernt hat, seine Ziele zu definieren, zwischen Interessen und Positionen zu unterscheiden, und auch in der Lage ist, eine Herausforderung systemisch und multiperspektivisch zu betrachten, der wird eines Tages erkennen, dass es mehr Riffsituationen gibt, als wir glauben. Der geübte kooperative Verhandler wird deshalb sein Augenmerk darauf richten, herauszufinden, was hinter den Positionen des kompetitiven Verhandlers steckt, und auf diese Weise ermitteln, was die eigentlichen Ziele der anderen Seite sind. Vielleicht gelingt es ihm auf diese Art und Weise, seinen Verhandlungspartner auf den Weg der Kooperation zu bringen. Menschen vom Schlage des Dr. von Streidt scheinen dieser Denkweise allerdings noch nicht zugänglich zu sein: Für sie gibt es im Regelfall nur eine Lösung und diese Lösung heißt: Ich gewinne, Du verlierst. In die juristische Denkweise übersetzt heißt das: Ich habe einen Anspruch und Du hast keinen. Diese „Lösung“ sieht, wie wir alle wissen, so aus, dass der spätere Sieger seinen Anspruch erfolgreich begründet und die gesamte Kriegsbeute nach Hause trägt, während der Verlierer, also derjenige, der seinen Anspruch 118

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nicht begründen konnte, alles verliert. Notwendigerweise sind für die Herren von Streidt alle Konflikte Nullsummenspiele. 13 Das „Problem“ der „Dres. von Streidt“ liegt in Ihren Glaubenssystemen: Sie glauben, das Leben sei vor allem ein Macht- oder ein juristisches Problem. Sie glauben, dass sie aus Konflikten immer als Sieger und die Gegenseite als Verlierer hervorgehen müssten. Wenn Graves recht hat, dann denken bis zu 90 % der Bevölkerung genauso. Und es ist extrem schwierig, einem harten Verhandler klarzumachen, dass er mit uns in einem Riff lebt. Denn kompetitives Verhalten hat die Eigenart, dass es sich im Regelfall selbst verstärkt. Aus seiner Sicht ist der kompetitive Verhandler im Regelfall erfolgreich, da er es versteht, mangelnde Erfolge seines Verhandelns einfach auszublenden oder gar nicht erst wahrzunehmen. Diese „Selbstverstärkung durch Ausblendung“ funktioniert so, wie es der englische Philosoph Francis Bacon (1561–1626) sehr anschaulich dargestellt hat: „Der menschliche Verstand zwingt sich, sobald ein beliebiger Satz einmal feststeht, alles andere, neue Gründe und Bestärkungen zu diesem Satz zu liefern. Selbst wenn ausreichende und zwingende Gegengründe bestehen, übersieht oder missachtet er sie oder entledigt sich ihrer lieber durch irgendeine Einschränkung mit Hilfe gewaltsamer und verletzender Voreingenommenheit, als dass er die Geltung seiner ersten Schlüsse opfern würde. Der Mann, dem in einem Tempel die aufgehängten Votivtafeln von Leuten gezeigt wurden, die den Gefahren des Schiffbruchs entgangen waren, und auf den man eindrang, ob er nun bereit sei, die Macht der Götter anzuerkennen, antwortete richtig: „Aber wo sind die Tafeln derer, die trotz ihrer Gelübde umgekommen sind?“ 14

Übrigens: Auch Francis Bacon hat sich seine Sporen als Rechtsanwalt verdient! Trifft der kooperative Verhandler auf einen kompetitiven Verhandler, so wird er sich gegen das kompetitive Verhalten zur Wehr setzen müssen, wenn er nicht selbst untergehen will. Der kompetitive Verhandler, der nun auf diesen kooperativen Verhandler stößt und merkt, dass dieser sich erst einmal mit kompetitiven Mitteln zur Wehr setzt, wird sich nun seinerseits bestätigt fühlen, dass eben alles in der Welt Kampf sei und man nur im Kampf gewinnen könne. Erst recht verstärkt sich im kompetitiven Verhandler dieser Eindruck, wenn er seinerseits auf einen „Kollegen“, nämlich einen kompetitiven Verhandler, stößt. Etwas anderes könnte allerdings dann passieren, wenn es ein kooperativer Verhandler versteht, dem kompetitiven Verhandler klarzumachen, wohin es führt, wenn man um den großen Büffel kämpft, während hinter dem 13 Nullsummenspiele beschreiben in der Spieltheorie Situationen, bei denen die Summe der Gewinne und Verluste aller Spieler zusammengenommen gleich null ist. Ein Nullsummenspiel im ökonomischen Sinne ist eine Konkurrenzsituation, bei der der wirtschaftliche Erfolg oder Gewinn eines Beteiligten einem Misserfolg oder Verlust eines anderen in gleicher Höhe gegenübersteht. 14 Bacon, Novum Organum, 1620.

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Rücken der beiden Streithähne eine ganze Büffelherde vorbeizieht. In solchen Glücksstunden mag es gelingen, den harten Verhandler vom Kampf um den einzelnen Büffel abzubringen und sich mit ihm gemeinsam auf die Beute zu stürzen, die alle nährt: Die Büffelherde! 5.2 Die Abwehr kompetitiven Verhaltens 5.2.1 Legen Sie die Pistole auf den Tisch! Da die Welt voller kompetitiver Verhandler scheint, ist es sehr unwahrscheinlich, dass auf ein kooperatives Angebot gleich kooperativ geantwortet wird. Was ist dann zu tun? Vielleicht hilft uns da die Geschichte weiter, die eine unserer Studentinnen erzählt hat: „Ich wohne mit meinem Mann in einem Einfamilienhaus mit Garten. Der Garten grenzt offen an ein Nachbargrundstück. Als eine Art Grenzzaun hat mein Mann, ein großer Rosenfreund, Rosenstöcke gepflanzt. Eines Tages sprach mich der Nachbar an, ob er nicht mal mit meinem Mann sprechen könne, um mit ihm eine beide Seiten befriedigende Lösung für die Zweige zu finden, die auf sein Grundstück rüberwachsen würden: Seine Kinder hätten sich schon mehrfach daran verletzt. Ich informierte meinen Mann über die Bitte unseres Nachbarn, aber dieser machte eine Geste mit der rechten Hand, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Nach etwa einem Monat erhielten wir einen Telefonanruf unseres Vermieters, der meinem Mann mitteilte, der Nachbar habe sich an ihn gewandt mit dem Ansinnen, uns mitzuteilen, dass wir bitte eine Lösung für die Rosenstöcke finden sollten. Mein Mann schüttelte den Kopf, machte das Vogelzeichen und ließ die Sache auf sich beruhen. Drei Wochen später wurden wir an einem Samstagmorgen durch das Kreischen einer Kettensäge geweckt. Mein Mann sprang auf, rannte in den Garten und war augenblicklich gesprächsbereit!“ Was ist hier geschehen? Ganz einfach: Der Nachbar hat mit dem Vorschlag nach Interessenausgleich begonnen. Wie diesem nicht entsprochen wurde, hat er auf Recht gewechselt und als diesem Vorschlag ebenfalls nicht entsprochen wurde, hat er Macht angewendet. Dies scheint uns ein sinnvoller Weg zu sein. Erfahrene kooperative Verhandler tun deshalb gut daran, kompetitiven Verhandlern zu zeigen, dass sie keinesfalls bereit sind, ein Verlierer-/SiegerSpiel zu spielen. Sie haben die Fähigkeit, „die Pistole auf den Tisch zu legen“, sich also, wie wir es nennen, bedingt kooperativ zu verhalten und so dem anderen zu verstehen zu geben, dass Sie auch „anders“ können. Was bedeutet es nun, wenn wir von bedingter Kooperation sprechen? Soziobiologen15, Sozialwissenschaftler, und Spieltheoretiker16 haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, welches Maß an Kooperation für ein Individuum und auch die Gruppe am nützlichsten ist. Sie haben dabei festgestellt, 15 So z.B. Junker, Geschichte der Biologie, S. 77 ff. 16 Vgl. Basieux, Die Welt als Spiel, S. 92 ff., 100 ff.

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dass bedingungslos altruistisches Verhalten schädlich ist, das auch dann kooperativ bleibt, wenn die andere Seite sich kompetitiv verhält. Schädlich ist diese Handlungsweise für das Individuum, aber auch für die jeweilige Gruppe, da sie kooperatives Verhalten belohnt und zu seiner Verbreitung beiträgt. Dagegen hat sich die Strategie des „tit for tat“ (Wie Du mir, so ich Dir) in Computersimulationen und auch nachfolgenden Versuchen wohl als das erfolgreichste Verhalten herausgestellt. 17 Sie fragen sicher: „Wie geht denn das?“ Nun, ganz einfach: Genau so, wie es der Nachbar mit dem Mann unserer Studentin gemacht hat: Kooperation wird mit Kooperation beantwortet, unkooperatives Verhalten wird mit gleicher Münze heimgezahlt. Aber, und das ist das Wichtigste nach unserer Erfahrung: Der „tit for tatter“, wie wir ihn nennen wollen, beginnt immer positiv, also kooperativ, er ist kompetitiv nur in Reaktion auf ein kompetitives Verhalten der anderen Seite. Das ist bedingte Kooperation oder Reziprozität – oder, wie wir eben sagen: Die Pistole auf den Tisch legen. Woher kommt diese Metapher? Stellen Sie sich vor, es sitzt Ihnen jemand gegenüber, der mit Ihnen über etwas verhandeln will und Ihnen dabei ständig mit der Pistole vor der Nase herumfuchtelt. Unter diesen Bedingungen hat es keinen Sinn, mit dem anderen zu verhandeln. Das Beste ist es, bei dieser Gelegenheit ruhig in den eigenen Halfter zu greifen, die eigene Pistole herauszuholen und sie demonstrativ auf den Tisch zu legen, um dem anderen zu zeigen, dass man auch schießen kann, wenn es notwendig ist. Meist führt das dazu, dass sich die andere Partei besinnt und ihrerseits beginnt, kooperativ zu verhandeln. Dieses Verhalten beruht auf der Beobachtung, dass wir meistens nur Menschen ernst nehmen, vor denen wir Respekt haben. Respekt haben wir wiederum nur vor Menschen, die wir als gleichwertig, gleichrangig oder höhergestellt anerkennen: Da es in unserer Welt aber leider noch zu viele kompetitive Aktionisten gibt, die nur die Sprache der Waffe verstehen, ist es wichtig, dass Sie diese notfalls unmissverständlich auf den Tisch legen, um zu zeigen: „Ich kann auch anders!“ oder: „Ich kann auch so wie Du!“ oder „Ich bin Dir ebenbürtig“. In einer Auseinandersetzung, in der ein von mir vertretener ehemaliger leitender Angestellter eines großen Unternehmens verklagt wurde, bat ich den Personalleiter des Unternehmens darum, in die Personalakten des ehemaligen Angestellten Einblick nehmen zu dürfen, da sich hieraus möglicherweise wichtige Anhaltspunkte für die Rechtfertigung seines Verhaltens ergeben könnten. 17 Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Axelrod, der als einer der bedeutendsten Vertreter der Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice theory) gilt, hat in seinem Buch „Die Evolution der Kooperation“ das Wesen der bedingten Kooperation und die zu seiner Erforschung durchgeführten Computerspiele ausführlich beschrieben. Siehe dazu auch http://de.wikipedia.org/Tit-fortat; Basieux, Die Welt als Spiel, S. 96 ff.

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Der Personalleiter lehnte diese Bitte schroff ab und sagte, man sei in keiner Weise bereit, meinem Mandanten wie auch immer entgegenzukommen. Daraufhin beantragte ich unverzüglich den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Erfreulicherweise erließ das Gericht die beantragte Verfügung, obwohl der Antrag aus rechtlichen Gründen auch hätte abgewiesen werden können. Ich ließ daraufhin, nicht ohne Sinn für Dramatik, per Fax den Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens wissen, dass ihm am nächsten Tag um 8:30 Uhr eine einstweilige Verfügung zugestellt würde, die mir Einsicht in die Personalakten gestatten würde. Punkt 8.30 Uhr betrat dann der Gerichtsvollzieher das Gebäude des Unternehmens und überreichte dem Vorstand die angekündigte Verfügung. Offensichtlich war dies seit langem der erste Gerichtsvollzieher, der sich dem Vorstand des Unternehmens präsentiert hatte. Dieser Auftritt blieb nicht ohne Wirkung. Es bereitete kein Problem, im Rahmen der folgenden Gerichtsverhandlung dann eine einvernehmliche Regelung über die Akteneinsicht zu treffen. Daraufhin zog ich meinerseits meinen Antrag zurück. Die Einsicht erfolgte dann aufgrund einer einvernehmlichen Regelung. Nichts anderes hatte ich gewollt. Vielleicht wird es Sie noch interessieren, wie das Hauptsacheverfahren ausgegangen ist: Wir handelten sehr schnell einen fairen Vergleich zwischen beiden Seiten aus, von Anwalt zu Anwalt und ohne Mitwirkung des Gerichtes. Das Gericht hatte nur noch die Aufgabe, den Vergleich zu protokollieren. Ich habe große Zweifel, ob es dazu gekommen wäre, wenn ich am Anfang dem barschen Verhalten der Gegenseite nachgegeben hätte. Also auch als kooperativer Verhandler darf man keinesfalls Druck nachgeben oder auf kompetitives Verhalten weich reagieren. Wir wissen: Haie, die gefüttert werden, werden nur noch gefräßiger! 5.2.2 Bringen Sie die andere Seite mit konsequenter Rationalität zum Umdenken Oft kommt es auch vor, dass Verhandler mit Machtspielchen beginnen und für einen Interessenausgleich nicht zugänglich sind. Was machen Sie dann? Bringen Sie ihn mit unbedingter Rationalität zur Strecke. Wie das geht? Fragen Sie etwa den Versicherungsmann einfach, warum er für Ihr Auto 5000 Euro geben will und nicht 8000 Euro, wie es in der Schwacke-Tabelle steht. Fragen Sie ihn, warum er einen Preis anbietet, der sich rational nicht nachvollziehen lässt. Zunächst wird er sich nicht von seinem Weg abbringen lassen und argumentieren, dass dies einfach der „richtige“ Preis sei oder man dies immer schon so gemacht habe. Wenn Sie sich aber nicht beirren lassen und ihn immer mehr unter Begründungszwang setzen, werden Sie vielleicht ebenso viel Erfolg haben wie der Motorradfahrer in dem nachfolgenden Beispiel: 122

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Motorradfan Knut hatte eine BMW GS 1200. Die hatte er vor seinem Haus geparkt. Genau dort, wo ein Baugerüst hinfiel. Das Motorrad wurde zerquetscht. Die Haftpflichtversicherung der Baufirma kommt dafür auf. Folgendes Gespräch führte Knut mit dem Sachbearbeiter der Versicherung: Sachbearbeiter: Guten Tag, Herr Kowalski, wir haben den Fall schon großzügig für Sie gelöst. Sie müssen nur noch hier unterschreiben! Knut: Das freut mich. Was kommt denn dabei heraus? Sachbearbeiter: Sie bekommen genau 3 000 Euro. Knut: Sie belieben zu scherzen! Sachbearbeiter: Wollen Sie die 3 000 Euro nicht haben? Knut: Doch! Können wir sie als Anzahlung nehmen? Sachbearbeiter: Nein, als Endsumme natürlich. Knut: Können Sie mir dann eine gleichwertige GS 1200 zeigen, die ich für den Preis bekomme? Sachbearbeiter: Herr Kowalski, 3 000 Euro und nicht mehr. Bei unserer Firma gibt’s nicht mehr. Knut: Ich glaube, Sie verstehen mich nicht richtig: Ich will keine 3 000 Euro, sondern so viel Geld, dass ich mir ein gleichwertiges Motorrad kaufen kann, und das kostet mindestens 5 000 Euro, ich habe bereits eine Maschine bei meinem Händler gesehen. Die würde mich 5 250 Euro kosten. Sachbearbeiter: Da haben wir ein Problem! Knut: Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Sachbearbeiter: Gerne. Knut: Können wir mal ins Internet gehen, etwa zu www.motoscout24.de, und gucken, was es da gibt? Sachbearbeiter: Okay. Kommen Sie rüber, ich gebe mal „BMW GS“ ein. Sehen Sie, hier haben wir eine, die kostet genau 3 000 Euro. Knut: Richtig, das ist aber eine GS 1100. Ich hatte eine GS 1200. Sachbearbeiter: Okay, dann suchen wir nach einer GS 1200. Knut: Sehen Sie, hier beginnen die bei 3 900 Euro. Sachbearbeiter: Gut, Sie haben mich überzeugt, dann kriegen Sie 3 900 Euro. Aber nur, weil Sie so hartnäckig sind. Knut: Das hat nichts mit Hartnäckigkeit zu tun. Ich will nur ein gleichwertiges Modell. Das steht mir zu. Meine hatte übrigens nicht 60 000 km drauf, sondern nur 25 000 km. Sie haben doch sicher Tabellen, die den Wert der 35 000 Minderkilometer angeben, oder? 123

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Sachbearbeiter: Ja, dafür muss ich nur ein anderes Fenster öffnen. Warten Sie mal. Gibt 700 Euro mehr, also 4 600 Euro. Mensch, das ist ein Haufen Geld für so ein gebrauchtes Bike. Knut: Wenn Sie meinen. Die hier angebotene Version ist aber eine Standardausführung. Ich hatte eine nachgerüstete „Adventure“-Version. Schauen wir mal, was die „Adventure“ mehr bringt. Sachbearbeiter: Oha, das gäbe nochmals 1 200 Euro mehr. Das sind 5 600 Euro. Das ist zu viel! Knut: Nein, mein Bike war ja auch eine ausgesprochene Seltenheit. Fast ein Einzelstück. Entspricht aber Ihren Richtlinien, oder? Sachbearbeiter: Scheinbar. Knut: Dann würde mich interessieren, was ein wüstentaugliches GPS, eine Sonderlackierung und ein Wunderlin-Sattel bringen? (…) Nach einer weiteren halben Stunde verließ Knut die Versicherung mit einem Scheck über 6 350 Euro und kaufte sich eine gebrauchte KTM „Superduke“ für 7 000 Euro. So kann man mit konsequenter Rationalität und Beharrlichkeit die Irrationalität kompetitiven Verhandelns aufdecken. Denn für den Satz: „Ich will, dass Du verlierst und ich gewinne“ gibt es im Regelfall aus der Lage der Dinge heraus keine logisch zwingende Begründung. 5.3 Streit oder Kooperation – was will der Mandant? Gefahren für die „richtige“ Vorgehensweise können auch aus unterschiedlicher Weltsicht von Anwalt und Mandant erwachsen, denn nicht gerade selten kommt es vor, dass sich der Mandant ein anderes Vorgehen wünscht als der Anwalt. Gelingt es dem Anwalt nicht rechtzeitig, diesen Konflikt zu entdecken und klarzulegen, so kann es während oder nach der Verhandlung zu unliebsamen Auseinandersetzungen zwischen Anwalt und Mandant kommen. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Fall, der mich selbst dazu brachte, intensiv über das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant nachzudenken und die Frage für mich zu klären, wann der Punkt denn gekommen sei, ein Mandat abzulehnen oder niederzulegen, weil ein Mandant partout anders will als ich. Eine Mandantin hatte ein Unternehmen in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit einem anderen Gesellschafter gegründet, dessen Aktivitäten nicht sonderlich gut verlaufen waren. Eine Analyse der wirtschaftlichen Chancen und der Charaktere der Beteiligten ergab, dass die einzig vernünftige Lösung die Trennung dieser beiden Gesellschafter war. Insoweit stimmte ich mit meiner Mandantin überein. Das Prekäre war, dass die Geschäfte der Gesellschaft im Wesentlichen von dem anderen Gesellschafter geführt 124

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worden waren, meine Mandantin aber für die Schulden der Gesellschaft bei der Bank eine Bürgschaft übernommen hatte. Im Rahmen der Abwicklung der Gesellschaft drohte eine Inanspruchnahme meiner Mandantin aus dieser Bankbürgschaft. Der andere Gesellschafter hatte durchblicken lassen, dass mit einer Realisierung von Regressforderungen aus der Inanspruchnahme meiner Mandantin bei ihm praktisch kaum zu rechnen sei. In langen Verhandlungen mit der Bank erreichte ich das hervorragende Ergebnis, dass meine Mandantin aus dem gesamten Engagement gegen Zahlung einer geringfügigen Summe an die Bank freikommen sollte. Stolz verkündete ich meiner Mandantin dieses Ergebnis und fiel aus allen Wolken, als sie daraufhin außerordentlich zornig reagierte. Diese Reaktion war für mich völlig unverständlich: Ich hatte erreicht, dass sie aus der Gesellschaft mit dem ungeliebten Partner ausscheiden konnte und ihr wirtschaftliches Risiko auf ein Minimum reduziert wurde! Ich hatte natürlich erwartet, dass sie mich zu diesem Ergebnis beglückwünscht. Und nun sah ich, dass sie sich außerordentlich gereizt verhielt. Ich habe lange an diesem Vorfall gekaut, bis mir eines klar wurde: Die Mandantin wollte gar keine „günstige“ Regelung, sie wollte Krieg mit dem Mitgesellschafter. Das finanzielle Ergebnis war zweitrangig. Sie wollte, dass ich ihren ungeliebten Partner „fertigmache“, um sich für die erlittene Schmach während der vorangegangenen Gesellschafterzeiten zu rächen. Ich aber hatte das Ziel verfolgt, ein besonders günstiges materielles Ergebnis zu erzielen. Hier zeigt sich ein klassisches Verhandlungsdilemma des Anwalts, nämlich, dass Anwalt und Mandant unterschiedliche Ziele verfolgen: Der Anwalt will eine Lösung erreichen, die das Leben auf dem Riff weiter ermöglicht, während der Mandant am liebsten alle Putzerfische auf dem Riff ausrotten würde. Bei manchen anwaltlichen Haudegen kann das natürlich auch umgekehrt passieren. Um dieses Dilemma zu vermeiden, ist die wichtigste Frage, die sich ein Anwalt vor der Verhandlung stellen muss: Was will der Mandant wirklich? Wie wir bereits dargestellt haben, werden Anwälte von Mandanten oft als Söldner gesehen, die man für sich in die Schlacht schicken kann. In dieser Schlacht sollen sie dann – stellvertretend für den Mandanten – Kriege führen und möglichst siegreich heimkehren. Was hält aber der Mandant wohl von seinem Legionär, wenn dieser ohne Rückfrage mit der anderen Seite in Friedensverhandlungen eintritt? Die wichtigste Frage ist deshalb die Frage nach dem Ziel des Mandanten und den Mitteln, die er einsetzen möchte, um dieses Ziel zu erreichen? Will er, dass er gewinnt und der Beklagte nur verliert oder ist er bereit, auch etwas preiszugeben und sich friedlich in der Mitte zu treffen? Soll ich also als Anwalt die Rolle des Legionärs oder des Unterhändlers spielen? Diese Frage muss zwischen Anwalt und Mandant vor der Verhandlung mit der 125

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anderen Partei geklärt werden, keinesfalls während oder – besonders uneffektiv – nach der Verhandlung. Will der Anwalt erfolgreich verhandeln, so sollte er zunächst einmal die Verhandlungssituation analysieren und sich dann folgende Fragen stellen: 1. Ist es mir möglich, die Situation als Riffsituation zu verstehen und zu versuchen, eine nachhaltige Lösung zu verhandeln? 2. Ist es auch das, was mein Mandant will? 3. Wenn er noch nicht in der Lage ist, zielorientiert, multiperspektivisch und auf verschiedenen Ebenen zu denken, macht es Sinn, ihn dahin zu führen? 4. Will oder kann der Mandant keine Riffsituation erkennen und verlangt von mir die Vernichtung des Gegners? Die Entscheidung ist leicht: 1. Wenn es für Sie möglich ist, das Riff zu erkennen, gut. Wenn es für Sie nicht möglich ist, auch gut. Im ersten Falle werden Sie den kooperativen Weg wählen, im zweiten den konfrontativen! 2. Wenn Ihre Mandantschaft an einer interessengerechten, nachhaltigen Lösung interessiert ist, dann verhandeln Sie kooperativ! Wenn sie dies nicht will, dann schlagen sie eine konfrontative Vorgehensweise vor. 3. Wenn Sie glauben, dass Sie Ihrer Mandantschaft eine nachhaltige, kooperative Vorgehensweise näherbringen können, dann tun Sie es. Wenn Sie nicht daran glauben, dann lassen Sie es. 4. Wenn Ihre Mandantschaft das Riff weder erkennen kann noch will, graben Sie unverzüglich das Kriegsbeil aus. Was aber, wenn Sie ihm kein Legionär sein wollen oder der Mandant von Ihnen verlangt, dass Sie der anderen Seite mal so richtig eins „überbraten“ sollen? Dann bleibt eigentlich nur eins: Sprechen Sie diesen Dissens offen an und verweisen Sie den Mandanten entweder an den „Spezialisten“ in Ihrer Kanzlei oder an die „Kanzlei gegenüber“. Dort schleift Dr. Caesar de Bataille, der Anwalt mit dem Zucken im linken Auge, bereits seine Machete. So, nun reicht es mit Theorie und Ratschlägen! Lassen Sie uns nun nach Bad Friedlingen zurückkehren und erleben, wie Dr. Austin Cooper den Fall Mehltau vs. Sacksberger löst. Ein Fall, wo Sacksberger Mehltau vor allem „einsacken“ will!

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Teil 4 Die Vorbereitungsphase: Die Verhandlung mit dem Mandanten 1. Verhandeln Sie die Vorgehensweise: Sagen Sie, wie Sie zum Ziel kommen wollen! Es ist warm in Bad Friedlingen an diesem Sonntagnachmittag im Mai. August Sacksberger sitzt im Besprechungszimmer von Dr. Austin Cooper und schwitzt. Sacksberger ist ein rundlicher Mann von etwa 45 Jahren. Er ist sicherlich 110 kg schwer, hat sich dabei aber die Behendigkeit eines Eishockeyspielers bewahrt. Er wirkt sehr zupackend, erdverbunden und bäuerlich, obwohl er Ingenieur-Agronom ETH ist. Auf die akademische Herkunft deutet einzig die MIT-Mütze hin, die er seit seinen postgraduate studies am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge gerne trägt. Sacksberger beschäftigt sich seit Jahren mit dem Züchten neuer Pflanzensorten und hat damit unterschiedlichen Erfolg. „Dr. Cooper, ich brauche Ihre Hilfe. Dieser Mehltau, das geht einfach nicht mehr. Da muss etwas geschehen!“ Dr. Cooper nickt und schreibt „Sacksberger vs. Mehltau“ auf ein neues, noch unbeschriebenes Blatt. Schwungvoll unterstreicht er den Titel und schaut dann von seinem Schreibtisch auf. „Herr Sacksberger, ich weiß noch nicht, ob ich ihnen helfen kann. Ich weiß nicht, ob wir ein Mandatsverhältnis eingehen werden. Bevor wir das entscheiden, sollten wir vorab einige Fragen klären.“ „Gerne, Herr Dr. Cooper. Welche Fragen sollten wir klären?“ „Zuerst interessiert mich natürlich der Sachverhalt. Wer ist Mehltau? In welcher Geschäftsverbindung stehen Sie zu ihm? Was ist bis jetzt geschehen? Was werfen Sie ihm vor? Was wirft er Ihnen vor? Fragen eben, die ein Jurist genau beantwortet haben möchte, bevor er loslegen kann. Darüber hinaus möchte ich aber mehr wissen. Insbesondere interessieren mich Ihre wirklichen Ziele und Möglichkeiten, wie wir sie erreichen können. Ich werde ihnen, um das herauszufinden, einige eigenartige Fragen stellen. Sie sollten auch wissen, dass ich ein Freund der Methode des kooperativen Verhandelns bin, dass ich die juristische Auseinandersetzung vor Gericht als Ultima Ratio ansehe, Konflikte zu lösen. Viel lieber erspare ich mir Macht- und Rechtskämpfe, bei denen am Schluss eh beide Parteien als Verlierer dastehen. Ich suche primär Lösungen mit Interessenausgleich, d.h. Lösungen, bei denen beide Parteien durch eine durchaus kompetitive, aber nicht konfrontative Auseinandersetzung mehr gewinnen als durch das Streiten. Ist das auch in Ihrem Sinne?“ 127

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„Durchaus, durchaus, Herr Doktor. Aber dem Mehltau sollten wir’s heimzahlen!“ „Sicher, Herr Sacksberger. Wenn es durchaus sein muss und es Ihren langfristigen Zielen dient, bin ich sehr wohl bereit, mit Mehltau respektive dessen Anwalt die Klingen zu kreuzen. Vorher möchte ich aber alle Mittel einer interessengerechten Konfliktregelung ausschöpfen. Ich bin einfach der Meinung, dass kooperatives Verhandeln erfolgreicher ist als Streiten. Wie stehen Sie dazu, Herr Sacksberger?“ „Ja, wenn Sie es so formulieren, bin ich durchaus mit ihnen einverstanden.“ „Okay. Sie werden mich also in den Sachverhalt einführen, ich werde nachfragen, Sie werden ergänzen, und dabei stellen wir dann fest, ob die Chemie zwischen uns stimmt. Wenn wir glauben, dass wir zusammenpassen und wir uns über die Vorgehensweise einig sind, bin ich gerne bereit, diese Sache als Anwalt zu übernehmen. Ich werde Sie dann bitten, meine Vollmacht zu unterschreiben. Meine Dienste kosten natürlich Geld. Ich berechne mein Honorar nach Stunden. Alle Details finden Sie in meinem Mandatsvertrag, den ich mit Ihnen abschließen werde. Kommen wir nicht überein oder können wir uns aneinander nicht erwärmen, dann habe ich sicherlich zwei interessante und lehrreiche Stunden mit ihnen verbracht, Sie werden dann mehr Klarheit über Ihren Fall haben und vielleicht kann ich Ihnen dann auch noch einen Kollegen empfehlen, der Ihnen weiterhelfen kann. Meine Dienste würden dann außer einem Bier nichts kosten. Sind Sie mit dieser Vorgehensweise einverstanden?“ „Aber sicher, Herr Doktor. Natürlich zahle ich Ihnen noch lieber ein Bier, wenn Sie mein Anwalt sind.“ „Schön, darauf kommen wir noch zurück. Aber erzählen Sie mir doch nun bitte, was genau der Mehltau ausgefressen hat!“ Stopp. Unterbrechen wir hier zum ersten Mal. Was genau hat Cooper hier gemacht? Ganz einfach: Er hat Sacksberger die Spielregeln der ersten Runde erklärt. Er hat ihm gesagt, dass er, bevor er sich entscheidet, ob er den Fall annehmen kann, wissen muss, was er genau will. Dazu sollte er den Sachverhalt kennen. Das ist normal. Ungewöhnlich ist nun aber, dass er seinem zukünftigen Mandanten von Anfang an erklärt, dass er nicht ohne weiteres streiten möchte, sondern eine kooperative Lösung sucht. Wir halten diese Deklaration der eigenen Absichten für sehr wichtig, denn sie erspart uns Ärger und dem Klienten Frust aus unerfüllten Hoffnungen. Außerdem möchte Cooper seinen potentiellen Mandanten gerne erst kennenlernen, bevor er für ihn tätig wird. Er entzieht sich gerne vermeidbarem Ärger. Aber natürlich ist mancher Klient enttäuscht, wenn ihm sein potentieller Anwalt erklärt, dass er es vor allem mit friedlichen Mitteln versuchen möchte. Schließlich ist er doch zum Anwalt gekommen, damit er es dem bösen Gegner einmal richtig zeigt. Aber Sacksberger zeigt 128

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sich zunächst einverstanden mit dem Vorgehen Coopers. Also sehen wir, wie es weitergeht. Soviel als Einleitung. Und nun zur Sache selbst.

2. Bauen Sie Vertrauen auf: Schaffen Sie eine gute Beziehung zum Mandanten! 2.1 Zuhören und zusammenfassen „Vor einigen Jahren,“ beginnt August Sacksberger seine Schilderung, „habe ich mich mit Johann-Jakob Mehltau zusammengetan und die Firma ‚Pflanzenzucht SackMehl GmbH, Bad Friedlingen‘ gegründet. Mehltau ist Lebensmitteltechnologe und Müller. Er führte die ‚Bad Friedlinger-Mühlen AG‘ in der vierten Generation. Wir hatten uns vor Jahren bei der Besichtigung eines Bergwerkes in Thetford Mines, Quebec, Kanada, näher kennengelernt und uns darüber gewundert, dass zwei Friedlinger bis ins ferne Kanada reisen mussten, um sich mehr als ‚Guten Tag!‘ zu sagen.“ Dr. Cooper hört aufmerksam zu und macht sich Notizen. „Mehltau fand Interesse an meinen Zuchtversuchen und schlug mir vor, eine gemeinsame Gesellschaft zu gründen, mit deren Hilfe ich meine Experimente finanzieren und dann auch vermarkten konnte. Ich steckte damals in argen Geldnöten und nahm das Angebot gerne an. Die ‚SackMehl GmbH‘, an der wir beide zu 50 % beteiligt sind, wurde gegründet und beschäftigte sich intensiv mit dem Züchten neuer Pflanzensorten. Mehltau finanzierte das junge Unternehmen. Bald schon hatte die Firma Erfolg: Der SacStar-Weizen wurde vor allem in Argentinien zum Renner, ließ die Kassen der Firma klingeln und erlaubte es, dass großzügig Dividenden ausgeschüttet werden konnten. Kurz: Das Schiff lief auf Erfolgskurs. Das ist aber schon einige Jahre her, und in der Zwischenzeit stagniert das Geschäft.“ „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Sacksberger, haben Sie vor Jahren in Thetford Mines, Quebec, Kanada, Herrn Johann-Jakob Mehltau näher kennengelernt und mit ihm die Firma SackMehl gegründet, an der Sie beide zu 50 %1 beteiligt sind. Die Firma beschäftigt sich mit dem Züchten neuer Pflanzensorten und konnte vor einigen Jahren mit dem Produkt SacStar-Weizen einen Renner produzieren, der Ihr Schiff auf Erfolgskurs brachte. Seit einiger Zeit stagniert das Geschäft. Stimmt das?“ „Jawohl, Herr Dr. Cooper, genau so ist es. Daran ist aber nur dieser Mehltau, dieser Rappenspalter, schuld!“ „Sie sind also der Meinung, dass die momentane Stagnation vor allem durch Mehltau verursacht wurde, stimmt das?“ 1 Jeder erfahrene Anwalt weiß, dass die Gründung einer GmbH mit einer Beteiligung von je 50 % in den Bereich der juristischen Todsünde gehört. Andererseits gewährt sie im Konfliktfall Anwälten ersprießliche Honorareinkünfte. Aber, wie wir gehört haben, möchte Dr. Cooper offensichtlich einen anderen Weg gehen.

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Die Kunst des genauen Zuhörens

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© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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„Aber sicher!“ „Könnten Sie mir vielleicht erklären, wie es dazu gekommen ist?“ „Das ist eine längere Geschichte, aber ich kann es auch kurz machen!“ „Nein, nein, Herr Sacksberger, erzählen Sie nur in voller Länge. Vielleicht ist es aber besser, wenn Sie mir die Geschichte nicht hier im Büro erzählen, sondern während eines kleinen Spaziergangs im Stadtpark?“ „Das ist eine gute Idee. Ich bin eh lieber draußen und kann Ihnen dann auch im Park einige Pflanzensorten zeigen, die wir dort mit Unterstützung des Herrn Bürgermeisters dem Publikum präsentieren!“ „Toll, dann warten wir nicht mehr länger, sondern gehen gleich in medias res. Vergessen Sie bitte ihre Mütze nicht. Ich glaube, ich nehme meine Harvard-Kappe auch mit; es ist ja schon recht heiß draußen. Wie hat es Ihnen übrigens in Cambridge gefallen?“ Lassen Sie uns hier das Gespräch für einen Moment unterbrechen und schauen wir einmal, wie Dr. Cooper nun weiter vorgegangen ist. Wie hat er das Gespräch geführt? All die uns wichtig erscheinenden Stellen haben wir, wie Sie sicherlich gemerkt haben, fett gedruckt: Zuerst einmal hat der Anwalt seinen Klienten reden lassen und hat nichts anderes getan als zugehört. Dann, als dieser die Vorgeschichte beendet hat, hat der Anwalt kurz zusammengefasst, was der Klient bis jetzt gesagt hat: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, …“ An wichtigen Stellen hat er nicht mit eigenen Worten zusammengefasst, sondern hat die Worte gebraucht, die auch Sacksberger verwendet hat: „Thetford Mines, Quebec, Kanada, Züchtung von Pflanzensorten, Renner produzieren, Schiff auf Erfolgskurs, etc.“ Sacksberger stellt Mehltau als den Schuldigen dar, und Cooper trägt das zurück: „Sie sind also der Meinung, dass . . .“ Diese Art der Kommunikation auf Seiten Coopers nennen wir aktives Zuhören. Der amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers hat das aktive Zuhören erstmals als Werkzeug für die Klientenzentrierte Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie) beschrieben. Es besteht vor allem darin, dass der Berater zu verstehen versucht, was der Gesprächspartner empfindet, es in eigenen Worten formuliert und das, was er zu verstehen glaubt, dem Gesprächspartner zurückmeldet. Er sendet dabei keine eigenen Botschaften, insbesondere keine Urteile, Ratschläge oder Ermahnungen. Er signalisiert: Ich möchte Dich gerne verstehen. Diese Bestätigung und Anerkennung verschafft dem Gesprächspartner das Gefühl, dass es hier ausschließlich um ihn, seine Wahrnehmung und seine Gefühle geht. Viel verbreiteter ist bei Anwälten das „Zuhören“ in der Art, dass man den Mandanten immer wieder mit Worten unterbricht wie: „Das ist jetzt nicht wichtig, das bringt uns rechtlich nichts“. So wird aus der Leidensgeschichte 131

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des Klienten mit der Zeit ein juristischer Bericht, der nur noch das wiedergibt, was den Anspruch des Mandanten begründet und Einwendungen der anderen Seite widerlegt. Sacksberger möchte aber wie die meisten Klienten gerne die ganze Geschichte erzählen, und Cooper fordert ihn – welch Unterschied! – auf, dies zu tun: „Nein, nein. Erzählen Sie nur in voller Länge.“ Cooper schlägt vor, im Stadtpark spazieren zu gehen, weil er ahnt, dass Sacksberger als studierter Bauer gerne draußen ist. Zudem ist er dort in seinem Revier und kann ihm einige Züchtungen zeigen. Schließich nimmt er die eigene Harvard-Kappe aus dem Schrank, setzt sie auf und fragt, wie es in Cambridge gewesen ist. Cooper weiß, dass sowohl das MIT als auch Harvard in dieser Stadt westlich von Boston angesiedelt sind. Warum tut er dies alles? Warum wiederholt er, was eh schon klar ist? Warum benutzt er zudem die gleichen Worte wie Sacksberger? Warum fordert er Sacksberger ausdrücklich auf, alles in voller Länge zu erzählen, obwohl er doch gelernt haben sollte, sich auf die juristisch relevanten Sachverhalte zu beschränken? Warum schlägt er vor, mit ihm in den Stadtpark spazieren zu gehen, und warum setzt er sich die gleiche dämliche Kappe auf und verwickelt ihn in ein Gespräch über einen Ort, wo sie beide studiert haben? Wäre es nicht viel sinnvoller, wenn er gleich auf den Punkt käme und ihn nach seinen Ansprüchen fragte und wie er diese zu begründen gedenke? Verschwendet er mit dieser scheinbar albernen Gesprächsführung nicht Unmengen seiner kostbaren Zeit, die er zudem nicht einmal verrechnen kann, wenn er sich entscheidet, das Mandat nicht anzunehmen? Mitnichten. Dr. Cooper weiß genau, was er tut. Mit diesen scheinbaren Nebensächlichkeiten baut er nämlich Vertrauen oder Rapport 2 auf. Lassen Sie uns darüber mehr erzählen: 2.2 Vertrauen durch Synchronisieren Vielleicht sind Sie auch schon einmal mit einer anderen Person über Land gegangen. Stundenlang. Vielleicht haben sie interessante Gespräche geführt, haben sich beraten lassen und sind sich dabei immer nähergekommen. Haben sich nach einer Stunde vielleicht Dinge erzählt, die Sie nach einer halben Stunde noch nicht erzählt hätten, und nach zwei Stunden haben Sie vielleicht von ihrem Gesprächspartner Geheimnisse erfahren, die er noch niemandem außer Ihnen erzählt hat. Zwischen Ihnen ist Ver2 Rapport ist der Zustand verbaler und nonverbaler Bezogenheit von Menschen aufeinander. Es handelt sich um eine starke Form von Empathie und ist ein Instrument des NLP (vgl. dazu etwa http://de.wikipedia.org/wiki/Rapport_(Psychologie); Dilts/DeLozier, Encyclopedia of Systemic Neuro-Linguistic Programming and NLP New Coding, S. 1051 ff.).

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trauen entstanden. Sie wissen nicht, wie es geschehen ist, aber plötzlich war es einfach da. Wie ist es nun entstanden, was Sie als „Vertrauen“ erlebt haben? Ein Beobachter, der den gleichen Weg wie Sie gegangen wäre, etwa 100 Meter hinter ihnen, hätte vielleicht Folgendes beobachtet: Am Anfang gingen sie noch beide sehr asynchron. Beide machten sie Schritte und Bewegungen, die nichts miteinander zu tun hatten. Mit der Zeit aber, vielleicht nach zehn Minuten, vielleicht nach 20 Minuten, fingen ihre Bewegungen und Schritte an, sich, wie von einer unbekannten Macht gesteuert, anzugleichen. Zuerst vielleicht nur die Schritte, dann auch die Armbewegungen und nach einiger Zeit hätte der Beobachter festgestellt, dass sie fast zu einer einzigen Bewegung geworden waren: Beide gingen sie zur selben Zeit und beide blieben sie zur selben Zeit stehen. Beide linken Beine gingen zur selben Zeit einen Schritt weiter nach vorne und beide rechten Beine zirkelten zur selben Zeit Kreise in den Boden. Ihre beiden Körper hatten sich synchronisiert. Als Resultat ist das beidseitige Gefühl von Vertrauen entstanden. Solche Synchronisationsprozesse sind seit langem aus der Natur bekannt. Zwei unterschiedliche Systeme, die Raum und Zeit teilen, haben die Tendenz, sich einander anzugleichen, wofür flüssige und gasförmige Stoffe Anschauungsbeispiele liefern: Nebel und Abgase vermischen sich zu Smog, und Inn, Donau und Ilz fließen ab Passau als ein Fluss dem Schwarzen Meer zu. Was aber wenige Menschen wissen, ist, dass das Phänomen auch für festere Konsistenzen, wie beispielsweise Menschen, die bekanntlich nur zu 90 % aus Wasser bestehen, gilt. Wie viele Männer sprechen nach dem Militärdienst die gleiche martialische Sprache und wie viele Ehepaare sehen sich nach 20, 30 Ehejahren ziemlich ähnlich? Obwohl das Phänomen der gegenseitigen Angleichung bekannt war, ist es erst durch Richard Bandler und John Grinder instrumentalisiert und auf den Bereich der Kommunikation angewandt worden 3. Die beiden Autoren haben Anfang der 70er Jahre die Arbeitsweise großer Kommunikatoren wie Gregory Bateson, Fritz Perls, Milton Erickson u.a. untersucht und herausgefunden, dass diese Großmeister der Gesprächsführung alle ihre Bewegungen von Anfang an mit dem Gegenüber synchronisierten. Sie saßen in gleicher Haltung wie ihr Gesprächspartner, schauten in die gleiche Richtung, übernahmen deren Bewegungen und sogar deren Atemfrequenz. Alle Klienten, die man daraufhin befragt hat, haben einstimmig bekundet, dass sie innerhalb kürzester Zeit ein großes Vertrauen zu ihrem Gegenüber empfunden hätten. 3 Vgl. dazu näher Bandler/Grinder, Metasprache und Psychotherapie – Struktur der Magie I, und Grinder/Bandler, Kommunikation und Veränderung – Struktur der Magie II.

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Bandler und Grinder haben sodann experimentell nachgewiesen, dass bewusste Synchronisation von Bewegung, Sprache, Kleidung usw. tatsächlich in ganz kurzer Zeit Vertrauen aufbauen kann. Diese Technik ist unter dem Begriff Rapport aufbauen oder Pacing4 zu einem festen Bestandteil jeder modernen Kommunikationsschulung geworden. Zum besseren Verständnis verwenden wir den vor allem im Französischen und Spanischen gebräuchlichen Ausdruck „Synchronisieren“. Was kann man nun synchronisieren? Schauen wir doch einmal, was Dr. Cooper alles synchronisiert hat: Den Inhalt des Gespräches dadurch, dass er zusammengefasst und wiederholt hat: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe …“ Den Wortgebrauch von Herrn Sacksberger dadurch, dass er die persönlich gefärbten Worte zurückgetragen hat: „Renner produzieren, Schiff auf Erfolgskurs, …“ Die Bedürfnisse von Herrn Sacksberger, indem er ihn ermuntert hat, die Geschichte in voller Länge zu erzählen. Die Kleidung, indem er sich ebenfalls eine Kopfbedeckung geholt hat. Die Zugehörigkeit, indem er sich für eine Universitätskappe entschieden hat, die von einer Universität aus dem gleichen Ort stammt wie die Kappe des Klienten. Die persönliche Geschichte, indem er nachgefragt hat, wie er Cambridge erlebt habe. Aber warum hat Dr. Cooper vorgeschlagen, dass ihm Sacksberger die ganze Geschichte beim Spazierengehen erzählt? Ganz einfach, weil er sich dabei noch besser hat vorstellen können, er wäre Sacksberger. Weil er damit in die „2. Position“ 5 gehen und damit erreichen konnte, dass sich sein System und das System seines Mandanten synchronisieren. Zudem schauen beim Gehen beide in die gleiche Richtung und gehen auf das gleiche Ziel zu. Dies fördert die Synchronisierung abermals. Doch das ist sekundär. Primär ist es, die 2. Wahrnehmungsposition einzunehmen. Der Rest folgt natürlich und von selbst. Davon später mehr. Erst einmal merken wir uns, dass Cooper am Anfang die Techniken des aktiven Zuhörens und der Synchronisation mit gutem Erfolg eingesetzt hat. Und dann hat er noch etwas getan: Cooper hat die Ausdrucksweise von Sacksberger neutralisiert! Während Sacksberger Mehltau als „Rappenspalter“ bezeichnet, gibt Cooper seine Worte wieder, indem er von der Verantwortung Mehltaus für die momentane Verzögerung des Geschäftes spricht. Wieso macht er das? Sie mögen dagegenhalten: Aber wir haben 4 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Rapport_(Psychologie); Dilts/DeLozier, Encyclopedia of Systemic Neuro-Linguistic Programming and NLP New Coding, S. 909 ff. 5 Siehe dazu oben Teil 2, 3.4, S. 83 ff. sowie unten 3.1.5, S. 146 ff. und Teil 6, 6., S. 238 ff.

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doch festgestellt, dass ein grosses Mass an Angleichung gerade durch Gebrauch gleicher Worte erzielt wird! Auch Cooper ist dieser Meinung, das gilt aber für ihn dann nicht, wenn der Klient Schimpfwörter, abwertende Bezeichnungen und ähnliche Begriffe benutzt. Denn, wenn der Anwalt eine einvernehmliche Regelung herbeiführen will, ist er gut beraten, eine emotionale Eskalation des Mandanten möglichst im Zaum zu halten. Daher ist Cooper zwar für Synchronisation, aber nicht zu Lasten einer kooperativen Einigung. Hören wir nun aber, wie das Gespräch weiterverläuft …

3. Trennen Sie Absicht von Verhalten oder: Stellen Sie Interessen vor Positionen! 3.1 Absichten und Interessen des Mandanten 3.1.1 Die Ziele des Mandanten herausfinden Dr. Cooper und Herr Sacksberger verlassen die Kanzlei. Im Vorbeigehen öffnet der Anwalt die Türe zum Kühlschrank und fragt: „Nehmen Sie ein Bud oder ein Budweiser, ein Erdinger Weißbier, ein Rootbeer, oder mögen Sie ein Eis, Herr Sacksberger?“6 „Kein Bud bitte, ich mag lieber echtes Bier. Wissen Sie, was ein Bud und ein Kanu gemeinsam haben?“ „Nein?“ „Beide sind sie verdammt nah am Wasser!“ Cooper lacht, fischt eine Flasche tschechisches Budweiser aus dem Getränkefach, greift sich selbst ein Häagen Dasz (man muss sich nicht in allen Belangen anpassen!) und begleitet Herrn Sacksberger in den nahen Stadtpark. Die wenigen hundert Meter, bis sie dort sind, knabbert er an seinem Eis und lässt sich vorschwärmen, wie toll es am MIT gewesen ist. Während August Sacksberger erzählt, hört Cooper sehr interessiert zu, nickt, pflichtet bei, fragt nach, erzählt hier und da eigene Erfahrungen aus Cambridge und macht vor allem eins: Er geht in die 2. Wahrnehmungsposition und damit gleichen sich Körperrhythmus und Schrittfolge wie von selbst an. Als sie im Park angekommen sind, hat Sacksberger seine Bierflasche halb leergetrunken und Cooper sein Eis ganz aufgegessen. „So, Herr Sacksberger, erzählen Sie mir nun, wie sich ihre Zusammenarbeit mit Herrn Johann-Jakob Mehltau entwickelt hat.“ 6 Auch gemeinsames Essen und Trinken ist ein gutes Instrument der Synchronisation. Spätestens, wenn Sie eine Fastenkur machen, wird ihnen das bewusst.

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„Also, nach dem großen Erfolg des SacStar-Weizens kamen mir Zweifel, ob die Zukunft unserer Branche tatsächlich in der Produktion weiterer Getreidesorten liegt. Stattdessen begann ich mich für Industriepflanzen zu interessieren. Sie wissen nicht, was Industriepflanzen sind? Lassen Sie mich hier etwas ausführlicher werden: Spätestens seit der Erdölkrise in den 70er Jahren wissen wir, wie abhängig wir vom Erdöl sind. Nicht nur Treibstoffe wie Benzin und Kerosin werden bekanntlich aus dem schwarzen Gold gewonnen, nein, aus Öl macht man auch Kunststoffe, Plastik, ja sogar Lippenstift. Diese Abhängigkeit hat natürlich viele erfinderische Geister auf den Plan gelockt. Eine Gruppe von Wissenschaftlern kam dabei auf die Idee, dass man das fossile Öl auch durch pflanzliche Öle ersetzen könne. Die Idee ist übrigens gar nicht so neu. Im Ersten Weltkrieg wurden viele Motoren mit Rizinusöl geschmiert. In den letzten Jahren ist die Erzeugung von nachwachsenden Rohstoffen, zusätzlich angeheizt durch die Umweltdiskussion, zu einem zunehmend auch finanziell interessanten Betätigungsfeld geworden. Es ist heute möglich, aus Mais, Kartoffeln, Zuckerrüben oder Zichorie Rohstoffe für Arzneimittel, Pflanzenschutzmittel, Waschmittel oder Kosmetika zu erzeugen. Als besonders interessant hat sich dabei der Raps erwiesen, aus dem man Biodiesel erzeugen kann. Die Pioniere auf diesem Gebiet sind natürlich die Amerikaner, und ich habe mich über meine MIT-Kontakte mit einer amerikanischen Forschergruppe in Verbindung gesetzt, habe sie besucht, mich mit ihnen angefreundet und viel von ihnen gelernt. Dann habe ich mit eigenen Zuchtversuchen begonnen.“ „Was hat Ihr Partner Mehltau dazu gesagt?“ „Ich erzählte ihm von Anfang an von den Möglichkeiten, die das Züchten von Non-Food-Pflanzen bietet, aber er war nicht zu begeistern. Als Müller interessiert er sich nur für Pflanzen, die sich mahlen lassen, und ölhaltige Pflanzen wie Raps lassen sich nun mal nicht mahlen.“ „Was der Müller nicht mahlt, das mag er nicht! – oder wie heißt dieses Sprichwort?“ Herr Sacksberger lacht und fährt dann fort: „In der Folge stemmte er sich gegen alle neuen Versuche mit dem Industrieraps. Ich ließ mich aber nicht kleinkriegen und machte meine Versuche privat weiter. Ich bezahlte die Forschungen und auch die Studienreisen aus meiner eigenen Tasche. Daneben betrieb ich natürlich all die Zuchtversuche mit Weizen und anderen Getreidesorten weiter. Nur wollte sich einfach kein neuer Erfolg wie der SacStar-Weizen mehr einstellen. Ganz anders ging es mir mit meinem Industrieraps: Ich arbeitete mit den von meinen amerikanischen Kollegen gezüchteten Sorten, kreuzte sie mit europäischen Sorten, machte ausgedehnte Reisen um die Welt, auf denen ich alte Kultursorten suchte und fand, kreuzte diese erneut, und schließlich hatte ich eine Pflanze gezüchtet, die 100 % mehr Öl enthielt als alle bisher 136

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auf dem Markt bekannten Sorten. Hinzu kommt, dass die Pflanze durch die Kreuzung mit einer alten, heute nicht mehr bekannten Kultursorte sehr widerstandsfähig ist. Ich nannte mein Produkt Yellow Gold und stellte es vor einem Jahr der Fachwelt vor. Yellow Gold wurde begeistert aufgenommen, und wie es ausschaut, wird meine Pflanze das Rennen bei der Auswahl der Sorte machen, mit der ein großer Erdölkonzern mit Sitz in London zukünftig seinen Biodiesel herstellen will. Zudem stehe ich in Verhandlungen mit der Regierung der Ukraine, die ebenfalls groß ins Geschäft mit Biodiesel einsteigen will. „Toll, Herr Sacksberger, aber wo ist denn da das Problem?“ „Der Mehltau ist das Problem!“ „Inwiefern?“ „Als ich ihm von meinen Erfolgen erzählte, antwortete er, dass ich ‚meine‘ durch ‚unsere‘ Erfolge ersetzen sollte! Als ich ihn fragte, wie er das genau meinte, antwortete er: ‚Es ist doch klar, dass der Yellow Gold-Raps ein Produkt unserer SackMehl GmbH ist!‘ Mir hat es fast die Sprache verschlagen. Der Kerl behauptet heute, nachdem er mir sämtliche Kredite für die Entwicklung meiner Industriepflanzen gestrichen hat und ich alles selbst finanzieren musste, dass der Yellow Gold-Raps zu 50 % ihm gehöre.“ „Und was haben Sie darauf geantwortet?“ „Das möchte ich an dieser Stelle nicht wiederholen, weil es mit Sicherheit nicht jugendfrei ist.“ „Sinngemäß?“ „Sinngemäß habe ich ihm gesagt, dass er mich mal kreuzweise könne und dass ich jetzt zum Anwalt ginge, der ihm dann schon zeigen werde, was von seiner idiotischen Meinung zu halten sei.“ „Was hat er darauf geantwortet?“ „Ich solle nur machen. Dr. von Streidt würde meinem Anwalt dann schon den Marsch blasen!“ „So, so, Attila von Streidt vertritt ihren Kompagnon. Das wird ja sehr interessant. Darf ich noch einmal zusammenfassen, was ich bis jetzt weiß?“ „Aber gerne, Dr. Cooper!“ „Nach Ihrem großen Erfolg mit der Zucht des SacStar-Weizens haben Sie sich der Produktion von Industriepflanzen zugewandt. Industriepflanzen werden heute immer wichtiger, weil sie eine Alternative zum begrenzten Vorrat an fossilen Brennstoffen darstellen. Ihr Partner Mehltau war gegen dieses neue Forschungsfeld und hat ihnen die Entwicklungskredite verweigert. Daraufhin haben Sie auf eigene Kosten geforscht, sind in Amerika gewesen, haben dort Wissen und Pflanzen erworben, diese mit anderen Sorten gekreuzt und schließlich die Sorte Yellow Gold gezüchtet, an der heute sowohl ein großer Erdölkonzern mit Sitz in London als auch die Regierung 137

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der Ukraine großes Interesse für die Produktion von Biodiesel zeigen. Mit Ihrem Partner Mehltau sind Sie über die Frage, wem die Rechte an der Pflanze gehören und wie die zu erwartenden großen Gewinne zu teilen sind, in Streit geraten. Stimmt das?“ „Haargenau, Herr Cooper, Sie sind ein guter Zuhörer!“ „Vielen Dank. Was ist Ihr Ziel, Herr Sacksberger, was möchten Sie erreichen?“ „Ich will nicht, dass der Mehltau sich am Gewinn des Yellow Gold-Raps, den ich alleine entwickelt habe, beteiligt und Geld für etwas kriegt, das er nicht nur nie wollte, sondern für das er mir sogar noch die Entwicklungskredite gestrichen hat.“ „Schön, jetzt haben Sie mir erzählt, was Sie nicht wollen. Sie wollen nicht, dass der Mehltau Geld aus der Vermarktung des Yellow Gold-Rapses erhält. Das ist okay. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was Sie wirklich wollen. Was wollen Sie stattdessen, dass Sie dem Mehltau kein Geld geben wollen?“ „Ich will die Kohle alleine haben!“ „Alle Kohle?“ „Nein, nur die aus dem Yellow Gold-Raps. Ganz einfach: Ich will, dass der Yellow Gold-Raps mir gehört, und ich will ihn alleine vermarkten. Punkt.“ „Jetzt gefällt mir die Formulierung schon besser. Sie wollen also alleiniger Eigentümer der Rechte am Yellow Gold-Raps sein, ihn alleine vermarkten und sämtlichen Gewinn alleine einstecken. Ist es das, was Sie wollen?“ „Ja und Nein. Der Mehltau kann schon was davon haben. Die Zusammenarbeit hat ja bis jetzt sehr gut geklappt, und natürlich habe ich bei der Entwicklung auch von den Einrichtungen unserer GmbH profitiert. Sein Anteil daran macht aber niemals 50 % aus. Das wäre höchst unfair. Sagen wir es einmal so: Ich will den Gewinn, den ich aus der Vermarktung meines Yellow Gold-Raps ziehe, in einem fairen Verhältnis mit Mehltau teilen. Ein faires Verhältnis ist ein Verhältnis, das einerseits in Rechnung stellt, dass Mehltau und ich jahrelang eine gute Partnerschaft geführt haben, aber andererseits auch berücksichtigt, dass ich es allein war, der gegen seinen Willen das Projekt gefördert und bezahlt hat. Sind Sie damit zufrieden?“ „Ja, sehr gut formuliert. Wenn ich zusammenfassen darf, ist Ihr Ziel also nicht, Mehltau loszuwerden, sondern mit ihm eine faire Verteilung des Gewinns aus dem Vertrieb der neuen Sorte auszuhandeln, die einerseits die gute Zusammenarbeit der letzten Jahre und andererseits Ihre pionierhafte Haltung bei der Entwicklung des Produktes berücksichtigt. Ist es das, was Sie wollen, Herr Sacksberger?“ „Genau, Herr Doktor, das will ich!“ „Das hört sich doch schon anders an als ‚Ich will Mehltau loswerden‘, oder?“ 138

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„Eins zu null für Sie, Herr Doktor.“ „Gut, lassen Sie uns hier nun einmal Pause machen. Da vorne sehe ich Ihr Demonstrationsglashaus. Wie wäre es mit einer kleinen Führung?“ „Sehr gerne, Dr. Cooper. Zuerst möchte ich Ihnen meinen Liebling, den Yellow Gold-Raps zeigen. Darf ich bitten?“ So weit, so gut. Lassen Sie uns an dieser Stelle ebenfalls eine Pause machen, und betrachten wir einmal, was Dr. Cooper gemacht hat: Zuerst hat er sich den Sachverhalt erklären lassen. Er hat erfahren, dass Sacksberger eine neue Pflanzensorte praktisch alleine und gegen den ausdrücklichen Wunsch und Willen seines Partners Mehltau entwickelt hat. Diese Sorte, der Yellow Gold-Raps, hat sich als großer Erfolg erwiesen, und es macht den Anschein, als sei damit viel Geld zu verdienen. Sacksberger möchte nun, was irgendwie verständlich ist, den Gewinn nicht zur Hälfte mit Mehltau teilen, da dieser gegen das Produkt war und es auch nicht gefördert hat. Cooper hat sich während der ganzen Erzählung vorgestellt, er wäre Sacksberger: Er hat gesehen, was er gesehen hat, er hat gehört, was er gehört hat, und er hat gefühlt, was er gefühlt hat. Zudem hat er alles, was er erfahren hat, wiederholt. Damit hat er sich weiter synchronisiert und das aufgebaute Vertrauen weiter vertieft. Was würde an dieser Stelle ein junger, kämpferischer, in der juristischen Methode gedrillter Anwalt tun? Richtig. Er würde prüfen, welche Ansprüche Mehltau und Sacksberger haben, wie diese zu begründen respektive zu entkräften sind und die Frage stellen: Wer kann was von wem aus welchem Rechtsgrund verlangen? Sacksbergers Anwalt würde wohl als Erstes die Eigentumsverhältnisse an der Pflanze überprüfen. Können neue Pflanzen wie Erfindungen patentiert werden? Wenn ja, auf wen ist der Yellow Gold-Raps einzutragen? Weiter würde er sich die Frage stellen, in welchem Anstellungsverhältnis Sacksberger für die GmbH gearbeitet hat, er würde wissen wollen, ob er die Sorte in seiner Freizeit oder während der Arbeitszeit entwickelt hat, ob er dazu die Räume, Zuchtflächen und Geräte der GmbH benutzt hat. Schließlich würde er auch den Gesellschaftsvertrag prüfen. Was aber tut nun Cooper? Er kümmert sich vorerst um nichts von alledem, sondern er will wissen, was die Ziele von Sacksberger sind. Er will nicht wissen, welche Rechte er hat, sondern er will wissen, wohin die Reise gehen soll, getreu seinem 2. Glaubenssatz: „Was mich interessiert, ist nicht, wo die Dinge herkommen, sondern wohin sie gehen.“ (Seneca)7 7 Teil 2, 2.2, S. 67 f.

