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German Pages 280 [282] Year 2014
Albrecht Franz
Kooperation statt Klassenkampf?
4 Geschichte Franz Steiner Verlag
Zur Bedeutung kooperativer wirtschaftlicher Leitbilder für die Arbeitszeitsenkung in Kaiserreich und Bundesrepublik
Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte
Albrecht Franz Kooperation statt Klassenkampf?
perspektiven der wirtschaftsgeschichte Herausgegeben von Clemens Wischermann und Katja Patzel-Mattern Band 4
Albrecht Franz
Kooperation statt Klassenkampf? Zur Bedeutung kooperativer wirtschaftlicher Leitbilder für die Arbeitszeitsenkung in Kaiserreich und Bundesrepublik
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Gleichberechtigung von Kapital und Arbeiterschaft durch Mitbestimmung – Utopie oder Realität? (1973) © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / Germin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2014 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10818-8 (Print) ISBN 978-3-515-10820-1 (E-Book)
DANK Das vorliegende Buch wurde 2013 mit dem Titel „Kooperation statt Klassenkampf? Die Arbeitszeitverkürzung im Zeichen konsensualer Ideale der Unternehmensorganisation. Kaiserreich und Bundesrepublik im Vergleich“ von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Während der Arbeit daran konnte ich auf umfangreiche Unterstützung zurückgreifen. Zu danken ist an erster Stelle Frau Professorin Katja Patzel-Mattern und Herrn Professor Clemens Wischermann. Sie waren nicht nur Gutachter, sondern haben den Arbeitsprozess durchgängig konstruktiv-kritisch begleitet. Der intellektuell anregenden, gleichermaßen herausfordernden wie auch vertrauensvollen Atmosphäre, in der ich unter ihrer Betreuung zunächst studieren und schließlich promovieren konnte, ist es zu verdanken, dass diese Arbeit entstand. Frau Patzel-Mattern danke ich besonders dafür, dass sie sich mit keinem Zwischenergebnis zufriedengab, sondern durch konstruktive Kritik und immer neue Anregungen die Forschungsarbeit zu der Herausforderung machte, die mich mit dem Ergebnis zufrieden sein lässt. Bei den Recherchen in den Archiven der Unternehmen Siemens, Bayer, BASF und Zeiss sowie im historischen Archiv des Deutschen Technikmuseums Berlin erfuhr ich stets all die Hilfsbereitschaft und Expertise, auf die der Benutzer angewiesen ist. Die Graduiertenakademie der Universität Heidelberg ermöglichte es mir mit einem Abschlussstipendium, die Dissertation frei von allen Verpflichtungen mit der gebotenen Konzentration abschließen zu können. In den Jahren, die eine geschichtswissenschaftliche Dissertation üblicherweise von der Idee bis zur Fertigstellung benötigt, sind es über die wissenschaftlichen Bedingungen hinaus vor allem Kollegen und Freunde, die einem solchen Vorhaben zum Erfolg verhelfen. Eine Vielzahl von Personen am Historischen Seminar der Universität Heidelberg und der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte verdienten es daher, an dieser Stelle genannt zu werden. Um wenigstens einige von Ihnen beim Namen zu nennen, möchte ich Martin Stallmann und Christiane Bürger danken, die es auf sich nahmen, die Arbeit vor der Begutachtung kritisch zu lesen und die es über Jahre geduldig ertrugen, in wirtschaftsgeschichtliche Fragen verwickelt zu werden. Gleiches gilt es über Angela Siebold zu sagen, die auf allzu komplex erscheinende Fragen stets rasch pragmatische Antworten fand. Meine Eltern waren bereit, selbst ein Studium der Geschichtswissenschaft vorbehaltlos mitzutragen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Meine Frau Ruth Utecht unterstützte mich bei meinem Dissertationsvorhaben von Anfang an. Sie zweifelte nie an mir oder meiner Arbeit sondern heiratete mich sogar. Ihrem Vertrauen gilt mein größter Dank. Esslingen im Winter 2013
Albrecht Franz
INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung ............................................................................................................. 9 1.1 Fragestellung und Thesen ............................................................................ 10 1.2 Forschungsstand ........................................................................................... 16 1.3 Methode und Quellen ................................................................................... 26 1.4 Theoretischer Rahmen ................................................................................. 34 1.5 Aufbau der Arbeit ........................................................................................ 49 2. Der Konflikt als Narrativ? Zum Stellenwert kooperativer Entwürfe wirtschaftlicher Ordnung .................................................................................. 52 2.1 Arbeitszeiten zwischen Konflikt und Kooperation: Aufriss eines Perspektivwechsels ....................................................................................... 52 2.2 Kooperationsideale im Wandel: Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft ................................................................................ 60 2.3 Das patriarchalische Treue-Ideal.................................................................. 74 2.4 Kooperation im Zeichen der „Partnerschaft“ ............................................... 80 3. Die Arbeitszeitsenkung in unternehmensgeschichtlicher Perspektive: Kooperative Leitbilder als erklärender Faktor? ................................................ 88 3.1 Die Arbeitszeitsenkung in Kaiserreich und Bundesrepublik ....................... 88 3.2 Spielräume zur Senkung von Arbeitszeiten bei Siemens und Bayer ........... 98 3.3 Eine Frage der Organisation? Unterschiedliche Dynamiken der Arbeitszeitsenkung in Kaiserreich und Bundesrepublik ............................ 112 3.4 Unklare Anforderung: Die Notwendigkeit zur Interpretation der „Arbeitszeitfrage“ ....................................................................................... 125
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Inhaltsverzeichnis
4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“ im Zeichen von Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft .......................................................................................... 140 4.1 Die Unternehmen Siemens und Bayer als Teil einer Deutungsgemeinschaft ...................................................................... 141 4.2 Bewertung der „Arbeitszeitfrage“ zwischen Betriebsgemeinschaft und Verbandspolitik .......................................................................................... 151 4.3 Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft als gängige Deutungshorizonte ...................................................................................... 159 4.4 Zwischen Bedrohung und Verpflichtung: Legitime Möglichkeiten des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung ........................................................ 172 5. Mehr als Semantik: Folgen kooperativer Leitbilder für die Aushandlung von Arbeitszeiten im Betrieb .......................................................................... 189 5.1 Treue und Verantwortung als idealtypische Mechanismen der Arbeitszeitgestaltung .................................................................................. 190 5.2 Organisation von Kooperation: Gemeinschafts-Ideale als Leitbilder betrieblicher Sozialbeziehungen ................................................................. 204 5.3 Betriebliche Kommunikationspraxis im Zeichen von Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft .............................................................................. 222 5.4 Folgen der Leitbilder für die Rezeption entscheidungsrelevanter Informationen ............................................................................................. 239 6. Fazit ................................................................................................................. 254 7. Anhang ............................................................................................................. 267 7.1 Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. 267 7.2 Quellenverzeichnis ..................................................................................... 268 7.3 Literaturverzeichnis.................................................................................... 271
1. EINLEITUNG Zwei Segel Zwei Segel erhellend die tiefblaue Bucht! Zwei Segel sich schwellend zu ruhiger Flucht! Wie eins in den Winden sich wölbt und bewegt, wird auch das Empfinden des andern erregt. Begehrt eins zu hasten, das andre geht schnell, verlangt eins zu rasten, ruht auch sein Gesell. (C.F. Meyer, 1825–1898) Dieses Gedicht des Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer begegnete dem Leser der Werkszeitschrift „Unser Werk“ des Unternehmens Bayer im Jahr 1959 auf der ersten Seite des Innenteils, noch vor dem Inhaltsverzeichnis.1 In diesem Kontext kann es als Allegorie auf das Verhältnis zwischen dem Unternehmen und den darin Beschäftigten verstanden werden. Harmonischer könnte das metaphorische Bild kaum sein: Beide Seiten ergänzen sich, sie sind bewegt vom selben Antrieb, der den Rhythmus und die Intensität der gemeinsamen Fortbewegung bestimmt. Das Gedicht steht damit für ein Ideal, das dem Bild unverbrüchlicher Schranken zwischen den Klassen die Auflösung des Konflikts im Zeichen der Gemeinschaft gegenüberstellt. Bei diesem Beispiel handelt es sich keineswegs um eine auf Bayer beschränkte „Unternehmenskultur“, die unter Verweis auf eine aus der Unternehmenstradition erwachsene Verpflichtung ein für das Unternehmen charakteristisches, in besonderem Maße kooperatives Verhältnis zwischen Belegschaft und Firmenleitung postuliert.2 Vielmehr kann das im Gedicht zum Ausdruck gebrachte Kooperationsideal als beispielhaft für Entwürfe konsensualer wirtschaftlicher und be 1 2
Vgl.: Unser Werk, Nr. 7, 1959. Vgl. zur Geschichte, den Zielen und der Funktion einer bei Bayer systematisch entwickelten Unternehmenskultur insbesondere: Nieberding (2003).
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trieblicher Ordnungen gelten, wie sie seit der Industrialisierung neben dem Paradigma gegensätzlicher Klassen fester Bestandteil der Wirtschaftsgeschichte sind. Abgesehen von der Frage nach spezifischen „Unternehmenskulturen“ oder meist singulär betrachteten Ordnungsentwürfen – wie etwa der „Sozialen Marktwirtschaft“ – fand dieses Phänomen bislang jedoch kaum systematische Beachtung. Welche Rolle spielten derartige konsensuale Vorstellungen betrieblicher Ordnung? Handelt es sich bei dem aus der Werkszeitschrift zitierten Gedicht vielleicht nur um ein Beispiel für euphemistische Rhetorik, mit der die strikte Ausübung von Macht im Betrieb verdeckt wurde? Selbst wenn letztere Frage nicht ungerechtfertigt erscheinen mag, entbindet das nicht von der Notwendigkeit, nach der Relevanz solcher idealtypischen kooperativen Ordnungsentwürfe für die Gestaltung betrieblicher Sozialbeziehungen zu fragen. Ohne Zweifel handelte es sich dabei nicht um allgemein gültige, sondern in und von Unternehmen formulierte Ideale, dennoch blieben sie nicht ohne Wirkung. Sie waren häufig der Maßstab, von dem ausgehend die betrieblichen Sozialbeziehungen bewertet und Entscheidungen über nötige Veränderungen getroffen wurden. Als Idealtypen stellten sie Leitbilder dar, an denen die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ausgerichtet wurde, und hatten dadurch sehr konkrete Auswirkungen für die ganz alltäglichen Bedingungen, unter denen die Organisation von Arbeit in Unternehmen stand. Kooperative Entwürfe für die Regulierung betrieblicher Sozialbeziehungen sind bislang vernachlässigt worden. Im Vordergrund steht stattdessen der Konflikt, dessen Stellung als Movens der Geschichte von Arbeitsbeziehungen nach wie vor kaum hinterfragt wird. Das gilt auch und gerade für die Geschichte von Arbeitszeiten. Richtet man den Blick jedoch nicht auf die Verbände, sondern auf die Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse um Arbeitszeiten in Unternehmen, dann zeigt sich, dass auch in diesem Fall Ideale der Kooperation Wirkung zeitigten. Nicht nur den Konflikt, auch sie gilt es daher zu berücksichtigen, um den Verlauf der Aushandlung von Arbeitszeiten historisch erklären zu können. 1.1 FRAGESTELLUNG UND THESEN Die Geschichte der Arbeitszeiten ist die Geschichte von Konflikten. Eines Konflikts, besser gesagt, denn die Geschichtswissenschaft folgt bislang allzu häufig den zeitgenössischen Interpretationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und macht den Kampf zwischen Arbeit und Kapital zum Angelpunkt der Erforschung der Geschichte von Arbeitszeiten. So stellt etwa Markus Promberger fest: „Der industrielle Konflikt ist mehr als alles andere ein Konflikt um die Zeit.“3 Die Arbeitszeitgeschichte wird damit innerhalb eines Narrativs verortet, das bereits die zentralen Akteure benennt und diesen bestimmte Rollen zuweist. Demzufolge ist die Gestalt der Arbeitszeiten das Ergebnis eines grundsätzlichen Konflikts zwi 3
Promberger (2005), S. 10.
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schen Arbeitgebern und -nehmern beziehungsweise deren Verbänden. Es besteht kein Zweifel, dass die Arbeiterorganisationen größten Anteil daran hatten, im 19. Jahrhundert Fragen der Länge und Verteilung von Arbeitszeiten in den Industriebetrieben auf die politische Agenda zu setzen und dort zu halten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelten sie zudem als Tarifpartner bis heute gültige Standards aus. Das Konflikt-Narrativ ist also keineswegs „falsch“, es verführt jedoch dazu, andere Zugänge zur Geschichte von Arbeitszeiten zu vernachlässigen – zumal es erhebliche Erklärungsdefizite aufweist. Allein die Absolutheit, mit der diese Perspektive auf die Arbeitszeitgeschichte angewandt wurde, weckt Zweifel. Wenn Mark Spoerer und Jochen Streb schreiben, 1954 habe der Deutsche Gewerkschaftsbund „mit dem Slogan ‚Samstags gehört Vati mir‘ den die gesamten 1960er Jahre andauernden Kampf um die 40-Stunden-Woche“ eingeleitet, irritiert das zumindest.4 Schließlich gab es wohl kaum eine Phase der Arbeitszeitgeschichte, in der derartig umfassende Umstrukturierungen der Arbeitszeiten fast konfliktfrei umgesetzt wurden – von rhetorischen Kämpfen in den Stellungnahmen der Verbände einmal abgesehen.5 Aber selbst in dieser Hinsicht ist es fast schon auffällig, dass der DGB in der erwähnten Samstags-Kampagne eben keinen grundsätzlichen Konflikt thematisierte, sondern über den Nutzen der Arbeitszeitsenkung für die Familie argumentierte. Selbst auf der symbolischen Ebene wurden also die gewerkschaftlichen Forderungen nach der Arbeitszeitverkürzung nicht etwa mit einer kämpferischen Arbeiterschaft in Verbindung gebracht, sondern mit einer harmonischen Familie.6 Zwar heben die Autoren Spoerer und Streb mit dem Kampf-Begriff eher das gewerkschaftliche Engagement hervor. Dennoch impliziert der Begriff gleichzeitig einen bestimmten Gegner, dem grundsätzlich keine Kooperationsbereitschaft unterstellt wird. Insofern zeigt gerade dieses scheinbar unverfängliche Beispiel, wie präsent das Narrativ eines Klassenkampfes in der Geschichte der Arbeitszeiten noch immer ist.7 Die Suche nach dem zugrun 4 5
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Spoerer / Streb (2008), S. 121; Kursivierung nachträglich. Im Gegensatz zu den zahlreichen seit dem späten 19. Jahrhundert geführten Konflikten um die Senkung von Arbeitszeiten war keiner der Tarifabschlüsse, mit denen der Übergang zur 40-Stunden-Woche vereinbart wurde, durch Streiks erreicht worden. Vgl.: Scharf (1987), S. 650. Matthias Freese hat darauf hingewiesen, dass der Rekurs dieser Kampagne auf Familienharmonie eben nicht auf eine „kämpferische Arbeitnehmerschaft“ verweise. Freese (1995), S. 73. Peter-Paul Bänziger hat darüber hinaus festgestellt, dass die Arbeitszeitfrage von den Arbeitnehmern selbst nicht auf der Ebene grundsätzlicher Konflikte thematisiert wurde, sondern als konkrete Forderung an die Arbeitsplatzgestaltung formuliert wurde, was angesichts der guten wirtschaftlichen Lage evtl. erfolgversprechender erschien. Vgl. dazu: Bänziger (2012), S. 116. Wie wichtig die Reflexion über die Narrativität von Geschichte und Geschichtsschreibung ist, haben beispielsweise Moritz Föllmer und Rüdiger Graf anhand der Krise der Weimarer Republik herausgearbeitet. Die „Krise“ ist demzufolge zunächst als ein zeitgenössisches Deutungsmuster zu verstehen, das jedoch in der Geschichtswissenschaft einfach übernommen wurde, ohne seine Konstruktivität, seine Eigenschaft als Narrativ kritisch zu hinterfragen und
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de liegenden Ur-Konflikt scheint allerdings für die Aushandlung von Arbeitszeiten zwischen „Sozialpartnern“ in einer Zeit betont kooperativer Arbeitsbeziehungen im Rahmen einer „Sozialen Marktwirtschaft“ wenig geeignet. Dieser Umstand wirft viel eher die Frage nach den Ursachen der erfolgreichen Kooperation auf. Aber auch der Blick auf die in den Unternehmen geführten Verhandlungen um die Arbeitszeitgestaltung seit dem 19. Jahrhundert weckt Zweifel am alleinigen Erklärungsanspruch des Klassenkampf-Paradigmas. Denn wer nicht allein die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern untersucht, sondern das Unternehmen als einen Ort der Aushandlung von Arbeitszeiten in den Fokus rückt, sieht sich mit neuen Fragen konfrontiert. Selbst mit zunehmender Standardisierung der Arbeitszeiten auf tarifvertraglichem und gesetzlichem Wege war die praktische Handhabung von Arbeitszeiten je nach Konjunkturentwicklung oder Veränderung der Arbeitsorganisation, etwa im Zuge der Rationalisierung, zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft auszuhandeln. Das Unternehmen ist daher als ein wichtiger Raum für die Meinungsbildung in Sachen Arbeitszeitgestaltung anzusehen, in dem jedoch neben dem Konflikt der Kooperation ein anderer Stellenwert zukommt. Zwar gab und gibt es auch auf der betrieblichen Ebene zahlreiche Auseinandersetzungen um Arbeitszeiten. Aus der Sicht einer Unternehmensgeschichte, die erklären möchte, weshalb diese Form der Organisation von Arbeit gewählt wurde und sich gegenüber anderen Varianten weitgehend durchsetzte, stellt sich jedoch die umgekehrte Frage:8 Wie konnte im Betrieb der Konflikt möglichst vermieden, die Beschäftigten zur Kooperation angehalten werden? Gerade die Frage der Organisation von betrieblichen Arbeitszeiten ist in hohem Maße abhängig von der Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Der Soziologe Christoph Deutschmann betonte bereits 1985, dass sich Industriearbeit für die Arbeitnehmer als eine „sinnhafte Situation“ darstellen müsse, um den Arbeitsprozess erfolgreich organisieren zu können.9 Erst die Akzeptanz der Arbeitnehmer für das „industrielle Zeitarrangement“, das zum Beispiel eine bestimmte Zeitdisziplin voraussetzt, habe es möglich gemacht, Arbeitszeiten bei gleichbleibender oder erhöhter Produktion zu senken.10 Auf diesen Umstand verweist auch die begrenzte Verfügungsmacht der Firmenleitungen über die Handhabung der Arbeitszeiten in der Praxis, wie sie in den zahlreichen Klagen von Unternehmerseite über schwer zu verhinderndes Bummeln, unerlaubte Pausen oder eine recht freie Auslegung von Ar
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damit Krise und Krisenwahrnehmung zu trennen. Vgl.: Föllmer / Graf / Leo (2005), S. 9ff u. S. 20. Schon 1937 stellte der Ökonom Ronald Coase in dem Aufsatz „The Nature of the Firm“ die nur scheinbar naive Frage, warum Unternehmen überhaupt existieren: „Our task is to attempt to discover, why a firm emerges at all […].“ Coase (1937), S. 390. Coase erkannte im Unternehmen eine kostenreduzierende Alternative der Organisation von Produktion gegenüber dem Markt. Im Zusammenhang mit der Rezeption der Neuen Institutionenökonomik wurde diese Frage von der Unternehmensgeschichte aufgegriffen. Deutschmann (1985), S. 32. Ebd. S. 174.
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beitsbeginn und Arbeitsende zum Ausdruck kommt.11 Der Einsatz von Macht in Form von Disziplinierung und Kontrolle war eine mögliche, keineswegs aber die einzige Variante, dieses Problem zu lösen. In patriarchalisch geführten Unternehmen des Kaiserreichs, wie etwa Siemens oder Zeiss, wurden grundsätzliche Veränderungen der Arbeitszeiten häufig keineswegs einfach angeordnet. Der Senkung von Arbeitszeiten, die wegen der damit einhergehenden Verdichtung der Arbeit bei den Beschäftigten nicht unbedingt beliebt war, ging eine intensive Kommunikation zwischen Geschäftsleitung und den Arbeitnehmern voraus. Sie war Teil eines Meinungsbildungsprozesses, im Zuge dessen auch die Ansicht der Beschäftigten erhoben wurde (vgl. Kap. 5.3). Der Wechsel der Perspektive hin zu den betrieblichen Aushandlungsprozessen um Arbeitszeiten schärft damit den Blick für die Bedeutung von Kooperation. Weshalb aber schlugen die Verhandlungen um die Senkung von Arbeitszeiten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert trotz der nicht selten anzutreffenden Bereitschaft, Arbeitszeiten im Einvernehmen mit der Belegschaft zu senken, in so vielen Fällen in Konflikte um, die noch die Arbeitsbeziehungen der Weimarer Republik stark belasteten? Und weshalb gelang die Vereinbarung neuer Arbeitszeitsenkungen in der Bundesrepublik der 1950er Jahre vergleichsweise rasch und konfliktlos? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens. Sie gründen auf der Feststellung, dass sowohl im späten Kaiserreich als auch in der frühen Bundesrepublik Teile der Unternehmerschaft Spielräume zur Senkung der Arbeitszeiten konstatierten und ihre Bereitschaft zu einer Verkürzung bekundeten (vgl. Kap. 3.2). Warum also unterscheidet sich die Art der Nutzung dieser Spielräume zur Verkürzung der Arbeitszeiten in beiden Zeiträumen so deutlich? Diese Arbeit möchte eine alternative Erklärung für den betrieblichen Umgang mit Arbeitszeiten in Deutschland herausarbeiten, die sich weniger an wirtschaftsoder politikgeschichtlichen denn an kulturgeschichtlichen Zugängen orientiert. Sie rückt das Selbstverständnis der Unternehmer in den Vordergrund: ihre Vorstellungen davon, wie ein Betrieb geordnet sein sollte, welche Regeln darin zu gelten hatten und welche Funktionen dem Unternehmen innerhalb der Gesellschaft zukamen. Analytisch verdichten lassen sich diese Vorstellungen im Konzept des „Patriarchalismus“ für das späte 19., frühe 20. Jahrhundert und der „Sozialpartnerschaft“ für die Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre. Sie werden im Folgenden als analytische Kategorien verstanden, mit Hilfe derer Dispositionen und Handlungskontexte der untersuchten Akteure konzeptionell verortet werden – im Wissen darum, dass es sich dabei weder um alleingültige noch um völlig trennscharfe Konzepte handelt. Sowohl die begriffliche als auch die inhaltliche Unterscheidung zwischen „Patriarchalismus“ und „Sozialpartnerschaft“ ist eine idealtypische, schließlich bestehen bei aller Verschiedenheit auch wichtige inhaltliche Kontinuitäten. Dennoch prägten diese Ordnungsvorstellungen die Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ durch die Unternehmerschaft im 19. und 20. 11
Vgl.: Lüdtke (1980). Zur Kritik an der Gleichsetzung normativer Quellen, wie etwa Fabrikordnungen, mit der tatsächlichen Arbeitsorganisation vgl.: Wirtz (1982).