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Damit hat er die vergangenheits-, fehler- und mikrokosmosorientierte Vorgehensweise der juristischen Methode verlassen und ist in den Bereich des kooperativen Verhandelns vorgedrungen. 3.1.2 Proaktive Ziele setzen Mit dem Fragen nach den Zielen ist es aber noch nicht getan. Wonach hat Cooper genau gefragt? Er hat gefragt, was Sacksberger will, und nicht, was er nicht will. Damit hat er nach dem proaktiven Ziel von Sacksberger gefragt. Was ist ein proaktives Ziel? Lassen Sie uns das genauer erklären: Man kann auf drei verschiedene Arten handeln: Man kann aktiv handeln, man kann reaktiv handeln, und man kann proaktiv handeln. Was meinen wir in diesem Zusammenhang mit aktiv? Aktiv ist Handeln, das kein Ziel kennt. Einfach etwas tun, damit etwas getan ist. Etwa so, wenn der Kapitän den 1. Offizier anschreit: „Volle Kraft voraus!“ „Wohin, mein Kapitän?“ „Egal wohin! Volle Kraft voraus!“ Aktives Handeln, auch Aktionismus genannt, macht im juristischen Umfeld nicht viel Sinn. Wer kann schon einem Klienten viel Freude abgewinnen, der sich vor drei Tagen scheiden lassen wollte, vorgestern sich in seine Frau neu verliebt hat und Sie gestern beauftragt hat, die Schenkung seines gesamten Vermögens in die Wege zu leiten. Nachdem er heute einen großen Krach gehabt hat, will er seine Frau nunmehr enterben. Was wird morgen sein? Vielleicht will er sich wieder von ihr scheiden lassen, nur um sie nun zu adoptieren? Wichtig: Bringen Sie Ihren Klienten dazu, dass er weiß, was er will!8 Was ist gemeint mit reaktiv? Reaktiv handelt man, wenn man von etwas weg will. Etwa so wie Sacksberger, der Mehltau loswerden wollte. Reaktiv ist nicht die Denkart, die Lösungen bringt. Sie fördert das Problembewusstsein und nicht das Lösungsbewusstsein. Wer so denkt, konzentriert sich auf das, was er nicht will, anstatt auf das, was er will! Um proaktive Ziele herauszufinden, müssen wir die richtigen Fragen stellen, etwa diese: 8 Die englische Popgruppe Spice Girls hat es in einem ihrer Songs auf den Punkt gebracht: „Tell me what you want, what you really, really want!“

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Ist es wirklich das Ziel endgültig verkrachter Ehepaare, sich vom Partner scheiden zu lassen? Ist es wirklich das Ziel verfeindeter Gesellschafter, sich zu trennen? Ist es wirklich das Ziel des geprellten Darlehensgebers, dem Darlehensnehmer eins auszuwischen? Die Art, zu denken und zu handeln, die dahin führt, wohin man wirklich will, ist die proaktive Vorgehensweise. Sie ist der Weg, der zum Ziel führt. Nicht weg von etwas, sondern hin zu etwas. Wenn wir genau nachfragen, werden wir wahrscheinlich feststellen, • dass sich die verkrachten Eheleute nur als ersten Schritt scheiden lassen wollen. Ihr wirkliches Ziel ist es dagegen, das Privatleben alleine oder mit einem anderen Partner neu zu gestalten; • dass es nicht das vorrangige Ziel der Gesellschafter ist, sich voneinander zu trennen. Was sie wirklich wollen, ist eine Neuorganisierung ihrer Firma in einer Art und Weise, die ihren Interessen besser entspricht als die momentane Regelung. Das kann mit den jetzigen Partnern sein oder mit anderen oder • dass der geprellte Darlehensgeber seinem Schuldner nicht in erster Linie eins auswischen will. Was er möchte, ist eine Absicherung seiner finanziellen Außenstände. Er möchte sicher sein, dass er sein Geld plus Zinsen irgendwie und irgendwann wieder sieht. Reaktives und proaktives Denken unterscheiden sich fundamental: • Reaktives Denken wirkt kurzzeitig, proaktives Denken langzeitig. • Reaktives Denken wirkt taktisch, proaktives Denken strategisch. • Reaktives Denken ist kleinlich und wirkt kleinräumig, proaktives Denken großzügig und breitflächig. • Reaktives Denken ist problemorientiert, proaktives Denken lösungsorientiert. Mit seinem proaktiven Ansatz hat Cooper Sacksberger helfen können herauszufinden, was er wirklich wollte: Es geht Sacksberger gar nicht darum, Mehltau loszuwerden (reaktiv, weg von), sondern darum, eine faire Gewinnverteilung zu erreichen (proaktiv, hin zu). Mancher Kollege von Austin Cooper wäre schon hier gescheitert. Ein wenig daneben ist eben auch daneben! 3.1.3 Die Landkarte des Mandanten erfragen Kehren wir zurück zu Dr. Cooper, der mit seinem Klienten im Stadtpark von Bad Friedlingen unterwegs ist. Während wir uns über den Unterschied von reaktiven und proaktiven Zielen unterhalten haben, hat Dipl.-Ing. agr. ETH 141

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August Sacksberger Herrn Dr. jur. Austin Cooper seine verschiedenen Pflanzenzüchtungen gezeigt. Dr. Cooper ist beeindruckt und hat nun eine größere Ahnung davon, was der berufliche Lebensinhalt von Herrn Sacksberger ist. „Okay, gehen wir zu unserem Fall zurück. Ihr Ziel ist es also, den voraussichtlichen Gewinn aus Ihrer Züchtung Yellow-Gold Raps auf eine faire Art und Weise mit Mehltau zu teilen, stimmt das?“ „Jawohl, das stimmt.“ „Was heißt für Sie fair?“ „Fair bedeutet für mich, dass ich mich gut fühle und meine pionierhaften Aufwendungen angemessen entlohnt werden.“ „Und wann fühlen Sie sich gut und glauben, dass Ihre pionierhaften Aufwendungen angemessen entlohnt sind?“ „Sagen wir mal, wenn ich 90 % des Gewinnes kriege und Mehltau 10 %.“ „Ihr Vorschlag ist also eine Gewinnverteilung von 9 : 1, stimmt das?“ „Das stimmt.“ Was hat Dr. Cooper hier genau gemacht? Einerseits hat er alles, was er gehört hat, wie immer wiederholt. Der Fachjargon nennt dies Backtracking oder auch Paraphrasieren. Damit hat er die Synchronisierung, die er bis dahin aufgebaut hat, weiter gefestigt. Andererseits hat er sehr präzise nachgefragt. Er wollte wissen, was für Herrn Sacksberger „fair“ oder „angemessen“ genau bedeuten. Er versucht damit, wie bei einem Puzzle, Teil um Teil Einsicht in die Landkarte seines Gegenübers zu gewinnen. Er will wissen, wie er denkt, wie er den Fall sieht, wie seine Welt ausschaut. Cooper hätte auch sagen können: „Okay, fair heißt etwa 60 : 40. Das sind gute Zahlen. Schlagen wir ihm das vor.“ Damit hätte er aber seinem Klienten seine Meinung, seine Landkarte, aufgezwungen und wäre, das kommt weiter hinzu, ziemlich weit von der Vorstellung von Sacksberger bezüglich einer „fairen Regelung“ entfernt gewesen. Zudem hätte dieser Vorschlag wohl das sorgfältig aufgebaute Vertrauensverhältnis ziemlich rasch wieder zerstört. Für das Hinterfragen der Landkarte benutzt er eine bestimmte Fragetechnik: Das von Bandler und Grinder entwickelte Metamodell9. Wer viel darüber wissen will, dem sei die ausgezeichnete Darstellung des Modells bei Cameron-Bandler empfohlen 10, wer das Wichtigste wissen will, kann das 9 Siehe unten Teil 6, 7.13, S. 244 ff. 10 Wieder zusammenfinden, NLP – neue Wege der Paartherapie, S. 153 ff.; siehe dazu auch Dörrenbächer, Erfolgreiche Kommunikation, in: Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, S. 363 ff.

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in Teil 6 dieses Buches nachlesen, wo wir auch noch andere Fragetechniken vorstellen. Nun aber zurück zu den beiden: 3.1.4 Die Dinge mit den Augen des anderen sehen „Okay, Herr Sacksberger. Fair heißt für Sie 9 zu 1, das ist richtig so?“ „Absolut!“ „Stellen Sie sich nun einmal vor, Sie wären Mehltau und bekämen dieses Angebot: die Aufteilung des Gewinnes aus dem Yellow Gold-Raps im Verhältnis 9 : 1. Neun für Sacksberger, 1 für mich. Was würden Sie als Mehltau darauf antworten?“ Sacksberger runzelt die Stirne, nimmt einen großen Schluck aus seiner Bierflasche und antwortet dann: „Ich würde den Sacksberger fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat!“ „Was meint Mehltau damit?“ „Der Mehltau wird das nie annehmen!“ „Was glauben Sie, warum er das nie annehmen wird?“ „Weil er es für völlig unfair hält!“ „Ist es das in ihren Augen, Herr Sacksberger?“ „Wenn ich es aus der Position von Mehltau sehe, sicher. Aus meiner eigenen Position gesehen, vielleicht. Aber der Kerl hat mich nur gebremst. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich den Yellow Gold nie entwickelt und ich hätte jetzt auch nicht diese phantastischen Gewinnaussichten. Und davon soll ich ihm mehr als 10 % abliefern? 10 % von etwas, das er mit allen Mitteln bekämpft hat. 10 % von etwas, an das er nie geglaubt hat. Ich glaube mittlerweile, schon 10 % sind zu viel!“ „Und wie wird Mehltau argumentieren?“ „Er wird sagen, dass er mir vor 15 Jahren das Geld gegeben hat, damit wir unser Unternehmen aufbauen konnten. Er wird sagen, dass ich ohne ihn nie mit dem SacStar Erfolg gehabt hätte und dass ich ohne ihn nie in der Welt herumgekommen wäre und dort draußen den neuen Raps gefunden hätte. Er wird sagen, dass ich ohne ihn ein verstaubter Professor an irgendeiner komischen Universität geworden wäre, der Pflanzen für Lehrbücher anstatt für den Weltmarkt produziert. Und er wird sagen, dass ich ohne den finanziellen Erfolg von SacStar nie das Geld gehabt hätte, um die Entwicklung von Yellow Star zu finanzieren.“ „Stimmt das?“ „Irgendwie hat er schon recht. Gut, er kriegt 20 %, aber mehr nicht.“ 143

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Sich in die Position des anderen einfühlen

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ICH VERLANGEEINE GEHAL1SERHÖHUNG!

VERSUCH MAL DICH IN MEINE LAGE ZU

VERSETZEN. DANN WIRST DU MERKEN, WAS ICH MEINE!

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Unterbrechen wir hier das Gespräch abermals. Was ist geschehen? Cooper hat wiederum, wie in der ganzen Gesprächsführung vorher, keine Ratschläge gegeben, sondern sich einen Punkt nach dem anderen erklären lassen. Dann hat er viele Präzisierungsfragen gestellt. Neu hinzugekommen ist, dass er Sacksberger aufgefordert hat, die Wahrnehmungspositionen zu tauschen: Was würde Ihr Kompagnon zu diesem Vorschlag sagen? Mit diesem Kunstgriff, dem so genannten Perspektivenwechsel, hat er den Horizont von Sacksberger enorm erweitert. Dieser hat gesehen, dass er mit seiner Vorstellung von Fairness bei Mehltau auf pures Unverständnis stoßen würde. 9 : 1? Niemals! Die Fähigkeit, etwas mit den Augen des anderen zu sehen, ist in Verhandlungen enorm wichtig. Ja, wir behaupten sogar, dass diese Fähigkeit eine der Kernfähigkeiten jedes guten Verhandlers ist: Die eigene begrenzte Landkarte verlassen und sich in die Position des anderen einfühlen. Die Welt mit seinen Augen sehen. Einige Schritte in seinen Mokassins gehen. Das ist es, was kooperative Verhandler können und was kompetitive Verhandler nicht können! Sicherlich erinnern Sie sich noch daran, dass es sich hierbei um den ersten Glaubenssatz von Dr. Cooper handelte: Die Landkarte ist nicht das Gebiet. Roger Fisher11 erzählte zu diesem Thema in seinen Vorlesungen über Verhandlungsführung in Harvard folgende wunderbare Geschichte: Im Jom Kippur Krieg war es den Israelis gelungen, die ägyptische SinaiHalbinsel zu erobern. Präsident Carter versuchte zwischen den verfeindeten Parteien Friedensverhandlungen einzuleiten, die aber von den Ägyptern anfangs kategorisch abgelehnt wurden. Fisher hat in einem Gespräch mit Anwar El Sadat die Hintergründe dieser ablehnenden Haltung herauszufinden versucht. Sadat verlangte von Israel, dass es, bevor Ägypten sich auch nur einen Meter auf den Verhandlungstisch zu bewegen würde, die Sinai-Halbinsel bedingungslos räumen und an Ägypten zurückgeben müsse. Fisher fasste zusammen: „Herr Präsident, wenn ich Sie richtig verstanden habe, verlangen Sie also, dass Frau Golda Meir vor die Knesset tritt und verkündet, dass sie, um die Friedensverhandlungen in Gang zu bringen, Ägypten zugesichert habe, dass Israel die Sinai-Halbinsel bedingungslos räumen werde. Ist es das, was Sie verlangen?“ „Sicher, Herr Professor!“ 11 Der inzwischen emeritierte Professor an der Harvard-Law-School hat zusammen mit William Ury und Bruce Patton mit „Getting to Yes“ (Das Harvard-Konzept) den absoluten Bestseller auf dem Gebiete der Verhandlungsführung geschrieben. Die Story hat Fisher an seinem Negotiation-Workshop im November 1994 am PIL (Program for Instruction for Lawyers) an der Harvard-Law-School erzählt.

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„Herr Präsident, stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie wären Golda Meir und Sie würden jetzt vor die Knesset treten und würden den bedingungslosen Abzug der israelischen Truppen aus dem Sinai verkünden. Was würde dann geschehen?“ Fisher erzählte dann, wie Sadat zuerst die Stirn gerunzelt habe, dann die Augen geschlossen und schließlich gesagt habe: „Wenn Frau Meir dies wirklich verkündete, hätte sie aber sehr große Probleme!“ Dieser kurze Moment der „Ein-Sicht“ habe Sadat, wie Fisher berichtete, dazu bewegt, auf seine Forderung nach bedingungslosem Abzug zu verzichten und sich mit den Israelis in Camp David an den runden Tisch zu setzen, um die Verhandlungen zu beginnen, die schließlich zum „Frieden von Camp David“ führten. Fordern Sie Ihre Klienten wirklich einmal auf, sich in die Position ihrer Verhandlungspartner zu begeben. Wenn Ihnen dies gelingt – und wir wissen, dass es nicht einfach ist –, werden Sie erleben, wie komplexe, oft mit Händen und Füßen verteidigte Argumentationsketten plötzlich zusammenbrechen, weil Ihr Klient erkannt hat, dass er seine radikale Forderung nicht durchsetzen kann. Dass sein Gegenüber schlicht niemals einwilligen wird, weil er vielleicht sein Gesicht verlieren würde oder die Forderung für ihn unakzeptabel ist. Diese Einsichten sind in der Regel jedem Außenstehenden von Anfang an klar, nicht aber denen, die die Forderungen stellen. Wenn es Ihnen gelingt, Ihren Mandanten zu einem Wechsel der Wahrnehmungsposition zu bewegen, haben Sie schon sehr viel gewonnen. Lassen Sie uns an dieser Stelle noch etwas näher auf die Wahrnehmungspositionen eingehen: 3.1.5 Die vier Wahrnehmungspositionen 12 verstehen Manchmal hilft es weiter, die Welt von verschiedenen Seiten zu sehen. Grinder/DeLozier 13 unterscheiden vier Wahrnehmungspositionen: 1. Position: Ich sehe die Welt mit meinen eigenen Augen. Oder: Ich bin Ich und sehe die Andern. 2. Position: Ich sehe die Welt und mich selbst mit den Augen eines Anderen. Oder: Ich bin der Andere und sehe mich. 3. Position: Ich sehe die Welt, mich selbst und die andere Person aus der Position eines Beobachters. Oder: Ich bin ein Dritter und sehe den Anderen und mich. 12 Diese Positionen haben wir schon in Teil 2, 3.4, S. 83 ff. erläutert. Demnach gibt es vier Wahrnehmungspositionen, die uns zusammenfassend Austin Cooper nochmals erläutert. 13 Ebd. S. 85 Fußnote 22.

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4. Position: Ich sehe mich, den Anderen, den Beobachter und das ganze System, in dem wir uns bewegen, von außerhalb. Ich bin so etwas wie ein Alien und sehe die Welt von außen.

Die 1. und die 2. Position nennt man assoziierte Positionen, in welchen man fühlt. In der ersten Position fühle ich mich, in der zweiten Position fühle ich mit dem Anderen. Die dritte und vierte Position sind Betrachterpositionen. Man sieht sich und andere von außen. Sie heißen dissoziierte Positionen. Hier fühlt man nicht, sondern denkt. In der 1. und 2. Person bin ich Teil der Interaktion zwischen mir und dem Anderen, in den beiden Anderen nicht. Ein weiteres Beispiel soll diese vier Positionen verdeutlichen: Jemand erzählt ihnen, wie er in Ibiza vor dem Café Montesol sitzt und einen Morgenkaffee trinkt. Während er erzählt, können Sie sich weigern, in die Geschichte einzusteigen und einfach die Krawatte ihres Gegenübers anstarren und die Farbmuster zählen. Dann bleiben Sie 1. Position, assoziiert. Nun könne Sie auch in die Geschichte einsteigen und sich vorstellen, Sie wären ihr gegenüber und würden selbst als er vor dem Café Montesol sitzen. Dies ist 2. Position, assoziiert. Wenn Sie nun auf die gegenüberliegende Bank auf den Vara-de-Rey-Platz gehen und ihr Gegenüber in Gedanken dort sitzen sehen, dann sind Sie 3. Position, dissoziiert, und wenn Sie sich selbst als Zuhörer und den Erzähler und sich als Beobachter in Ibiza vom Sirius aus sitzen sehen, dann sind sie 4. Position, dissoziiert. Normalerweise nehmen wir die Welt aus der 1. Position wahr. Wir sind wir selbst und sehen die anderen mit unseren Augen. In der Retrospektive, in der Erinnerung, gelingt es uns oft, uns aus der 3. Position zu sehen. Wir sehen, wie wir gehandelt haben, was wir gut gemacht haben und wo wir uns noch verbessern können. 147

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Die meisten Frauen, sehr gute Chefs, Spitzenberater und gute Verhandler haben eins gemeinsam: Sie haben die Fähigkeit entwickelt, in die Schuhe eines anderen zu steigen und die Welt aus dessen Augen, somit aus der 2. Position, zu sehen. Im normalen Sprachgebrauch spricht man davon, dass solche Menschen „einfühlsam“ sind. Wer diese Fähigkeit hat, kann nicht verstehen, wie jemand, der diese Fähigkeit nicht hat, die Welt immer nur so eindimensional betrachten kann. Wenn ich diese Fähigkeit nicht habe, fällt es mir schwer zu glauben, dass jemand, der im Moment gerade neben mir steht, die Szene nicht mit meinen Augen sieht. Gute Verhandler können eine Situation auch mit den Augen ihres Gesprächspartners sehen. Sie wechseln spielerisch zwischen den Wahrnehmungspositionen. Schlechte Verhandler hingegen sehen die Welt nur mit ihren eigenen Augen und erfinden tausend und mehr Argumente, die das Gegenüber davon überzeugen sollen, dass ihre Sichtweise die einzig wahre ist. Sie erwarten vom Gegenüber, dass er die Welt genauso sieht, wie sie sie sehen. Wie Politiker in einer Talkshow. Da können sie meistens sehr, sehr lange warten, denn, wie wir schon mehrfach gehört haben: Die Landkarte ist nicht das Gebiet! Mit genau dieser Erweiterung der Wahrnehmungspositionen hat Dr. Cooper gespielt, als er Sacksberger aufgefordert hat, sich einmal anzuhören, wie es klänge, wenn er als Mehltau den Vorschlag „9 : 1“ von Sacksberger hörte. „Der Mehltau wird das nie annehmen!“ war die Antwort. Wie viele völlig unsinnige Forderungen, die täglich vor Gericht gestellt werden, würden wohl verschwinden, wenn nur 10 % der Kläger die Fähigkeit entwickelten, einen Tag lang in den „Mokassins des Beklagten“ zu gehen, wie die Indianer sagen? Die beiden haben mittlerweile, während Cooper die verschiedenen Wahrnehmungspositionen erklärt hat, das obere Ende des Stadtparks erreicht, wo ein kleiner Hügel an den Park anschließt. „Wollen wir bis zum Aussichtspunkt hochlaufen, Dr. Cooper?“ fragt Herr Sacksberger. „Gerne. Von da hat man ja einen schönen Blick über den Friedlinger See, man sieht gewissermaßen aus der 3. Wahrnehmungsposition auf den See. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei der Festlegung Ihres Vorschlages für eine Teilung des Gewinnes. Sie haben sich entschlossen, Mehltau den Vorschlag zu machen, ihm 20 % des Yellow Gold-Gewinnes zuzugestehen. Nun hätte ich eine Bitte: Verlassen Sie doch einmal Ihre Rolle als Verhandlungspartner und gehen Sie in die 3. Position. Was meinen Sie, was würde ein unbeteiligter Beobachter sagen, der hier oben auf dem Hügel stünde und hörte, wie Sie Mehltau dieses Angebot machen?“ 148

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„Der Beobachter würde sagen: ‚Ich bin aber großzügig!‘“ „Vielleicht, nur glaube ich nicht, dass Sie wirklich in der Position des Beobachters waren. Dann hätten Sie nämlich nicht ‚Ich bin aber großzügig!‘ gesagt, sondern ‚Er ist aber großzügig‘. Sie haben Ihre erste Position nicht verlassen. Der Wechsel der Wahrnehmungspositionen hört sich einfach an, ist aber gar nicht so einfach. Ein bisschen Üben hilft aber meistens weiter. Schließen Sie bitte einmal die Augen und stellen Sie sich vor, Sie wären ein Beobachter, der gerade hört, wie Herr Sacksberger das Angebot macht.“ Herr Sacksberger rollt ein wenig die Augen, schließt sie dann, hält den Atem an und sagt: „Der Sacksberger ist ein Geizhals.“ „Ist er das wirklich?“ „Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ „Geht’s dem Sacksberger wirklich nur ums Geld?“ „Nein, es geht ihm um etwas anderes.“ „Worum geht es ihm denn wirklich?“ „Er will von Mehltau mehr respektiert werden.“ 3.1.6 Die Absicht hinter dem Verhalten herausfinden Die beiden Spaziergänger sind nun oben auf dem Hügel angekommen. Unter ihnen liegt Bad Friedlingen. Im Vordergrund, lieblich in die Hügel der Umgebung eingebettet, der Friedlinger See. Weiter hinten kann man das Schwäbische Meer und die Alpen erahnen. Es ist recht klar heute, an diesem 13. Mai. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Sacksberger, geht es Ihnen also weniger ums Geld als um Respekt. Kann es sein, dass Ihre Forderung nach 80 % der Gewinne nur ein Mittel darstellt, mit dem Sie sich Respekt verschaffen wollen?“ „Kann sein. Aber es ist Tatsache, dass der Kerl meine richtungsweisende Beschäftigung mit den nachwachsenden Rohstoffen nicht akzeptiert hat. Tatsache ist weiter, dass er sie sogar sabotiert hat, indem er mir die dazu notwendigen Kredite gestrichen hat. Ich war gezwungen, die Projekte mit meinem Privatvermögen zu finanzieren. Und jetzt kommt er einfach und will den großen Reibach machen. Das lass ich nicht zu. Niemals.“ „Sie fühlten sich also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, von Mehltau jahrelang nicht respektiert, und es ist ihnen jetzt, wo Sie die Möglichkeit dazu sehen, ein Anliegen, sich diesen Respekt zu verschaffen?“ „Allerdings, jetzt oder nie!“ 149

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„Und ein Mittel, sich diesen Respekt zu verschaffen und Mehltau für seine Ignoranz der letzten Jahre büßen zu lassen, sehen Sie darin, ihm vom Gewinn nur 10–20 % zu geben, stimmt das?“ „Das könnte man so sehen. Aber bin ich heute bei meinem Anwalt oder bin ich beim Seelenklempner? Die Hintergründe sind mir egal. Ich gebe ihm einfach nicht mehr als 20 %. Soll er den Rest doch einklagen.“ „Sie können beruhigt sein, Herr Sacksberger. Ich bin Anwalt. Aber manchmal ist es von Vorteil, dass man auch als Anwalt über ein klein wenig seelenklempnerische Kenntnisse verfügt. Was meinen Sie dazu?“ „Sie könnten recht haben. Aber wie geht es jetzt weiter? Soll ich mich therapieren lassen und dem Mehltau anschließend frohen Mutes die Dollars kistenweise ins Haus schaffen?“ „Ich glaube nicht, dass es jemals so weit kommen wird. Aber darf ich einmal zusammenfassen, was wir über den Fall bis jetzt wissen?“ „Gerne.“ „Also: Sie haben sich von Mehltau jahrelang schlecht behandelt gefühlt, weil er nicht einsehen wollte, dass die Zukunft der Firma nicht in der Produktion von weiteren Weizensorten, sondern in der Zucht von Industriepflanzen liegt. Jetzt, wo Sie Erfolg haben mit dem Yellow Gold-Raps, sehen Sie die Zeit gekommen, sich den Respekt zu holen, den Sie jahrelang nicht gehabt haben. Eine Möglichkeit sehen Sie darin, dass Sie 80–90 % des zukünftigen Gewinnes für sich beanspruchen. Ihr Verhalten oder auch Ihre Position ist also: Geldhahn für Mehltau zu. 9 : 1 oder 8 : 2 für mich. Ihre Absicht dahinter, also Ihr Interesse ist: Mehr Respekt und Anerkennung für mich.“ „Zwei zu null für Sie, Herr Doktor.“ Hier sind wir nun an der zentralen Stelle des Prozesses angelangt, dem Herausschälen der eigentlichen Absichten, die sich hinter dem Verhalten und den Positionen verbergen. Das Verfahren basiert auf den im ersten Teil des Buches vorgestellten logischen Ebenen von Gregory Bateson und Robert Dilts in Verbindung mit der Erkenntnis von Albert Einstein, dass ein Problem nie auf der gleichen Ebene gelöst werden kann, auf der es entstanden ist. Sehen wir uns noch einmal die logischen Ebenen an.14 Zuoberst haben wir die Zugehörigkeit. Sie definiert unsere Heimat. Zugehörigkeit ist die Antwort auf die Frage: Mit wem und für wen tue ich etwas? Dann kommt die Identität. Die Identität beeinflusst die Mission, unsere Lebensaufgabe. Sie beantwortet die Frage: Wer bin ich? 14 Siehe dazu oben Teil 1, 2.2, S. 28 ff. sowie unten Teil 6, 5., S. 236 ff.

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Die Glaubenssätze und Werte kommen als Nächstes. Sie beeinflussen unsere Ziele und unsere Motivation, diese Ziele zu erreichen. Sie resultieren aus der Frage: Warum tue ich etwas? Die Fähigkeiten beeinflussen unsere Pläne und Strategien. Die dazu gehörende Frage lautet: Wie mache ich es? Anschließend kommt das Verhalten. Es bestimmt unsere Aktionen und Reaktionen. Die passende Frage ist: Was tue ich? Die unterste Ebene ist der Kontext, die Umgebung. Damit werden unsere Möglichkeiten bestimmt. Die Frage nach der Umgebung lautet: Wann oder wo tue ich etwas? Wenn Sacksberger nun eine Teilung der Gewinne im Verhältnis von 8 : 2 verlangt und Mehltau antwortet: „Ich will aber 50 : 50“, auf welcher der Ebenen manifestiert sich dann das Problem? Richtig. Auf der Verhaltensebene. Fisher nennt das „Position“. 15 Die direkte Frage zu diesem Problem ist nicht: ZU WEM GEHÖREN die beiden? Oder: WER SIND die beiden? Oder: WARUM GLAUBEN sie das? Oder: WIE KÖNNEN sie ihre Forderungen eintreiben? Oder: WO und WANN wollen sie die Forderungen eintreiben? Sondern: Was tun die beiden? Sie stellen unterschiedliche Forderungen. WAS genau wollen sie voneinander? Der eine will im Verhältnis 1 : 1 teilen. Das ist eine Aktion. Der andere will im Verhältnis 8 : 2 teilen. Das ist eine Reaktion. Das Problem manifestiert sich also auf der Verhaltensebene. Juristische Forderungen wie z.B.: „Ich will, dass die Gegenpartei etwas tut oder unterlässt“, manifestieren sich auf der Verhaltensebene und sind in der Diktion des Harvard-Konzepts eben eine „Position“. Alleine aus dieser kleinen Darstellung sehen wir, dass Einstein Recht hatte, als er feststellte, dass sich ein Problem nicht auf derselben Ebene lösen lasse, auf der es entstanden sei: Mehltau wird vielleicht irgendwann einmal 55 : 45 sagen, aber Sacksberger wird es nicht annehmen. Er wird auf höchstens 70 : 30 beharren. Dann geht’s vor Gericht. Der Richter spricht dann vielleicht 60 : 40 zu. Aber ist damit das Problem gelöst? Mitnichten. Was gelöst wird, ist die Gewinnverteilung bezüglich des Yellow Gold-Rapses.

15 Fisher/Ury/Patton, Das Harvard-Konzept, S. 25 ff., 69 ff.

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Was aber bleibt, ist der Streit zwischen den beiden, und der wird sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in einem andern Kontext fortsetzen. Denn ein Urteil befriedigt Mehltaus Wunsch nach Anerkennung nicht. Folgendes Szenario wäre möglich: Sacksberger, der Patenonkel einer Tochter von Mehltau ist, wird sich dieser Patenschaft verweigern, und Mehltau wird das gemeinsame Ferienhaus, das die beiden in Patagonien erworben haben, unbedingt verkaufen wollen. Sacksberger wird sich wie ein Berserker dagegen wehren, weil es der einzige Ort auf der Welt ist, wo er noch Frieden finden kann. Die argentinischen Gerichte werden sich dieser Sache annehmen müssen. Nächster Zankapfel wird die Versteuerung der Gewinne aus dem SacStar-Geschäft sein: Sacksberger hat dem Fiskus die Nachricht zukommen lassen, dass ein Großteil der Einnahmen Mehltaus über eine Steueroasenkonstruktion auf den niederländischen Antillen läuft. Ob das wohl im Einklang mit den nationalen Steuergesetzen stehe? Mehltau seinerseits … Wo sind wir hier angelangt? Jawohl, genau dort, wo die Herren von Streidt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit immer wieder hinkommen: In den Zustand des totalen Krieges! In den Zustand, in dem die Parteien sagen: „Alles, was ich will, ist, dass Du verlierst, koste es, was es wolle…!“ Wollen wir das? Vielleicht wollen das einige tatsächlich (weil es die einzige Art und Weise ist, die sie kennen, ihr Leben intensiv zu gestalten), und denen sei es unbenommen, sich bis auf das Knochenmark zu bekriegen. Denen aber, denen solche Resultate abhold sind, möchten wir hier ein anderes Gedankengebäude zur Verfügung stellen, ein Gedankengebäude, das allerdings einiges an geistiger Flexibilität voraussetzt und auf den ersten Blick nicht sehr einfach zu verstehen ist; das aber, wenn es stringent angewendet wird, Frieden in die umkämpften Positionen und darüber hinaus für beide Seiten Gewinn bringen kann. Allerdings kann man ein System beiderseitigen Gewinns nur aufbauen, wenn man nicht in die Irrationalität von Kampf oder Flucht verwickelt ist. Und das ist man gerne, wenn man selbst vom Konflikt betroffen ist. Das ist menschlich, das ist normal, das sind Hunderttausende von Jahren Menschheitsgeschichte in uns. Deshalb kann es vielleicht hilfreich sein, sich in solchen Situationen von anderen den Weg zeigen zu lassen, wie es gerade Dr. Cooper für Herrn Sacksberger tut, indem er ihm zeigt, dass wir auf der Ebene des Verhaltens keine Lösungen finden können, die uns auf Dauer zufriedenstellen. Wenn wir Lösungen finden wollen, müssen wir diese auf einer anderen Ebene suchen. Schauen wir uns nun einmal an, wie Dr. Cooper vorgegangen ist. Was genau hat er gemacht, als er gefragt hat, warum Sacksberger auf einer Teilung im Verhältnis 8 : 2 beharre? Richtig: Er hat die Ebene des Verhaltens (Positionen) verlassen und ist auf die Ebene der Glaubenssätze und Werte aufgestiegen. Diese Ebene liefert die Motivation unseres Verhaltens. Sie gibt Aufschluss über unsere Interessen und unsere Absichten, die hinter (eigentlich: über) dem Verhalten liegen. 152

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Und was hat er herausgefunden? Sacksberger will die von ihm vorgeschlagene Teilung, weil er sich damit Anerkennung verschaffen will. Das motiviert ihn. Es geht ihm gar nicht so sehr um mehr Geld, sondern eher um mehr Respekt. Sacksberger fühlte sich durch das Verhalten von Mehltau zu wenig anerkannt, und das will er ändern. Die einzige Möglichkeit, die er im Moment sieht, sich diesen Respekt zu verschaffen, besteht darin, von Mehltau mehr Geld zu fordern. Die Lösung, die wir vorschlagen, besteht nun darin, Sacksberger aufzuzeigen oder herausfinden zu lassen, welche anderen Möglichkeiten er sonst noch hat, sich mehr Respekt und Anerkennung für seine Forschungsarbeit zu verschaffen. Wie diese Lösung genau aussieht, wollen wir im nächsten Kapitel zeigen. Sacksberger erhält damit mehr Wahlmöglichkeiten. Er wird flexibler und auf lange Sicht überlebensfähiger. Denn aus der Kybernetik wissen wir, dass auf lange Sicht ein System von demjenigen Element beherrscht wird, das am flexibelsten ist16. Nun noch einige Worte zu den häufigsten Absichten, die sich hinter dem Verhalten verbergen: Im Laufe von mehreren Jahren Arbeit mit dem hier vorgestellten Modell haben wir festgestellt, dass es im Regelfall nur einige wenige Werte sind, die unser Verhalten steuern. Es sind dies, neben dem bereits erwähnten Wert der Anerkennung (mehr Respekt), folgende Werte:17 Freiheit Harmonie Integrität Macht

Sicherheit Intensität Fürsorge Neugier

Im Denken vieler Menschen nimmt der Wert Sicherheit eine große Bedeutung ein. Sie haben sich deshalb für den Beruf des Beamten entschieden, fahren einen Volvo, haben für Ihre Töchter eine Aussteuerversicherung abgeschlossen und Ihr Haus mit einer Überwachungsanlage ausgerüstet. Wenn Sie aus dem Haus gehen, drehen Sie den Schlüssel im Schloss zweimal herum. Andere messen dem Wert Freiheit eine große Bedeutung bei. Sie gehen einer selbständigen Tätigkeit nach, haben nie geheiratet und machen „jedes Jahr Urlaub in einem andern Land. Sie und Ihr Partner haben getrennte Wohnungen und nichts fürchten Sie so wie ein späteres Leben im Pflegeheim. Wiederum andere lieben die Harmonie: Sie lieben eine friedfertige Frau oder einen friedfertigen Mann, züchten Rosen und haben ihr Landhaus im LauraAshley-Stil eingerichtet. Sie neigen dazu, nachzugeben, bevor ein Streit entstehen könnte. Sie schreiben allen Menschen, die Sie kennen, Weihnachts16 Vgl. unten Teil 6, 10., Fn. 33, S. 255. 17 Vgl. näher dazu unten Teil 6, 8., S. 246 ff.

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Intensität

schrecklichste Taten

I.MR HABEN 'S CESCHAFFT! IIVIR SIND ~NOCHENr­

WtSCHrfABER!!!

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karten und bedrängen Ihre Kinder, das Geburtstagsgeschenk für die Oma nicht zu vergessen. Hier scheinen die Zusammenhänge zwischen dem Wert und dem durch diesen Wert gesteuerten Verhalten klar zu sein. Was sagen Sie aber zu folgenden Beispielen: Vielen Eltern ist die Sicherheit ihrer Kinder sehr wichtig, und deshalb geben sie ihrem Kind eine Ohrfeige, wenn es bei Rot über die Straße geht. Oder: Viele Anwälte lieben ein intensives Leben und bekriegen sich deshalb vor Gericht bis auf’s Messer! Oder: Wie viele gute Menschen sind im ersten Weltkrieg in den Tod gegangen, weil die Sicherheit ihres Staates und ihrer Lieben gefährdet schien? So viel für den Moment zu den Werten. Nun noch ein wichtiger Punkt: Macht es ihnen Mühe, sich mit dieser Vorgehensweise von Dr. Cooper zu identifizieren? Denken Sie nicht auch wie Herr Sacksberger, dass Sie Anwalt sind und nicht Therapeut? Vielleicht. Trotzdem sind wir der Meinung, dass jede gute anwaltliche Beratung auch ein Stück Klärung im weitesten Sinne ist. Dazu brauchen Sie keine Couch und keine Entspannungsübungen. Alles, was Sie brauchen, ist die Fähigkeit, zuzuhören, zu beobachten, sich in andere Personen einzufühlen und geschickt nachzufragen. Dazu brauchen Sie weiter den Willen, anderen Menschen entsprechend ihrem Weltbild helfen zu wollen, um die richtigen Wege auf ihrer Landkarte zu finden, statt ihnen Ihr Weltbild, Ihre Landkarten, Ihre Lösungen aufzuzwingen. Alles, was Sie brauchen, ist die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungspositionen zu vermitteln. Nun aber zurück zu Dr. Cooper und Ingenieur Sacksberger, die immer noch im Stadtpark von Bad Friedlingen spazieren gehen. Wie flexibel ist Herr Sacksberger bereits, und wie flexibel wird er noch werden? 3.2 Und die Interessen der Gegenseite? „So, Herr Sacksberger, die Welt sieht doch jetzt schon ziemlich anders aus, oder?“ „Mit Sicherheit, Herr Doktor!“ „Nun zu einer anderen zentralen Frage: Worum geht es Mehltau wirklich? Will er einfach 50 % des Gewinnes, weil es immer schon so war, oder steht hinter diesem Wunsch vielleicht ein anderes Anliegen. Was meinen Sie, Herr Sacksberger?“ „Eine schwierige Frage. Wie können wir sie beantworten?“ „Ich schlage Ihnen Folgendes vor: Wir haben vorhin über Wahrnehmungspositionen gesprochen. Sie haben sich bereits einmal in Herrn Mehltau 155

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Außerhalb des Verhandlungskontextes: Welche anderen Möglichkeiten sehen Sie, Ihre Absichten zu verwirklichen? ~r\1,;',

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hineinversetzt und dann festgestellt, dass er Ihren Vorschlag, 80 : 20 zu teilen, als unannehmbar empfunden hat. Versuchen Sie jetzt noch einmal, sich vorzustellen, Sie seien Mehltau, und versuchen Sie, herauszufinden, worum es ihm wirklich geht. Okay?“ „Einverstanden.“ Herr Sacksberger stellt sich abermals vor, er sei Mehltau. Dr. Cooper fragt ihn dann: „Herr Mehltau, geht es Ihnen ebenfalls um Anerkennung? Oder geht es Ihnen um Macht? Um Harmonie? Um Neugier? Um Freiheit? Um persönliche Integrität? Um Fürsorge? Um Sicherheit?“ „Um Sicherheit! Natürlich! Dass mir das nicht schon lange aufgegangen ist. Mehltau geht es um Sicherheit! Um nichts sonst. Der braucht das Geld, weil er seine Geschwister auszahlen muss! Die Geschwister Mehltau haben vor einigen Monaten endlich ihre Erbengemeinschaft aufgelöst. JohannJakob hat natürlich die Mühle übernommen und das kostet Geld. Mit dem zu erwartenden hohen Gewinn aus dem Raps kann er einer sicheren Zukunft entgegensehen und einige überteuerte Darlehen sofort zurückzahlen. Bekommt er weniger Geld, sieht er einer gefährdeten Zukunft entgegen. Es geht ihm also um Sicherheit.“ „Was bringt Ihnen diese Einsicht, Herr Sacksberger?“ „Ich kriege plötzlich mehr Verständnis für seine Lage!“ Unterbrechen wir hier abermals. Was ist geschehen? Zuerst hat Dr. Cooper seinem Mandanten in den ersten Schritten des Prozesses des kooperativen Verhandelns geholfen, seine Absichten hinter seinem eigenen Verhalten zu entdecken (Anerkennung); dann hat er ihm dazu verholfen, zu erahnen, was die Absicht hinter dem Verhalten von Mehltau ist: Sicherheit. Im nun folgenden Prozess wird es darum gehen, Möglichkeiten des Verhaltens zu finden, die sowohl dem Wunsch Sacksbergers nach Anerkennung als auch dem Wunsch Mehltaus nach Sicherheit entsprechen. Beim kooperativen Verhandeln gilt, im Gegensatz zum kompetitiven Verhandeln, wo das Prinzip des Entweder-Oder herrscht, das Prinzip des Sowohl-als-auch. Deshalb ein Beispiel aus der Praxis. Ein Beispiel, das wiederum Roger Fisher in seiner Vorlesung im November 1994 an der Harvard Law School erzählt hat: Nachdem sich Ägypten und Israel in Camp David an den runden Tisch gesetzt hatten, durften beide Parteien ihre Forderungen stellen. Ägypten verlangte natürlich kategorisch die Sinai-Halbinsel zurück. Israel hingegen weigerte sich, diese zurückzugeben. Auf der Ebene des Verhaltens war somit keine Einigung zu erzielen. Was tun? Richtig: Die Ebenen wechseln! 157

Teil 4

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Man fragte also Ägypten, was sein Interesse an der Sinai-Halbinsel wäre. Die Ägypter antworteten: „Es geht uns um unsere nationale Souveränität. Die Sinai-Halbinsel hat seit Tausenden von Jahren zu Ägypten gehört, und das soll immer so bleiben.“ Ägypten ging es also um die Integrität der Nation. Was aber war das Interesse hinter der Position Israels? Die Israelis sagten: „Was geschieht, wenn die Ägypter Sinai wieder haben? Dann stehen ihre Tanks abermals vor unserer Haustüre. Das können wir nicht zulassen.“ Das Anliegen von Israel war somit Sicherheit. Der Prozess des Verhandelns bestand nun darin, wie Fisher erzählte, eine Lösung zu finden, die sowohl dem Bedürfnis nach nationaler Souveränität der Ägypter, als auch dem Bedürfnis nach Sicherheit der Israelis nachkam. Und diese Lösung wurde schließlich gefunden: Es war die Lösung, die den Krieg beendete: Die Sinai-Halbinsel fiel zurück an Ägypten und wurde zur entmilitarisierten Zone erklärt, die die UNO überwacht. Damit war die nationale Souveränität Ägyptens wieder hergestellt, und Israel fühlte sich sicher. Kein fremder Panzer stand mehr an seiner Westgrenze! Und zwischen Ägypten und Israel gab es seitdem keinen Krieg mehr.

4. Finden Sie Möglichkeiten, die Absichten (Interessen) der Parteien zu verwirklichen: Welche Möglichkeiten gibt es innerhalb und außerhalb des Verhandlungskontextes? 4.1 Möglichkeiten der Verwirklichung für die Absichten des Mandanten 4.1.1 Innerhalb des Verhandlungskontextes: Welche anderen Möglichkeiten, Ihre Absichten zu verwirklichen, gibt es als diejenigen, die Sie bisher angewandt haben? „So, Herr Sacksberger, worum es Ihnen eigentlich geht, ist also Respekt. Sie möchten, dass Herr Mehltau Ihre zweifelsohne bemerkenswerten Zuchtleistungen besser anerkennt. Stimmt das?“ „Ja, hab ich doch vorhin schon gesagt. Aber wie soll es nun weitergehen? Ich kann ja nicht von ihm verlangen, dass er mir tagtäglich die Füße küsst. Das wäre wohl doch ein bisschen zu viel, oder?“ „Das glaub ich auch. Zudem glaube ich nicht, dass Sie sich durch diesen Akt der Demütigung tatsächlich besser respektiert fühlen würden. Können Sie mir einige realistische Vorschläge nennen?“ „Er müsste mir einfach 80 % des Gewinnes auszahlen, dann wäre die Sache gelaufen.“ „Gut, das wissen wir. Was könnte daneben noch geschehen?“ „Er sollte mir mal sagen, wie toll ich die Dinge hingekriegt habe und wie blöd er gewesen ist!“ 158

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Teil 4

„Das ist heikel und bezieht sich zudem auf die Vergangenheit. Wie könnten Sie die gemeinsame Zukunft so gestalten, dass Sie sich mehr respektiert fühlen würden?“ „Wie schon gesagt: ich will 80 %!“ „Was daneben würde Ihnen auch noch zeigen, dass Sie respektiert werden? Schauen Sie sich beide einmal von außen an. Gehen Sie in die 3. Position!“ Herr Sacksberger sieht nach Bad Friedlingen hinunter und es macht den Eindruck, als würde er sich und Mehltau von da oben zusehen, wie sie da unten in der Sortenzucht am Tisch sitzen: „Wenn er einwilligen würde, dass das neue Produkt nach Sacksbergers Tochter Tanit benannt würde. Yellow Gold ist ja eigentlich ein blöder Name. Es gibt ja auch keinen weißen Schimmel!“ „Schön. Die Sorte würde also nicht Yellow Gold-Raps heißen, sondern ihr Name wäre Tanit-Raps. Stimmt das?“ „Ja.“ „Was weiter würde Herrn Sacksberger das Gefühl geben, dass Mehltau ihn respektiert?“ „Wenn Mehltau einwilligen würde, dass sie den Raps über die Vertriebsgesellschaft ausliefern, die Wendelin Sacksberger gerade aufbaut.“ „Sehr schön. Was weiter?“ „Wenn Sacksberger Aktien der ‚Friedlinger Mühlen AG‘ kaufen könnte.“ „Sehr schön, weiter.“ „Wenn er Sacksberger das gemeinsame Ferienhaus in Patagonien vollständig überlassen würde.“ „Sehr schön! Sie sind aber recht kreativ heute!“ „War ich immer schon, Herr Doktor!“ Dann fährt er fort: „Wenn er schlicht mehr Interesse an Sacksbergers Forschungsarbeiten zeigen würde!“ „Wie könnte er das tun?“ „Wenn er ihn auf seiner nächsten Reise in die USA, in die Ukraine oder nach London begleiten könnte.“ „Sehr gut. Weiter.“ „Wenn er sich an Sacksbergers Buchprojekt über Pflanzenzucht beteiligten würde. Er könnte einige Kapitel aus der Sicht des Lebensmitteltechnologen schreiben.“ „Wunderbar. Noch mehr?“ 159

Teil 4

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„Ich glaube, das reicht für den Moment.“ „Und glauben Sie, dass Ihnen alle diese Möglichkeiten mehr Respekt einbrächten?“ „Auf jeden Fall!“ „Gut, dann bitte ich Sie, die Möglichkeiten, die Sie nun gefunden haben, aufzulisten. Ich gebe Ihnen dazu Papier und Bleistift. Es ist mir wichtig, dass Sie dies tun und nicht ich. Die neuen Möglichkeiten bleiben Ihnen dann besser in Erinnerung.“ „Wenn Sie meinen.“ Ingenieur Sacksberger greift sich den Notizzettel und notiert sich folgende Stichworte: 1. Tanit-Raps 2. Wendelins Vertriebsgesellschaft 3. Friedlinger Mühlen Aktien 4. Patagonien 5. Ukraine/USA/London 6. Buchprojekt Nachdem er sich alles notiert hat, nimmt er einen letzten großen Schluck aus der Budweiser-Bierflasche, wirft die leere Flasche in einer eleganten ballistischen Flugbahn in den Abfallkorb, der sich ca. 5 m von den beiden entfernt und zudem auf der anderen Seite des Weges befindet, und drückt Dr. Cooper den Zettel in die Hand. Dieser schaut die einzelnen Punkte aufmerksam durch, sieht dann zu Herrn Sacksberger und fragt: „Und wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Drei zu null für Sie, Herr Doktor.“ Was hat Cooper hier gemacht? Er hat Herrn Sacksberger gebeten, sich zu überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, im Rahmen einer Verhandlung seine Absichten zu verwirklichen. Er hat Herrn Sacksberger somit den Verhandlungskontext bereichern lassen. Er hat ihn erleben lassen, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, von Herrn Mehltau anerkannt und respektiert zu werden als durch die Höhe einer Gewinnausschüttung. Dies gibt ihm sehr viel mehr Wahlmöglichkeiten und erweitert seinen Horizont enorm. Und, wie wir gesehen haben, macht es geradezu übermütig!

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Teil 4

4.1.2 Außerhalb des Verhandlungskontextes: Welche anderen Möglichkeiten sehen Sie, Ihre Absichten zu verwirklichen? „Wie ich sehe, hat dieses kleine Brainstorming in Ihnen viele Energien geweckt.“ „Da haben Sie allerdings recht.“ „Was genau hat es weiter bewirkt?“ „Ich sehe jetzt, dass wir uns nicht unbedingt vor Gericht um einige läppische Prozente streiten müssen. Ich habe bemerkt, dass ich sehr wohl bei den Prozenten nachgeben kann, wenn ich dafür Anerkennung erhalte. Das hat mir gut getan.“ „Sehr schön. Dann sind Sie ja jetzt wieder gut drauf, und wir können einen schwierigen Punkt genauer betrachten.“ „Aber sicher. Mich kann nichts mehr abschrecken!“ „Gut. Bitte beantworten Sie mir folgende Frage: Wie können Sie Ihren Wunsch nach Respekt sonst noch verwirklichen, wenn die Verhandlungen mit Mehltau scheitern?“ „Die scheitern nicht. Das ist unmöglich!“ „Nehmen wir einmal an, sie würden tatsächlich scheitern und Sie würden vom Gericht verurteilt werden, 50/50 abzurechnen. Was könnten Sie dann tun, um Ihre Interessen Respekt/Anerkennung trotzdem zu verwirklichen? Schauen Sie sich Mehltau und die ganze Situation einmal von ganz außerhalb an. Gehen Sie in die 4. Position.“ Herr Sacksberger schaut wieder nach Bad Friedlingen hinunter, rollt wieder ein wenig die Augen und sagt dann: „Wenn Sacksberger das Buch fertiggeschrieben hat, würde er viel Anerkennung erhalten. Dann ist er nicht mehr auf Mehltaus Schulterklopfen angewiesen.“ „Schön. Andere Ideen?“ „Der Tanit-Raps ist ja nicht das einzige Produkt, das er entwickelt hat. Es gibt auch noch Schwesterpflanzen, die noch nicht angemeldet oder eingetragen sind. Er könnte eine eigene Firma gründen und diese Pflanzen über die neue Firma laufen lassen.“ „Andere Ideen?“ „Sacksberger setzt hier in Europa einen Geschäftsführer ein und zieht dann nach Argentinien oder in die USA, wo er eine eigene Firma gründet. Auch wenn er nur 50 % erhält, sollte das allemal reichen.“ „Noch andere Ideen?“ „Vielleicht lässt er den ganzen Wirtschaftskram und sucht sich tatsächlich einen Forschungsauftrag an einer Uni. Forschen hat ihm schon immer Spaß gemacht.“ 161

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„Weiter!“ „Ich glaube, das reicht für den Moment.“ „Was bringen Ihnen diese neuen Erkenntnisse? Wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Ich bin von Mehltau viel weniger abhängig, als ich gedacht habe.“ „Das heißt, es würde auch ein Leben geben nach einem kompletten Scheitern der Verhandlungen?“ „Ja. Und das wäre nicht mal so schlecht!“ „Was ist Ihnen lieber: Dass die Verhandlungen gelingen oder dass sie scheitern?“ „Dass sie gelingen! Warum sollte ich wegen einiger läppischer Prozente eine Beziehung aufs Spiel setzen, die ja fast 20 Jahre gut gehalten hat!“ „Darauf sollten wir aber nun einen trinken, denn mittlerweile habe ich auch Durst!“ Gesagt. Getan. Während die beiden im Parkrestaurant mit zwei Stangen „Friedlinger Roggenbräu“ auf die bis jetzt erreichte Klarheit im Fall Sacksberger versus Mehltau anstoßen, wollen wir uns wieder anschauen, was Dr. Cooper genau gemacht hat. Cooper hat Sacksberger gefragt, welche Alternativen zu einer ausgehandelten Übereinkunft er sonst noch hat. Darauf hat Sacksberger recht schnell Alternativen gefunden. Oft werden Klienten durch diese Frage geschockt, weil sie glauben, es gebe nur eins: Verhandlungserfolg oder Tod. In 99,99 % der Fälle ist es aber nicht so. Leider sehen dies aber die meisten der Klienten nicht auf Anhieb, und man braucht viel Fingerspitzengefühl, diese Frage zu stellen. Fisher nennt diese Kontextverschiebung (In welchem anderen Kontext außer dem gegenwärtigen wäre es Ihnen möglich, Ihre Anliegen zu erfüllen?) Best Alternative To Negotiated Agreement, kurz BATNA 18. Auf Deutsch heißt dies etwa soviel wie „Beste Alternative zu einer ausgehandelten Vereinbarung“. Die Amerikaner nennen diese Alternativmöglichkeiten auch kurz und bündig „Walk-away-alternative“, also das, was ich an Wahlmöglichkeiten habe, wenn ich den Verhandlungstisch verlasse. Eine Kontextverschiebung nimmt meistens sehr viel heiße Luft aus der Verhandlungsatmosphäre. Der Klient sieht nun ein, dass er nicht um jeden Preis ein Verhandlungsergebnis haben muss. Das gibt Gelassenheit und damit Verhandlungsstärke. Zudem bewirkt dieses Finden von Lösungsoptionen aus allen vier Wahrnehmungspositionen, dass die Lösung die 18 Fisher/Ury/Patton, Das Harvard-Konzept, S. 141 ff.

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Chance hat, nachhaltig zu sein. Wenn Sacksberger jetzt noch seine gefunden Lösungsoptionen aus allen vier Positionen prüfen und nur die übrig lassen würde, zu denen er aus allen vier Positionen zustimmen könnte, dann wären die gefundenen Optionen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachhaltig. Darüber ein wenig jetzt und später mehr. Kehren wir zu unseren beiden Akteuren zurück, die im Biergarten des Stadtparks von Bad Friedlingen sitzen, Friedlinger-Roggenbräu trinken und einen weiteren wichtigen Punkt besprechen. 4.2 Und die Möglichkeiten für die andere Seite? Die beiden Spaziergänger haben inzwischen herausgefunden, was die wahren Interessen der beiden streitenden Parteien sind: Herrn Sacksberger geht es um Anerkennung und Herrn Mehltau um Sicherheit. Der nächste Schritt wird nun darin bestehen, dass Herr Sacksberger Ideen entwickelt, die sowohl seinem legitimen Bedürfnis nach Anerkennung als auch dem ebenso legitimen Bedürfnis von Herrn Mehltau nach Sicherheit entsprechen. Cooper hat seinem Klienten für dieses kleine Brainstorming einen Bleistift und ein Blatt Papier in die Hand gedrückt und ihn gebeten, sich zehn Minuten Zeit zu nehmen, um einige Ideen zu Papier zu bringen. Er werde diese Zeit benutzen, um einmal kurz die Parktoilette aufzusuchen. Sacksberger nickt, und nach einer Viertelstunde trifft man sich im Schatten des Gewächshauses wieder. Sacksberger hat Folgendes notiert: 1. Wir teilen 70 : 30, und ich gebe Mehltau ein Darlehen zu Vorzugskonditionen. 2. Wir staffeln die Gewinnverteilung: im ersten Jahr 50 : 50, im folgenden Jahr 60 : 40, dann Jahresschritte bis 90 : 10. Damit bin ich zufrieden, und Mehltau kann seine Darlehen ablösen. 3. Wir teilen die ersten Jahre 50 : 50, wandeln einen Teil seines Gewinnes aber in ein zinsloses Darlehen um, das er mir später zurückzahlt. „Herr Sacksberger, wie fühlen Sie sich mit diesen Lösungen?“ „Sehr gut, ich kann damit leben. Wenn Mehltau von mir ein Darlehen annimmt, ehrt mich das sehr.“ Was hat Dr. Cooper hier gemacht? Er hat Sacksberger einfach Möglichkeiten entwickeln lassen, die beiden Interessen entsprechen.

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5. Suchen Sie eine gemeinsame Vision für die Parteien: Gibt es ein übergeordnetes Ziel für die Absichten beider Parteien? „Gut. Nun noch eine etwas verwegene Idee: Gibt es irgendein Interesse neben Anerkennung und Sicherheit, das Sie beide haben? Quasi ein übergeordnetes Interesse, dessen Verwirklichung Ihnen beiden am Herzen liegt und dessen Verfolgung Sie beide wieder näher zusammenbringen würde?“ „Wir lieben beide den Genuss!“ „Gibt es etwas, das Sie beide gerne genießen?“ „Bad Friedlinger Roggenbier, beispielsweise!“ „Sehr gut. Kennen Sie auch den Frank Süßbier, den Bierbrauer?“ „Wer kennt den nicht?“ „Könnten Sie sich eine Zusammenarbeit zwischen der Mehltan’schen Mühle, dem Friedlinger Roggenbier und der SackMehl GmbH vorstellen?“ „Ja, in Zürich habe ich vor kurzem ein ‚Back-und-Brau-Restaurant‘ gesehen. Es ist eine Gaststätte, die um eine Kleinbrauerei herum aufgebaut ist. Die brauen wöchentlich neues Bier und backen mit der Hefe Brezeln und andere einfache Köstlichkeiten. Vielleicht könnten wir ja so etwas auch in Bad Friedlingen hochziehen?“ „Würde das dem Mehltau gefallen?“ „Sicher. Immer, wenn es etwas zu Essen und zu Trinken gibt, ist er dabei. Wir treffen uns eh meistens in Gaststätten.“ „Gut. Könnten Sie den Süßbier schon mal darauf ansprechen?“ „Ich sehe ihn morgen!“ „Wunderbar!“ Mit der Frage nach einem übergeordnetem Ziel hat Dr. Cooper weiter eine schon bestehende, funktionierende Zugehörigkeit (beide trinken sie mit Leib und Seele das Friedlinger Roggenbier) entdeckt und diese für eine bessere Kooperation aktiviert. Er ist damit auf der Skala der logischen Ebenen noch über die Ebene der Glaubenssätze/Werte gestiegen, nämlich zur Ebene der Zugehörigkeit. Eine gemeinsame Vision ist ein Band, das die Parteien noch enger zusammenhält. Rechtliche Bande halten dagegen nur, solange der Wille zur Zusammenarbeit gegeben ist. Eine Partei, die die Kooperation nicht mehr will, wird das rechtliche Band als Fessel empfinden und sich bald als Entfesselungskünstler präsentieren … Mit der Frage nach dem übergeordneten Ziel hat Dr. Cooper die Bahn frei gemacht für noch mehr Kooperation. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Verhandlungen scheitern, ist abermals gesunken. 164

Teil 4

Vorbereitungsphase

Vielleicht noch einmal schematisch: Zugehörigkeit: Beide sind Genussmenschen und mit Leib und Seele Bad Friedlinger Roggenbier-Trinker. Identität: August Sacksberger

Identität: Johann J. Mehltau

Werte: Anerkennung

Werte: vermutlich Sicherheit

Fähigkeiten: kann Pflanzensorten züchten

Fähigkeiten: kann mahlen und könnte finanzieren

Verhalten: will Gewinn 80 : 20 teilen

Konflikt

Verhalten: will Gewinn 50 : 50 teilen

6. Legen Sie die erforderlichen Schritte zur Vorbereitung der Verhandlung fest: Klären Sie, wer wann was tut! „So, Herr Sacksberger, und was machen wir nun?“ „Ich schlage Mehltau vor, dass ich ihm ein Darlehen gewähren kann, wenn er möchte, und dass wir uns mit den Prozenten irgendwo zwischen 50 und 90 schon treffen werden. Zudem mache ich ihm den Vorschlag mit der Namensgebung, frage ihn, ob er einverstanden ist, dass der neue Raps von Wendelin vertrieben wird, und lade ihn ein, im Juli mit mir in die USA zu kommen. Wenn ich morgen Süßbier treffe, erzähle ich ihm vom ‚Back-undBrau-Konzept‘.“ „Schön. Wäre es nicht vorher noch nötig, sich über die Darlehensvergabe Gedanken zu machen?“ „Da haben Sie recht. Ich muss mit meiner Bank sprechen und auch noch mit der Erdölgesellschaft und dem Vertreter der ukrainischen Landwirtschaftsbehörde. Ich will die Verhandlungen vorantreiben, damit ich in der Verhandlung mit Mehltau mit konkreten Zahlen aufwarten kann. Es gibt viel zu tun, Herr Dr. Cooper. Packen wir es an!“ Bei diesem Schritt ist es nun wichtig, dass man sehr konkret wird. Was genau ist noch zu tun, damit die Vorschläge zur Kooperation nicht einfach Luftschlösser bleiben? Bis zu welchem Betrag kann Sacksberger seinem Partner tatsächlich ein Darlehen geben? Dazu ist ein Gespräch mit der Bank notwendig. Wie hoch ist die jährliche Gewinnerwartung aus dem neuen Raps? Dazu müssen die Verhandlungen mit den Käufern vorangetrieben werden. Vielleicht muss Herr Sacksberger sogar noch einmal nach London oder Kiew fliegen. 165

Teil 4

Vorbereitungsphase

Klären Sie, wer wann was tut!

nnfbnr;;) ~

ALS ICH KIND WAR, SPIELTEN WIR "HAUT" DEN

LUKAS" UND ·RÄUBER UND CCNPARM •

010'. Y. .. HEUTE

CEHT'S NJCHrMEHR... W/1: WÄR'S MIT Mrr~IN

ZWEI li\.0CHEN "Z

© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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Vorbereitungsphase

Teil 4

Kann und will Wendelin Sacksberger den Vertrieb des Saatgutes tatsächlich übernehmen? Dazu sind auch noch einige Gespräche nötig. Hat Süßbier Interesse am Bau einer neuen Gaststätte in Bad Friedlingen? Das wird Herr Sacksberger morgen in Erfahrung bringen können. Kooperatives Verhandeln im Vergleich zum kompetitiven Streiten heißt nicht, dass der kooperative Verhandler mit milder Miene die Hände in den Schoß legt und den Dingen ihren Lauf lässt. Der kooperative Verhandler ist genauso dynamisch und initiativ wie der Streiter, nur ist die Richtung seines Denkens und Tuns eine andere: • Er stochert nicht in der Vergangenheit herum, sondern denkt in die Zukunft. • Er sucht nicht nach Problemen, sondern findet Lösungen. • Er fragt nicht danach, wer wem aus welchem Rechtsgrunde etwas schuldet, sondern hilft, Vorschläge für eine gemeinsame Zukunft zu finden. Dabei ist es völlig normal, dass dieses lösungsorientierte Denken auf den Klienten überspringt, genauso, wie es normal ist, dass das problemorientierte Denken des kompetitiven Streiters auf seinen Klienten abfärbt: Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus! „So, Herr Sacksberger, sind bis hierher noch Fragen?“ „Nö, alles klar, Herr Kommissar.“ „Gut. Sie sprechen morgen mit Süßbier, dann mit dem Bankier und Ihren potentiellen Käufern und was dann?“ „Dann sollten wir uns mit Mehltau treffen.“ „Gut. Weiß von Streidt schon von seinem Glück?“ „Keine Ahnung.“ „Ich werde ihn morgen anrufen, um mit ihm einen Termin für uns vier zu vereinbaren. Ich würde es begrüßen, wenn die Verhandlung bei mir stattfinden könnte, weil ich meinen Verhandlungsraum so eingerichtet habe, dass es gar nicht erst zum Streit kommen kann.“ „Da bin ich aber gespannt!“ „Alles klar?“ „Alles klar!“ „Noch was: Es freut mich übrigens sehr, dass ich Sie als Anwalt beraten darf. Wenn Sie nichts dagegen haben, lasse ich Ihnen morgen meine Vollmacht zukommen, die Sie mir bitte unterschrieben zurückschicken! Das Gleiche gilt für den Mandatsvertrag. Lesen Sie ihn in Ruhe und wenn Sie Fragen haben, melden Sie sich. Einverstanden?“ 167

Teil 4

Vorbereitungsphase

„Einverstanden!“ „Fräulein, die Rechnung bitte!“ „Nein, Dr. Cooper. Diese Biere bezahle ich meinem Anwalt!“

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Teil 5 Die Verhandlungsphase: Sieben Schritte auf dem Weg zu einer kooperativen Lösung 1. Was wissen wir bis jetzt? Dr. Austin Cooper hat sich, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, mit seinem Klienten Sacksberger sehr intensiv und zielgerichtet auf das bevorstehende Treffen mit Mehltau und Dr. Attila von Streidt vorbereitet: Er weiß, was Sacksberger will, und er ist bereit, seinen Klienten bei der Erreichung seines Zieles zu unterstützen. Er wird ihm helfen, eine Form der Vermarktung des Industrierapses zu finden, bei welcher sein Mandant sich mehr respektiert fühlt. Diese Zielklarheit, dieses Wissen, worum es eigentlich geht, diese Kenntnis um die versteckte Absicht hinter den vordergründigen Forderungen sind von unschätzbarem Wert: Sie geben Sacksberger die Möglichkeit, seinen Zielrahmen so offen wie möglich zu gestalten. Dadurch ist er sehr flexibel geworden und hat mit Hilfe des Brainstormings auch andere Möglichkeiten entdeckt, sich besser respektiert zu fühlen als dadurch, dass er einfach mehr Geld von Mehltau fordert: Besser respektiert zu werden, könnte sich auch darin äußern, dass Mehltau ein Darlehen von ihm annimmt, dass er den Raps nach einer seiner Töchter benennt oder dass sein Sohn Wendelin den Vertrieb übernimmt. Weiter, und das ist nach unseren Erfahrungen noch viel wichtiger, hat er sich im Vorgespräch auch in die Position von Mehltau versetzen können und so herausgefunden, was dessen positive Absicht sein könnte. Er hat dessen Sicherheitsbedürfnis erkannt und konnte dies entsprechend würdigen. Damit hat er einen ganz entscheidenden Schritt in Richtung einer kooperativen Lösung getan: Er hat das Feindbild, das er von Mehltau aufgebaut hatte, aufgegeben! Damit hat er die Position des Rächers verlassen. Er wird in der bevorstehenden Verhandlung viel weniger aggressiv und destruktiv auftreten. Dadurch, dass er sich zudem bereits vorbereitend überlegt hat, welche Lösungsmöglichkeiten er Mehltau vorschlagen könnte, hat er sich weiter innerlich mit seinem Partner ausgesöhnt. Indem er ferner herausgefunden hat, dass es etwas geben könnte, an dessen Entwicklung sie beide Freude hätten, nämlich das Betreiben einer eigenen Brauereigaststätte, hat ihn fast allen Kummer, den er mit Mehltau hatte, vergessen lassen. Er geht deshalb locker, entspannt und mit freudiger Erwartung in die Verhandlung. Können Sie sich vorstellen, dass eine solche Verhandlung einen anderen Ausgang nehmen wird als eine, in die er im übertragenen Sinne mit aufgeklapptem Messer oder durchgeladener MP in der Aktentasche gegangen wäre? 169

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Verhandlungsphase

Die Verhandlungsphase

schrecklichste Taten

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Eine Verhandlung etwa, zu der er als Vorbereitung Beweisstücke zusammengetragen hätte für seine Behauptung, dass der Industrieraps seine private Entwicklung ist. Eine Verhandlung, die er auch dadurch vorbereitet hätte, dass er die neue Sorte bereits auf sich oder eine neue Gesellschaft eingetragen hätte? Eine Verhandlung, die von beiden Anwälten dadurch „vorgespurt“ worden wäre, dass sie in formvollendeter juristischer Kunstfertigkeit die „Schuldfrage“ („Wer schuldet wem was aus welchem Rechtsgrund?“) zweifach „endgültig“ geklärt hätten? Nichts von alledem hat Dr. Cooper getan, und trotzdem kann er sehr gelassen in die Verhandlung gehen. Warum? Weil er weiß, was sein Klient will, und weil er weiß, dass sein Klient mit seiner kooperativen Vorgehensweise einverstanden ist. Beide wollen sie das Gleiche, und das ist, wie Sie sicher selbst wissen, schon sehr, sehr viel. Sehen wir nun einmal, wie Dr. Cooper die Verhandlung führt. Er wird sich dabei abermals an die Schritte halten, denen er schon in der Vorbereitungsphase gefolgt ist:

2. Erster Schritt: Verhandeln Sie die Vorgehensweise: Vereinbaren Sie Gegenstand und Ablauf der Verhandlung! Der erste wichtige Schritt zu einer erfolgreichen Verhandlungsführung besteht darin, dass sich die Parteien über den Gegenstand und das Procedere der Verhandlung einigen und festlegen, was sie jeweils in der Verhandlung erreichen möchten. Dr. Cooper hat deshalb im Einverständnis mit Herrn Sacksberger mit Dr. von Streidt Kontakt aufgenommen und hat mit ihm einen Termin ausgemacht. Da Dr. Cooper noch nicht sehr lange in Bad Friedlingen praktiziert, hat er ihn in seine Kanzlei eingeladen. Dr. von Streidt hat freudig angenommen und die Möglichkeit begrüßt, ihn, von dem er schon sehr viel Gutes gehört hat, endlich einmal persönlich kennenzulernen. Er hat aber auch gleich betont, dass die Ausgangslage sehr ernst sei. Mehltau sei sehr, sehr wütend. Er fühle sich von Sacksberger ausgenommen und möchte die Geschäftsverbindung am liebsten beenden. Dies sei keine sehr schöne Ausgangslage. „Ich verstehe. Ihr Klient ist also sehr wütend, fühlt sich von Herrn Sacksberger ausgenommen und möchte die Geschäftsverbindung am liebsten beenden. Bei dieser Ausgangslage ist es meines Erachtens sinnvoll, wenn wir in den Verhandlungen nicht noch mehr Öl in die Flammen gießen und den Unmut weiter schüren. Wir sollten uns von Anfang an überlegen, was die eigentlichen Ziele unserer Mandanten sind, um zu versuchen, Mittel und Wege zu finden, dass beide ihre Ziele verwirklichen können. Was meinen Sie dazu, Herr Kollege?“ „Einverstanden, einverstanden, Herr Kollege. Was das Ziel meines Mandanten ist, kann ich Ihnen schon jetzt verraten: Er will seinen Anspruch auf 50 % am Ertrag des Yellow Gold-Industrierapses verwirklicht sehen, das ist 171

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alles. Er verlangt ganz einfach vertragsgemäßes Handeln Ihres Klienten. Pacta sunt servanda. Das ist alles.“ „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollege, verlangt Herr Mehltau, dass der Ertrag des Yellow Gold-Industrierapses im Verhältnis 1 : 1 geteilt wird. Ist das richtig?“ „Natürlich, das gebe ich Ihnen auch gerne schriftlich. Eine Aufteilung des Ertrages in einem anderen Verhältnis kommt für meinen Klienten nicht in Frage. Die Vorstellungen Ihres Mandanten, die Erträge im Verhältnis 9 : 1 zu teilen, entbehren jeder Rechtsgrundlage. Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Mehr verlangt mein Mandant nicht.“ „Diese Art der Austragung des Streites auf der Ebene der Forderungen ist eine Möglichkeit des Vorgehens. Sie hat sicher Vorteile. Eine andere Vorgehensweise wäre es, wenn wir uns überlegen, welches eigentlich die Ziele unserer Mandanten sind. Ich habe darüber sehr eingehend mit meinem Klienten gesprochen und festgestellt, dass es ihm eigentlich gar nicht so sehr ums Geld geht. Ihm geht es vielmehr um die Tatsache, dass er für seine erfinderischen Leistungen mehr Anerkennung haben möchte. Eine Möglichkeit, sich diese Anerkennung zu verschaffen, kann beispielsweise darin bestehen, mehr Geld für seine Leistung einzufordern. So hat er sich gegenüber Ihrem Mandanten geäußert. In unseren Gesprächen hat Herr Sacksberger noch andere Möglichkeiten entdeckt, bei deren Verwirklichung er sich ebenfalls besser akzeptiert fühlen würde. Eine andere Form der Anerkennung bestünde beispielsweise darin, dass der Vertrieb des neuen Industrierapses über die Firma des Sohnes meines Klienten organisiert werden könnte oder dass Ihr Klient einwilligt, die neue Sorte nach der Tochter meines Klienten zu nennen.“ „Das klingt sehr interessant, Herr Kollege. Heißt das, dass Ihr Klient also von der absurden Behauptung, 90 % des Ertrages für sich zu beanspruchen, abgekommen ist?“ „Dies könnte es vielleicht heißen. Aber es heißt nicht nur das. Es heißt vor allem, dass meinem Klienten an einer weiteren Zusammenarbeit mit Herrn Mehltau sehr gelegen ist. Wichtig ist ihm dabei, dass die Zusammenarbeit in ihrer Gesamtheit neu gewürdigt und den heutigen Verhältnissen angepasst wird. Deshalb auch mein Vorschlag: Lassen Sie unsere Klienten ihre persönlichen Ziele finden und austauschen. Daraus lassen sich vielleicht neue Wege der Zusammenarbeit finden, die noch vorteilhafter sind als diejenigen, die heute schon beschritten werden. Denn wie sagte Seneca, unser großer römischer Kollege: „Mich interessiert nicht, woher die Dinge kommen, sondern wohin sie gehen!“ „Seneca, ja Seneca schätze ich sehr. Diesen Spruch kenne ich allerdings noch nicht. Wie haben Sie gesagt? Mich interessiert nicht, woher die Dinge kommen, sondern wie sie begründet sind? Sehr interessant. Das werde ich mir gleich notieren.“ 172

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„… sondern wohin sie gehen“, korrigiert Dr. Cooper: „Eine schöne Variante dieser Idee hat auch Churchill einmal formuliert: Wenn die Gegenwart mit der Vergangenheit streitet, werden wir die Zukunft verlieren.“ „Sie sind aber ein Sprücheklopfer, Herr Kollege! Das finde ich gut. Ihre Ideen sind vielleicht gar nicht so schlecht, obwohl sie mir im Moment noch ein bisschen fremd vorkommen. Wie schlagen Sie also vor, dass wir die Verhandlungen führen?“ „Nach meiner Erfahrung hat sich folgende Vorgehensweise bewährt: 1. Wir lassen die Klienten zuerst einmal die bestehende Zusammenarbeit würdigen. 2. In einem zweiten Schritt sagt dann jeder, welches seine persönlichen Interessen sind. 3. Der dritte Schritt besteht darin, aufzuzeigen, worin gemeinsame Interessen bestehen könnten. 4. In einem vierten Schritt suchen dann beide Parteien nach Möglichkeiten, wie sie ihre persönlichen Interessen und die gemeinsamen Interessen verwirklichen können. 5. Im letzten Schritt werden die Ergebnisse festgehalten und die Schritte zur Verwirklichung bestimmt. Wichtig bei dieser Vorgehensweise ist, dass alles, was gesagt wird, bloße Vorschläge sind, die erst rechtlich verbindlich werden, wenn beide ihnen zugestimmt haben. Könnten Sie sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklären?“ „Sie ist mir zwar sehr fremd, aber ich habe nichts dagegen einzuwenden. Würden Sie es aber nicht als hilfreich ansehen, wenn wir beide in einem kleinen Schriftwechsel die Ansprüche unserer Mandanten festhalten und begründen würden? Dann wüssten wir gleich von Anfang an, auf welchem Schlachtfeld wir kämpfen werden.“ „Dies ist eine Möglichkeit, die oft praktiziert wird. Eine andere Möglichkeit des Vorgehens besteht darin, nach den Interessen hinter den Forderungen zu fragen und Lösungen von dieser Ebene aus zu finden. Ich ziehe in diesem Falle die zweite Möglichkeit vor.“ „Wenn Sie meinen, gut. Ich freue mich auf jeden Fall sehr, Sie am 7. Juni endlich kennenzulernen. Auf Wiederhören, Herr Cooper!“ „Bis am 7. Juni, 9:00 Uhr bei mir. Auf Wiederhören.“ Soviel zum Gespräch zwischen den beiden Kollegen. Wenn Sie in der Kunst des kooperativen Verhandelns erfolgreich sein wollen, ist es von elementarer Bedeutung, die Verhandlung klar zu strukturieren.

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Der Erfolg dieser von uns vorgeschlagenen Methode liegt darin, dass Sie durch eine klar strukturierte Methode des Vorgehens 1 vermeiden, überhaupt in das gegenseitige Stellen und Begründen von Forderungen zu verfallen, das letztendlich immer vor dem Richter endet, der entscheidet, wer gewinnt und wer verliert. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich vor Jahren einen Scheidungsfall übernahm. Nach einem längeren Gespräch mit meinem Mandanten waren wir uns einig, dass wir die Scheidung kooperativ über die Bühne bringen wollten. Deshalb wollte ich als Erstes mit dem Anwalt der Gegenseite Kontakt aufnehmen, um ihm das Angebot einer kooperativen Scheidung zu unterbreiten. Als am nächsten Tag das erste „böse“ Schreiben der Gegenseite ins Haus flatterte, hielt ich den Zeitpunkt für gekommen. Ich rief meinen Kollegen an, dankte ihm für seinen Brief und teilte ihm mit, dass es nun genau zwei Möglichkeiten des Vorgehens geben würde: – Ich könnte seinen Brief mit meinem Mandanten besprechen und selbstverständlich alle Behauptungen, die er im Namen seiner Partei aufgestellt hatte, entkräften, meinerseits Behauptungen aufstellen, das Verhalten seiner Mandantin rügen und mit verschiedenen Maßnahmen drohen. Er seinerseits könnte dann meinen Brief wieder beantworten und mit größerem Geschütz zurückschießen. So könnten wir in kürzester Zeit den Streit eskalieren. – Andererseits könnten wir aber auch das Hin- und Herschreiben von Briefen lassen, uns und unsere Klienten mäßigen und uns aufs Wesentliche konzentrieren. Das Wesentliche in diesem Fall sei wohl, da die Ehe nicht mehr zu retten sei, sie so elegant wie möglich aufzulösen. Ich würde zur zweiten Alternative tendieren, weil sie Lösungen suche, statt Probleme zu schaffen. Mein Kollege zögerte etwas, dankte mir dann für die Offenheit und versicherte mir, dass er diese Vorgehensweise ebenfalls vorziehe. Wir haben dann den Fall tatsächlich sehr elegant lösen können und beide Parteien begrüßten am Schluss nicht nur die erzielte Lösung, sondern auch die moderaten Honorarnoten. Dies wiederum zahlte sich dadurch aus, dass uns beide Parteien neue Klienten ins Haus brachten. Kooperation lohnt sich, man muss nur den Mut haben, sie vorzuschlagen. Das ist einfach, wenn beide Anwälte mit der Methode vertraut sind. Schwieriger wird es aber, wenn der Gegenanwalt streng nach der juristischen Methode vorgehen will und gleich die Forderungen seiner Mandantschaft präsentiert. Etwa so, wie es Attila von Streidt getan hat. Wie hat Dr. Cooper darauf reagiert? Lassen Sie uns einmal sein Vorgehen beschreiben: 1 Roger Fisher nennt seinen „Getting-to-Yes“-Prozess nicht umsonst „structured thinking“.

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1. Der erste Schritt eines „lehrbuchmäßigen“ Vorgehens besteht darin, dass die bisherige Zusammenarbeit gewürdigt wird. Aus irgendeinem Grund, den wir hier nicht weiter verfolgen wollen, hat Dr. Cooper an dieser Stelle darauf verzichtet. Und das ist gut so, denn im Leben läuft eben vieles anders ab, als es im Lehrbuch steht. Nun aber zurück zum „Idealablauf“: Dadurch, dass wir unserem Gegenüber mitteilen, welche Punkte der Zusammenarbeit gut (nicht: schlecht!) laufen oder gelaufen sind, fordern wir unser Gegenüber auf, es uns gleichzutun und den Blick von der Schattenseite der Ereignisse auf die Sonnenseite zu lenken. Was tun Sie aber, wenn keiner der Klienten irgendetwas an der Zusammenarbeit gut findet? Dann können Sie beispielsweise ziemlich provozierend fragen: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gibt es überhaupt nichts Gutes an der bisherigen Zusammenarbeit. Alles, jede Sekunde, jeder Schritt, jedes Produkt, das sie zusammen produziert oder entwickelt haben, ist einfach schlecht. Stimmt das?“ Eine solche überspitzte Behauptung kann natürlich keine der Parteien gelten lassen, und diese beginnen dann, ihre Zusammenarbeit gegen Ihren massiven Angriff zu verteidigen. Der Problemrahmen weicht und macht langsam dem Lösungsrahmen Platz. 2. Dr. Cooper hat, als Dr. von Streidt die Ausgangslage präsentiert hat, sehr genau zugehört und versucht, sich in die Sichtweise des Gegenanwaltes, seine „Landkarte“, einzuhören, und hat ihm dann das, was er verstanden hat, zurückgetragen: „Ich verstehe. Ihr Klient ist also sehr wütend, fühlt sich von Herrn Sacksberger ausgenommen und möchte die Geschäftsverbindung am liebsten beenden.“ Dieses „Backtracking“ hat er mehrere Male gemacht. Wie wirkt das? Dr. von Streidt hört einen anderen Menschen genau das sagen, woran er selbst glaubt. Dadurch fühlt er sich verstanden und beginnt, seinem Kollegen zu vertrauen. 3. Dr. Cooper verlässt die Ebene der Forderungen und geht auf die Ebene der Interessen. Er trennt Absicht von Verhalten (oder wie Fisher/Ury/Patton es nennen: Position von Interesse) und folgt damit dem schon mehrfach erwähnten Satz Einsteins, dass ein Problem nie auf der gleichen Ebene gelöst werden könne, auf der es entstanden ist: „Bei dieser Ausgangslage ist es meines Erachtens sinnvoll, wenn wir nicht noch mehr Öl in die Flammen gießen und den Unmut weiter schüren, sondern uns von Anfang an überlegen, was die eigentlichen Ziele unserer Mandanten sind …“ 4. Dr. von Streidt kennt den Unterschied zwischen Absicht und Verhalten noch nicht. In seinem juristischen Weltmodell ist es selbstverständlich, dass die eigentliche Absicht seines Klienten in der Durchsetzung des Anspruchs liegt. „Was das Ziel meines Mandanten ist, kann ich Ihnen schon jetzt ver175

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raten: Er will seinen Anspruch auf 50 % am Ertrag des Yellow Gold-Industrierapses verwirklicht sehen.“ Hier muss nun Dr. Cooper sehr behutsam sein, wenn er Dr. von Streidt auf den „kooperativen Weg“ bringen will. Vor allem darf er nicht belehrend sein (denn einem Lehrer wird garantiert widersprochen), sondern muss das aufgebaute Vertrauen weiter festigen, um so Dr. von Streidt langsam zum neuen Lösungsansatz hinüberzuführen. Dies tut Dr. Cooper meisterhaft, indem er wiederholt, was sein Kollege fordert, und dann auf die Metaebene wechselt, d.h. auf die Art und Weise der Verhandlungsführung zu sprechen kommt. Dabei würdigt er durchaus die juristische Methode und stellt seine Methode ganz einfach gleichberechtigt daneben. Auch hier widerspricht er nicht, sondern erweitert einfach die Möglichkeiten des Vorgehens: „Diese Art der Austragung des Streites auf der Ebene der Forderungen ist eine Möglichkeit des Vorgehens. Sie hat sicher Vorteile. Eine andere Vorgehensweise wäre etwa …“ 5. Nun folgt die Darstellung der Ziele. Dr. Cooper entscheidet sich, diesen Punkt von Anfang an ganz offen zu diskutieren. Er teilt seinem Kollegen mit, dass es seinem Klienten darum geht, mehr Anerkennung für seine Leistungen zu erhalten, und lässt ihn wissen, welch andere Möglichkeiten sein Mandant noch sehen würde, wie Anerkennung sonst noch verwirklicht werden könnte: „… Vertrieb über Sohn … Benennung nach Tochter …“ Soll man tatsächlich von Anfang an sagen, worum es einem wirklich geht? Wir sind der festen Überzeugung, dass es sich lohnt; ja, dass es nur diesen Weg gibt. Spielen wir Verstecken, haben wir nämlich unbewusst immer noch das Gewinner-/Verlierer-Spiel im Kopf und denken: „Ich sag ihm jetzt nicht, worum es meinem Mandanten wirklich geht. Damit bewahre ich mir einen Joker, den ich dann bei Bedarf ausspielen kann …“ Es gibt auch Verhandler, die meinen, es sei besonders wichtig, die andere Seite im Unklaren darüber zu lassen, was man eigentlich will. Wovor haben sie eigentlich Angst? Etwa davor, der andere könnte so sein, wie man selbst ist? Weil man befürchtet, der andere könnte einem auch nicht sagen, was er will? Diese Verhandler erinnern uns ein wenig an die Menschen, die immer (auch bei Sonnenschein) mit einem Regenschirm herumlaufen, denn es könnte ja einmal regnen … Den erfolgreichen kooperativen Verhandler erkennt man daran, dass er von Anfang an Klartext spricht. Klartext sprechen heißt aber nicht, dass man restlos alles sagt. Das Angebot, der Gegenpartei ein Darlehen zu gewähren, behält Dr. Cooper für sich. Warum? Weil Herr Sacksberger ja bloß vermutet, dass Mehltau billiges Geld brauchen könnte. Auch wenn er diese Information dadurch erhalten hat, dass er sich in Mehltau hineinversetzt hat, bleibt es eine Vermutung. Es ist der Versuch, die Landkarte von Mehltau abzubilden. Wie findet man aber heraus, ob die Abbildung stimmt? Ganz einfach: indem man fragt! Diese Frage will er sich aber für die Verhandlung selbst vorbehalten. 176

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6. Nun kommt Dr. Cooper auf die eigentliche Verhandlungsführung zu sprechen. Dieser Punkt ist in der Praxis extrem wichtig. Wenn die Agenda nicht klar festgelegt wird, kommt ganz einfach das heraus, was in solchen Fällen herauskommt: Der eine Anwalt proklamiert die Forderungen seines Mandanten und der andere antwortet mit den Forderungen seines Klienten. Die Stellungen sind bezogen. Dann werden die Klingen in Form von Begründungen gekreuzt. Das geht dann meist stundenlang, und das Einzige, was man danach weiß, ist, dass der Fall kompliziert, mit Sicherheit nicht einfach zu lösen ist und sicher für beide Parteien sehr teuer wird. Vielleicht kommt es etwa so heraus, wie bei den beiden Parteien, die sich tagelang mit ihren Anwälten um die Hinterlassenschaft des verstorbenen Vaters gestritten hatten und dann ganz stolz eine erste Teileinigung bekannt gaben: Man habe sich darauf geeinigt, den Herzschrittmacher des Toten dem Roten Kreuz zu spenden. Was lernen wir daraus? Gar nicht erst einsteigen in diese Denkweise! Das ist die beste Lösung! Der Lösungsrahmen wird weiter verstärkt, wenn Sie die Verhandlung nach dem Modell führen, das Dr. Cooper vorgeschlagen hat. Lassen Sie uns dieses Modell noch einmal zusammenfassen: Z usammenarbeit würdigen I nteressen herausfinden E ntdecken der gemeinsamen Vision L ösungsmöglichlichkeiten finden, welche die Interessen und die Vision abdecken E rgebnisse festlegen ZIELE heißt also das Zauberwort! Ziele statt Ansprüche! Ziele statt Probleme! Damit ist fürs Erste die Verhandlung ausreichend vorbereitet worden. Nach unseren Erfahrungen müssen aber während der Verhandlung selbst weitere Steuerungsmechanismen eingebaut werden, um zu erreichen, dass die Verhandlung auf dem Lösungsweg bleibt und nicht zu einer Verhinderung von Lösungen wird. Dazu später mehr. Leiten wir unsere Aufmerksamkeit jetzt wieder hinüber auf das Zusammentreffen der durch ihre Anwälte verstärkten Parteien Mehltau und Sacksberger in der Kanzlei von Dr. Austin Cooper.

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Die Einstimmung

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© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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3. Zweiter Schritt: Bauen Sie Vertrauen auf: Schaffen Sie eine gute Beziehung zum Verhandlungspartner! 3.1 Die Einstimmung Es ist Donnerstag, halb neun. Herr Sacksberger klingelt und Dr. Cooper öffnet ihm persönlich. Cooper trägt einen feinen Anzug von „Ermenegildo Zegna“ und auch Sacksberger gibt sich gediegen: „Brook’s Brothers“-Anzug. Ein Teil, das er vor vielen Jahren in den USA gekauft hatte und das ihm, zu seinem großen Erstaunen, immer noch passt. Welch ein Unterschied, die beiden Herren nun in ihren Anzügen zu sehen, wenn man vergleicht, wie sie sich noch bei ihrer ersten Besprechung gegenüberstanden. Warum diese Verwandlung? Ganz einfach, um Vertrauen aufzubauen. Um zu zeigen, dass sie vom gleichen Stamm sind wie die beiden Gäste, die sie in dreißig Minuten erwarten. Cooper hatte Sacksberger vor einigen Tagen angerufen, um noch einige Fragen zu klären. Unter anderem wollte er auch wissen, wie Mehltau und von Streidt aufzutreten pflegen. „Immer piekfein!“ meinte Sacksberger. „Gut, dann werden wir uns synchronisieren, Herr Sacksberger! Anzugpflicht: Nur das Beste ist gut genug!“ Weiter erfuhr er im Gespräch auch, dass Sacksberger mit Süßbier Kontakt aufgenommen und da schon ein bisschen vorsondiert hatte. Er erzählte ihm auch, dass er von Süßbier eine Kiste des neuen, alkoholfreien Bad Friedlinger Biers, das nächsten Monat in Produktion gehen und „Friedlinger Friedenstrunk“ heißen soll, erhalten hatte. „Wunderbar“, meinte Cooper, „bringen Sie doch einige Flaschen mit, dann machen wir zu Beginn der Verhandlung eine Bierprobe. Das kann nicht schaden. Die Indianer rauchen zu Beginn der Verhandlungen die Friedenspfeife, Araber machen eine Teezeremonie, und wir trinken den ‚Friedenstrunk‘. Das gefällt mir.“ Unterbrechen wir hier einmal. Ist es nicht Anbiederung, wenn man sich so auf eine Verhandlung vorbereitet? Ist es nicht unwürdig? Sollte man nicht viel lieber „ehrlich und schnörkellos“ auf den Punkt kommen und dem anderen von Anfang an gleich zeigen, was Sache ist? Wir meinen nicht. Wir sind der Meinung, dass jeder Schritt, der in einer schwierigen Verhandlung zur Versöhnung der Parteien führen kann, getan werden sollte. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine langwierige Auseinandersetzung in einer gesellschaftsrechtlichen Angelegenheit, bei der die Gegenseite von einem Rechtsanwalt vertreten wurde, der uns zunächst sehr zugeknöpft und traditionell juristisch, also anspruchsorientiert denkend, erschien. Nachdem wir, wie bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten üblich, sechs Verfahren einschließlich strafrechtlicher Anzeigen eingeleitet hatten, verabredeten wir uns für den Versuch eines Vergleichsgespräches, das wir ohne unsere Parteien durchführen wollten, in seiner Kanzlei. Das Erstaun179

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liche geschah: Der Kollege offenbarte sich mir als ein versierter Kenner klassischer Musik und erzählte mir, dass er einen großen Teil seiner Arbeit beim Klang von Mahler’schen Symphonien erledigen würde. Wir unterhielten uns nun lange über das Wesen der Musik Mahlers, versuchten das Wesen dessen untreuer Frau zu ergründen und tranken dazu grünen Tee. Dabei entspannte sich die Situation immer mehr. Wir begannen Sympathie füreinander zu entwickeln. Beflügelt durch das gute Gespräch am Anfang unseres Zusammentreffens vereinbarten wir, dass wir uns gegeneinander nicht als Legionäre einsetzen lassen würden. Das heißt, wir würden selbstverständlich in der Sache selbst sachlich und hart verhandeln, nicht aber im Hinblick auf die Person des anderen. Seit diesem Tag verbindet mich mit diesem Kollegen, den ich zugegebenermaßen völlig falsch eingeschätzt hatte, große Sympathie und das Bedauern, dass wir bisher nicht mehr schwierige Fälle miteinander lösen konnten. So viel zu der Einstimmung auf die Verhandlung oder: Was gute Synchronisation bewirken kann … 3.2 Der Besprechungsort Erinnern wir uns an dieser Stelle noch einmal an die Tatsache, dass der Erfolg oder Misserfolg eines Gespräches zwischen zwei Menschen nur zu 8 % von dem bestimmt wird, WAS wir sagen, aber zu 92 % von dem, WIE wir es sagen. Das WIE, die Form scheint also mindestens zehnmal wichtiger zu sein als das WAS, die Sache. Zum WIE und somit zur nonverbalen Kommunikation gehört ebenfalls die Sitzordnung, die Art und Weise, wie sich die „Gegner“ gegenübersitzen. Welche Art der „Schlachtaufstellung“ ist heute üblich? Meistens sieht es etwa so aus: Die Verhandlung findet im so genannten Besprechungszimmer statt, das Anwälte oft mit Kunst an der Wand und einem massiven, schweren Verhandlungstisch geschmückt haben. Dieser Tisch ist oft riesig, rechteckig und eichern. An den beiden Längsseiten stehen dann drei oder vier Designerstühle, auf denen die Parteien, Auge in Auge mit dem Gegner, Platz nehmen und gleich als Zeichen ihrer Macht schwere Aktenkoffer parallel zur Tischkante platzieren, schwungvoll aufschnappen lassen, extrem wichtige Unterlagen herausholen und diese vor sich auftürmen. Hinter diesem Schutzwall sichtbarer Kompetenz gehen dann alle in Stellung, zücken den Montblanc-Füller, und die „Verhandlung“ kann losgehen. Wir haben sicher hunderte solcher „Schlachtaufstellungen“ miterlebt, bis uns bewusst wurde, was wir da eigentlich tun: Wir tun nichts anderes, als die Haltung von Menschen einzunehmen, die gegeneinander kämpfen wollen! Wir stehen uns wie Schwertkämpfer gegen180

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über, präsentieren wie Duellanten unsere Waffen und konzentrieren uns wie Boxer auf das Weiße in den Augen unseres „Gegners“. Diese Stellung ist nichts anderes als die Stellung, die Menschen immer einnehmen, wenn sie nicht mehr verhandeln, sondern kämpfen wollen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Diese Kampfstellung löst biochemisch die Vorgänge aus, die im Kampfgetümmel von entscheidender Bedeutung sind: – Die Nebennieren schütten Adrenalin aus. – Die Muskeln spannen sich an und werden beim kleinsten gegnerischen Angriffssignal den Körper in Richtung Angriff oder Flucht steuern. – Das Blut verschwindet aus dem Kopf und pulsiert in den Muskeln, wo es zum Führen des Schwertes besser gebraucht wird als im Kopf zum Denken. Unter diesen biochemischen Bedingungen wird dann verhandelt, und man wundert sich anschließend, warum auch heute wieder nichts Konstruktives dabei herausgeschaut hat. Wenn die verhandlungswilligen Parteien in Schlachtreihen Stellung beziehen, braucht sich daher niemand zu wundern, wenn die Verhandlung tatsächlich in einem Gemetzel endet. Vertrauen lässt sich damit jedenfalls nicht aufbauen. Wie könnte eine „Verhandlungsaufstellung“ aber anders aussehen? Lassen wir dies doch Dr. Cooper erklären: „So, Herr Sacksberger, nun möchte ich Ihnen einmal mein Verhandlungszimmer zeigen. Bitte kommen Sie mit.“ Cooper führt Sacksberger in einen großen, fast leeren Raum, in dem sich, zu seiner großen Verwunderung, kein massiveichener Prunktisch befindet, sondern in einer Ecke eine Sitzgruppe aus verschiedenen drehbaren Ledersesseln, daneben ein runder Tisch. An einer Wandseite stehen Flipcharts und Metaplanwände. An der anderen Wandseite hängt ein großes Whiteboard. Das Besprechungszimmer vermittelt den Eindruck, dass hier mit vielen sinnvollen Utensilien kreativ gearbeitet werden soll. „Hier in der Sitzgruppe werden wir mit der Besprechung, d.h. mit der Bierprobe, beginnen. Die Sitzgruppe ist bewusst halbkreisförmig angeordnet. So hat niemand ein direktes Gegenüber und die in Verhandlungen oft übliche Schlachthaltung kommt gar nicht erst auf. Wenn wir dann die Aufwärmrunde beendet haben, würde ich es vorziehen, dass wir an den runden Tisch gehen und da mit der Verhandlung beginnen. Noch viel lieber wäre es mir, wenn wir gleich alle zu den Flipcharts gehen und unsere Vorstellungen über die zukünftige Zusammenarbeit dort visualisieren könnten. Dies hat den Vorteil, dass wir stehen, immer in Bewegung sind und somit nicht erstarren können. Wo keine körperliche Erstarrung möglich ist, ist auch eine geistige Erstarrung nicht wahrscheinlich. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, die Flipcharts im Laufe der Besprechung zu benutzen. Ist das in Ihrem Sinne, Herr Sacksberger?“ 181

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„Aber sicher.“ „Gut, dann lassen Sie mich noch einmal sagen, worauf es bei der kooperativen Verhandlung ankommt: Das Wichtigste ist, dass wir die Ebene der Forderungen verlassen und auf der Ebene der Interessen interagieren. Dazu bitte ich Sie, dass Sie Ihre Interessen offen darlegen. Vorher ist es wichtig, dass Sie die schönen Seiten Ihrer bisherigen Zusammenarbeit hervorheben. Damit stimmen Sie sich selbst und Herrn Mehltau positiv. Dann präsentieren Sie Ihre Ziele und die gemeinsamen Interessen. Aus diesen heraus werden wir dann Lösungen generieren. Ist das in Ordnung?“ „No problem!“ „Okay, dann kann es ja losgehen!“ 3.3 Die Eröffnungsphase Kaum hat Dr. Cooper den Satz zu Ende gesprochen, ertönt auch schon die Glocke. „Gehen wir unsere Gäste holen“, meint Cooper und geht mit seinem Klienten zur Tür. „Guten Tag, Herr Mehltau, guten Tag, Herr Kollege! Es freut mich sehr, dass ich Sie heute in meinen Räumen begrüßen darf.“ „Guten Tag, Herr Kollege, guten Tag, Herr Sacksberger! Die Freude ist ganz meinerseits, allerdings wäre sie noch größer, wenn wir ein anderes Tagesthema hätten.“ „Guten Tag, Herr Doktor, guten Tag, Johann-Jakob. Ich würde das Ganze nicht so pessimistisch sehen, vielleicht ist dies ja der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, erwidert Sacksberger. „Sie gehen zu viel ins Kino, Herr Sacksberger!“ erwidert von Streidt. Nachdem noch einige Minuten weiter Smalltalk ausgetauscht wurde, führt Dr. Cooper die beiden Gäste in sein Besprechungszimmer. „Bevor wir mit den Verhandlungen beginnen, habe ich noch eine kleine Überraschung: Herr Sacksberger hat gestern von Herrn Süßbier einige Proben ‚Friedenstrunk‘ erhalten, der offiziell erst nächsten Monat in Produktion geht. Wir haben die Flaschen kaltgestellt, und ich schlage vor, dass wir die Verhandlung mit einer kleinen Bierprobe beginnen.“ „Herr Kollege, welch prächtige Idee: Bad Friedlinger Friedenstrunk! Auf welche Ideen die Leute immer wieder kommen. Das war sicher der Seelig mit seiner Werbeagentur. Ich bin ja gespannt, wie es schmeckt. Ist es ein Pils, ein Weißbier, ein Schwarzbier?“ „Jawohl, es war der Dr. Seelig,“ antwortet Sacksberger. „Der Friedenstrunk ist ein alkoholfreies Schwarzbier, das nach einem neuen Brauverfahren ge182

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braut wird, so ähnlich wie der große Verkaufshit der letzten Jahre, das Clausthaler. Aber lassen Sie uns nicht länger bloß darüber sprechen, lassen Sie uns einschenken und auf gute Verhandlungsergebnisse anstoßen!“ Bald schäumt das Bier in den Gläsern, man prostet sich zu und fachsimpelt über gute Biere, ausgezeichnete Biere und das beste aller Biere, das Bad Friedlinger Bier. Lassen wir die Männer trinken, lehnen wir uns einmal zurück und überlegen wir uns noch einmal, was da gerade geschieht: Wir haben immer wieder betont, wie wichtig Synchronisation, das Herstellen von Rapport, bei einem Gespräch ist. Wenn Dr. Cooper beim Spazieren im Stadtpark den Schritt von Herrn Sacksberger annimmt oder wenn er die Argumentation seines Kollegen zusammenfasst, dann synchronisiert er seine Welt mit der Welt seines Gegenübers. Es entsteht Gleichklang. Was zwischen zwei Gesprächspartnern angewendet werden kann, wirkt auch bei mehreren Verhandlungspartnern. Die eindrücklichste Form einer solchen Synchronisation habe ich einmal bei japanischen Geschäftsleuten erlebt, die vor der Verhandlung eine Viertelstunde lang im gleichen Rhythmus geatmet haben. Diese Form der mechanischen Synchronisierung ist bei uns im Geschäftsleben unüblich. Wir kennen einzig die visuelle Synchronisierung, wie etwa den Krawattenzwang in den Chefetagen, die Richterroben und Anwaltstalare in den Gerichtssälen oder die Uniformen des Verkaufspersonals, wie etwa bei McDonald’s oder Palmers. Direkte mechanische Synchronisierung kennen wir vom Militär, wenn wir beim Exerzieren im Gleichschritt marschieren und Soldatenlieder singen. Ein klassischer Ort der Synchronisation ist das Fußballstadion. Dorthin begeben wir uns ausgewiesen mit den „Insignien“ unserer Mannschaft (Mütze, Trikot und Schal, mindestens) und wenn uns Leute mit der „gegnerischen Zugehörigkeit“ begegnen, gibt’s einen auf die Nase. Im Stadion erfasst uns La Ola, die Welle, und vor Länderspielen wird gemeinsam die Nationalhymne gesungen oder bei Bundesligaspielen einfach „Bayern München, Stern des Südens“ oder ähnliche Gesänge. Ist ein Tor für die Heimmannschaft gefallen, nennt der Stadionsprecher den Vornamen des Torschützen und zigtausend Kehlen verkünden in höchster Verzückung den Nachnamen. Für solche Erlebnisse mussten Männer früher in den Krieg ziehen, wie schön und wie viel weniger grausam ist da eine Synchronisation beim Fußball … Synchronisation erleben wir auch in der Jazzband, wenn wir mit anderen Musikern im selben Rhythmus grooven. Auch unsere Lehrer haben uns synchronisiert, wenn sie uns in der Grundschule vor jeder Unterrichtsstunde ein Lied singen ließen. Sollen wir also vor jeder Verhandlung ein Lied singen? Beschwingend wäre das sicher, aber wir glauben, wir würden vor allem Unverständnis ernten. Wenn Synchronisierung wichtig ist, wie synchronisieren wir uns dann, ohne dass es unnatürlich wirkt? Eine einfache Möglichkeit ist die, dass wir vor der Verhandlung gemeinsame Interessen teilen und etwa über das vergangene Fußballwochenende 183

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sprechen. Oder, wenn wir wissen, dass die Gegenpartei schnelle Wagen liebt, können wir vom neusten Jaguar XK 8 schwärmen. Liebt die Gegenpartei Schokolade, servieren wir Sprüngli-Pralinen. Oder, wenn wir wissen, dass sie Bierkenner sind, servieren wir die neuesten Bierprodukte. So einfach ist das bei Männern. Wenn die Verhandlungsteilnehmer Frauen sind, müsste man sich sicher etwas anderes überlegen. Da wir aber Männer sind, bitten wir unsere geneigten Leserinnen um Nachsicht, dass wir uns an Männerthemen synchronisieren 2. Natürlich gibt es auch andere Synchronisationsthemen als Autos und Fußball. Überlegen Sie sich doch einmal, wie Sie sich mit ihrem nächsten Verhandlungspartner synchronisieren können! Eine simple und doch hochraffinierte Methode habe ich bei einem Kollegen immer wieder bewundert: Er hat vor jeder Verhandlung gnadenlos einige Witze zum Besten gegeben, und dies so lange, bis auch der Letzte gelacht hat. Lachen ist Synchronisation par excellence. Fassen wir also die verschiedenen Teilschritte dieses zweiten Schrittes zusammen: 1. Stimmen Sie sich mit Ihrem Mandanten unmittelbar vor der Verhandlung auf das Kommende ein! 2. Sorgen Sie für einen Besprechungsort, der kooperatives Verhandeln ermöglicht! 3. Synchronisieren Sie sich mit Ihrem Verhandlungspartner! Doch nun zurück zu unseren Verhandlern, die sich in der Aufwärmrunde schon sehr gut aufeinander eingestimmt haben.

4. Dritter Schritt: Trennen Sie Absicht von Verhalten: Nennen Sie Ihre eigenen Ziele, und entdecken Sie die Ziele der anderen Seite! „So, Herr Cooper, der Begrüßungstrunk hat ja hervorragend gemundet. Aber lassen Sie uns jetzt in medias res gehen. Sie haben mir am Telefon ein Fünf-Punkte-Programm vorgeschlagen, das ich mit Herrn Mehltau besprochen habe, und wir sind, und das kann ich ihnen an dieser Stelle versichern, grundsätzlich damit einverstanden. Wir möchten aber, bevor wir in die Verhandlung gehen, klar und unmissverständlich unsere Position darlegen, damit Sie wissen, was unsere Anliegen sind. Ich nehme an, diese Bitte können Sie mir nicht abschlagen?“ „Selbstverständlich nicht, Herr Kollege. Darf ich meinerseits ans Whiteboard gehen und notieren, was Sie sagen?“ 2 Zwar haben wir auch einige „weibliche“ Themen durch intensives Studium aller 94 Folgen von „Sex and the City“ entdeckt, doch wissen wir nicht genau, ob dies wirklich die Themen unserer geneigten Leserinnen oder der Teilnehmerinnen an geschäftlichen Verhandlungen sind.

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„Natürlich!“ Dr. Cooper verlässt den Sesselhalbkreis, greift sich einen Marker, geht an das Whiteboard, das seitlich an der Wand hängt, und bittet Dr. von Streidt, die Position seines Mandanten darzustellen: „Also. Vor wenigen Wochen hat Ihr Mandant meinen Klienten aufgesucht und ihm zwei Botschaften übermittelt. Eine gute, wie wir meinen, und eine schlechte. Die gute bestand darin, dass Herr Ingenieur Sacksberger meinem Mandanten mitgeteilt hat, dass die im gemeinsamen Unternehmen gezüchtete Sorte Yellow Gold-Industrieraps von der Deutschen Forschungsanstalt für Sortenzucht mit dem großen Förderpreis ausgezeichnet worden ist und als Folge davon zu der Sorte bestimmt wurde, aus der in den nächsten Jahren in Deutschland Biodieseltreibstoff hergestellt werden soll. Zudem teilte er ihm mit, dass ein großes Konsortium, das sich mit dem Anbau von Industriepflanzen in der Ukraine beschäftigt, auf ihn zugekommen sei und der Firma SackMehl langfristige Entwicklungs- und Lieferverträge angeboten hat. Die gleichen Interessen soll eine große Erdölgesellschaft angemeldet haben. Das freute meinen Mandanten sehr, hatte er doch jahrelang die Zucht der Industriepflanzen mit besonderem Interesse und großen finanziellen Opfern gefördert. Um so erstaunter, wenn nicht geradezu entsetzt war er deshalb, als ihm Ihr Mandant eröffnete, dass die ganze Zucht der Industriepflanzen, die er in den letzten Jahren betrieben habe, nicht über die gemeinsame Firma gelaufen, sondern eine rein private Beschäftigung gewesen sei. Er sei dieser Zuchttätigkeit immer in der Freizeit und in den Ferien nachgegangen. Aus diesen Gründen sehe er sich außerstande, den Gewinn nach dem bisherigen Modus 50/50 abzurechnen. Er sei aber, entgegenkommenderweise und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, bereit, meinem Mandanten 5–10 % des Gewinnes auszuzahlen. Ich möchte an dieser Stelle mit Nachdruck festhalten, dass wir diese Art der Kaltstellung meines Mandanten aufs Schärfste missbilligen, genauso, wie wir Herrn Sacksbergers Ansicht über das geistige Eigentum an den Rechten und die daraus abgeleitete Gewinnverteilung ablehnen. Erwiesen und belegt ist vielmehr, dass die SackMehl GmbH im Jahre 1980 mit dem erklärten Ziel gegründet wurde, neue Pflanzensorten zu züchten und zu vermarkten. Mein Mandant trat dabei als „Lieferant“ des Betriebskapitals auf, Ihr Mandant steuerte das nötige Know-how bei. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erreichte die Firma schließlich schwarze Zahlen und wurde vor wenigen Jahren, wie wir alle wissen, mit der Entwicklung des SacStar-Weizens hochrentabel. Wenn wir die Buchhaltung der vergangenen Jahre anschauen, stellen wir fest, dass der Unternehmensgewinn ohne Ausnahme im Verhältnis 1 : 1 auf die beiden Anteilseigner ausbezahlt wurde. Ein anderer Modus der Gewinnverteilung ist nirgends ersichtlich. Nun zur Behauptung, die Zucht des Yellow Gold-Rapses sei ein privates Hobby Ihres Mandanten gewesen. Diese Behauptung ist widersinnig und kann ganz leicht widerlegt werden, denn 185

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a) sämtliche Industriepflanzen, darunter natürlich auch der Industrieraps Yellow Gold, wurden auf dem firmeneigenen Gelände angebaut; b) die Pflanzen wurden von den Angestellten der Firma SackMehl ausgesät, betreut, geerntet und wissenschaftlich ausgewertet; c) die Arbeit mit den Pflanzen erfolgte mit firmeneigenen Instrumenten; d) der für das Wachstum nötige Dünger wurde aus Beständen der Firma bezogen und last but not least: Mein Mandant und Ihr Klient haben sich zum ausdrücklichen Zweck der Entwicklung und Aufzucht von neuen Pflanzensorten zusammengefunden. Wenn nun Ihr Klient tatsächlich neue Pflanzen entwickelt, tut er dies nicht für sich, sondern in Erfüllung des Unternehmenszweckes. Diese Zweckgeburten, sprich Pflanzensorten, können gar nichts anderes sein als Eigentum der Firma. So war es in der Vergangenheit, so ist es heute und so wird es in Zukunft sein. Eine andere Gewinnverteilung als die unter gleichberechtigten Eigentümern ist weder denkbar noch juristisch begründet.“ Dr. Cooper hört dem Vortrag seines Kollegen aufmerksam zu und notiert fein säuberlich auf der Tafel: Forderung Mehltau Teilen des Gewinnes Yellow Gold 1 : 1 unter den Eigentümern der Firma SackMehl Begründung – Raps im Eigentum der Firma – Züchten/Verkaufen ist Firmenzweck – alle bisherigen Gewinne aus Pflanzenzüchtungen auch 1 : 1 abgerechnet – Yellow Gold auf Firmengelände gezüchtet, von Firmenmitarbeitern betreut, mit Dünger der Firma versorgt Dr. Cooper liest anschließend vor, was er aufgeschrieben hat und fragt seinen Kollegen dann, ob dies so stimme. „Ja, in etwa, ich habe noch betont, dass der Raps auch mit Firmengeräten wie Traktoren oder Saatmaschinen bearbeitet wurde. Aber sonst ist es in Ordnung.“ Cooper fügt diese Ergänzung hinzu, bedankt sich für die Aufzählung, verlässt das Whiteboard und geht zu den Flipcharts hinüber. „Nachdem Sie, sehr geehrter Kollege, für Ihren Mandanten Position bezogen haben, möchte ich das Wort an meinen Klienten geben. Zuerst möchte ich aber noch einmal die telefonisch vereinbarte Vorgehensweise in Erinnerung rufen.“ Er greift sich dazu das Deckblatt eines Flipcharts, wirft es hinten über und zeigt auf die fünf Punkte, die fein säuberlich darunter aufgelistet sind: 186

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Z usammenarbeit würdigen I ndividuelle Interessen herausfinden E ntdecken der gemeinsamen Interessen L ösungsmöglichkeiten finden, die individuelle und gemeinsame Interessen decken E rgebnisse festlegen Dr. von Streidt und sein Mandant lesen die Punkte durch und nicken. „Okay, Herr Sacksberger, darf ich Sie bitten, mit dem ersten Punkt zu beginnen. Ich werde mir erlauben, hier vorne am Flipchart Notizen zu machen.“ Sacksberger bedankt sich und geht nach vorne. Cooper nimmt wiederum einen Marker in die Hand, um zu visualisieren, was Sacksberger vorträgt. Lassen Sie uns hier die Verhandlung abermals unterbrechen und sehen, was geschehen ist: Dr. Cooper hat am Telefon mit Dr. von Streidt den Ablauf der Verhandlung ausgehandelt. Dabei hat man sich auf den Fünf-Punkte-Plan des kooperativen Verhandelns geeinigt. Dr. Cooper hat ausdrücklich davon abgeraten, die Verhandlung mit dem Stellen der gegenseitigen Forderungen zu beginnen, und Dr. von Streidt hat sich nicht an diese Abmachung gehalten. Es stellen sich hier zwei Fragen: 1. Warum hat sich Dr. von Streidt nicht an die Abmachung gehalten? 2. Warum hat Cooper seinen Kollegen gewähren lassen und ihn sogar noch dadurch unterstützt, dass er die Forderungen notiert hat? Nach unserer Erfahrung ist es für einen Anwalt sehr, sehr schwer, in einer Verhandlung nicht genau mit der Tätigkeit zu beginnen, zu der er jahrelang ausgebildet wurde und mit der er bis heute tagein, tagaus sein Geld verdient. Und diese Tätigkeit besteht darin, für seinen Mandanten Ansprüche zu finden, daraus abgeleitete Forderungen zu stellen und diese zu begründen. Wer kann was von wem aus welchem Rechtsgrund verlangen? Und genau nach dieser Maxime ist Dr. von Streidt vorgegangen. Er hat die Forderung seines Mandanten auf eine Teilung im Verhältnis 1 : 1 vorgetragen und diese ausführlich begründet. Was wäre nun geschehen, wenn Dr. Cooper Folgendes gesagt hätte: „Werter Herr Kollege, bitte halten Sie sich doch an die Abmachungen! Wir haben gesagt, dass wir nach den Regeln des kooperativen Verhandelns vorgehen wollen, und diese sehen keine Proklamation der Forderungen vor. Bitte halten Sie sich an unsere Abmachung und würdigen Sie zuerst die bisherige Zusammenarbeit!“ Was wäre wohl mit Dr. von Streidt geschehen, wenn Cooper so geantwortet hätte? Er wäre stockwütend geworden, und der mit dem „Friedenstrunk“ 187

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aufgebaute Rapport wäre wieder verlorengegangen. Was tut Dr. Cooper stattdessen? Er bittet Dr. von Streidt, seine Forderungen und Begründungen vorzutragen, ja, er geht sogar noch weiter, er notiert sie sogar für alle sichtbar auf dem Whiteboard an der Seite des Besprechungszimmers. Warum tut er das? 1. Dadurch, dass er Dr. von Streidt nicht abblockt, sondern gewähren lässt, gibt er ihm zu verstehen, dass er ihn ernst nimmt. Durch die Präsentation der Forderungen von Mehltau erhält er zudem wichtige Informationen über die Denkweise seines Gegenübers. Von Streidt präsentiert seine Landkarte und Cooper kann sich in sie einfühlen. 2. Cooper visualisiert die Forderungen von Mehltau auf dem Whiteboard. Dadurch fühlt sich von Streidt noch ernster genommen. Er sieht nun schwarz auf weiß, was er vorhin gesagt hat. Dies festigt den Rapport abermals. 3. Cooper fasst zusammen und fragt, ob er alles richtig verstanden habe. Damit synchronisiert er sich weiter mit Mehltau und dessen Anwalt, und beide haben nun das Gefühl, dass sie mit jemandem zusammen sind, der sie versteht und ernst nimmt. Damit ist auf der persönlichen Ebene eine sehr gute Ausgangsbasis geschaffen. Cooper und Sacksberger werden ebenfalls ernst genommen, und ihre neuartige Vorgehensweise wird viel besser akzeptiert werden. Doch nun zurück zu den Herren Sacksberger und Dr. Cooper. Sacksberger wird gleich die bisherige Tätigkeit zu würdigen beginnen und Cooper wird die wichtigsten Punkte notieren: „Lieber Johann-Jakob, werter Herr Dr. von Streidt! Ich habe Dir, JohannJakob, vor gut einem Monat gesagt, dass ein Produkt aus unserer Sortenzucht, der Yellow Gold-Raps, vermutlich ein großer Erfolgsschlager werden wird. Es stimmt, wie Herr Dr. von Streidt vorhin erwähnt hat, dass er von der Deutschen Forschungsanstalt für Sortenzucht soeben ausgezeichnet worden ist und sich nun namhafte Großproduzenten brennend für unser Produkt interessieren. Im Osten ist es allerdings nicht ein internationales Konsortium, sondern das Landwirtschaftsministerium der Ukraine, das sich für unser Kind interessiert. So, wie es im Moment aussieht, war der SacStar-Weizen, bezogen auf die Gewinnaussichten, im Vergleich zum neuen Raps nicht mehr als ein Strohfeuer. Ich war gerade letzte Woche noch kurz in London und habe lange Faxe mit Kiew ausgetauscht. Alle drängen sie mich förmlich, Verträge mit ihnen abzuschließen. Soweit die eine Seite. In unserem Gespräch vor einem Monat habe ich Dir, Johann-Jakob, auch gesagt, dass ich nicht mehr bereit bin, den Gewinn aus diesem Produkt mit Dir im gleichen Verhältnis zu teilen, wie wir es mit dem Weizen gemacht haben. Ich habe dann dazu ausgeführt, dass ich den Raps alleine und ohne Deine aktive Mitarbeit entwickelt hätte. Das war auch schon beim Weizen der Fall. Die Schutzrechte für den Raps sind übrigens auch wie der Weizen auf mich persönlich eingetragen. Du weißt, dass ich immer im Auftragsverhältnis für unsere GmbH gearbeitet habe. Ich habe Dir dann weiter gesagt, 188

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dass ich den Raps mit meinen eigenen finanziellen Mitteln entwickelt habe, als Du nicht mehr damit einverstanden warst, dass wir meine Forschungsaufenthalte in den USA über die GmbH bezahlen. Ebenfalls habe ich argumentiert, dass ich den Raps somit in meinen Ferien und in der Freizeit entwickelt habe. Auch das könnte ich belegen und Du würdest mir wohl das Gegenteil zu beweisen versuchen. Ich könnte Dir glauben oder es lassen und wenn ich anderer Meinung wäre, würden wir uns dann vor Gericht wieder sehen. Das Gericht würde dann feststellen, wem der Raps gehört und wie der Gewinn zu verteilen ist. Aber wird es in etwa drei oder fünf Jahren überhaupt noch einen Gewinn geben, wenn die Eigentumsfrage gelöst ist? Ich glaube nicht, denn Du wirst, wenn wir uns heute oder in naher Zukunft nicht einigen, mir wohl gerichtlich die Produktion des Saatgutes zu verbieten versuchen. Wenn Du Recht bekommst, wächst kein Yellow Gold-Raps in der Ukraine und es fließen keine Kopeken in unsere Kassen. Es ist also für uns beide, das ist mir klargeworden, nicht sehr sinnvoll, vor Gericht zu streiten. Ich würde mir vorkommen wie einer der beiden Esel, die sich um den gleichen Heuhaufen streiten und dabei nicht bemerken, dass der Heuhaufen während unseres Streits genüsslich von einer Kuh aufgefressen wird. Sicherlich würde auch in unserem Fall ein Dritter von unserer Dummheit profitieren!“ „Das meine ich auch!“ fährt Mehltau dazwischen, „Du hast mit dem ganzen Unsinn ja begonnen, als Du mir angedroht hast, Du würdest den Gewinn nicht mehr, wie wir es seit Jahren tun, halbe-halbe teilen, sondern du müsstest 90 % haben. Es sei schließlich nicht unser, sondern Dein Raps! Schwachsinn, alles simpler Schwachsinn, ich sag’s Dir! Du bist es, der uns in die Krise führt!“ „Sorry, Johann-Jakob, wenn ich Dich so aufgebracht habe. Das war nicht meine Absicht. Trotzdem sollten wir einmal eingehend über unsere Zusammenarbeit sprechen. Es ist auf gar keinen Fall mein Wunsch, mich von Dir zu trennen und alles auf eigene Rechnung zu machen. Dazu hat es in den letzten 15 Jahren viel zu gut geklappt. Irgendetwas ändern sollten wir aber schon.“ „Da bin ich aber gespannt, was Du ändern willst!“ „Ich werde es Dir gleich sagen. Lass mich ein bisschen ausholen. Ich hatte vor etwa drei Wochen die Chance und große Freude, meinen Fall mit Dr. Cooper zu besprechen, und dieser hat mir durch einige ganz einfache Fragen die Augen für das geöffnet, was ich gerne ändern möchte. Die einfachste und für mein Denken gleichzeitig produktivste Frage war die nach der Absicht hinter meiner Forderung, den Gewinn des Yellow Gold-Rapses im Verhältnis 9 : 1 zu teilen. Ich habe zuerst nicht verstanden, was er damit gemeint hat, aber je mehr er nachgefragt hat, desto klarer wurde mir, dass es mir in Wirklichkeit gar nicht um das Geld geht, sondern dass das Geld nur ein Mittel ist, mit dessen Hilfe ich von Dir mehr Anerkennung und Respekt erhalten will.“ Sacksberger hält inne und schaut Mehltau in die Augen, der ihm sehr aufmerksam zugehört hat und der jetzt sehr erstaunt und irgendwie ungläubig 189

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fragt: „Was meinst Du damit, dass Du mehr Anerkennung und Respekt haben willst?“ „Ich meine damit, dass es am Anfang unserer Zusammenarbeit, als ich ein mittelloser Forscher war, ganz toll war, als Du mir angeboten hast, zusammen eine Firma zu gründen, die uns zu gleichen Teilen gehört. Du hast Dich dann auch sehr für meine Arbeit interessiert und hast uns großzügig Betriebskredite gewährt, mit deren Hilfe wir den SacStar entwickelt haben. Damals waren wir viel zusammen in Argentinien, Du hast meine Arbeit gelobt und mich vielen Deiner Freunde vorgestellt und mich als ‚Neuzuzügler‘ in die Bad Friedlinger Gesellschaft eingeführt. Das hat mir sehr geholfen. Als ich meine Arbeit an den Industriepflanzen begonnen habe, hat sich dann aber Dein Interesse für meine Arbeit und mich praktisch auf null reduziert. Du hast gesagt, dass Dich Pflanzen, die man weder mahlen noch essen könne, nicht interessieren. Du bist von da an auch praktisch nie mehr in unserem Labor gewesen und warst dagegen, dass wir uns weiter mit nachwachsenden Rohstoffen beschäftigen. Ich habe dann die Getreidezucht und die Industriepflanzenzucht parallel betrieben. Nur, wie es heute ausschaut, liegt der große Gewinn der Zukunft eindeutig bei den Industriepflanzen. Und es war meine Entscheidung, in diese Richtung zu forschen. Für diese Entscheidung möchte ich von Dir mehr Anerkennung bekommen. Geld ist nur eine Form, es gibt auch noch andere!“ „Soll ich Dir ein Denkmal errichten lassen? August, ist es das, was Du willst?“ „Nein, aber ich würde mir wünschen, dass Du wieder mehr an meinen Forschungen teilnimmst, dass Du Dich für die Produkte unserer Firma interessierst. Das könntest Du beispielsweise dadurch zeigen, dass Du einmal mit mir in die Ukraine fliegst oder mich diesen Sommer in die USA begleitest, wo ich meine Freunde treffe, die mir bei der Entwicklung geholfen haben oder …“ „Heißt das, dass Du dann wieder im Verhältnis 1: 1 mit mir teilen würdest?“ „Vielleicht nicht gerade 1 : 1 aber sicher auch nicht mehr 9 : 1!“ „Aber ich brauche die Kohle, verdammt noch mal!“ „Wozu denn?“ „Um meine Geschwister auszuzahlen, das weißt Du doch!“ „Aha, Du fürchtest also um Deine finanzielle Zukunft!“ „Sicher! Wenn ich das Geld nicht kriege, sieht es so aus, als hätte ich mich finanziell übernommen.“ „Wenn Du dich finanziell übernimmst, dann wäre Dein sicheres Leben dahin, stimmt das?“ „Ja sicher, aber das würde ich lieber vermeiden!“ 190

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„Gut, geht es Dir also wohl vor allem um Sicherheit?“ „Ja, so kann man es auch sehen!“ „Eine Lösung unseres Problems könnte also so aussehen, dass wir eine neue Form der Zusammenarbeit finden, bei der Du mehr Sicherheit findest und ich mehr Anerkennung!“ „Das wär’s, August!“ Dr. Cooper, der lange nur zugehört hat, schreibt nun auf ein Flipchart: Interesse Sacksberger: Anerkennung Interesse Mehltau: Sicherheit Wir machen abermals eine Pause und betrachten, was geschehen ist: Das Erstaunlichste an der Darstellung der Ereignisse, die Sacksberger hier gibt, ist für uns, dass er heute das, was geschehen ist, derart anders wertet, als noch vor wenigen Tagen, als er den gleichen Sachverhalt seinem Anwalt vorgetragen hat. Da war Mehltau noch nicht der „liebe Johann-Jakob“ sondern der „geizige Rappenspalter“, der nicht einsehen wollte, was er an ihm, dem „genialen Sortenzüchter“, eigentlich für einen Prachtpartner habe. Was ist geschehen, wie hat sich, möchte man fast sagen, der Saulus zum Paulus wandeln können? Es war und ist natürlich die Art und Weise, wie Cooper das Vorbereitungsgespräch geführt hat. Hätte er, und das können wir nun dank jahrelanger Erfahrung mit beiden Methoden behaupten, seine Gedanken im Sinne der juristischen Methode gelenkt, dann hätten wir nicht nur einen aufgebrachten Klienten im Verhandlungsraum, sondern gleich deren zwei. Zwei Klienten, die sich gegenseitig Forderungen stellen und diese Forderungen wortreich und mit der Hilfe ihrer Anwälte auch juristisch stringent rechtfertigen würden (die juristische Fachsprache spricht bekanntlich von begründen). Wir könnten einen Kampf zwischen zwei durch ihre Trainer sorgfältig hochgezüchteten Kampfhähnen erleben, wie er täglich in Tausenden von Kanzleien in Europa und anderswo geführt wird. Dadurch, dass mindestens einer der Klienten mit der Methode des kooperativen Verhandelns „gecoached“ wurde, kam es zu keiner dieser unschönen Szenen. Vielmehr verlief die Verhandlung von Anfang an konstruktiv, und man kam sehr schnell auf Interessen zu sprechen, also auf das, worum es den Parteien wirklich geht. Vielleicht noch einige Ergänzungen: In der eben geschilderten Szene hat vor allem der Klient gesprochen. Der Anwalt hat nur zugehört und am Schluss zwei Stichworte aufgeschrieben. Diese Vorgehensweise ist in der Kunst des kooperativen Verhandelns durchaus üblich. Der Anwalt „spurt“ vor, und der Klient geht flinken Fußes und freihändig den Weg alleine. Dies kann man eben nur dann machen, 191

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wenn man den Fall mit dem Klienten lange und eingehend vorbesprochen hat. Etwa so, wie es Dr. Cooper mit Sacksberger getan hat. Hat man diese Mühe nicht auf sich genommen, muss man eben selbst sprechen und läuft darüber hinaus Gefahr, etwas zu erzählen, was der Klient gar nicht will – und das kann böse Folgen haben. Was tut man, wenn der Klient seinerseits nicht verstanden hat, was es heißt, das Bisherige zu würdigen und über die Absichten zu sprechen, die hinter dem Verhalten stehen? Dann hat man höchstwahrscheinlich die Verhandlung mit dem Klienten zusammen zu wenig vorbereitet und mit ihm vor allem nicht die wahren Interessen ermittelt, die hinter den Positionen stehen. Wir vermuten, dass der Klient in einem solchen Falle die ganze Vorbereitung aus einer dissoziierten 3. Position heraus mitgemacht hat und sich in niemanden richtig eingefühlt hat. Weder in sich selbst noch in sein Gegenüber. Weder kennt er seine wahren Interessen noch die der Gegenseite. Oder er will sie nicht kennen. In einem solchen Fall hilft auch eine begleitende Gesprächsführung durch den Anwalt wenig, weil der Klient vermutlich gar keine kooperative Lösung sucht, sondern schlicht streiten will. Es liegt dann an Ihnen, ihm dabei zu helfen oder ihn an einen anderen Anwalt weiterzuempfehlen. Wie schon mehrfach erwähnt: Eine sorgfältige Vorbereitung der eigentlichen Verhandlung mit dem Klienten zusammen macht den größten Teil des Erfolges des kooperativen Verhandelns aus und verhindert vor allem auch fehlerhafte Kommunikation zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten.