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Jahrhundert und engten damit die von ihnen ausgemachten Handlungsspielräume auf bestimmte Pfade ein. Relevant wurden die Ordnungsvorstellungen für den Umgang mit der „Arbeitszeitfrage“ insbesondere deshalb, weil die Diskussionen um die Zukunft der Arbeitszeiten sowohl im späten Kaiserreich als auch in der Bundesrepublik der 1950er Jahre für die Unternehmer Phasen der Unsicherheit darstellten (vgl. Kap. 3.4). Es war zwar absehbar, dass Arbeitszeiten gesenkt werden würden; keineswegs aber zeichnete sich von vorneherein ab, auf der Grundlage welcher Regelungen das der Fall sein würde, in welchem Zeitraum und Umfang Arbeitszeiten zu senken sein würden. In dieser Situation konnten Unternehmer keineswegs auf umfassend vorhandene und objektiv nachvollziehbare Informationen zurückgreifen, um ihre Entscheidungen zu treffen. Im Gegenteil, die Anforderungen an den Umgang mit Arbeitszeiten lagen nicht einfach vor. Es war vonnöten, zunächst eine Interpretationsleistung zu erbringen. Dafür sprechen schon die intensiven Debatten innerhalb der Unternehmerschaft darüber, wie mit der Arbeitszeitfrage umzugehen sei. Auf der einen Seite handelte es sich dabei um strategische Absprachen mit dem Ziel, sich durch möglichst einheitliches Vorgehen Handlungsmacht zu verschaffen. Auf der anderen Seite sind diese Absprachen Bestandteil des Versuchs, zu einer Einschätzung der Situation zu kommen und können daher als Ausdruck der Unsicherheit und gleichzeitig als Teil des Interpretationsprozesses gewertet werden. Die medial geführten Arbeitszeitdebatten mussten in den Unternehmen rezipiert werden, Informationen wollten beschafft, ausgewählt und gedeutet werden. Die gefundene Position musste wiederum mit anderen Unternehmern abgestimmt werden. In dieser Situation, so die leitende These der Arbeit, boten die Ordnungsvorstellungen Orientierung: Sie bildeten den Hintergrund, vor dem die Debatten über die Gestaltung der Arbeitszeiten gedeutet wurden. Indem sie grundlegende Annahmen über das Verhältnis des Unternehmens zur Gesellschaft und zur Beziehung zwischen Belegschaft und Firmenleitung enthielten, legten sie jeweils bestimmte Deutungen der „Arbeitszeitfrage“ nahe.12 Darüber hinaus waren es die in Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft angelegten Annahmen über die Ordnung der Arbeitsbeziehungen, die mit darüber bestimmten, welche Informationen im Unternehmen überhaupt für relevant erachtet wurden. Dadurch beeinflussten sie die Organisation der Kommunikationsprozesse im Unternehmen. Über die Bewertung von Informationen hinaus hatten die Ordnungsvorstellungen also strukturelle Auswirkungen auf die Beschaffung und Kommunikation von Informationen über die „Arbeitszeitfrage“ im Unternehmen. Die Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ seitens der Unternehmer im späten 19., frühen 20. Jahrhundert und den 1950er und 1960er Jahren war damit geprägt von Ordnungsvorstellungen, die Bewertung und Auswahl der vorhandenen Informationen beeinflussten – was nicht folgenlos blieb. Die patriarchalische Ordnungsvorstellung des Kaiserreichs war geeignet, 12
Das gilt nicht allein für die Deutung der „Arbeitszeitfrage“. Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft sind als übergreifende Ordnungsvorstellungen zu verstehen, die allgemein die Situationsdeutung der Akteure beeinflussten.
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eine Dynamik gegen die Senkung der Arbeitszeiten zu erzeugen, da sie ausschließlich das Unternehmen zum einzigen Ort der Aushandlung von Arbeitszeiten machte. Demgegenüber legte das sozialpartnerschaftliche Konzept die Bereitschaft zur Verkürzung der Arbeitszeiten in der Bundesrepublik deutlich näher. Der gewählte Fokus auf die Rolle von Ordnungsvorstellungen für die Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ in der Unternehmerschaft ist zwar nicht geeignet, um über die Deutung hinaus konkrete Zusammenhänge zum Verlauf der Arbeitszeitsenkung herzustellen. Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft können jedoch als prägende Faktoren für die Bedingungen gelten, innerhalb derer die Senkung der Arbeitszeiten in Unternehmen ausgehandelt wurde, was die Situationsdeutung ebenso einschließt, wie die Frage nach ihrem Niederschlag in der Organisation von Kommunikation. Mit der Frage nach der Deutung der Arbeitszeitdebatten innerhalb der Unternehmerschaft werden naturgemäß weitere Faktoren der Arbeitszeitgestaltung, wie etwa die Konjunktur oder politische Entscheidungen, zugunsten einer zusätzlichen erklärenden Variable in den Kontext verbannt, ohne dass damit deren Bedeutung relativiert werden soll. Auch soll mit dem Fokus auf die Rolle von Ordnungsvorstellungen nicht die Lesart der Arbeitszeitgeschichte umgestoßen, gar ein „GegenNarrativ“ zum Konflikt entworfen werden. Diese neue Perspektivierung rückt jedoch abseits des Konflikts einen weiteren Strang der historischen Auseinandersetzung mit der Gestaltung von Arbeitszeiten in den Blick. Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft waren Konzepte für eine kooperative Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Indem ihre Auswirkung auf die Aushandlung von Arbeitszeiten untersucht wird, rücken dementsprechend konsensuale Deutungen und Verhaltensweisen bei der Verhandlung von Arbeitszeiten in den Vordergrund. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den in den Ordnungsvorstellungen angelegten Konzepten von Kooperation um Idealtypen handelte, die in erster Linie auf die Stamm- beziehungsweise Facharbeiterschaft abzielten. Dennoch sind sie als ein Bestandteil der Geschichte der Arbeitszeitgestaltung zu betrachten – ohne dass damit die Rolle des Konflikts oder der Gewerkschaften an Bedeutung verliert. Diese Herangehensweise ist Ausdruck der Überzeugung, dass sich die Geschichte der Arbeitszeiten ebenso wenig in einer Geschichte des Kampfes zwischen Arbeit und Kapital erschöpfen kann, wie in einer Politikgeschichte, welche Debatten und Positionen von Parteien oder gesetzliche Beschränkungen zum Ausgangspunkt der Arbeitszeitgeschichte und ihrer Chronologie macht. Vielmehr gilt es, die Aushandlungsprozesse und damit die zeitgenössische Deutung von Arbeitszeiten nachzuvollziehen, wie es die unternehmensgeschichtliche Perspektive ermöglicht.
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1.2 FORSCHUNGSSTAND Kulturelle Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung Mit ihren Zielsetzungen und der gewählten Vorgehensweise schreibt sich diese Arbeit in eine noch junge Debatte ein, in der sich eine Neuformulierung der Geschichtsschreibung der Industriearbeit abzeichnet. In ihrer Stoßrichtung geht sie über eine bloße Integration der seit dem Cultural Turn generierten Erkenntnisse und Ansätze hinaus.13 Paradigmatisch für diese Neuerung steht insbesondere ein jüngst von Karsten Uhl und Lars Bluma herausgegebener Sammelband über den industriellen Arbeitsplatz, der sich durch seine Experimentierfreudigkeit mit einer Vielfalt an Perspektiven und konzeptionellen Ansätzen auszeichnet. Uhl und Bluma konstatieren darin einen Mangel an „großen methodischen Neuerungen“ in der Geschichte der Industriearbeit und fordern eine perspektivische wie methodische Öffnung.14 Explizit wenden sie sich gegen das „Paradigma der Sozialdisziplinierung“. Disziplin und Kontrolle im Betrieb sollen damit nicht ausgeblendet werden, es gelte aber „dem Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Formen der Macht nachzugehen und nicht die Dominanz einer Form a priori vorauszusetzen.“15 Damit stellen sie sich der Aufgabe, die Bedenken ins Positive zu wenden, die in den letzten Jahren an der Geschichtsschreibung der Arbeit zunehmend geäußert wurden. So hat etwa Werner Plumpe darauf hingewiesen, dass die Bereitschaft der Arbeitnehmer, sich in den Betrieb zu integrieren, häufig weitaus höher gewesen sei, als es ihre „Klassenlage“ eigentlich erlauben würde.16 Auch Toni Pierenkemper und Klaus Zimmermann haben hinterfragt, ob „sozialen Ungleichheiten als angemessene Kategorie der Arbeitergeschichtsschreibung“ ein so großes Gewicht zukommen müsse.17 Sie plädieren dafür, beispielsweise das sogenannte „Normalarbeitsverhältnis“ als eine Projektionsfläche von Erwartungen, als eine Konstruktion der Wirtschaftswunderzeit, zu betrachten und es nicht als Maßstab für die Bewertung von historischen Arbeitsverhältnissen heranzuziehen.18 Mit diesen Ansätzen ist die Abwendung von einer politikgeschichtlich ausgerichteten Perspektive verbunden, in welcher die Entwicklung betrieblicher Sozialbeziehungen mit derjenigen rechtlicher Normen, etwa die Mitbestimmung betreffend, gleichgesetzt wird.19 Denn der rechtliche Rahmen bestimmt das Verhalten der Akteure in den industriellen Beziehungen nur zu einem gewissen Grad, wie Wer 13
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So hielten etwa Geschlechter- und Diskursgeschichte schon vor einiger Zeit Einzug in die Geschichte der Arbeit. Einige dieser Ansätze versammelt ein von Jürgen Kocka herausgegebener Band: Vgl.: Ebd. (2010). Uhl / Bluma (2012), S. 9f. Ebd. S. 13. Plumpe (2006), S. 418. Pierenkemper / Zimmermann (2009), S. 233. Vgl.: Ebd. S. 232 u. S. 237. Diese perspektivische Verengung der Unternehmensgeschichte beklagt z.B. auch Ruth Rosenberger für die Geschichte der betrieblichen Sozialpolitik. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 19.
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ner Plumpe feststellt. Plumpe betont demgegenüber die Bedeutung der jeweiligen Selbstbeschreibungen der Akteure, die letztlich „situativ-kontingent“ handeln.20 Thomas Welskopp hat der Arbeitergeschichte bereits 1994 vorgeworfen, „betriebs-blind“ zu sein, und dadurch die Komplexität der innerbetrieblichen Sozialbeziehungen zu vernachlässigen.21 Indem der Betrieb nicht allein als Austragungsort von Konflikten in den Blick gerät, sondern als Ort komplexer Beziehungsgefüge, erhält er überdies eine stärker gesellschaftsgeschichtliche Dimension. Unternehmen und Gesellschaft stehen in einem wechselseitigen Verhältnis, wie die Soziologin Andrea Maurer betont. Strukturelle Form und Veränderung von Unternehmen sind Gegenstand öffentlicher Debatten, zudem sind sie Orte der Sozialisation großer Teile der Bevölkerung.22 Auch Hartmut Berghoff spricht von Unternehmen als „Kristallisationspunkten“ gesellschaftlicher Werte und Normen und fordert daher eine gesellschaftsgeschichtlich ausgerichtete Unternehmensgeschichte.23 Werden diese Hinweise ernst genommen, eröffnen sich neue Perspektiven für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung von Unternehmen. So untersucht etwa Timo Luks die Diskurse über die Ordnung von Industriebetrieben, die er als eine Form der Auseinandersetzung mit der Moderne begreift. Indem er die diskursive Thematisierung des Unternehmens in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive in den Blick nimmt, beschreitet Luks einen neuen Weg, das Unternehmen als Forschungsgegenstand zu fassen, ohne diesen Zugang überhaupt noch innerhalb der Industrie- oder Unternehmensgeschichte zu verorten oder sich von ihr explizit abzugrenzen.24 Derartige Überlegungen können von unternehmens- und wirtschaftsgeschichtlichen Studien profitieren, die in den letzten Jahren Annahmen über die Funktionsweise des Unternehmens als einer rein an ökonomischer Effizienz ausgerichteten Organisation relativiert, und demgegenüber die Bedeutung sozialer und kultureller Faktoren hervorgehoben haben.25 Gegenüber der formalen Organisationsstruktur gilt es, dieser Herangehensweise folgend, die sozialen Interaktionsprozesse in den Blick zu nehmen, die von informellen Aushandlungsprozessen und Handlungsroutinen geprägt sind, die sich einer einfachen Steuerung entziehen.26 Damit einher ging häufig auch eine Kritik an Annahmen über ökono 20 21 22 23
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Plumpe (2006), S. 411. Welskopp (1994a), S. 28. Vgl.: Maurer (2008), S. 17f u. S. 25f. Berghoff (2004), S. 137. Berghoff fordert dementsprechend einen Bezug der Unternehmensgeschichte zu übergeordneten Fragestellungen, was eine theoriegeleitete Vorgehensweise notwendig mache. Vgl.: Ebd. S. 139. Vgl.: Luks (2010), S. 48. Vgl. u.a.: Wischermann (2003), sowie die Beiträge in: Berghoff / Vogel (2004); Hesse / Kleinschmidt / Lauschke (2002). Aber auch von Seiten der Wirtschafts- beziehungsweise Organisationswissenschaften wird diesen Faktoren zunehmend Aufmerksamkeit zuteil, vgl. u.a.: Ortmann / Sydow / Türk (1997); Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (2004). Vgl.: Welskopp / Lauschke (1994), S. 10.
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misches Handeln. Die Vorstellung voll informierter und ökonomisch-rational handelnder Akteure wurde mittlerweile in weiten Teilen der Wirtschaftsgeschichte verworfen, stattdessen die Rolle kulturell gebundener Rationalitäten betont.27 Insofern wäre es zu einfach, anzunehmen, die Unternehmerschaft habe in Bezug auf die Gestaltung von Arbeitszeiten und deren Verhandlung eindeutige Präferenzen gehabt, die sich aus ökonomischen Notwendigkeiten oder der ihnen im Klassenkampf zukommenden Position ableiten ließen. Vielmehr muss bei der Untersuchung der Aushandlung von betrieblichen Arbeitszeiten Berücksichtigung finden, wie sich Unternehmer beziehungsweise Firmenleitungen als Akteure definierten. Die damit verbundenen Rollenzuschreibungen hatten Folgen für ihr Verhalten und damit für das Ergebnis des Aushandlungsprozesses von Arbeitszeiten. Damit ist bereits die Perspektive dieser Arbeit formuliert. Im Vordergrund steht die Rolle einer bestimmten Akteursgruppe im Aushandlungsprozess betrieblicher Arbeitszeiten: diejenige von Unternehmern. Die so perspektivierte Frage nach den kulturellen Bedingungen der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung ist die Konsequenz aus der Feststellung, dass die historische Entwicklung der Arbeitszeiten in Industriebetrieben weder als alleinige Folge gesetzlicher Regelungen, als Ergebnis eines Klassenkampfs, noch als ökonomische Variable, als „Stellschraube“ der Organisation von Arbeit, erschöpfend erklärt werden kann. In diesem Sinne trägt der hier gewählte Zugang auch den Ergebnissen von Studien über die Geschichte der „Zeit“ Rechnung, die in den letzten Jahren deren inhärent sozialen Charakter betonten.28 Zeitliche Ordnungen sind demnach das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Auch die Wahrnehmung und die Funktion von Arbeitszeiten änderten sich seit dem 19. Jahrhundert, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Herausbildung von Freizeit als einem eigenständigen Bereich der Zeitnutzung mit spezifischen Zuschreibungen und Funktionen.29 Die Feststellung, dass die „Interessen von Arbeitgebern hinsichtlich der Arbeitszeit […] unter der prinzipiellen Anforderung ökonomisch rationaler Ressourcennutzung“ stehen, ist vor diesem Hintergrund zumindest zu relativieren.30 Der Industriesoziologe Paul Blyton hat einleitend zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband zum Zusammenhang von „Time, Work and Organisation“ eingewandt, dass gerade die Zeitverwendung im Betrieb nicht mit Hilfe ökonomischer Rationalität erklärt werden könne und plädierte stattdessen für eine stärkere Beachtung informeller Arbeitszeitregelungen.31 John Hassard beklagt im 27 28
29 30 31
Vgl.: Wischermann (2004), S. 26f. Darauf haben nicht zuletzt sozialpsychologische und soziologische Studien hingewiesen. Vgl. dazu: Morgenroth (2008); sowie: Adam (1990) und ebd. (2004). Eine kulturhistorische Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Zeit“ forderte z.B. Peter Burke. Vgl.: Ebd. (2004). Vgl. dazu z.B.: Muri (2004); Rojek (1985); Maase (1994). Promberger (2009), S. 162. Vgl.: Blyton (1989), S. 6f. Auch Orlikowski / Yates betonen die soziale Bedingtheit von Zeitordnungen in Organisationen. Vgl.: Ebd. (2002), S. 684f. Die Bedeutung von individueller wie kollektiver Zeitwahrnehmung für die Organisation von Arbeitszeiten findet mittlerweile auch in der Managementwissenschaft Beachtung. Vgl.: Ancona (2001).
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selben Band eine Vernachlässigung der qualitativen Dimension von Arbeitszeiten und bekräftigt die Bedeutung der Eigenmacht der Beschäftigten bei der Gestaltung ganz eigener Zeitverwendungsmuster im Betrieb, die von einer optimalen Lösung technischer oder organisatorischer Anforderungen weit entfernt sein können.32 Wer wollte leugnen, dass gerade Arbeitszeiten auch schlicht einen enormen symbolischen Gehalt haben? Im frühen 20. Jahrhundert wurde nicht einfach um die ökonomischen Spielräume oder die soziale Notwendigkeit verkürzter Arbeitszeiten diskutiert, sondern um eine symbolische Marke gerungen: den Achtstundentag. Es scheint keine sehr gewagte These, zu behaupten, dass dieser Umstand für die Positionierung der Akteure in den Verhandlungen um die Arbeitszeitsenkung eine wichtige Rolle spielte. Seit dem Cultural Turn kann es jedoch nicht damit getan sein, auf die Dimension von Symbolik und Deutung zu verweisen: Vielmehr gilt es, diese zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, sie als erklärende Variable zu etablieren. Die jüngsten Reflexionen über die künftige Gestalt einer Geschichte der Arbeit, die Ergebnisse der Forschungen zum Phänomen „Zeit“ und die kulturgeschichtliche Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte lassen es geboten erscheinen, die Geschichte der Arbeitszeiten um diese zusätzliche Erklärungsebene zu erweitern. Sie sensibilisieren insbesondere für die Bedeutung kultureller Faktoren im Prozess der Arbeitszeitgestaltung, wie sie auch die hier thematisierten Ordnungsvorstellungen darstellen. Diese Dimension der Arbeitszeitgestaltung fand bislang keine systematische Berücksichtigung. In den 1980er Jahren erlebte die Arbeitszeitgeschichte ihre Hochkonjunktur, geleitet ganz überwiegend von der Frage nach der Rolle der Gewerkschaften und den um Arbeitszeiten geführten Arbeitskämpfen.33 Die bis heute umfangreichste Darstellung des gewerkschaftlichen Engagements für die Arbeitszeitsenkung vom 19. bis ins 20. Jahrhundert wurde 1987 von Günter Scharf veröffentlicht.34 Auch die vorhandenen Datengrundlagen über die Dauer und Verteilung von Arbeitszeiten stammen überwiegend aus den 1980er Jahren. In Ermangelung umfassenderer Studien galt bis dahin die 1958 erschienene Dissertation von Ruth Meinert de facto als Standardwerk für die Geschichte der Arbeitszeiten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, obwohl ihre Datengrundlage häufig bemängelt wurde.35 Wilhelm Schröder veröffentlichte 1980 den ersten größeren Forschungsbericht, in dem er Umfang und Entwicklung der Arbeitszeitsenkung im 19. Jahrhundert darlegte und umfangreiche Daten über die Arbeitszeitentwick 32 33 34 35
Vgl.: Hassard (1989), S. 21f. Vgl. u.a.: Otto (1989); Schneider (1984); Leuchten (1978); Hinrichs (1988). Vgl.: Scharf (1987). Vgl.: Meinert (1958). Bis heute dient die Dissertation von Ruth Meinert noch als Datengrundlage. Zitiert wird Meinert z.B. von Spoerer / Streb (2008), sowie von Schildt (1995). Kritisiert wurden die Daten Meinerts insbesondere von Jürgen Bönigs, der ihre Schätzungen für die Weimarer Republik schon aufgrund der Heterogenität der gesetzlichen Regelungen für „problematisch“ hält. Vgl.: Ebd. (1980), S. 309. Vgl. zur Kritik an den Daten Meinerts außerdem: Schröder (1980), S. 252.