5. Vierter Schritt: Realisieren Sie die Ziele beider Seiten: Finden Sie Möglichkeiten, die Ihren Interessen und den Interessen der anderen Seite entsprechen! 5.1 Die Optionen beider Seiten einbringen „Vielleicht kann ich noch einen Schritt weitergehen, Johann-Jakob, und Dir aufzeigen, wie es aussehen sollte, dass ich mich mehr anerkannt fühle?“ „Ja bitte, August, da bin ich aber sehr gespannt!“ „Wenn Sie erlauben, werde ich diese Möglichkeiten hier auf dem Flipchart notieren“, ergänzte Dr. Cooper. „Und noch etwas Wichtiges: Die Vorschläge, die Herr Sacksberger macht, sind keine Forderungen, die es anzunehmen oder abzulehnen gilt. Es sind einfach Möglichkeiten, die er sieht, um mehr Anerkennung und Respekt zu bekommen. Vielleicht sind die Vorschläge gut, vielleicht sind sie schlecht. Nehmen Sie sie einfach als Möglichkeiten zur Kenntnis. Wir werden Sie anschließend bitten, ebenfalls Ihre Möglichkeiten, die Sie sehen, darzustellen. Das ist schon alles.“ „Wir werden uns Mühe geben und geduldig zuhören. Es ist ja interessant, in welche Richtung die Gespräche gehen, Herr Kollege!“ erwidert Dr. von Streidt. 192

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„Also, eine Form, mir mehr Anerkennung zu verschaffen, besteht darin“, beginnt Herr Sacksberger, „dass ich vom Erfolg des Yellow Gold-Rapses finanziell mehr als die Hälfte haben möchte. Ich habe von 90 % gesprochen, das ist deutlich mehr als die Hälfte, und ich würde wohl heute immer noch auf dieser Zahl beharren, wenn ich mir nicht zusammen mit Dr. Cooper überlegt hätte, welche anderen Formen der Anerkennung es denn sonst noch gibt.“ „Interessante Frage!“ nickt Dr. von Streidt zustimmend. „Eine Möglichkeit habe ich bereits erwähnt: Ich würde mich viel mehr von Dir anerkannt fühlen, wenn Du wieder mehr an meinen Aktivitäten teilnähmest und mich beispielsweise in die Ukraine, nach London oder die USA begleiten würdest.“ „Die Zeit, August, die Zeit, wenn ich die Zeit nur hätte!“ stöhnt Herr Mehltau und Dr. Cooper schreibt auf das linke Flipchart unter das Wort „Anerkennung“: mehr persönliches Interesse an Forschungsarbeiten/Reise in Ukraine, London und USA „In diesem Zusammenhang lade ich Dich auch gerne ein, Dich an meinem Buchprojekt über Sortenzucht zu beteiligen. Wie wäre es, wenn Du einige Kapitel aus der Sicht des Lebensmitteltechnologen oder aus der Sicht des Müllers schreiben würdest? Publiziere doch einfach Deine Beiträge, die Du damals geschrieben hast, als wir den SacStar-Weizen entwickelt haben!“ „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Das wäre wirklich eine interessante Arbeit“, pflichtet Mehltau bei. „Weiter im Text: Größere Anerkennung könntest Du auch zeigen, wenn wir den Raps nicht Yellow Gold, sondern nach meiner Tochter Tanit benennen würden und es möglich wäre, den Vertrieb in die Hände meines Sohnes Wendelin zu legen. Nun noch ein heikler Punkt: Ich würde auch gerne unser gemeinsames Ferienhaus in Patagonien vollständig übernehmen. Ich möchte mir dort einen Alterssitz aufbauen. Außerdem würde ich mich gerne an Deiner Mühle beteiligen und Aktien von Dir erwerben.“ Cooper hat fein säuberlich alle Punkte untereinander notiert: Sacksberger Interesse: Anerkennung – Möglichkeiten der Verwirklichung (Lösungen) – mehr pers. Interesse an Forschungsarbeiten/Reise in Ukraine, London und USA – Co-Autor an Buch über Sortenzucht – Tanit-Raps anstatt Yellow Gold – Vertrieb: Wendelin 193

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– Haus in Patagonien ganz übernehmen – Mühlen-Aktien übernehmen „Gut, Herr Kollege, könnten wir eine kleine Pause machen, damit ich Ihre Vorschläge mit meinem Mandanten besprechen kann, um Ihnen dann darauf Antwort zu geben?“ „Aber gerne Herr Kollege. Darf ich Sie noch um Folgendes bitten: Wenn Sie nun zusammen beraten, wäre es schön, wenn Sie klären könnten, ob es Ihrem Mandanten möglich wäre, die Anliegen meines Mandanten zu erfüllen, und andererseits, welche Möglichkeiten Herr Mehltau selbst sieht, seinem Bedürfnis nach Sicherheit nachzukommen. Im Klartext gesprochen: Wie will er seine große finanzielle Belastung meistern, die er durch die Übernahme der Mühle eingegangen ist? Das Ziel dieses Treffens soll ja sein, wie Herr Sacksberger bereits erwähnt hat, dass wir Lösungen finden, die sowohl dem Interesse von Herrn Mehltau nach Sicherheit als auch dem Interesse meines Klienten nach Anerkennung nachkommen.“ „Ihre Vorgehensweise ist ungewöhnlich, Herr Kollege, aber nicht ohne Reiz. Wir werden versuchen, unser Bestes zu geben.“ Während Cooper mit seinem Mandanten das Besprechungszimmer verlässt und mit ihm ein wenig im Garten spazieren geht, möchten wir hier noch einiges ergänzen und zusammenfassen: Ein eminent wichtiger Punkt in der Vorgehensweise besteht darin, dass wir die Möglichkeiten, die unser Klient sieht, klar als Möglichkeiten deklarieren, die keine andere Bedeutung haben, als dass es eben Lösungsmöglichkeiten (Optionen) sind. Möglichkeiten ohne jeden Anspruch auf Richtigkeit, Wahrheit, Verwirklichung oder was auch immer. Was geschieht, wenn wir dies nicht tun? Die Gegenseite wird sie als Forderungen auffassen, die sie entweder akzeptieren oder ablehnen muss. Dann haben wir das übliche Pingpongspiel, das uns in der Sache selbst meistens wenig weiterführt. Hier ist es nötig, dass Sie und Ihr Klient die Vorschläge aus der dissoziierten 3. Wahrnehmungsposition heraus auf sich wirken lassen. So sind Sie emotional unbeteiligt, neutral und hören einfach zu. Die Fähigkeit, die Wahrnehmungspositionen nach Belieben wechseln zu können, ist, wie nun schon einige Male erwähnt, eine der wichtigsten Fähigkeiten eines guten Verhandlers. Weiter ist wichtig, dass Sie Vorschläge für alle sichtbar notieren. Am besten geht das mit einem Flipchart, das alle vor Augen haben. Wir glauben einfach Informationen mehr, die wir auch lesen können! Ich habe das vor einigen Jahren erfahren, als ich eine Verhandlung im Ausland führte. Ich hatte dort, wie ich es in Europa oft tue, verschiedene Argumente nur mündlich vorgetragen, andere hatte ich visualisiert. Ich merkte dann, dass man mich bezüglich der aufgezeichneten Informationen sehr wohl verstanden hatte, dass ich aber die nur gesprochenen Punkte immer und immer wieder wiederholen musste, bis ich mich dann entschied, auch 194

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diese Informationen zu visualisieren, und siehe da, plötzlich war alles klar. Meine Lehre daraus: Geschriebene Worte haften bei vielen Menschen besser im Gedächtnis. In vielen Unternehmen ist es deshalb heute üblich, dass man Besprechungszimmer mit Flipcharts, Whiteboards und Metaplanwänden ausrüstet. Warum fehlen diese elementaren Hilfsmittel in so vielen Anwaltskanzleien? Doch zurück nach Bad Friedlingen, in den Verhandlungsraum von Dr. Cooper. Dort stehen Dr. von Streidt und sein Klient, Herr Mehltau, vor dem Flipchart und diskutieren. Dr. Cooper kommt mit seinem Mandanten zurück in den Raum. Er erkundigt sich, wie viel Zeit sie noch brauchen. Die beiden teilen ihm mit, dass sie einige Möglichkeiten gefunden hätten und diese nun präsentieren möchten. Dr. von Streidt steht nun seinerseits vor dem Flipchart und beginnt seinen Vortrag. Die anderen stehen locker um ihn herum und sind gespannt, was der bekannte Anwalt nun vortragen wird. „Meine Herren, wir haben Ihre Vorschläge zur Kenntnis genommen und möchten sie wie folgt kommentieren: Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Teilung des zu erwartenden Gewinnes aus der durch die Firma SackMehl gezüchteten Rapssorte. Wir sind immer davon ausgegangen und gehen noch heute davon aus, dass kein Grund besteht, den Gewinn anders als bisher, d.h. im Verhältnis 1 : 1 zu teilen. Diesen Teilungsanspruch können wir auch begründen. Trotzdem sind wir, wenn es Herrn Sacksberger leichter fällt, diesen Anspruch zu akzeptieren, bereit, folgenden, von der Gegenseite vorgeschlagenen Handlungsvarianten zuzustimmen. Alles, was wir jetzt sagen, geschieht selbstverständlich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht: 1. Mein Klient hat nichts dagegen, dass Herr Mehltau den neuen Raps nach seiner Tochter Tanit benennt. Dann können wir von nun an vom TanitRaps sprechen. 2. Mein Klient ist ebenfalls damit einverstanden, dass der Sohn ihres Klienten Wendelin den Vertrieb des neuen Produktes zu marktüblichen Konditionen übernimmt. 3. Herr Mehltau wird versuchen, es möglich zu machen, Herrn Sacksberger nach Kiew und London zu begleiten. Über die Reise in die USA müsste man sich noch genauer unterhalten. Herr Mehltau meint, er könne das amerikanische Essen nicht vertragen. 4. Auch gegen eine Beteiligung am Buchprojekt von Herrn Sacksberger hat Herr Mehltau nichts einzuwenden. Es ist ihm sogar eine große Ehre, für ihn schreiben zu dürfen. 5. Auf das Haus in Patagonien möchte er allerdings nicht verzichten. 6. Ein Verkauf von Aktien aus der Familien-AG ist aus statutarischen Gründen nicht möglich. 195

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So viel als Antwort auf Ihre Vorschläge. Das war der einfachere Teil unserer Arbeit. Nun zum anderen Teil. Dazu zuerst einige einführende Worte: Die Bad Friedlinger Mühlen sind schon seit ihrer Gründung im Jahre 1628 im Besitz der Familie Mehltau. Sie sind damit, wie wir alle wissen, das älteste Unternehmen am Orte. Das Unternehmen wurde in den letzten Jahren in der 4. Generation durch die drei Brüder Karl-Jakob, Hans-Jakob und Johann-Jakob Mehltau geführt, die auch zu gleichen Teilen Eigentümer des Unternehmens waren. Die vom Vater Martin-Jakob durchgeführte Übertragung des Unternehmens auf drei Stämme hat sich als nicht tragbar erwiesen. Vor zwei Jahren hat man deshalb begonnen, Gespräche darüber zu führen, welcher der drei Söhne das Unternehmen als Ganzes übernehmen sollte. Schließlich hat sich mein Klient Johann-Jakob Mehltau entschieden, die Verantwortung für die Weiterführung des Familienunternehmens auf sich zu nehmen und seinen Brüdern die Anteile abzukaufen. Dies war selbstverständlich ein gewaltiges finanzielles Risiko, wenn man, was bitte unter uns bleiben möge, davon ausgehen kann, dass das Unternehmen einen Wert von mehr als 30 Mio. Euro darstellt. Nichtsdestotrotz hat sich mein Mandant entschieden, den Schritt zu tun. Er hat sich deshalb, wie Sie sicherlich ahnen, sehr stark verschulden müssen. Verschlimmernd hinzu kam die Entwicklung des Geldmarktes im letzten Jahr. Langer Rede kurzer Sinn: Meinen Klienten drückt im Moment eine gewaltige Zinslast, die ich niemandem hier im Raum zumuten möchte. Die Sorge um die Sicherheit meines Mandanten hat also einen durchaus realen Hintergrund, und die einzige Möglichkeit, dem Bedürfnis nach Sicherheit gerecht zu werden, sieht mein Mandant einerseits darin, die Gewinne seiner Unternehmungen zu steigern und andererseits die vorhandenen Kredite durch günstigere abzulösen. Somit versteht es sich von selbst, dass Herr Mehltau ein großes Interesse an einer Gewinnverteilung im Verhältnis 1 : 1 hat. Das wär’s, was wir zu sagen hätten.“ Dr. Cooper greift sich abermals einen Marker und notiert auf dem andern Flipchart: Mehltau Interesse – Sicherheit Möglichkeiten der Verwirklichung – Gewinn der Unternehmen erhöhen – vorhandene Kredite durch günstigere ersetzen „So, nun hätten wir diese Phase abgeschlossen,“ resümiert Dr. Cooper. „In der nächsten Phase wird es darum gehen, Lösungen zu finden, die sowohl die Interessen von Herrn Mehltau als auch die Interessen von Herrn Sacksberger befriedigen. Vielleicht wäre es aber ganz gut, wenn wir hier eine kleine Verhandlungspause machen. Meine Sekretärin hat Tee und Kaffee 196

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zubereitet und bei der Bäckerei Ramseier ein wenig Gebäck geholt, das ich gerne servieren lasse. Sind Sie damit einverstanden?“ „Aber sicher, eine Pause tut jetzt allen gut“, meint Dr. von Streidt und zieht sich eine Zigarette aus einer Box, die er in der Aktentasche aufbewahrt hat. „Sie erlauben?“ Lassen wir die Herren Pause machen und schauen wir uns abermals an, was geschehen ist: Dr. Cooper hat die Gegenpartei gebeten, vorderhand die Vorschläge von Herrn Sacksberger nicht zu bewerten, sondern eigene Vorschläge daneben zu stellen. Dr. von Streidt hat sich abermals nicht an die Vorgabe gehalten, und Dr. Cooper hat ihn nicht unterbrochen. Warum? Wir müssen einfach wissen, dass es für einen in der juristischen Methode ausgebildeten Anwalt extrem schwierig zu verstehen ist, dass etwas, das die Gegenpartei vorträgt, keine Forderung ist, sondern einfach eine wertfreie Möglichkeit des Vorgehens. Mit geschultem Gehör wird der Anwalt deshalb kritisch und mit wachen Sinnen hinhören und wird jeden Vorschlag gleich unbewusst bewerten. Hat die Gegenpartei einen Anspruch oder nicht? Kann sie den Anspruch begründen oder nicht?. Was ist also zu tun? Nichts! Man geht genau so vor, wie Dr. Cooper vorgegangen ist. Man lässt den Gegenanwalt plädieren und notiert auf dem Flipchart, was nötig ist. Und das, was nötig ist, sind nicht die Bewertungen von Möglichkeiten, sondern die Möglichkeiten, die als Lösungen vorgeschlagen wurden. 5.2 Brainstorming Die kleine Erfrischungspause ist beendet und die Parteien wenden sich wieder den Verhandlungen zu. „Für die nächste Runde schlage ich vor, dass wir so etwas wie ein Brainstorming machen. Wissen alle Beteiligten, was das ist?“ leitet Dr. Cooper die nächste Phase ein. „Wenn ich mich richtig erinnere, Herr Kollege, geht’s dabei darum, dass man Vorschläge macht, so viele wie möglich, ohne diese aber zu bewerten. Ist das richtig?“ „Richtig. Ich bitte Sie nun, dass Sie zwei, drei Schritte zurücktreten und sich diese beiden Blätter ansehen, die wir hier vollgeschrieben haben. Ich werde nun ein drittes Flipchart in die Mitte stellen. Auf dem werde ich dann Ihre Vorschläge notieren. Vorschläge wozu, möchten Sie sicher wissen: Vorschläge, wie es möglich sein könnte, dass sich Herr Sacksberger mehr respektiert und Herr Mehltau finanziell abgesichert fühlt. Wichtig dabei ist, wie Herr Dr. von Streidt bereits erwähnt hat, dass die Vorschläge nicht bewertet werden. Wir formulieren einfach, was uns in den Sinn kommt. Wir sind uns dabei weiter einig, dass keinem der Vorschläge irgend197

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eine Rechtsverbindlichkeit beigemessen werden soll, außer der, dass es eben ein Vorschlag auf dem Weg zum Finden einer konstruktiven, kooperativen Lösung ist. Sind wir damit alle einverstanden?“ Die Parteien nicken, Dr. Cooper nimmt abermals den Marker zur Hand und stellt sich neben das Flipchart, das er vorhin zwischen die beiden anderen gestellt hat. Die beiden Parteien schauen sich erwartungsvoll an. Herr Sacksberger beginnt: „Du könntest beispielsweise, wenn wir zusammen in Amerika sind, Dich drüben nach besseren Krediten umschauen.“ „Hab ich schon gemacht“, wirft Mehltau ein, „ich arbeite schließlich mit einem international tätigen Bankhaus zusammen.“ „Herr Mehltau“, unterbricht nun Dr. Cooper, „bitte keine Kommentare! Es stört den Ideenfluss!“ „Pardon, Herr Doktor, das wollte ich nicht“, entschuldigt sich Mehltau kleinlaut. Herr Sacksberger macht den nächsten Vorschlag: „Ich könnte bei den Verhandlungen in Kiew und London zu erreichen versuchen, dass wir ansehnliche Vorauszahlungen erhalten.“ Dr. Cooper notiert diesen Vorschlag genau so, wie er auch schon den ersten Vorschlag notiert hatte. Nach zehn Minuten stehen folgende Vorschläge am Chart: – günstigere Kredite über amerik. Banken/bei USA-Besuch abklären – großzügige Vorauszahlungen aushandeln – 50 : 50 im ersten Jahr teilen, dann 60 : 40, dann 70 : 30 – Herr Sacksberger gibt Darlehen zu Sonderkonditionen – Herr Mehltau verkauft Aktien an Sacksberger, der diese in zehn Jahren rückübertragen muss – Vertrieb Wendelin/Tanit als Name/Buchprojekt und 60 : 40/Darlehen – kein Darlehen, dafür mit 70 : 30 für Mehltau beginnen, dann verändern auf 80 : 20 für Sacksberger – mit Hilfe von Sacksberger bei Umfinanzierung/von 50 : 50 auf 75 : 25 steigend „So, meine Herren, was für ein Gefühl haben Sie jetzt?“ fragt Cooper in die Runde. „Sehr gut, sehr gut“, antwortet Mehltau, „ich habe das Gefühl, dass wir der Lösung ziemlich nahegekommen sind.“ Unterbrechen wir hier abermals kurz und schauen wir uns an, was hier gemacht wurde: 198

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Dr. Cooper hat den Parteien ein „Brainstorming“ vorschlagen. Ein Brainstorming ist eine einfache Kreativtechnik, die oft bei Ideenfindungsprozessen angewendet wird. Alle Beteiligten schlagen Lösungsmöglichkeiten vor, die zunächst nicht bewertet, sondern nur gesammelt werden. Dieser letzte Punkt ist besonders wichtig. In einem Brainstorming ist alles erlaubt, außer eben vorzeitige Bewertungen. Man nennt diese Kommentare auch Killerphrasen. Killerphrasen führen unweigerlich zu einer Rechtfertigung des Vorschlages durch die Person, die ihn gemacht hat, und damit zu einer Unterbrechung des Prozesses. Deshalb hat Dr. Cooper hier auch zum ersten Mal eingegriffen und Herrn Mehltau an die Spielregeln erinnert. Ein Brainstorming sollte emotionslos ablaufen. Auf jeden Fall ohne große gefühlsmäßige Beteiligung der Teilnehmer in dem Sinne, dass jeder Teilnehmer meint, sein Vorschlag sei der beste. Damit ist die Gefahr von Killerphrasen ziemlich klein gehalten. Man schaut sich einfach dissoziiert in der dritten Position von außen die beiden Parteien an und überlegt sich dabei, wie diese wohl ihre Interessen verwirklichen könnten. So kann man ohne große Anstrengung in kurzer Zeit Ideen finden, die den Absichten der Parteien gerecht werden. Der Moderator selbst nimmt an der Produktion von Ideen nicht teil. Er ist neutral und notiert alles, was gesagt wird, ohne selbst zu bewerten oder zu beurteilen. Dr. Cooper ergreift nun wieder das Wort: „So meine Herren, welche Richtung wollen wir nun weiterverfolgen?“ „Der Plan, gute Vorauszahlungen herauszuschlagen, gefällt mir gut. Wenn wir das verbinden könnten mit der Möglichkeit, dass ich anfangs mehr Prozente kriege und wir das dann in der Folgezeit so ändern, dass Du, August, mehr bekommst, wäre das in Ordnung. Dazu erfolgt der Vertrieb über Wendelin, das Produkt heißt Tanit-Raps, ich komme mit in die Ukraine und nach London und beteilige mich an Deinem Buchprojekt. Was meinst Du, August?“ „Damit könnte ich sehr gut leben. Lass uns dies ein bisschen weiter diskutieren.“ Die beiden ehemaligen Streithähne unterhalten sich nun ganz angeregt über den Vorschlag. Herr Sacksberger holt Unterlagen hervor, die dies und jenes besser beleuchten, man diskutiert und fachsimpelt. Die beiden Anwälte scheinen fast überflüssig geworden zu sein. Nach einer halben Stunde hat man sich auf Folgendes geeinigt: 1. Sacksberger und Mehltau fliegen so rasch wie möglich nach Kiew und London, um die Vertragsverhandlungen voranzutreiben. 2. In diesen Verhandlungen soll versucht werden, die Käufer zu einer bedeutenden Vorauszahlung zu bewegen. 199

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3. Diese Vorauszahlung geht zu einem großen Teil an Mehltau als Vorabausschüttung des Gewinnes bzw. Darlehen der Gesellschaft. 4. Der voraussichtliche Gewinn ist über zehn Jahre so zu verteilen, dass von dem Gewinn der gesamten zehn Jahre Sacksberger 70 % und Mehltau 30 % erhält. 5. Der Gewinn fließt in den ersten vier dieser zehn Jahre überwiegend Mehltau, danach Sacksberger zu. 6. Wendelin wird den Vertrieb übernehmen. 7. Der Raps wird Tanit-Raps heißen. Dr. Cooper ergreift abermals einen Marker und hält das, was bis jetzt ausgehandelt wurde, fest. „Ich bin sehr zufrieden mit dem Resultat. Und Sie, Herr Kollege, wie sehen Sie die Sache?“ „Bin begeistert, Herr Kollege, sehr begeistert; das hätte ich nicht erwartet.“ „Ich möchte noch einen Schritt weitergehen“, fährt Dr. Cooper fort. „Ich möchte Sie einmal bitten zu überlegen, ob es so etwas wie ein Ziel gibt, das Sie beide verfolgen. Irgendetwas, das wie eine gemeinsame Vision über Ihren Unternehmen schwebt. Was könnte das sein?“ Während die beiden Unternehmer sich Gedanken darüber machen, was ihre gemeinsame Vision sein könnte, schauen wir uns kurz an, was hier geschehen ist: Wir erleben immer wieder, dass der Verhandlungsprozess von dem Moment an wie von selbst läuft, in dem die Parteien das Gefängnis der vergangenheitsbezogenen Problembewältigung verlassen haben und sich auf den Feldern der zukunftsgerichteten Lösungsfindung zu tummeln beginnen. Sehr oft erhellen sich dann die Gesichter und manchmal entsteht so etwas wie eine kleine Euphorie. Der Prozess nimmt eine Eigendynamik an. Oft ist es so, dass die Anwälte fast nichts mehr zu tun haben. Die Klienten sind wieder selbst Herr ihrer Zukunft geworden und bestimmen ohne fremde Hilfe, was sie tun und lassen möchten. In diesem Beispiel fällt auch auf, dass die endgültige Richtung der Vorgehensweise nicht völlig in die Richtung ging, die man vorbesprochen hatte. Herr Sacksberger hat damit gerechnet, dass er Herrn Mehltau ein Darlehen geben wird. Mehltau scheint dies aber nicht zu wollen. Stattdessen wurde gemeinsam eine Lösung gefunden, der auch Sacksberger zustimmen kann: Eine Verteilung des Gewinnes zuerst zugunsten von Mehltau, dann zugunsten von Sacksberger. Insgesamt erhält Sacksberger in den ersten zehn Jahren den überwiegenden Teil.

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6. Fünfter Schritt: Entwickeln Sie eine gemeinsame Vision: Verstärken Sie die gefundenen Lösungen auf einer höheren Ebene! Die Frage lautet: Welche gemeinsame Vision verfolgen Herr Mehltau und Herr Sacksberger, und wie könnten sie in Zukunft ihre Zusammenarbeit so ergänzen, dass diese Vision noch besser verwirklicht wird, als das heute schon der Fall ist? „Ich glaube nicht, dass ich eine eigene Vision für mein Unternehmen habe“, antwortet Mehltau. „Ich will einfach gutes Mehl herstellen und damit so viel Geld verdienen, dass sich meine Familie den Lebensstandard weiter leisten kann, den sie jetzt hat.“ „Irgendeinen Ehrgeiz, besonders gutes Mehl herzustellen, hast Du also nicht, Johann-Jakob?“ entgegnet Sacksberger. „Ich dagegen bin stark daran interessiert, mit meinen Produkten einerseits bei der Bekämpfung des Welthungers mitzuhelfen und andererseits Industrierohstoffe herzustellen, die uns von der einseitigen Abhängigkeit vom Erdöl loslösen. Mit ist bewusst, dass in den letzten Jahren die Produktion von pflanzlichen Industrierohstoffen gerade Nahrungsmangel bewirkt hat, aber irgendwie müssen wir da raus! Wie es genau geht, weiß ich auch noch nicht. Ich weiß aber auch, dass beides wichtig ist!“ „Gut, so gesehen, habe ich natürlich auch ein großes Interesse daran, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Wie du weißt, exportieren wir seit Jahren in arme Länder und haben da auch ganz spezielle Mahlverfahren entwickelt, die es ermöglichen, Getreide und andere Pflanzen so zu mahlen, dass das Brot, das aus unserem Mehl gebacken wird, auch andere Mägen vertragen als unsere mitteleuropäischen.“ So diskutieren die beiden Männer sicher noch eine halbe Stunde hin und her. Manchmal beteiligt sich Dr. Cooper, manchmal Dr. von Streidt an dem Gespräch. Man findet schließlich heraus, dass es doch ein gemeinsames Ziel gibt, das die beiden mit ihren Unternehmungen verfolgen, nämlich die Produktion und Verarbeitung von hochwertigen Pflanzen, um die zunehmende Nahrungsverknappung und Nahrungsverschlechterung auf unserem Planeten zu bekämpfen; oder positiv ausgedrückt: Beide setzen sich für bessere, gesündere und hochwertigere Pflanzen und Pflanzenverarbeitungsmethoden ein, die dazu beitragen sollen, dass ihre Kinder gesund leben können. Dr. Cooper schreibt das gemeinsame Ziel an das Flipchart, liest es dann nochmals vor (Backtracking) und fragt, ob es das sei, was beide möchten. Einhelliges Nicken ist die Antwort. Was genau hat Dr. Cooper hier gemacht? Er hat die gemeinsam gefundenen Lösungen dadurch verstärkt, dass er die beiden ehemaligen Kontrahenten hat herausfinden lassen, dass sie auf einer höheren Ebene beide am gleichen Strick ziehen. Dies ist eine sehr machtvolle Methode, die wir gerne zum Abschluss von geglückten Verhandlun201

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gen anwenden, um die erreichten Ergebnisse noch zu verstärken. Damit gehen wir nach den logischen Ebenen von Bateson/Dilts über die Ebene der Absichten auf die Ebene der Zugehörigkeit hinauf. Diese Ebene der Zugehörigkeit bestimmt natürlich die Identitätsebene sowie die Ebene der Absichten und alle weiteren darunterliegenden Ebenen. Dies macht wohl auch die Durchschlagskraft dieser Methode aus. Es ist übrigens nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie die Verhandlung mit dieser Methode beginnen. Versuchen Sie es doch einmal! Ich selbst erinnere mich dazu an einen Fall, den ich vor Jahren zu lösen hatte und den ich fast nur mit dieser Methode lösen konnte: Ich wurde gerufen, um zwei Abteilungsleiter eines Unternehmens zu befrieden, die seit Jahren in engster Feindschaft miteinander verbunden waren. Der eine war Leiter der Marketingabteilung, der andere Leiter der Controllingabteilung. Der Leiter der Marketingabteilung warf seinem Kollegen vor, er streiche viel zu viele Gelder, die er dringendst für neue Marketingmaßnahmen, so z.B. für die Verbesserung des Produktdesigns, brauche. Der Controller seinerseits warf dem Marketingmann vor, er werfe das sauer verdiente Geld des Unternehmens mit beiden Händen zum Fenster hinaus. Was konnte man tun? Ich fragte den Marketingmann, was denn eigentlich das Ziel seines Handelns sei. Unumwunden sagte er: „Dem Unternehmen zu einem guten Gewinn zu verhelfen!“ Ich stellte die gleiche Frage seinem Kollegen und dieser meinte: „Dem Unternehmen zu einem guten Gewinn zu verhelfen!“ Als sie diese beiden Sätze gesagt hatten, schauten sie sich ungläubig an. Konnte es sein, dass sie beide das gleiche Ziel verfolgten und dazu nur unterschiedliche Mittel anwendeten? Dass sie beide im gleichen Auto saßen und in die gleiche Richtung fuhren, dies aber nicht merkten, weil einer das Gaspedal bediente, während der andere das Bremsen übernommen hatte. Genau so war es! Die beiden konnten anschließend, nachdem sie jahrelang nur gestritten hatten, zum ersten Mal wieder konstruktiv miteinander sprechen. Dies blieb, nach einigen zusätzlichen Interventionen, auch in Zukunft so. Sie hatten herausgefunden, dass sie auf einer höheren Ebene als der ihrer persönlichen Ziele das gleiche gemeinsame Ziel hatten. Es bestand darin, mit ihrer Tätigkeit dem Unternehmen Gewinn zu verschaffen. Zurück zu den Verhandlern in Bad Friedlingen. Dr. Cooper stellt nämlich schon die nächste Frage: „Meine Herren, darf ich Sie einmal bitten, sich zu überlegen, wie Sie die Vereinbarung, die Sie vorhin getroffen haben, erweitern können, so dass Sie auch noch Ihrem gemeinsamen Ziel näherkommen?“ Die Herren diskutieren abermals heftig und kommen schließlich zu der Erkenntnis, dass sie dem Landwirtschaftsminister in Kiew einerseits auch den SacStar-Weizen zur Verfügung stellen und andererseits das Know-how anbieten wollen, das die Mehltau’schen Mühlen in der Verarbeitung von Getreide über Jahrhunderte erworben haben. Beide glauben, dass ihr Wissen und Können sicherlich gebraucht werden könnte, um der Ukraine zu hel202

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fen, auf dem Weltmarkt besseres Getreide und Mehl anzubieten. Sollte es möglich werden, dass es auch auf diesem Gebiet zu einer Kooperation zwischen Bad Friedlingen und Kiew kommen sollte, wäre sichergestellt, dass Mehltau und Sacksberger nicht das letzte Mal zusammen unterwegs wären.

7. Sechster Schritt: Planen Sie die Schritte auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel: Klären Sie, wer was wann tut! „Meine Herren, obwohl schon Mittag vorbei ist, sollten wir trotzdem noch zwei entscheidende Schritte tun, bevor wir in die wohlverdiente Mittagspause gehen“, fährt Dr. Cooper fort. „Erstens erachte ich es als sinnvoll, dass wir hier und heute noch festlegen, was Sie als nächstes tun werden, um Ihre neue Vereinbarung zu erfüllen. Und zweitens hätte ich gerne so etwas wie eine Absichtserklärung aufgesetzt, eine Art Letter of Intent, der festhält, was wir heute hier vereinbart haben. Sind Sie damit einverstanden?“ Alle nickten und die beiden Unternehmer formulierten ihre nächsten Schritte. Cooper zeichnete diese wieder auf, man strich durch, ergänzte, und schließlich hatte man einen Neun-Punkte-Plan entwickelt, der wie folgt aussah: 1. Mehltau gibt bis 10. Juni die Tage bekannt, an denen Besuche in Kiew und London möglich sind 2. Sacksberger regelt bis 14. Juni die Besuchstermine in Kiew 3. Sacksberger regelt bis 14. Juni die Besuchstermine in London 4. Besuch in Kiew/London bis spätestens September 5. Mehltau klärt bis 16. Juni seinen genauen Geldbedarf für die nächsten zehn Jahre mit seinen Bankern 6. Sacksberger erstellt Vertriebskonzept mit Wendelin bis 15. August 7. Sacksberger regelt die Namensgebung des Rapses bis 16. Juli 8. Unterzeichnung der Lieferverträge mit Kiew und London, wenn möglich im September 9. Unterzeichnung einer endgültigen Vereinbarung über die weitere Zusammenarbeit zwischen Sacksberger und Mehltau nach Unterzeichnung der Lieferverträge Dr. Cooper ruft nun nach seiner Sekretärin und bittet sie, das Blatt auf dem Flipchart rasch abzuschreiben. Dann richtet er sich wieder an die Runde und meint: „Lassen Sie uns jetzt noch unsere gemeinsame Absichtserklärung entwerfen.“ Hier noch einmal eine kleine Unterbrechung und einige Worte der Erklärung. Wenn man in einer Verhandlung Ziele festlegt, ist es wichtig, sich konkrete Gedanken darüber zu machen, wann und wie diese zu verwirklichen sind. 203

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Schließen Sie eine bindende Vereinbarung

schrecklichste Taten

HE! WIR HABEN DEN CLEICHEN NA.M.EN f

© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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7 Fragen zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele: 1. Welche Schritte müssen unternommen werden, um das Ziel zu erreichen? 2. Worin bestehen die Schritte genau? 3. Wer unternimmt diese Schritte? 4. Bis wann haben die Schritte zu erfolgen? 5. Woran erkennen wir, dass der Schritt erfolgt ist? 6. Was tun wir bei auftretenden Problemen? 7. Welche Möglichkeiten haben wir, um auftretende Probleme zu lösen? Die berühmten W-Fragen also. Es ist nicht nötig, dass alle Fragen abschließend beantwortet werden. Aber es ist unabdingbar nötig, dass man sich konkrete Gedanken um die Verwirklichung macht. Je konkreter, desto besser. Denn nur so werden aus Träumen Taten.

8. Siebter Schritt: Schließen Sie eine bindende Vereinbarung: Sorgen Sie dafür, dass die Verhandlungsergebnisse konkretisiert werden! Nach dem ersten Treffen liegt selten schon die vollständig ausgehandelte Vereinbarung vor. Das braucht auch bei der Methode des kooperativen Verhandelns Zeit. Wir sollten aber unsere Klienten nie auseinandergehen lassen, ohne dass sie eine Verpflichtung eingegangen sind. Denn nur beim Formulieren einer Vereinbarung können Sie feststellen, ob sich die Parteien wirklich geeinigt haben oder ob es Kommunikationsfehler, mentale Reservationen o. Ä. gibt. Auch in unserem Fall haben es die Parteien nicht mit dem „Neun-Punkte-Plan“ bewenden lassen, sondern folgende Vereinbarung getroffen: Vorvertrag zwischen Herrn Johann-Jakob Mehltau, Am Mühlebach 1, 89898 Bad Friedlingen und Herrn August Sacksberger, Auf dem weiten Feld 9, 89898 Bad Friedlingen 1. Herr Mehltau und Herr Sacksberger haben 1980 die SackMehl GmbH, Auf dem weiten Feld 1, 89898 Bad Friedlingen, gegründet. Der Zweck der Gesellschaft ist die Züchtung und der Vertrieb von hochwertigen Pflanzensorten. Die Anteile der SackMehl GmbH sind zu gleichen Teilen im Eigentum von Herrn Mehltau und Herrn Sacksberger. Die Gewinnverteilung zwischen den Anteilseignern erfolgt grundsätzlich im Verhältnis ihrer Anteile. 2. Herr Sacksberger hat in den letzten Jahren in weitgehender Eigenverantwortung die Sorte „Tanit-Raps“ entwickelt. Die beiden Parteien sind über205

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eingekommen, dass für diese Sorte Raps eine besondere Gewinnverteilung erfolgen soll. 3. Der Gewinn aus der Sorte „Tanit-Raps“ wird so verteilt, dass in den ersten zehn Jahren, beginnend mit der Unterzeichnung eines entsprechenden Vertrages, Herr Sacksberger 70 % und Herr Mehltau 30 % des Netto-Gewinnes erhalten. Die Gewinnermittlung ist noch gesondert festzulegen. 4. In den ersten vier Jahren der in Ziffer 3 genannten Zehn-Jahres-Periode ist die Gewinnausschüttung hinsichtlich der Erträge aus dem Tanit-Raps so zu gestalten, dass Herr Mehltau die in der Anlage aufgeführten Darlehen so weit als möglich tilgen kann, soweit dadurch die Gewinnverteilung aus den Erlösen des Tanit-Rapses ein Verhältnis von 70 : 30 zugunsten von Herrn Mehltau nicht überschreitet. In den nachfolgenden Jahren des ZehnJahres-Zeitraums sind die Gewinne aus dem Tanit-Raps so lange an Herrn Sacksberger auszuschütten, bis ein Verhältnis von 70 : 30 zugunsten von Herrn Sacksberger hinsichtlich der Gewinne aus den Erlösen des TanitRapses für den genannten Zehn-Jahres-Zeitraum erreicht ist. Kann ein derartiges Verhältnis innerhalb der ersten zehn Jahre nicht erreicht werden, sind die Ausschüttungen zugunsten Herrn Sacksbergers so lange fortzusetzen, bis dieses Verhältnis erreicht ist. Danach werden die Gewinne entsprechend der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung ausgeschüttet. 5. Die bevorstehenden Gespräche über Lieferverträge mit dem Landwirtschaftsministerium der Ukraine in Kiew und der Erdölgesellschaft Excell in London werden von Herrn Sacksberger und Herrn Mehltau gemeinsam geführt. 6. In den Vertragsverhandlungen werden die Parteien versuchen, größere Vorauszahlungen für den zu liefernden Raps zu erhandeln. 7. Der Vertrieb des Rapses wird zu marktüblichen Konditionen über die Firma von Herrn Wendelin Sacksberger erfolgen. 8. Die Parteien vereinbaren, diesen Vertrag bis 30.9.2009 in einen endgültigen Vertrag umzuwandeln. In diesen Vertrag ist eine Schlichtungsklausel für den Fall einer Meinungsverschiedenheit aufzunehmen. Bad Friedlingen, am 30. Mai 2009 Johann-Jakob Mehltau

August Sacksberger

Die Erklärung wird von Hand aufgesetzt und dann der Sekretärin gegeben, die sie rasch ins Reine schreibt. Dann wird sie unterschrieben, und man legt fest, wann man sich wieder trifft. Als auch dieser Punkt geregelt ist, ergreift Herr Mehltau das Wort: „Lieber Herr Dr. Cooper. Ich möchte Ihnen ganz herzlich danken, wie Sie es verstanden haben, diese Verhandlungen zu führen. Und ich glaube, ich spreche diesen Dank nicht nur in meinem Namen aus. Wenn ich mir überlege, in welcher Stimmung ich hier heute Morgen aufgekreuzt bin und in welcher Stimmung ich jetzt Ihre Kanzlei verlasse, muss ich sagen, dass dazwischen Welten liegen. Vor wenigen Stunden war ich noch fest entschlossen, gegen August in den Krieg oder wenigstens vor Gericht zu ziehen, und jetzt 206

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fliegen wir stattdessen demnächst zusammen nach Kiew und sprechen mit dem Landwirtschaftsminister der Ukraine. Wenn wir Glück haben, wird in der Ukraine in kurzer Zeit nicht nur Raps aus unserer Sortenzucht wachsen, sondern es werden dort vielleicht sogar Mühlen stehen, die nach unseren Verfahren Getreide verarbeiten. Wunderbare Aussichten. Erlauben Sie mir bitte deshalb die Frage, Dr. Cooper, ob es Ihnen möglich wäre, uns bei den Verhandlungen mit Kiew und London zu unterstützen. Ich habe Herrn Dr. von Streidt diesen Vorschlag schon unterbreitet – er ist damit einverstanden.“ „Sehr gerne, das würde aber mindestens noch ein ausführliches Vorgespräch in der Art erfordern, wie ich es mit ihnen geführt habe, Herr Sacksberger.“ „Ich stehe Ihnen gerne abermals zur Verfügung, Dr. Cooper. Mit mir können Sie noch tagelang durch den Stadtpark spazieren“, antwortete Herr Sacksberger lachend. „Wie wär’s mit Montagmorgen, um 9:00 Uhr bei mir im Büro?“ „Einverstanden!“ nickt Herr Sacksberger. „In Ordnung!“ stimmt Herr Mehltau zu. „Ich freue mich für Sie, werter Kollege“, ergänzt Dr. von Streidt und schüttelt Dr. Cooper anerkennend und freundschaftlich die Hand, „und ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer neuen Mandantin. Zudem möchte ich Sie herzlich zu einem Abendessen bei mir zu Hause einladen. Sie müssen mir mehr über Ihre Vorgehensweise erzählen. Dem kooperativen Verhandeln scheint ja tatsächlich die Zukunft zu gehören. Meine Frau wird Ihnen dafür einen Hecht aus dem Friedlinger See servieren. Wenn wir bis dahin noch einen fangen. Sie sollen ja langsam aus unserer Gegend verschwinden, die Hechte.“

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Teil 6 Die Techniken: Techniken und Modelle, die ein kooperativer Verhandler beherrschen sollte Im nachfolgenden Kapitel möchten wir Ihnen Modelle, die ein kooperativer Verhandler kennen und Techniken, die er beherrschen sollte, einzeln vorstellen. 1 Teilweise haben wir diese Fragen schon in den vorhergehenden Kapiteln angesprochen; in diesem Kapitel werden wir sie vertiefen. Sie finden für das Selbststudium auch Hinweise auf weiterführende Literatur. Entscheiden Sie selbst: Wenn Ihnen für die Praxis die Verhandlungstipps der Dres. Cooper und von Streidt genügen (wem von den beiden sie jeweils folgen, müssen Sie selbst entscheiden), dann klappen Sie jetzt das Buch zu und wenden Sie sich Ihren Lieben zu, Ihren Briefmarken, Ihrem Hund, Ihrem Garten oder was Ihnen sonst Freude macht. Wenn Sie aber zu den Menschen gehören, die als Basis für Ihr Tun gerne vertieftes Wissen einsetzen, wollen wir Sie noch nicht entlassen, denn für Sie sind die nächsten Seiten bestimmt.

1. Das Rad der klassischen Konfliktlösung2 Meinungsverschiedenheiten können durch Macht, Recht und Interessenausgleich gelöst werden.3 Bei der Analyse zahlreicher Verhandlungen haben 1 Wer sich in der Anwendung dieser Tools üben möchte, dem sei eine profunde Ausbildung in Kommunikation und dort insbesondere in den Techniken des Neurolinguistischen Programmierens NLP empfohlen, wie sie etwa Adrian Schweizer seit vielen Jahren an der Fernuniversität in Hagen anbietet. Unter firm-web.de können Sie sich mehr Informationen dazu herunterladen. Verhandlungstrainings, bei denen sie die in diesem Buch beschriebenen Fertigkeiten erlernen oder vertiefen können, können sie buchen über cmdConflictManagementDesign (Dr. Reiner Ponschab). Informationen erhalten Sie über [email protected] (E-Mail) oder www.cmd-ponschab.de. Siehe auch: Schweizer, Techniken des Mediators – Übersicht, in: Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, S. 321 ff. 2 Siehe dazu oben Teil 2, 3.2, S. 79 ff. 3 Diese Dreiteilung verwenden auch Ury/Brett/Goldberg, Konfliktmanagement, S. 19 ff. Eine Darstellung der Stufenfolge einer friedlichen Konfliktdeeskalation findet sich – weithin unbekannt – in Art. 33 der Charta der Vereinten Nationen in Kapitel 6 „Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten“. Die Vorschrift lautet auszugsweise: „Artikel 33 1. Die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl. 2. …“ (Amtliche Fassung der Bundesrepublik Deutschland in BGBl. 1973 II S. 431 Kapitel VI).

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wir entdeckt, dass in Verhandlungen meist mehrere dieser Mittel nacheinander eingesetzt werden. Nehmen wir einmal an, Sie verfolgen Dr. Maslow, einen Großschuldner Ihres wichtigsten Mandanten, mit großem Eifer. Eines Tages erfahren Sie seine Telefonnummer und Adresse, rufen ihn an und erklären Ihm, dass Sie ihn verklagen würden (Recht/Macht). Er antwortet Ihnen, das sollten Sie ruhig einmal tun, er sei ohnehin gerade dabei, seinen Wohnsitz nach Novosibirsk zu verlegen (Macht). Das erfreut Sie natürlich nicht, denn ein Kollege hat Ihnen neulich erzählt, wie aufwendig und letztlich erfolglos er versucht habe, bei einem Gegner in Tscheljabinsk zu vollstrecken. Das bringt Sie schnell aus der Drohgebärde und lässt Sie vorschlagen, die Probleme doch einmal vernünftig zu besprechen. Sie einigen sich auf eine Ratenzahlung mit Schulderlass bei Zahlung von 75 %. Einen Teil dieser Summe kann Dr. Maslow als freiberuflicher Controller einer Tochterfirma abarbeiten. Die gegenwärtig arbeitslose Frau Maslow wird Sekretärin des Vertriebschefs, der dringend eine Mitarbeiterin mit Russischkenntnissen sucht (Interessen). Die Hinrichtung ist also ausgefallen, aber der wirtschaftliche Erfolg beachtlich. Und: Sie brauchen keine Korrespondenz mit dem als bestechlich bekannten Gerichtsvollzieher in Novosibirsk zu führen, Ihr Mandant wird Ihre kaufmännische statt juristische Vorgehensweise loben und vielleicht sogar Ihren Vorschlag eines erhöhten Pauschalhonorars akzeptieren. Wie wir schon erläutert haben 4, basiert Interessenausgleich auf der Fähigkeit, komplexen Lebenssituationen komplex zu begegnen, während Machtund Rechtseinsatz darauf beruht, das wir versuchen, komplexe Siutationen mit trivialem, einfachem oder kompliziertem Denken zu lösen. Komplexes Denken ist aber etwas, was wir Menschen meist nicht als erstes Mittel zur Konfliktlösung einsetzen. Eine Erfahrung scheint es aber auch zu sein, dass komplexes Denken erstaunlicherweise durch Erschöpfung, Müdigkeit, Hunger, Durst, Abschneiden von sozialem Kontakt etc. gefördert werden kann. Ist es Zufall, dass der Ratspräsident der EU meist morgens gegen 4:00 Uhr vor die Kameras tritt, um eine Einigung in einer schwierigen Sache zu verkünden oder ebenso Arbeitgeberverbände und Gewerkschaftsvertreter bei Tarifverhandlungen? Wie ist es mit den Kardinälen, die zur Papstwahl in das Konklave müssen und in der Capella Sistina eingeschlossen werden? Aus dieser Erkenntnis pflegte ich Verhandlungen über schwierige Themen oder mit störrischen Verhandlungspartnern gerne am Abend anzusetzen. Sehr oft begannen die Verhandlungen kurz nach Mitternacht konstruktiv zu werden, wenn man erlebt hatte, dass man mit allen Macht- und Rechtsmitteln nicht weiterkam, und sich durchgerungen hatte, dem anderen wirklich zuzuhören, um noch einmal ins Bett zu kommen. Der Einsatz von Macht, Recht und Interessenausgleich schließen einander in Verhandlungen somit nicht aus, sondern können durchaus abwechselnd auftreten. Für die Reihenfolge gilt meistens: Durch Nacht zum Licht, von Macht und Recht zu Interessenausgleich oder von Trivialität zu Komplexität. 4 Siehe oben Teil 2, 3.2 und 3.3, S. 78 ff.

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Aus einer solchen Idee heraus ist auch das Modell „Rad der Konfliktlösungsformen“ entstanden, das wir bereits vorgestellt haben.5

2. Konfliktlösung durch Macht: Die 36 Strategeme der List Nach unserer Definition bezeichnet Macht die Fähigkeit von Individuen und Gruppen, auf das Verhalten und Denken von Personen oder Gruppen einzuwirken. Das bedeutet, dass Macht nicht nur in der Ausübung von äußerem Zwang, sondern auch in der – für die andere Seite – unbewussten Einwirkung (Manipulation, List etc.) bestehen kann.6 Über die Konfliktlösung durch Macht sind verschiedene Theorien entwickelt worden. Bekannte Werke zu diesem Thema sind unter anderem: • Sun Tsu „Die Kunst des Krieges“ • Niccolo Machiavelli „Der Fürst“ • Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz „Vom Kriege“ • Harro von Senger „36 Strategeme/Kunst der List“ • Robert Greene „Power – Die 48 Gesetze der Macht“ Die chinesische Theorie der „36 Strategeme der List“ scheint die in sich geschlossenste Darstellung der Anwendung von Machttechniken zu sein. Strategem bedeutete ursprünglich „Kriegslist“. Heute gelten die Chinesen bei Verhandlungen als geschickte Anwender solcher Listen, wie Manager immer wieder berichten.7 In China wird Anwenden und Durchschauen von List hoch geachtet und gepflegt. Dies hat wohl seinen Ursprung darin, dass Chinesen sich weniger von der meist auf religiösen Grundlagen beruhenden Unterscheidung in „Gut und Böse“ oder einem Begriff wie „Die Achse des Bösen“8 leiten lassen als von vorwiegend pragmatischen Überlegungen, unter anderem von der Frage, wie sie Ziele unter Schonung eigener Kräfte am einfachsten erreichen können. Chinesische Autoren haben unterschiedliche Überlistungstechniken benannt und systematisiert. Dies steht im Gegensatz zur europäischen Tradition, die die Anwendung von Listen und Täuschungen ächtet. Im Deutschen hat das Wort „List“ daher einen negativen Beigeschmack. 5 Siehe oben Einleitung, 4., S. 14 und Teil 3.2, S. 78 ff. 6 French und Raven unterscheiden in ihrem Aufsatz „The bases of social power“, verschiedene Machtarten, nämlich legitime Macht, Macht durch Belohnung, Zwang, Identifikation und Wissen. 7 Die historischen 36 Strategeme stammen vermutlich aus dem 5. Jahrhundert und sollen auf General Tan Daoji († 436) zurückgehen. Den ursprünglichen Wortlaut haben wir jeweils nach dem Originalzitat dem heutigen Verständnis angepasst. Zur Anwendung von List im Geschäftsleben: von Senger, 36 Strategeme für Manager. 8 Die Achse des Bösen (Axis of Evil) ist ein am 29. Januar 2002 von US-Präsident George W. Bush in einer Rede zur Lage der Nation geprägter Begriff, mit dem er die Länder Nordkorea, Iran und Irak in einen gemeinsamen Kontext stellte und behauptete, sie seien mit Terroristen alliiert und rüsteten auf, um den Weltfrieden zu bedrohen.

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In Verhandlungen werden Sie immer wieder auf Listen stoßen, vor allem im interkulturellen Bereich. Wenn Sie das Wesen der List und ihre Anwendungsbereiche kennen, werden Sie leichter herausfinden können, ob auf der anderen Seite des Tisches ein Schüler des Generals Tan Daoji sitzt. Sie können die 36 Strategeme aber auch als einen Werkzeugkasten betrachten, mit dem Sie in geeigneten Situationen die Verhandlungskunst der alten Chinesen wieder zum Leben erwecken können. Ein anschauliches Beispiel einer listigen Intervention ereignete sich im Oktober 2008 an der China University of Political Sciences (CUPL) in Beijing, als die CESL (China-European School of Law) feierlich in Anwesenheit des Präsidenten der Europäischen Kommission und des stellvertretenden chinesischen Ministerpräsidenten eröffnet wurde. Im Vorfeld dieses Ereignisses war aufgefallen, dass die Europäer stets von der Europe-China School of Law (ECSL) sprachen9, während die chinesische Seite das Projekt als CESL bezeichnete. Offensichtlich waren die Europäer aufgrund ihres wesentlich höheren finanziellen Beitrags davon überzeugt, dass sie an erster Stelle zu nennen seien. Was passierte bei der Eröffnung? Zunächst fanden alle Teilnehmer auf Ihren Sitzen Prospekte mit dem Aufdruck „China-EU School of Law“, über der Bühne prangte ein riesiges Transparent – unübersehbar für die Bildberichterstattung von Fernsehen und Presse – mit der gleichen Aufschrift. Nach den Reden enthüllten der Präsident der Europäischen Kommission und der chinesische stellvertretende Ministerpräsident eine bis zu diesem Zeitpunkt mit einem roten Tuch verhüllte Tafel. Der geneigte Leser wird zu Recht ahnen, was auf dieser Tafel im dicken Buschstaben stand.10 Wir haben nachfolgend versucht, die 36 Strategeme für die heutige Zeit durch eine zeitgemäße Formulierung und entsprechende Beispiele verständlich zu machen. Sie finden somit nachfolgend: a) den ursprünglichen Text, b) einen Versuch der Klärung, was damit gemeint ist, c) eine Verbalisierung und 9 „Im Auftrag der Europäischen Kommission und der Volksrepublik China wird ein unter der Leitung der Universität Hamburg (UHH) stehendes Hochschulkonsortium eine Europe-China School of Law (ECSL) in Peking errichten.“ (Homepage des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht am 23.10.2008)“; „Die zu Beginn dieses Jahres ins Leben gerufene europäisch-chinesische Rechtshochschule Europe-China School of Law (ECSL) mit Sitz in Peking ist ein herausragendes Projekt mit europäisch-chinesischer Dimension.“ (Von der Universität Hamburg gestalteter Prospekt in der am 23.10.2008 im Internet veröffentlichten Form); „Die Fakultät für Rechtswissenschaft hat die EU-Ausschreibung zur Errichtung der ‚Europe-China School of Law‘ (ECSL) gewonnen. Die Fakultät führt das internationale Konsortium an und wird zusammen mit den europäischen und chinesischen Partneruniversitäten die ECSL in Peking errichten.“ (Homepage der juristischen Fakultät der Universität Hamburg am 23.10. 2008). 10 Hier hat die chinesische Seite ganz offensichtlich das 10. Strategem Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen angewendet.

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d) Beispiele aus Gegenwart oder jüngster Vergangenheit zur Verdeutlichung. Die 36 Strategeme der List 1. Den Himmel täuschend das Meer überqueren (Tarnkappen-Strategem) Tarnen Sie Ihr Ziel. Geben Sie falsche Signale. Verschleiern Sie Ihre Vorgehensweise. Wenn die Frau möchte, dass ihr Gatte Tofu isst, muss sie ihm diesen als Fleisch servieren! fi Verschleiern Ein Geburtstagsgeschenk unter dem Mantel nach Hause tragen. Werbebeilagen in Zeitungen. 2. Wei belagern, um Zhao zu retten (Achillesfersen-Strategem) Greifen Sie Ihren Gegner an seiner verwundbarsten Stelle an. Der homosexuelle Boxer küsst zur Begrüßung vor dem Kampf den MachoGegner! fi Die Achillesferse treffen Obama als Mitglied der Kirche eines schwarzen Fundamentalisten entlarven. Die Kinder entführen, um Geld von den Eltern zu erpressen. 3. Mit dem Messer eines anderen töten (Strohmann-Strategem) Schalten Sie das Gegenüber aus, indem Sie sich eines Stellvertreters bedienen. Es ist besser, dass der Hofnarr den König beleidigt, als du selbst. fi Stellvertreter einsetzen Einen Anwalt nehmen, der einen vor Gericht vertritt. Den großen Bruder schicken, der den „Klassenfeind“ verprügelt. 4. Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten (Aussitz-Strategem) Lassen Sie den Gegner sich selbst ermüden und schlagen Sie dann zu. Wer auf schönes Wetter hofft, tut gut daran, das Ende des Regens abzuwarten! fi Aussitzen Wie Helmut Kohl mit Schwierigkeiten umging. Angela Merkels Umgang mit der Finanzkrise. 5. Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen (Aasgeier-Strategem) Ziehen Sie Profit aus der Not des anderen. Wenn der Feind sich im Chaos befindet, dann bemächtige man sich seiner! 213

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fi Aasgeiern Einen Verwundeten am Straßenrand ausrauben. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei die Geschäfte plündern. 6. Im Osten lärmen, im Westen angreifen (Scheinangriffs-Strategem) Täuschen Sie an einem Ort einen Angriff vor und schlagen Sie an einem anderen Ort zu. Blinke links, biege rechts ab! fi Ablenken Amseln lärmen an anderer Stelle, wenn man sich dem Nest nähert. Aufmerksamkeit auf Carla Bruni lenkt von Sarkozys Politik ab. 7. Aus dem Nichts etwas erzeugen (Aufbauschungs-Strategem) Gaukeln Sie dem Gegner etwas vor, auf das er dann hereinfällt. Der Gegner streichelt den Hasen, vor dem Elefanten aber flieht er! fi Etwas erfinden Nukleare Bedrohung durch Saddam erfinden, um in den Irak einfallen zu können. „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ 8. Sichtbar die Holzstege wieder instand setzen, insgeheim nach Chencang marschieren (Normalitäts-Strategem) Beschwichtigen Sie den Gegner durch Vorspielen der Normalität und schlagen Sie dann zu. Bevor du angreifst, gehe auf den Markt, bringe die Kinder zur Schule und wasche den Wagen auf der Straße. fi Normalität vorspiegeln Schläferstrategie von Al Quaida. Tarnung von Agenten als Biedermänner. 9. Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten (Nicht-Interventions-Strategem) Leisten Sie dem Gegner, wenn dieser in Not geraten ist, keine Hilfe und nutzen Sie dann seine Lage aus. Wer sich des Nichtschwimmers entledigen will, lasse ihn ertrinken! fi Abwarten Rolle der FDP im Hessischen Wahlkampf 2008/2009 (Die Parteivorsitzenden Ypsilanti und Koch reduzierten die Wahlergebnisse Ihrer Partei durch unkluges Vorgehen. Die FDP erzielte dadurch ihr bestes Wahlergebnis seit 1954.). 214

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Berlusconi lässt Gegner regieren, bis sie sich selbst aus der Regierung katapultieren. 10. Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen (Judas-Kuss-Strategem) Verbergen Sie Ihre wahren Absichten hinter einem freundlichen Verhalten. Wer den Kaiser ermorden will, lächle ihm zu! fi Doppelzüngig sein Hitler als Kinder- und Hundefreund. Nebeneinander der irischen Freiheitsbewegung als Terrorgruppe IRA und Sinn Fein als politische Partei. 11. Den Pflaumenbaum anstatt des Pfirsichbaumes verdorren lassen (Bauernopfer-Strategem) Um etwas Größeres zu gewinnen, opfern Sie etwas Kleineres! Schlage den Turm, indem Du den Bauern opferst! fi Für das Größere das Kleinere opfern Bei Vertragsverhandlungen Zugeständnisse machen, um den Abschluss zu erreichen. Übernahme der TÜV-Untersuchung durch Autohändler, um Fahrzeug zu verkaufen. 12. Mit leichter Hand das Schaf wegführen (Kairos-Strategem) Seien Sie allzeit wach und benutzen Sie so wenig Energie wie möglich! Schweres erledigt man mit Leichtigkeit! fi Geistesgegenwärtig einen Vorteil erlangen „You have to make a U-turn! No, you turn!“ (Thatcher) Abstaubertor beim Fußball. 13. Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen (Provokations-Strategem) Wenn Sie wissen wollen, wie der Gegner reagiert, provozieren Sie ihn! Wer den Stier kennenlernen möchte, zeige ihm ein rotes Tuch! fi Aus der Reserve locken (Provozieren) Uli Hoeneß’ lockere Sprüche über den nächsten Gegner. Muhammad Alis Auftritte vor Boxkämpfen. 14. Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen (Patina-Strategem) Wem nichts Besseres einfällt, wechsle die Überschrift! Alter Wein verkauft sich besser in neuen Schläuchen! fi Etikettenschwindel Ständige Neuerfindung der Gilette-Rasierer. SED-PDS. 215

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15. Den Tiger vom Berg in die Ebene locken (Isolations-Strategem) Wenn Sie viele Gegner zu besiegen haben, besiegen Sie diese einzeln! Die Löwen trennen die Gazellen von der Herde! fi Isolieren Isolationshaft. Entführung des Führers der kurdischen Widerstandsorganisation. 16. Will man etwas fangen, muss man es erst loslassen (Laissez-faire-Strategem) Was man eingrenzen will, muss man zunächst ausdehnen. Was man schwächen will, muss man zunächst stärken. Was man stürzen will, muss man zunächst aufrichten. Wer Schinken essen will, muss die Schweine füttern! fi Loslassen Wohnung entrümpeln, bevor ich sie neu einrichte (Feng Shui). 17. Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen (Köder-Strategem) Wem man etwas Großes nehmen will, muss man zunächst etwas Kleines geben. Schenke eine Blume und verkaufe dann den Strauß! fi Ködern Männer investieren in Autos, um Frauen zu imponieren; Frauen in Kleider zum selben Zweck. Hare-Krishna-Jünger verschenken Bücher, um anschließend Spenden einzusammeln. 18. Will man eine Räuberbande fangen, muss man deren Anführer fangen (Schaltstellen-Strategem) Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche! Will man einen Reiter unschädlich machen, zielt man zuerst auf sein Pferd! fi Den Kopf abhauen Bin Ladens Angriff auf das World Trade Center. Amerikaner töten mit Cruise Missiles Stellvertreter von Osama. 19. Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen (Wurzelbehandlungs-Strategem) Bekämpfen Sie nicht Symptome, sondern die Ursache. Wer die Milch am Überlaufen hindern will, muss den Topf vom Feuer nehmen! 216

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fi Ressourcen erschöpfen Einstellung der Gasversorgung für Ukraine und Europa durch Gazprom Anfang 2009. Bombardierung von Schweinfurt im 2. Weltkrieg. 20. Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen (Verwirrungs-Strategem) Verwirren Sie den Gegner! Ist das Wasser zu schmutzig, so japsen die Fische nach Luft! fi Verwirrung stiften Nebelbomben werfen. Anschläge der Fundis bei den Wahlen in Indien oder Pakistan. 21. Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden Hülle (Fokussierungs-Strategem) Lenken Sie den Gegner ab, wenn Sie fliehen wollen. Wer die belagerte Stadt verlassen will, lässt Lärm machen und flieht in einem Heuwagen! fi Sich verwandeln (Das wahre Gesicht zeigen) Die Griechen im Trojanischen Pferd. Madonnas Neuerfindungen ihrer selbst, um an der Spitze zu bleiben. 22. Die Türe schließen, um den Feind zu fangen (Einkreisungs-Strategem) Umzingeln Sie den Gegner, wenn Sie überlegen sind! Wer den Dieb fangen will, muss die Türe schließen! fi Einkreisen Stalingrad. Schachmattstrategie. 23. Sich mit dem fernen Feind verbünden, um den nahen Feind anzugreifen (Vernichtungs-Bündnis-Strategem) Wen man noch nicht besiegen kann, mit dem muss man sich verbünden! Wer die Geliebte des Mannes vernichten will, freunde sich mit ihr an! fi Sich mit dem Feind verbrüdern Nichtangriffspakt Hitler-Stalin. Unterstützung der Taliban durch die USA in ihrem Kampf gegen die Russen. 24. Einen Weg durch den Staat Yu für einen Angriff gegen Guo (DoppelZiel-Strategem) Geschickt ist auch, den Gegner, ohne dass er es merkt, sein eigenes Grab schaufeln zu lassen. Wer die Hand will, tätschelt zuerst den kleinen Finger! 217

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fi Den Gegner sich selbst schwächen lassen Joint Venture mit ausländischen Unternehmen schließen, um die Produkte im Inland nachzubauen. China schickt seine besten Leute zu Aufenthalten in ausländische Unternehmen. 25. Die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen (Auskernungs-Strategem) Angriffe aus dem Inneren heraus sind die wirkungsvollsten. Wenn man den Kaiser stürzen will, muss man die Staatskasse stehlen! fi Basis vernichten Spitzenkräfte abwerben. Mit Computerviren wichtige Programme zerstören. 26. Die Akazie schelten, auf den Maulbeerbaum zeigen (Schattenbox-Strategem) Wenn Sie den Gegner nicht direkt kritisieren können, kritisieren Sie seinen Stellvertreter. Wer den Reiter meint, schelte sein Pferd! fi Schattenboxen In Anwaltsschriftsätzen die gegnerische Partei beschimpfen, aber deren Anwalt meinen. Das „inhumane“ Regime im Irak bekämpfen, um dadurch Kontrolle über Ölquellen zu bekommen. 27. Verrücktheit mimen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren (GreenhornStrategem) Stellen Sie Ihr Licht bewusst unter einen Scheffel! Wer etwas erfahren will, stelle sich dumm! fi Sich dumm stellen Verona Pooths Erfolgsstrategie. Vorgetäuschte Begriffsstutzigkeit des Inspektors Columbo. 28. Auf das Dach locken, um dann die Leiter wegzuziehen (Sackgassen-Strategem) Wenn man den Gegner schwächen will, muss man seine Wahlmöglichkeiten reduzieren! Wer die Dachdecker motivieren will, führe sie aufs Dach und ziehe ihnen die Leiter weg! fi In die Sackgasse locken Butch Cassidy and the Sundance Kid’s Ende: Sie werden von der bolivianischen Armee umstellt und dann getötet. 218

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Virusfalle: Kampf gegen Infektionen, indem Viren in eine Körperzelle gebracht werden, in der sie sich nicht vermehren können. 29. Einen Baum mit Blumen schmücken (Potemkin-Strategem) Wenn es nutzt, gaukele dem Feind etwas vor. Verstecke die faulen Früchte unter den frischen! fi Fassadenschmuck Militärparaden. Hitlers Olympiade 1936. 30. Die Rolle des Gastes in die des Gastgebers umkehren (Unterwanderungs-Strategem) Manchmal ist es sinnvoll, den Gegner für sich arbeiten zu lassen. Der Kuckuck lässt andere aufziehen! fi Unterwandern DDR: Günther Guillaume als Spion bei Willi Brandt. Der Marsch der 68er durch die Institutionen. 31. Das Strategem des schönen Mädchens (Lockvogel-Strategem) Wenn Sie sich ihres Gegners bemächtigen wollen, geben Sie ihm, wonach er giert! Wer einen Partner will, geize nicht mit Reizen! fi Mit Lockvögeln arbeiten Billigangebote bei Media-Markt. 0 % Zins bei Autoleasing. 32. Das Strategem der Öffnung der Tore (Entwarnungs-Strategem) Täuschen Sie einen Hinterhalt vor! Wer die Belagerer vom Eindringen in die Stadt abhalten will, öffne die Stadttore! fi Furcht vor Hinterhalt ausnutzen Die Wahrheit so sagen, dass sie niemand glaubt. Wegen der Angst der Kunden vor Preisverfall Immobilienzertifikate anbieten. 33. Das Agenten-Strategem (Spaltpilz-Strategem) Ist der Feind geeint, so spalte man ihn! Teile und herrsche! fi Destabilisieren Politik Gazproms gegenüber ausländischen Energiekonzernen. Unterstützung Lenins durch deutschen Kaiser im ersten Weltkrieg. 219

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34. Das Strategem des leidenden Fleisches (Samariter-Strategem) Erwecken Sie das Mitleid Ihres Gegners. Es kann sinnvoll sein, nach Canossa zu pilgern! fi Mitleid erwecken Bei Spendenaufruf hungernde Kinder zeigen. Frauen betteln mit ihren Kindern auf der Straße. 35. Das Verkettungs-Strategem Mehrere Strategeme miteinander angewendet erhöhen den Erfolg. Um nach Peking zu kommen, setze man einen Schritt vor den anderen! fi Strategien verketten Die Frau hinter Hostettler (Short Story von Martin Sutter). Mnemotechniken: Verknüpfung von Zahlen mit Bildern. 36. Weglaufen ist das Beste (Rückzugs-Strategem) Bei völliger Aussichtslosigkeit ist Rückzug die beste Wahl. Wer vor der Flut fliehen will, der laufe an den Strand! fi Flüchten statt verlieren Osama taucht unter. Die Nazis verschwinden nach Südamerika. Die RAF geht in den Nahen Osten. Eine mögliche anwendungsorientierte Einteilung der Strategeme wäre die Folgende: 1– 6: 7–12:

anwenden, wenn man überlegen ist anwenden, wenn man unentschieden ist

12–18:

anwenden, wenn man überfallen will

18–24:

anwenden, wenn man überrascht worden ist

25–30:

anwenden, wenn man überrumpelt worden ist

30–36:

und tschüss

3. Bewusstseinsebenen und Wahrnehmungspositionen Als nächstes wollen wir uns fragen: Wie kann es kommen, dass manche Menschen nur Macht als Konfliktlösungsinstrument kennen, während andere darüber hinaus auch das Recht bemühen und andere wieder je nach Lage der Dinge auch noch interessenorientierte Konfliktlösungsinstrumente einsetzen? Was entscheidet über die Fähigkeit, wie viele und welche Instrumente jemand einsetzen kann? Bei der Beantwortung der Frage, ob wir dazu tendieren, unsere Konflikte eher konfrontativ durch Macht und Recht oder kooperativ durch Interes220

Techniken und Modelle

Teil 6

senausgleich zu regeln11, helfen uns die Forschungen des amerikanischen Professors für Psychologie Clare W. Graves (1914–1986). Er untersuchte, warum Menschen unterschiedlich sind, warum sich manche verändern und andere nicht und wie man seinen Weg besser durch die neu entstehenden und häufig chaotischen Fassungen der menschlichen Existenz finden könnte 12. In seinen Worten: „Kurz gesagt, ich schlage vor, dass die Psychologie der menschlichen Natur ein sich entfaltender, nach und nach herausbildender, schillernder spiralförmiger Prozess ist, in dem mit dem Wandel der existentiellen Probleme des Menschen schrittweise ältere Verhaltenssysteme niederer Ordnung neueren Systemen höherer Ordnung untergeordnet werden“13. Er entwickelte sein Modell, in dem er etwa acht größere „Ebenen oder Wellen menschlicher Existenz“ umriss 14, aus der Analyse von über 100 000 Fragebogen. Die Bewusstseinsentwicklung geht scheinbar einher mit der Menschheitsentwicklung, wie sie schon Jean Gebser (1905–1973) in „Ursprung und Gegenwart“15 postuliert hat. Ebenso korrespondiert sie scheinbar mit dem Erwachsenwerden des Menschen von der Geburt über die Kindheit, die Ausbildung, ersten Berufserfahrungen, Erfolg, Ausstieg, Wiedereinstieg und Pensionierung. Heute sind die Graves’schen Level vor allem bekannt in der Darstellung von Don Beck und Christopher Cowan, die sie „Spiral Dynamics“ nennen und acht Werte-Meme (wMem) definieren, denen sie Farben ohne eigene Bedeutung zuordnen16. Diese Bewusstseinslevel sind in der Bevölkerung in unterschiedlichem Umfang vertreten: Rund ein Viertel der Bevölkerung befindet sich auf Level 1–3, fast 70 % auf Level 4 und 5, während auf Level 6/7 und 8 nur wenige Menschen zu finden sind. Zudem scheint es eine Wechselbeziehung zwischen der Entwicklung des Bewusstseins und dem Reifeprozess als Mensch zu geben: Wer einen niedrigen Bewusstseinslevel hat, ist im Reifeprozess noch wenig fortgeschritten oder hat ihn in seinem Leben vermutlich irgendwann abgebrochen. Wie aber werden die einzelnen Bewusstseinsebenen definiert? Darauf wollen wir jetzt etwas vertiefend eingehen: Die nachfolgende Darstellung der Bewusstseinsebenen haben wir mit Daten aus dem Buch „Ganzheitlich handeln“ von Ken Wilber17 angereichert und bei der Beschreibung der einzelnen Levels Begriffe des Stufenmodells von Lawrence Kohlberg 18 (1927–1987) eingefügt. Dieses Modell versucht, den Menschen nach seiner moralischen Entwicklung einer Stufe zuzuordnen, die seine moralische Entwicklung beschreibt. Laut Kohlbergs Theorie 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. oben 1. Das Rad der klassischen Konfliktlösung, S. 209 ff.; Teil 2, 3.2, S. 79 ff. Beck/Cowan, Spiral Dynamics, S. 30. Ebd.; vgl. auch Wilber, Ganzheitlich Handeln, S. 18; Integrale Psychologie, S. 57. Wilber, Ganzheitlich Handeln, S. 18. Ursprung und Gegenwart, Erster Teil, Schaffhausen, 2. Aufl. 1999, S. 70 ff. Ebd. S. 39 ff., 295 ff. S. 21 ff. „Zur kognitiven Entwicklung des Kindes“ und „Die Psychologie der Moralentwicklung“; vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Stufentheorie_des_morali schen_Verhaltens.

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Teil 6

Techniken und Modelle

ist die Moral des Menschen nicht von Geburt an vorgegeben, sondern entwickelt sich mit seiner Veränderung, indem der Mensch einen Sinn für Gerechtigkeit außerhalb des Egoismus entwickelt, sich dem höheren System fügt, den Sinn von Recht und Regeln zu akzeptieren weiß und ein gereiftes Gewissen besitzt. Kohlberg unterscheidet folgende Stufen: • Präkonventionell (Stufen 1–3): Der Mensch nimmt seine Umwelt als gegeben an und verfügt über keine eigene Moral, sondern fügt sich jeglicher Autorität („Recht des Stärkeren“). Der Mensch versucht, die autoritäre, ihn umgebende Umwelt möglichst zu seinem Vorteil zu nutzen. • Konventionell (Stufen 3–6): Der Mensch passt sich seiner Umgebung an und erhofft sich eine positive Rückmeldung. Egoismus/Individualismus und Moral halten sich die Waage. Der Mensch entwickelt einen Sinn für Gerechtigkeit außerhalb des Egoismus. • Postkonventionell (Stufen 6–8): Ein Mensch, der diese Stufe erreicht, verfügt über eine autonome, von Prinzipien geleitete Moral. Er untersucht gegebene Normen auf ihre Richtigkeit und ist sich dabei stets bewusst, dass auch seine Auffassung nicht unanfechtbar und für jeden gleich gerecht ist. Der Mensch besitzt ein vollständig ausgebildetes, autarkes Gewissen und folgt universellen Grundsätzen, unabhängig von jeglichem Egoismus. Das Handeln nach Kants berühmtem kategorischen Imperativ („Handle so, dass du auch wollen könnest, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden!“) wäre ein gutes Beispiel für diese Stufe. Die einzelnen Bewusstseinsstufen (levels) lassen sich so beschreiben: 1. Instinktiv (beige) Historisch: erste menschliche Gemeinschaften Haupttätigkeit: Instinkte und angeborene Sinne schärfen Grundglaube: „Ich muss nur den Tag und die Nacht überstehen!“ Ich-Identität: impulsiv, präkonventionell Entwicklungspsychologisch: nach der Geburt und vor dem Tod Vorkommen spezifisch: geisteskranke Stadtstreicher, Terroropfer Vorkommen generell: ca. 0,1 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 0 % 2. Magisch (purpur) Historisch: ethnische Stammesgemeinschaften Haupttätigkeit: Harmonie und Sicherheit in einer geheimnisvollen Welt suchen Grundglaube: „Überall Stimmen, Augen und Monster, die nachts lebendig werden!“ Ich-Identität: egozentrisch, präkonventionell Entwicklungspsychologisch: Kindheit 222

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Vorkommen spezifisch: Sportmannschaften, Seilschaften in Unternehmen und Dritte Welt Vorkommen generell: ca. 10 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 1 % 3. Egozentrisch (rot) Historisch: Feudalreiche Haupttätigkeit: stark sein, sich selbst ausdrücken, nach Freiheit streben Grundglaube: „Der Stärkere überlebt!“ Ich-Identität: egozentrisch, präkonventionell und konventionell Entwicklungspsychologisch: Pubertät Vorkommen spezifisch: Rebellen, epische Helden und New-Age-Narzissten Vorkommen generell: ca. 20 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 5 % 4. Konformistisch (blau) Historisch: konfuzianisches China, puritanisches Amerika, modernes Singapur Haupttätigkeit: Ordnung schaffen, Zweck und Ziele bestimmen Grundglaube: „Himmel, Erde und alle Kreaturen bestehen zur Ehre Gottes!“ Ich-Identität: konformistisch, konventionell Entwicklungspsychologisch: Lehre, Militär, Studium Vorkommen spezifisch: monotheistischer Fundamentalismus, Patriotismus, Moral Majority Vorkommen generell: ca. 40 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 30 % 5. Leistungsorientiert (orange) Historisch: Aufklärung, Materialismus Haupttätigkeit: analysieren und planen zum persönlichen besseren Gedeihen Grundglaube: „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ Ich-Identität: gewissenhaft, konventionell Entwicklungspsychologisch: erfolgreiche Berufstätige Vorkommen spezifisch: Mittelklasse, Wall Street, Kalter Krieg Vorkommen generell: ca. 30 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 50 % 223

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6. Soziozentrisch (grün) Historisch: Postmodernismus, Babyboomer Haupttätigkeit: streben nach Gleichberechtigung, Erforschen des eigenen Inneren Grundglaube: „Der menschliche Geist muss von Habgier, Dogma und Entzweiung befreit werden!“ Ich-Identität: individualistisch, konventionell und postkonventionell Entwicklungspsychologisch: Aussteiger Vorkommen spezifisch: Menschenrechtsbewegung, Ökobewegung, Feminismus Vorkommen generell: ca. 10 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 15 % 7. Integrativ (gelb) Historisch: Holarchien (noch nicht verwirklicht) Haupttätigkeit: Systeme einpassen und integrieren Grundglaube: „Das Leben ist ein Kaleidoskop natürlicher Hierarchien, Systeme und Formen!“ Ich-Identität: autonom, postkonventionell Entwicklungspsychologisch: Wiedereinsteiger Vorkommen spezifisch: elitäre Zirkel Vorkommen generell: ca. 1 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 5 % 8. Holistisch (türkis) Historisch: universell-holistisch (n. n.v.) Haupttätigkeit: Synergien erzeugen und große Einheiten verbinden Grundglaube: „Die Welt ist ein einziger, dynamischer Organismus mit kollektiver Vernunft!“ Ich-Identität: aufgelöst, postkonventionell Entwicklungspsychologisch: Erleuchtete Vorkommen spezifisch: Sanghas Vorkommen generell: ca. 0,1 % der Bevölkerung Vorkommen in der politischen Elite: ca. 1 % Eine Hypothese, die man aus diesen Erkenntnissen entwickeln könnte, wäre, dass Menschen, deren Bewusstsein sich nur bis zum Bewusstseinslevel 3 entwickelt hat, lediglich die konfrontative Konfliktlösung durch Macht wirklich verstehen. Menschen, die Bewusstseinsstufe 6 erreicht haben, kön224

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nen die konfrontativen Konfliktlösungen durch Macht und Recht verstehen und nachvollziehen und solche, die sich noch weiter entwickelt haben, sind der kooperativen Konfliktlösung durch Interessenausgleich zugänglich, können aber bei Bedarf Konflikte auch durch Macht und Recht lösen. 19 wMem Level 1–3: Konfliktlösung nur mittels Macht wMem Level 4–5: Konfliktlösung mittels Macht und Recht wMem Level 6 aufwärts: Konfliktlösung mittels Macht, Recht und Interessenausgleich Oder anders ausgedrückt: Ein Mensch mit Bewusstseinslevel 1–3 versucht triviale, einfache, komplizierte und komplexe Konflikte mit trivialem und einfachem Denken (Macht) zu lösen. Ein Mensch mit Bewusstseinslevel 4–5 versucht triviale, einfache, komplizierte und komplexe Konflikte mit kompliziertem Denken (Recht) zu lösen. Ein Mensch mit Bewusstseinslevel 6 und mehr, versucht triviale, einfache, komplizierte und komplexe Konflikte mit komplexem Denken (Interessenausgleich) zu lösen. Konfliktlösungs-Matrix Information

viel

wenig

komplex Interessenausgleich

einfach Macht

trivial Flucht

kompliziert Recht

wenig

viel

Zeit

Was bedeutet das nun für unsere Verhandlungspraxis? Zweierlei: Einerseits, dass vermutlich nur ein Verhandler, der komplex denken kann, komplexe Sachverhalte auch verhandeln kann, und andererseits, dass man mit den komplexen Denkstrukturen des Interessenausgleiches bei Menschen, denen diese Denken nicht zugänglich ist, keinen Erfolg 19 Siehe oben Teil 2, 3.3, S. 81 ff.

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hat. Man muss sie dort abholen, wo sie stehen, und auch Recht und Macht anwenden können. Ein Beispiel für diese These zeigt der Film „Lawrence of Arabia“ von David Lean: Lawrence, der sich anfangs des 20. Jahrhunderts als britischer Heerführer, Unterhändler und Abenteurer im Nahen Osten aufgehalten hat, freundet sich mit einem Einheimischen an. Eines Tages stellt sich heraus, dass der Mann einen Angehörigen eines anderen Stammes, der ebenfalls mit Lawrence zusammenarbeitet, in einer Vendetta ermordet hat. Der Stamm fordert nun Rache und will den Freund umbringen. Lawrence versucht zu verhandeln, aber es nützt nichts. Keiner der Stämme ist für seine Argumentation offen. Für sie gibt es nur Auge um Auge, Zahn um Zahn. Was tut nun Lawrence, der weiß, dass die Tat seines Freundes der Beginn eines endlosen Mordens sein wird? Er selbst erschießt seinen Freund! Nun ist der Ermordete im Bewusstsein des anderen Stammes gerächt, und der eine Stamm sieht keinen Grund mehr, ein Mitglied des anderen Stammes zu ermorden. Dies ist Konfliktregelung auf dem wMem Level 1–3, das den Betroffenen zugänglich scheint. Lawrence als vermuteter Angehöriger eines höheren Levels, ist in der Lage, auch auf einem unteren Level zu agieren. Ein gutes Beispiel, dass auch Managern Konfliktlösungswerkzeuge nur im Rahmen ihrer Bewusstseinsebene zugänglich sind, zeigt die 2005 veröffentlichte PWC-Studie „Commercial Dispute Resolution – Konfliktbearbeitungsverfahren im Vergleich 20 Ziel dieser Befragung war es unter anderem, die gegenwärtigen Praktiken und Präferenzen von Unternehmen bei der Bearbeitung von Konflikten mit anderen Unternehmen festzustellen. Beteiligt haben sich 158 Unternehmen, was einer ungewöhnlich hohen Rücklaufquote von 16,4 % entspricht. Bei der Frage, welches Konfliktlösungsverfahren die meisten Vorteile bringe, hatten die Unternehmen folgende Werte angegeben (die Prozentzahlen beziehen sich auf die Häufigkeit der Angabe durch die befragten Unternehmen): Verhandlung: 90,8 % Mediation: 73,9 % Schlichtung: 65,1 % Schiedsgutachten: 60,4 % Schiedsgerichtsverfahren: 48,5 % Gerichtsverfahren: 23,3 %. Hiernach erwiesen sich die Verfahren, die den Konfliktparteien im Hinblick auf Vorgehensweise und Ergebnis am meisten Entscheidungsfreiraum belassen, als führend. Also müsste man bei diesen Ergebnissen davon ausgehen, dass die Unternehmen beim Scheitern von Verhandlungen zunächst die von ihnen so positiv bewertete Mediation einsetzen. 20 PricewaterhouseCoopers/Europa-Universität Viadrina (Hrsg.), Commercial Dispute Resolution – Konfliktbearbeitungsverfahren im Vergleich, Frankfurt am Main 2005.

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Weit gefehlt! Bei der Angabe über die Häufigkeit des tatsächlichen Einsatzes von Konfliktlösungswerkzeugen ergaben sich folgende Ergebnisse: Verhandlung: ca. 80 % Gerichtsverfahren: ca. 40 % Schiedsgerichtsverfahren und Schiedsgutachten: ca. 20 % Schlichtung: ca. 10 % Mediation: ca. 5 %. Beim Scheitern von Verhandlungen werden also in der Unternehmenspraxis – entgegen allen Beteuerungen über deren unvorteilhafte Auswirkungen – kompetitive Verfahren (vor allem das als nicht vorteilhaft bewertete Gerichtsverfahren) und Personen mit Entscheidungsbefugnis dem kooperativen Verfahren der Mediation mit einem Dritten ohne Entscheidungsbefugnis vorgezogen. Diese Erklärung scheint auch die PWC-Folgestudie 200721 zu bestätigen, welche die „Inkongruenz zwischen Bewertung und Nutzung von Konfliktbearbeitungsverfahren“ mit lückenhaften theoretischen Kenntnissen bzw. Blockaden durch übergeordnete Hierarchieebenen erklärt. Wie kann das sein? Eine naheliegende Erklärung wäre, dass der Großteil des Managements in Unternehmen noch nicht den Bewusstseinsgrad hat, der es ihm ermöglicht, die als vorteilhaft erkannten Konfliktlösungswerkzeuge auch in der Praxis tatsächlich einzusetzen. Sie kennen neue Tools wohl intellektuell. Wenn es aber darum geht, sie umzusetzen, vertrauen sie auf das, was sie bisher als wirkungsvoll erlebt haben. Und das ist Konfliktlösung mittels Macht und Recht. Ihr Wissen um die kooperativen Verfahrenen ist somit prä- aber nicht postkonventionell. Wie kommt aber ein hoher Bewusstseinsgrad zustande? Eine hohe Bewusstseinsebene zeichnet sich, so unsere Hypothese, dadurch aus, dass eine Person in der Lage ist, permanent Dinge aus der eigenen, einer fremden, also der Perspektive eines Beobachters und einer Perspektive außerhalb des Systems zu erleben und verarbeiten zu können. Sie ist in der Lage, ihr Leben multiperspektivisch (ganzheitlich) wahrzunehmen. Am Beispiel einer Interaktion zwischen Mehltau und Sacksberger ließe sich das so darstellen: Sacksbergers Perspektive war: Der Yellow Gold-Raps gehört mir! Mehltaus Perspektive war: Der Yellow Gold-Raps gehört zu 50 % mir! 21 PricewaterhouseCoopers/Europa-Universität Viadrina (Hrsg.), Praxis des Konfliktmanagements deutscher Unternehmer – Ergebnisse einer qualitativen Folgestudie zu „Commercial Dispute Resolution – Konfliktbearbeitungsverfahren im Vergleich“, Frankfurt am Main 2007.

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Die neutrale, dritte Perspektive war: Die beiden haben ein Eigentumsproblem! Die Perspektive von außerhalb des Systems war: Die beiden hatten gute Geschäftsbeziehungen miteinander. Jetzt haben sie Streit. Wenn sie es jetzt geschickt angehen und anders machen als viele, können sie ebenfalls in der Zukunft wieder gute Geschäftsbeziehungen haben. Einer Person, die in der Lage ist, diese vier Betrachtungsweisen willentlich einzunehmen, würden wir ein Bewusstseinslevel von mindestens vMem Level 7 attestieren. Für Macht braucht man unseres Erachtens nur die eigene subjektive Perspektive; für Recht die eigene, subjektive und die neutrale, objektive Perspektive und für Interessenausgleich zusätzlich die fremd-subjektive Perspektive. Für nachhaltige Entscheidungen ist auch noch die systemische Perspektive von außerhalb des Fühl- und Denkrahmens notwendig: wMem Level 1–3 Macht: eigene subjektive Perspektive (1st position) 22 wMem Level 3–5 Recht: eigene subjektive (1st position) und objektive Perspektive (3rd position) wMem Level 6–8 Interessenausgleich: eigene subjektive (1st position), fremde, subjektive Perspektive (2nd position) und objektive Perspektive (3rd position); für nachhaltige Lösungen zusätzlich: die systemische Perspektive (4th position) Wenn eine Person nur in der Lage ist, über diese Positionen „nachzudenken“, dann ist es nicht das, was wir meinen! „Eindenken“ ist nur für die 3. und 4. Position nötig. „Einfühlen“ ist aber notwendig für die 1. und 2. Position. Und wie kommt man nun dorthin? Schwer zu sagen. Es gibt viele Menschen, die beschreiben, wie es bei ihnen plötzlich „Klick“ im Kopf gemacht hat. Reiner Ponschab hat im 3. Teil erzählt, wie er im Riff auf den Malediven zur Einsicht gekommen ist, dass alles voneinander abhängt. Ich war in meiner Studienzeit einmal kurz hintereinander mit Steine werfenden Demonstranten und sodann mit das „Wahre und Gute“ verteidigenden Polizisten zusammen, und da fiel mir auf, wie sehr sich die Menschen ähnelten und nur einfach andere Parolen trugen. Man hätte die Worte austauschen können und niemand hätte etwas bemerkt. Von einer höheren Ebenen aus gesehen, haben sie, so glaubte ich erkennen zu können, für das Gleiche gekämpft: Ihre eigene Weltsicht, die sie integer gegen die andere Weltsicht verteidigt haben!

22 Zu den vier Wahrnehmungspositionen siehe auch unten 6., S. 238 ff.

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4. Woran sollte ein kooperativer Verhandler glauben: 21 Axiome effizienter Kommunikation Bevor wir zu den Fähigkeiten kommen, die ein kooperativer Verhandler haben sollte, wollen wir zuerst fragen, welche anderen Voraussetzungen als ein Bewusstseinslevel von mindestens vMem 6 er mitbringen sollte, damit er diese Fähigkeiten überhaupt entwickeln kann: Er sollte an die 21 Axiome effizienter Kommunikation glauben, die wir hier mit Comics aus dem Leben „Hägars des Schrecklichen“ darstellen. Unterhalb jedes Axioms und Cartoons haben wir eine mögliche Fähigkeit formuliert, die sich für den kooperativen Verhandler aus dem jeweiligen Axiom ableiten lässt. 23 1. Die Landkarte ist nicht das Gebiet.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann den Standpunkt des Verhandlungspartners neutral und wertfrei wahrnehmen! 2. Informationen werden zu 93 % über die Form und nur zu 7 % über den Inhalt transportiert. Das Wie ist wichtiger als das Was.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler lässt sich vom Inhalt des Gesagten nicht allzu sehr beeinflussen und kann sich stattdessen auf die Form des Gesagten fokussieren!

23 Herzlicher Dank gebührt an dieser Stelle Jürgen Greiner und den anderen Teilnehmern der Ausbildung zum „Systemischen Business Coach“ an der Fern-Uni Hagen 2007, die an der Zusammenstellung der Cartoons maßgeblich mitgewirkt haben.

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3. Ein Mensch kann nicht mehr als sieben plus/minus zwei Informationseinheiten verarbeiten.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann seine Informationen so aufbereiten, dass diese innerhalb des Auffassungsvermögens der Verhandlungspartner liegen! 4. Jeder Mensch trägt sämtliche Ressourcen, die er zur Veränderung braucht, in sich.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann den Verhandlungspartnern helfen, selbständig Lösungen in sich selbst zu finden! 5. Der Wert der Kommunikation ist das Resultat, das diese hervorruft.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler erkennt, wenn eine Kommunikationsform nicht den gewünschten Erfolg bringt und ersetzt sie durch eine andere Form!

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6. Es gibt keine Fehler, nur Feedback.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann flexibel und situationsgerecht kommunizieren! 7. Der positive Wert eines Individuums ist grundlegend. Die Angemessenheit seines Verhaltens kann in Frage gestellt werden.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann hinter der Position das Interesse erkennen! 8. Die Absicht jeden Verhaltens ist positiv.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann akzeptieren, dass jedes Interesse grundlegend gut und in Ordnung ist!

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9. Menschen treffen jeweils die beste ihnen zur Verfügung stehende Wahl.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler weiß, dass die Verhandlungsparteien erst dann anders denken und handeln, wenn sie Zugang zu neuen Ressourcen haben! 10. Ein negatives Verhalten wird erst aufgegeben, wenn etwas Besseres zur Verfügung steht.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler weiß, wie man den Verhandlungspartnern hilft, Zugänge zu Ressourcen zu finden! 11. Widerstand ist die Folge der Inflexibilität des Kommunikators.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kann, wenn eine Intervention nicht funktioniert, zur nächsten greifen!

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12. Verhalte Dich stets so, dass die Zahl Deiner Wahlmöglichkeiten zunimmt.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler ist in der Lage, so mit den Verhandlungsparteien zu kommunizieren, dass diese sich immer hoffnungsvoller und lösungsorientierter fühlen! 13. Eine Lösung ist ein Problem, zwei Lösungen ein Dilemma, Freiheit beginnt mit drei Lösungen.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler kennt für jeden nächsten Schritt mindestens drei Möglichkeiten des Vorgehens! 14. Individuen haben zwei Ebenen der Kommunikation: Eine bewusste und eine unbewusste.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler gebraucht eine Ausdrucksweise, die widerstandsfrei vor allem auch das Unbewusste der Verhandlungspartner anspricht!

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15. Lernen ist fühlen und denken und fühlen und denken und …

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler ist in der Lage, die Verhandlungspartner durch die vier Wahrnehmungspositionen zu führen! 16. Die wenigsten Menschen verstehen etwas, wenn sie es nur hören. Sehen multipliziert den Lernerfolg und Selbertun potenziert ihn.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler beherrscht die Kunst und Wissenschaft des Visualisierens und der induktiven Informationsvermittlung! 17. Mach nie den zweiten Schritt vor dem ersten.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler hat alle Kommunikationstechniken am eigenen Leib erfahren!

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18. Wenn etwas nicht funktioniert, tu etwas anderes.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler verfügt über einen sehr großen Köcher an Verhandlungstechniken! 19. Ein Problem kann nicht auf derselben Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler hat die logischen Ebenen à fond verstanden und kann sie situationsgerecht anwenden! 20. Ein System wird auf die lange Dauer nicht von demjenigen Element beherrscht, das scheinbar das mächtigste ist, sondern vom flexibelsten.

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler ist der flexibelste Player in der Verhandlung!

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21. Ob Du etwas glaubst oder nicht: Du hast recht!

Fähigkeit: Der kooperative Verhandler glaubt an das kooperative Verhandeln und kann damit leben, dass die meisten Menschen nicht nachvollziehen können, woran er glaubt.

5. Der Paternoster der logischen Ebenen Das wichtigste Werkzeug, das jeder kooperative Verhandler beherrschen muss, ist der Paternoster der logischen Ebenen24. Hier zuerst nochmals eine Erklärung der logischen Ebenen: Nach Dilts 25, der sich in seinem Modell auf Vorarbeiten von Gregory Bateson, Alfred North Whitehead und Bertrand Russel bezieht, können wir nur die Fähigkeiten entwickeln, von denen wir glauben, dass sie für uns wichtig sind. Was heißt das? Hier ein Beispiel: Niemand wird das Handwerk des Rechtsanwaltes erlernen, wenn er nicht überzeugt davon ist, dass es sein Ziel ist, Rechtsanwalt zu werden (Belief-Ebene), dass er ein Rechtsanwalt sein (Identitätslevel) und zur Gruppe der Rechtsanwälte (Zugehörigkeitslevel) gehören will! Hier das ganze Modell:

24 Die logischen Ebenen haben wir bereits in Teil 1, 2.2, S. 28 ff. 25 Das Konzept der logischen Ebenen wurde von Robert Dilts 1990 eingeführt (Changing Beliefs with NLP, deutsch: Die Veränderung von Glaubenssystemen, S. 15 ff.). Dieses Konzept beruht auf der Theorie der logischen Typen, die Alfred North Whitehead und Bertrand Russell in Ihrem 1910 bis 1913 verfassten Werk Principia Mathematica dargelegt haben (Principia Mathematica. 3 Bände. Cambridge University Press 2. Aufl. 1962). Sie ist ein Versuch, den Gesamtbereich der Mathematik hierarchisch-logisch zu ordnen. Jeder mathematische Begriff wird eindeutig einer bestimmten logischen Ebene und eine Menge (z.B. die Menge aller Bücher) einem höheren logischen Typ zugeordnet als ihre Elemente (ein einzelnes Buch). Gregory Bateson hat 1964 vorgeschlagen, diese Theorie auf Probleme der menschlichen Kommunikation anzuwenden.

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Die logischen Ebenen der Veränderung (Robert Dilts/Gregory Bateson/Bertrand Russel/Alfred North Whitehead) Zugehörigkeit mit wem? für wen? Heimat, Lebensaufgabe, Mission, Dharma, Sinn ich gehöre zu Identität wer? Rolle, Vision, Zweck ich bin Beliefs, Werte, Motive warum? Motivation, Interesse, Ziel ich glaube, ich will Fähigkeiten wie? Strategie ich kann Verhalten was? Aktion ich mache, ich tue Umwelt wo? wann? Reaktion ich wähle

Es gelten zwei Gesetze: 1. Die obere Ebene bestimmt die untere Ebene. 2. Ein Problem kann nicht auf derselben Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist. (Albert Einstein) Der erfolgreiche kooperative Verhandler führt die eigene und die fremde Partei durch den Paternoster der logischen Ebenen hinauf von den Positionen (Verhalten) über die Risikoanalyse der Interessen zu der Common Mission und danach wieder hinunter über die Interessen der Beteiligten und die Optionen (Verhalten) zur Lösung. Das ist das Kernmodell des kooperativen Verhandelns!

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Der Paternoster des kooperativen Verhandelns Common Mission: WEM dienen wir beide?

Interessen: WARUM sollen die Positionen verwirklicht werden?

Risikoanalyse: WIE soll die Position durchgesetzt werden?

Position: WAS soll WANN und WO geschehen?

Zugehörigkeit für WEN? Lebensaufgabe, Mission, Dharma, Sinn ich gehöre zu, ich diene Identität WER? Rolle, Vision, Zweck: ich bin Beliefs, Werte, Motive WARUM? Motivation, Interesse, Ziel: ich glaube, ich will Fähigkeiten WIE? Interessen: ich kann Verhalten WAS? Aktion: ich agiere Umwelt WO? WANN? Reaktion: ich reagiere

Common Mission: WEM dienen wir beide?

Interessen: WARUM sollen die Positionen verwirklicht werden?

Optionen: WIE können C.M. und beide I. verwirklicht werden?

Lösung: WAS soll WANN und WO umgesetzt werden?

6. Die vier Wahrnehmungspositionen und die Kunst, empathisch zu sein Damit ein kooperativer Verhandler in der Lage ist, seine und die fremde Partei durch den Paternoster der logischen Ebenen zu führen, braucht er ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, das er dadurch generieren kann, dass er in der Lage ist „2nd position“ zu gehen, also empathisch zu sein. Wenn wir in unseren Kursen und Trainings Empathie lehren, stellen wir oft folgende Frage: „Stellt Euch einmal vor, ein Mandant erzählt Euch, wie ihn die Bäume im Garten des Nachbarn stören. Wie sie ihm die Sonne wegnehmen, wie sie ihm das Dach verlauben, wie sie ihn um die Aussicht auf den FriedlingerSee bringen. Wenn Ihr diese Geschichte hört, wo seid Ihr mit Eurer Aufmerksamkeit? Wo seid Ihr, wenn der Mandant die Geschichte erzählt?“ Die Frage verblüfft meistens. Wir bleiben aber dabei und erklären, dass wir nun eben mal nicht juristisch-dogmatisch vorgehen wollen, sondern naturwissenschaftlich: Wo ist der Fokus der fünf Sinne (sehen, hören, riechen, schmecken, spüren), wenn wir empathisch sind? Wir arbeiten dann heraus, dass es – rein biologisch gesehen – vier verschiedene Positionen gibt, die 238

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unterschiedliche nervliche Reize generieren und für unsere Zwecke wichtig sind: 1. Position: Ich steige nicht in die Geschichte des Mandanten ein, sondern bleibe im Hier und Jetzt: Ich nicke, wiederhole, was er gesagt hat, und höre aktiv zu. 2. Position: Ich steige in die Geschichte des Mandanten ein und nehme in meiner Landkarte seiner Erzählung seine Position ein: Ich sehe und spüre, wie die Bäume mir die Sicht und das Licht nehmen, und ärgere mich wie er über die Blätter auf meinem Dach. 3. Position: Ich steige in die Geschichte des Mandanten ein, nehme aber in meiner Landkarte seiner Erzählung nicht seine Position ein, sondern stehe neben ihm und beobachte ihn und die anderen handelnden Personen. 4. Position: Ich steige in die Geschichte des Mandanten ein, nehme aber in meiner Landkarte seiner Erzählung weder seine Position noch die Position des Beobachters ein, sondern die Position eines Beobachters aus dem Universum: Ich schaue mir das Ganze von ganz weit oben an, vielleicht von Wolke 7, und sehe dabei auch den Nachbarn, die anderen Nachbarn, was früher war und wie es in Zukunft sein könnte. Diese vier Positionen legen wir am Boden aus, während einer der Kursteilnehmer seine Geschichte erzählt und im Laufe von anderen Übungen finden wir dann heraus, dass nur eine der vier Wahrnehmungspositionen Empathie erzeugt, nämlich die 2. Position: Ich stelle mir vor, ich wäre die andere Person! Woran erkennen wir das? Etwa daran, dass sich der Erzähler verstanden fühlt, dass das Gespräch plötzlich in Fluss kommt und der Frager von selbst die richtigen Fragen stellt. Beobachter merken, dass sich auch von außen gesehen etwas an den beiden verändert: Sie laufen plötzlich im selben Schritt, bewegen sich synchron, und es schaut aus, als würden sich beide im gleichen Grundpuls bewegen. Die Fähigkeit, Empathie aufzubauen oder: in „2nd position“ zu gehen, wie wir es nach dem Modell von John Grinder und Judith DeLozier 26 gerne nennen, ist grundlegend für jeden berufsmäßigen Kommunikator. Für den kooperativen Verhandler ist es insbesondere wichtig, dass er während der Verhandlung die 1st position (fühlen) tunlichst meidet und die ganze Verhandlung aus der 2nd position (mitfühlen), 3rd position (denken) und 4th position (überdenken) steuert. Wenn es ihm gelingt, die Verhandlungspartner ebenfalls aus ihrer 1st position (fühlen) zu führen und sie zu veranlassen, die Sache einmal aus der Perspektive der anderen Partei (2nd position, mitfühlen), „going to the balcony“, wie Bill Ury 27 sagen würde (3rd position, denken), oder gar systemisch zu betrachten (4th position), dann wäre eine so 26 Siehe oben Teil 2, 3.4, S. 85, Fn. 23. 27 Getting Past No, S. 11 ff. (deutsche Ausgabe: „Schwierige Verhandlungen“).

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gefundene Lösung, wie wir weiter unten noch ausführen werden, „very sustainable“, also nachhaltig!

7. Die Kunst des Fragens Eine Fertigkeit, die jeder kooperative Verhandler beherrschen muss, ist die Kunst des Fragens. Meistens wird sie etwa so gelehrt, dass es offene, geschlossene und suggestive Fragen gäbe, wobei die suggestiven Fragen tunlichst zu meiden und geschlossene erst im Moment der Lösungsfindung einzusetzen seien. Wir sind der Meinung, dass es neben diesen drei Kategorien noch viel mehr Fragetypen gibt und wagen hier einmal eine Zusammenstellung. Wir zeigen die Anwendung der Fragen vor allem für die Vorbereitungsphase der Verhandlung, die uns oft fast wichtiger erscheint als die eigentliche Verhandlungsphase, da wir da erfragen können, was der Mandant wirklich will. Nur wenn wir das wissen, können wir ihm helfen, seine wirklichen Interessen zu verwirklichen. Zudem ermächtigen wir ihn damit, sein Ziel und seine Interessen viel besser selbst zu vertreten. Unsere Aufgabe als Anwälte kann es dann sein, ihm in Rechtsbelangen zur Seite zu stehen. Wenn Sie einmal den Geist der Fragen verstanden haben, wird es Ihnen ganz leichtfallen, diejenigen zu wählen, die für die jeweilige Verhandlungsphase günstig sind und die wegzulassen, die zur jeweiligen Verhandlungsphase nicht passen. 7.1 Sachverhaltsorientierte Fragen Diese Fragen dienen dazu herauszufinden, was genau geschehen ist, welcher Sachverhalt also den bevorstehenden Verhandlungen zugrunde liegt. Man fragt dazu einfach die logischen Ebenen hoch. Wie sehen Sie den unseren Verhandlungen zugrundeliegenden Sachverhalt? Was ist in Ihren Augen genau geschehen? Wann ist es geschehen? Wo ist es geschehen? Wie ist es geschehen? Was war das Ziel des Tuns? Wer war daran beteiligt? Für wen wurde es getan? 7.2 Problemorientierte Fragen Oft stellt der Sachverhalt einen Konflikt dar. Es ist wichtig, dass wir herausfinden, worum es da wirklich geht: Worin besteht der Konflikt genau? Warum bezeichnen Sie diesen Sachverhalt als Konflikt? 240

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Warum ist der Konflikt noch nicht gelöst? Wer ist daran beteiligt und wer nicht? Warum sind die, die daran beteiligt sind, daran beteiligt und andere nicht? Wer profitiert vom Konflikt? Was gewinnen die, die am Konflikt beteiligt sind, durch den Konflikt, und was die, die nicht daran beteiligt sind? Gibt es eine mächtige Person im Hintergrund? Gibt es eine mächtige Person in der Gruppe? Warum hat diese den Konflikt noch nicht selbst geregelt? Gibt es wichtige Verbindungen nach außen? Wie ist der Konflikt genau zustande gekommen? Schritt für Schritt. Gibt es „heilige Kühe“? Wenn ich den Konflikt lösen helfen soll, was darf ich nicht tun? Was sollte ich keinesfalls tun? 7.3 Prinzipienorientierte Fragen Oft glauben Mandanten, dass es ihnen im Kern nicht um die Sache selbst geht, sondern um „das Prinzip“. Das Herausfinden dieses „Prinzips“ kann sehr hilfreich sein, da es oft das Interesse enthält. Welche höheren Prinzipien sind für Sie in diesem Fall verwirklicht? Ist das Verhalten irgendwo beschrieben worden? Kommt Ihnen diese Strategie des Vorgehens bekannt vor? Welche äußeren Kriterien können Sie an den Konflikt anlegen? 7.4 Zyklische Fragen Oft kommt es vor, dass Mandanten in ihrem Denkprozess steckenbleiben. Sie verstehen die Anliegen nicht, die hinter den Fragen stehen. Oder auch wir verstehen ihre Anliegen nicht. Dann können zyklische Fragen helfen. Diese Art des Fragens kann man auch als geistige Lockerungsübung ansehen. „Was würden Sie sich jetzt fragen, wenn Sie ich wären?“ „Was würden Sie sich jetzt fragen, wenn Sie Ihr Verhandlungspartner wären?“ 7.5 Provokative Fragen Manchmal kommt es auch vor, dass Mandanten den Wert einer kooperativen Vorgehensweise noch nicht erkannt haben. Sie ziehen die konfrontative Vorgehensweise vor. Dann könnten die folgenden Fragen weiterhelfen. 241

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„Erklären Sie mir bitte ihr Vorgehen Schritt für Schritt! Was müsste ich tun, um genau den gleichen Misserfolg erzielen zu können, den Sie bis jetzt mit ihrem Vorgehen erzielt haben?“ „Wo befinden Sie sich gerade auf einer Misserfolgsskala von 1–10? Was müssten Sie tun, um weiter nach oben zu kommen? Was müssten Sie tun, um weiter nach unten zu kommen?“ 7.6 Systemische Fragen Diese Fragen bieten dem Mandanten an, den Fall aus verschiedenen Positionen zu betrachten. Sie helfen ihm, seinen eigenen Standpunkt zu relativieren. 1. Position: So wie ich die Welt wahrnehme: Position des Fühlens, des „ich“. „Wie erleben Sie selbst den Fall?“ 2. Position: So wie ich glaube, dass jemand anders die Welt wahrnimmt: Position des Mitfühlens, des „du“. „Was glauben Sie, wie Ihr Gegenüber den Fall erlebt?“ 3. Position: So wie ich mich und die anderen von außen wahrnehme: Position des Denkens, des „sie“. „Was würde ein unbeteiligter Dritter darüber denken?“ 4. Position: So wie ich das ganze System von außen wahrnehme: überdenken, Position des Systems, des „es“. „Wie würde es jemand sehen, der alles überblicken, d.h. auch den unbeteiligten Dritten und den Zeitaspekt in Betracht ziehen könnte?“ 7.7 Zielorientierte Fragen „Was ist ihr Ziel? Was wollen Sie erreichen?“ Die Frage dient dazu herauszufinden, was das Ziel des Mandanten ist. Aber Achtung: Ein Ziel ist immer proaktiv formuliert und unter eigener Kontrolle! „Ich möchte, dass Meier mir den Schlüssel zurückgibt!“ ist nicht unter der eigenen Kontrolle, da es kein selbst erreichbares Ziel ist: Es ist unter der Kontrolle von Meier und so nur für ihn erreichbar. Selbst erreichbar ist: „Ich bitte Meier, mir den Schlüssel zurückzugeben.“ „Ich will, dass meine Frau weniger mit mir streitet!“ ist weder selbst erreichbar noch proaktiv, sondern ein Ziel für die Frau und reaktiv. Als Ziel formuliert müsste es heißen: „Ich finde heraus, was meine Frau veranlasst, mit mir zu streiten und ändere mein Verhalten dementsprechend.“ 7.8 Interessenorientierte Fragen Diese Fragen dienen dazu herauszufinden, was die Interessen des Mandanten sind: 242

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Direkt: „Was ist Ihr Interesse?“ „Was motiviert Sie, das zu fordern, was Sie fordern?“ „Worum geht es Ihnen persönlich wirklich?“ „Welche abstrakten Prinzipien wollen Sie durch Ihre Forderung verwirklichen?“ Indirekt: „Was würden Sie verlieren, wenn die Gegenpartei gewinnen würde?“ „Was würden Sie gewinnen, wenn Sie gewinnen würden?“ 7.9 Utilisationsfragen Mit dieser Frage helfen Sie dem Mandanten, seine Ressourcen zu aktivieren: „Waren Sie schon einmal in einer ähnlichen Situation wie dieser, in der Sie jetzt sind und aus der Sie schließlich herausgefunden haben? Was haben Sie damals genau gemacht und wie könnten Sie die damalige Vorgehensweise auf die heutige Situation übertragen?“ 7.10 Lösungsorientierte Fragen Diese Fragen helfen, Optionen zu generieren: „Welche anderen Möglichkeiten, Ihre Interessen zu verwirklichen, sehen Sie als die, die Sie im Moment präferieren?“ „Welche Möglichkeiten, Ihre beiderseitigen Interessen und die Common Mission zu verwirklichen, sehen Sie?“ Dann die „Wunderfrage“ von Steve de Shazer: „Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten das Problem gelöst und würden jetzt aus der Zukunft auf die Gegenwart zurückschauen. Was haben Sie genau getan, um das Problem zu lösen? Was war der erste Schritt? Was war der zweite Schritt? Was der dritte?“ Nun noch einige Fragen, die nur in der Verhandlungsphase eingesetzt werden können, da sie sich an den anderen Anwalt richten. Mit diesen Fragen muss man aber vorsichtig umgehen, da sie auch als sehr provokativ aufgefasst werden können: Der andere Anwalt könnte meinen, Sie wollen ihn vor seinem Mandanten bloßstellen. Wenn man aber unter Anwälten ist, kann man dies ruhig einmal durchdenken, einfach um seine Einschätzung mit der des Kollegen abzugleichen.

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7.11 Rechtliche Fragen Mit dieser Frage erfahren sie den rechtlichen Hintergrund der Forderung des Anwaltes des Verhandlungspartners. „Auf welche Anspruchsgrundlage beruft sich Ihre Partei? 7.12 Fragen zum Prozessrisiko Ein verantwortlicher Anwalt klärt seinen Mandanten vor Beginn eines Prozesses über das Prozessrisiko auf. Das fordern Mandanten aus der Wirtschaft meist als erstes. Manchmal kann es sinnvoll sein, dem Gegenanwalt folgende Fragen zu stellen, wenn er sich extrem siegessicher gibt. Aber aufpassen: auch hier gelten obengemachte Bemerkungen! Auf welchen Anspruch berufen Sie sich? Wie begründen Sie den Anspruch? Welches Gericht, glauben Sie, ist zuständig? Welches Recht ist anwendbar? Wie lange, glauben Sie, dauert der Prozess in den verschiedenen Instanzen? Was, glauben Sie, wird er kosten? Wie hoch, glauben Sie, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Partei gewinnt? Wenn Sie verlieren, werden Sie dazu raten, in Berufung bzw. Revision zu gehen? Was wird der Prozess nach Ihrer Meinung kosten? Wie stellen Sie sich die Vollstreckung vor? Haben Sie Informationen über die Zahlungsfähigkeit meines Mandanten? Wenn Sie zusammenfassen, was glauben Sie, wie lange kann der Prozess insgesamt dauern, was wird er kosten, und wie groß sehen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Partei obsiegt, und die Möglichkeit, ein erfolgreiches Urteil zu vollstrecken? 7.13 Metafragen Das Metamodell 28 war das erste NLP-Werkzeug, das Bandler und Grinder Mitte der 70er Jahre entwickelt haben. Unser Bild von der Welt entsteht mit Hilfe dreier, universeller Gestaltungsprozesse: • Generalisieren, • Tilgen und • Verzerren. 28 Bandler/Grinder, Metasprache und Psychotherapie – Die Struktur der Magie I; siehe auch oben Teil 4, 3.1.3, S. 141 Fn. 10.

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Menschen kommunizieren miteinander unter Einsatz von Sprache. Sie äußern dabei Fragen, Wünsche und Befindlichkeiten. Dabei gehen sie selbstverständlich von den eigenen Sichtweisen (eigener Erlebnishintergrund) aus. Das, was uns unser Unbewusstes als Rohmaterial zur Verfügung stellt, kann man als Tiefenstruktur bezeichnen, die dann in der kommunizierten Sprache, der Oberflächenstruktur, ihren Ausdruck findet. Die Betrachtungsweise geht auf die Transformationsgrammatik von Noam Chomsky zurück, bei dem John Grinder studiert hatte. Weil der Hörende über einen anderen Erlebnishintergrund verfügt als der Sprecher, kommt es oft zu interpretatorischen Missverständnissen. In der Regel sind sich die Gegenüber nicht bewusst, dass ein solches Problem besteht. Sie reden einfach nicht über das Gleiche. Erst wenn es zu Problemen kommt, bemerkt man, dass man „irgendwie aneinander vorbeigeredet“ hat. Das eigentliche Metamodell besteht aus einer Reihe von Fragen. Mit diesen Fragen bewegt man sich von der Oberflächenstruktur in Richtung Tiefenstruktur. Mit den Metamodellfragen werden die Tilgungen, Verzerrungen und Verallgemeinerungen (Generalisierungen), die von der Tiefenstruktur zur Oberflächenstruktur geführt haben, Schritt für Schritt rückgängig gemacht und dadurch die Tiefenstruktur aufgedeckt. Die von Bandler/Grinder entwickelten Metafragen dienen dazu herauszufinden, was die Verhandlungspartner genau meinen. • Wie kann man durch Fragen Tilgungen auflösen? Nominalisierungen verwandeln „Sie bekommt zu wenig Aufmerksamkeit.“ Was genau verstehen Sie unter Aufmerksamkeit? Wie geht „Aufmerksamkeit geben“ genau vor sich? Unbestimmte Verben konkretisieren „Er kann es!“ Was genau kann er? Fehlende Beziehungen herstellen/unbestimmten Inhaltsbezug klären „Das kann man leicht erfahren!“ Was genau kann man leicht erfahren? Tilgungen/Löschungen ergänzen „Ich weiß, dass er daran teilnehmen möchte.“ Woran genau möchte er teilnehmen? Vergleiche ersichtlich machen „Diese Offerte ist besser!“ Besser als was? Verglichen womit? • Wie kann man durch Fragen Verzerrungen auflösen? Ursache-Wirkungskreise offenlegen „Ich bin sauer, weil er nicht gekommen ist!“ Was hat er genau getan, dass Sie sich „sauer“ fühlen konnten? 245

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Was müsste er tun, dass Sie sich noch „saurer“ fühlen dürfen? Was, dass sie sich weniger „sauer“ fühlen würden? Wie möchten Sie sich stattdessen fühlen? Was müssten Sie tun, damit Sie sich selbst anders fühlen? Gedanken lesen „Das sollte er doch können!“ Wie kommen Sie dazu zu wissen, dass er es können sollte? Möglichkeiten erweitern „Ich kann es nicht tun!“ Was würde passieren, wenn Sie es könnten? Was hindert Sie daran, es zu tun? • Wie kann man durch Fragen Generalisierungen (Verallgemeinerungen) auflösen? Verallgemeinerungen auflösen „Er hat noch nie etwas falsch gemacht!“ Wirklich nie? Gab es nicht einen einzigen Fall, in dem er irgendwann irgendetwas falsch gemacht hat? Generalisierungen klären, verlorene Zitate wiederfinden „So macht man das!“ Wer sagt das?

8. Die Interessen Das A und O im kooperativen Verhandeln ist die Unterscheidung von Positionen und Interessen. Die beste Unterscheidung kann man treffen, wenn man die logischen Ebenen von Dilts et al. dazu verwendet: Die Position ist nach den logischen Ebenen auf der Umwelt-/Verhaltens-Ebene angesiedelt: „Was soll wann wo gemacht werden?“ Also genau das, was etwa in der Klageschrift, die den Prozess einleitet, beantragt wird, nämlich: „den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 2 Mio. Euro nebst Zinsen seit dem 1. Dezember 2008 zu zahlen.“ In Klardeutsch heißt das: „Schick 2 Mio. Kohle auf mein Bankkonto, aber hoppla!“ Oder verhandlungsgerecht aufgearbeitet: „Ich will 2 Mio. Euro (was?) so rasch wie möglich (wann?) auf meinem Bankkonto haben (wo?)!“ Somit ist die Position das (was?), was zu einem bestimmten Zeitpunkt (wann?) an einer bestimmten Stelle (wo?) ausgeführt werden soll. Das Ver246

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halten (was?), das in einer bestimmten Umgebung (wo? wann?) gezeigt werden soll! Nun behaupten Dilts et al., dass die oberen logischen Ebenen die unteren logischen Ebenen bestimmen, also etwa ein Schweizer (Zugehörigkeit) eine andere Identität entwickeln würde als ein Deutscher und somit ein Herr Wittrock aus Berlin (Identität) andere Glaubensätze hätte als ein Herr Röthlisberger, der am Thunersee aufgewachsen ist. Aus anderen Glaubensätzen (etwa „Ruhe, Ordnung, Sicherheit, zack, zack!“ versus „Lass uns mal drüber reden!“) entwickeln sich also andere Fähigkeiten. Und andere Fähigkeiten erlauben anderes Verhalten: Zackig die Sachen durchorganisieren einerseits, sich zuerst mal angucken, was die Leute eigentlich meinen, andererseits. Ebenfalls logisch scheint nun die Verknüpfung der logischen Ebenen mit einem Leitspruch von Albert Einstein: „The problems that we have created cannot be solved at the level of thinking that created them!“ oder, wie es Dilts gedeutet hat und nun meistens zitiert wird: „Ein Problem kann nicht auf derselben Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist!“ Übertragen auf die logischen Ebenen bedeutet das, dass ein Problem, das auf der Positionen-/Umwelt-Ebene entstanden ist, nicht auf der Positionen-/ Umwelt-Ebene gelöst werden kann! Dies scheint „wahr“ zu sein, wie am Beispiel des Gerichtsprozesses gezeigt werden mag: Im Gerichtsprozess steht die Position der einen Partei der Position der anderen Partei gegenüber und der Richter entscheidet, wer Recht hat, d.h., wessen Landkarte seiner Rechts-Landkarte entspricht! Und was tut die Partei, die verloren hat, der also die Rechts-Landkarte des Richters nicht gut bekommen ist? Sie sucht sich einen neuen Richter und geht in die nächste Instanz! Dilts et al. schlagen nun vor, die Lösung nicht in einer äußeren höheren Instanz zu suchen, sondern in einer inneren, denn jeder Mensch hat sämtliche Ressourcen zur Lösung aller Probleme in sich, wie wir ja schon in den 21 Axiomen erfolgreicher Kommunikation festgestellt haben. Dabei geht man auch nach oben: Zuerst auf der Fähigkeitenebene, dann auf die Glaubensatzebene, dann auf die Identitätsebene und schließlich auf die Zugehörigkeitsebene. Die kooperative Verhandlung schlägt nun vor, hinter den Positionen die Interessen herauszuarbeiten, und für uns stellt sich die Frage, auf welcher logischen Ebene die Interessen angesiedelt sind? Auf welcher Ebene sollen wir suchen? Sind die Interessen das Wie-ich-etwas-tue, das Warum-ich-etwas-tue, das Wer-es-tut oder das Für-wen-ich es tue? Klar, das Warum-iches-tue! Die Interessen sind also auf der Glaubenssatzebene zu finden! Auf der Glaubenssatzebene sind ebenfalls die Werte und die Motivationen angesiedelt, und wir behaupten nun, dass die Interessen mehr oder weniger deckungsgleich sind mit dem, was wir als „Leitwerte“ bezeichnen: 247

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Ein Manager kann sich nicht selbständig machen, weil ihm Sicherheit wichtiger als Freiheit ist. Ein Teamleiter kann gegenüber seinen Mitarbeitern nicht das Machtwort sprechen, weil er glaubt, er würde dann ihre Anerkennung verlieren. Ein Abteilungsleiter streitet immer mit seinem Chef, weil ihm Harmonie ein Greuel ist und er glaubt „When the going gets tough, the tough gets going!“(Intensität). Ein Selbständiger kommt finanziell auf keinen grünen Zweig, weil er an sich selbst zu hohe Ansprüche stellt (Integrität) und er Beratung mit Pflege (Fürsorge) verwechselt. Ein ehemaliger Wissenschaftler hat Probleme im Konzern, weil es ihn immer noch mehr interessiert, wie die Dinge wirklich sind (Neugier), als dass die Abteilung den Anforderungen eines Profit-Centers entspricht (Anerkennung). Unsere Hypothese ist nun folgende: Es gibt neun Leitwerte, mit denen sich alle Motive unseres Verhaltens abdecken lassen! Dies sind: Freiheit, Sicherheit, Anerkennung, Macht, Harmonie, Intensität, Integrität, Fürsorge und Neugier. Damit stehen wir nicht alleine, sondern können uns gut auf Roger Fisher und Bill Ury29 berufen, die auch schon bemerkt haben, dass es vermutlich so etwas wie immer wiederkehrende Interessen gibt: – Sicherheit – wirtschaftliches Auskommen – Zugehörigkeitsgefühl – Anerkennung – Selbstbestimmung. Das Modell der neun Leitwerte oder Interessen sieht wie folgt aus: Die neun Leitwerte: Freiheit Rolle: Der Unabhängige Kernüberzeugung: „Ich will machen, was ich will!“ Kernangst: „Immer bekommen die anderen das, was ich möchte!“ Denkkategorie: zukunftsorientiert lösungsorientiert denkt in großen Einheiten tut, was er will liebt das Neue 29 Fisher/Ury/Patton, Das Harvard-Konzept, S. 79.