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lung sowie die Anzahl von Streiks und Tarifverträgen zusammenstellte.36 Schröders Artikel gibt jedoch in erster Linie Aufschluss über die durchschnittlichen Arbeitszeiten, was leicht über ein zentrales Merkmal von Arbeitszeiten hinwegtäuscht: Sie unterscheiden sich schon auf der nationalen Ebene je nach Branche, Region, konjunktureller Entwicklung oder schlicht der Art des Beschäftigungsverhältnisses und des Einsatzortes im Produktionsprozess deutlich. Zumal die zugrunde liegenden Daten zumindest für das Kaiserreich nach wie vor spärlich sind, weil sie häufig nur für bestimmte Branchen oder einzelne Unternehmen vorliegen.37 Zu erklären ist das Interesse an der Geschichte der Arbeitszeiten in den 1980er Jahren vor dem Hintergrund einer seit den späten 1970er Jahren geführten Diskussion um die Ablösung des bundesrepublikanischen Arbeitszeitregimes, dem „Normalarbeitstag“, durch eine allumfassende „Flexibilisierung“ und angesichts von Forderungen der Gewerkschaften, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit die Arbeitszeiten aus beschäftigungspolitischen Gründen weiter zu senken. Erste umfangreiche Studien über die langfristige historische Entwicklung von Arbeitszeiten fertigten die Soziologen Christoph Deutschmann, Edwin Schudlich und Karl Hinrichs daher ausgehend von der Frage nach dem Ursprung des „Normalarbeitstages“ an.38 Im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts erhoben Deutschmann und Schudlich die bis heute differenziertesten Daten über die historische Entwicklung der Arbeitszeiten in Deutschland.39 Deutschmann stützte sich in seiner Untersuchung auch auf Quellen der Unternehmen selbst und trug damit wesentlich dazu bei, auf die starken branchenspezifischen, konjunkturellen und saisonalen Schwankungen der Arbeitszeiten aufmerksam zu machen. Die Arbeit von Deutschmann hebt sich zusätzlich dadurch hervor, dass er den Trend zur Verkürzung der Arbeitszeit im 19. Jahrhundert nicht in erster Linie auf technische oder konjunkturelle Entwicklungen zurückführt, sondern eine sozial-kulturelle Erklärung in Betracht zieht. Demzufolge war eine notwendige Voraussetzung sinkender Arbeitszeiten die Akzeptanz eines „industriellen Zeitarrangements“ durch die Arbeitnehmer, die sich die damit verbundene Wertschätzung von Zeit aneigneten.40 Seit dem Boom der Arbeitszeitgeschichte in den 1980er Jahren wurde über die langfristigen Trends der Arbeitszeitentwicklung und deren Beschäftigungseffekt diskutiert beziehungsweise die Bedeutung des Beschäftigungsmotivs in den Verhandlungen um Arbeitszeiten eruiert.41 Nach wie vor dominieren nationale Fallstudien, historische internationale Vergleiche zur Entwicklung der Arbeitszei 36 37 38 39 40 41
Vgl.: Schröder (1980). Zur Quellenlage vgl.: Seifert (1987). An seiner Einschätzung einer stark fragmentierten und z.T. sehr dürftigen Quellenlage hat sich seitdem nichts verändert. Vgl.: Deutschmann (1985); Schudlich (1987); Hinrichs (1988). Vgl.: Schudlich (1987); Deutschmann (1985). Deutschmann (1985), S. 180f. Zur Diskussion um Arbeitszeiten und Beschäftigung vgl.: Schildt (2006); Spoerer / Streb (2008); Schildt (2008); Promberger (2009).
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ten sind rar. Eine Ausnahme ist die Arbeit von Michael Huberman, der in vergleichender Perspektive zu dem Ergebnis kommt, internationale Trends in der Arbeitszeitentwicklung ließen sich kaum ausmachen, zu unterschiedlich sei die Entwicklung der Arbeitszeiten in den jeweiligen nationalen Kontexten.42 Allerdings sei noch vor dem Ersten Weltkrieg eine zunehmende Verringerung dieser Unterschiede eingeleitet worden.43 Auch bei Huberman liegt das Problem darin, dass er ausgehend von einem im 20. Jahrhundert entwickelten Idealtypus normierter Arbeitszeitstandards nach deren historischer Entwicklung sucht. Dabei ist das Kennzeichen von Arbeitszeiten eher in deren Diversität, ihrer Flexibilität und kulturellen Gebundenheit im spezifischen historischen Kontext zu suchen. Es gilt daher, die unterschiedlichen Wahrnehmungen, die kulturellen Bedingungen der Aushandlung und Gestaltung von Zeit im Allgemeinen und Arbeitszeit im Speziellen zum Gegenstand zu machen. Arbeitszeitgeschichte in unternehmensgeschichtlicher Perspektive Der unternehmensgeschichtliche Zugang soll angesichts der grundsätzlichen Variabilität der Arbeitszeitgestaltung den Kanon der Ursachen für die Art ihrer Aushandlung erweitern helfen. Das Potenzial dieser Perspektive liegt gerade darin, einen Beitrag zur Frage nach den sozialen und kulturellen Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung leisten zu können, indem sie die betrieblichen Akteure in ihrer kulturellen Gebundenheit in den Blick nimmt. Dazu gehört auch die Firmenleitung, deren Verhalten nicht allein auf der Basis ökonomisch rationalen Handelns erklärt werden kann. Diese Frage nach der unternehmerischen Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ ist aufgrund der perspektivischen Verengung der Arbeitszeitgeschichte auf die Arbeiter- beziehungsweise Gewerkschaftsgeschichte bislang nicht gestellt oder unter Verweis auf vermeintliche ökonomische Logiken allzu schematisch beantwortet worden. Das hat durchaus Tradition, deckt es sich doch mit zeitgenössischen Unternehmerbildern des 19. Jahrhunderts, denen das Konzept des Klassenkampfes zugrunde lag. Ein solches Unternehmerverständnis hatten beispielsweise Gustav Schmoller und andere Mitglieder des „Vereins für Socialpolitik“. In den Geschichtlichen Grundbegriffen heißt es über Schmollers Unternehmerbegriff, dieser sehe im Unternehmer die „Verkörperung der unschönen, harten, materialistischen Züge seiner Klasse“.44 Die in diesem Unternehmerverständnis enthaltenen Rollenerwartungen entbanden gleichzeitig von der Notwendigkeit, unternehmerische Handlungsmotive einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Dies ist freilich nur eine Form der Thematisierung des Unternehmers, allerdings eine in der Geschichtswissenschaft recht dominante. Eine verbindliche 42 43 44
Vgl.: Huberman (2004), S. 967. Vgl.: Ebd. S. 992. Huberman betont auch, der Erfolg der Gewerkschaften bei der Durchsetzung kürzerer Arbeitszeiten sei sehr unterschiedlich gewesen. Vgl.: Ebd. S. 989. Jaeger (1990), S. 717.
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Definition dessen, was einen Unternehmer eigentlich ausmacht, gibt es nicht; vielmehr wurde der Begriff zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen historischen Akteuren ganz unterschiedlich gefüllt. Wenn im Folgenden von „unternehmerischem“ Selbstverständnis die Rede ist, so liegt dem ein pragmatischer Unternehmerbegriff zugrunde, der sich an den Quellen orientiert. Meistens bezieht sich das dort zu Tage tretende Selbstverständnis nicht auf eine bestimmte Person, sondern auf die Art der Unternehmensführung, was den Eigentümer-Unternehmer ebenso einschließen kann wie die Mitglieder der Unternehmensleitung einer Aktiengesellschaft. Letztlich bezieht sich das in den Ordnungsvorstellungen angelegte idealtypische patriarchalische beziehungsweise sozialpartnerschaftliche Unternehmerbild auf diejenigen Personen, die am Prozess der Entscheidungsfindung im Unternehmen beteiligt sind und darin über Entscheidungsmacht verfügen. Sich dem Selbstverständnis einer so verstandenen „Unternehmerschaft“ als erklärendem Faktor für die Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ zuzuwenden, scheint auch vor dem Hintergrund neuerer Studien gerechtfertigt, welche die Bedeutung des Unternehmens als einem sozialen Raum betonen. Sie wenden sich ab von der Vorstellung eines von „oben“ nach „unten“ durchregierten Unternehmens und betonen den sozio-kulturellen Kontext, innerhalb dessen eine Firmenleitung agierte. Thomas Welskopp hat darauf hingewiesen, dass die von Unternehmern beanspruchte Autonomie der Entscheidungsfindung keineswegs in tatsächliche Handlungsautonomie und Kontrolle übersetzt werden kann.45 Welskopp geht so weit, der Kontrolle durch die Betriebsleitung in vielen Fällen nicht mehr als symbolischen Wert zu attestieren.46 Auch Werner Plumpe warnt davor, die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmensleitungen zu überschätzen. Stattdessen legt er nahe, das Unternehmen als einen sozialen Raum zu verstehen, der seine Gestalt in der Interaktion zwischen verschiedenen betrieblichen Akteuren erhält.47 Das Unternehmen sei zwar eine zweckgerichtete Organisation, diese könne aber „das zweckgerichtete Verhalten ihrer Akteure nicht erzwingen, sondern nur in einem permanenten Aushandlungsprozess jeweils neu sicherstellen“.48 Es liegt nahe, auch die Gestaltung betrieblicher Arbeitszeiten als einen Aushandlungs- und damit als einen Kommunikationsprozess zu verstehen und gerade die Rolle der Firmenleitungen innerhalb dieses Prozesses einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie die Mitglieder von Firmenleitungen ihre Situation bezüglich der Arbeitszeitgestaltung wahrnahmen. Wie wichtig dieser Umstand für die Untersuchung betrieblicher Entscheidungsprozesse ist, hat noch einmal Werner Plumpe formuliert: „Bei Entscheidungen handelt es sich um komplexe Kommunikationsprozesse, die nicht auf ‚objektive Lagewahrnehmungen‘ zurückgehen, die dann mit rationalen Strategien bearbeitet
45 46 47 48
Vgl.: Welskopp (1994a), S. 345. Vgl.: Ebd. S. 555. Vgl.: Plumpe (2006), S. 418f. Ebd. S. 420.
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werden, sondern der Entscheidungsdruck und die sich anschließenden Kommunikationen sind in einem strengen Sinne selbsterzeugt [...].“49
Was die Firmenleitung in einer so gleichermaßen selbst definierten Ausgangssituation wahrnehme, „hängt davon ab, wer was wie beobachtet und kommuniziert, was als Information behandelt, verarbeitet, was als Wissen angesehen und wie gespeichert bzw. jeweils transferiert wird.“ Plumpe weist auch darauf hin, dass die formalen Kommunikationsstrukturen nur ein Element dieses Prozesses der Entscheidungsfindung darstellen und daher auch informelle Kommunikation und spezifische „Entscheidungssemantiken“ Berücksichtigung finden müssen.50 Damit ist jene Ebene der Entscheidungsfindung angesprochen, die anhand der Rezeption und Interpretation der „Arbeitszeitfrage“ durch Firmenleitungen und Unternehmer im Folgenden untersucht wird. Der Fokus liegt auf den diesen Interpretationsprozess prägenden kulturellen Kontexten, in denen sich die Akteure bewegten, in diesem Fall deren Ordnungsvorstellungen. Das diesen Überlegungen zugrunde liegende Unternehmensverständnis wurde entscheidend durch die Arbeiten Clemens Wischermanns geprägt. Er hat vorgeschlagen, das Unternehmen als eine Deutungsgemeinschaft zu verstehen, womit er die kulturellen Bedingungen der Organisation von Unternehmen in den Vordergrund rückt.51 Damit erteilt Wischermann der Vorstellung eine Absage, man habe es im Unternehmen mit Akteuren zu tun, deren Handlungspräferenzen sich allein aus einem ökonomisch verstandenen Rationalitätsbegriff oder beispielsweise ihrer Position im Klassenkampf ableiten ließen. Stattdessen gewinnen die Deutungskontexte an Relevanz, innerhalb derer sich die Akteure selbst verorten, und welche die Wahrnehmung ihres Handelns beeinflussen. Gerade in Bezug auf die Frage nach der Rolle von Kooperation innerhalb der industriellen Beziehungen wurde immer wieder auf die Bedeutung der Vorstellungswelt der Akteure verwiesen. So spricht etwa Werner Abelshauser bei der Beschreibung der „Deutschland AG“ als einer besonderen Variante der korporativen Marktwirtschaft von einem „Geist“, „der diesen organisatorischen Rahmen ausfüllt“. Den Begriff des „Geistes“ fasst er als „weithin akzeptierte Denk- und Handlungsweisen“ auf, die „zu Spielregeln geronnen“ seien.52 Hartmut Berghoff wiederum definiert den Patriarchalismus als ein „kollektives Ethos“, das „die detaillierte Regelung jeder nur denkbaren Frage in Form von Arbeitsverträgen oder -ordnungen“ ersetze, wobei er dieses Ethos analytisch wiederum mit Hilfe des Konzepts der Unternehmenskultur fasst.53 Es vermischen sich hier ideen- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze mit eher vagen Verweisen auf deren Bedeutung 49 50 51
52 53
Plumpe (2003), S. 153. Ebd. Vgl. zum Begriff des Unternehmens als Deutungsgemeinschaft: Wischermann (2000), S. 39f; sowie ebd. (2003) S. 86ff. Zur kulturellen Prägung von Unternehmen vgl. außerdem: Ebd. (1998); ebd. (2004). Abelshauser (2009), S. 459. Berghoff (1997), S. 173.
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für die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Dabei können beide Ansätze voneinander profitieren. In seiner Studie über die Sozialgeschichte des ElitenKonzepts hat Morten Reitmayer auch dessen Bedeutung für unternehmerische Leitbilder der bundesdeutschen Nachkriegszeit untersucht, denen er „Orientierungssicherheit, Legitimationsleistung und Handlungsleitung“ attestiert.54 Auf diese Ergebnisse hinsichtlich der Entwicklung und Bedeutung unternehmerischer Leitbilder kann bei der Bestimmung der Rolle der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung aufgebaut werden. Gleiches gilt für die Dissertation von Ruth Rosenberger, die den von ihr untersuchten Aufstieg betrieblicher Sozialexperten in der Nachkriegszeit in enge Beziehung zu betrieblichen Ordnungskonzepten setzt und auch deren Auswirkungen auf sich verändernde unternehmerische Selbstbilder einbezieht.55 Der Patriarchalismus hingegen, hat zwar in der Unternehmensgeschichte als spezifische Form der Unternehmensführung große Aufmerksamkeit erfahren, wurde jedoch nicht systematisch als eine Form des Ordnungsdenkens thematisiert oder gar in Beziehung zu dessen Wandel und Folgen gesetzt. Um diesen Zusammenhang herzustellen kann auf übergreifende Studien über das Ordnungsdenken zurückgegriffen werden. Von besonderer Bedeutung sind hierfür die kürzlich im Rahmen eines von Thomas Etzemüller geleiteten Forschungsprojektes erschienenen Arbeiten zum Konzept des „Social Engineering“. Diese für die Moderne geradezu charakteristische Form des Ordnungsdenkens erstreckte sich vom 19. bis ins 20. Jahrhundert und umfasste weit über einzelne Nationen hinaus die Thematisierung ganz verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, von der Stadtplanung über die Politik bis hin zum Unternehmen.56 Ein von Anselm Doering-Manteuffel im Kontext desselben Projekts entstandener Beitrag über die langfristigen Konturen des Ordnungsdenkens vom 19. bis ins 20. Jahrhundert bildet eine wichtige Grundlage für die Verortung von Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft, da er die Verbindungen und Brüche zwischen den beiden Ordnungsvorstellungen thematisiert.57 Einen konzeptionellen Ausgangspunkt bietet die von Timo Luks angefertigte Studie über die Bedeutung, welche dem „Social Engineering“ als einer Form des Ordnungsdenkens für die Thematisierung des Unternehmens zukam. Luks bemängelt einen vereinfachenden, unzureichend historisierten Umgang mit dem Begriff der Ordnung, der sich häufig im Bezug auf politische oder rechtliche Strukturen erschöpfe.58 Den Begriff des Ordnungsdenkens verwendet Luks demgegenüber wesentlich offener, als einen „Modus der Problematisierung“ des Industriebetriebes, einen „spezifischen Deutungsmodus der sozialen Wirklichkeit“, im Falle seiner Untersuchung bezogen auf die Verar 54 55 56 57 58
Reitmayer (2003), S. 331. Vgl.: Rosenberger (2008). Vgl.: Etzemüller (2010); Kuchenbuch (2010); Luks (2010). Vgl.: Doering-Manteuffel (2009). Vgl.: Luks (2010), S. 47.
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beitung der Erfahrung der Moderne.59 Der Ansatz von Luks zielt allerdings auf einen diskursiven Zugang zum Phänomen der Ordnungsvorstellungen ab. Da in der vorliegenden Arbeit auch nach ihren strukturellen Folgen gefragt wird, insbesondere hinsichtlich der Kommunikationspraktiken, ist es wichtig, auch diese Dimension der Ordnungsvorstellungen zu berücksichtigen. Denn im Folgenden geht es darum nachzuvollziehen, wie sich die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Kooperationsideale in der Organisation der Sozialbeziehungen niederschlugen, und welche Folgen die durch sie geprägte Kommunikations-Praxis für Auswahl und Dichte der im Unternehmen über die „Arbeitszeitfrage“ verfügbaren Informationen hatte. Der Blick auf die Kommunikations-Praktiken erlaubt also über die Deutung der Arbeitszeitsenkung hinaus die Frage nach den praktischen Folgen dieser Deutung. Darüber hinaus eröffnet die Frage nach den praktischen Auswirkungen der Ordnungsvorstellungen eine zusätzliche Lesart der Quellen, denn die Ordnungsvorstellungen werden von den Zeitgenossen eher selten und meist indirekt inhaltlich gefasst. Was es bedeutet, ein patriarchalischer Unternehmer zu sein und sich entsprechend zu verhalten, ist nicht in einem Kodex niedergeschrieben worden. Gleichwohl liegt es kodiert vor: im Handeln der Unternehmer selbst, insbesondere in den Praktiken des Umgangs und der Kommunikation mit der Belegschaft. Welche Bedeutung „Patriarchalismus“ und „Sozialpartnerschaft“ für die zeitgenössischen Akteure hatten, muss zudem häufig aus dem abgeleitet werden, was sie für selbstverständlich hielten. Ihre Relevanz wird daher oft dort näher bestimmbar, wo Abweichungen von legitimen Deutungen in der Praxis Widerstand oder Sanktionen auslösten. Ex negativo, anhand der Grenzen des innerhalb einer Ordnungsvorstellung legitimen Verhaltens, kann also ihre Bedeutung herausgearbeitet werden. Um diese Perspektive auch konzeptionell einzubinden, werden Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft als Wissensordnungen im Sinne von Andreas Reckwitz verstanden. In der von Reckwitz formulierten Synthese praxistheoretischer Ansätze betont der Begriff der Wissensordnung das nicht-reflexive Wissen der Akteure, dessen sie sich keinesfalls bewusst sein müssen und das in ihren Praktiken Ausdruck findet.60 Indem die Ordnungsvorstellungen konzeptionell als Wissensordnungen gefasst werden, eröffnet sich eine Perspektive auf ihre handlungspraktische Dimension. Die Wissensordnungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft als „Ordnungsvorstellungen“ zu bezeichnen liegt wiederum darin begründet, dass die in ihnen angelegten Konzepte sozialer und betrieblicher Ordnung ihren inhaltlichen Kern bilden und in hohem Maße ihre Orientierungsfunktion ausmachen.
59 60
Ebd. S. 31 u. S. 35. Vgl.: Reckwitz (2010), S. 189f.
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1.3 METHODE UND QUELLEN Die vergleichende Methode Um die Bedeutung von Ordnungsvorstellungen für die Deutung der Anforderungen an die Arbeitszeitgestaltung bestimmen zu können, ist der diachrone Vergleich das Mittel der Wahl. Erst durch die Gegenüberstellung des patriarchalischen Ordnungskonzepts mit dem sozialpartnerschaftlichen können ihre jeweiligen Spezifika herausgearbeitet und mit der Deutung der „Arbeitszeitfrage“ in Beziehung gesetzt werden. Die Wahl dieser Methode wirft die Frage nach der Vergleichbarkeit der Untersuchungsgegenstände und -zeiträume auf, von Seiten der Kritiker des historischen Vergleichs häufig mit dem grundsätzlichen Einwand verbunden, durch den bei dieser Vorgehensweise notwendigen Grad der Abstraktion dem historischen Einzelfall nicht mehr gerecht zu werden. Dabei liegt das Potenzial des Vergleichs als „zentralem sozialgeschichtlichen Mittel“ gerade darin, über den Weg der Generalisierung das Singuläre erst bewerten zu können.61 Erst im Vergleich erhalten abstrakte Phänomene wie der hier untersuchte Einfluss der Ordnungsvorstellungen auf die Wahrnehmung der Arbeitszeitproblematik ihre Konturen. Den historischen Akteuren selbst ist die Deutung in den Kategorien der jeweiligen Ordnungsvorstellungen selbstverständlich, sie bedürfen häufig keiner Reflexion, die sich in einem eigenständigen, klar benennbaren Quellenkorpus widerspiegeln würde. Und auch dem Forschenden erscheinen Phänomene wie die Sozialpartnerschaft im Kontext ihrer Zeit zunächst selbsterklärend und schlüssig. Erst angesichts der inhaltlichen Verschiebungen zwischen den Ordnungsvorstellungen wird deutlich, welchen Unterschied es macht, ob die Akteure vor dem Hintergrund des einen oder des anderen Ordnungskonzepts agierten. Es ist daher die Bestimmung dieser Unterschiede durch den Vergleich, die das scheinbar Selbstverständliche erklärungsbedürftig erscheinen lässt und damit den Blick des Forschenden für die Suche nach den Ursachen historischen Handelns schärft. Darüber hinaus macht der Vergleich Leerstellen sichtbar. So wird vor dem Hintergrund des patriarchalischen Ideals einer geschlossenen betrieblichen Gemeinschaft deutlich, dass hinter den betont kooperativen Arbeitsbeziehungen der 1950er und 1960er Jahre nicht nur eine gute Konjunkturentwicklung stand, sondern auch eine deutlich veränderte Ordnungsvorstellung, die nun eine Kooperation über den „eigenen“ Betrieb hinaus legitim erscheinen ließ. Die Wahl der Vergleichszeiträume orientiert sich gemäß der zugrunde liegenden Fragestellung vor allem an den Phasen der Arbeitszeitgeschichte, ist jedoch auch in Bezug auf die Differenz der Ordnungsvorstellungen zu rechtfertigen. Die Wahl dieser Untersuchungszeiträume folgt der Erkenntnis, dass eine Untersuchung – zumal ein Vergleich – kultureller Phänomene sich nicht unbedingt an 61
Speitkamp (2004), S. 147; vgl. dazu auch: Siegrist (2003), S. 306.