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Wie mit ihm umgehen: Hilf ihm, sich selbst zu verwirklichen! Sicherheit Rolle: Der Beamte Kernüberzeugung: „Ich darf keine Fehler machen!“ Kernangst: „Wenn ich nicht auf alles vorbereitet bin, geht es schief!“ Denkkategorie: vergangenheitsorientiert problemorientiert denkt in kleinen Einheiten tut, was andere von ihm verlangen liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen? Sorge dafür, dass ihn nichts bedroht! Anerkennung Rolle: Der Künstler Kernüberzeugung: „Sag mir, dass ich gut bin!“ Kernangst: „Ich werde nur für meine Leistungen geliebt!“ Denkkategorie: vergangenheitsorientiert verwandelt Probleme in Lösungen denkt in großen und kleinen Einheiten tut, was andere von ihm verlangen liebt, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Sag ihm, wie gut er ist! Macht Rolle: Der Politiker Kernüberzeugung: „Ich möchte, dass Du das tust!“ Kernangst: „Ich werde betrogen, deshalb muss ich alles unter Kontrolle haben!“ 249

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Denkkategorie: Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft lösungsorientiert denkt in großen Einheiten tut, was er und andere wollen liebt das Neue und das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Besiege ihn oder verbünde Dich mit ihm! Harmonie Rolle: Der Vermittler Kernüberzeugung: „Ich möchte, dass sich jetzt alle gutfühlen!“ Kernangst: „Ich bin nicht wichtig!“ Denkkategorie: gegenwartsorientiert vermeidet Probleme denkt in großen Einheiten tut, das, was andere wollen liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Hilf ihm dafür zu sorgen, dass sich alle wohlfühlen! Intensität Rolle: Der Abenteurer Kernüberzeugung: „Ich will jetzt Spaß haben!“ Kernangst: „Niemand sorgt für mich!“ Denkkategorie: gegenwartsorientiert sucht aktiv nach Problemen, um bei Lösungsversuchen Spaß zu haben große und kleine Einheit tut, was er will polarity responder Wie mit ihm umgehen: Widersprich ihm! (Er wird es mögen!)

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Integrität Rolle: Der Priester Kernüberzeugung: „Ich will nach meinem eigenen Lebensplan leben und handeln!“ Kernangst: „Wenn ich nicht perfekt bin, kann ich nicht bestehen!“ Denkkategorie: zukunftsorientiert lösungsorientiert denkt in großen Einheiten, wenn es ihn selbst betrifft; in kleinen, wenn es um andere geht tut, was er will liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Lass ihn in Ruhe! Fürsorge Rolle: Der Sozialarbeiter Kernüberzeugung: „Wo kann ich helfen?“ Kernangst: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich mich für andere aufopfere!“ Denkkategorie: gegenwartsorientiert lösungsorientiert denkt in kleinen Einheiten tut das, was andere von ihm verlangen liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Unterstütze ihn dabei, anderen zu helfen! Neugier Rolle: Der Wissenschaftler Kernüberzeugung: „Wie funktioniert das genau?“ Kernangst: „Ich bin unfähig und nutzlos!“

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Denkkategorie: untersucht die Vergangenheit, um die Zukunft zu gestalten lösungsorientiert denkt in kleinen Einheiten tut, was er will liebt das Neue Wie mit ihm umgehen: Bitte ihn um Hilfe bei der Lösung Deiner Probleme! Wir schlagen nun vor, dass der kooperative Verhandler genau hinhört, was die Parteien sagen und in der Lage ist, aus dem, was sie sagen, die darüberliegenden, individuellen Interessen herauszuhören: Kooperativer Verhandler: „Was würde geschehen, wenn sie den Prozess verlieren würden?“ Partei: „Dann wären meine Handlungsmöglichkeiten sehr stark eingeschränkt!“ (Freiheit) „Dann wäre meine Existenz gefährdet!“ (Sicherheit) „Dann würde mein Bild in der Öffentlichkeit großen Schaden nehmen!“ (Anerkennung) „Dann müsste ich die Kontrolle über die Firma abgeben!“ (Macht) „Dann ginge alles drunter und drüber!“ (Harmonie) „Dann hätte ich entschieden weniger Spaß im Leben!“ (Intensität) „Dann würde ich mein Gesicht verlieren!“ (Integrität) „Dann würde Yael die Montessorischule verlassen müssen!“ (Fürsorge) „Dann wäre mir die Möglichkeit genommen, herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist!“ (Neugier) Als ich das Modell der Leitwerte in den 90er Jahren fertig entwickelt hatte, habe ich bemerkt, dass ich nach Kolumbus Amerika noch einmal entdeckt hatte: Das Modell erweist sich nämlich als in etwa deckungsgleich mit dem Enneagramm. 30 30 Beim Enneagramm handelt es sich um eine uralte Lehre der neun Charakterfixierungen. Es bezeichnet ein Strukturmodell, das neun Qualitäten unterscheidet, ordnet und miteinander in Beziehung setzt. Die Wurzeln des Enneagramms sind unbekannt, es werden viele Quellen vermutet, Spekulationen reichen von griechischen, jüdischen, christlichen und islamischen bis hin zu altbabylonischen und altägyptischen Quellen. Eine gute Einführung in dieses jahrtausendealte Wissen bieten etwa Riso/Hudson, Die Weisheit des Enneagramms. Für Vertiefungen empfehlen wir Maitri, Neun Porträts der Seele. Maitri weist auch besonders auf den prozessorientierten Charakter des Modells hin. Für Zwecke der Mediation besonders empfehlenswert ist das Werk von Pfab, Das Enneagramm in der Mediation, in dem er das Verhalten der verschiedenen Enneagrammtypen als Medianten und Mediator beschreibt.

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Die logischen Ebenen zeigen übrigens auch auf, dass man bei der Lösungsfindung noch weiter nach oben über die Interessen hinausgehen kann. Man kann die Identitätsebene einbeziehen („Welche Ihrer vielen Rollen, die Sie verkörpern können, müssten Sie einnehmen, um eine gemeinsame Lösung finden zu können?“ oder „Wie würde eine gemeinsame Vision ausschauen?“) oder die Zugehörigkeitsebene: „Wem dienen Sie beide? Was ist Ihre gemeinsame Mission?“ Weiter gilt: Je abstrakter das gemeinsame Dach formuliert ist, desto mehr Platz bietet es! Das fand auch schon im Sinai-Konflikt Anwendung: „Sinai gehört Ägypten!“ und „Sinai gehört Israel!“ gibt keine Lösung. „Sicherheit“ und „Integrität“ als abstrakt formulierte Staatsinteressen erlaubten aber das Finden einer Lösung: Sinai kommt zurück zu Ägypten, ägyptische Panzer, Waffen und Soldaten bleiben auf der anderen Seite des Suez-Kanals, die UNO überwacht das Abkommen. Nun haben wir also gute Fragen und wissen auch, wonach wir fragen können. Also los: „Was ist Ihr Interesse?“ „Was wollen Sie wirklich?“ „Was würden Sie verlieren, wenn Sie Ihr Interesse nicht verwirklichen könnten?“ Was geschieht nun aber, wenn wir so fragen? Freut sich der Verhandlungspartner und umarmt er uns, weil endlich jemand kommt, der ihm die wirklich wichtigen Fragen stellt? Mitnichten! Er macht eher „dicht“ und verschließt sich. Warum? Ganz einfach: Niemand liebt es, ausgefragt zu werden! Die spanische Inquisition bekam den wenigsten! Wie kommen wir aber nun trotzdem zu unseren Informationen, die wir brauchen, um den Prozess voranzutreiben? Indem wir hartnäckig nachbohren? Nein! Aber indem wir mit Empathie fragen! Indem wir, wie wir vorne beschrieben haben, „2nd position“ gehen. Tun wir das nicht, haben wir sehr wenig bis keine Chance, das herauszufinden, was wir für den Interessenausgleich benötigen, nämlich die Interessen. Nun noch eine kurze Zusammenfassung der Sorting Styles, auf die wir schon mehrfach hingewiesen haben.

9. Die Sorting Styles Ein brauchbares Instrument liefern auch die Sorting Styles 31 oder Denkkategorien. Ein Verhandlungspartner, der immer davon erzählt, was er schon 31 Sorting Styles oder Metaprogramme sind Klassifikationen über häufig wiederkehrende Eigenarten eines Menschen. Sie sind systematische, gewohnheitsmäßig ablaufende Prozesse, die meist nicht bewusst sind. Siehe dazu oben Teil 2, 3.1, S. 74 ff. und die dort angegebene Literatur.

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alles gut gemacht hat, denkt sicher anders als einer, der immer und immer wieder davon berichtet, was er im nächsten Jahr noch tun will. Einer, der immer mehr vom selben will, denkt vermutlich auch anders, als einer, der das Neue will. Ein Lösungsfetischist denkt anders als ein Problemparanoiker und einer, dem die Zahlen hinter dem Komma wichtig sind, verwendet wohl einen anderen Denkrahmen als einer, der nur für seine globalen Visionen lebt. Vergangenheits- versus gegenwarts- versus zukunftsorientiert Problemorientiert versus lösungsorientiert Denken in kleinen Einheiten versus Denken in großen Einheiten Tut das, was andere von ihm verlangen versus tut, was er für richtig hält Liebt das, was er schon kennt versus liebt das Neue Wer nun genau zuhören kann, kann auch herausfinden, welchem Leitwert und damit welchem Interesse die Verhandlungspartner verpflichtet sind: Wer eher vergangenheitsorientiert, in kleinen Einheiten und problemorientiert denkt, den interessiert vermutlich eher seine Sicherheit im Vergleich zu einer anderen Partei, die eher an der Freiheit interessiert ist, die sich durch ihr zukunfts- und lösungsorientiertes Denken in großen Einheiten manifestiert. Oben haben wir bei den Leitwerten32 die jeweils verwendeten Sorting Styles notiert. Durch genaues Zuhören kann man so auch rein „technisch“ herausfinden, welches Interesse der Verhandlungspartner hat. Doch nun zur widerstandsfreien Sprache!

10. Die widerstandsfreie Sprache Die widerstandsfreie Sprache ist in allen Phasen wichtig, insbesondere in der Phase, in der die Optionen generiert werden sollen: Optionen sind die Möglichkeiten, die die Parteien finden können, um zwar nicht ihre Positionen, wohl aber ihre Interessen und die Common Mission befriedigen zu können. Je mehr Optionen eine Partei generieren kann, desto größer wird die Deckungsmenge aus den beiden Optionsmengen, die schließlich zu einer Lösungsmenge führen kann. Das scheint offensichtlich. Nun ist es aber so, dass wir Menschen von Haus aus nicht allzu flexibel sind und gerne auf dem beharren, was wir schon kennen. Ein integrativer Ansatz, der uns erkennen lässt, dass hinter scheinbar Unterschiedlichem im Grunde das Gleiche verborgen ist, ist uns erst auf höheren Bewusstseinsstufen zugänglich. Wenn die Autoren von „Spiral Dynamics“ Recht haben sollten, würden fast 90 % der Menschen einen unintegrativen Konfliktlösungsansatz bevorzugen und auch komplexe Probleme mit trivialem, einfachem und kompliziertem Denken angehen anstatt mit komplexem. Hier ist nun der kooperative Verhandler gefordert: Er muss den Verhandlungspartnern helfen, über den Rand der Caldera ins weite Umland zu blicken. 32 Siehe oben 8., S. 246 ff.

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Er kann dies etwa kognitiv tun, indem er auf das Gesetz der notwendigen Vielfalt (Law of Requisite Variety 33) aus der Kybernetik aufmerksam macht und sagt: „Auf die lange Dauer wird ein System nicht vom mächtigsten Element beherrscht, sondern vom flexibelsten!“ Dies kann er dann noch untermauern, indem er einige der obenzitieren Glaubenssätze effektiver Kommunikation sinnrichtig einwirft: „Handle stets so, dass die Zahl Deiner Wahlmöglichkeiten zunimmt!“ „Eine Lösung ist ein Problem, zwei sind ein Dilemma. Freiheit beginnt mit drei Lösungen!“ Er kann die Verhandlungspartner auf die vier Wahrnehmungspositionen aufmerksam machen und diese vielleicht sogar durchspielen. Er kann fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, nachhaltig Lösungen zu finden, die beide als wahrhaftig und gerecht erfahren, Dritte als Lösung anerkennen und funktional zum System passen. Oder er kann eine Geschichte erzählen, die das Gleiche anstrebt: die geistige Flexibilität der Verhandlungspartner zu erhöhen: „Ein Freund hat mir erzählt, dass er oft in Kanada ist, um Biber zu jagen, und dass das der einfachste Job der Welt sei: Da Biber sehr unflexible Tiere seien, müsse man einfach eine große Falle auf einen der Wege stellen, auf denen die Biber vom Damm zum Wald gehen. Sie würden schnurstracks hineinlaufen. Traurig sei es aber, den Bibern zuzuschauen: Sie würden die Fallen jeweils schon von weitem erkennen und dann herzergreifend zu weinen beginnen!“ Die ist nun keine lineare, direkte Kommunikation mehr, sondern indirekte Kommunikation. Die Botschaft richtet sich nicht ans Bewusste, sondern ans Unbewusste. Manchmal ist es also sinnvoll, wenn der kooperative Verhandler auch mit dem Unbewussten der Verhandlungspartner sprechen kann, es wird nämlich gesagt, dass dies besonders widerstandsfrei sei. Das beste Modell der widerstandsfreien Sprache, das wir kennen, ist das „Milton-Modell“ von Richard Bandler und John Grinder, das die beiden aus dem Sprachgebrauch von Milton Erickson, dem wohl erfolgreichsten Therapeuten des 20. Jahrhunderts, modelliert haben.34 Bandler und Grinder schlagen darin Satzkonstruktionen vor, die beim Adressaten besonders wenig Widerstand erzeugen, weil sie mit der Funktionsweise unseres Nervensystems harmonieren und dem entgegenkommen, was wir gerne tun. So 33 Der Satz „The larger the variety of actions available to a control system, the larger the variety of perturbations it is able to compensate“ geht auf den Kybernetiker W. Ross Ashby zurück und wird vielfach auch als „Ashby’s Law“ bezeichnet; vgl. http://pcp.lanl.gor/requar.html; http://de.wikipedia.org/wiki/Ashbys_Gesetz. 34 Bandler/Grinder, Patterns: Muster der hypnotischen Techniken Milton H. Ericksons.

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hatte ich bei meinen Töchtern, die gerne selbst entscheiden, bedeutend mehr Erfolg, wenn ich gefragt habe: „Wollt ihr um 20:00 Uhr oder um 20:30 Uhr ins Bett?“, als wenn ich gefordert habe: „Um 20:00 Uhr geht’s ins Bett, aber hoppla!“ Ich hatte hier mit dem Pattern, das ich gerne als „Illusion of Choice“ bezeichne, gespielt: Sofia und Tanit hatten die freie Wahl, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann sie ins Bett gehen wollten. Dass sie ins Bett gingen, stand als Vorannahme (Präsupposition) außer Diskussion 35. Offen und damit frei zur Entscheidung stand nur das Wann. Peter Grilli, ein mit uns befreundeter bekannter Mediator in Tampa, Florida, sagt nach unseren Beobachtungen nie, welcher Meinung er ist, sondern formuliert meistens wie folgt: „Ein befreundeter Richter hat in einem ähnlich gelagerten Fall wie folgt entschieden. …“ Damit „zitiert“ er und sollte er falschliegen, würde sich der Widerstand der Medianten nicht gegen ihn richten, sondern gegen den befreundeten Richter. Er wäre damit aus dem Widerstandsspiel heraus und könnte ruhig weiterverhandeln. Das Milton-Modell verwendet für die Sprachmuster linguistische Bezeichnungen. Das mag uns befremden, soweit wir die linguistische Fachsprache nicht kennen. Darüber, dass diese nicht ganz leicht verständlich ist, kann man sich nun ärgern, oder man gebraucht diese Erfahrung, um an sich selbst nachzuvollziehen, wie sich ein Laie fühlen mag, wenn wir „juristisch“ mit ihm sprechen. Nachfolgend nun eine Übersicht über dieses linguistische Modell. Manche Interventionen sind eher für die Vorbereitungsphase geeignet, andere für die Verhandlungsphase. Das Milton-Modell der widerstandsfreien Sprache (Richard Bandler und John Grinder) 1. Erweitern Sie die Möglichkeiten der Wahrnehmung 1.1 Verwenden Sie Modaloperatoren der Wahrnehmung! Dem Zuhörer wird eine Wahlmöglichkeit eingeräumt. Er kann sich für oder gegen einen Vorschlag entscheiden. Anstatt: Was sind Ihre Interessen? Besser: Vielleicht wäre es nun interessant für uns, wenn wir uns als Nächstes mit den Interessen beschäftigen würden?

35 Dabei kam mir natürlich zugute, dass die beiden das Metamodell nicht kannten, sonst hätten sie möglicherweise diese Vorannahme als Verzerrung enttarnt und gefragt: „Was bringt dich dazu anzunehmen, dass wir nur um 20.00 Uhr oder 20.30 Uhr ins Bett gehen können?“ Mittlerweile sind beide über 20 Jahre alt und ich kann damit nicht mehr kommen! Auch weil beide in NLP ausgebildet sind!

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1.2. Verallgemeinern Sie durch Universalquantoren! Generalisierungen erlauben es dem Zuhörer, indirekt Grenzen für sein Handeln zu erkennen: Anstatt: Sagen Sie Ihrem Mandanten, er habe sich an die Vereinbarung zu halten! Besser: Bisher hat sich jeder unserer beiden Mandanten an die Vereinbarung gehalten, nicht wahr? 2. Lassen Sie Informationen weg! Verwenden Sie Nominalisierungen anstatt Prozesswörter. Hier werden Hauptwörter für einen nicht beschriebenen Prozess verwendet, den der Zuhörer aus seiner eigenen Erfahrung konstruieren kann. Anstatt: Welche Lösungen sehen Sie! Besser: An dieser Stelle könnte nun eine Lösungssuche stattfinden, was meinen Sie? Verwenden Sie unspezifische anstatt spezifische Verben. Der Zuhörer kann das Unspezifische selbst spezifisch machen. Anstatt: Können Sie nicht besser zuhören? Besser: Vielleicht könnten wir alle noch ein wenig an den „active listening skills“ arbeiten? Sprechen Sie ohne Inhaltsbezug! Der fehlende Inhaltsbezug veranlasst den Zuhörer, das Gesagte auf sich zu beziehen. Anstatt: Lasst uns jetzt eine Pause machen! Besser: Viele trinken in der Pause gerne einen Kaffee zur Erfrischung. Was meinen Sie? Bilden Sie Sätze ohne Objekte/Substantive! Ein fehlendes Objekt/Substantiv im Satz bewirkt, dass der Zuhörer die offensichtliche Lücke selbst schließt. Anstatt: Lassen Sie uns nun aus den Optionen die besten Lösungen herausfischen! Besser: Lassen wir uns überraschen, wie wir nun weitermachen. 257

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3. Verknüpfen Sie Inhalte sinnvoll! Schaffen Sie scheinbar kausale Verbindungen und Abfolgen! Es ist sinnvoll, Verbindungen anzubieten, die sich für den Zuhörer scheinbar zwangsläufig ergeben. Anstatt: Ich fasse die Ergebnisse nun zusammen. Besser: Bevor wir mit der Verhandlung morgen weiterfahren, hat es sich als nützlich erwiesen, an dieser Stelle einmal zu schauen, was bis jetzt schon erreicht wurde. Lesen Sie Gedanken! Beim Zuhörer wird der Anschein erweckt, als könne der Sprechende seine Gefühle und Gedanken nachvollziehen. Anstatt: Nun zum Nutzen des Ganzen. Besser: Vielleicht fragen Sie sich, wie Ihnen das nun weiterhelfen könnte? Verlieren Sie Performative! Es bleibt unklar und somit ergänzungsnötig, wessen Meinung hier wiedergegeben wird. Anstatt: Bitte fassen Sie zusammen! Besser: Auch wenn wir uns sicherlich schon mehrfach mit der Situation auseinandergesetzt haben, scheint es wichtig zu sein, sich mit diesem Thema ein abschließendes Mal zu beschäftigen. Wie wäre es, wenn wir damit beginnen würden, das zusammenzufassen, was wir bis jetzt erarbeitet haben? 4. Treffen Sie Vorannahmen! Hier verwendet der Sprecher in der Satzkonstruktion versteckte Behauptungen, die nicht in Frage gestellt werden. Das klassische Beispiel: „Gehen wir zu mir oder zu Dir?“ Das Satzgefüge setzt voraus, dass man zusammen geht. Offen ist nur noch, wohin. Verwenden Sie Zeitformen! Anstatt: Bitte kommen Sie zur Sache! Besser: Darf ich Sie noch, bevor wir uns über unsere Erfahrungen austauschen, auf eine wesentliche Fragestellung hinweisen? 258

Techniken und Modelle

Teil 6

Verwenden Sie Ordnungszahlen! Anstatt: Als Nächstes schlage ich vor, Folgendes zu machen … Besser: Wir haben damit begonnen, verschiedene Themen zu sammeln. Im zweiten Schritt haben wir dann festgelegt, was die wichtigsten Themen sind. Im nächsten Schritt ist es nun sicher sinnvoll … 5. Offerieren Sie scheinbare Wahlmöglichkeiten! Anstatt: Lassen Sie uns das Thema ausdiskutieren! Besser: Die Frage ist, ob wir jetzt das Thema A oder das Thema B verhandeln wollen? Verwenden Sie Worte der Wahrnehmung! Anstatt: Beeilen Sie sich! Besser: Haben Sie auch schon bemerkt, wie sich die Geschwindigkeit der Lösungsfindung schon verändert hat? Verwenden Sie kommentierende Adjektive! Anstatt: Beeilen wir uns! Besser: Die Lösung wurde von allen schnell erarbeitet und ich sehe schon, dass wir dabei sind, im gleichen Tempo weiterzuarbeiten! Verwenden Sie Zeitwörter! Anstatt: Wechseln Sie mal die Fahrspur! Besser: Wie ich gerade sehe, haben sie sich vor wenigen Minuten entschlossen, einen neuen Weg zu gehen. Gratuliere! 6. Formulieren Sie indirekte Auslösungen! Geben Sie versteckte Befehle! Anstatt: Hören Sie auf, sinnlos drauflos zu reden! Besser: Vielleicht gilt manchmal noch die Aussage: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!“ 259

Teil 6

Techniken und Modelle

Markieren Sie analog! Bestimmte Worte werden durch Betonung, Mimik und Gestik hervorgehoben. Anstatt: Gratulation zu den nachhaltigen Lösungen! Besser: Alle haben wir jetzt eine einfache Lösung gefunden. Stellen Sie versteckte Fragen! Mit versteckten Fragen fordert der Redner das Unbewusste des Zuhörers auf, die Fragen zu beantworten. Anstatt: Beginnen wir mit Thema A! Besser: Ich frage mich, ob wir schon wissen, welches Thema wir zuerst aufnehmen werden? Geben Sie verneinte Befehle! Da im primären, biologischen Verarbeitungsprozess der Informationen ein „nein“ nicht existiert, nimmt der Organismus das sekundäre, sprachlogische „nein“ nicht wahr: Wir können uns kein „kein orangefarbenes Krokodil“ vorstellen. Anstatt: In zehn Minuten will ich wissen, was wir als Nächstes besprechen wollen! Besser: Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns in den nächsten zehn Minuten auf ein Thema einigen können? Formulieren Sie Konversationspostulate! Hier formulieren wir Fragestellungen, die eigentlich digitale Antworten generieren sollten (ja/nein), wegen ihrer Vagheit aber zu einer Reaktion einladen. Anstatt: Was haben Sie gesagt? Besser: Könnten Sie ihren Vorschlag noch einmal wiederholen, damit ich ihn mir notieren kann? 7. Sprechen Sie in Bildern! Zitieren Sie! Wenn zitiert wird, erhöht das einerseits die Wichtigkeit der Botschaft. Andererseits, wenn der Zuhörer mit dem, was gesagt wird, nicht einverstanden ist, geht der Widerstand auf ihn und nicht auf den Sprechenden! 260

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Teil 6

Anstatt: Bitte hören Sie zu, was ich Ihnen sage! Besser: Stephen Covey36 meint: „Seek first to understand before you seek to be understood!“ Gebrauchen Sie Metaphern! Metaphern transformieren Botschaften in Bilder. Der Zuhörer kann das für ihn Wichtige auswählen. Anstatt: Bitte Josephine, versuche, wenn möglich, vernünftig mit mir zu kommunizieren, und lass die hysterischen Ausfälle lieber bleiben. So kommen wir sicher miteinander klar! Besser: Ein Cowboy verheiratete sich und ritt mit der Braut auf seine Farm. Das Pferd strauchelte und er sagte „Eins!“. Das Pferd strauchelte abermals und er sagte „Zwei!“. Das Pferd strauchelte ein drittes Mal. Der Cowboy nahm die Pistole und erschoss das Pferd. Die Braut begann zu schreien: „Warum hast Du das getan! Mit einem solchen Mann kann ich nie zusammenleben. Wie wirst Du erst mit unseren Kindern umgehen! Bring mich sofort wieder in die Stadt zurück!“ Der Cowboy sah ihr tief in die Augen und sagte: „Eins!“

11. Die nachhaltigen Lösungen Seit der Konferenz von Rio im Jahre 199237 und der Arbeit des internationalen „Business Council for Sustainable Development“ unter der Leitung des Schweizer Großindustriellen Stephan Schmidheiny 38 ist das Wort „sustainability“ oder eben „Nachhaltigkeit“ in aller Munde. Auch wir meinen, dass Lösungen, die wir kooperativ verhandeln, nachhaltig (sustainable) sein müssen, sonst taugen sie wenig. Wir glauben, dass sie dies sind, wenn wir, bevor wir die Verhandlung beenden, folgende Fragen bejahen können: a) Fühlt sich diese Lösung für Sie gut an? (Wahrhaftigkeit, 1st Position) b) Fühlen Sie, dass die andere Partei sich mit dieser Lösung auch gut fühlen wird? (Gerechtigkeit, 2nd Position) c) Woran werden Dritte erkennen, dass diese Lösung das Problem gelöst hat? (Wahrheit, 3rd Position) d) Erfüllt Ihr System die ihm zugedachte Funktion mit dieser Lösung auch weiterhin? (funktionelles Passen, 4th Position) 36 Covey, Die 7 Wege zur Effektivität, S. 263 ff. 37 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Nachhaltige_Entwicklung#Leitprinzip_des_21. _Jahrhunderts_.28Vereinte_Nationen.29. 38 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/World_Business_Council_for_sustainable_Deve lopment.

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Teil 6

Techniken und Modelle

Wenn wir so fragen, stellen wir sicher, dass die Lösungen von allen an der Verhandlung beteiligten Parteien als wahrhaftig, gerecht, wahr und funktionell passend erkannt werden. Damit sind sie, so unsere These, nachhaltig! Nehmen wir zur Erklärung wieder das Beispiel mit Mehltau und Sacksberger: Wenn Sacksberger vor Gericht hätte durchsetzen können, dass 100 % des Gewinnes aus dem Yellow Gold Raps ihm gehören würden, hätte sich das für ihn vermutlich gut angefühlt (wahrhaftig): „Ich habe den Raps alleine entwickelt, Mehltau war immer dagegen, also ist das nur okay so.“ Vielleicht hätte Mehltau das Urteil akzeptiert, aber glauben sie, dass er das als „gerecht“ empfunden hätte im Gegensatz zu der Lösung, die Cooper kooperativ erhandelt hat? Wohl kaum! Und wäre die Gerichtslösung als „wahre“ Lösung erkannt worden, wenn die übrigen Bad Friedlinger sich manchmal fragen würden, ob sie eigentlich in Herzogenaurach (Adidas und Puma) leben würden? So wäre dadurch schließlich vielleicht sogar noch die funktionierende Dorfgemeinschaft gefährdet! Diese Definition der Nachhaltigkeit haben wir gefunden, als uns Ken Wilber’s „All Quadrants, All Levels“-Modell 39 in die Hände fiel, das uns trotz seiner Komplexität extrem brauchbar erschien. Zuerst aber: Wer ist Ken Wilber? Wilber ist ein amerikanischer Philosoph, der seit Jahren an einer Kosmologie, d.h. einer Art „universeller Feldtheorie“, arbeitet. Seine berühmtesten Bücher sind „Halbzeit der Evolution“, „Mut und Gnade“ und sein Opus Magnum „Eros, Logos, Kosmos“. Im letzten Werk hat er nun sein AQAL-Modell entwickelt 40, das wir hier wie folgt wiedergeben:

39 Wilber, Ganzheitlich Handeln, S. 55 ff.; Integrale Vision, S. 70 ff.; vgl. auch: http:// de.wikipedia.org/wiki/Ken_Wilber. 40 Wilber, Eros, Kosmos, Logos, S. 160 ff.

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Teil 6

Techniken und Modelle

innerlich

äußerlich

i n d i v i d u e l l

Wahrhaftigkeit

Wahrheit

Psychologie Spiritualität

Naturwissenschaft

Freud, Buddha, Jung

Newton, Einstein, Locke

subjektiv

objektiv

intentional

1. Pos.

3. Pos.

verhaltensbezogen

k o l l e k t i v

kulturell

2. Pos.

4. Pos.

sozial

inter-subjektiv

inter-objektiv

Weber, Kuhn, Kant

Wiener, Marx, Foucault

Philosophie, Religion, Recht

Systemtheorie

Gerechtigkeit

funktionelles Passen

Wofür stehen nun die einzelnen Quadranten? In der Vertikalen unterteilt Wilber in das Individuum (individuell) und die Gruppe (kollektiv). In der Horizontalen in eine Betrachtung des Äußeren und eine Betrachtung des Innenlebens. Die „Pos.“ meinen: 1st position: fühlen, 2nd position: mitfühlen, 3rd position: denken, 4th position: überdenken. Sie finden sich nicht bei Wilber, passen aber, so unsere Hypothese, genau in sein Modell. Was wir Ihnen also vorstellen, ist eine Kombination der vier Wahrnehmungspositionen mit dem AQAL-Modell. Der 1. Quadrant steht somit für das Innenleben eines Individuums („Er liebt seine Mutter!“), während der 3. Quadrant das Innenleben einer Gruppe zeigt („Sie finden alle den 1. FC Bayern supertoll!“). Der 2. Quadrant zeigt, was man bei einem Individuum von außen beobachten kann („Bohrt mit dem Finger in der Nase!“), während der 4. Quadrant für das steht, was man bei der Gruppe von außen beobachten kann („Alle brechen in Begeisterungsstürme aus, wenn Ribéry ein Tor schießt!“). Eine gefundene Lösung, die eine nachhaltige Lösung sein will, muss, so scheint es, allen vier Quadranten genügen, also individuell und kollektiv von innen und von außen passen! Anders gesagt: Die Lösung muss von allen, die durch die Lösung betroffen sind, als wahrhaftig, gerecht, wahr und funktionell erkannt werden! 263

Teil 6

Techniken und Modelle

Damit wäre sie übrigens nicht nur eine win-win-Lösung, sondern eine winwin-win-win-win-Lösung, d.h., nicht nur ich (1st position) und Du (2nd position) würden gewinnen, sondern auch er/sie (3rd position) würden als Gewinner erkannt werden und es, also das System (4th position) würde auch gewinnen. Auf den Punkt gebracht heißt das vermutlich, dass eine nachhaltige und passende Lösung weder mit Macht noch mit Recht, sondern nur mit Interessenausgleich gefunden werden kann. Das beruht vermutlich darauf, dass dann, wenn es die Parteien schaffen, in der Verhandlung alle vier Wahrnehmungspositionen einzunehmen, ein „Glaube“ an die Lösung entsteht. Da dieser Glaube an die gefundene Lösung selbstverantwortlich generiert wurde, muss er nicht durch anderes (Macht, Staat) durchgesetzt werden. Es braucht somit keines externen Zwangs mehr, um die gefundene Lösung umzusetzen, da ich ja selbst davon überzeugt bin, dass sie richtig ist! Und dieses Ergebnis kann man nur mit einem Quantensprung vergleichen.

12. Lernen Eine Verhandlung hat, zusammenfassend und abschließend betrachtet, im Kern genau dann Erfolg, wenn es den Verhandlungspartnern gelingt, sich aus assoziierten (fühlen und mitfühlen) Zuständen (1st und 2nd position) in dissoziierte (denken und erkennen) Zustände (3rd and 4th position) zu begeben! Wenn es ihnen also gelingt, sich vom Fühlmodus in den Denkmodus und zurück in den Fühlmodus zu führen, so dass Lernen möglich wird! Lernen ist also nichts anderes als zu fühlen und dann darüber nachzudenken. Das ist es, was der kooperative Verhandler bei den Streitparteien induzieren muss. Im Grunde nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wenn die Parteien das können, dann können sie das, was sich Sokrates jeden Abend gefragt hat: 1. Was habe ich heute getan? (fühlen) 2. Wo habe ich geirrt? (denken) 3. Was habe ich gelernt? (lernen)

fühlen

denken

lernen Lernkreis

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Teil 7 Die Fragen: Dr. Coopers Tipps zu schwierigen Verhandlungssituationen In diesem Buch haben wir Ihnen schon viele Empfehlungen gegeben, wie Sie sich oder Ihre Klienten durch schwierige Verhandlungssituationen manövrieren. Doch einige wesentliche Fragen sind noch offen, Fragen, die uns vor allem von Teilnehmern unserer Verhandlungsseminare gestellt werden. Ursprünglich wollten wir Ihnen die zehn häufigsten Fragen selbst nach bestem Wissen beantworten. Doch dann kam uns die Idee, Dr. Austin Cooper, unseren Verhandlungshelden, zu bewegen, die Beantwortung dieser Fragen zu übernehmen und dazu die Schatztruhe seiner profunden Verhandlungserfahrung für Sie zu öffnen. Zu unserer allergrößten Freude hat Dr. Cooper zugesagt! Wir zögern nicht, Ihnen nachfolgend seine Empfehlungen weiterzugeben: Das Friedlingermodell, das ich in meinen Verhandlungen benutze, ist ein Prozessmodell, d.h., es beschreibt, wie ein Verhandlungsprozess ausschauen könnte. Die Prozessschritte könnte man vielleicht grob wie folgt zusammenfassen: 1. Definieren Sie für sich Ihr Ziel (Interessenebene) und finden Sie mindestens drei Wege (Optionen), dieses Ziel zu erreichen! 2. Verhandeln Sie mit Ihrem Verhandlungspartner verschiedene Wege und gehen Sie dabei folgendermaßen vor: 3. Synchronisieren Sie sich mit Ihrem Verhandlungspartner! 4. Benutzen Sie dazu und zum Herausfinden seiner Ziele die vier Wahrnehmungspositionen! 5. Fahren Sie mit dem Paternoster die logischen Ebenen hinauf und hinunter! 6. Überprüfen Sie die gefundene Lösung auf Nachhaltigkeit mit dem AQALModell! 7. Formulieren Sie die gefundene Lösung schriftlich! Wenn Sie so vorgehen, dann sollte die Verhandlung rundlaufen. Nun kann es aber vorkommen, dass Sie irgendwo aus dem Verhandlungs-Flow1 fallen. Dann ist etwas schiefgegangen und es tauchen genau die Fragen auf, die immer wieder gestellt werden: „Was tue ich, wenn mein Verhandlungspartner manipuliert?“ 1 Mit Flow wird das lustbetonte Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit bezeichnet. Die Flow-Theorie wurde von Mihaly Csikszentmihalyi (Flow: Das Geheimnis des Glücks, 1992) begründet. Die harmonische Wirkung des Flow-Zustandes lässt sich auch an der völligen Harmonie zwischen dem limbischen System (zuständig für Emotionen) und dem Neocortex (Sitz des Verstandes) ablesen.

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Teil 7

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

„Was mache ich, wenn er sich unfair verhält?“ „Was tue ich, wenn er mehr Macht hat?“ Und genau in dem obenbeschriebenen Kontext des Verhandlungsprozesses möchte ich die Fragen auch beantworten: Was ist schiefgegangen im Prozess und was können wir tun, damit wir wieder auf Zielkurs kommen? Ich möchte die Fragen nicht in einem von unserem Prozess losgelösten Rahmen besprechen, in dem sie meistens gestellt werden. Es ist nämlich, um ein Bild zu benutzen, nicht so, dass zwei Bergsteiger sich erst am Bergsee oben auf der Hinteren Chlapfbodenhöhe darüber einigen, welchen der umstehenden Gipfel sie nun besteigen wollen. In unserem Modell sind die Bergsteiger vorher schon zusammen bis an den Bergsee gelaufen, haben sich kennen- und schätzen gelernt. Was aber nun geschehen sein könnte, ist, dass sie irgendwo auf dem Weg aus dem Rapport gefallen sind, da der eine vielleicht eine unvorsichtige Bemerkung über die Lieblingsfußballmannschaft des anderen gemacht hat. Nun ist der andere beleidigt und für den „Beleidiger“ geht es nun darum, die eingefrorene Beziehung zu enteisen und wieder auf Zielkurs zu kommen. Wenn die obengenannten Probleme auftreten, dann kann es auch sein, dass Sie einen der vorgeschlagenen Schritte nicht vollständig oder nicht sorgfältig genug gemacht haben und Sie sich im Spiel eine oder mehrere Positionen zurücksetzen müssen. „Stop, rewind, reset!“, wie es auf Neudeutsch heißt. Ich werde dabei auch sagen, wie Sie das tun können und werde dabei auf die vorgestellten Modelle wie die vier Wahrnehmungspositionen, den Paternoster der logischen Ebenen und das AQAL-Modell verweisen. Alles klar? Eine häufig gestellte Frage lautet etwa:

1. Wie steige ich in eine Verhandlung ein? In eine Verhandlung steigt man ein, wie im Buch von Ponschab/Schweizer besprochen: Man bereitet sich auf die Verhandlung vor, indem man sich fragt, was man eigentlich will. Man definiert sein Ziel und seine Interessen und überlegt sich mindestens drei Wege, um diese zu erreichen. Dabei kann man so vorgehen, wie es ein Freund von mir, der ein sehr erfolgreicher Consultant ist, immer wieder macht: Er legt am Boden die vier Wahrnehmungspositionen aus: 1. Position: Ich bin ich selbst. 2. Position: Ich bin der Verhandlungspartner. 3. Position: Ich schaue uns von außen zu. 4. Position: Ich betrachte das ganze System und andere Systeme von ganz außen.

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Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Teil 7

Wenn mehrere Verhandlungspartner beteiligt sind, dann gibt er auch diesen Plätze. Dann stellt er sich Fragen, wie „Was ist ihr Interesse? Was ist ihr Ziel? Wie könnte ich mit meinen Ressourcen helfen, ihre Ziele zu erreichen? Was könnten sie mir anbieten, mein Ziel zu erreichen?“ Diese Fragen stellt er alle aus der 3. und 4. Position und prüft dann die Antworten, indem er sich in die 2. Position, also in die Verhandlungspartner hineinversetzt und prüft, wie sich die gefundenen Lösungen anspüren. Wenn sie sich schlecht anspüren, dann sucht er weiter. Wenn er keine findet, dann stellt er „Mentoren“ in den Raum, stellt sich vor, er wäre einer von diesen und fragt sich, welche Lösungen sie vorschlagen würden. Mit diesem Verfahren hat er unglaublichen Erfolg und wird mittlerweile von seinen Partnern zu allen schwierigen Verhandlungen geschickt. Kommt Ihnen das alles zu aufwendig oder esoterisch vor? Wenn dem so ist, dann ist es vielleicht so, dass Sie noch nicht zu denen gehören, die sich wirklich sorgfältig und effizient auf eine Verhandlung vorbereiten. Wie weit ich selbst noch von diesem Ideal entfernt bin, habe ich in Clearwater, Florida, bei dem Besuch einer Anwaltskanzlei erfahren, die auf „Medical Malpractice“, also ärztliche Kunstfehler spezialisiert war: Die Kanzlei hatte in ihren Räumen einen Gerichtssaal nachgebaut, in welchem die Prozesse durchgespielt wurden, wie dies Piloten seit Jahren im Simulator tun. Der federführende Anwalt musste seine Rolle x-mal durchspielen, und nicht nur das, sondern auch die der Gegenpartei und die der Richter. Und was glauben Sie, aus welcher Rolle er am meisten lernte? Nach der Vorbereitungsphase treffen Sie Ihre Verhandlungspartner. Beginnen Sie mit dem Synchronisieren und sprechen Sie über Ihre Ziele. Gehen Sie den Paternoster der logischen Ebenen hoch und finden Sie über die Interessen eine „common mission“. Fragen Sie dann, wie Sie mit Ihren Ressourcen Ihrem Verhandlungspartner helfen können, seine Ziele, Interessen und Ihre gemeinsame Mission zu erfüllen. Und wie er mit seinen Ressourcen Ihnen helfen kann, Ihre Ziele und Interessen zu erfüllen. Wenn Sie so vorgehen, lösen sich die Forderungen in Luft auf und es entstehen gegenseitige Hilfsangebote. Ein Austausch von Ressourcen oder Leistungen, bei denen der Preis immer mehr in den Hintergrund rückt! Wer also Folgendes fragt: „Oft verhandeln wir Anwälte über reine Zahlungsansprüche, und es stellt sich mir natürlich die Frage, wie ich zu Beginn der Verhandlung meine Ansprüche anmelde. Soll man hier bewusst mit überzogenen Forderungen einsteigen, oder soll man mit realistischen Zahlen beginnen? Soll man als Erster eine bestimmte Zahl nennen, oder soll man versuchen, die Gegenpartei dazu zu bringen, die erste Zahl zu nennen?“ fährt seinen Porsche im 4. Gang an! Mein Ratschlag: Runterschalten! 1.1 Wer nennt die erste Zahl? Nach der von mir praktizierten und im Buch beschriebenen Vorgehensweise ist es also ratsam, nicht gleich mit den eigentlichen Forderungen zu 267

Teil 7

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

beginnen, sondern zunächst eine Beziehung zum Verhandlungspartner aufzubauen. Das kann man besonders gut, wenn man etwa den Ablauf der Verhandlung klärt: – Wie soll die Verhandlung strukturiert sein? – Wie viel Zeit geben wir uns? – Wann machen wir Pausen? In dieser Phase ist es von besonderer Bedeutung, eine gute Beziehung zu Ihrem Verhandlungspartner aufzubauen. Versetzen Sie sich in Ihr Gegenüber, und versuchen Sie aus der 2. Position zu erfahren, wie er die Welt sieht, hört, fühlt, schmeckt, riecht. So schmilzt langsam das Eis zwischen Ihnen und Ihrem Gegenüber. Beginnen Sie dann mit den Zielen, gehen Sie den Paternoster der logischen Ebenen hoch und präsentieren Sie Ihre „Forderung“ als eine mögliche Option, um die gemeinsame Mission und die beiderseitigen Interessen und Ziele zu erreichen. Nun kann es vorkommen, dass die Optionen außerhalb des Denkrahmens der anderen Partei liegen. In diesem Fall kann man fragen, ob sie bereit wäre, den subjektiven Standpunkt zu verlassen, und einen objektiven Standpunkt beizuziehen. In Wilber’s AQAL-Modell wäre das wohl ein Wechsel vom 1. in den 3. Quadranten. Fisher/Ury/Patton sprechen hier von objektiven Kriterien und benennen diese als Prinzipien, die unabhängig vom Willen der beteiligten Parteien bestehen. Solche objektiven Kriterien können beispielsweise sein: – Sachverständigengutachten, – Kaufpreissammlung, – Durchschnittspreise etc. Sollte die Gegenpartei Mühe haben, uns auf dem Paternoster der logischen Ebenen nach oben zu folgen und immer auf der Positionenebene der nackten Zahlen stehenbleiben wollen, können Sie ihr helfen, Ihnen nach oben zu folgen. Hierzu ein Beispiel: Sie sind Versicherungsspezialist und haben drei Klienten, für die Sie Ansprüche gegenüber Versicherungsgesellschaften durchsetzen sollen. Auf den ersten Blick geht es hier ums bloße Geld: Erstreite ich nun für meinen Mandanten 40 000 Euro; oder 80 000 Euro? Wenn Sie aber weiterfragen, beispielsweise wofür Ihre Mandanten denn das zu erstreitende Geld verwenden möchten, könnten Ihnen diese vielleicht Folgendes verraten: Klient von Baeriswyl: „Ich will mir davon einen dicken Schlitten kaufen. Einen Mercedes, einen Cadillac oder einen BMW. Einmal in meinem Leben will ich auftrumpfen. Die Gelegenheit ist nun da, und ich will sie nutzen. Also bleiben Sie hart und holen sie so viel Geld raus wie möglich!“ 268

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Teil 7

Klient Wasserfallen: „Ich bin gerade noch mit dem Leben davongekommen. Jetzt will ich eine Lebensversicherung abschließen. Ich habe dem Tod ins Auge gesehen und daraus habe ich meine Lehren gezogen. Geben Sie keinen Deut nach. Bleiben Sie hart!“ Klient Gösser: „Ich will mir eine Weltreise leisten. ‚Einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld!‘, wie wir in meiner Jugend gesungen haben. Lassen Sie mich nicht im Stich. Ich will einmal um den Globus, und dazu brauche ich Cash!“ Auf den ersten Blick geht es allen dreien nur ums Geld. Auf der Ebene der Interessen sieht es aber anders aus. Der eine braucht Geld für ein Auto. Sein Wert, dem er huldigt, ist Anerkennung. Der andere braucht mehr Sicherheit und will sich eine Versicherung kaufen, und der Dritte will seine Freiheit auskosten und auf eine Weltreise gehen. Mit diesem Wissen alleine, Sie brauchen dabei den Paternoster gar nicht voll hochzufahren, eröffnen sich Ihnen ganz neue, ungeahnte Möglichkeiten: Sie können beispielsweise nun dem Wunsch der Versicherung entgegenkommen und Ihre Geldforderungen reduzieren, wenn der erste Klient aus dem Bestand der gestohlenen und wiedergefundenen Fahrzeuge einen Cadillac Eldorado Touring Coupe für 20 % des Neupreises erhält oder Ihr zweiter Mandant eine Lebensversicherung zu Sonderkonditionen. Und vielleicht betreibt eine der Versicherungsgesellschaften oder eine ihrer Töchter oder Kunden ein Reisebüro, wo Sie für Ihren Kunden eine Weltreise zum Ankaufspreis erhalten können. Wenn es Ihnen gelingt, diese Verhandlung so über die Bühne zu bringen, haben wieder einmal beide Seiten gewonnen: Die Versicherungsgesellschaft muss weniger Schadensersatz zahlen, und Ihre Kunden bekommen genau das, was sie sich gewünscht haben. Wie Sie sehen, schränkt der Glaube, Menschen gehe es nur ums Geld, enorm ein. Wollen Sie sich als gestandener Anwalt tatsächlich derart einschränken lassen? 1.2 Soll ich mit einer möglichst hohen Forderung oder einem möglichst niedrigen Angebot beginnen? Auch hier muss ich die gleiche Antwort geben wie oben: Wer fragt, ob er mit einer möglichst hohen oder einer realistischen Forderung „beginnen“ soll, geht von der falschen Vorannahme aus: Der 4. Gang im Porsche wird nicht zum Anfahren benutzt! Vielleicht kann man das Ganze aber auch etwas philosophischer sehen, denn die vorgeschlagene Vorgehensweise ist nicht nur eine Frage der Verhandlungstaktik, sondern auch eine Frage der Verhandlungskultur. 269

Teil 7

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Wenn Sie auf einem Markt in Marrakesch, auf dem Sie eine Zinnvase erwerben wollen, den Preis nennen, den Sie für dieses Stück gerne bezahlen möchten, dann sind Sie verloren, denn der Händler wird sofort etwa das Zehnfache des von Ihnen genannten Preises verlangen. Wenn Sie dann aber auch noch auf Ihrem Preis beharren, sich nicht bewegen und dann wutentbrannt den Laden verlassen, haben Sie ihm auch noch den Spaß verdorben: denn seine Verhandlung ist eine gänzlich andere als die unsere, bei der man relativ schnell „zur Sache“ kommt. In Marrakesch gehört es nämlich zur Verhandlungskultur, dass man ausgiebig feilscht und dramatisch mit dem anderen ringt. Der „negotiation dance“ um den Preis macht beiden Seiten Spaß und gehört zum guten Ton. So wie bei uns das Grüßen mit der rechten Hand. Ist aber Feilschen ein Teil unserer Verhandlungskultur? Auch an unseren Verhandlungstischen werden Sie leider immer wieder Kollegen begegnen, die Ihr Besprechungszimmer mit dem Souk von Marrakesch verwechseln. Dann ist es natürlich sinnvoll zu wissen, wie Sie damit umgehen. Wenn es Ihnen Spaß macht, in den „negotiation dance“ einzusteigen, dann ist es für Sie wichtig, eine ebenso unrealistische Zahl wie der Verhandlungspartner zu nennen, nur eben in die andere Richtung. Haben Sie dagegen keine Lust am orientalischen Verhandlungsstil, dann wäre es eine sehr elegante Art, die Einladung zum Tanz auszuschlagen, wenn Sie die von der anderen Seite als Position genannte Zahl als Möglichkeit der Zielfindung (Option) darstellen und so den Verhandlungspartner wieder in die reale Wirklichkeit zurückführen. Nehmen Sie einmal an, Sie hätten für einen Mandanten gegenüber einer Versicherung Schmerzensgeld geltend zu machen und gehen nach dem Studium der Schmerzensgeldtabelle davon aus, dass ein Betrag von 500 Euro angemessen wäre. Bietet Ihnen nun der Versicherungsvertreter 200 Euro an, so würde die orientalische Lösung bedeuten, dass Sie im Gegenzug 1 500 Euro verlangen, um sich dann nach einem längeren Tanz, der sich zwischen den genannten Polen hin und her bewegt, irgendwo in der Mitte zu treffen. Es wäre aber auch möglich, dass Sie dem Verhandlungspartner sagen: „Ach, das ist ja ein sehr interessanter Vorschlag. Wie kommen Sie darauf?“ Das wird natürlich der anderen Seite zunächst einmal unangenehm sein, weil sie sich nun mit der Begründung ihres Vorschlages anhand objektiver Kriterien beschäftigen muss. Um die andere Seite weiter in diese Richtung zu bringen, können Sie etwa so fortfahren: „Ich habe mir vor unserer Besprechung einmal die Urteile zur Frage des Schmerzensgeldes bei einer derartigen Verletzung angesehen und habe dabei festgestellt, dass ein angemessenes Schmerzensgeld wohl etwa in dem Bereich von 700 Euro liegen dürfte“ (hierbei haben Sie natürlich das Urteil zitiert, welches das höchste Schmerzensgeld gewährt). 270

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Teil 7

Auf diese Art und Weise bringen Sie dann vielleicht die andere Seite dazu, sich mit Ihnen gemeinsam an das Studium der Schmerzensgeldtabelle zu machen, Einzelurteile auf ihre Anwendung für die konkrete Situation zu prüfen etc. Wenn Sie sich nicht auf den „negotiation dance“ einlassen wollen, müssen Sie dies der anderen Seite möglichst schnell und deutlich zeigen: Lachen Sie einfach, klatschen Sie sich auf den Oberschenkel, stellen Sie das Angebot als gelungenen Witz dar oder tun Sie etwas anderes, aber vermeiden Sie alles, was die andere Seite als Zustimmung zur Verhandlung im Basarstil auffassen könnte. Bei Basarverhandlungen kann das Nennen einer „Mondzahl“ durchaus dazu führen, dass ein gutes Ergebnis für denjenigen, der diese nennt, herauskommt. Diese Schlussfolgerung trifft aber im Regelfall nur dann zu, wenn derjenige, der eine überzogene Position vertritt, auf einen weichen Verhandler stößt. Wie Sie ja von Ponschab/Schweizer schon wissen, sind weiche Verhandler diejenigen Menschen, die glauben, sich die gute Beziehung zur anderen Seite dadurch erkaufen zu können, dass sie in der Sache unangemessen nachgeben. Aber wir alle wissen ja nun: Haie, die man füttert, werden dadurch nur gefräßiger. Wenn Sie also kein weicher Verhandler sind, dann können Sie auch überzogene Zahlen der anderen Seite nicht dazu bewegen, Zugeständnisse zu machen. Ich sehe in der Taktik, mit überzogenen Zahlen zu beginnen, die große Gefahr, dass die Gegenseite die Verhandlung abbricht, um zu zeigen, dass sie nicht bereit ist, sich auf derartige Verfahrensweisen einzulassen. Und noch eins: Wenn man zunächst eine sehr hohe Zahl als Position vertritt und dann, weil die andere Partei hart bleibt, erheblich nachlassen muss, verliert man im Regelfall sein Gesicht. Und das ist nicht gut. Ein renommierter Politiker sagte einmal: „Ich habe schon oft den Kopf verloren, aber noch nie mein Gesicht!“ Daran ist etwas Wahres! Lassen Sie mich also zusammenfassen: 1. Beginnen Sie die Verhandlung nicht mit den „nackten“ Forderungen, sondern verhandeln Sie zuerst die Vorgehensweise und bauen Sie dabei Schritt für Schritt mehr und noch mehr Rapport auf. Synchronisieren Sie sich! Gehen Sie dann den Paternoster der logischen Ebenen hoch und wieder runter. Wenn die „Forderung“ dann noch genau so aussieht wie zu Beginn der Gespräche, was ich übrigens nicht annehme, ist sie nichts anderes als eine von vielen Optionen, die gemeinsame Mission und die beiden Interessen zu erfüllen. Erst wenn diese Punkte klar sind, ist es sinnvoll, Zahlen zu nennen. 2. Wenn Sie sich gerne auf einen „negotiation dance“ (also eine Basarverhandlung) einlassen wollen, dann vergessen Sie alle meine Vorschläge und beginnen Sie mit einer unrealistischen Zahl zu Ihren Gunsten bzw. beantworten Sie eine solche Zahl, welche die andere Seite nennt, ebenfalls mit einer unrealistischen Zahl. In diesem Fall wünschen wir Ihnen viel Spaß beim Tanzen. Hoffentlich pokern Sie nicht zu hoch, denn sonst verlieren Sie Ihr Gesicht! 271

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3. Wenn Sie dagegen keine Basarverhandlung wollen, dann empfehlen wir Ihnen, sich beim Herunterfahren des Paternosters der logischen Ebenen an den Preis über objektive Kriterien heranzutasten, indem Sie gemeinsam mit der anderen Partei die Frage klären, welcher Preis nach unabhängigen Kriterien angemessen ist. Überprüfen Sie also mit Ihrem Verhandlungspartner Sachverständigengutachten, Preislisten, Handelsbräuche etc. Diese Markierungspflöcke werden Ihrem Verhandlungspartner keinen Raum lassen für einen negotiation dance.

2. Wie kann ich umfangreiche Sachverhalte verhandeln? Es scheint eine Tatsache zu sein, dass wir Menschen nur ein gewisses Maß an Zahlen, Daten und Fakten handhaben können. Wie der amerikanische Psychologe George A. Miller herausgefunden hat, kann der „Arbeitsspeicher“ des menschlichen Gehirns im Regelfall lediglich sieben Informationen (mindestens fünf, maximal neun) verarbeiten. Der Titel seines berühmten Aufsatzes heißt dann auch: „The Magical Number Seven Plus Or Minus Two“2. Haben wir also gleichzeitig mehr als 5–9 Informationen zu verarbeiten, können wir diese nur bewältigen, wenn wir die Informationen strukturieren. Diese Strukturen entstehen durch eine Gliederung des Stoffes. Solche Gliederungen können einfache oder auch komplizierte Gebilde sein. Wer sich mehr für die Frage des Verhandelns als Informationsverarbeitung und das Strukturdenken als Weg rationaler Bewältigung von Komplexität in Verhandlungen interessiert, sollte sich in das nicht nur aus diesem Grund unbedingt lesenswerte Buch „Verhandlung und Mediation“ von Haft vertiefen. Komplexe Sachverhalte können durch vier Schritte strukturiert, greifbar und dadurch verhandelbar gemacht werden: 1. Schritt Strukturieren fl 2. Schritt Visualisieren fl 3. Schritt Atomisieren fl 4. Schritt Molekularisieren 2 The Psychological Review, 1956, vol. 63, Issue 2, pp. 81–97; im Internet: http:// www.musanim.com/miller1956; siehe auch http://en.wikipedia.org/wiki/The_ Magical_Number_Seven_Plus_Or_Minus_Two.

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Die Anwendung dieses Vier-Schritte-Modells möchte ich an einem Beispiel erklären: Gehen wir einmal davon aus, dass es zwischen zwei Gesellschaftern, die jeweils einen Anteil von 50 % des Stammkapitals halten, zu derartig ernsthaften Auseinandersetzungen gekommen ist, dass die Gesellschafter nicht mehr zusammenarbeiten wollen. Im Rahmen einer Verhandlung müssen die verschiedensten Fragen geklärt werden, so beispielsweise: – Soll die Gesellschaft aufgelöst werden, oder kann man sich darüber einigen, dass ein Gesellschafter die Gesellschaft weiterführt? – Wenn es zu einer Übernahme durch einen Gesellschafter kommt, wie soll dann die Gesellschaft bewertet werden? – Wie kann die Übernahme finanziert werden? – Ist (zumindest teilweise) eine Realteilung möglich, will beispielsweise der andere Gesellschafter Gegenstände der Gesellschaft übernehmen (in Anrechnung auf sein Auseinandersetzungsguthaben)? – Was gibt es hinsichtlich des Wettbewerbes für den ausscheidenden Gesellschafter zu regeln, insbesondere: – In welchem Umfang kann der ausscheidende Gesellschafter Wettbewerb betreiben? – Welchen Einfluss hat dies auf die Abfindungszahlung? – Kann der ausscheidende Gesellschafter gewisse Produkte von der Gesellschaft übernehmen und selbst weiter vertreiben? – Welche Fragen sind bei der Auflösung des Geschäftsführeranstellungsvertrages des ausscheidenden Gesellschafters zu beachten? – Wie können persönliche Bürgschaften des ausscheidenden Gesellschafters abgelöst werden? Dies sind nur einige Fragen, die bei einem derartigen Themenkomplex zu verhandeln und zu klären sind. Es dürfte einleuchten, dass man sehr schnell „in den Wald kommt“, wenn man versucht, dieses komplexe Thema an irgendeiner Frage aufzuhängen, wenn man nicht vorher das Ganze strukturell durchdacht hat. Ich rate Ihnen deshalb, wie folgt vorzugehen: 2.1 Strukturieren Es ist wichtig, dass sich die Parteien am Anfang der Verhandlung oder gegebenenfalls vor der Verhandlung darauf einigen, welche Einzelthemen in welcher Abfolge verhandelt werden sollen. Hier zeigt sich die besondere Wichtigkeit des Verhandelns über das Verhandeln. Die einzelnen Punkte der Verhandlung sollten in einer hierarchischen Gliederung stehen, die etwa der Form einer Pyramide entspricht. Am Anfang steht die Frage, die für alle nachfolgenden Ebenen von Bedeutung ist. Auf der nächsten hierarchischen Ebene werden dann diejenigen Fragen gestellt, die sich aus der Erledigung des hierarchisch übergeordneten Problems ergeben. Diese Fragen werden dann auf der nächsten Stufe geklärt und gleichzeitig die sich aus 273

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Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

dieser Klärung ergebenden Fragen gestellt, die dann auf der nächsten Stufe beantwortet werden… Auf diese hierarchisch höhere Ebene, von der aus Sie, einer juristischen Dogmatik folgend, absteigen können, kommen Sie aber erst, wenn Sie mit dem Paternoster der logischen Ebenen hochgefahren sind! Bevor man also anfangen kann, den Fall juristisch (!) runterzustrukturieren, muss man ihn zuerst einmal ökonomisch (!) hochfahren! Lassen Sie mich das an unserem Beispiel erklären: Wir sind in obigem Beispiel davon ausgegangen, es sei klar, dass die beiden Gesellschafter nicht mehr zusammenarbeiten wollen. Das kann der Endpunkt einer Diskussion über Ziele, Interessen und einer gemeinsamen Mission sein. Was machen wir aber, wenn es das nicht ist? Wenn die Parteien einfach behaupten, sie wollten nicht mehr zusammenarbeiten, ohne den Paternoster hochgefahren zu sein? Mein Vorschlag ist: Warten Sie, bis der Aufzug an Ihrem Stockwerk vorbeifährt und springen Sie mit den Parteien auf! Es gibt nichts zu verlieren, höchstens etwas zu gewinnen, und wenn es wirklich nicht mehr zusammen geht, springen Sie einfach alle bei der Fahrt nach unten wieder aus dem Lift! Wie gehen Sie dabei genau vor? Vielleicht wie folgt: 1. Würdigen Sie die Zusammenarbeit der Vergangenheit. Beschwören Sie die „Glory Days“ herauf. 2. Benennen Sie die Ressourcen der beiden Parteien und weisen Sie darauf hin, wie sich diese damals optimal ergänzt haben. 3. Benennen Sie die damalige gemeinsame Mission, die gemeinsamen Interessen und Ziele. 4. Fragen Sie die Parteien nach Ihren heutigen und zukünftigen Zielen! 5. Fragen Sie die Parteien nach Ihren heutigen und zukünftigen Interessen! 6. Fragen Sie die Parteien nach Ihrer heutigen und zukünftigen „Common Mission“! Etwa so bin ich vorgegangen im Fall Sacksberger vs. Mehltau, den Sie ja alle inzwischen gut kennen. Und wie Sie gesehen haben, ging es gut aus. Wichtig ist, dass Sie dieses doch wohl eher ungewohnte Vorgehen mit dem Gegenanwalt vorbesprechen. Sie können dabei ruhig sagen, dass man, bevor man aus dem Ehebett steigt, der Ehe noch eine letzte Chance geben möchte. Oder darauf hinweisen, dass jede Neukundenakquise zehnmal mehr Einsatz an Ressourcen erfordert, als das Weiterführen einer bestehenden Geschäftsverbindung. Das ist übrigens wissenschaftlich erwiesen! Stellt sich nach dem Hochfahren des Paternosters heraus, dass die Zusammenarbeit für immer und ewig beendet werden soll, dann ergäbe sich auf der darunterliegenden Stufe als Erstes die juristische Frage: Auflösung der Gesellschaft oder Ausscheiden eines Gesellschafters? Hat man sich für das Ausscheiden eines Gesellschafters entschieden, dann ergäben sich auf der nächsten Stufe mehrere hierarchisch gleichgeordnete 274

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Probleme. So wären auf dieser Stufe beispielsweise folgende Fragen einzuordnen: – Bewertung des Geschäftsanteils des ausscheidenden Gesellschafters; – Probleme aus der Auflösung des Geschäftsführervertrages; – Regelung des Wettbewerbsverhältnisses zwischen der Gesellschaft und dem ausscheidenden Gesellschafter. Der letzte Punkt könnte allerdings seinerseits wiederum ein Unterpunkt zur Bewertung des Geschäftsanteils sein, denn wenn man einem ausscheidenden Gesellschafter Wettbewerb gestattet, kann dies natürlich den Wert der Gesellschaft erheblich beeinflussen, da sie durch die Auseinandersetzung einen weiteren Wettbewerber bekommt. Als Unterpunkt zur Frage der Bewertung des Geschäftsanteils wäre dann beispielsweise die Frage zu klären, wie die Abfindung gezahlt werden soll und ob diese Abfindung etwa in Form von Realteilung, das heißt durch Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter an den ausscheidenden Gesellschafter, ganz oder teilweise erfolgen kann. Graphisch dargestellt sieht das etwa so aus: Werden die Gesellschafter zukünftig noch zusammenarbeiten?

JA

Regelung der Zusammenarbeit

NEIN

Ausscheiden eines Gesellschafters

Bewertung Geschäftsanteil

Zahlungsdaten der Abfindung

1. Ebene

Auflösung Geschäftsanteil

Nimmt Gesellschafter Wettbewerbstätigkeit auf?

Auflösen der Gesellschaft

Regelung Wettbewerb

2. Ebene

3. Ebene

4. Ebene

Wenn Sie so vorgehen, dann ist es ziemlich sicher, dass Sie ohne unnötigen Zeitverlust die Themen „abarbeiten“ können und sich nicht in die Irre begeben. Wenn Sie diese Struktur nicht gemeinsam mit Ihrem Verhandlungspartner festgelegt haben, dann ist es empfehlenswert, mit ihm zuerst die Struktur der Verhandlung zu klären und bindend für beide Seiten festzuhalten. Am besten geschieht dies durch eine Visualisierung. Ein Beispiel dafür ist die vorstehende Skizze. 275

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2.2 Visualisieren Um die Struktur zu erläutern und das Fortschreiten der Verhandlung im Rahmen der Struktur zu überprüfen und nachzuvollziehen, empfiehlt es sich, dass Sie diese Struktur visualisieren. Dazu gibt es verschiedene Wege. Das einfachste und auch empfehlenswerteste Mittel ist es, dass Sie den Verhandlungsablauf und die Themen gemeinsam mit Ihrem Verhandlungspartner auf das Flipchart aufzeichnen. Durch diese Visualisierung ist es auch möglich, gemeinsam den Verhandlungsfortschritt festzustellen; im Regelfall bereitet es dem Verhandlungspartner große Freude, wenn er aufstehen, sich einen Filzstift nehmen und einen Punkt der Verhandlung als erledigt abhaken oder durchstreichen kann. Visualisierung ist auch eine sehr einfache Art, einen Verhandlungsvertrag darzustellen. Denn wenn Sie die Struktur der Verhandlung auf dem Flipchart festgehalten haben, ist es relativ einfach, den Partner durch einen bedeutungsvollen Blick auf das Flipchart wieder auf den festgelegten Verhandlungsablauf einzuschwören. Das Visualisieren ist auch deswegen so wichtig, weil viele Menschen nur dann etwas richtig wahrnehmen, wenn sie es auch sehen können. Dies dürften in unserem Kulturkreis etwa 50 % aller Menschen sein. Daher ist es sicherlich eine Ihrer lohnendsten Investitionen, wenn Sie sich möglichst bald ein Flipchart oder ein Whiteboard kaufen und in Ihr Besprechungszimmer stellen oder hängen. Durch das Aufzeichnen komplexer Strukturen werden Sie übrigens auch wie von selbst die Führung in der Verhandlung an sich ziehen, da Sie dadurch für manche Beteiligte die Probleme überhaupt erst klarmachen können. Klardenkenden Menschen vertraut man eher als Chaoten. Einen interessanten Brief habe ich auch vom Kollege Lochmann aus Emmendingen erhalten, der mir nach der Lektüre von Ponschab/ Schweizer schrieb: „Lieber Herr Kollege Cooper! Ich war ja, wie wir Anwälte eben sind, eher skeptisch gegenüber Ihren Ausführungen zur Visualisierung eingestellt. Bis ich Ihre Methode einmal selber angewendet habe. Nicht in einem kooperativen Kontext, sondern in einem Schriftsatz: Ich habe einfach einen Sachverhalt als Struktogramm auf einer Seite notiert. Und was war die Reaktion des Kollegen Gegenanwalt: Er hat auf zehn (!) Seiten versucht, meine Visualisierung schriftlich zu widerlegen! Da ich weiß, was es kostet, zehn Seiten zu schreiben, wende ich diese Methode nun fast in allen Schriftsätzen an. Zudem erlebe ich immer wieder, dass der Richter sich im Urteil auf meine Struktogramme bezieht und so ist auch meine Gewinnquote vor Gericht gestiegen. Selbstverständlich steht seit meiner Lektüre Ihrer Ausführungen auch ein Flipchart in meinem Verhandlungsraum und der eichene Tisch flog ebenfalls raus. Dass die Quote der kooperativen Streiterledigungen ebenfalls dramatisch gestiegen ist, versteht sich von selbst! Mit sichtbarem Dank! RA Gerhard Lochmann“

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2.3 Atomisieren Wenn Sie also die Themen strukturiert und die Themenabfolge visualisiert haben, empfiehlt es sich, anschließend das gesamte Verhandlungsthema zu atomisieren. Unter Atomisieren verstehe ich das Verhandeln einzelner Teile des gesamten Verhandlungsthemas anhand der vorgegebenen Struktur. Das Problem einer solchen Verhandlung besteht im Regelfall darin, dass Sie erst dann, wenn das Gesamtpaket geschnürt ist, wissen, ob Sie ein für Sie akzeptables Ergebnis erreicht haben. So kann es beispielsweise für den Fall, dass keine weitere Zusammenarbeit möglich ist, sein, dass Sie in dem Punkt der Beendigung des Geschäftsführervertrages und der hierfür zu zahlenden Abfindung Zugeständnisse machen. Diese möchten Sie durch eine großzügige Regelung des Wettbewerbes für Ihren Mandanten wieder ausgleichen. Stellt sich die andere Seite bei einer großzügigen Wettbewerbsregelung stur, dann waren Ihre Zugeständnisse bei der Geschäftsführerabfindung ungerechtfertigt. Es ist daher eines der wichtigsten Dinge bei solchen Verhandlungen, dass beide Parteien übereinstimmen, dass die Teilergebnisse so lange unverbindlich sind, bis eine Einigung über den gesamten Komplex hergestellt ist. Wenn Sie dies vorher klar aussprechen, dann ist es auch kein Problem, wenn Sie eine vorläufige Einigung später widerrufen, falls das Gesamtergebnis für Sie unausgewogen ist. 2.4 Molekularisieren Letztlich müssen Sie dann die gefundenen Teilergebnisse (also die einzelnen Verhandlungsatome) wieder zu einer größeren Einheit zusammenfügen. Dieses Zusammenfügen bedeutet letztlich, alle einzelnen Ergebnisse in einem Vertrag sinnvoll miteinander zu verbinden und das Ergebnis unverzüglich schriftlich zu protokollieren.

3. Was kann ich tun, wenn die andere Seite bessere Karten (sprich: mehr Macht) hat? Nehmen wir als Beispiel für derartige Verhandlungssituationen einmal folgenden Fall: Der Eigentümer eines architektonisch hervorragend gelungenen Hauses in bester Innenstadtlage bietet Büroräume in diesem Haus zur Vermietung an. Auf seine Anzeige melden sich 40 ernsthafte Mietinteressenten, die auch von der Bonität her als Mieter in Frage kommen. Auch Sie möchten gerne dort ein Büro mieten. In einer solchen Situation spricht das Machtverhältnis auf den ersten Blick eindeutig für die andere Seite. Ursachen für solche ungleichen Machtverhältnisse können Unausgewogenheit von Angebot und Nachfrage, eine eindeutige Rechtslage oder andere Gründe sein. Wenn wir solche Situationen einmal näher analysieren, stoßen wir darauf, dass die Ursache der unglei277

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Was kann ich tun, wenn die andere Seite bessere Karten hat?

schrecklichste Taten

SOLCH EINE ANTWORTVERGIFTET DAS GEGENSEITIGE

VERTRAUENH

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chen Machtverteilung im Regelfall der Umstand ist, dass die andere Seite eine außerordentlich starke beste Alternative hat und dadurch eben eigentlich gar nicht auf die Verhandlung mit uns angewiesen ist. Sie hat einfach sehr viele gute Möglichkeiten außerhalb des Verhandlungskontextes, die sie ohne unsere Mitwirkung wahrnehmen kann. Keiner verhandelt gerne in einer solchen Situation, trotzdem wissen wir alle aus eigener Erfahrung, dass derartige Situationen gar nicht selten sind. Ist die Macht ungleich verteilt, helfen uns drei Fragen weiter: 3.1 Liegt überhaupt eine Verhandlung vor? Oft findet in derartigen Situationen gar keine Verhandlung statt, weil die eine Seite eine so starke beste Alternative hat, dass sie im Wege des „Diktates“ die Bedingungen der zukünftigen Zusammenarbeit bestimmen kann. Die Benutzung des Wortes „Vertrag“ in solchen Situationen bedeutet nicht ohne weiteres, dass das Ergebnis Folge einer ausgewogenen Verhandlungssituation ist. Erinnern wir uns an den so genannten „Vertrag“ von Versailles, mit dem der 1. Weltkrieg beendet wurde. Hier war es ganz eindeutig, dass die Siegermächte die besseren Karten hatten und diese Position auch entsprechend genutzt haben. Verhandlungen im eigentlichen Sinne haben hier nicht stattgefunden; es ging eigentlich nur darum, dass der Verlierer die Bedingungen des Siegers akzeptierte. Dass solche „Verhandlungen“ und „Verträge“ unter Umständen verheerende Folgen (auch für den Sieger!) haben können, liegt nahe3. Oder nehmen Sie den vorstehend genannten Beispielsfall: Bei 40 Mietinteressenten wird der Vermieter im Regelfall die Bedingungen diktieren können. Wenn also eindeutig keine Verhandlungssituation gegeben ist, dann können Sie eigentlich auch nur ja oder nein zu den Bedingungen der stärkeren Seite sagen. Oder Sie lassen sich etwas einfallen, um aus dem „Diktat des Stärkeren“ doch noch eine Verhandlung zu machen … 3.2 Wie gut sind die Karten der anderen Seite wirklich? Bei dem geschilderten Vermietungsfall ist die Stärke der anderen Seite klar erkennbar. Sehr oft versuchen aber Verhandlungspartner, mit ihrer besten Alternative zu bluffen, das heißt, Möglichkeiten vorzugaukeln, die ihnen gar nicht zur Wahl stehen. Wer zum Beispiel bei einer Anstellungsverhandlung durchblicken lässt, er könne für eine ähnliche Position in einem Konkurrenzunternehmen statt der hier angebotenen 100 000 Euro 130 000 Euro im Jahr bekommen (nehmen wir einmal an, dass dies nicht stimmt), dann möchte er durch diesen Bluff gerne in eine starke Machtposition kommen, vorausgesetzt, dass das 3 Siehe unten Teil 3, 4., S. 111 ff.

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Unternehmen an ihm interessiert ist. Allerdings ist dieses Vorgehen sehr risikoreich – und deswegen raten wir auch im Regelfall von Bluffs ab –, denn der Personalchef kann sehr leicht sagen: „Dann nehmen Sie doch diese Stelle!“ Ist die Stärke der anderen Seite nicht offensichtlich, brauche ich zunächst einmal Informationen über deren wirkliche Stärke, um zu wissen, wie die Machtverhältnisse tatsächlich liegen. 3.3 Wie können wir unsere Verhandlungsposition stärken? Liegt eine Verhandlungssituation vor, in der die andere Seite wirklich die besseren Karten hat, dann gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten, um die eigene Situation zu verbessern: 3.3.1 Stärkung der Beziehung Bauen Sie Vertrauen auf und finden Sie heraus, was die Absicht der Parteien hinter ihrem Verhalten ist! Klingt es merkwürdig für Sie, dass gute Beziehungen dazu dienen können, um aus der Situation „Diktat des Stärkeren“ in die Situation „Verhandlung“ zu kommen? Vielleicht erinnern Sie sich an Zeitungsberichte über Entführer und deren Opfer in gekaperten Flugzeugen, Bussen oder in Bankfilialen etc. Oft ist es in solchen Fällen ausgesprochen ungleicher Machtverhältnisse beherzten Opfern gelungen, durch gute Kommunikation mit den Entführern zu erreichen, dass sie gut behandelt werden. Immer dann, wenn Opfer sich nicht als „Opfer“ verhalten, sondern den Entführern als „Partner“ gegenübertreten, die gemeinsam mit ihnen eine Situation bewältigen wollen, stellen sich erstaunliche Ergebnisse ein. Gelegentlich wird sogar davon berichtet, dass sich zwischen den Entführern und Geiseln freundschaftliche Beziehungen entwickelt haben und die Tötung des Geiselnehmers, etwa bei einer Stürmung durch eine Sondereinheit, auf die Opfer wie ein Schock wirkte. Nehmen wir einmal an, Sie finden heraus, dass der Vermieter sehr auf Sicherheit bedacht ist. Wenn Sie dies wissen, können Sie herausstreichen, wie gut Ihre Bonität ist und beiläufig darauf hinweisen, dass zwei Ihrer Partner aus den reichsten Familien der Stadt kommen. Wenn Sie feststellen, dass der Vermieter hauptsächlich auf Anerkennung Wert legt, dann weisen Sie darauf hin, welche Politiker und Filmschauspieler Sie beraten. Vielleicht möchte er den einen oder den anderen davon einmal kennenlernen?

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3.3.2 Optionen entwickeln Was können Sie der Gegenseite außer Geld sonst noch anbieten? Erweitern Sie ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Verhandlungskontextes! Fragen Sie sich, was Sie der anderen Seite außer Geld noch bieten können. Je mehr Sie Ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Verhandlungskontextes erweitern, je mehr Sie interessengerechte Optionen anbieten können, umso mehr schwächen Sie die beste Alternative Ihres Verhandlungspartners. Nehmen Sie einmal an, Sie könnten sich in dem Vermietungsfall bereit erklären, die gesamte Verwaltung des Hauses zu übernehmen, eine größere Vorauszahlung auf die Miete zu leisten, dem Vermieter Sonderkonditionen für Rechtsberatung einzuräumen, etc. etc. etc. Jedes interessante Angebot an den Vermieter schwächt gleichzeitig die Position der anderen 39 Interessenten und damit die beste Alternative des Vermieters. Was würde zum Beispiel passieren, wenn der Vermieter des Innenstadtbüros gerade von einem dreiwöchigen Golfurlaub zurückgekehrt ist und von Ihnen erfährt, dass Sie die Möglichkeit hätten, ihm den Eintritt in einen renommierten Golfclub zu verschaffen, ihm ein Set günstiger Golfschläger von Ihrer nächsten Reise mitzubringen oder mit ihm gemeinsam über die Schönheiten des Golfkurses im Seventeen-Miles-Drive (südlich von Carmel/Kalifornien) zu schwärmen. Es wäre nicht völlig ausgeschlossen, dass dieser Sympathiezuwachs beim Vermieter dazu führt, dass Sie in den engsten Kreis der Bewerber aufrücken, denn jeder Mensch hat neben Geld mit Sicherheit noch andere Interessen. Oder Sie könnten seinem eher leichtlebigen als schöngeistigen Sohn helfen, seine Promotion zu schreiben? 3.3.3 Eigene beste Alternative verstärken Bekommen Sie das, was Sie wollen, auch woanders? Erweitern Sie Ihre Wahlmöglichkeiten außerhalb des Verhandlungskontextes. Oft ist die Schwäche der besten Alternative der anderen Seite die Stärke Ihrer eigenen besten Alternative. Deshalb ist es wichtig, sich in Fällen der ungleichgewichtigen Machtposition bei der Vorbereitung der Verhandlung darüber Gedanken zu machen, wie man die eigene beste Alternative verstärken kann. Das heißt also, sich intensiv der Frage zu widmen: – Was kann ich alles tun, wenn ich mein gewünschtes Ziel im Rahmen der Verhandlung nicht erreiche? – Wie kann ich das, was ich haben will, möglicherweise anderweitig (also außerhalb des Verhandlungskontextes) bekommen? Es könnte für Sie wichtig sein, wenn Sie sich vor dem Gespräch mit dem Vermieter darüber informieren, ob nicht andere Büros ähnlicher Qualität in Innenstadtlage noch zu haben sind. Vielleicht gibt es gleich nebenan ein Büro, das etwas teurer oder nicht ganz so gut gelegen ist, aber durchaus eine akzeptable Alternative zu Ihrem Traumbüro wäre. 281

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Allein die Tatsache, dass Sie den Vermieter spüren lassen, dass Sie das angebotene Objekt nicht auf jeden Fall haben müssen, festigt Ihre Position. Denn die Frage der Macht ist sehr oft eine Frage der Ausstrahlung, die von unserem Unterbewusstsein ausgeht und vom Unterbewusstsein des Empfängers aufgenommen wird. Mit der Ausstrahlung „Ich muss das Gewünschte haben, koste es, was es wolle“ werden Sie sich im Regelfall die Preise verderben. Sie sehen, wie wichtig es ist, immer über mehrere Lösungen für Ihr Problem – und zwar innerhalb und außerhalb des Verhandlungskontextes – zu verfügen. Denn: Eine Lösung ist ein Problem. Zwei Lösungen sind ein Dilemma. Freiheit beginnt mit drei Lösungen! Vielleicht ist es ja tatsächlich so, wie die Kybernetiker im „Gesetz der notwendigen Vielfalt“ behaupten: „Auf die lange Dauer wird ein System nicht vom scheinbar mächtigsten Element beherrscht, sondern vom flexibelsten!“ 4 Das flexibelste Element ist das, was uns die meisten Wahlmöglichkeiten bietet. Um uns vom Problem zu lösen und flexibler zu werden, kann es hilfreich sein, in die 4th position zu gehen 5 und die Verhandlungssituation auf der Suche nach Wahlmöglichkeiten von ganz außen zu betrachten: 1. Was für andere Möglichkeiten gäbe es, mein Ziel zu erreichen? 2. Gab es nicht schon einmal in meinem Leben eine ähnliche Situation, die ich erfolgreich gemeistert habe? Wie habe ich es damals gemacht? 3. Wie haben andere in ähnlichen Situationen reagiert? Was kann ich von diesen lernen? Wenn Sie so denken, gehören Sie, wie es Darwin wohl nennen würde, zu der Gruppe der „fittest“, den Leadern der Evolution!

4. Wie kann ich mit einem sturen Verhandlungspartner umgehen? Sie verhandeln mit einem Partner und versuchen ihm darzustellen, dass bestimmte Verhandlungsergebnisse für beide Teile vorteilhaft sind. Sie legen dar, dass Sie gewisse Ziele erreichen müssen, um einen Vertrag schließen zu können. Die andere Seite lehnt sich zurück, trommelt gelangweilt mit den Fingern auf die Tischplatte und sagt Ihnen: „Für 10 000 Euro bin ich bereit zu kaufen, sonst lasse ich es bleiben.“ 4 „The larger the variety of actions available to a control system, the larger the variety of perturbations it is able to compensate.“ Askby’s Gesetz; vgl. Nachweise oben Teil 6, S. 255, Fn. 33. 5 Siehe oben Teil 6, 6., S. 238 ff.

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Sie beginnen daraufhin, Papier aus Ihrem Aktenkoffer zu ziehen, rechnen Kosten vor und beschreiben sämtliche Vorteile des von Ihnen vorgeschlagenen Abschlusses. Was macht der Verhandlungspartner? Er lehnt sich zurück und sagt mit fester Stimme: „10 000 Euro und keinen Cent mehr“. Sie kennen sicher solche und ähnliche Verhandlungssituationen. Man hat das Gefühl, als säße auf der anderen Seite des Tisches ein störrischer Esel. Im Allgemeinen verfügen die Menschen über zwei Möglichkeiten, mit einem störrischen Esel umzugehen. Doch die dritte Möglichkeit ist es oft erst, die einen Esel dazu bringt, sich zu bewegen. Sehr anschaulich habe ich das gelernt, als ich im Rahmen meines Militärdienstes bei den Gebirgsjägern auf einer Übung in den Bergen mit Kameraden von der Tragtierkompanie (im Fachjargon „Mulitreiber“) unterwegs war. Die „Mulitreiber“ hatten den Auftrag, die Versorgung zu unserem in den Felsen gelegenen Stützpunkt aufrechtzuerhalten. Dabei mussten die Tiere erhebliche Lasten tragen und unwegsame Stellen passieren. Es war ganz erstaunlich, mit welcher Kraft und welcher Ausdauer sie dies taten – wenn sie wollten. Einmal erlebte ich, dass ein Maultier an einer Wegbiegung plötzlich die Notbremse zog, indem es alle vier Beine von sich streckte. Es bewegte sich weder vorwärts noch rückwärts. Psychotherapeuten schildern solches Verhalten bei Ehemännern, die von Ihren Ehefrauen in die Paartherapie „getrieben“ werden. Der Maultierführer ging zunächst auf das Maultier zu, streichelte es über den Kopf und murmelte mehrfach in sein Ohr: „Kumm, Weibi, kumm!“ (auf hochdeutsch: „Komm, Weibchen, komm!“). Als er dies einige Minuten versucht hatte, die Maultierdame aber keinerlei Anstalten machte, ihren Weg fortzusetzen, wurde er plötzlich fuchsteufelswild, lief um das Maultier herum, prügelte es mit hochrotem Kopf auf das Hinterteil und schrie dabei: „Geh weida, Hur’, dreckade!“ (auf hochdeutsch: „Beweg dich endlich, dreckige Hure“). Diese kleine Episode zeigt, welche zwei Verhaltensweisen im Regelfall benutzt werden, um sture Kommunikationspartner (sei es Mensch oder Maultier) zu veranlassen, sich zu bewegen: Entweder versucht man es mit gutem Zureden oder mit Schlagen; Zug oder Druck heißen die Alternativen. Was passiert aber, wenn das Maultier (oder der Verhandlungspartner) die andere Person nicht mag? Wenn er – im übertragenen Sinne – nur deswegen die Notbremse zieht, weil er den anderen nicht riechen kann? In diesen Fällen genügt es sicherlich nicht, nur die Handlungsvarianten Zug oder Druck zur Verfügung zu haben. So war es auch in der Geschichte mit dem Maultier: Denn trotz allen Schreiens und Prügelns bewegte sich das Maultier keinen Schritt! 283

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Wie gehe ich mit einem sturen Verhandlungspartner um?

-----------~--------~ schrecklichste Taten

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Plötzlich kam ein Kamerad des verzweifelten Soldaten, der die Szene beobachtet hatte und nahm ihm mit den Worten: „Laß mi amoi“ („Lass mich einmal probieren“) die Zügel aus der Hand, schaute dem Tier einige Sekunden tief in die Augen und zog dann sanft an dem Zügel. Das Wunder geschah: Das Tier bewegte sich! 6 Daraus kann man recht einfach Folgendes lernen: Wenn der Verhandlungspartner weder auf mein gutes Zureden noch auf Drohungen reagiert, kann die Lösung darin liegen, einem anderen Verhandler Platz zu machen. Eins ist jedenfalls sicher: Ziemlich erfolglos ist man bei einem störrischen Verhandlungspartner mit der häufig gesehenen Methode: „Mehr von dem Gleichen“: Ich habe der anderen Seite nun schon sechsmal die Vorteile geschildert, die sie hat, wenn sie mein Produkt kauft. Sie zeigt aber keinerlei Anzeichen zu kaufen, geschweige denn, auch nur zu begreifen, was ihre Vorteile sind. Auf all meine Argumente entgegnet sie mit „Ja, aber …“ Völlig verzweifelt beginne ich, meine ganze Litanei noch einmal von vorn herunterzubeten . . . Haben Sie je erlebt, dass die andere Seite sich bewegt, wenn Sie das gleiche unwirksame Verhalten wiederholen? Also: Streichen Sie die Verhandlungstaktik „Mehr von dem Gleichen“ aus Ihrem Repertoire, wenn die andere Seite störrisch ist! Dadurch erreichen Sie allenfalls, dass die andere Seite noch störrischer wird. Das Resultat, das Sie in einer Verhandlung erreichen, ist die Folge all dessen, was Sie während der Verhandlung getan haben. Das ist doch ganz logisch, werden Sie vielleicht sagen. Stimmt. Was bedeutet das für unser Verhalten in der Verhandlung? Das ist eigentlich auch logisch: Wenn wir ein anderes Resultat wünschen, als sich bisher abzeichnet, müssen wir etwas anderes tun als wir bisher getan haben.7 Wenn das alles so einfach ist: Warum versuchen Menschen immer wieder, verfahrene Verhaltenssituationen nach dem Prinzip „Mehr von dem Gleichen“ zu lösen? Möglicherweise, weil sie die Theorie der logischen Ebenen 8 und den Satz Albert Einsteins: „Probleme kann man niemals auf derselben Ebene lösen, auf der sie entstanden sind“ 9 – noch – nicht kennen.

6 Wir verdanken Dr. Eleonore Höffner, die die von Frank Farrelly entwickelte provokative Therapie anwendet und lehrt, den Hinweis, dass es noch eine vierte Möglichkeit gäbe, mit störrischen Eseln umzugehen: nämlich sie am Schwanz zu ziehen. Das würde meist bewirken, zumindest im Rahmen der provokativen Therapie, dass der Esel sich nach vorne bewegt. 7 Der englische Satz: „ If you do what you have always done you will get what you have always got“ sagt das Gleiche, nur wohl etwas eleganter. 8 Siehe oben Teil 6, 5., S. 236 ff. 9 Dieser Satz wird immer wieder anders zitiert. Sollte er nicht von Einstein sein, so ist er so treffend, dass er von Einstein sein könnte.

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Ist ja alles schön und gut, werden Sie vielleicht sagen. Wenn ich schon nicht „Mehr von dem Gleichen“ anwenden soll, dann würde ich gerne wissen, wie ich herausfinde, was das „andere“ sein soll. Die Frage ist verständlich. Lassen Sie uns daher versuchen, Ihnen nachstehend eine Antwort zu geben. Ein Antwort, die aus lauter Fragen (zur Lokalisation des Problems) besteht. Innerhalb des Verhandlungskontextes bedeutet, dass das störrische Verhalten entweder an mir als Verhandlungspartner liegt oder aber mit dem bisherigen Ablauf der Verhandlung zu tun hat. In diesen Fällen ist das Verhalten der Gegenseite eine Reaktion auf das, was bisher vorgefallen ist. Um die Verhandlung wieder in Gang zu bringen, ist es sinnvoll, an meinem Verhalten oder dem Gang der Verhandlung etwas zu ändern. 4.1 Kann Ihr Verhandlungspartner keine oder zu wenige Optionen entdecken, die seine Bedürfnisse angemessen erfüllen? Stellen Sie sich einmal vor, Sie offerieren einem wichtigen Mitarbeiter eine Gehaltserhöhung, die ihn davon abhalten soll, das Lockangebot eines Konkurrenzunternehmens anzunehmen. Der Mitarbeiter zeigt keinerlei Zustimmung oder Freude. Dies könnte daran liegen, dass Sie mit Ihrem Angebot erheblich unter dem Konkurrenzangebot geblieben sind. Aber vielleicht nicht nur. Vielleicht gibt es aber außer „mehr Geld“ noch andere Optionen, die Ihr Gegenüber veranlassen könnten, sich zu bewegen. Könnten Sie Ihrem Mitarbeiter vielleicht anbieten, für zwei Jahre in die Auslandsfiliale nach New York zu gehen (Sie haben erfahren, dass er an der Columbia University die schönste Zeit seines Lebens verbrachte)? Hätten Sie für Ihren Mitarbeiter (er ist überzeugter Fan von Bayern München) vielleicht eine VIP-Karte, mit der er bei jedem Heimspiel auf der Ehrentribüne sitzen und bei dem anschließenden Buffet die Tuchfühlung mit der Sportprominenz genießen kann? Können Sie Ihrem Mitarbeiter vielleicht die Möglichkeit geben, einen Tag weniger zu arbeiten, damit er seine Dissertation endlich fertigschreiben kann? Haben Sie überhaupt schon einmal darüber nachgedacht, dass es sehr oft auch noch andere Optionen als Geld gibt? Oft beruht die Inflexibilität der anderen Seite auf unserer eigenen Inflexibilität oder anders formuliert: Widerstand der Gegenseite ist oft ein Zeichen für meine eigene Inflexibilität! 4.2 Hat die störrische Verhaltensweise der anderen Seite mit unserer Beziehung zu tun? Wenn Sie diese Frage bejahen, geht es um Beziehungsstörungen. Wie kann man aber Beziehungsstörungen, die in der Verhandlung auftreten, am besten heilen? Nun, das kommt ein wenig auf den Grad der Beziehungsstörung an. Ist die andere Seite nur ein wenig verschnupft oder sind Sie in einer richtigen Beziehungskrise? Je nachdem können wir Ihnen folgende Werk286

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zeuge anbieten, die Ihnen, wenn Sie unser Buch aufmerksam gelesen haben, alle schon bekannt sind. • Rapport (Vertrauen/Beziehung) neu aufbauen: Wenn Sie merken, dass die Verhandlung nicht mehr fließt, ist es meist ein Zeichen für verlorengegangenen Rapport. Beginnen Sie also von neuem, Rapport aufzubauen.10 – Synchronisieren Sie sich wieder mit ihrem Partner! Gehen Sie in die 2. Position, verwenden Sie die gleichen Wörter wie er etc. – Üben Sie aktives Zuhören und fassen Sie zusammen, was die Gegenpartei gesagt hat. Machen Sie Backtracking! – Überprüfen Sie, ob Sie wirklich ausreichend versucht haben, die Landkarte Ihrer Gegenpartei zu erforschen. Könnte es sein, dass Sie bis jetzt nichts anderes getan haben, als Ihre eigene Landkarte der Gegenpartei um die Ohren zu hauen? Unter Juristen nennt man das feinsinnig „jemanden mit schlagenden Argumenten vom eigenen Standpunkt überzeugen“! – Überprüfen Sie auch, aus welcher Position Sie bis jetzt verhandelt haben. Haben Sie wirklich zwischen allen Positionen, das heißt zwischen erster, zweiter, dritter und vierter Position ständig gewechselt? Oder haben Sie alles ausschließlich aus der ersten Position gesehen? Unter Juristen heißt das Verhandeln aus der ersten Position auch „Beweis führen“! • Wenn Sie das alles getan haben und Ihr Gegenüber noch genauso störrisch ist wie am Anfang, dann liegt möglicherweise eine größere Störung vor und dann könnte eventuell eine der nachfolgenden Möglichkeiten helfen: – Unterbrechen/Vertagen Oft tut es einer Verhandlung gut, wenn man eine Pause macht, damit sich die Emotion legen kann und wir unsere Gedanken wieder ordnen können. – Betrachten der Verhandlung aus der vierten Position Ein sehr wirkungsvolles Mittel in Fällen festgefahrener Verhandlungen ist es, wenn man auf einem Flipchart die Unterschiede zwischen (kompetitivem) Streiten und (kooperativem) Verhandeln aufschreibt. In solchen Fällen bitten wir die Streithähne, für einige Sekunden innezuhalten, und stellen auf einem Flipchart dar, nach welchen Wahrnehmungskategorien Streiten und Verhandeln funktionieren.

10 Siehe oben Teil 4, 2., S. 129 ff., Teil 6, 6., S. 238 ff.

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Dazu mache ich folgende Aufstellung: Streiten:

Verhandeln:

Denken in Ansprüchen

Denken in Optionen

rechthaberisch fremdbestimmt (der Richter entscheidet)

einsichtig selbstbestimmt (wir entscheiden selbst)

Gewinner/Verlierer-Spiel

Gewinner-/Gewinner-Spiel

vergangenheitsorientiert kleinkrämerisch

zukunftsorientiert großzügig

fehlerorientiert

lösungsorientiert

Wenn Sie sich nicht trauen, dieses Mittel bei Verhandlungen mit Mandanten einzusetzen, was ich durchaus nachempfinden kann, dann machen Sie doch einmal einen Probelauf in einer Sozietätsbesprechung, bei einem familiären Konflikt oder bei einem Gespräch mit einem Mitarbeiter. Wenn Sie diese Unterschiede am Flipchart praktisch vor Augen geführt haben, fragen Sie die Parteien, zu welcher Seite hin sich die Verhandlung gegenwärtig bewegt. Zeigen dann die Parteien auf die linke Spalte, dann fragen Sie weiter, wohin sich die Verhandlung bewegen soll und welche Schritte notwendig sind, um dorthin zu kommen. Was genau könnte jeder der Beteiligten tun, um dahin zu kommen? Welches bisherige Verhalten könnte er durch welches zukünftige Verhalten ersetzen? Durch den Einsatz einer derartigen „Notbremse“ werden die Parteien im Regelfall veranlasst, über ihr Verhalten nachzudenken. Sie dissoziieren und gehen in die vierte Position (also die Position des Betrachters, der das ganze System von außen betrachtet). Normalerweise bewegt sich die Verhandlung nach dieser Intervention recht rasch wieder in kooperativen und gesitteten Bahnen! – Einsatz eines Dritten als Vermittler Hier beginnt das Problem meist schon bei der Frage: Wen können wir als Vermittler einsetzen? Entscheidend ist hier nämlich nicht nur das fachliche Wissen, sondern (vor allem) das Wissen um den Verlauf einer Vermittlung und der Umgang mit den Beziehungsfragen, die zwangsläufig dabei auftauchen. 11 Führt auch der Einsatz eines Dritten (Moderator, Schlichter, Vermittler) nicht zu einem für beide Seiten akzeptablen Ergebnis, dann bleibt außer dem Weg zum Gericht wohl nur noch eins: 11 Sollten Sie in Verhandlungen den Einsatz eines qualifizierten Vermittlers brauchen, können Sie sich für die Vermittlung und Durchführung des Verfahrens an das EUCON Europäisches Institut für ConflictManagement e.V. in München wenden (www.eucon-institut.de).

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– Austausch der Verhandler Wenn wir merken, dass die Verhandlungen deswegen stocken, weil die Verhandler einfach nicht „miteinander können“, dann sollten wir uns fragen, ob sich nicht durch den Austausch der Verhandlungspartner (oder eines Verhandlungspartners) einfache Abhilfe schaffen lässt. In einem meiner Verhandlungsseminare („Kooperatives Verhandeln mit Dr. Austin Cooper“) berichtete ein Teilnehmer, dass er seit Monaten mit einem seiner Hauptkunden über die zukünftigen Leistungskonditionen verhandle und er bisher keinen Schritt vorangekommen sei. Der Kunde verhalte sich absolut positionell und sei nicht bereit, ihm in irgendeiner Art und Weise entgegenzukommen. Daraufhin organisierten wir ein Rollenspiel, in dem der Teilnehmer seinen Kunden mit großem Gefallen spielen durfte. Er spielte ihn so stocksteif und rauhbeinig, wie es nur ging, und hatte dabei viel Spaß. Es ergab sich zwangsläufig, dass dieses Rollenspiel zum gleichen negativen Ergebnis führte wie seine Verhandlungen „in natura“: die Verhandlung blieb stecken. Nachdem wir das Rollenspiel beendet hatten, gab ich dem Teilnehmer beiläufig folgenden Rat mit auf den Weg: „Denken Sie doch einmal darüber nach, ob Sie der richtige Verhandlungspartner für diesen Kunden sind!“ Einige Wochen später erreichte mich sein Brief, in dem er mir mitteilte, dass die Verhandlungen innerhalb weniger Stunden erfolgreich abgeschlossen worden seien, nachdem er zu dieser Verhandlung seinen Stellvertreter geschickt hatte. Wenn wir merken, dass die Chemie zwischen unserem Verhandlungspartner und uns nicht stimmt, ist dies kein Werturteil über uns selbst. Denn das heißt nicht, dass wir schlechte Verhandler sind, sondern einfach, dass es Menschen gibt, die besser miteinander können als andere. Und manche können sich einfach nicht „riechen“12. 4.3 Spielt die andere Seite „hard ball“? 13 Manchmal liegt der Grund für das unbewegliche Verhalten der anderen Seite außerhalb des Verhandlungskontextes. Dann handelt es sich um eine Aktion des Verhandlungspartners, das heißt, dass er aktiv von seiner Seite für den gegenwärtigen unbefriedigenden Stand der Verhandlung verantwortlich ist. Solche Gründe können durchaus im Wesen des anderen Verhandlers liegen. Vielleicht ist er der Meinung, man müsse nur recht hart sein, dann komme man im Leben weiter. Vielleicht hat er mit dieser Einstellung in seinem bisherigen Leben (nach seiner Meinung) auch Erfolg gehabt – wenn auch 12 Unbewusst wahrgenommene Duftstoffe (Pheromone) können unser Verhalten stark beeinflussen und haben Einfluss auf Sympathie und Antipathie und soziale Kontakte. 13 Dies ist der Fachausdruck für ein besonders druckvolles und kompetitives Verhalten eines Verhandlungspartners.

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der verbitterte Ausdruck in seinem Gesicht dies nicht unbedingt bestätigen mag. Vielleicht blufft er auch nur, um herauszufinden, wie weit Sie wirklich gehen wollen. Was kann man in diesen Fällen tun? Erinnern wir uns doch an unser Ausgangsbeispiel mit dem Maultier! Wenn Streicheln nichts nützt, dann denken Sie an das, was der Maultierführer getan hat: Er hat das Tier verwünscht und es dabei fest auf das Hinterteil geschlagen. Übersetzt in den Verhandlungsbereich heißt das: Wenn die andere Seite stur ist und stur bleibt, müssen Sie der Gegenseite auch Druck machen können. Wenn andere Verhandlungspartner davon ausgehen, sie könnten nur erfolgreich sein, wenn sie Sieger und die andere Seite Verlierer sind, dann ist es wirklich Zeit, die Pistole auf den Tisch zu legen. Zeigen Sie unmissverständlich, dass Sie so nicht weitermachen wollen: • Bringen Sie also in diesem Fall Ihre beste Alternative ins Spiel. Sagen Sie einfach der anderen Seite, was Sie machen werden, wenn es hier nicht weitergeht. • Sind Sie auf der Gläubigerseite, hilft es vielleicht, wenn Sie ernsthaft Klage oder die Information wichtiger Geschäftspartner des Schuldners androhen oder etwas anderes, was der anderen Seite weh tut. • Sind Sie dagegen Schuldner, könnten Sie vielleicht erklären, dass es sicherlich gar nicht so leicht sein werde, Ihnen eventuelle Gerichtsurteile zuzustellen und Sie sich ernsthaft überlegt hätten, ihren Wohnsitz nach Moskau 14 zu verlegen. Die Vorstellung, einen im Inland erstrittenen Titel in Moskau zuzustellen oder gar die Forderung in Russland einklagen zu müssen, kann manchen sturen Gläubiger durchaus geschmeidig machen. • Bleibt die Gegenseite weiter unbeweglich (nachdem Sie ausgeschlossen haben, dass die Unbeweglichkeit an der bisherigen Verhandlung, an Ihnen oder anderen beteiligten Personen liegt) und hat auch Ihre beste Alternative die Gegenseite nicht dazu veranlasst, sich zu bewegen, dann drohen Sie mit dem Abbruch der Verhandlung, und wenn auch das nichts nützt: Brechen Sie die Verhandlung ab. So sparen Sie sich Zeit und Frustrationen. Mit manchen Menschen und in manchen Situationen kann man eben einfach nicht verhandeln!15

5. Wie kann ich die Interessen der anderen Seite herausfinden? Verhandlungen führt man im Regelfall, wenn man die andere Seite braucht, um sein Ziel zu erreichen. Dieses Ziel erreiche ich, wenn es mir gelingt, 14 Alternativen wären Johannesburg, Timbuktu, Quingdao oder Ulan Bator. 15 Eine wunderbare Sammlung kreativer Möglichkeiten zur Überwindung festgefahrener Situationen bietet das Buch von Ivo Greiter „Kreativität bei Verhandlungen und im Alltag“. Wer sich besonders für die List in Verhandlungen interessiert, dem empfehle ich das große Standardwerk zu den 36 chinesischen Strategemen der List „Strategeme, Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden“ von Harro von Senger. Viel Spaß bei der Lektüre!

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meine eigenen Interessen durch eine konkrete Lösung zu verwirklichen. Hinter allen Positionen, die wir in Verhandlungen vertreten, stehen Interessen. Wenn wir uns nicht auf die Interessen konzentrieren, sondern auf die Positionen, führt das zur Eskalation, wenn es uns dagegen gelingt, unsere gegenseitigen Interessen darzulegen und wahrzunehmen, dann ist das die Suche nach Lösungen, in denen sich die Interessen aller Verhandlungspartner wiederfinden können. Wenn beispielsweise ein großer internationaler Ölkonzern sagt: „Wir werden die Bohrinsel Brent Spar versenken!“, dann ist das eine Position. Das dahinter liegende Interesse könnte sein: Wir brauchen eine kostengünstige Beseitigungsmöglichkeit für unsere Bohrinsel, die ausgedient hat. Abstrakt könnte man dieses Interesse vielleicht mit Kostengünstigkeit oder Anerkennung umschreiben: Ein Manager erhofft sich einen Karrieresprung, wenn er die Plattform so elegant wie möglich entsorgt. Diejenigen, die das Versenken der Bohrinsel als Verstoß gegen die Gebote des Naturschutzes empfinden, sagen: „Die Bohrinsel wird nicht versenkt!“ Auch das ist eine Position. Das Interesse, das dahinterliegt, könnte etwa so formuliert werden: „Wir möchten gerne die Natur möglichst unversehrt erhalten!“, abstrakt vielleicht Schonung der Natur oder Sicherheit: Wir wollen nicht, dass Pflanzen, Tiere und eventuell sogar Menschen durch die auslaufenden Gifte der versenkten Plattform gefährdet werden. Die Position antwortet immer auf die Frage „Was soll wann wo geschehen?“ oder „Welches Verhalten soll in welcher Umgebung gezeigt werden?“ (Bohrinsel am nächsten Montag in der Nordsee versenken/Bohrinsel nicht am nächsten Montag in der Nordsee versenken) und ist auf den logischen Ebenen 16 auf der Stufe Umwelt/Verhalten angesiedelt. Das Interesse liegt auf der Stufe der Glaubenssätze und Werte und antwortet auf die Frage: „Warum soll genau das dann dort geschehen/nicht geschehen?“ („Weil es die kostengünstigste Entsorgung ist!“ – „Weil dies die Natur verschmutzt!“) Wie würde aber eine solche Konfrontation verlaufen, wenn sich beide Seiten folgende Frage stellen würden: Welche Möglichkeiten gibt es, ausgediente Bohrinseln möglichst kostengünstig und unter größtmöglicher Schonung der Natur zu beseitigen? Bei dieser Fragestellung sind wir zwangsläufig bei den Interessen angelangt. Finden Sie nicht auch, dass das einen erheblichen Unterschied macht? Es ist aber gute Verhandlungstradition „harter“ Verhandler, möglichst nicht über die eigenen Interessen zu sprechen, sondern „Mr. Pokerface“ zu spielen. Pokerfaces sagen nicht, was sie wollen, und betreiben doch mit aller Macht die Verwirklichung ihrer eigenen Bedürfnisse. Wenn ich aber mein Ziel nicht nenne, dennoch aber mit aller Macht versuche, dorthin zu kommen, dann bleibt mir im Regelfall nichts anderes übrig, als die andere Seite in Richtung meines Ziels zu drängen. Wenn man aber Menschen veranlasst, gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen etwas zu tun, 16 Teil 6, 5., S. 236 ff.

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dann ist das nichts anderes als äußerer Druck oder Manipulation17. Solches Verhalten führt aber dazu, dass die andere Seite recht schnell ein schlechtes Gefühl bekommt und mit Gegenmaßnahmen antwortet, denn Druck erzeugt primär Gegendruck und schon haben wir uns von einer einvernehmlichen Lösung wieder einige Meter entfernt. Daher ist es im Regelfall besser, wenn wir offen über unsere Interessen sprechen. Natürlich weiß ich auch, dass es bestimmte Verhandlungssituationen gibt, in denen es nicht angebracht ist, eigene Interessen in vollem Umfang offen darzulegen. Aber diese Fälle sind viel seltener als man glaubt. Um offen über die eigenen Interessen zu sprechen, braucht es Mut; wir müssen nämlich die Angst überwinden, dass die andere Seite unsere Offenheit ausnutzen könnte. Möglicherweise haben wir auch Angst davor, dass der andere sich so verhalten könnte, wie wir es in seiner Situation täten. Verschlossene Menschen sind im Regelfall ängstliche Menschen und bringen sich um die Chancen der Offenheit; denn die positiven Ergebnisse, die sich aus der Offenheit entwickeln, wiegen auf der Waage der Statistik viel schwerer als die Ausbeutungsversuche und kurzfristigen Erfolge trickreicher verschlossener Verhandler. Leider werden unsere Verhandlungen meist nicht von den Regeln des offenen Verhandelns, sondern von den Regeln des „Schildkröten-Verhandelns“ bestimmt. Schildkröten ziehen bei Gefahr alle Körperteile in ihren Panzer zurück und strecken nur gelegentlich den Kopf heraus, um „die Lage zu peilen“. Im Wesentlichen konzentrieren sie sich aber darauf, in ihrem Panzer Schutz zu suchen. Bei einem solchen Verhandlungsstil können meistens weder konstruktive noch synergetische Lösungen entstehen. Wie kann ich aber nun die Interessen herausfinden und zum Verhandlungsgegenstand machen? 5.1 Beginnen Sie mit Ihren eigenen Interessen Zuerst muss ich herausfinden, was meine eignen Interessen sind, und das kann schwieriger sein, als man denkt, da es die Fähigkeit der Selbstreflexion voraussetzt. Eine gute Möglichkeit, auf die eigenen Interessen zu kommen, ist, sich selbst folgende Frage zu stellen: „Was erhoffe ich, zu erreichen?“ „Was befürchte ich zu verlieren? Oder genauer: Verliere ich bei einem bestimmten Ergebnis meine Bewegungsfreiheit, meine Geborgenheit, mein Image, meinen Zugriff auf etwas, das mir wichtig ist, mein Wohlfühlen, die Spannung im Leben, mein Gesicht, meine Aufgabe oder meine Neugier?“ Für viele ist die Beantwortung dieser Fragen einfach, für andere eher schwierig. 17 Siehe dazu unten 9., S. 312 ff.

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Wichtige Interessen sind im Regelfall abstrakt. Meistens liegen sie in der Verwirklichung eines der folgenden Grundbedürfnisse: Freiheit Sicherheit Anerkennung Macht Harmonie Intensität Integrität Fürsorge Neugier Prüfen Sie sorgfältig, ob Sie Ihr wirkliches Interesse schon entdeckt und benannt haben oder ob Sie irgendwo auf dem Wege von der Position zum Interesse steckengeblieben sind, weil das von Ihnen benannte Interesse noch zu wenig abstrakt ist. 5.2 Finden Sie die Interessen der Gegenpartei selbst heraus Nachdem Sie sich Ihrer eigenen Interessen bewusst geworden sind, stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Ihr Verhandlungspartner. Gehen Sie in die 2. Position 18. Steigen Sie in die Schuhe des Verhandlungspartners, und sehen Sie die Welt mit seinen Augen. Fragen Sie sich dann (in der Person Ihres Verhandlungspartners), was „Ihre“ Interessen sind. Suche ich Anerkennung? Will ich mehr Freiheit oder Sicherheit? Ich kenne einen sehr erfolgreichen internationalen Verhandler, der sich vor jeder Verhandlung in sein Studierzimmer zurückzieht, am Boden seine Verhandlungspartner mit Kärtchen auslegt und sich dann vorstellt, er wäre diese. „Was ist mein Interesse als Alfred Faller? Was ist mein Motiv als Gerry Groß?“ Oft gehen einem schlagartig die Augen auf, wenn es gelingt, sich voll und ganz in sein Gegenüber hineinzuversetzen! „Ja, dass ich das nicht schon früher bemerkt habe! Ihm geht es um Freiheit! Er will im Rahmen des Vertrages frei handeln und entscheiden können. Wenn ich ihn da beschneide, rastet er aus.“ Die Fähigkeit, sich in sein Gegenüber zu versetzen, in die 2. Position zu gehen, ist eine Fähigkeit, die alle guten Verhandler haben. Alle schlechten Verhandler haben sie nicht! 5.3 Fragen Sie nach den Interessen der anderen Seite In der Verhandlung selbst ist es dann sinnvoll, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen und Ihre Interessen offenbaren: 18 Siehe oben Teil 6, 6., S. 238 ff.

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Fragen schaffen Klarheit

Aus: The Pieasantries of the lncredible Mulla Nasrudin von ldries Shah, E. P. Dutton, 1971, S. 87

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„Es ist mir sehr wichtig, dass wir eine Lösung finden, die sich günstig auf das Image (‚Anerkennung‘) meiner Mandantin auswirkt!“ … „Wichtig ist mir, dass meine Mandantin ihre Bewegungsfreiheit erhöht!“ … „Meine Mandantin legt sehr viel Wert darauf, dass wir eine beständige, detailgenaue, nachhaltige Lösung finden, die sie auf lange Zeit absichert.“ Wenn Sie Ihren Schildkrötenpanzer durch die Bekanntgabe Ihrer Interessen geöffnet haben, wird sich der gutwillige Verhandlungspartner im Regelfall veranlasst sehen, auch seinen Panzer zu öffnen, um über seine Interessen zu sprechen. Fragen, die zu den Interessen der anderen Seite führen, sind etwa: – „Was erhoffen Sie sich, abstrakt gesehen, durch die Verwirklichung Ihrer Position zu erreichen?“ – „Was würden Sie verlieren, wenn Sie Ihre Position nicht durchsetzten könnten?“ – „Zu welchem Zwecke brauchen Sie die von Ihnen geforderten Gegenstände?“ – „Was wollen Sie mit Ihrer Vorgehensweise genau erreichen?“ – „Was sind Ihre Ziele?“ – „Welche Interessen verfolgen Sie damit genau?“ Zugegebenermaßen werden manche Verhandlungspartner sich gleich erschreckt wieder in ihren Schildkrötenpanzer zurückziehen, wenn sie Antworten auf solche Fragen geben sollen, weil sie diese Einladung zur Offenheit vermutlich nur schwer ertragen. Bevor Sie allerdings diese Schuldzuweisung machen, überlegen Sie sich, ob Sie sich nicht vorab mit ihm zu wenig synchronisiert 19 haben? Wenn ja, synchronisieren Sie sich nach und helfen Sie dann Ihrem Partner, auch offen zu sein, indem Sie ihm etwa erläutern, warum es für Sie wichtig ist, seine Interessen zu kennen. Sagen Sie beispielsweise: „Für mich ist es wichtig zu wissen, welche Ziele Sie haben, weil ich dann mit Ihnen nach Lösungen suchen kann, wie wir Ihre und unsere Ziele verwirklichen können. Sonst kann ich nur Lösungen suchen, die für unsere Seite passen, und damit sind Sie sicherlich nicht einverstanden.“ Hier einige Beispielantworten. Sie fragen: „Was würde geschehen, wenn Sie Ihre Position nicht verwirklichen könnten?“ Ihr Verhandlungspartner könnte wie folgt antworten: „Dann könnte ich meine Ferien nicht dort verbingen, wo ich möchte!“ (Freiheit) „Dann könnte ich den Löffel abgeben!“ (Sicherheit) 19 Siehe oben Teil 4, 2., S. 129 ff.; Teil 6, 6., S. 237 ff.

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„Dann würde man sich über mich lustig machen!“ (Anerkennung) „Dann würde der Ablauf außer Kontrolle geraten!“ (Macht) „Dann würde das Chaos losbrechen!“ (Harmonie) „Dann wäre mir langweilig!“ (Intensität) „Dann könnte ich mich im Spiegel nicht mehr angucken!“ (Integrität) „Dann müsste mein Sohn das Internat verlassen!“ (Fürsorge) „Dann käme ich nie dahinter, was er damit wirklich gemeint hat!“ (Neugier) Folgender Fall mag erläutern, wie sehr uns die Frage nach den Interessen der anderen Seite weiterhelfen kann, Lösungen zu finden: Nehmen Sie einmal an, Ihr Mitarbeiter Max Mayer betritt Ihr Büro und verlangt eine Gehaltserhöhung. Da Sie wissen, dass eine solche Gehaltserhöhung im Regelfall auch Gehaltserhöhungen bei anderen Mitarbeitern provoziert, sind Sie dieser Forderung gegenüber zunächst sehr reserviert. Außerdem ist die wirtschaftliche Lage Ihrer Kanzlei so, dass Sie gegenwärtig eigentlich keine Gehaltserhöhungen zubilligen können. Das Einfachste wäre es daher, wenn Sie auf die vorgetragene Forderung Ihres Mitarbeiters: „Ich will mehr Geld“ antworteten: „Nein, es gibt nicht mehr Geld.“ Punkt. Dann hätten Sie Position gegen Position gesetzt, und die Eskalation wäre absehbar. Entweder kuscht Ihr Mitarbeiter, weil er keine Aussicht auf einen anderen Arbeitsplatz hat, bewahrt sich aber seine Wut im Bauch für die nächste Gelegenheit auf (spätestens dann, wenn Sie von ihm Überstunden wünschen, wird er sicher keine Zeit haben), oder er wird kündigen, wenn ihm ein anderes Angebot vorliegt oder er einen anderen Arbeitsplatz findet. Wenn Sie aber Ihren Mitarbeiter fragen: „Warum brauchen Sie mehr Geld?“, dann könnte er Ihnen möglicherweise antworten: „Wie Sie wissen, arbeite ich seit längerer Zeit an meiner Dissertation. Der Doktortitel ist mir sehr wichtig! Ich möchte meine Arbeit nun endlich abschließen. Dazu habe ich mich nun entschlossen, doch einen Computer zu kaufen, mit dem ich besseren und schnelleren Zugang zum Internet habe. Außerdem müsste ich noch mit zwei Professoren sprechen, die an der Beantwortung derselben rechtshistorischen Frage arbeiten. Die forschen aber nicht in Tübingen oder Marburg, sondern in Kapstadt und in Buenos Aires. Für diese Reisen brauche ich natürlich Geld. Mehr Geld, als ich im Moment verdiene.“ Welch andere Ausgangssituation! Jetzt sind Sie zur Kreativität aufgerufen. Wenn Sie keine Gehaltserhöhung geben können, könnten Sie nach anderen Lösungen suchen, mit welchen er seinen Wunsch nach raschem Abschluss seiner Dissertation (Wert vermutlich Anerkennung!) verwirklichen kann: – Sie können beispielsweise ohne Gehaltserhöhung Überstunden anbieten, um den Kauf des Computers und die Flüge zu bezahlen.

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– Vielleicht haben Sie einen Kunden in Kapstadt oder Buenos Aires, der sich schon seit einiger Zeit den Besuch eines Mitarbeiters Ihrer Kanzlei wünscht, um mit ihm die Gründung eines Trusts in Liechtenstein zu diskutieren? – Haben Sie nicht noch einen PC in Ihrer Kanzlei, den Sie sowieso durch ein neues Modell ersetzen wollten, der aber zum Abfassen einer Dissertation noch genügend Kapazität und Rechengeschwindigkeit hat? – Sind Sie nicht Mitglied bei den Rotariern und könnten Ihrem Mitarbeiter aus einem speziellen Fonds ein Stipendium organisieren? Sie sehen, wie anders Verhandlungen verlaufen, wenn Sie die Interessen der anderen Seite kennen und zudem selbst flexibel im Hören und Handeln sind! 5.4 Wenn die direkte Frage nach den Interessen der anderen Seite nicht erfolgreich oder angebracht ist: Hinterfragen Sie die Interessen der anderen Seite! Antwortet die andere Seite auf die Frage nach dem „Warum“ nur ausweichend und gibt sie ihre Interessen nicht bekannt oder halten Sie von vornherein die Frage nicht für sinnvoll, dann gibt es auch noch die Möglichkeit, eine indirekte Methode einzusetzen, die ich ZKA nenne: „Zerbrich Dir den Kopf des anderen.“ Ich habe die Methode in einem Seminar mit Michael Grinder kennengelernt. Spekulieren Sie einfach laut über die möglichen Interessen der anderen Seite und zählen Sie die Ihnen möglich scheinenden Interessen auf! Wichtig ist dabei, dass Sie die Reaktion der anderen Seite genau beobachten. Denn immer dann, wenn Sie ins Schwarze treffen, werden Sie beobachten können, dass sich die Miene Ihres Verhandlungspartners positiv verändert: Er wird die Augen weiten oder ein wenig lächeln oder eine ähnliche reflexartige Miene der Zustimmung zeigen. Wichtig ist im Regelfall, dass man das wahrscheinlichste Interesse der anderen Seite nicht an erster Stelle nennt, sondern am besten an zweiter Stelle, dann hat der Partner Zeit, sich auf Ihre indirekte Fragetechnik einzustellen. Selbst wenn Sie bei Ihren Befragungen keine Mienenveränderung der anderen Seite feststellen können, bringt diese Art des Fragens ein Gespräch über die Interessen in Gang. Wenn sich also Ihr Mitarbeiter nicht zu seinem eigenen Interesse geäußert hätte, hätten Sie etwa so vorgehen können: „So, Herr Mayer, Sie wollen also eine Gehaltserhöhung. Sie wissen ja, dass Gehaltserhöhungen im Moment bei uns ein Problem sind. Ich möchte Ihnen aber auf jeden Fall helfen. Vielleicht fällt uns etwas dazu ein, wie wir Ihr Problem lösen können. Sie können natürlich verschiedene Gründe für die Gehaltserhöhung haben. Beispielsweise könnten Sie mehr Geld brauchen, 297

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– weil Sie ein neues Auto kaufen wollen (die Miene von Max Mayer bleibt versteinert), – oder weil Sie sich nun entschieden haben, sich doch einen Macintosh Power PC zu kaufen (die Miene von Herrn Mayer heitert sich kurz auf), – oder Sie planen eine größere Urlaubsreise, die sehr viel Geld kostet (Mitarbeiter Mayer hat zu seiner finsteren Miene zurückgefunden), – oder es steckt etwas ganz anderes dahinter (Herr Mayer bleibt unbewegt). Nun Herr Mayer, ich habe fast den Eindruck, dass Sie das Geld brauchen, um sich einen Mac zu kaufen. Stimmt das?“ Wenn jetzt Herr Mayer beginnt, Ihnen darzulegen, warum der Kauf des Computers für ihn so wichtig ist und dass er zudem nach Argentinien und Südafrika fliegen muss, dann sind Sie einer möglichen Lösung sehr nahegekommen!

6. Was mache ich, wenn der Verhandlungspartner unfaire Verhandlungsmethoden anwendet? Die nächsten vier Fragen werden oft gestellt: Was mache ich, wenn die Gegenpartei unfair verhandelt? Was mache ich, wenn ich auf unangenehme Verhandlungsbedingungen treffe? Was tue ich, wenn die Gegenpartei mich offen angreift? Was tue ich, wenn die Gegenpartei manipuliert? Diese Fragen setzen ein Denken in Dualitäten voraus, das weiß, was richtig und falsch ist. Dieses Denken ist typisch für die christlich dominierte westliche Gesellschaft, wo es Engel und Teufel oder die „Achse des Guten“ und die „Achse des Bösen“ gibt. Selbstverständlich gehören wir immer zu der „Achse des Guten“ und die anderen zu der „Achse des Bösen“. Kennzeichnend für dieses Denken ist auch, dass wir unsere Aktionen immer mit den höchsten moralischen Attributen versehen. Wir kämpfen für Frieden, Demokratie und andere edle Rechte. Ganz anders da das analoge chinesische Strategem-Denken, das uns, wie etwa von Senger zu berichten weiß, Scheinheiligkeit vorwirft und meint, wir würden Wasser predigen und Wein trinken. Hier einige Beispiele aus der Welt des pragmatischen, jahrtausende alten chinesischen Denkens in „Listen“, wie sie von Senger zusammengetragen hat: 1. Eine Delegation aus Baden-Württemberg kommt zu Verhandlungen nach China und wird als Erstes eingeladen mitzuerleben, wie Japaner ein großes Vertragswerk mit China ratifizieren. Die Deutschen fühlen sich dadurch unfair behandelt und manipuliert. „Das macht man nicht!“ rufen sie sich empört zu. Für die Chinesen ist es nichts anders als die Anwendung des Strategems Nr. 13 „Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen“. Ihre feste Überzeugung ist es, dass die Deut298

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schen, indem sie der Ratifizierung der Verträge beiwohnen durften, angespornt werden, es den Managern aus Japan gleichzutun. 20 2. Einige ausländische Manager landen übernächtigt in China und werden gleich zu einem großen Empfang eingeladen, der bis tief in die Nacht hinein geht. Gegen 4:00 Uhr sinken sie ermattet ins Bett und werden um 7:00 Uhr wieder geweckt, da die Verhandlungen um 9:00 Uhr beginnen. Tief erschöpft treffen sie auf die ausgeruhte und frische chinesische Verhandlungsdelegation, die selbstverständlich an dem Empfang nicht teilgenommen hat. Unfair? Nein, aus chinesischer Sicht nichts anderes als die Anwendung des Strategems List. Und die Westler sind ja selbst schuld, wenn sie dem Strategem kein eigenes entgegensetzen! 3. Jimmy Carter besuchte 1979 Deng Xiaoping. Deng wusste, dass Carter die Menschenrechte ein großes Anliegen waren und kam deshalb von sich aus darauf zu sprechen: „Herr Präsident, wie man mir mitgeteilt hat, sind Ihnen in Amerika die Menschenrechte sehr wichtig, stimmt das?“ Jimmy Carter antwortet ganz erfreut: „Selbstverständlich, Herr Präsident!“ – „Und unter Menschenrechten verstehen Sie Rechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit?“ – „Genau!“ – „Und Freizügigkeit!“ – „Richtig!“ – „Sehr schön, Herr Präsident, wann darf ich Ihnen die ersten zehn Millionen Chinesen nach New York schicken?“ Es wird berichtet, dass nach der Anwendung des Strategems List durch Deng die Diskussion um die Menschenrechte beendet war. Was will ich mit diesen Beispielen sagen? Ich will damit einfach darauf hinweisen, wie sehr die Diskussion der nächsten vier Fragen dem Kontext unseres abendländischen Denkens verhaftet ist, das behauptet genau zu wissen, was fair und nicht fair, manipulativ und nicht manipulativ ist. Wer sich mehr für die chinesische Denkweise in Strategemen interessiert, die nicht dual zwischen gut und böse, sondern einfach analog zwischen mehr oder weniger listigem Verhalten unterscheidet, dem seien die Werke von Harro von Senger mehr als empfohlen. Vielleicht helfen sie dem Leser auch, die chinesische Listenlehre schätzen zu lernen oder wenigstens etwas weniger „listenblind“ zu werden. Wenden wir uns nun also unserem christlich-abendländischen Denken zu: Haft 21 etwa unterscheidet zwischen unfairen Verhandlungsmethoden und unlauteren Methoden. Unter unfairen Methoden beim Verhandeln versteht er „jenes Verhalten, das geschriebene oder ungeschriebene Regeln verletzt, die von fairen Verhandlern beachtet werden“. Diese Regeln beziehen sich auf das „ordentliche“ Verhalten in Verhandlungen und entsprechen der Überzeugung „aller billig und gerecht Denkenden“. Durch unlautere Methoden sollen Menschen auf verschiedenste Weise dazu gebracht werden, Dinge zu tun oder zu lassen, die sie eigentlich nicht tun oder lassen möchten, und zwar durch äußeren Druck, durch Täuschung und durch Manipulation. 20 Aus von Senger, 36 Strategeme für Manager, S. 6 f. 21 Verhandlung und Mediation, S. 170 ff., 192 ff.