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politischen Zäsuren orientieren kann.62 Ausgangsüberlegung ist, dass die Akteure in jeweils vergleichbaren Situationen agierten, allerdings vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen und mit anderen Ergebnissen. Sowohl die Zeit des späten Kaiserreichs, etwa seit den 1890er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, als auch die frühe Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre, markieren wichtige Phasen der Aushandlung von Standards über die künftige Handhabung von Arbeitszeiten, wobei vor allem die Begrenzung des Arbeitstages beziehungsweise der Arbeitswoche im Zentrum der Debatten standen. Vergleichbar sind beide Zeiträume also insofern, als sie wichtige Phasen der Geschichte der Arbeitszeitsenkung darstellen, in denen jeweils fundamentale Veränderungen angestoßen oder umgesetzt wurden. Deren gesetzliche Regulierung in der Weimarer Republik steht daher nicht für den Beginn, sondern für den Endpunkt einer bereits rund 30-jährigen Phase der Diskussion und Aushandlung von Arbeitszeitstandards.63 Im Hinblick auf die Frage nach der Wahrnehmung der Arbeitszeitverkürzung kommt dazu, dass sich um die Jahrhundertwende die Kategorien der Deutung der „Arbeitszeitfrage“ bereits verfestigt hatten. Die innerhalb der Unternehmerschaft legitime Interpretation, wie die Arbeitszeitsenkung zu handhaben sei, änderte sich in der Weimarer Republik nicht mehr grundlegend. Selbst die Aushandlungsprozesse um einen Normalarbeitstag sieht Edwin Schudlich bereits vor dem Ersten Weltkrieg als weitgehend abgeschlossen an und konstatiert eine Stagnation der Arbeitszeitdynamik bis Ende der 1940er Jahre. Eine neue Phase erheblicher Arbeitszeitverkürzungen lässt er in den 1950er Jahren beginnen. Deren Ende sieht Schudlich Mitte der 1970er Jahre eingeläutet, als nach dem Wegfall der günstigen wirtschaftlichen Bedingungen das Paradigma der Verkürzung von Arbeitszeiten durch die Forderung nach Flexibilisierung abgelöst worden sei.64 Von besonderem Interesse sind in diesem Fall die 1950er Jahre, da in dieser Zeit sowohl die Ziele der Arbeitszeitsenkung – an erster Stelle die 5-Tageund 40-Stunden-Woche – ausgehandelt als auch der Weg der tarifvertraglichen Regulierung von Arbeitszeiten beschritten wurde. Auch im zweiten Untersuchungszeitraum markiert also die tarifvertragliche Umsetzung der 40-StundenWoche seit Mitte der 1960er Jahre in erster Linie das Ende eines vor allem in den 1950er Jahren geführten Aushandlungsprozesses. Somit ist die Wahl der Untersuchungszeiträume aus der Geschichte der Arbeitszeitsenkung heraus selbst begründbar. Sie ist aber auch ausgehend von der Frage nach der Relevanz jeweils unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen gerechtfertigt. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass diese ihre Orientierungsfunktion jeweils in Situationen der Unsicherheit entfalteten, ist festzuhalten, dass 62
63 64
Thomas Welskopp hat auf die Untauglichkeit nationaler und politischer Vergleichseinheiten für kulturelle Phänomene hingewiesen und betont, gerade der Vergleich kultureller Phänomene sei geeignet, die Bedeutung politischer Einflüsse zu hinterfragen. Vgl.: Welskopp (2004), S. 281f. Vgl.: Schildt (1995), S. 73. Vgl.: Schudlich (1987), S. 13f.
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die Art und Weise der Verkürzungen weder im späten Kaiserreich noch in der frühen Bundesrepublik vorgezeichnet waren. Im späten 19. Jahrhundert war vollkommen unklar, auf der Basis welcher Regelungen die Senkung der Arbeitszeiten vollzogen würde. Einzelbetriebliche, gesetzliche und tarifvertragliche Vereinbarungen wurden diskutiert und erprobt, wobei die Debatten darum im Rahmen der zunehmend konfliktintensiven Arbeitsbeziehungen zusätzlich politisch aufgeladen wurden. Auch in den 1950er Jahren, als die Diskussion um die Senkung der Arbeitszeiten an Fahrt gewann, war noch keineswegs absehbar, dass Arbeitszeiten mittels branchenweiter tarifvertraglicher Regelungen vereinbart werden würden – ein Umstand, der in der Ex-post-Perspektive häufig vernachlässigt wird. Seit dem Kriegsende wurden Arbeitszeiten im Rahmen der geltenden gesetzlichen Mindestanforderungen vor allem auf der einzelbetrieblichen Ebene reguliert. Erst mit dem zwischen den Arbeitgeberverbänden der Metallindustrie und der IG Metall im Jahre 1956 geschlossenen sogenannten „Bremer Abkommen“ über die Einführung der 45-Stunden-Woche wurde der Pfad der tarifvertraglich organisierten Arbeitszeitsenkung eingeschlagen (vgl. Kap. 3.1). Die Frage nach der Bedeutung von Unsicherheit im Umgang mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, wird jedoch vor allem anhand der zeitgenössischen Selbsteinschätzungen zu belegen sein. Neben der Feststellung vergleichbarer Phasen der Aushandlung von Arbeitszeiten unter Bedingungen einer gewissen Unsicherheit, ist die Differenz der jeweils präsenten Ordnungsvorstellungen eine Voraussetzung für den Vergleich. Diese ist unter Verweis auf die sich verändernden Schichten des Ordnungsdenkens begründbar, wie sie Anselm Doering-Manteuffel herausgearbeitet hat.65 Ihre Trennung in der hier angedeuteten Schärfe, durch die Gegenüberstellung der Begriffe „Patriarchalismus“ und „Sozialpartnerschaft“, ist jedoch als eine analytische zu betrachten. Beides sind Idealtypen, deren Bildung das für den historischen Vergleich notwendige Abstraktionsniveau sicherstellt.66 Zwischen den Ordnungsvorstellungen bestehen durchaus Parallelen, schließlich stehen sie – wie der Begriff der Ordnung bereits andeutet – für Kontinuität innerhalb von Prozessen der Veränderung. Diesen Aspekt betont auch Anselm-Doering Manteuffel in seiner Periodisierung des Ordnungsdenkens, die von sich überlappenden Zeitschichten ausgeht.67 Eine erste Schicht des Ordnungsdenkens dauerte demnach von circa 1880 bis 1950 und war durch eine Negation des Fortschrittsbegriffs bei gleichzeitiger Betonung „ewiger“, jedenfalls dauerhafter Ordnungen gekennzeichnet. In einer zweiten Schicht von den 1930er bis in die 1980er Jahre wurde der Fortschrittsgedanke demgegenüber deutlich aufgewertet, noch immer aber in einen engen Bezug zu verbindlichen politischen und sozialen Rahmenbedingungen gesetzt. Erst seit den 1970er Jahren, dem Beginn der dritten Schicht, verloren sich diese stabilen Konturen von Ordnung, wurden Beschleunigung und Veränderung 65 66 67
Vgl.: Doering-Manteuffel (2009). Vgl.: Siegrist (2003), S. 333. Vgl.: Doering-Manteuffel (2009), S. 41.
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bestimmende Kennzeichen des Verständnisses von Ordnung.68 Die sich mit den Untersuchungszeiträumen des Vergleichs überschneidenden ersten beiden Zeitschichten des Ordnungsdenkens boten Orientierung in Zeiten der Veränderung. Im späten 19., frühen 20. Jahrhundert galt dies insbesondere für eine als Herausforderung wahrgenommene Moderne.69 Die patriarchalische Ordnungsvorstellung, als Variante der von Doering-Manteuffel diagnostizierten ersten Schicht des Ordnungsdenkens, nahm jedoch gerade nicht Bezug auf diesen Wandel, sondern betonte althergebrachte, wenn nicht vermeintlich überzeitliche Dimensionen von Ordnung, wie sie im Rekurs auf die Familie zum Ausdruck kommen. Die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung ist der zweiten Schicht des Ordnungsdenkens zuzurechnen. Sie entwickelte sich im Kontext der krisenhaften Arbeitsbeziehungen der Weimarer Republik, die Fragen der Vergemeinschaftung, der Auflösung des Konflikts auf einer überbetrieblichen Ebene besonders dringlich erscheinen ließen. Zentrale Bezugspunkte der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung lagen jedoch in der politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Stabilität. Diese Sorge um die soziale und politische Stabilität flammte in der bundesdeutschen Nachkriegszeit erneut auf. Der Rückgriff auf Ordnungskonzepte aus der Weimarer Zeit lag dabei schon deshalb nahe, weil zahlreiche Vordenker bundesrepublikanischer Ordnungsentwürfe in der Weimarer Republik sozialisiert worden waren.70 In der jungen Bundesrepublik erreichte die Popularisierung dieses Konzepts, sein Stellenwert innerhalb unternehmerischer Rhetorik und Praxis jedoch eine neue Dimension (vgl. Kap. 2.2). Beide Ordnungsvorstellungen gehören damit „Schichten“ des Ordnungsdenkens an, die ihre jeweilige Konturierung in unterschiedlichen historischen Kontexten gewannen. Beide zeichnen sich durch ihre Verweise auf Elemente der sozialen Stabilität aus, die sich etwa am jeweils bedeutsamen Begriff der „Gemeinschaft“ festmachen lässt. Allerdings kommt das mit diesem Begriff bezeichnete Kooperationsideal in beiden Zeiträumen mit unterschiedlicher Gewichtung und Perspektivierung zum Tragen, welche die Verschiebung zentraler Kategorien des Nachdenkens über den Betrieb widerspiegeln. Im Hinblick auf die Frage nach der Relevanz der Ordnungsvorstellungen für den Umgang mit der Arbeitszeitsenkung wird vor allem das in ihnen jeweils angelegte Verhältnis zwischen Unternehmen und Gesellschaft herauszuarbeiten sein, das sich zwischen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft deutlich unterschied (vgl. Kap. 2.4 und 2.5). 68 69 70
Vgl.: Ebd. S. 46ff. Vgl.: Etzemüller (2006), S. 126f. Das gilt beispielsweise für die ordoliberalen Vordenker des Konzepts einer „Sozialen Marktwirtschaft“, wie etwa Walter Eucken und Alfred Müller-Armack – und, wenn man auch ihn zu den Vordenkern zählen will, Ludwig Erhard –, aber auch für Teile der Unternehmerschaft, wie Cornelia Rauh-Kühne am Beispiel des späteren BDA-Präsidenten Hans Constantin Paulssen gezeigt hat. Vgl.: Ptak (2004), S. 24f; Abelshauser (2011), S. 92f; Rauh-Kühne (1999), S. 135ff.
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Diese vergleichende Vorgehensweise außerhalb der einschlägigen politischen und wirtschaftlichen Zäsuren hat das Potenzial, neue Dimensionen der Geschichte von Arbeitszeiten sichtbar zu machen. Indem Phänomene wie der Patriarchalismus und die „soziale“ beziehungsweise „partnerschaftliche“ Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik als Ordnungsvorstellung anschlussfähig gemacht werden, lassen sich im Vergleich Unterschiede sichtbar machen, die einen wichtigen Beitrag zur Erklärung unternehmerischen Agierens in Fragen der Arbeitszeitsenkung leisten können. Unternehmensauswahl und Quellenbasis Grundlage des skizzierten Forschungsvorhabens bilden Quellen aus den Beständen der Unternehmen Siemens und Bayer.71 Die Bestände der Unternehmensarchive von Siemens und Bayer sind in ihrer Überlieferung zum Thema Arbeitszeitgestaltung überdurchschnittlich dicht. Das gilt allerdings nicht für beide Untersuchungszeiträume im selben Maße. Während sich bei Siemens vergleichsweise detaillierte Aktenbestände zu den Arbeitszeitverhandlungen im späten 19. Jahrhundert finden, ist die Quellenlage für die 1950er Jahre weniger dicht. Umgekehrtes gilt für das Unternehmen Bayer. Der Umfang der Quellen, die über die Aushandlung von Arbeitszeiten im späten Kaiserreich Aufschluss geben, ist vergleichsweise geringer als das aus den 1950er Jahren überlieferte Material – was vermutlich auch daran liegt, dass bei Bayer schon im Kaiserreich die Arbeitszeiten verhältnismäßig konfliktfrei gesenkt wurden. Insgesamt erlaubt die Quellenlage beider Unternehmen den Vergleich der beiden Untersuchungszeiträume. Darüber hinaus erlaubt es die Frage nach dem gemeinsamen Deutungszusammenhang im Rahmen der jeweiligen Ordnungsvorstellung, die Bestände beider Unternehmen zu ergänzen. Mehr noch: Die Kombination von Quellen über die Branchengrenzen hinweg ist ein wichtiger Maßstab für die Frage nach der Geltung der Ordnungsvorstellungen. Die Entscheidung, zwei Unternehmen in die Untersuchung einzubeziehen, ist notwendig, um Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft in ihrem Charakter als Ordnungsvorstellungen bestimmen zu können. Auf diese 71
Mit diesen Bezeichnungen werden im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit im Text die korrekten Firmentitel vereinfacht. Mit „Siemens“ wird also das 1847 von Werner von Siemens und Johann Georg Halske gegründete Unternehmen „Siemens und Halske“ (S.&H.) inklusive des in den „Siemens-Schuckertwerken“ GmbH (SSW) 1903 zusammengefassten Geschäftsbereichs Starkstromtechnik bezeichnet. Erst 1970 wurden SSW und S.&H. sowie die Siemens Reiniger GmbH zur Siemens AG umgewandelt. Vgl. zur Firmengeschichte von Siemens die Gesamtdarstellung von Wilfried Feldenkirchen: Ebd. (2003). Die Bezeichnung „Bayer“ steht für die „Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.“, wie das 1863 gegründete Unternehmen „Friedrich Bayer & Co.“ seit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft 1881 hieß, sowie für die 1951 neu gegründete Farbenfabriken Bayer AG. Vgl. zur Firmengeschichte allgemein: Verg (1988); zur Geschichte des Unternehmens Bayer im Kaiserreich vgl.: Nieberding (2003).
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Weise können Erkenntnisse über die Reichweite der Ordnungsvorstellungen über den einzelnen Betrieb und dessen spezifische „Unternehmenskultur“ hinaus gewonnen werden. Denn ihre Relevanz wird dann sichtbar, wenn die Ordnungsvorstellungen unter unterschiedlichen Bedingungen Geltung erlangten, sei es was die Qualifikation der Arbeitskräfte, die Konjunktur, die Produkte oder die Art der Unternehmensführung angeht. Insofern ist die Verknüpfung von Quellen verschiedener Unternehmen nicht einfach der Quellenlage geschuldet, sondern beansprucht darüber hinaus Erklärungskraft über den Einzelfall hinaus. Gleichzeitig bietet dieses Vorgehen ein Korrektiv für die zunächst idealtypisch formulierten Ordnungsvorstellungen. Auch wenn aufgrund der asymmetrischen Quellenlage kein systematischer Querschnittsvergleich zwischen den Unternehmen vorgenommen werden kann, so bietet die Untersuchung der Ordnungsvorstellungen in zwei Unternehmen ein Korrektiv bei der Einschätzung ihrer Relevanz. Auf diese Weise wird der Blick für unterschiedliche Unternehmenskulturen und Pfade der Organisation geschärft, so dass ein Phänomen nicht vorschnell mit den Ordnungsvorstellungen in Verbindung gebracht wird. Indem auf die Relevanz der Ordnungsvorstellungen für die Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ fokussiert wird, können die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse beziehungsweise Rechtsformen der beiden Unternehmen vernachlässigt werden. Der tatsächliche, das heißt sich in Eigentumsverhältnissen widerspiegelnde Einfluss der Gründer- beziehungsweise Eigentümerfamilien spielt für die Gültigkeit der Ordnungsvorstellungen keine Rolle. Das muss insbesondere für den Patriarchalismus betont werden, der allzu leicht mit Familienunternehmen und der Existenz eines „Patriarchen“ in Verbindung gebracht wird, der zur Gründerfamilie gehört.72 Die Quellen beider Unternehmen geben recht detailliert Aufschluss über die von den Beschäftigten geleisteten Arbeitszeiten. In den Archiven der Unternehmen Siemens und Bayer gibt es jeweils einen eigenen Bestand zur Arbeitszeitentwicklung, die beispielsweise Arbeitsordnungen, Pläne für Schichteinteilungen oder Anweisungen konjunktur- oder jahreszeitbedingter Änderungen der Arbeitszeiten enthalten. Weniger umfangreich ist hingegen die Überlieferung der Kommunikation über Arbeitszeiten innerhalb der Firmenleitung sowie zwischen Geschäftsführung und den Mitarbeitern. Gleiches gilt für die Kommunikation zwischen verschiedenen Unternehmen. Dazu zählen beispielsweise Korrespondenzen zwischen Mitgliedern der Firmenleitungen, aber auch Reden oder Bekanntmachungen. Da diese Quellen im Vordergrund stehen, können nicht verschiedene 72
Wobei schon die Definition des Begriffs „Familienunternehmen“ problematisch ist, wie die zahlreichen Mischformen belegen, die jüngst Christina Lubinski herausgearbeitet hat. Vgl.: Lubinski (2010), S. 18f. Schon vor einigen Jahren hat Hartmut Berghoff den Patriarchalismus als eine bestimme Strategie zur Bewältigung von Organisationsproblemen beschrieben. Vgl.: Berghoff (1997), S. 168f. Im Gegensatz zu Berghoff hat Thomas Welskopp betont, dass patriarchalische Elemente der Unternehmensführung weit über die Phase frühindustrieller Unternehmensgründung und familiengeführter Unternehmen hinaus Bestand hatten. Vgl.: Welskopp (1994b), S. 338.
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Quellengruppen nacheinander abgehandelt werden, sondern es müssen die Korrespondenzen in den einzelnen Kapiteln unter verschiedenen Fragestellungen immer wieder herangezogen werden. Darüber hinaus können sie nicht nur inhaltlich auf den Einfluss der Ordnungsvorstellungen untersucht werden. Auch ihre Form oder die bloße Existenz eines Dokuments kann Aufschluss über die Kommunikationspraxis und damit die zugrunde liegende Ordnungsvorstellung geben. Daher kann aus diesen Quellen nicht nur Aufschluss über die inhaltliche Interpretation der Arbeitszeiten gewonnen werden, sondern auch ihr Niederschlag in den Strukturen der Kommunikation nachvollzogen werden. Während diese im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert häufig noch auf bestimme Akteure der Firmenleitung zugeschnitten waren, also in Form persönlicher Korrespondenzen vorliegen, gewinnen im zweiten Untersuchungszeitraum insbesondere Quellen der Personalund Sozialabteilungen an Gewicht, bei denen die Kommunikationskompetenzen nun häufig gebündelt wurden. Da die aus der betrieblichen Kommunikation hervorgegangenen Quellen in ausreichender, jedoch nicht sehr großer Zahl überliefert wurden, werden die Quellenbestände weiterer Unternehmen herangezogen, um die für die Unternehmen Siemens und Bayer erzielten Befunde abzustützen. Das gilt in besonderem Maße für die vergleichsweise stark fragmentierte Überlieferung aus der Zeit des Kaiserreichs. In diesem Zeitraum wird die Interpretation der Entwicklungen bei Bayer und Siemens durch den Rückgriff auf Quellen anderer Unternehmen gestützt, die entweder derselben Branche angehörten, im selben Diskussionszusammenhang standen oder Kontakte zu Bayer beziehungsweise Siemens unterhielten, um sich über Arbeitszeitfragen auszutauschen. Hierzu gehören insbesondere die Unternehmen BASF, AEG und Zeiss. Letzteres ist insbesondere deshalb relevant, weil es aufgrund des Werbens von Geschäftsführer Abbe für den Achtstundentag in der Debatte um die Arbeitszeiten unter besonderer öffentlicher Beobachtung stand. Auch die hier untersuchten Akteure nahmen in ihrer Korrespondenz auf Zeiss Bezug oder standen mit dem Unternehmen in direktem Kontakt. Darüber hinaus liegen zahlreiche unternehmensgeschichtliche Studien für die Chemie- und Elektroindustrie vor, auf die zur Einordnung der bei Bayer und Siemens beobachteten Entwicklungen zurückgegriffen werden kann.73 Des Weiteren fließen auch Publikationen, Vorträge oder Äußerungen der Firmenleiter gegenüber der Presse in die Untersuchung ein, aus denen sich Aufschluss über ihre Interpretation der Arbeitszeitfrage gewinnen lässt. Bei der Analyse dieser Quellen gilt es zu beachten, dass zu den Beschäftigten der hier untersuchten Unternehmen Männer wie Frauen gehörten. Gerade Ende des 19. Jahrhunderts war die Arbeitszeit von Frauen Gegenstand sozialpolitischer Debatten, die Regulierung der Frauenarbeitszeit gehörte, neben der Kinderarbeit, zu den ersten gesetzlichen Regelungen für Arbeitszeiten (Vgl. Kap. 3.1). Diese 73
Vgl. für Siemens insbesondere: Kocka (1969); Schmidt (1993); Feldenkirchen (2003). Für Bayer vgl.: Nieberding (2003); Plumpe (1999); Tenfelde (2007); Rosenberger (2008); Hartmann (2010).
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politische Bedeutung der Frauenarbeitszeit findet in den hier untersuchten Quellen jedoch keine Entsprechung. Die Arbeitszeiten der weiblichen Beschäftigten bei Siemens und Bayer werden in den Quellen beider Untersuchungszeiträume nicht thematisiert. Das liegt zum einen daran, dass die Quellen mit der Arbeitszeitsenkung eine Diskussion grundsätzlicher Art abbilden, welche die Arbeitszeiten von Frauen und Männern gleichermaßen betraf. Zum anderen liegt der Grund dafür allerdings in einer Quellensprache, die sowohl die tatsächliche als auch die symbolische Bedeutung der Frauen für die Arbeitszeitgestaltung ausblendet. Wenn im Folgenden von „Arbeitern“ oder „Angestellten“ gesprochen wird, so orientiert sich diese Sprache an den Quellen, schließt jedoch die weiblichen Beschäftigten ein. Um die Leerstelle weiblicher Beschäftigung im Falle der Arbeitszeiten aber nicht fortzuschreiben, werden die Arbeitszeiten von Frauen dort ergänzend thematisiert, wo sich sie sich von derjenigen männlicher Beschäftigter unterschieden, bzw. wo die Quellensprache Frauen zwar nicht explizit thematisiert, diese aber implizit in bestimmten Rollen mitdenkt. Die Ordnungsvorstellungen können inhaltlich zunächst anhand der Sekundärliteratur idealtypisch bestimmt werden. Gerade für die Bedeutung des Patriarchalismus in der Unternehmensorganisation des Kaiserreichs liegen zahlreiche Studien vor.74 Davon ausgehend kann die Präsenz des patriarchalischen Ordnungskonzepts in den untersuchten Unternehmen über die betriebliche Praxis der Arbeitsbeziehungen nachgewiesen werden. So findet etwa die Idee eines besonderen Treueverhältnisses zwischen Patriarchen und Arbeitnehmern in der intensiven direkten, persönlichen Kommunikation mit den Beschäftigten ihren Ausdruck. Entsprechende Quellen finden sich in den Nachlässen der Unternehmensleiter oder den Beständen zur Arbeitszeitentwicklung. Für die Sozialpartnerschaft kann auf die umfangreiche Literatur über die „partnerschaftlichen“ Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik im Zeichen einer „Sozialen Marktwirtschaft“ oder auch den Wandel des unternehmerischen Selbstbildes nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgegriffen werden.75 Außerdem ist die Sozialpartnerschaft in weitaus höherem Maße Gegenstand der Reflexion der Zeitgenossen selbst, so dass zu ihrer inhaltlichen Bestimmung zum Beispiel Programme und Argumentationshilfen von Unternehmerverbänden und anderen unternehmernahen Organisationen dienen können, in denen diese Stellung zur „partnerschaftlichen“ Gestaltung der Arbeitsbeziehungen oder zur Frage der Arbeitszeitsenkung nahmen. Darüber hinaus liegt zur Frage der Organisation betrieblicher Sozialbeziehungen im Zeichen der „Sozialpartnerschaft“, und damit verbunden zur Neuformulierung des unternehmerischen Selbstverständnisses, eine umfangreiche Expertenliteratur vor. Auch in den Unternehmen Siemens und Bayer selbst hinterließen diese Experten ihre Spuren. Sie finden sich vor allem in den Beständen der Personal- und Sozialabteilungen, die 74 75
Vgl. u.a.: Berghoff (1997); Welskopp (1994b); Rudloff (2005); Nieberding (2003); Stremmel (2006). Vgl. u.a.: Abelshauser (2011); Reitmayer (2003); Reitmayer (2009); Rosenberger (2008).