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Was mache ich, wenn der Verhandlungspartner unfaire Verhandlungsmethoden anwendet?

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© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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Ich fasse sowohl die von Haft als unfair wie die auch als unlauter bezeichneten Methoden zu dem Begriff der unfairen Verhandlungsmethoden zusammen. Unfaire Methoden sind somit Verhaltensweisen in Verhandlungen, durch die Regeln ordentlichen Umgangs zwischen Menschen verletzt oder Menschen veranlasst werden, etwas gegen ihren Willen zu tun. Unfaire Verhandlungsmethoden können offen (z.B. äußerer Druck, verbale Abwertung, ungünstige äußere Verhandlungsbedingungen) oder verdeckt (z.B. Täuschung und Manipulation) sein. Ich habe nachfolgend ein Schema entwickelt, das geeignete Reaktionen auf unfaire Verhandlungsmethoden bietet. Zuerst aber noch einige Bemerkungen zur Biochemie des Verhandlungsstresses: Der Umgang mit unfairen Verhandlungsmethoden hängt sehr stark mit unserer eigenen geistigen Stärke und Flexibilität zusammen. Wenn wir nämlich merken, dass wir an der Nase herumgeführt oder bedroht werden, stehen uns grundsätzlich zwei Reaktionsweisen zur Verfügung: Kampf oder Flucht, angreifen oder flüchten Es sind dies dieselben Reaktionen, die bereits unseren Urahnen in der Steppe Afrikas zur Verfügung gestanden haben, wenn ihnen auf einem ihrer Streifzüge plötzlich ein wildes Tier entgegenkam. In Sekundenschnelle mussten sie entscheiden, ob sie das Tier bekämpfen oder die Flucht ergreifen wollten. Diese Entscheidung wird eingeleitet durch das Ausschütten von Adrenalin durch die Nebennieren. Dieser Stoff sorgte damals wie heute dafür, dass unser Körper hundertprozentig für die Reaktionen Flucht oder Kampf gerüstet wird: Wir atmen schneller und flacher, damit unserem Körper mehr Sauerstoff zur Verfügung steht. Das Herz schlägt schneller und pumpt mehr Blut in die kampfgestählten Muskeln oder rennerprobten Beine. Schweiß wird abgesondert. So werden die Muskeln gekühlt. Das Denken wird eingeschränkt, damit sämtliche Energie in den Muskeln zur Verfügung steht. Die Blutzufuhr in den Beinen (falls ich flüchten will) oder den Händen (als Vorbereitung für den Kampf) wird erhöht. Was für unsere Vorfahren die optimale Überlebensstrategie war, ist nicht mehr unbedingt angemessen für einen Verhandler im Informationszeitalter. Wir stehen nicht mehr fauchenden Löwen oder knurrenden Hyänen gegenüber, sondern Verhandlern, die uns wohl nicht ans Leben, dafür aber ans Geld wollen. Die Natur hat diesen Unterschied aber noch nicht umprogrammiert, und so laufen in unserem Körper biochemisch noch genau dieselben Prozesse ab, wie vor Tausenden von Jahren. Da die Menschen heutzutage bei Verhandlungen im Regelfall selten in körperlicher Gefahr sind, ist die reflexartige Reaktion „Kampf oder Flucht“ für Verhandlungssituationen falsch und unzutreffend. Das heißt: Verhält sich ein Verhandlungspartner unfair und gerate ich dadurch in Stress, ist es meine wichtigste Verhaltensregel zu verhindern, dass mein „Reptilienge301

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Eine Stop-Technik

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© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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hirn“ 22 mich zu reflexartigen Handlungen veranlasst, mich also zur Reaktion „Angreifen oder Fliehen“ zwingt. Dies ist aber nicht einfach. Es bedarf dazu einiger Übung. Lassen Sie mich die Vorgehensweise kurz erklären. Der erste Schritt lautet: 1. Schritt: Stoppen Sie Ihren Stress! Dissoziieren Sie! Gewinnen Sie wieder den Überblick. Die einfachste und wirkungsvollste Methode, nicht der eigenen Panik zum Opfer zu fallen, ist tiefes Atmen, und zwar vor allem: Ausatmen! In Stresssituationen atmen Sie nämlich, wie bereits erläutert, flach. Das ist auch verständlich, denn wenn man kämpfen oder davonlaufen muss, dann müssen alle körperlichen Kräfte aktiviert werden. Und dazu braucht man kurzes, flaches Atmen. Atme ich dagegen tief, dann entspannt sich der Körper, und ich werde wieder ruhig. Wenn Sie ein Verhandlungspartner angreift: – Atmen Sie tief ein und vor allem tief aus, so, als wenn Sie seufzen wollten. Seufzen ist eine der besten körpereigenen Entspannungsarten. – Schweigen Sie dann einige Augenblicke. Sammeln Sie sich wieder. – Dissoziieren Sie nun bewusst. Gehen Sie in die 3. oder 4. Position. Versuchen Sie, die Gegenpartei und sich von einer Position außerhalb zu betrachten. „Gehen Sie auf den Balkon!“, wie Ury23 den Vorgang des Dissoziierens beschreibt. Sehen Sie sich von dort die Situation an, in der Sie sich befinden. – Ist der Angriff der Gegenseite so stark, dass es Ihnen nicht gelingt, in kurzer Zeit Ihre Gedanken zu ordnen und dadurch vom Fühl- in den Denkmodus zurückzukommen, dann nehmen Sie sich einfach ein Time-out. Sagen Sie Ihrem Verhandlungspartner, dass Sie jetzt erst einmal ein paar Minuten Pause wollen. Verlassen Sie das Zimmer, egal was der andere sagt. Wenn Sie draußen sind, atmen Sie tief durch und dissoziieren Sie. Stellen Sie sich vor, Sie wären auf dem Balkon und würden sich und die Gegenseite unten am Tisch sitzen sehen. Falls Sie das Zimmer nicht verlassen wollen, können Sie ja mit einer reflexartigen Bewegung Ihren Aktenordner vom Tisch schieben und dann beim Aufsammeln der „fliegenden Blätter“ Klarheit über die Situation gewinnen. Besonders wirkungsvoll und mutig dürfte eine Methode sein, die mir ein erfahrener Verhandler erzählte: Bei besonders schwierigen Situationen wirft er mit einer fahrigen Handbewegung sein Wasserglas auf dem Tisch um, was 22 von Vroon, Drei Hirne im Kopf, und Birkenbihl, Psychologisch richtig verhandeln, bezeichnen so treffend den Hirnstamm, der mit Mittelhirn, Brücke und verlängertem Mark der stammesgeschichtlich älteste Gehirnabschnitt ist. Er steuert ursprüngliche Funktionen, die sich auch schon bei niederen Wirbeltieren nachweisen lassen: Das Mittelhirn ist ein leistungsfähiges Reflexzentrum, das die unwillkürlichen Bewegungen von Augen, Kopf und Rumpf steuert und zu diesem Zweck optische und akustische Sinneseindrücke verrechnet. 23 Getting Past No, S. 11 ff.

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natürlich bei den dann folgenden „Trocknungsübungen“ aller Beteiligten genug Zeit für einen klaren Kopf schafft. Solche Stop-Techniken können Sie allerdings nicht zu oft anwenden, denn solche Interventionen sprechen sich sicher herum und Sie werden als Manipulateur entlarvt… – Menschen, die Erfahrung mit Meditationstechniken haben, verwenden in solchen Situationen auch manchmal ein Mantra. Ein Mantra ist ein bestimmtes Wort, das ständig wiederholt wird, um den Geist zur Ruhe zu bringen. Mantras führen durch ihre einfache Wiederholung dazu, dass der Geist sich beruhigt und wir den Überblick wieder gewinnen. Ein mir namentlich bekannter, sehr begabter Verhandler singt in solchen Situationen immer innerlich „Großer Gott wir loben Dich, Herr wir preisen Deine Stärke!“ Und, wie er mir nun schon mehrfach versichert hat, es wirkt hervorragend. All diese Techniken nennen wir Stopptechniken, weil sie dazu dienen, unsere Stressreaktion zu stoppen. Um sie in der Verhandlung selbst anwenden zu können, müssen Sie diese vorher trainieren. Dies können Sie beispielsweise dadurch tun, dass Sie sich geistig bestimmte unangenehme Verhandlungssituationen vorstellen und dann versuchen, in Ihrem Geist adäquat zu reagieren. Sie können auch Verhandlungen, in denen Sie unfaire Verhaltensmethoden der anderen Seite erwarten, durchspielen, und Sie werden sehen, dass es Ihnen damit immer besser gelingt, sich richtig zu verhalten. Ziel aller dieser Techniken ist es, dass Sie wieder Herr der Situation werden und kreativ diejenige Verhaltensweise einsetzen, die im vorliegenden Falle wirklich passt. Kurz: Dass Sie sich nicht wie ein Hominide verhalten, sondern wie ein smarter Typ unseres Informationszeitalters. Wenn Sie sich vielleicht zusätzlich mit den 36 Strategemen auseinandergesetzt haben, kann das sicher auch nicht schaden! Dies kann nämlich auch den nächsten Schritt vereinfachen. 2. Schritt: Entwaffnen Sie den Angreifer! Benennen Sie den Angriff! Wenn ich eine Stopptechnik angewandt habe, dann habe ich Zeit, mich zunächst einmal zu fragen: Was ist hier eigentlich passiert? Und: Wie kann ich weitere Angriffe der anderen Seite unterbinden? Oder: Welches Strategem wendet die Gegenpartei an und welches Strategem kann ich hier dagegensetzen? Es ist wichtig, den Angriff nicht nur zu erkennen, sondern ihn auch dem anderen gegenüber zu benennen, das heißt zu zeigen, dass man solche Verhaltensweisen nicht akzeptieren will. Es ist sinnvoll, dies von der 3. Position24 aus zu tun. Damit verhindern Sie, dass Sie wieder in die erste, momentan mit Stress verseuchte, Position zurückrutschen. Sagen Sie etwa: „Wenn ich das, was sich soeben abgespielt hat, von außen betrachte, dann muss ich sagen, dass das soeben ein knallharter, persönlicher Angriff war, 24 Siehe oben Teil 6, 6., S. 238 ff.

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der ein Überdenken der gesamten Situation erfordert. Lassen Sie uns deshalb bitte die Gespräche unterbrechen und über die Fortführung der Verhandlung an sich sprechen!“ Wenn Sie in der 1. Position blieben, bestünde die Gefahr, dass Sie mit gleicher Münze zurückzahlen und damit der Wortwechsel eskaliert und schließlich im gegenseitigen Anbrüllen endet. Innere Distanz, die auch durch die gewählte Sprache ausgedrückt wird, hilft da viel weiter. Ziel dieser Botschaft ist es, die andere Seite dazu zu bewegen, das Feuer sofort einzustellen. Die Kampfhandlungen sollten unterbrochen und eine Feuerpause eingelegt werden. 3. Schritt: Verstehen Sie die Situation! Fühlen Sie sich in die Gegenpartei ein! Eine Feuerpause ist noch kein dauerhafter Waffenstillstand. Einen Waffenstillstand kann ich nur erreichen, wenn ich die Ursachen für den Konflikt oder für die Aggression meines Verhandlungspartners ausräumen kann. Hat die andere Seite wirklich vorsätzlich böse agiert, oder war das unfaire Verhalten vielleicht gar nur eine Reaktion auf ein Foul meinerseits? Versuchen Sie deshalb, sich in die andere Person einzufühlen. Steigen Sie in deren Schuhe. Schauen Sie sich die Welt mit deren Augen an. Gehen Sie in die 2. Position. Vielleicht entdecken Sie dabei, dass der Angriff der anderen Seite nur eine Antwort auf Ihr Verhalten war. Vielleicht hat sich auch die andere Person angegriffen gefühlt und ist deswegen zum Gegenangriff übergegangen. Denn selbst Menschen, die sich ständig darüber beklagen, dass sie ein schlechtes Gedächtnis haben, können sich gut und lange an Verletzungen erinnern, die ihnen ein anderer beigebracht hat. So kann es geschehen, dass jemand bei einer Verhandlung eine Bosheit austeilt, der Verhandlungspartner sich dafür aber erst nach einiger Zeit und damit zeitlich unpassend rächt. Der nunmehr Angegriffene sieht natürlich keinen Zusammenhang mehr mit seinem eigenen Verhalten, das er inzwischen wahrscheinlich längst selbst vergessen hat. Er wertet diese Reaktion als unbegründete Aggression der anderen Seite. Und wenn man nicht aufpasst, ist dann sehr schnell eine Eskalation im Gange. Als ich noch am Anfang meiner Anwaltstätigkeit stand, fiel mir auf, dass sich Verhandlungspartner oft aggressiv mir gegenüber verhielten. Den Grund hierfür erkannte ich, als ich in einem Verhandlungstraining das Video eines Rollenspiels sah, an dem ich teilnahm. Immer wieder bekam die Gegenseite aus dem Hinterhalt Tritte ans Schienbein, für die sie sich meist nicht unmittelbar, sondern zu einem späteren Zeitpunkt „rächte“, als dafür kein unmittelbarer Zusammenhang mehr bestand. Dieses Video hat mein Verhalten in Verhandlungen grundlegend verändert. Wir kennen das auch vom Sport: Ein böse gefoulter Spieler wartet oft nur auf einen günstigen Augenblick, um es dem ursprünglichen Übeltäter mit gleicher Münze heimzuzahlen. 305

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Die Technik, die ich in dieser Stufe empfehle, heißt daher: Zeigen Sie Empathie! Zeigen Sie Verständnis! Sagen Sie beispielsweise: „Möglicherweise habe ich irgend etwas getan, was Sie geärgert hat.“ Unser Ziel ist es herauszufinden, was der Grund für das unfaire Verhalten der anderen Seite ist. 4. Schritt: Verhandeln Sie über die Einstellung des Angriffs! Bevor Sie wieder in die Verhandlung einsteigen, sollten Sie auf jeden Fall ansprechen, was aus Ihrer Sicht soeben vorgefallen ist. Sie könnten etwa Folgendes sagen: „Bevor wir fortfahren, möchte ich noch auf etwas zu sprechen kommen, was soeben vorgefallen ist und das mich, wie Sie sicher gemerkt haben, ziemlich irritiert hat. Ich habe Ihnen, wie Sie sich sicherlich erinnern, vorgeschlagen, wir könnten den anfallenden Gewinn unseres Joint Ventures über eine Gesellschaft abführen, die wir auf den niederländischen Antillen domizilieren. Sie haben darauf geantwortet, dass Sie es nicht gewohnt seien, mit solchen Steuerhinterziehungsmethoden zu arbeiten … Ich muss Ihnen sagen, dass mich diese Aussage ziemlich irritiert hat …“ In der nachfolgenden Diskussion über diesen Vorfall werden Sie bald feststellen, ob es sich bei dem Angriff der Gegenseite um eine Reaktion auf Ihr eigenes unfaires Verhalten gehandelt hat oder ob es sich um eine Aktion handelt, mit der die andere Seite aus eigenem Antrieb die Regeln verletzt hat: 1. Handelt es sich um eine Reaktion auf Ihr eigenes unfaires Verhalten, dann gibt es eine ganz einfache, aber zunehmend in Vergessenheit geratene Methode: Entschuldigen Sie sich! „Harte“ Verhandler glauben, dass man sich bei Verhandlungen keinesfalls entschuldigen dürfe, weil man dann Schwäche zeige, getreu nach dem französischen (aber meines Erachtens dennoch falschen) Satz: „Qui s’excuse, s’accuse!“. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine echt gemeinte Entschuldigung im Regelfall Wunder wirkt. Fehler zuzugeben zeugt von Stärke, nicht von Schwäche. Nur schwache Menschen versuchen, ihre Fehler zu verbergen, um bei den anderen den Eindruck zu erwecken, sie seien perfekt. Haben Sie sich bei der Gegenseite entschuldigt, dann können Sie im Regelfall problemlos weiterverhandeln. 2. Hat die andere Seite dagegen aus eigenem Antrieb die Regeln verletzt, dann ist eine Entschuldigung fehl am Platz. Manchmal versuchen Verhandlungspartner, durch regelwidriges Verhalten bei der anderen Seite bestimmte Verhaltensweisen zu provozieren. Ist also bei einem unfairen Verhalten allein die andere Seite der aktive Teil, dann müssen wir deutlich zeigen, dass wir nicht bereit sind, uns dieses Verhalten gefallen zu lassen. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, die Pistole auf den Tisch zu legen25 oder Ihr Strategem zu zücken. 25 Siehe oben Teil 3, 5.2.1, S. 120 ff.; Teil 6, 2., S. 211 ff.

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Teil 7

Geht der Verhandlungspartner auf Ihren Wunsch zur „Normalisierung“ der Verhandlung ein, so sind Sie im Stadium des „Verhandelns über das Verhandeln“. Hier können Sie dann Verhandlungsverträge schließen, auf die Sie sich zu einem späteren Zeitpunkt berufen können, ohne dass Sie dabei irgendwelche Anschuldigungen vorbringen müssen. Mit vorstehenden Techniken kommen Sie dem Ziel dieses Abschnittes näher: Wir wollen nämlich erreichen, durch einen Verhandlungsvertrag zukünftige „Verhandlungsfouls“ auszuschließen. 5. Schritt: Fahren Sie mit der Verhandlung fort oder hören Sie auf! Die letzte Phase bedeutet letztlich nur die Umsetzung des vorhergehenden Schrittes. Haben wir einen Verhandlungsvertrag über zukünftige Verhandlungen geschlossen, dann setzen wir die Verhandlung fort. Verletzt die andere Seite diesen Verhandlungsvertrag, so werden wir auf die Einhaltung des geschlossenen Vertrages hinweisen, statt die andere Seite zu beschuldigen („Sie sind ein …“). Ist mit der anderen Seite kein Verhandlungsvertrag möglich, dann ist auch der Fortgang der Verhandlung nicht gesichert. Vor allem weist dies darauf hin, dass die andere Seite offensichtlich nicht bereit ist, kooperativ zu verhandeln. In solchen Fällen muss ich mir ernsthaft überlegen, ob ich die Verhandlung überhaupt weiterführen soll. Vielleicht ist es besser, die Verhandlung zu diesem Zeitpunkt abzubrechen oder zumindest zu unterbrechen, damit beide Seiten die Ereignisse noch einmal überlegen oder aber einen anderen Verhandler zur Fortsetzung der Verhandlung entsenden können. Ziel dieser Phase ist es, über den Fortgang der Verhandlung zu entscheiden.

7. Wie wehre ich mich gegen unangenehme Verhandlungsbedingungen? Häufig stellt man mir in Verhandlungsseminaren die Frage, was man denn tun solle, wenn Verhandlungen unter unangenehmen Bedingungen hinsichtlich des Ortes, des Verhandlungsraumes oder der Zeit stattfinden. Als Beispiele werden genannt: • keine Verpflegung bei länger dauernden Verhandlungen • Verhandlungen bis in die späte Nacht ohne Unterbrechung (teilweise unter Ausnutzung der angeschlagenen physischen Situation des Verhandlungspartners, der beispielsweise unter einem Jetlag leidet) • Man lässt Verhandlungspartner in die Sonne schauen. • plötzlicher Zeitdruck („Ich muss in einer Stunde weg.“) Wenn wir die Schritte, die ich in Frage 7 erörtert habe, auf diese Situation anwenden, so lassen sich solche Situationen mit zwei Schritten relativ einfach abstellen: 307

Teil 7

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

1. Schritt: Gewinnen Sie den Überblick! Um die vorstehend genannten unangenehmen Verhandlungsbedingungen in den Griff zu bekommen, ist es wichtig, dissoziieren zu können und sich damit nicht mehr einschüchtern zu lassen. Gehen Sie auf den Balkon und gewinnen Sie den Überblick. Wie Sie das tun können, habe ich im 7. Schritt ausführlich erörtert. Von „hier oben“ aus können Sie überlegen, was gerade vorgeht. Wenn Sie wieder klar im Kopf sind, sprechen Sie die Sache an. 2. Schritt: Verhandeln Sie über die Situation! Wenn Sie gesagt haben, wie unangenehm diese Verhandlungssituation auf Sie wirkt, dann ist es sinnvoll, im Anschluss daran dafür zu sorgen, dass sich die Verhandlungssituation verbessert. Lassen Sie mich dies einfach an ein paar Beispielen zeigen: • Sie verhandeln bereits seit längerer Zeit und haben nichts zu essen bekommen. Ihr Magen knurrt. Sagen Sie: „Ich habe das Problem, dass ich nicht denken kann, wenn ich einen leeren Magen habe. Könnten Sie uns vielleicht etwas zu essen anbieten, oder wäre es Ihnen lieber, wenn wir die Verhandlung unterbrechen?“ • Sie steigen aus dem Flugzeug und werden sofort in eine Verhandlung geführt. Nachdem Sie längere Zeit verhandelt haben, fallen Ihnen die Augen fast zu. Sagen Sie: „Ich habe jetzt 24 Stunden nicht mehr geschlafen und bin nicht mehr in der Lage, der Verhandlung konzentriert zu folgen. Wann wäre es möglich, die Verhandlung fortzusetzen?“ • Sie haben einen Sitzplatz bekommen, bei dem Sie ständig in die Sonne schauen müssen. Sagen Sie: „Ich kann mich sehr schlecht konzentrieren, wenn mich die Sonne ständig blendet. Falls Sie die Sonne nicht stört, möchte ich gerne mit Ihnen den Platz tauschen, ansonsten sollten wir überlegen, ob wir vielleicht das Fenster verdunkeln können …“ • Die andere Seite teilt Ihnen mit, dass für den restlichen Verhandlungsteil nur noch sehr wenig Zeit zur Verfügung stehe, nachdem bisher sehr ausführlich und intensiv verhandelt worden ist. Sagen Sie: „Leider habe ich vergessen, Sie am Anfang zu fragen, wie viel Zeit Sie für die Besprechung reserviert haben. Das tut mir leid. Ich möchte aber nicht gerne, dass so wichtige Fragen unter extremem Zeitdruck verhandelt werden. Ich schlage daher vor, dass wir die Verhandlung vertagen, damit wir auch die restlichen Punkte noch angemessen verhandeln können. Damit wir das nächste Mal nicht unter ähnlichen Zeitdruck kommen, sollten wir gleich jetzt den Zeitbedarf festlegen. Hätten Sie am 15.01. um 10.00 Uhr Zeit für ca. 4 Stunden oder wäre Ihnen ein anderer Termin angenehm?“ 308

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Teil 7

Wenn Sie die unangenehme Situation höflich ansprechen und der anderen Seite zeigen, dass Sie nicht gewillt sind, sie hinzunehmen, wird sich das Problem sehr rasch auflösen. Sollte Ihr Partner nicht dazu bereit sein, sollten Sie sich überlegen, die Verhandlung abzubrechen.

8. Wie reagiere ich auf offene Angriffe? Die offensichtlichste Art unfairen Verhandelns ist es, wenn die Gegenseite mit offener Aggression gegen mich vorgeht, also wenn sie mich beschimpft, beleidigt, anbrüllt oder mich sonst als Person abwertet. Auch hier geht es darum, aus den in Frage 7 beschriebenen Schritten diejenigen auszuwählen, die mich in dieser Situation weiterführen. 1. Schritt: Gewinnen Sie den Überblick! Wenn mich jemand in einer Verhandlung offen angreift, dann ist das Wichtigste, dass ich nicht als Hominide reagiere, sondern die in Frage 7 beschriebenen Stopptechniken anwende. Das Motto lautet: Keine Chance dem Stresshormon, dem Kampf- oder Fluchtverhalten! Das Wichtigste bei solchen Angriffen ist, dass ich selbst wieder das Gesetz des Handelns gewinne und mich durch die Aggression nicht aus dem Konzept bringen lasse. Habe ich den Drang meines Reptiliengehirns, reflexartig zu handeln, gebändigt, so kann ich zur Stufe 2 übergehen. 2. Schritt: Entwaffnen Sie den Angreifer! Mit dieser Technik möchte ich erreichen, dass die andere Seite so schnell wie möglich ihr Feuer einstellt. Dies setzt voraus, dass ich das Verhalten anspreche. Sie werden bedroht, angebrüllt etc. Hier gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten: • ernst/sachlich „Wenn mich jemand anbrüllt, dann brülle ich im Regelfall zurück, aber das würde uns hier nicht weiterhelfen. Es wäre mir daher lieber, wenn wir uns weiterhin normal unterhalten könnten. Gibt es irgendetwas, was Sie an meinem bisherigen Verhalten gereizt hat?“ Damit gehen Sie auch schon zur Stufe des Verstehens über. • humorvoll „Irgendwie bin ich Ihnen wohl kräftig auf den Zeh gestiegen, ohne dass ich das wollte …“ • ironisch/zynisch „Nehmen Sie das hier, das schont Ihre Stimme“ (Sie reichen ein Hustenbonbon). „Hier 50 Euro für Ihre Brüllleistung! Wenn Sie sich noch um 10 Dezibel steigern, leg ich noch 20 Euro drauf!“ 309

Teil 7

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Wie reagiere ich auf offene Angriffe?

schrecklichste Taten

HAHA, ;JETZT SITZl' DU IN DER KLEMME! BIN GESPANNT. WIE DEIN NÄCHSTER Z.UG AUSSIEHT!

© 1996 King Features Syndicate, lnc./Distr. Bulls

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Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Teil 7

Von ironischen oder zynischen Bemerkungen möchte ich jedoch im Regelfall abraten, da dies meist zur Eskalation und nicht zu einer Behebung der Situation führt. Abwertung Nehmen Sie einmal an, ein älterer Kollege reagiert Ihnen gegenüber als Berufsanfängerin so: „Also, sehr geehrte Frau Kollegin, ich darf Ihrer Jugend zugute halten, dass Ihnen die Details dieser Rechtsfrage noch nicht so genau bekannt sind …“ Auch hierauf haben Sie wieder verschiedene Möglichkeiten zu reagieren, beispielsweise: • ernst/sachlich „Ich denke, dass es keine Frage des Alters ist, ob man bestimmte Probleme kennt oder nicht. Es wäre mir daher lieber, wenn wir nicht über das Alter, sondern über das Problem selbst diskutieren könnten. Ich bin aber gerne bereit, wenn Sie mir einen Kommentar aus Ihrer Bibliothek zur Verfügung stellen, meine Auffassung zu überprüfen …“ • schneller Gegenangriff/sarkastisch „Wenn wir unser Alter mit unserem Wissen verknüpfen wollten, dann könnte man den Spieß auch umdrehen und denken, Sie hätten aufgrund Ihres Alters schon wieder alles vergessen, sehr geehrter Herr Kollege. … Aber es liegt mir natürlich fern, dieses zu behaupten. Sollten wir nicht einfach versuchen, nicht unser Alter für die Richtigkeit der Argumente verantwortlich zu machen?“ Das Problem ist meist nur, dass Ihnen solche Antworten erst einfallen, wenn Sie abends im Bett liegen und die Gemeinheit der anderen Seite vor Ihrem geistigen Auge ablaufen lassen. Vielleicht ist es besser, wenn Sie sich daher auf die sachliche Antwort konzentrieren, denn missglückter Zynismus gibt der anderen Seite meist die Gelegenheit, mit ähnlichen Bemerkungen nachzusetzen. 3. Schritt: Verstehen Sie die Situation! Bei offenen Angriffen und Abwertungen fällt es verständlicherweise besonders schwer, die Phase des Verstehens nicht zu überspringen. Und dennoch ist sie sehr wichtig: Denn oft steckt hinter der offenen Aggression oder der Abwertung der anderen Seite lediglich die Reaktion auf ein vorhergegangenes eigenes unfaires Verhalten. Es fällt uns manchmal schwer, offene Worte für das eigene Empfinden gegenüber einem Verhandlungspartner zu gebrauchen. Es ist möglicherweise schwierig, aber sehr wirkungsvoll, die andere Partei zu fragen: „Mich verletzt das, wenn Sie mich als ‚Rechtsmanipulateur‘ bezeichnen. Ich bitte Sie, solche Ausdrücke zukünftig nicht mehr zu gebrauchen. Unabhängig davon: Gibt es nach Ihrer Meinung irgendeinen bestimmten Anlass, dass Sie mich so nennen?“ 311

Teil 7

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

Unter Umständen wird dann der andere wie folgt antworten: „Mich hat vorhin ziemlich gestört, dass Sie …“ Dann wäre die richtige Art zu antworten etwa so: „Ach ja, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Es tut mir leid, dass Sie diesen Eindruck hatten. Ich werde in Zukunft darauf achten, dass ich das nicht mehr tue.“ Hier liegt schon der Übergang zu Schritt 4: Sie sind also schon auf dem Wege, einen Verhandlungsvertrag zu schließen. Wenn Sie feststellen, dass das unfaire Verhalten der anderen Seite durch Sie ausgelöst wurde, sollten Sie sich entschuldigen, aber das habe ich ja schon deutlich gesagt. Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem Sie die Verhandlung wieder weiterführen oder, wenn die andere Seite Sie weiter angreift, die Verhandlung abbrechen, also den 5. Schritt tun sollten.

9. Was mache ich, wenn mein Verhandlungspartner manipuliert? Manipulation26 ist ein weites Feld. Wer sich mit der Frage der Manipulation in Verhandlungen näher befassen will, dem lege ich die Ausführungen von Haft über „Die Abwehr von Manipulationsgefahren“ 27 ans Herz. 28 Wie schon gesagt, besteht das Wesen der Manipulation darin, dass man die andere Seite durch eine verdeckte Botschaft zu einem gewünschten Verhalten veranlasst. Im Gegensatz zu den Fällen, in denen ein Verhandlungspartner offen angreift, ist die Manipulation dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf einer verdeckten Ebene abspielt. Nehmen Sie einmal folgenden Fall: Sie betreten den Ausstellungsraum eines Kraftfahrzeughändlers, um verschiedene Fahrzeuge zu besichtigen, die Sie eventuell kaufen möchten. Der Verkäufer zeigt Ihnen verschiedene Autos, geht dann schnell mit Ihnen an einem schnittigen Fahrzeug vorbei und sagt Ihnen im Vorbeigehen: „Diesen wunderschönen Superschlitten zeige ich Ihnen gar nicht erst, der ist Ihnen sicher zu teuer.“ Merken Sie, was hier passiert?

26 Manipulation (lat. für Handgriff, Kunstgriff) bedeutet im eigentlichen Sinne „Handhabung“. Als Begriff aus der Psychologie, Soziologie und Politik bedeutet Manipulation die gezielte und verdeckte Einflussnahme, die auf eine Steuerung des Erlebens und Verhaltens zielt und verborgen bleiben soll. 27 Haft, Verhandlung und Mediation, S. 166 ff. 28 Darüber hinaus finden Sie alles, was zum Thema Manipulation wissenswert scheint, bei Cialdini, Die Psychologie des Überzeugens.

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Teil 7

Hier gibt es zunächst den „offiziellen“ Teil der Botschaft, der lautet: „Das Fahrzeug ist zu teuer“. Daneben gibt es auch noch einen „verdeckten“ Teil, der lautet etwa: „Du bist viel zu knickrig, um Dir etwas zu leisten, was alle Deine Freunde beeindrucken würde.“ Das Wesentliche bei der Manipulation ist immer die verdeckte Botschaft. Sie ist der Appell, auf den es ankommt. Im vorliegenden Fall möchte nämlich der Verkäufer gerne Ihr „rebellisches Kind“ aktivieren und Sie dazu veranlassen, zu sagen: „Dem zeige ich es schon! Natürlich kaufe ich das Auto!“ Die erwünschte Reaktion des Verkäufers ist es also, dass Sie aus Trotz dieses Fahrzeug besichtigen und womöglich auch noch kaufen. Wenn Sie dies tun, hat die Manipulation Erfolg gehabt. Man kann diese Art der manipulativen Kommunikation auch als „Billardkommunikation“ bezeichnen: Man stößt eine rote Kugel an, um die grüne ins Loch zu bringen. Ziel des Manipulateurs ist es, die bewusste Entscheidung des anderen Partners auszuschließen und gleichzeitig an das Unterbewusste oder Unbewusste der anderen Seite zu appellieren. Immer wieder höre ich die Frage: „Welche Tricks gibt es, um Verhandlungspartner dorthin zu bringen, wo wir sie gerne hätten?“ Darauf kann und will ich Ihnen aber keine Antwort geben. Denn der Schaden, der durch Manipulationen verursacht wird, ist im Regelfall größer als der Nutzen, der dadurch erzielt werden soll. In Riffsituationen 29 ist die Manipulation auf jeden Fall verhängnisvoll. Zudem erkennt die andere Seite meistens irgendwann, dass sie manipuliert worden ist, und wird auf Rache sinnen. Denn dem, der einen einmal über den Tisch gezogen hat, dem möchte man es gerne heimzahlen… Wer viel manipuliert, wird zudem ziemlich bald am „Dr. Richard KimbleSyndrom“ erkranken, d.h., er wird immer „auf der Flucht“ sein. Manipulateure sind im Regelfall sehr misstrauisch, denn sie müssen stets befürchten, das heimgezahlt zu bekommen, was sie mit anderen angestellt haben. Und derjenige, der manipuliert worden ist, ist möglicherweise bereit, aus seiner Verlust-Sieg-Position eine Verlust-Verlust-Position zu machen, das heißt, dem Manipulateur auf jeden Fall zu schaden, auch wenn er hierdurch selbst Nachteile erleidet. Welche Schritte sind nun angebracht, wenn ich bei Verhandlungen auf einen Manipulateur treffe (oder glaube, einen Manipulateur vor mir zu haben)? 1. Gewinnen Sie den Überblick! Da es sich bei der Manipulation nicht um eine aggressive Attacke handelt, ist die Gefahr des Verhaltens „Kampf oder Flucht“ wesentlich geringer als bei einem frontalen Angriff. Manipulation erkennt man daher in der Regel weniger daran, dass man unter Stress gerät, sondern an einem merkwürdi29 Siehe oben Teil 3, 3.4, S. 104 ff.

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gen Gefühl im Bauch. In solchen Fällen ist es besonders wichtig, auf den Balkon zu gehen und zu fragen: „Was geht hier eigentlich vor?“ Denn die Manipulation spielt sich, wie ich schon gesagt habe, auf einer verdeckten Ebene ab, und ich muss daher versuchen, dahinterzukommen, was auf dieser verdeckten Ebene eigentlich passiert. Ich muss mich also fragen: Versucht mich die andere Seite mit einem Trick über den Tisch zu ziehen? Wie lautet die Botschaft auf der verdeckten Ebene? Dazu ist es sinnvoll, zwischen Position zwei und drei hin und her zu pendeln. Um diese Fragen zu klären, brauchen Sie natürlich vorerst ein paar Sekunden Ruhe. Also: Tief durchatmen! 2. Entwaffnen Sie den Manipulateur! Bei jeder unfairen Verhaltensmethode ist es sinnvoll, diese anzusprechen, insofern gilt auch für die Manipulation keine Ausnahme. Es wird aber in der Regel nichts bringen, wenn Sie dem Verhandlungspartner auf den Kopf zusagen, dass er Sie so und so zu manipulieren versuche. Die andere Seite wird stets abstreiten, manipuliert zu haben, sie wird sich verteidigen und Ihnen vorwerfen, Gespenster zu sehen. Um dem Manipulateur zu zeigen, dass man ihn entdeckt hat, ist es im Regelfall wesentlich wirkungsvoller, ihm dies ebenfalls auf der verdeckten Ebene mitzuteilen. Gerade der Umstand, dass man auf der Ebene antwortet, auf der er seine Botschaft gesandt hat, wird ihn verwirren und im Regelfall dazu bringen, seine Versuche einzustellen. Das ist jedenfalls die elegante Methode. Wenn es aber Ihrem Naturell entspricht, Manipulationen offen anzusprechen und mit klaren Worten reinen Tisch zu machen, dann wollen wir Sie daran nicht hindern. Denn alle Techniken, die man anwendet, müssen auch zu der Person, die sie anwendet, passen. Entscheidend ist jedenfalls, dass ich dem Partner deutlich sage: „I got you!“ („Erwischt!“) Stellen Sie sich beispielsweise einmal vor, ein Kollege, mit dem Sie verhandeln, beruft sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Sie halten sich für einen leidlichen Kenner der Materie, aber diese Rechtsprechung ist Ihnen nicht bekannt. Ein Verdacht steigt Ihnen auf: Will Sie die andere Seite manipulieren? Will sie mit diesem Verweis auf die „höhere Macht“ erreichen, dass ich nachgebe? Sagen Sie in einem solchen Fall einfach: „Es tut mir sehr leid, offensichtlich ist mir eine Entwicklung in der neuesten Rechtsprechung entgangen. Vielleicht können Sie mir einfach das maßgebliche Urteil zeigen, dann können wir diesen Punkt abhaken …“ Wenn der Kollege dann dieses Urteil nicht findet oder etwa behauptet, er habe den Band gerade einem Referendar mit nach Hause gegeben etc., dann 314

Die Fragen: Dr. Coopers Tipps …

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haben Sie wahrscheinlich ins Schwarze getroffen. Dies wissen Sie spätestens dann, wenn der Verhandlungspartner auf diesen Punkt nicht mehr zu sprechen kommt. Ein anderes Beispiel: Sie sind in einer Verhandlung mit zwei Verhandlungspartnern auf der anderen Seite. Einer der beiden Verhandlungspartner ist freundlich, zuvorkommend, strebt die Einigung an. Das Problem ist allerdings der andere: der ist hart, kompromisslos und weist den anderen Partner immer wieder zurecht, wenn er versucht, Ihnen entgegenzukommen. Sie denken sich: Läuft hier ein Spiel oder haben die beiden sich einfach nicht abgesprochen? Um das herauszufinden, sagen Sie beispielsweise: „Wenn ich nicht wüsste, dass wir hier in einer geschäftlichen Besprechung sitzen, dann käme ich mir vor wie in dem Fernsehfilm, den ich gestern Abend gesehen habe. Da gab es einen bösen Polizisten, der hart und rücksichtslos mit dem Verdächtigen umging. Der andere Polizist war liebenswürdig und korrekt und zeigte dem Täter, dass er die Verhaltensweisen seines Kollegen nicht mochte. Das Beste war: Der Täter hat dann bei dem ‚netten‘ Polizisten alles gestanden …“ Sinn dieses Spieles (genannt bad cop/good cop) ist es, dass der vermeintliche Täter sich mit dem „lieben“ Polizisten gegen den aggressiven Polizisten verbündet und sich ihm dann anvertraut. Der eigentliche „Feind“ ist also der „gute“ Polizist! Sollte sich nach dieser Intervention, die Sie schmunzelnd vortragen können, das Verhandlungsverhalten der anderen Seite normalisieren, können Sie ziemlich sicher sein, einen Manipulationsversuch der anderen Seite abgestellt zu haben. Wenn die andere Seite manipuliert, dann können Sie natürlich mit der Technik „Verstehen“ (3. Schritt) wenig anfangen. Denn selbst wenn die andere Seite unbewusst manipuliert, was häufig vorkommt, kommen Sie mit Empathie nicht weiter. Auch der 4. Schritt (Verhandeln über den Angriff) ist in solchen Fällen nicht angebracht. Wenn Sie mit Ihrer Botschaft an den anderen, dass Sie seine Manipulationsversuche erkannt haben, ins Schwarze getroffen haben, dann haben Sie im Regelfall die Manipulation abgestellt. Und hier noch ein letzter Tipp zum Umgang mit Manipulationen: Verlieren Sie Ihre Listenblindheit, studieren Sie die 36 Strategeme! 30 30 Beispielsweise von Senger, Strategeme. Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden, oder 36 Strategeme für Manager.

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Teil 7

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Dies also die Tipps von Dr. Austin Cooper. Nr. 10 „Wie verhandle ich mit Fremden?“ kommt nun noch, quasi als Abschluss des Buches, von Reiner Ponschab:

10. Wie verhandle ich mit Fremden? Was ist besonders, was anders, wenn ich mit Menschen aus anderen Kulturen oder einfacher: mit Fremden verhandle? Was ist überhaupt fremd und wie kann ich damit umgehen? Was sind die Besonderheiten des Verhandelns mit Fremden? Lassen Sie mich zum Verständnis erst einmal eine Geschichte erzählen: Ich bin die ersten sechs Jahre meines Lebens in China aufgewachsen. Es waren die Jahre, in denen Mao Dse Dong im Kampf gegen Tschiang Kai Tschek nach der Macht in China griff 31 und das Land unter großen Opfern zur Einheit führte. Nachdem die einmarschierenden Russen uns aus unserem Haus gewiesen und meinen Vater verschleppt hatten, fanden meine Mutter, meine Schwester und ich in einem Kloster Zuflucht. Damals gab es für mich als Vierjährigen kein größeres Vergnügen als in vorderster Reihe mit Maos Gesinnungsgenossen durch die Straßen zu marschieren und Kampflieder mit meinen „Kombattanten“ aus vollem Halse zu schmettern. Wenn ich meiner Mutter nicht geschickt genug entwischen konnte, zog sie mich meist entsetzt und mit energischer Geste ins Haus – keine Geste der Empathie mit einem Vierjährigen! Hinter unseren zwei kärglichen Zimmern befand sich ein Bordell (das erfuhr ich erst später), wo ich mit den außerordentlich netten Frauen gerne Karten spielte. Das einzig Unangenehme war, dass sie immer mal wieder mitten im Spiel verschwanden, um irgendetwas zu tun, was ich damals nicht enträtseln konnte. Da die Nonnen gemäß Ihrem Gelübde kinderlos waren, viele Frauen aber den Wunsch nach einem Kind in sich tragen, wuchs ich mit zahlreichen „Müttern“ auf und konnte mich bei diesen lieben Frauen trösten, wenn mich 31 1911 wurde in China nach dem Ende der Kaiserzeit die Republik ausgerufen. In dem zersplitterten Land kämpften viele kleine Militärdiktaturen, Kommunisten und Nationalisten für ihr Land. Führer der Nationalisten war Tschiang Kai Tschek, welcher Alleinherrscher werden wollte und den von Mao aufgebauten Kommunismus bedrohte. Maos Truppen, die aus 100 000 Mann bestanden, zogen 12 000 km durch das Land, um sich aus der militärischen Umklammerung durch die Nationalisten zu lösen. Jetzt kamen die Japaner als Feind Chinas ins Spiel, welche große Teile von Asien besetzten. Tschiang Kai Tschek wollte zuerst die Kommunisten bekämpfen und sich dann erst gegen die Japaner wehren. Unter Druck der Generäle entschied er sich dann jedoch mit Mao gemeinsam gegen die Japaner vorzugehen. Nach der Kapitulation Japans und dem Rückzug der japanischen Truppen aus China flammte der Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten unter der Führung Tschiang Kai Tscheks und den Kommunisten unter Mao Dse Dong 1946 erneut mit voller Härte auf. Die Kuomintang und ihr Führer Tschiang Kai Tschek hatten jedoch während des Krieges an Stärke verloren, während die Kommunisten enorm an Stärke gewonnen hatten. Nach der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 zog sich die Kuomintang nach Taiwan zurück, wo sie die Republik China fortführte.

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Teil 7

meine verständnislose Mutter wieder einmal aus dem Bordell gezerrt hatte. Erwähnen muss ich vielleicht noch, dass ich damals genauso gut chinesisch wie deutsch sprach. Spätestens an dieser Stelle werden Sie sich vielleicht fragen: Warum erzählt er uns solche Geschichten in einem Buch über professionelles Verhandeln? Entwirft er gerade das erste Kapitel seiner Biographie? Gemach! Mit ein bisschen Geduld werden Sie gleich verstehen, was diese Story erklären soll – im Zusammenhang mit einem hochprofessionellen Thema. Was ich geschildert habe, war in dem Moment meine Umwelt, als uns jüdisch-amerikanische Freunde soviel Geld schickten, dass wir zumindest mit einem Transportschiff nach Europa „zurückkehren“ konnten. Aber war das für mich eine „Heimkehr“? Zurück ins Land der Väter? Nie wieder ist mir in meinem Leben ein Land so fremd und unfreundlich vorgekommen wie damals Deutschland. Das fing schon an, dass man verständnislos angeschaut wurde, wenn man sich auf die Fersen hockte, um auf den Bus zu warten. Ein völlig natürliches Verhalten, oder? Millionen von Chinesen machten das so, nur die Deutschen nicht. Später stellte ich dann fest, dass die Sehnen der Deutschen für diese Stellung gar nicht genug geübt waren und sie meist umpurzelten, wenn sie mich imitieren wollten. Unter den Schülern herrschte das Gesetz des Stärkeren: Kampf oder Flucht. Da ich von Haus aus etwas schmächtiger war, wählte ich die Flucht, wurde ein hervorragender Läufer und konnte die heranrollenden „Kampfmaschinen“ von irgendeinem Baumwipfel aus beschimpfen. Sie waren meist zu ungelenk, um mich da oben zu verprügeln. Der eine oder andere plumpste bei diesem Versuch vom Baum, heimste sich Prellungen und mein höhnisches Gelächter ein. Die Jungen auf der Straße gebrauchten abscheuliche Schimpfwörter, wie ich sie noch nie gehört hatte. Die Erwachsenen waren unfreundlich, grüßten nicht, hatten nicht mal Zeit, sich auf der Straße Geschichten zu erzählen. Das einzelgängerische Verhalten der Deutschen störte mich auch in besonderem Maße, war ich doch aus China gewohnt, in der Gruppe zu handeln. Die Deutschen waren stolz, wenn sie sich ein Auto kaufen konnten, als ob nicht Fahrräder völlig genügt hätten. Ab und zu kamen Väter aus der Gefangenschaft nach Hause, die den Rest der Familie, der sich in den vielen Jahren des Krieges und Gefangenschaft neu organisiert hatte, ziemlich aus dem Tritt brachten. Am Kiosk bestimmte der Verkäufer, was ich für meine Süßigkeiten zu bezahlen hatte, und wenn ich versuchte, mit ihm zu handeln, wurde er ausfällig. Keine meiner Ersatzmütter war da, um mich zu trösten. Hier fühlte ich mich nicht daheim! Warum auch in einem so fremden und kalten Land? Kein Wunder, dass ich meine Mutter fast jeden Tag anbettelte, „nach Hause“ zu dürfen. Dieses Zuhause war Tausende Meilen entfernt. Zwei kleine Zimmer in einem Nonnenkloster in Harbin im Norden Chinas, flankiert von einem Bordell und einem Kuhstall, aufgenommen in eine Gemeinschaft von Zweitmüttern in Nonnenkluft und der netten Frauen im Haus nebenan. 317

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Was wollte ich Ihnen mit dieser Geschichte erklären? Richtig. Ich will Ihnen erklären, wie sich Fremdheit anfühlt und gerne mit Ihnen darüber nachdenken, was eigentlich fremd ist. Fremd könnte etwas sein, was außerhalb unserer Ordnung existiert und das wir dadurch wahrnehmen, dass wir entweder die Grenzen dieser unserer vertrauten Ordnung überschreiten (indem wir z.B. ins Ausland fahren, in dem geschilderten Fall von China nach Deutschland) oder das Fremde von außen eindringt (indem z.B. täglich Tausende von Schwarzafrikanern an den Südgrenzen Europas landen). Stellen Sie sich nun vor, die 14-jährige Tochter des Nachbarn würde Ihrem Vater unter Tränen gestehen, dass sie sich unsterblich in einen der vier Söhne der neu zugezogenen achtköpfigen Familie aus Nigeria oder aus Kurdistan verliebt hätte. Stellen Sie sich vor, die Tausenden ostdeutschen Flüchtlinge, die sich 1989 in die deutsche Botschaft in Budapest geflüchtet hatten, wären nicht aus Bautzen, Schwerin, Appolda oder Merseburg gekommen, sondern Flüchtlinge aus Ruanda gewesen? Wäre der deutsche Außenminister dorthin gefahren, um eine Rede zu halten? Hätte man Ihnen einen triumphalen Empfang bereitet? Was ist der Unterschied? Beide Male handelt es sich um Menschen, ohne Zweifel. Warum behandeln wir sie nicht gleich? Ein Ethnologe hat mir einmal erklärt, dass wir vor anderen Menschen dann „zurückschrecken“, wenn sie als andersartig wahrgenommen werden und dadurch im Regelfall seltsam (bezeichnenderweise bedeuten die Worte strange und stranger sowohl seltsam als auch fremd) und oft auch bedrohlich wirken. Wenn wir uns an die logischen Ebenen von Dilts 32 erinnern, bedeutet das nichts anderes, als dass diesen Menschen das Merkmal der gleichen Zugehörigkeit fehlt.33 Mangelnde gemeinsame Zugehörigkeit scheint seit unserer Existenz in der Urhorde ein wesentliches Kriterium für Bedrohlichkeit und daher auch Abwehr zu sein. Achtung, Fremde! Stellen Sie sich einmal beim Münchner Lokalderby mit einem Bayern-Schal in die Kurve der Fans von 1860 München, dann werden Sie das Problem der Fremdheit bzw. mangelnder Zugehörigkeit sehr unmittelbar erfahren! Im Zeitalter der Globalisierung kommt es aber immer häufiger vor, dass ich mit Fremden in Kontakt komme und diese dazu brauche, um geschäftliche Ziele zu erreichen, also mit Ihnen verhandeln muss. Wie gehe ich dann damit um, dass mein Verhandlungspartner nicht die gleiche soziale und kulturelle Zugehörigkeit hat? Auch hier können uns die bereits erläuterten Tools des Wechsels der Wahrnehmungspositionen und der logischen Ebenen weiterhelfen. Ich war bei meinen Vorlesungen und Seminaren in China immer wieder überrascht, mit welcher Intensität Studenten, Anwälte, Beamte und Geschäftsleute meinen Ausführungen zum kooperativen Verhandeln folgten, 32 Teil 6, 5., S. 236 ff. 33 Auch Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, bezeichnet die Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe als Wesen der sozialen Fremdheit.

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Teil 7

bei den praktischen Übungen dann aber stets das Modell des kompetitiven Verhandelns anwendeten und mit großem Spaß aus Leibeskräften feilschten. Als ich mich in die 2. Wahrnehmungsposition versetzte („Ich bin Du“), also einen Perspektivenwechsel durchführte, stellte ich fest, dass das Modell des kooperativen Verhandelns in der chinesischen Kultur offensichtlich keine große Achtung genießt. Verhandeln ist eben Feilschen. Wenn ich ausländische Verhandlungspartner studieren möchte, könnte es ein wirksames Mittel sein, mir Umwelt, Verhalten, Fähigkeiten, Überzeugungen, Identität und Zugehörigkeit meines Partners zu vergegenwärtigen, die Dinge also im Rahmen der logischen Ebenen von Dilts aus der 2. Wahrnehmungsposition zu betrachten. Statt mit dem Harvard-Konzept im Kopf sich an den Verhandlungstisch zu setzen, wäre es beim Zusammentreffen mit fremden Verhandlungspartnern vielleicht wichtig, vorab folgende Fragen zu klären: • In welcher kulturellen Umwelt lebt mein Verhandlungspartner? • Welches Verhalten ist dort aufgrund dieser kulturellen Umwelt üblich? • Welche Fähigkeiten hat mein Partner – möglicherweise jahrelang – erworben, um bei Verhandlungen das erforderliche Verhalten zu zeigen und entsprechendes Verhalten der Gegenseite zu parieren? • Welche Überzeugungen stecken hinter Fähigkeiten und Verhalten? Welche Werte prägen die Gesellschaft? • Welche Identität und Zugehörigkeit ergeben sich daraus für mein Gegenüber? Möglicherweise könnte man bei einer solchen Analyse herausfinden, dass der chinesische Geschäftspartner aus einer Umgebung stammt, in der Verhandlungen eher basarartig geführt werden und er daher die Kunst des Feilschens bevorzugt. Durch listige Verhandlungskunst hat er sich große Achtung in seinem Unternehmen erworben und fühlt sich aufgrund seiner Erfolge als wichtiger Teil der Gruppe erfahrener Verhandler seines Unternehmens, die eingesetzt werden, um das Unternehmen durch geschickte Übernahme fremden Gedankengutes an den internationalen Standard heranzuführen. Er gehört damit zu der Gruppe von Menschen, deren Geschick es zu verdanken ist, dass China seinen 100-Jahre-Plan, nämlich die wirtschaftliche Führung in der Welt bis zum Jahre 2056 zu übernehmen, in die Tat umsetzen wird. Eine solche Analyse würde sicher mehr helfen als die Lektüre konfuzianischer Schriften. Oder was meinen Sie?

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Stichwortverzeichnis Absichten – Abgrenzung zu Interessen 135 ff. Absichtserklärung – Verhandlungsphase 203 ff. Aktives Zuhören 66 ff. Anerkennung – Leitwert 249 Anspruchsmethode 25 Anwalt – als Legionär 23 ff., 42 ff. – juristische Methode 24 ff. – Vergangenheitsorientierung 49 ff. – Verhältnis zum Mandanten 23 ff. AQUAL-Modell 262 ff. Aufgabenverteilung – Verhandlungsvorbereitung 165 ff. Besprechungsort – Verhandlung 180 ff. Bewusstsein – Konfliktlösungsfähigkeit 110 Bewusstseinsebenen 221 ff. – konventionell 222 – postkonventionell 222 – präkonventionell 222 – Stufenmodell 221 ff. – Wahrnehmungsposition 220 ff., 222 ff. – Wahrnehmungspositionen 85 Brainstorming 197 ff. Clausewitz, Carl-Philipp 211 Denkkategorien – Sortingstyles 74 ff., 253 ff. Einstieg – Verhandlung 266 ff. Empathie – Wahrnehmungspositionen 238 Entscheidungsmuster 74 ff. Erfolgsmessung – Verhandlungsziel 111 ff.

Eröffnungsphase – Verhandlung 182 ff. Fiktion – objektive Wirklichkeit 62 Frageformen – Verhandlungstechnik 240 ff. Flipchart 195 – Metafragen 244 ff. Freiheit – Leitwert 248 Fürsorge – Leitwert 251 Gewinnen um jeden Preis 108 ff. Glaubenssätze – juristische Methode 31 ff. – kooperatives Verhandeln 61 ff. Greene, Robert 211 Grundüberzeugungen 77 Harmonie – Leitwert 250 Hilfsmittel – Flipchart 195 – Metaplan-Wand 195 – Whiteboard 195 Integrität – Leitwert 251 Intensität – Leitwert 250 Interessen (s. a. Ziele) – Abgrenzung zu Absichten 135 ff. – Leitwerte 248 ff. Interessenanalyse 290 ff. Interessendenken 135 ff. Interessenorientierung 246 ff. Juristische Lösung – Übersicht 3 Juristische Methode 24 ff. – Glaubenssätze 31 ff. – Vergangenheitsorientierung 49 ff. 321

Stichwortverzeichnis – Weltbild 28 Juristische Relevanz – Reduktion von Lebenssachverhalten 27 Kamikaze-Verhandeln 101 Kommunikation – Axiome 229 ff. Kommunikationsaxiom – Landkarte 229 Kompetitives Verhandeln – Abwehr 120 Komplexes Denken – Konfliktlösung 210 ff. Komplexität – Reduktion 3 Konfliktlösung – Bewusstsein 81 ff. – komplexes Denken 210 ff. Konfliktlösungsfähigkeit – Bewusstsein 110 Konfliktlösungsformen – Rat 14 Konfliktlösungs-Matrix 225 Konfliktregelung – Interessenausgleich 14 ff. – Macht 14 ff. Konfliktsituationen (Beispiele) – Basar 91 – Entführung 93 – Schlangenbiss 91 – Sekretärin 91 – Verkehrsunfall 91 Konkretisierung – Vereinbarungsabschluss 205 ff. Kooperatives Verhandeln – als Alternative 57 ff. – Glaubenssätze 61 – Paternoster 238 – Verhältnis zur Mediation 12 Kriegslist 211 ff. Lebensausschnitt – Reduktion auf juristische Relevanz 27 Leitwerte – Anerkennung 249 – Freiheit 248 322

– Fürsorge 251 – Harmonie 250 – Integrität 251 – Intensität 250 – Interessen 248 ff. – Macht 249 – Neugier 251 – Sicherheit 249 Lernen – Zustandsänderung 264 Lernkreis 264 ff. Logische Ebenen – Fähigkeiten 237 – Identität 237 – Paternoster 236 – Umwelt 237 – Veränderung 29 – Verhalten 237 – Werte 237 – Zugehörigkeit 237 Luhmann, Niklas 3 Macht – Leitwert 249 Machtgefälle – Verhandlung 277 Mandant – Verhandlungsvorbereitung 127 ff. – Vertrauensbasis 129 – wahre Motive 125 ff. Mandantenbeziehung – Vertrauensaufbau 129 Manipulation 312 ff. McCormac, Marc 3 Mediation – Verhältnis zum kooperativen Verhandeln 12 Metaplan-Wand 195 Milton-Modell – widerstandsfreie Sprache 256 Nachhaltigkeit – AQUAL-Modell 262 ff. – Verhandlungsergebnis 261 ff. Neugier – Leitwerte 251 NLP – Wahrnehmungskategorien 46 ff.

Stichwortverzeichnis Objektive Wirklichkeit – Fiktion 62 Offene Angriffe 309 ff. Parteien – gemeinsame Visionen 164 ff. – übergeordnetes Ziel 164 ff. – Ziele 57 ff. Parteiziele 57 ff. Paternoster – logische Ebenen 236 ff. Perspektivwechsel 145 ff. Positionsdenken 135 ff. Praxistipps – Verhandlungssituation 265 ff. Procedere – als Verhandlungsvereinbarung 171 ff. Rat – der Konfliktlösung 209 ff. – Konfliktlösungsformen 14 Rationalität – als Verhandlungsmittel 122 ff. Sicherheit – Leitwert 249 Sorting styles 74 ff., 253 ff. Sprache – Milton-Modell 254, 256 – widerstandsfrei 254 Strategeme – Aasgeier 213 – Achillesferse 213 – Aufbauschung 214 – Aufsitzen 213 – Bauernopfer 215 – Einkreisung 217 – Entwarnung 219 – Fokussierung 217 – Isolation 216 – Judaskuss 215 – Köder 216 – List 211 ff. – Lockvogel 219 – Nichtintervention 214 – Normalität 214 – Provokation 215

– Rückzug 220 – Sackgassen 218 – Samariter 220 – Scheinangriff 214 – Strohmann 213 – Tarnkappe 213 – Unterwanderung 219 – Verwirrung 217 Stufenmodell – Bewusstseinsebenen 221 ff. Sturheit 282 ff. Subjektive Wahrnehmung 62 ff. Synchronisieren – Vertrauen 132 ff. Überlistung – chinesischer Ansatz 211 ff. Veränderung – logische Ebenen 29 – als Verhandlungsabschluss 205 ff. Vergangenheitsorientierung – juristische Methode 49 ff. Verhandlung – Abbruch 109 ff. – Ablauf 169 ff. – Besprechungsort 180 ff. – Einstieg 266 – Eröffnungsphase 182 ff. – Machtgefälle 277 – Optionen herausfinden 192 ff. – Procedere-Vereinbarung 171 – strukturieren 273 ff. – Techniken 209 ff. – umfangreiche Sachverhalte 272 ff. – unangenehme äußere Bedingungen 307 ff. – Vertrauensaufbau 280 ff. – visualisieren 276 ff. – Vorbereitungsphase 127 ff., 165 ff. – Zielanalyse 184 ff. Verhandlungsergebnis – Nachhaltigkeit 261 ff. Verhandlungsmodelle 209 ff. Verhandlungsposition – Stärkung 280 323

Stichwortverzeichnis Verhandlungssituationen – Praxistipps 265 ff. – Absichtserklärung 203 ff. Verhandlungstechnik – Aufgabenverteilung 165 ff. – Brainstorming 197 ff. – Frageformen 240 ff. – fremde Kulturkreise 316 ff. – Interessenanalyse 290 – Interessenorientierung 246 ff. – Kommunikationsaxiome 229 ff. – Konfliktlösungs-Matrix 225 – Manipulation 312 ff. – offene Angriffe 309 ff. – Perspektivwechsel 145 ff. – Problemlösungen 265 ff. – Rationalität 122 ff. – schwierige Situationen 265 ff. – Sprache 254 ff. – Sturheit 282 ff. – unfaire Verhandlungsmethoden 298 – Verhandlungsbedingungen 307 Verhandlungsziel – Auswahl 89 ff. – Erfolgsmessung 111 – Kamikaze-Verhandeln 101 – kompetitives Verhandeln 94 – kooperatives Verhandeln 104 ff.

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– Mandantenentscheidung 124 ff. – Verhandlungsabbruch 109 – weiches Verhandeln 97 Vertrauen – Aufbau 280 ff. – Mandantenbeziehung 129 – Synchronisieren 132 ff. – Verhandlungspartner 179 ff. Vision – Verwirklichung 201 ff. Vorbereitungsphase – Verhandlung 127 ff. Wahrnehmungskategorien – NLP 46 ff. Wahrnehmungspositionen 83 ff., 146 ff. – Bewusstseinsebenen 220 ff. – Bewusstseinsstufen 85 – Empathie 238 Weltbild – juristische Methode 28 Whiteboard 195 Win-Win-Ansatz 69 ff. Ziele – des Mandanten 125 ff. – der Verhandlung 184 ff.