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mit der Organisation der betrieblichen Sozialbeziehungen und daher häufig auch mit Fragen der Unternehmenskommunikation befasst waren. Die hier skizzierte Verbindung verschiedener Quellenarten und der Überlieferung mehrerer Unternehmen kann nur innerhalb eines klar definierten theoretischen Rahmens gelingen. Die Theorie erleichtert durch ihr Abstraktionsniveau die kohärente Analyse von Phänomenen, die sonst in der Beschreibung des Singulären verbleiben müssten, und ermöglicht damit erst den historischen Vergleich. Auf der Grundlage des soziologischen Neo-Institutionalismus wird im Folgenden ein Analyserahmen entwickelt, der es erlaubt, die Präsenz und Wirkungen der Ordnungsvorstellungen in den hier untersuchten Unternehmen herauszuarbeiten. Ausgehend von der Frage nach der Bedeutung von Kooperation im Industriebetrieb wird damit der Forderung Hartmut Berghoffs nach einer gesellschaftsgeschichtlichen Unternehmensgeschichte Rechnung getragen, die erst durch den Rückgriff auf übergeordnete Fragestellungen und eine dementsprechend theoriegeleitete Vorgehensweise möglich wird.76 1.4 THEORETISCHER RAHMEN Der Neo-Institutionalismus: Unternehmensverständnis Institutionentheoretische Ansätze wurden vor allem in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte bereits umfangreich rezipiert und diskutiert, ihr Potenzial für historische Erklärungen konnte in zahlreichen Studien belegt werden.77 Vor dem Hintergrund des Interesses an ökonomischen Fragestellungen orientierte sich die historische Anwendung der Institutionentheorie maßgeblich an der „Neuen Institutionenökonomie“. Rezipiert wurde insbesondere der von Douglass North formulierte Ansatz.78 Unter Institutionen versteht die Neue Institutionenökonomie, entgegen der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs der „Institution“, „Spielregeln“ für wirtschaftliches Handeln.79 Indem sich die Akteure, zum Beispiel am Markt, an diesen Regeln orientieren, wird ihr Handeln für die anderen Akteure erwartbar. Auf diese Weise reduzieren Institutionen Unsicherheit.80 Ein Akteur muss sich vor einer wirtschaftlichen Transaktion also nicht mehr für alle erdenklichen Situationen absichern, zum Beispiel indem er Informationen über seinen Verhandlungspartner einholt, sondern kann sich darauf verlassen, dass dessen Handeln sich innerhalb eines vorhersehbaren Rahmens bewegt. Damit senken Institutionen Kosten, wie sie beispielsweise für die Informationsbeschaffung an 76 77 78 79 80
Vgl.: Berghoff (2004), S. 137 u. S. 140; sowie: Ebd. (2002), S. 243f. Vgl.: Ellerbrock / Wischermann (2004); Wischermann / Nieberding (2004); Lutz (2011); Patzel-Mattern (2010). Vgl.: Wischermann (2003), S. 82. Vgl.: North (1992), S. 4. Vgl.: Richter / Furubotn (2010), S. 7.
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fallen, die so genannten Transaktionskosten.81 In wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive wurde dieser Ansatz maßgeblich von Clemens Wischermann weiterentwickelt, um die kulturell-historische Dimension wirtschaftlichen Handelns zu erklären. Denn Institutionen beschreiben nicht nur formal festgelegte Regeln, sondern schließen gesellschaftliche Normen und Werte ein. So lassen sich etwa Märkte als Arrangement von historisch gewachsenen Regeln beschreiben.82 An dieses historische Erklärungspotenzial der Institutionentheorie schließt die vorliegende Arbeit an, allerdings mit einem anderen theoretischen Fokus. Statt auf die an ökonomischen Fragestellungen ausgerichtete Neue Institutionenökonomik wird im Folgenden auf einen anderen, organisationstheoretischen Strang der Institutionentheorie zurückgegriffen: den soziologischen Neo-Institutionalismus. In ihrem Institutionenverständnis unterscheiden sich die Ansätze nicht grundlegend.83 Nach Douglass North sind Institutionen „die Spielregeln einer Gesellschaft [...], die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion.“84 Für den soziologischen Neo-Institutionalismus lassen sich „Institutionen als übergreifende Erwartungsstrukturen definieren, die darüber bestimmen, was angemessenes Handeln und Entscheiden ist.“85 Der zentrale Unterschied zwischen beiden Theorieansätzen deutet sich gleichwohl im letzten Zitat bereits an. Im Vordergrund des Neo-Institutionalismus steht die Frage was „angemessenes“, also legitimes Handeln ist. Damit ist das Erkenntnisinteresse ein anderes: Nicht die Transaktionskosten bilden den zentralen Angelpunkt des Neo-Institutionalismus, sondern der Begriff der Legitimität.86 Als Ausgangspunkt des Neo-Institutionalismus gilt der Aufsatz „Formal Structure as Myth and Ceremony“, in dem John Meyer und Brian Rowan die These aufstellen, dass die Strukturen von Organisationen nicht unbedingt auf rationale Entscheidungen zurückzuführen sind, sondern eine Anpassungsleistung an die Legitimitätsanforderungen ihrer Umwelt darstellen.87 Das Handeln von Organisationen muss demnach mit dem sozialen und kulturellen Wertesystem übereinstimmen, in das sie eingebettet sind. Legitimität gewinnt eine Organisation demzufolge aus den ihr zugeschriebenen Funktionen, die beispiels-
81 82
83 84 85 86
87
Vgl.: Wischermann (2003), S. 80. Vgl.: Wischermann / Nieberding (2004). Insofern die Verwendung der Institutionentheorie in erster Linie auf die Erklärung kultureller Faktoren abzielt, greift die Kritik von Spoerer zu kurz, man könne Transaktionskosten nicht berechnen. Vgl.: Spoerer (2002), S. 187. Eine präzise Gegenüberstellung von Neuer Institutionenökonomik und Neo-Institutionalismus liefert Thomas Beschorner. Vgl.: Ebd. (2004). North (1992), S. 4. Hasse / Krücken (2005), S. 7. Vgl. zu diesem Institutionenverständnis auch: Walgenbach / Meyer (2008), S. 55. Vgl. zur Bedeutung von Legitimität im Neo-Institutionalismus: Hellmann (2006). Organisationales Handeln muss demnach gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt, aber auch nach innen, legitim sein. Vgl.: Ebd. S.77ff. Vgl.: Meyer / Rowan (1977), S. 340f.
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weise von Verbänden, sozialen Bewegungen oder in der medialen Öffentlichkeit formuliert werden.88 Damit besitzt das Unternehmensverständnis des Neo-Institutionalismus die nötige Offenheit für Fragen kultureller Einflüsse. Unternehmen fallen im NeoInstitutionalismus unter den Oberbegriff der „Organisation“. Eine einheitliche Definition des Begriffs der Organisation sucht man im Neo-Institutionalismus allerdings vergeblich. Sie hängt nicht zuletzt davon ab, ob in einer makroinstitutionalistischen Perspektive nach der Rolle von Organisationen in und für die Gesellschaft gefragt, oder aber in einem mikro-institutionalistischen Zugang die Organisation als Arrangement von Regeln untersucht wird.89 Die umfangreichste Entwicklungsarbeit an der neo-institutionalistischen Organisationstheorie wurde bislang auf einer Makro-Ebene in das Verhältnis der Organisation zu der sie umgebenden gesellschaftlichen Umwelt investiert.90 Ausgehend von der Annahme, dass Organisationen auf Legitimität angewiesen sind, lag der Fokus auf den in ihrer Umwelt formulierten institutionellen Anforderungen und deren Übernahme in den Unternehmen.91 In einer Makro-Perspektive können Organisationen daher als Manifestationen machtvoller Institutionen ihrer Umwelt verstanden werden.92 Auch wenn die inner-organisatorischen institutionellen Verhältnisse lange Zeit nicht im Fokus der neo-institutionalistischen Theoriebildung standen ist das Organisationsverständnis anschlussfähig genug, um diese abbilden und analysieren zu können. Denn unter einer Organisation versteht diese Theorie explizit „soziale Strukturen“, die zur Erfüllung eines bestimmten Organisationszwecks geschaffen wurden: „Eine Organisation kann also ganz allgemein als eine spezifische Form geregelter Kooperation bezeichnet werden.“93 Der Neo-Institutionalismus geht davon aus, dass die das Unternehmen konstituierenden Regeln in verschiedenen Formen dauerhafte Stabilität erlangen, also verschiedene institutionelle Ausprägungen annehmen können. Die sich aus diesem Umstand ergebende Diskussion um die möglichen Typisierungen von Institutionen soll und kann an dieser Stelle nicht abgebildet werden.94 Ausgehend von der sehr allgemeinen Definition von Institutionen als „Regeln“ kann eine weitere Ausdifferenzierung anhand der Bedingungen erfolgen, die den Institutionen jeweils Legitimität und damit Stabilität verleihen, beispielsweise über die Frage 88 89 90
91 92 93 94
Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 64 u. S. 66. Vgl.: Mense-Petermann (2006), S. 65; Walgenbach (2006), S. 382. Ein zentrales Kennzeichen des neo-institutionalistischen Ansatzes ist, dass nicht die Organisation als eine eigenständige Einheit im Vordergrund steht, sondern das System von Beziehungen in das sie eingebettet ist. Dieses Beziehungssystem wird im Begriff der „Umwelt“ zusammengefasst. Vgl.: Mense-Petermann (2006), S. 63ff. Vgl.: Beschorner / Lindenthal / Behrens (2004), S. 289. Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 162; sowie: Mense-Petermann (2006), S. 65. Mense-Petermann (2006), S. 62. Vgl. zur Anschluss- und Entwicklungsfähigkeit des Organisationskonzepts: Ebd. S. 72f. Vgl. dazu ausführlich: Senge (2006), S. 35–47.
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nach den zugrunde liegenden Sanktions- und Kontrollinstanzen.95 Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt für die an dieser Stelle gewählte Unterscheidung von (lediglich) zwei Typen von Institutionen, die für die Analyse der institutionellen Bedingungen der Gestaltung und Aushandlung von Arbeitszeiten und die Bestimmung der institutionellen Auswirkungen der Ordnungsvorstellungen ausreichen, und die bereits vielfach Anwendung in der historischen Forschung fanden.96 Demnach sind formale und informelle Institutionen zu unterscheiden. Eine formale Institution ist gekennzeichnet durch eine explizite Regelsetzung, die kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert wird. Dagegen beinhalten informelle Institutionen bestimmte Verhaltenserwartungen, ohne dass diese explizit formuliert sein müssen. Zu denken wäre hierbei etwa an internalisierte, nicht mehr hinterfragte Verhaltensmuster auf der Basis gesellschaftlicher Werthaltungen. Informelle Institutionen machen den weitaus größten Teil der Institutionen aus, sie stehen im Fokus der neo-institutionalistischen Theorie.97 Dieses aus der Organisationstheorie abgeleitete Verständnis des Unternehmens als einem Raum, der sich durch sozio-kulturelle, informelle und formal gesetzte Institutionen konstituiert, ist offen für die Frage nach der Bedeutung der hier interessierenden Ordnungsvorstellungen. Welche Funktionen und Funktionsweisen dem Unternehmen in der jeweiligen historischen Wahrnehmung zugeschrieben wurden, ist, ausgehend von der neo-institutionalistischen Annahme einer direkten Verbindung zwischen Unternehmen und seiner (kulturellen) Umwelt, in hohem Maße konstitutiv für die institutionelle Gestaltung eines Betriebes. Dieses Unternehmenskonzept gewährleistet die Anschlussfähigkeit an den unternehmenshistorischen Forschungsstand. Nach Clemens Wischermann beruht der Zusammenschluss von Akteuren in Form eines Unternehmens in hohem Maße auf Regeln, die sozialer beziehungsweise kultureller Art sind und die für alle Beteiligten legitim sein müssen.98 Unter anderem haben auch Thomas Welskopp und Karl Lauschke darauf hingewiesen, dass das Unternehmen in seiner Eigenschaft als „komplexes Interaktions- und Beziehungssystem“ auch als Ergebnis sozialer Organisationsprozesse verstanden werden müsse.99 Dieses Verständnis teilt auch der Neo-Institutionalismus, demzufolge Organisationen nicht beliebig gestaltbare Instrumente zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks sind, sondern in hohem Maße geprägt werden durch die sozialen und kulturellen Kontexte, in die sie eingebunden sind.100 Auch im Hinblick auf einen weiteren zentralen Aspekt gehen der un 95 96
Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 57f. Diese Unterscheidung wird auch in der Neuen Institutionenökonomik verwendet. Vgl.: Richter / Furubotn (2010), S. 7. In der Geschichtswissenschaft verwendet beispielsweise Katja Patzel-Mattern eine äquivalente Unterscheidung in „formlose“ und „formgebundene“ Institutionen, Martin Lutz unterscheidet ebenfalls „formale“ von „informellen“ Institutionen. Vgl.: Patzel-Mattern (2010), S. 36; Lutz (2011), S. 69. 97 Vgl.: Senge (2006), S. 43. 98 Vgl.: Wischermann (2004), S. 24f. 99 Welskopp / Lauschke (1994), S. 9. 100 Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 17.
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ternehmensgeschichtliche Forschungsstand und die institutionentheoretische Konzeption des Unternehmens Hand in Hand: Die Rede ist vom Organisationszweck und der Bedeutung von Kooperation für die Erfüllung dieses Zwecks. Betonte die Institutionenökonomie noch die Funktion des Unternehmens für die Koordination wirtschaftlichen Handelns (als Transaktionskosten senkende Alternative zum Markt), wurde in ihrer historischen Weiterentwicklung von Clemens Wischermann auf den Faktor der Kooperation für das Gelingen eines Unternehmens verwiesen.101 Zwar nutzt auch ein Unternehmen Koordinationsmechanismen; Kooperationsbereitschaft ist aber die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt etwas zu koordinieren gibt.102 Diese Sichtweise bestätigt auch Hartmut Berghoff: „Ohne ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft, intrinsischer Motivation und freiwilliger Loyalität wäre die Durchsetzung des [für die industrielle Produktion] erforderlichen Verhaltens schlechterdings unbezahlbar gewesen.“103 Dieser Umstand betrifft allerdings nicht nur die Phase des Entstehens von Unternehmen als einer neuen Form der Organisation von Arbeit. Grundsätzlich muss angenommen werden, dass Arbeitgeber wie -nehmer diese spezifische Organisationsform von Arbeit akzeptieren, weil sie vorteilhaft ist. Birger Priddat hat Unternehmen daher als „vertraglich konstituierte Kooperationsprojekte“ bezeichnet, deren Ziel es sei, „Kooperationsrenten“ zu erzielen, also Erträge, die durch individuelles Handeln nicht zu erreichen wären.104 Diesen Umstand auszublenden wirft Andrea Maurer auch der Arbeits- und Industriesoziologie vor. Die Organisationssoziologie sei demgegenüber angetreten, eine Erklärung für das Unternehmen nicht mehr aus der Koordinationsleistung abzuleiten, sondern aus der gesellschaftlichen Legitimität dieser Organisationsform von Arbeit.105 Die organisationstheoretische, neoinstitutionalistische Definition des Unternehmens wird also dem wirtschafts- beziehungsweise unternehmenshistorischen Forschungsstand gerecht. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage nach den Mitteln, mit denen Kooperation im Unternehmen erzeugt werden soll. Sie lenkt den Blick auf nicht formal vertraglich regulierte Kooperationsmechanismen, wie etwa Vertrauen und Loyalität, die für die Organisation von Arbeit in Unternehmen von nicht unerheblicher Bedeutung sind.106 101 Vgl.: Wischermann (2003), S. 83f; aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive hat Reinhard Pirker den rein auf Transaktionskosten basierenden Erklärungsansatz für das Unternehmen kritisiert und demgegenüber betont, dass es gerade die Aufgabe von Unternehmen sei, die Kooperation ihrer Mitglieder zu organisieren, um opportunistisches „rent-seekingbehaviour“ zu verhindern. Vgl.: Pirker (1997), S. 79. 102 Vgl.: Wieland (1998), S. 17f. 103 Berghoff (1997), S. 174. 104 Priddat (2004), S. 22. Diese Ansicht teilt auch Wieland, auf den sich Priddat maßgeblich bezieht. Vgl.: Wieland (1998), S. 17f. 105 Vgl.: Maurer (2008), S. 21f. 106 Vgl.: Pirker (1997), S. 75. Zur Bedeutung von Vertrauen in den Geschäftsbeziehungen von Unternehmen vgl.: Lutz (2007), S. 138f.
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Damit sind die Schnittpunkte zwischen neo-institutionalistischem Unternehmensverständnis und den hier untersuchten Ordnungsvorstellungen angesprochen. Denn zentrale Inhalte der Ordnungsvorstellungen „Patriarchalismus“ und „Sozialpartnerschaft“ thematisieren in ihren Vorstellungen von Treue, Gemeinschaft oder Partnerschaft eben diesen Aspekt der Kooperation. Entscheidend ist, dass die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Kooperationsideale Folgen für die Zuweisung von Legitimität hatten. Die neo-institutionalistische Theorie erlaubt es, die Arbeitszeitverkürzung als eine Anforderung zu beschreiben, die aus der gesellschaftlichen Umwelt der Unternehmen hervorging, und zu der sie sich positionieren mussten. Im Umgang mit dieser Anforderung waren sie jedoch nicht frei, vielmehr musste er den herrschenden Legitimitätskriterien genügen, wie sie die Ordnungsvorstellungen idealtypisch anlegten. Schließlich prägten diese Idealtypen das Rollenverständnis von Unternehmern, deren Wahrnehmung von Aufgaben und Funktionsweise eines Unternehmens und davon ausgehend auch ihre Erwartungen an das Verhalten der Arbeitnehmer. Insofern waren die Ordnungsvorstellungen geeignet, die Bewertung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ zu beeinflussen, indem sie die legitimen Optionen für den Umgang mit ihr nahelegten. Darüber hinaus setzten sie durch ihr jeweiliges Verständnis der kooperativen Organisation von Unternehmen Maßstäbe für die Bewertung von Zielen und Gestalt betrieblicher Sozialbeziehungen. Sie stellten Kriterien für die Bewertung legitimer Organisationsformen bereit. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass sie die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten auf einer institutionellen Ebene prägten. Damit bilden die Grundannahmen der neo-institutionalistischen Theorie bezüglich der Relevanz kultureller Faktoren für die Unternehmensorganisation und der Rolle von Kooperation in Organisationen die konzeptionelle Grundlage der hier verfolgten Fragestellung. Sie erlaubt es, das Unternehmen – beziehungsweise die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten – als ein Regelwerk zu beschreiben, das nicht allein auf ökonomischen Rationalitäten fußt, sondern das von Vorstellungen davon geprägt ist, welche Ordnungsformen für legitim erachtet werden. Theoretische Verortung von Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft Die im Neo-Institutionalismus zentrale Frage nach der Legitimität unternehmerischen Handelns ist an dieser Stelle insofern von Bedeutung, als hier nicht die möglicherweise Transaktionskosten senkende Wirkung der Ordnungsvorstellungen im Vordergrund steht, sondern die Frage, inwiefern diese einen Rahmen für die Bewertung und Aushandlung der „Arbeitszeitfrage“ boten. Denn erst vor dem Hintergrund der Ordnungsvorstellungen wurden die legitimen Formen des Umgangs mit der Anforderung identifiziert. Inwiefern jedoch konnten die Ordnungsvorstellungen eine Rolle für die Zuweisung von Legitimität spielen? Ein wichtiges Element des neo-institutionalistischen Legitimitäts-Konzepts ist die Frage nach den Referenzgruppen, deren (tatsächliche oder ihnen zugeschriebene) Handlungserwartungen das Kriterium für die Bestimmung legitimen und illegitimen Verhal-
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tens bildet.107 Die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Kooperationsideale legten solche Referenzgruppen, denen gegenüber das Handeln von Unternehmen legitim sein sollte, nahe und enthielten damit Anhaltspunkte für die Bewertung legitimen beziehungsweise illegitimen Handelns (vgl. Kap. 2.4 und 2.5). Es liegt nahe anzunehmen, dass dies nicht ohne Folgen für die institutionellen Bedingungen der Organisation von Kooperation in den Unternehmen blieb, insbesondere hinsichtlich der Kommunikationsbedingungen zwischen Firmenleitung und Beschäftigten. Anzunehmen ist beispielsweise, dass die in den Ordnungsvorstellungen jeweils unterschiedliche Bedeutung bestimmter Referenzgruppen spezifische, auf die entsprechende Referenzgruppe zugeschnittene Institutionen der Kommunikation zur Folge hatte. Die Ordnungsvorstellungen legten nahe, welche Personen die Kommunikation führen sollten, welche Wege und Formen der Kommunikation legitim waren und demzufolge institutionalisiert wurden. Auf diese Weise hätten die in den Ordnungsvorstellungen enthaltenen Legitimitätszuweisungen Auswirkungen auf die strukturellen Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten sowie auf die Rezeption von Informationen über die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“, welche die Firmenleitung für die Entscheidungsfindung im Umgang mit der Anforderung benötigte. Im Folgenden wird also nicht nach der Eigenschaft der Ordnungsvorstellungen als Institutionen gefragt, sondern nach ihrem institutionellen Niederschlag. Ganz ähnlich hat Thomas Beschorner Institutionen als „Konkretisierungen von Ideologien, Mythen, normativen Leitideen“ bezeichnet.108 Entscheidend ist, dass im Begriff der „Konkretisierung“ ein aktiver Prozess mitschwingt. Die Ordnungsvorstellungen werden erst in der Interaktion verschiedener Akteure konkretisiert, sie können verschiedene institutionelle Ausprägungen annehmen. Es griffe daher zu kurz, sie als Institutionen zu begreifen. Zwar böte der Neo-Institutionalismus für Phänomene, wie sie hier als Ordnungsvorstellungen bezeichnet werden, einen eigenen Institutionentypus, die sogenannten „kulturell-kognitiven“ Institutionen.109 Diese Gleichsetzung von Institutionen und „kognitiven Repräsentationen“ beziehungsweise „sozialen Identitäten“, wie Peter Walgenbach eine bestimmte Weltsicht der Akteure bezeichnet, gerät jedoch allzu leicht normativ. Dem dahinter stehenden Gedanken ist an sich vollkommen zuzustimmen: Die Interpretation des 107 Dabei kann es durchaus mehrere für das Unternehmen relevante Referenzgruppen geben, die unterschiedliche Interessen verfolgen und damit unterschiedliche Legitimitätskriterien anlegen. In einer solchen Situation gehen Unternehmen strategisch mit den Anforderungen um, etwa indem sie nur den Anschein konformen, d.h. legitimen Verhaltens erwecken. Für dieses Phänomen hat der Neo-Institutionalismus den Begriff der „Entkopplung“ geprägt. Vgl. dazu: Walgenbach / Meyer (2008), S. 66; Meyer / Hammerschmid (2006), S. 163. 108 Beschorner (2004), S. 143. 109 Peter Walgenbachs, an Richard Scott angelehntes, Konzept der „kulturell-kognitiven“ Institution würde es notwendig machen, das Verhältnis verschiedener Institutionentypen zueinander zu bestimmen, was aber über das hier verfolgte historische Erkenntnisinteresse hinausginge. Für ein differenziertes Institutionenkonzept sei hier auf die Arbeit von Peter Walgenbach und Renate Meyer verwiesen. Vgl.: Ebd. (2008), S. 60f.
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Akteurshandelns muss auch die subjektive Interpretation der Handlungsbedingungen durch den Akteur selbst einschließen, die nicht zufällig verläuft, sondern Teil eines „sozialen Wissensbestandes“ ist.110 Allerdings können die Ordnungsvorstellungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft schwerlich beschrieben werden als „vorfabrizierte Organisationsmodelle und Skripte […], die die sozialen Identitäten und damit die Wahrnehmungen und Situationsdefinitionen der Akteure prägen.“111 Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft prägten zwar die Wahrnehmung der Akteure, aber nicht im Sinne feststehender „Skripte“, die eine direkte Handlungsanweisung beinhalten würden. Die Grenzen möglicher Ausdeutung der Ordnungsvorstellungen sind zu offen, als dass die Gleichsetzung mit einer Institution gerechtfertigt wäre. Auch die Konzepte der Neuen Institutionenökonomie sind als Anknüpfungspunkte zur Analyse der Ordnungsvorstellungen nur bedingt tragfähig. Sie wären in diesem Kontext als „mental models“ konzeptionell zu fassen, wie sie Douglass North und Arthur Denzau vorgeschlagen haben, das heißt als eine Variante der „bounded rationality“.112 Auch dieses Konzept orientiert sich jedoch zu stark an der Idee normativer, handlungsleitender „Modelle“. Entscheidend ist, dass beide Stränge der Institutionentheorie damit Konzepte des hier als Ordnungsvorstellung bezeichneten Phänomens enthalten. Sie werden im Folgenden lediglich anders gefasst, wenn sie im Anschluss an Andreas Reckwitz als Wissensordnungen bezeichnet werden. Den institutionentheoretischen Konzepten von „Skripten“ beziehungsweise „kulturell-kognitiven Institutionen“ und „mental models“ würde Andreas Reckwitz vermutlich „Mentalismus“ vorwerfen: Eine zu starke Verengung von Kultur auf Ideen, Weltbilder, auf kognitiv-geistige Schemata.113 Mit dem von ihm formulierten Wissensbegriff distanziert sich Reckwitz von der Vorstellung reflektierten, handlungsleitenden Wissens und betont, dass Wissensordnung und Praktiken zusammengedacht werden müssen: „Wissen ist nicht primär als ein mental Gewusstes / Bewusstes, sondern als ein durch körperliche Übung Inkorporiertes zu verstehen, was ihm auch seine relative Beharrungskraft wie seine Offenheit für den faux pas verleiht.“114 Gerade im vorliegenden Fall geht es in hohem Maße um implizites beziehungsweise um ein kulturell-praktisches Wissen, das sich im Handeln selbst, aber auch in Semantiken ausdrückt, die von den Akteuren nicht hinterfragt werden. Der Begriff der Wissensordnung beinhaltet diese beiden Dimensionen der Ordnungsvorstellungen und ist damit offen für den Blick auf die Deutung der „Arbeitszeitfrage“, ohne die entsprechenden praktischen Folgen auszublenden, welche die Ordnungsvorstellungen etwa für die Kommunikation über die Arbeitszeitverkürzung hatten. Die von Reckwitz aufgeworfene Frage nach der Inkorporiertheit einer Wissensordnung ist dabei nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Indem die Ordnungsvorstellungen als Wissens 110 111 112 113 114
Walgenbach / Meyer (2008), S. 60. Ebd. Denzau / North (1994), S. 4. Reckwitz (2003), S. 288. Reckwitz (2004), S. 45.
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ordnungen bezeichnet werden, wird vor allem eine Perspektivierung zum Ausdruck gebracht, die neben der Bedeutung der Ordnungsvorstellungen für die Wahrnehmung der Akteure auch auf ihre handlungspraktischen Folgen verweist. Um den Einfluss der Ordnungsvorstellungen auf die institutionellen Bedingungen der Organisation von Kooperation und der Kommunikation über die Arbeitszeitsenkung bestimmen zu können, müssen die verhandelnden Akteure und vor allem deren Wahrnehmung in den Blick genommen werden. Diese Untersuchungsebene stand ursprünglich nicht im Fokus neo-institutionalistischer Theoriebildung, ist jedoch mittlerweile Bestandteil der Theoriereflexion geworden.115 Diese Entwicklung ist auch auf die Kritik am Organisationsverständnis des NeoInstitutionalismus zurückzuführen, welcher Organisationen vor allem in ihrer Gesamtheit betrachtete und die internen Prozesse, etwa die Rolle der Akteure für die Gestalt der Organisation, vernachlässigte.116 Dabei waren die Bezüge zu Handlungstheorien vor allem in der frühen Phase der Theoriebildung durchaus gegeben. So fand die Genese von Institutionen als sozial konstruierten Handlungsmustern in der Interaktion der Akteure durchaus Beachtung, etwa unter Rückgriff auf die Theorien von Peter Berger und Thomas Luckmann.117 Neue Aufmerksamkeit erfuhr dieser Theoriestrang vor allem im Zuge des Versuchs, das Phänomen endogenen institutionellen Wandels erklären zu können; eines Wandels also, der nicht auf die exogenen Umweltanforderungen einer Organisation zurückzuführen ist. Die Schwierigkeiten der Theorie mit dieser Form des Wandels hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie das Institutionenkonzept an sich in Frage zu stellen scheint, da sich eine Institution ja gerade durch ihre Verbindlichkeit auszeichnet.118 Zur Lösung dieses Problems können beispielsweise verschiedene Grade der Institutionalisierung unterschieden werden, etwa eine „semi-institutionelle“ von einer „vollständigen“ Institutionalisierung.119 Sinnvoller scheint es allerdings zu sein, nicht die Institutionen in den Blick zu nehmen, sondern den Umgang der Akteure mit ihnen, wie es Peter Walgenbach und Renate Meyer vorschlagen. Sie erinnern daran, dass nicht Organisationen handeln, sondern Personen in ihnen. Das institutionelle Gefüge eines Unternehmens ist demzufolge nicht starr, sondern lässt den Akteuren durchaus Spielraum für Ausdeutungen. Veränderung ist damit ein fester Bestandteil von Institutionen, Akteure „arbeiten“ ständig am institutionellen Gefüge mit, sie leisten „institutional work“.120 Diesen Befund bestätigt die Unternehmensgeschichte. So hat etwa Dietmar Süß gezeigt, dass sich die Regeln eines betriebsinternen Aushandlungsprozesses in hohem Maße in der Interaktion der Akteure ausprägten, in Abhängigkeit von den Strategien und Machtverhältnis 115 116 117 118 119 120
Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 160. Vgl.: Mense-Petermann (2006), S. 72. Vgl.: Meyer / Hammerschmidt (2006), S. 161. Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 105. Quack (2006), S. 174. Walgenbach / Meyer (2008), S. 98 u. S. 108.
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sen der Akteure.121 In dieser Verbindung von Akteuren und dem institutionellen Setting eines Unternehmens liegt der Schlüssel, um die Bedeutung der Ordnungsvorstellungen bestimmen zu können. In erster Linie von den Wissensordnungen der Firmenleitungen hing es ab, wie die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ bewertet wurde, auf welche Referenzgruppen die Kommunikation im Unternehmen ausgerichtet war und in welcher Form damit die Informationsbeschaffung im Unternehmen institutionalisiert war. Die Suche nach den Auswirkungen der Ordnungsvorstellungen auf die Bedingungen der Aushandlung, der Rezeption und der Bewertung der Anforderung kann sich daher nicht auf die formalen Institutionen konzentrieren. Die in festgelegten Zuständigkeiten oder gar eigenen Abteilungen institutionalisierten Kommunikationsstrukturen bilden nur einen Teil der betrieblichen Kommunikation ab. Nicht formalisierte aber stabile Kommunikationspraktiken stellen einen wichtigen Teil derselben dar. Das gilt insbesondere für die betrieblichen Kommunikationsstrukturen des Kaiserreichs, die sich durch eine direkte und personengebundene Kommunikation auszeichneten. Gleichwohl war diese Kommunikationspraxis in einer Weise routinisiert und mit Legitimität ausgestattet, dass sie als institutionalisiert gelten kann. Informelle Institutionen im Sinne routinisierter Praktiken sind hier ebenso zu beachten wie formell verankerte, etwa in Form von schriftlich fixierten Zuständigkeiten oder eigenen Abteilungen. Der Praxis-Begriff findet in der Institutionentheorie kein analytisch ausgearbeitetes Äquivalent. Zumal der Akteursbegriff des Neo-Institutionalismus häufig recht vage ausfällt.122 Im Vordergrund steht an dieser Stelle nicht die Rolle einzelner „institutioneller Unternehmer“ für die Gestaltung der institutionellen Ordnung des Unternehmens.123 Schließlich ist an der Form und der Etablierung der Kommunikationsbeziehungen im Unternehmen eine Vielzahl von Akteuren beteiligt, zu denen nicht zuletzt auch die Belegschaft zu zählen ist. Mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung der Ordnungsvorstellungen scheint daher der Praxis-Begriff hilfreicher. Er lässt genügend Offenheit, um der Prozessualität der Genese und des Wandels institutioneller Kommunikationsformen gerecht zu werden und ist insofern mit dem Konzept der „institutional work“ kompatibel. Daher schlägt auch Thomas Beschorner vor, das von Reckwitz formulierte, auf die Ebene der Praxis abzielende, Wissenskonzept mit dem Neo-Institutionalismus in Verbindung zu bringen, um die kulturwissenschaftlichen Potenziale der Theorie zu präzisieren.124 Die Einbeziehung der Ebene der Praxis ist jedoch weniger eine Erweiterung der Theorie als eine Rückbesinnung auf ihre Ursprünge, in denen die Ebene implizi 121 Vgl.: Süß (2002), S. 133. 122 Nach Walgenbach / Meyer kann ein Akteur beispielsweise ein Individuum sein, aber auch eine Organisation oder ein Staat. Vgl.: Ebd. (2008), S. 122. Kritik am wenig differenzierten und häufig deterministischen Akteursverständnis des Neo-Institutionalismus übt auch Meyer selbst. Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 160. 123 Walgenbach / Meyer (2008), S. 139. 124 Vgl.: Beschorner (2004), S. 136ff.
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ten Wissens und routinisierten Handelns durchaus mitgedacht wurde.125 Der zentrale Vorteil des Praxis-Begriffs liegt darin, dass er die Untersuchung des Einflusses der Ordnungsvorstellungen auf die Rezeption der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, um eine zusätzliche Dimension erweitert. Das Konzept der Wissensordnung, wie es Andreas Reckwitz formuliert hat, schließt die Ebene ihrer praktischen Ausgestaltung mit ein. Auch „Patriarchalismus“ und „Sozialpartnerschaft“ bestehen demzufolge in hohem Maße aus praktischem Wissen, sie manifestieren sich in Routinen und Alltagstechniken, schlagen sich also in informellen Institutionen nieder.126 Als Untersuchungsgegenstand spielen die Praktiken, in diesem Fall die der Kommunikation, hier nur im Hinblick auf informelle institutionelle Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten eine Rolle. Diese Ebene zu reflektieren sensibilisiert jedoch für den häufig impliziten Charakter der Ordnungsvorstellungen, der eine gewisse Bandbreite der Varianz mit sich bringt. Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft enthielten zwar Annahmen über legitimes wie illegitimes Verhalten und legten damit die Schaffung bestimmter Regeln nahe. Den Akteuren blieben allerdings Spielräume in der Auslegung dessen, was noch als legitimes Handeln im Sinne des patriarchalischen beziehungsweise sozialpartnerschaftlichen Ideals galt. Insofern können die Inhalte der Ordnungsvorstellungen nicht einfach in ein Set von Regeln übersetzt werden, das die Deutung und Handhabung der „Arbeitszeitfrage“ bestimmte. Für die Frage nach ihrem institutionellen Niederschlag ist daher nach den Prozessen zu fragen, innerhalb derer die Inhalte der Ordnungsvorstellungen zu Regeln gerannen. Institutionalisierung der Anforderung: Konstitution eines Möglichkeitsraumes im Issue-Feld Der neo-institutionalistische Theorieansatz geht davon aus, dass Unternehmen, um Legitimität zu erhalten, auf institutionelle Anforderungen reagieren müssen, die in ihrer gesellschaftlichen Umwelt angelegt sind. In dieser allgemeinen Form vernachlässigt diese Annahme allerdings den Umstand, dass Anforderungen, wie sie die Forderungen nach einer Senkung der Arbeitszeiten darstellen, nicht einfach in institutionalisierter Form vorliegen und durch klare Sanktionskataloge ihre Handhabung bereits nahelegen würden. Vielmehr müssen die Umweltanforderungen zunächst rezipiert und interpretiert werden.127 Im Falle der Arbeitszeitsenkung schien die Entscheidung, auf welche Anforderung reagiert werden musste und in welcher Form das geschehen sollte, letztlich in hohem Maße beim Unternehmen selbst gelegen zu haben. Orientierung bezüglich der Relevanz der jeweiligen Anforderungen und der legitimen Reaktionen darauf boten hierbei die Ordnungsvorstellungen. Gerade im Falle der Arbeitszeitsenkung scheint es fragwürdig, von 125 Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 161 u. S. 165. 126 Vgl.: Reckwitz (2003), S. 289. Vgl. auch: Reckwitz (2004), S. 44. 127 Vgl.: Pirker (1997), S. 78.
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institutionalisierten Anforderungen auszugehen. Die unternehmerischen Akteure mussten innerhalb einer Vielzahl keineswegs kohärenter Informationen die für sie relevant erscheinenden erst auswählen, das heißt, sie hatten die Anforderungen in einem aktiven Interpretationsprozess erst zu identifizieren. Zumal der Umgang mit der Anforderung in vielerlei Hinsicht unklar blieb. In den Debatten um die Arbeitszeitverkürzung konkurrierten durchaus verschiedene Vorstellungen, wie diese umzusetzen sei, etwa hinsichtlich des Zeitraums der Senkung, ihres Ausmaßes oder der Form ihrer Regulierung, sei es gesetzlich, tarifvertraglich, auf einzeloder überbetrieblicher Ebene (vgl. Kap. 3.4). Es liegt daher nahe, die Institutionalisierung der Anforderung in eine direkte Verbindung mit dem Prozess ihrer Rezeption und Interpretation zu bringen, die von den Unternehmen zu leisten war. Anders formuliert: Die Anforderungen an den Umgang mit der Arbeitszeitsenkung waren zunächst keineswegs institutionalisiert. Erst innerhalb des durch die Ordnungsvorstellungen geprägten Interpretationsprozesses rund um die „Arbeitszeitfrage“ im Unternehmen und innerhalb der Unternehmerschaft wurde die Umweltanforderung „gefiltert“, die als relevant wahrgenommenen Aspekte der Anforderungen identifiziert und der Umgang mit ihnen institutionalisiert. Dieser Prozess der Interpretation und Identifikation der Anforderungen an die Arbeitszeitgestaltung sowie deren Institutionalisierung wird mit Hilfe des Konzeptes des „organisationalen Feldes“ operationalisiert. Das Feldkonzept wurde in Anlehnung an Bourdieus Feldbegriff im Neo-Institutionalismus als Instrument zur Beschreibung der Beziehungen zwischen einer Organisation und der sie umgebenden gesellschaftlichen beziehungsweise institutionellen „Umwelt“ weiterentwickelt.128 Mit Hilfe des Feldes kann die Umwelt des Unternehmens als zentrale Untersuchungseinheit des Neo-Institutionalismus eingegrenzt werden.129 Eingeführt wurde der Begriff in einer makro-institutionalistischen Perspektive, um das Phänomen des sogenannten Isomorphismus zu erklären. Dieser Begriff bezeichnet die Ähnlichkeit formaler Strukturen in unterschiedlichen Organisationen, die im Neo-Institutionalismus auf institutionelle Erwartungen der Umwelt zurückgeführt werden.130 Peter Walgenbach und Renate Meyer haben die Statik eines so verstandenen Feldes kritisiert, das häufig unter dem Gesichtspunkt der Homogenität konstruiert werde und zum Beispiel nur Unternehmen einer bestimmten Branche umfasst. Sie schlagen daher vor, die Akteure des Feldes stärker in den Vordergrund zu rücken und auch widersprüchliches Verhalten in den Blick zu nehmen, um den dynamischen Charakter von Feldern erklären zu können.131 Die Stärke eines so verstandenen Feldbegriffs ist, dass er die Organisationsumwelt nicht als ein passives und letztlich statisches institutionelles Gefüge erscheinen lässt, sondern als 128 Zur Arbeit von Bourdieu als Referenzrahmen des soziologischen Neo-Institutionalismus vgl.: Hasse / Krücken (2005), S. 91ff; Zur Entwicklung und Verwendung des Feld-Konzepts im Neo-Institutionalismus vgl.: Becker-Ritterspach, J. / Becker-Ritterspach, F. (2006b), S. 119f. 129 Vgl.: Becker-Ritterspach, J. / Becker-Ritterspach, F. (2006b), S. 118. 130 Vgl.: Mense-Petermann (2006), S. 63. 131 Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 72f.
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einen Raum miteinander interagierender Akteure.132 Eine zentrale Schwäche des Feldbegriffs liegt nach Jutta Becker-Ritterspach in der empirischen Handhabbarkeit des Konzepts, da Feldgrenzen nie eindeutig zu bestimmen sind.133 Peter Walgenbach und Renate Meyer haben hier einen pragmatischen, am Forschungsgegenstand ausgerichteten Umgang mit der Felddefinition vorgeschlagen. Ihr Vorschlag eines „Issue-Feldes“ umgeht das Problem, klare Feldgrenzen bestimmen zu müssen, indem es diese gar nicht erst annimmt. Es ist für die hier thematisierte Fragestellung das tragfähigste Konzept. Ein Issue-Feld konstituiert sich demnach entlang derjenigen Akteure, die an der Interpretation und Definition eines bestimmen Themas im öffentlichen Diskurs beteiligt sind, in diesem Fall also an der Deutung der „Arbeitszeitfrage“ im späten 19., frühen 20. Jahrhundert sowie in den 1950er und 1960er Jahren.134 Eine solche Felddefinition orientiert sich an Fragestellungen, welche die diskursiven Bedingungen institutioneller Konstellationen in den Blick nehmen. Es betont die Aktivitäten unterschiedlich mächtiger Akteure, das Nebeneinander und die Konkurrenz institutioneller Logiken und Bedeutungen.135 Insofern bietet dieser Ansatz einen geeigneten Rahmen für die Untersuchung des Rezeptions- und Interpretationsprozesses der „Arbeitszeitfrage“ auf Unternehmerseite. Issue-Felder formieren sich nach Andrew Hoffman um bestimmte Themen: „I suggest, that a field is formed around the issues that become important to the interests and objectives of a specific collective of organizations. Issues define what the field is, making links that may not have previously been present.“ Felder sind in diesem Sinne „centers of debates in which competing interests negotiate over issue interpretation“.136 Allerdings kann die Operationalisierung dieses Konzepts in diesem Fall nicht vom Thema ausgehen. Die gesamte Debatte um die Arbeitszeitverkürzung abzubilden ist weder möglich noch im Sinne der hier gewählten Fragestellung. Stattdessen wird auf einen Vorschlag Thomas Beschorners zurückgegriffen, bei der Felddefinition von einer Gruppe von Akteuren auszugehen, die in ein gemeinsames Beziehungssystem eingebunden sind. Sichtbar wird ein Feld damit anhand aufeinander bezogener Handlungen der Akteure und derselben Regulationsmechanismen, aber auch durch ein von ihnen geteiltes „Sinnsystem“. Die Akteure sind sich daher bewusst, in ein Feld eingebunden zu sein, nicht zuletzt weil im Rahmen des diskutierten „issues“ Informationslasten vorliegen, die es gemeinsam zu bewältigen gilt.137 Dieses Feldkonzept lässt seine Wurzeln in der Feldtheorie Pierre Bourdieus erkennen, die dem „organisationalen Feld“ des Neo-Institutionalismus als Aus 132 133 134 135 136
Vgl.: Becker-Ritterspach, J. / Becker-Ritterspach, F. (2006b), S. 132. Vgl.: Ebd. S. 133. Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 74. Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 170. Hoffman (1999), S. 352. Auf dieses Feldkonzept beziehen sich auch Walgenbach / Meyer. Vgl.: Ebd. (2008), S. 74. 137 Beschorner / Lindenthal / Behrens (2004), S. 291f.
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gangspunkt der Theoriebildung diente.138 Auch in der Bourdieu’schen Konzeption sind Felder nicht eindeutig gegeneinander abgegrenzt sondern durchdringen sich gegenseitig.139 Diese Ursprünge des neo-institutionalistischen Feldkonzepts sind an dieser Stelle wichtig, da sie auf die Bedeutung von Ordnungsvorstellungen im Issue-Feld verweisen. Um den Zusammenhang des Feldkonzeptes zu den hier untersuchten Ordnungsvorstellungen herauszuarbeiten, ist es sinnvoll, diesen Theoriestrang wieder stärker zu betonen. Die Rolle von Ordnungsvorstellungen im Issue-Feld zu bestimmen ist zwar im Feld-Konzept durchaus angelegt – solche im Feld geteilten, Gemeinschaft und Orientierung stiftenden Vorstellungen finden etwa im erwähnten Begriff des „Sinnsystems“ eine Entsprechung. Dennoch steht die Frage nach den im Feld präsenten Vorstellungswelten im NeoInstitutionalismus nicht im Vordergrund. Deren Bedeutung hat Bourdieu am Beispiel der Felder kultureller Produktion prägnant formuliert: „Die Felder halten für alle, die sich in ihnen engagieren, einen Raum des Möglichen bereit, der ihrer Suche eine Orientierung gibt, indem er das Universum der Probleme, Bezüge, geistigen Fixpunkte [...] kurz das ganze Koordinatensystem absteckt, das man im Kopf haben muss, um mithalten zu können.“140
Mit der Metapher des „Möglichkeitsraumes“ bezeichnet Pierre Bourdieu die innerhalb eines Feldes legitimen Handlungsoptionen. Er verweist damit auf die Orientierungsfunktion der im Feld geteilten Ordnungsvorstellungen. Die in ihnen enthaltenen Annahmen über die Rolle des Unternehmers, sein Verhältnis zu den Arbeitnehmern und die Stellung des Unternehmens in der Gesellschaft boten den Deutungshintergrund, vor dem im Issue-Feld ausgehandelt wurde, was legitime und illegitime Möglichkeiten des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung waren. Mit Bourdieu gesprochen hatten die Ordnungsvorstellungen im Issue-Feld Orientierungsfunktion und formten damit einen Raum des möglichen Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung, was einer Institutionalisierung der Anforderung entspricht. Im Falle des Issue-Feldes bezieht sich Institutionalisierung der Anforderung also auf die Konstitution eines Möglichkeitsraumes, der das Spektrum des legitimen Umgangs mit der Anforderung bezeichnet. Auf der Basis des skizzierten Feldkonzepts sind all jene Unternehmer beziehungsweise Mitglieder von Firmenleitungen Teil des Feldes, die sich an der Debatte um die Interpretation der „Arbeitszeitfrage“ beteiligten und die durch die Mitgliedschaft in Verbänden, der Zugehörigkeit zur selben Branche, den lokalen Kontext oder die Betroffenheit von Konflikten direkt oder indirekt ein einem Austauschverhältnis zueinander standen. Grundlage dieses Austauschverhältnisses war die Zuordnung zu einer gemeinsamen sozialen Gruppe: derjenigen der Unternehmer. Insofern beruht die Beschränkung des Issue-Feldes auf die Unternehmer 138 Vgl.: Hasse / Krücken (2005), S. 91 u. S. 94; sowie: Becker-Ritterspach, J. / BeckerRitterspach, F. (2006b), S. 119. 139 Vgl.: Rehbein (2006), S. 109. 140 Bourdieu (1998), S. 55.
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schaft auf deren Selbstwahrnehmung als einer Gruppe, die zu einer spezifischen, auf diese Gruppe bezogenen Deutung der Anforderung zu kommen hatte. Diese Gruppenzugehörigkeit speiste sich nicht zuletzt aus den von den Feldteilnehmern geteilten Wissensordnungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft (vgl. Kap. 4.3). Das gesamte Beziehungsgefüge des sich um die Arbeitszeitfrage konstituierenden Issue-Feldes kann indes nicht rekonstruiert werden. Das Issue-Feld wird daher lediglich ausschnittsweise, ausgehend von den Unternehmen Siemens und Bayer rekonstruiert. Im Vordergrund der Untersuchung müssen daher die Verortung der Unternehmen Siemens und Bayer als Akteure im Feld stehen sowie die Rekonstruktion der Kommunikationsbeziehungen innerhalb des Feldes und die Bestimmung der Relevanz der Ordnungsvorstellungen für die Feldinteraktion. Diese Vorgehensweise ist insofern gerechtfertigt, als beide Unternehmen im Feld wichtige Positionen einnahmen. Maschinenbau und Elektroindustrie gehörten seit der Hochindustrialisierung zu den Leitsektoren der Wirtschaft, von diesen Branchen gingen gesamtwirtschaftliche Wachstumsimpulse aus. Der Feld-Theorie zufolge sind solche großen Organisationen intensiverer Beobachtung im Feld ausgesetzt, als es bei kleinen der Fall ist, weshalb sie eine bedeutende Rolle für die Verbreitung institutioneller Muster einnehmen.141 Der Umgang von Siemens und Bayer mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, hatte Auswirkungen auf andere Unternehmen und wurde daher genau beobachtet (vgl. Kap. 4.1). Von diesen beiden Unternehmen ausgehend sollten daher wichtige Ausschnitte des Feldes rekonstruiert werden können. Verwendet wird das Feldkonzept als ein analytischer Begriff. Das Issue-Feld ist nicht als historische Entität zu verstehen, es wird vom Forschenden konstruiert, um ein bestimmtes Phänomen erklären zu können. Es ergibt sich aus der Frage nach der Relevanz der Ordnungsvorstellungen für die Wahrnehmung und Identifikation der Umweltanforderung „Arbeitszeitsenkung“. Ein Akteur ist immer „Spieler“ in sehr vielen verschiedenen Feldern gleichzeitig, beispielsweise auch noch auf dem der Familie, das ganz andere Anforderungen stellt. Insofern wird mit dem hier interessierenden Issue-Feld, in dem über die Arbeitszeiten verhandelt wird, ein bestimmtes Feld herausgegriffen. Es ist damit schon konzeptionell nicht möglich, diesem einen Feld alleinige erklärende Funktion für den tatsächlichen Umgang mit Arbeitszeiten zuzumessen. Die Frage nach der Deutung der Umweltanforderung im Issue-Feld kann jedoch einen Beitrag dazu leisten, das Agieren der Unternehmen bei der Senkung von Arbeitszeiten zu erklären. Denn mit dem im Issue-Feld ausgehandelten, institutionalisierten Möglichkeitsraum ist ein wichtiger Teil des Kontextes beschrieben, innerhalb dessen sich die Akteure bewegten. Das Feldkonzept erfüllt damit im Kontext der hiesigen Untersuchung zwei Funktionen. Erstens erlaubt es, die Rolle der Ordnungsvorstellungen für die Deutung der „Arbeitszeitfrage“ zu bestimmen, indem ihre Bedeutung für die Konstitution eines „Möglichkeitsraums“ im Issue-Feld herausgearbeitet wird. Damit 141 Vgl.: Walgenbach (2008), S. 78; sowie: Beschorner / Lindenthal / Behrens (2004), S. 295.
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ist das Issue-Feld, wie es hier formuliert wurde, Ausdruck des Zweifels an gegebenen institutionellen Umweltanforderungen. Es dient dazu, den Prozess der Identifikation von Anforderungen und der Institutionalisierung des Umgangs mit ihnen in einem Aushandlungsprozess der Feldakteure sichtbar zu machen. Zweitens kann über die auf diese Weise bestimmte Präsenz und Wirkmacht der Ordnungsvorstellungen im Issue-Feld nach deren Bedeutung für die institutionellen Rahmenbedingungen der Organisation von Kooperation im Unternehmen gefragt werden. Issue-Feld und betriebliche Kommunikationspraxis stehen hier für zwei Dimensionen desselben Phänomens. Mit dem Blick auf das Feld ist vor allem die Frage nach der Bedeutung der Wissensordnungen für die Wahrnehmung und Institutionalisierung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ gestellt, während es auf der betrieblichen Ebene um die institutionellen Folgen der im Feld bestätigten und zum Teil erst formulierten Wissensordnungen vor allem hinsichtlich der Organisation von Kooperation und Kommunikation geht. Damit lässt sich die Relevanz der Ordnungsvorstellungen über die Ebene der Wahrnehmung hinaus bestimmen. Es gilt, den Vorwurf zu vermeiden, die Sinnhorizonte seien „reine Deutung“ ohne jeden praktischen Bezug, und stattdessen zu zeigen, dass die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Legitimitätszuweisungen in der betrieblichen Praxis Wirkung entfalteten. 1.5 AUFBAU DER ARBEIT Im zweiten Kapitel ist zunächst die Relevanz kooperativer Ordnungsentwürfe gegenüber dem Konflikt-Narrativ herauszuarbeiten und die Ordnungsvorstellungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft darin zu verorten. In welchen historischen Kontexten entstanden und entwickelten sie sich und mit welchen Folgen? Um das zu klären muss bestimmt werden, wie sich die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Kooperationsideale jeweils zueinander verhielten. Der Fokus liegt dabei auf den in ihnen angelegten Referenzgruppen und die damit verbundenen Verschiebungen für die Bewertung legitimen Handelns. Wie veränderten sich über die Entwicklung der Ordnungsvorstellungen von der patriarchalischen zur sozialpartnerschaftlichen die Angelpunkte kooperativen Ordnungsdenkens, von denen ausgehend die Auflösung des Konflikts idealtypischerweise realisiert werden sollte? Die in diesem Vergleich herausgearbeiteten Kategorien des Ordnungsdenkens, insbesondere die der „Gemeinschaft“, und der jeweils darin enthaltenen Ausprägungen von „Verantwortung“, bilden die zentralen Analysekategorien für die Bestimmung ihrer Wirkungen im Hinblick auf die Deutung der „Arbeitszeitfrage“. Auf dieser Bestimmung der in beiden Untersuchungszeiträumen maßgeblichen Wissensordnungen aufbauend, ist in einer unternehmensgeschichtlichen Perspektive nach den Bedingungen zu fragen, unter denen sie Wirkungsmacht entfalten konnten (Kapitel 3). Dafür ist es notwendig, die Unschärfen und Vereinfachungen des arbeitszeitgeschichtlichen Narrativs aufzudecken und durch den his-
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torischen Vergleich ein differenzierteres Bild betrieblicher Arbeitszeitgestaltung zu zeichnen. Die unterschiedlichen Dynamiken der Arbeitszeitsenkung in beiden Untersuchungszeiträumen werden daher nicht aus den ökonomischen oder politischen Kontexten abgeleitet. Vielmehr gilt es, die institutionellen Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung bei Siemens und Bayer herauszuarbeiten und die Spielräume zu eruieren, die zur Verkürzung der Arbeitszeiten in den Unternehmen überhaupt diagnostiziert wurden. Auf diese Weise wird die Situation bestimmt, innerhalb derer die Firmenleitungen von Siemens und Bayer über den Umgang mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, zu entscheiden hatten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, inwiefern es sich bei den beiden Untersuchungszeiträumen um Phasen der Unsicherheit handelte, in denen die Ordnungsvorstellungen eine Orientierungsfunktion entfalten konnten. Es muss daher nachgewiesen werden, dass die Optionen des möglichen Umgangs mit der Anforderung nicht einfach offen lagen, sondern von den Unternehmen eine Interpretationsleistung zu erbringen war. Welche Folgen hatten die Ordnungsvorstellungen unter diesen Bedingungen für die Wahrnehmung der Anforderung beziehungsweise ihre Institutionalisierung (Kapitel 4)? Zunächst ist dafür das Beziehungssystem zu rekonstruieren, welches das Issue-Feld konstituierte, und im Rahmen dessen die Unternehmen Siemens und Bayer sich über die Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung austauschten. Dabei ist auch zu untersuchen, inwiefern sich die Kommunikationsbeziehungen der Issue-Felder in beiden Untersuchungszeiträumen unterschieden. Welche Akteure leisteten jeweils die Interpretation der Anforderung, welche Kommunikationsformen prägten den Austausch über den Umgang mit ihr und mit welchen potenziellen Folgen für das Ergebnis der Interpretation? Innerhalb dieses IssueFeldes muss die Rolle der Ordnungsvorstellungen für die Thematisierung der Arbeitszeitsenkung bestimmt werden. Handelte es sich bei ihnen um gängige Wissensordnungen, auf die innerhalb des Issue-Feldes immer wieder Bezug genommen wurde? Inwieweit wurden die Ordnungsvorstellungen in der Interaktion der Feld-Akteure bestätigt und formuliert, erhielten also erst im Issue-Feld Konturen? Davon ausgehend ist zu bewerten, welche Folgen die im Issue-Feld präsenten Ordnungsvorstellungen für die Bewertung der „Arbeitszeitfrage“ hatten. Denn erst im Austausch über die „Arbeitszeitfrage“ innerhalb des Issue-Feldes wurde diese Umweltanforderung identifiziert und in einen Raum möglichen Handelns übersetzt. Wie aber prägten die Ordnungsvorstellungen den im Issue-Feld institutionalisierten Möglichkeitsraum des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung? Vor allem: Zu welchen unterschiedlichen Ergebnissen bei der Bewertung der Anforderung führten die jeweils anders perspektivierten Kooperationsideale der beiden Ordnungsvorstellungen? Die im Issue-Feld bestimmte Wirkung der Ordnungsvorstellungen auf die Einordnung der Anforderung und die Institutionalisierung des Umgangs mit ihr wird anschließend an ihre konkrete Bedeutung für die Bewertung und Aushandlung von Arbeitszeiten rückgebunden (Kapitel 5.). Waren sie auch in den Unternehmen Siemens und Bayer präsente Wissensordnungen, auf deren Basis Fragen der Arbeitszeitgestaltung thematisiert wurden? Um ihre Relevanz über die Deu-
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tung hinaus bestimmen zu können, wird außerdem nach dem institutionellen Niederschlag von Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft auf die Bedingungen der Organisation von Kooperation in den Unternehmen gefragt. Lässt sich ein Unterschied zwischen der Organisation der Kooperationsbeziehungen im späten Kaiserreich und der frühen Bundesrepublik ausmachen, der auf die Ordnungsvorstellungen zurückgeführt werden könnte? Und welche Folgen hatte das für die institutionellen Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten beziehungsweise die Art ihrer Nutzung? Hierfür wird die Organisation der Kommunikationsbeziehungen herausgearbeitet, auf deren Grundlage Arbeitszeiten bei Bayer und Siemens ausgehandelt wurden. Dabei gilt das Augenmerk den auf die Ordnungsvorstellungen zurückzuführenden spezifischen Ausprägungen der Kommunikation und ihren Folgen für die unterschiedliche Dynamik der Arbeitszeitsenkung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert sowie den 1950er und 1960er Jahren. Schließlich gilt es zu klären, welche Folgen die unterschiedlichen institutionellen Bedingungen der Kommunikation in beiden Untersuchungszeiträumen für die Rezeption von Informationen über die Anforderung durch die Firmenleitungen hatte – und damit für die Grundlage der Entscheidungsfindung. Auf der Basis welcher Informationen konnten die Firmenleitungen beider Unternehmen jeweils ihre Entscheidungen über die Handhabung der Arbeitszeitsenkung fällen? Prägten die Ordnungsvorstellungen die Informationsbeschaffung über die Anforderung auf eine Art und Weise, die dazu führte, dass sich die Auswahl der Informationen unterschied, auf deren Grundlagen Entscheidungen in Sachen Arbeitszeitverkürzung getroffen wurden?
2. DER KONFLIKT ALS NARRATIV? ZUM STELLENWERT KOOPERATIVER ENTWÜRFE WIRTSCHAFTLICHER ORDNUNG Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Entwicklung der Organisation von Arbeit und der Arbeitsbeziehungen zu beschreiben. Der Konflikt ist nur eine davon. Diese Perspektive ist daher in Beziehung zu setzen zu den Versuchen und Konzepten einer kooperativen Organisation der Arbeitsbeziehungen, um damit zugleich die verkürzte historiographische Orientierung am Konfliktnarrativ aufzuzeigen. Es gilt Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft als Stränge des Ordnungsdenkens zu verorten und ihre Entstehungskontexte herauszuarbeiten, um ihre jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen zu erklären. Ausgehend von dieser allgemeinen Entwicklung der beiden Ordnungsvorstellungen müssen ihre zentralen Inhalte bestimmt und in Bezug zueinander gesetzt werden, um die jeweils zentralen Bezugspunkte der Kooperationsideale aufzuzeigen. Dabei werden Kontinuitäten zwischen den Ordnungsvorstellungen sichtbar, deren Kooperationsideal jeweils um das Konzept einer Gemeinschaft angeordnet war. Allerdings waren diese Gemeinschaftskonzepte in Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft unterschiedlich gefasst, wie es sich etwa an den unterschiedlichen Vorstellungen unternehmerischer Verantwortung festmachen lässt. Sie verweisen auf die verschiedenen Referenzgruppen, an denen sich die Bewertung der Legitimität unternehmerischen Handelns jeweils orientierte. 2.1 ARBEITSZEITEN ZWISCHEN KONFLIKT UND KOOPERATION: AUFRISS EINES PERSPEKTIVWECHSELS Der Konflikt als zentrales Narrativ der Geschichte der Arbeitsbeziehungen Die Geschichte der Arbeitszeiten folgt einem Narrativ, das aufs Engste mit dem Aufkommen der Debatten um die Standardisierung von Arbeitszeiten im 19. und frühen 20. Jahrhundert verbunden ist. Zentrale Begriffe der Arbeitszeitgeschichte, wie die Rede vom „Maximal-“ und „Normalarbeitstag“ entstammen eben jener politischen Debatte. In den 1880er Jahren waren die Konfliktlinien dieser Debatte schon so gefestigt, dass dem „Normalarbeitstag“ im „Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen“ ein eigener Abschnitt zugemessen wurde.1 Auch den 1
Vgl.: Neues ABC-Buch für freisinnige Wähler. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen, Berlin 1884; abgedruckt in Auszügen in: Ayass / Tennstedt / Winter (2003),
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„Deutschen Kern- und Zeitfragen“ galt der „Maximalarbeitstag“ als zentraler Bestandteil der Debatte um die Sozialpolitik, in der auch schon der „Achtstundentag“ seinen festen Platz hatte.2 Im Falle der Arbeitszeit hat die Geschichtsschreibung jedoch nicht nur die Begriffe der Quellen übernommen. Denn diese benennen nicht einfach ein Phänomen. Sie sind Teil der zeitgenössischen Deutung der historischen Wirklichkeit, die sich in diesem Fall auf ein bestimmtes Narrativ verengte. Die Rede ist von der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Als Teil dieses Narrativs beinhalten die genannten Begriffe Zuschreibungen, die, historiographisch fortgeschrieben, eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte der Arbeitszeiten festlegen und ihrer Entwicklung damit eine Richtung geben. Für den Autor des „Lexikons parlamentarischer Zeit- und Streitfragen“, ursprünglich als Orientierungshilfe für den liberalen Wähler im Kontext der Reichstagswahlen 1881 gedacht, stand die Einordnung der Arbeitszeitfrage fest: Der Normalarbeitstag in seiner gesetzlich regulierten Form könne nur eine Forderung der Sozialisten sein und müsse in einen „sozialistischen Staat“ münden.3 Damit teilten Befürworter wie Gegner gesetzlich regulierter Arbeitszeitstandards bereits im 19. Jahrhundert eine bis heute gültige Narration der Arbeitszeitgeschichte. Ihr zufolge sind in der organisierten Arbeiterschaft und ihren politischen Vertretern die zentralen Akteure auf dem Weg zu einer Standardisierung von Arbeitszeiten auf der Basis gesetzlicher Regulierung zu sehen. Auch die Art der Verhandlung dieser Standards scheint festzustehen. Angesichts grundsätzlich unvereinbarer Positionen liegen pragmatische, kooperative Lösungen nicht nahe. Die Entwicklung und Aushandlung von Arbeitszeiten wurde also schon von den Zeitgenossen als Konfliktgeschichte gedacht; eine Perspektive, die sich in der Geschichtsschreibung fortsetzte. Die Teleologie einer Arbeitszeitgeschichte als Geschichte von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die sich Senkungen und Standards erkämpfen, die in den „Normalarbeitstag“ mündeten, ist also bereits in der zeitgenössischen Debatte um Arbeitszeiten angelegt. In der hier zugespitzten Form lässt sich dieses Narrativ selbstverständlich nicht auf die Geschichtsschreibung der Arbeitszeiten insgesamt übertragen. So ist beispielsweise die frühere Empörung über die Länge frühindustrieller Arbeitszeiten mittlerweile von einer differenzierteren Betrachtungsweise abgelöst worden. Klagte Wilhelm Schröder 1980 noch über „unerträgliche Arbeitsverhältnisse“ die den „Eingriff des Staates unumgänglich“ gemacht hätten, betonte Alf Lüdkte schon im selben Jahr in alltagsgeschichtlicher Perspektive die Gestaltungsspielräume der Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen bei der Handhabung von insgesamt
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S. 211. Verfasser des „ABC-Buchs“ war Eugen Richter, der allerdings erst in der Neufassung von 1892, dem „Politischen ABC-Buch“, als Autor in Erscheinung trat. Vgl.: Ayass / Tennstedt / Winter (2003), S. 201, Fußnote 1. Vgl.: Schäffle (1894), S. 362–379. Neues ABC-Buch für freisinnige Wähler. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen, Berlin 1884; abgedruckt in Auszügen in: Ayass / Tennstedt / Winter (2003), S. 212.
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noch sehr wenig dichten und häufig unterbrochenen Arbeitszeiten.4 Auch die These Schröders, die Entwicklung der Arbeitszeiten sei mit einer Vereinheitlichung derselben einhergegangen, musste revidiert werden. So stellte etwa Christoph Deutschmann wenige Jahre später fest, dass die Arbeitszeiten der im Bezirk Mittelfranken von der Fabrikaufsicht inspizierten Betriebe zwischen 5 und 16 Stunden schwankten und sich zudem saisonal und konjunkturell stark unterschieden.5 Auch die Arbeitergeschichte hat auf diese Heterogenität der Arbeitszeiten hingewiesen, die etwa Bergbau und Textilindustrie kaum vergleichbar erscheinen lassen – ganz abgesehen von den ohnehin völlig anderen Bedingungen gehorchenden Arbeitszeiten im primären Sektor.6 Die folgenden Ausführungen sind kein Plädoyer gegen die Leistungen der Gewerkschafts- und Arbeitergeschichte oder deren Relevanz. Dennoch scheint es geboten, auf den Faktor der Narrativität in der Arbeitszeitgeschichte hinzuweisen. Denn wo die Perspektive auf den Konflikt in seiner narrativen Verdichtung reflektiert wird, zeigt sich, dass es neben diesem auch noch andere Stränge der zeitgenössischen Deutung gab. Sie gilt es zu berücksichtigen, denn wo der Konflikt als einziger Modus der Aushandlung von Arbeitszeiten erscheint und wo der „Normalarbeitstag“ als Maßstab für die Bewertung historischer Arbeitszeitkonstellationen herangezogen wird, werden alternative Erklärungen allzu leicht vernachlässigt, verschwimmt die historische Wirklichkeit vor der Folie ahistorischer Ansprüche. Noch 2004 präsentierte Heike Knortz den Arbeitszeitkonflikt in der Weimarer Republik als Klassenkampf, dessen Auflösung an der unvereinbaren Position zwischen Arbeit und Kapital scheitern musste: „Unter diesen Bedingungen mussten die Arbeitszeitkonflikte in der Folge notwendig eskalieren.“7 Derartige Zwangsläufigkeiten sind der Entwicklung der Arbeitszeiten nicht inhärent. Das zeigt der Blick auf die Phasen und Periodisierungen der Arbeitszeitgeschichte in besonderem Maße. Diese orientiert sich häufig an politischen Zäsuren und besonders konfliktreichen Phasen der Aushandlung von Arbeitszeiten, was der einzige Grund dafür sein dürfte, weshalb die Weimarer Republik bis heute überhaupt als eine eigenständige Phase der Arbeitszeitentwicklung angesehen wird. Die Arbeitszeitfrage war zwar ein Faktor für das Scheitern der Regulierung der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik. Der Konflikt um die Arbeitszeiten verleiht der Weimarer Republik jedoch nicht im Umkehrschluss zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Arbeitszeiten.8 Ausgehend von der Frage nach den Arbeitszeiten besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Weimarer Zeit 4 5 6 7 8
Schröder (1980), S. 257; Lüdtke (1980), S. 97 u. S. 120f. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 123. Vgl.: Ritter / Tenfelde (1992), S. 365f. Knortz (2004), S. 193. Vgl. zum Problem der Weimarer Republik, einen tragfähigen Modus zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen zu finden und zur Rolle der Arbeitszeitfrage dabei: Mommsen (1995), S. 220f.
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eher den Endpunkt lange zuvor eingeleiteter Senkungen darstellt.9 Axel Schildt sieht gar zwischen dem Ersten Weltkrieg und Mitte der 1950er Jahre eine Phase relativer Stagnation, als sich die Organisation von Arbeitszeiten um den Achtstundentag bei einer sechstägigen Arbeitswoche eingependelt hatte.10 Auch wenn die Perspektiven auf die Arbeitszeitgeschichte und die Fragestellungen an sie durchaus verschiedene sind, dominiert doch bei der Beschreibung der Arbeitszeitentwicklung eine Verquickung politik- und wirtschaftsgeschichtlicher Zäsuren. So unterscheidet beispielsweise Markus Promberger drei häufig verwendete – wenn auch teilweise etwas anders gesetzte und bezeichnete – Phasen der „Arbeitszeitpolitik“: die frühindustrielle, die hochindustrielle und die gegenwärtige, „nachfordistische“.11 Allerdings wollen hierbei Wirtschafts- und Politikgeschichte nicht so recht zusammengehen, was man schon daran sieht, dass Promberger die hochindustrielle Phase erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzen lässt. Zumal er diese als Phase der „Normalarbeitszeit“ bezeichnet, und ihr damit die bereits skizzierte Entwicklungslogik unterstellt.12 In dieser Periodisierung der Arbeitszeitgeschichte, beginnend mit den seit der Frühindustrialisierung stark steigenden Arbeitszeiten, ist letztlich deren Senkung als eine Notwendigkeit bereits angelegt.13 Mark Spoerer und Jochen Streb haben hier zumindest einen Perspektivwechsel angeregt. Während beispielsweise Chris Nyland noch die besondere Leistung der Senkung von Arbeitszeiten herausstellte und die Arbeitszeitsenkung zwischen 1870 und 1980 als „dramatic development“ bezeichnete,14 relativieren Spoerer und Streb diese Perspektive. Ihrer Ansicht nach stellt nicht die Senkung der Arbeitszeiten die Besonderheit dar, sondern die Höhe der frühindustriellen Arbeitszeiten. Der Rückgang der Arbeitszeiten im 20. Jahrhundert entspreche also lediglich ihrem Anstieg im 19. Jahrhundert und sei demzufolge einem Anpassungsprozess an frühere Arbeitszeiten gleichzusetzen.15 Es kann nur noch einmal auf den eigentlich banalen Umstand hingewiesen werden, dass der Gegenstand „Arbeitszeiten“ keine zwingende Einteilung seiner Geschichte vorgibt. Hier soll auch keiner neuen Periodisierung das Wort geredet werden. Dennoch sind diese Überlegungen grundlegend, verweisen sie doch darauf, dass auch die beiden hier untersuchten Phasen der Senkung von Arbeitszei 9 10
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Vgl.: Schudlich (1987), S. 13f; Schildt (1995), S. 73. Vgl.: Schildt (1995), S. 79. Wobei auch Schildt darauf hinweist, dass diese Betrachtung auf einem Durchschnittswert beruht, der insbesondere die massiven Veränderungen der Arbeitszeiten in der Depression, sowie in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft nicht berücksichtigt. Vgl.: Ebd. S. 80. Promberger (2005), S. 10. Ebd. S. 20. Das macht sie nicht nur in der deutschen Geschichtsschreibung zu einem beliebten Gegenstand. Vgl. z.B. auch: Cross (1989); Nyland (1989). Nyland (1989), Vorwort, S. IX. Vgl.: Spoerer / Streb (2008), S. 118. Gerhard Schildt hat in seiner Replik auf diesen Aufsatz kritisiert, dass auch Spoerer / Streb von einem letztlich „normalen“ Arbeitsvolumen ausgehen würden, das es nicht geben könne. Vgl.: Schildt (2008), S. 554.
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ten keiner Entwicklungslogik folgen. Insbesondere muss der Eindruck hinterfragt werden, die konfliktreichen Arbeitszeitsenkungen des Kaiserreichs stünden einer raschen und konfliktlosen Verkürzung in der frühen Bundesrepublik gegenüber, was auf ein „verbessertes“ Verhandlungssystem zurückzuführen sei. Stattdessen rücken hier die jeweils unterschiedlichen, durch die Ordnungsvorstellungen geprägten, Wahrnehmungen der Arbeitszeitdebatten als Explanans dieser unterschiedlichen Dynamik in den Vordergrund. Zunächst gilt es an dieser Stelle jedoch noch einmal die Rolle des Konflikts als zentralem Mechanismus für die Aushandlung von Arbeitszeiten zu hinterfragen. Nicht hinsichtlich der Quantität der Konflikte oder deren Relevanz im Einzelfall, sondern was den Konflikt als zentralen Zugang zur Geschichte der Arbeitszeiten angeht. Die Suche nach Konsens in der Geschichte der Arbeitsbeziehungen Gerade die im Folgenden skizzierten Ordnungsvorstellungen machen deutlich, dass der Konflikt nicht die einzige Dimension der Aushandlung von Arbeitszeiten darstellen kann. Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft entwickelten sich aus der Suche nach konsensualen Lösungen für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen heraus. Wenn in dieser Arbeit Konzepte der Kooperation im Vordergrund stehen, wird damit jedoch kein Gegen-Narrativ entworfen. Mit dem Blick auf die Rolle der Ordnungsvorstellungen für die Wahrnehmung und Aushandlung von Arbeitszeiten rückt vielmehr ein weiterer, bisher vernachlässigter Strang der Thematisierung von Arbeitsbeziehungen in den Fokus. Er ist aber nicht weniger bedeutend; die Suche der Zeitgenossen nach Konzepten für eine möglichst konfliktfreie Regulierung von Arbeitsbeziehungen erstreckt sich über beide hier untersuchten Zeiträume. Das gilt keineswegs allein für die Ebene der Ordnungsvorstellungen, denn die Frage nach Kooperation praktischer oder konzeptioneller Art ist ein fester Bestandteil der Geschichte wirtschaftlicher Beziehungen. Das zeigt schon die Geschichte deutscher Sozialpolitik. Genauer gesagt die Politik des sozialen Ausgleichs, also der Integration abweichender Interessen in den Arbeitsbeziehungen.16 Ausgehend von der Suche nach den Wurzeln der bundesrepublikanischen Wirtschaftsordnung und Arbeitsbeziehungen hat insbesondere Werner Abelshauser auf deren Ursprünge im Kaiserreich hingewiesen. In der Gründerkrise fand demzufolge ein Übergang von einer freien zu einer „korporativen“, Marktwirtschaft statt, also einer auf Verbände gestützten Organisation des Interessenausgleichs.17 Das Element der Kooperation bezieht Abelshauser damit in erster Linie auf das Verhältnis verschiedener Verbände und verweist damit auf die lange Ge 16
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Vgl.: Hentschel (1987), S. 197. Hentschel trennt zwei Ebenen der Sozialpolitik: die Politik der sozialen Sicherung und die Politik des sozialen Ausgleichs, die an dieser Stelle im Vordergrund steht. Vgl. hierzu insbesondere: Abelshauser (1987b), S. 149f.
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schichte der „Deutschland AG“.18 Dennoch ist es an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Wurzeln der bundesrepublikanischen Ordnung der industriellen Beziehungen bis ins Kaiserreich zurückreichen. Denn derselbe Umstand gilt für politische Konzepte sozialen Ausgleichs, wie sie etwa in der sogenannten „Sozialen Marktwirtschaft“ ihren Ausdruck finden sollten. Die Soziale Marktwirtschaft erscheint häufig als ein erfolgreicher sozialpolitischer und sozialstaatlicher Endpunkt. Auch dieses Konzept beschreibt jedoch weniger eine besondere Form politisch organisierten Ausgleichs in der frühen Bundesrepublik, sondern steht in einer langen Tradition der Suche nach sozial integrativen Konzepten für die Regulierung der Wirtschaftsordnung.19 Wieder war es Werner Abelshauser, der bereits in den 1980ern auf die weit zurückreichenden Ursprünge sozialstaatlicher Konzepte hingewiesen hatte und damit die Bedeutung der Nachkriegszeit für die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Konzepte relativierte. Der „sozialpolitische Schub“ nach dem Zweiten Weltkrieg gab Abelshauser zufolge „nur einer Entwicklung den Namen, die von allgemeiner Bedeutung für die Entfaltung der industriellen Gesellschaft ist und zu deren Vorreitern Deutschland seit 1881 zählte.“20 Die Suche nach politischen Konzepten des Ausgleichs in den industriellen Beziehungen steht demnach im Kontext des Industrialisierungsprozesses insgesamt. Auf die damit einhergehenden Veränderungen hatten die europäischen Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts Antworten zu finden, denn die Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels brachten traditionelle soziale Sicherungssysteme wie die Familie an ihre Grenzen. Demnach stellte sich die Frage nach der Entwicklung sozialpolitischer Ansätze auf einer grundsätzlichen Ebene und kann nicht (allein) mit der Abwehr bestimmter sozialer Gruppen begründet werden.21 Eine neue Dimension erreichte die Sozialpolitik und das Nachdenken über Konzepte des Ausgleichs im Wirtschaftsleben in der Weimarer Republik. In vielerlei Hinsicht sind hier die Grundlagen desjenigen Konzeptes zu suchen, das unter dem Schlagwort der „Sozialen Marktwirtschaft“ später in so enge Verbindung mit der Gründung der Bundesrepublik gebracht wurde. Ihren Ausdruck findet der bis dahin nicht gekannte sozialpolitische Anspruch der Politik insbesondere in der Weimarer Reichsverfassung, die „alle wirtschaftliche Tätigkeit unter einen ‚sozialen Vorbehalt‘“ stellte.22 So verpflichtete sie die „Ordnung des Wirtschaftslebens“ auf den „Grundsatz der Gerechtigkeit mit dem Ziele eines menschenwürdigen Daseins für alle“.23 Insbesondere sollte sie die Grundlagen für geregelte Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und -nehmern 18 19
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Vgl.: Abelshauser (2009), S. 458; sowie: Abelshauser (2011), S. 38. Vgl. zur Kritik am Mythos der Sozialen Marktwirtschaft als einer besonderen bundesrepublikanischen Errungenschaft u.a.: Spoerer (2007), S. 28f; Hentschel (1998), S. 10f; Löffler (2011), S. 33. Abelshauser (1987a), S. 10. Vgl.: Ebd. S. 12. Ebd. S. 11. Die Verfassung des Deutschen Reichs („Weimarer Reichsverfassung“) vom 11.8.1919, Art. 151, Abs. 1.
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schaffen, etwa durch die Verankerung der betrieblichen Mitbestimmung. Arbeiter und Angestellte waren „dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.“24 Am Ende des Ersten Weltkrieges gingen Arbeitgeber und -nehmer aber auch von sich aus aufeinander zu. Mit dem Arbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15. November 1918, auch bekannt als Stinnes-Legien-Abkommen, wurde die Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) begründet, mit der Arbeitgeber und -nehmer die Grundlage für künftig friedliche Verhandlungen zu legen versuchten. Bereits Gerald Feldmann betonte die Bedeutung dieses Versuchs, die Arbeitsbeziehungen auf eine konsensuale Basis zu stellen: „Ihre Gründung nach Kriegsende und Ausbruch der Revolution sollte die sozialpartnerschaftliche Kooperation zwischen Unternehmertum und der organisierten Arbeiterschaft institutionalisieren, und sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Gewerkschaftsseite sahen die Befürworter die ZAG als eine logische Erweiterung des Tarifgedankens und Abkehr vom Klassenkampfgedanken an […].“25
Dafür waren beide Seiten zu Zugeständnissen in Fragen bereit, die seit Jahren Gegenstand des Konflikts waren. Nicht zuletzt wurde im Arbeitsgemeinschaftsabkommen der Achtstundentag vereinbart, verbindlich „für alle Betriebe“ und ohne „Verdienstschmälerung“.26 Bereits drei Tage nach Unterzeichnung des Abkommens wurde es im Reichsanzeiger veröffentlicht und erhielt den rechtlichen Rang eines Grundlagengesetzes.27 Es ist hinlänglich bekannt, dass dieser Versuch, die Basis für einen Ausgleich in den Arbeitsbeziehungen zu schaffen, scheiterte. Dennoch liegen hier die Grundlagen des kollektiven Arbeitsrechts und damit des Tarifvertragssystems der Bundesrepublik. Darauf verweist schon die häufige Anwendung des Begriffs der „Sozialpartnerschaft“ auf die Weimarer Zeit, um die Ursprünge partnerschaftlicher Konzepte für die Gestaltung der bundesrepublikanischen Arbeitsbeziehungen zu betonen.28 Darüber hinaus war die Weimarer Republik eine erlebte Zäsur für diejenigen, die an der Formulierung des Konzepts einer „Sozialen Marktwirtschaft“ beteiligt waren. Abgesehen vom Versuch, Grundlagen zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen zu bilden, war die Wirtschaftskrise 1929/32 Auslöser für ein Umdenken innerhalb der Nationalökonomie, im Rahmen dessen der sogenannte Ordoliberalismus begründet wurde. Die Krise hatte die Vorstellungen von der Selbstheilungskraft des freien Marktes diskreditiert und damit die Nationalökonomie gleich 24 25 26 27 28
Ebd. Art. 165, Abs. 1. Feldmann / Steinisch (1985), S. 7. Arbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15.10.1918, §9; abgedruckt in: Feldmann / Steinisch (1985), S. 135. Vgl.: Hentschel (1987), S. 199. Diesen Bezug stellt besonders prägnant Petra Weber her, indem sie die „gescheiterte Sozialpartnerschaft“ zum Titel ihrer Monographie über die industriellen Arbeitsbeziehungen in der deutschen und französischen Zwischenkriegszeit macht. Vgl.: Weber (2010).
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mit. „Wer glaubt denn heutzutage außerhalb unserer Kreise noch an nationalökonomische Wissenschaft?“ Mit diesen Worten zitierte Walter Eucken in seinem Buch „Nationalökonomie –wozu?“, das 1938 erschien, den Staatswissenschaftler Werner Sombart, um einer „weitverbreiteten Stimmung“ Ausdruck zu geben.29 Ausgehend von dieser doppelten Krisendiagnose forderten die Ordoliberalen einen starken Staat und eine wertegebundene Marktwirtschaft als Grundlage eines integrativen Wirtschaftssystems, eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus.30 Zu den Ordoliberalen gehörte nicht zuletzt Alfred MüllerArmack, der 1947 den Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ prägte, und auch Ludwig Erhard, die Gründerfigur der „Sozialen Marktwirtschaft“, vertrat die ordoliberale Position.31 Die Weimarer Republik bildete damit in mehrfacher Hinsicht den Erfahrungsraum derjenigen, die Wirtschaftsordnung und sozialpolitisches Denken der Bundesrepublik prägten – nicht zuletzt, weil sie die Weimarer Krise schlicht erlebt hatten.32 Zur Kontinuität integrativer Konzepte für die Ordnung der Wirtschaft und der Arbeitsbeziehungen gehört allerdings auch der Nationalsozialismus. Der Ordoliberalismus formierte sich in dieser Zeit zur Schule.33 Eucken stand, vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Weimarer Republik, der Demokratie zunächst ohnehin skeptisch gegenüber.34 Und auch inhaltlich entsprach die Ordnungspolitik des Nationalsozialismus dem Modell einer sozial gebundenen Marktwirtschaft. Müller-Armack brachte sogar zum Ausdruck, dass er seine Vorstellung eines „starken Staates“ hier durchaus verwirklicht sah.35 Eine weitere Verbindung besteht in dem seit den 1920er und 1930er Jahren so bedeutenden Gemeinschaftsbegriff, der im Nationalsozialismus auch im Wirtschaftsleben zur zentralen Formel wurde. Diese Gemeinschaftsidee war auch nach 1945 nicht einfach verschwunden.36 Ein Umstand, auf den bei der Bestimmung der Ordnungsvorstellungen noch einmal zurückzukommen sein wird. Viele weitere Stränge lassen sich ausmachen, fragt man nach Versuchen und Konzepten des (sozialen) Ausgleichs in der Geschichte der Marktwirtschaft im Allgemeinen und der Arbeitsbeziehungen im Speziellen. So wäre etwa auch noch auf die kirchliche Soziallehre und die bürgerliche Sozialreform des 19. Jahrhunderts zu verweisen, in denen etwa Alfred Klose und Jürgen Reulecke die Wurzeln sozialpartnerschaftlicher Konzepte des 20. Jahrhunderts angelegt sehen.37 Die zahlreichen Kontinuitäten, die hier nur angedeutet werden konnten, stärken die These Abelshausers, dass die Suche nach derartigen Konzepten von Kooperation 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Eucken (1938), S. 5. Vgl.: Ptak (2004), S. 28f. Vgl.: Abelshauser (2011), S. 93. Vgl. zur Bedeutung der Weimarer Republik für Politiker und Politik der frühen Bundesrepublik: Ullrich (2009). Vgl.: Ptak (2004), S. 26. Vgl.: Ebd. S. 37. Vgl.: Abelshauser (2011), S. 94. Vgl.: Thamer (1990), S. 127. Vgl.: Klose (1986); Reulecke (1986).
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im Kontext des Übergangs zu neuen Formen des Wirtschaftens in Folge der Industrialisierung steht. Abgesehen von der grundsätzlichen Notwendigkeit, einen möglichst konfliktfreien Modus für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen zu finden, unterscheiden sich jedoch die im Rahmen dieser Suche gefundenen Antworten. Sie orientieren sich jeweils an dem, was zu unterschiedlichen Zeitpunkten historisch geboten schien. Die verschiedenen hier angerissenen Stränge machen zudem deutlich, dass die Rekonstruktion dieser Suche nach Konsens keineswegs auf die Geschichte der Sozialpolitik beschränkt bleiben kann. Das zeigt schon das Beispiel der ZAG, die aufgrund einer freiwilligen Initiative von Arbeitgebern und Gewerkschaften zustande kam, nicht aufgrund politischen Drucks. Besonders deutlich macht dies auch der Blick ins späte 19., frühe 20 . Jahrhundert, als sich sozialer Ausgleich als ein politischer Anspruch erst herauszubilden begann. Die Suche nach Kooperation bewegte sich hier auf einer anderen Ebene – im Mittelpunkt stand das Unternehmen als Ort, an dem sozialer Ausgleich herzustellen sei, wie anhand der patriarchalischen Ordnungsvorstellungen zu zeigen sein wird. Die beiden hier vorgestellten Ordnungsvorstellungen stehen damit im Kontext einer übergeordneten Suche nach integrativen Konzepten der Organisation des Wirtschaftslebens, die eine lange Entwicklungstradition aufweist und zu verschiedenen Zeiten neu verhandelt wurde. Im Hinblick auf die Frage nach ihrer Wirkung auf die Deutung und Verhandlung von Arbeitszeiten interessieren jedoch vor allem die Unterschiede innerhalb der Antworten, die auf die Frage nach einer konsensualen Gestaltung der Arbeitsbeziehungen jeweils gegeben wurden. Es gilt daher, im Folgenden die perspektivischen und inhaltlichen Verschiebungen zwischen den Ordnungsvorstellungen herauszuarbeiten und in Bezug zu wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu setzen. 2.2 KOOPERATIONSIDEALE IM WANDEL: PATRIARCHALISMUS UND SOZIALPARTNERSCHAFT Die Frage nach den innerhalb der Unternehmerschaft geteilten Ordnungsvorstellungen im späten 19., frühen 20. Jahrhundert sowie den 1950er und 1960er Jahren rückt eine neue Dimension der skizzierten Suche nach Konzepten des Ausgleichs für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in den Vordergrund – die Sinnhorizonte der zeitgenössischen Akteure. Um deren Einfluss auf die Deutung und Rezeption der Arbeitszeitfrage analysieren zu können, müssen ihre jeweiligen Inhalte aufgeschlüsselt und verglichen werden. Zunächst sind jedoch die Entstehungskontexte und Entwicklungslinien von Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft darzulegen. Durch die Kenntnis der Umstände, innerhalb derer die Ordnungsvorstellungen formuliert beziehungsweise reformuliert wurden, werden vor allem die inhaltlichen und perspektivischen Verschiebungen zwischen ihnen deutlich.
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Bedingungen der Entstehung und Neugewichtung patriarchalischen Ordnungsdenkens Vor allem im Falle des Patriarchalismus war dessen Funktion lange Zeit umstritten. Die Bewertung des Phänomens stand zunächst ebenfalls im Zeichen des Narrativs eines Klassenkampfs. Hartmut Kaelble interpretierte den Patriarchalismus als „Klassenideologie“ der Unternehmerschaft.38 Auch wenn diese Sichtweise mittlerweile nicht mehr dem Forschungsstand entspricht, stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Phänomens „Patriarchalismus“. In der Bezeichnung Kaelbles drückt sich vor allem das Unbehagen aus, den Patriarchalismus mit dem ihm zugeschriebenen sozialen Auftrag gleichzusetzen. Diese Sichtweise adaptiert auch Thomas Welskopp, wenn er den Patriarchalismus als reines „ideologisches Unterfutter“ bezeichnet, das „unzulässig aus den Stellungnahmen exponierter Unternehmerpersönlichkeiten verallgemeinert worden ist.“39 Nicht Fürsorge oder wertegebundenes Handeln habe bei patriarchalisch geführten Unternehmen im Vordergrund gestanden, sondern ökonomisch rationale Erwägungen. Diese Interpretation ist heute vor allem in der Wirtschaftsgeschichte dominant. Patriarchalische Konzepte der Unternehmensführung sind demnach auf ein zentrales Problem frühindustrieller Unternehmen zurückzuführen: qualifizierte Arbeitskräfte zu rekrutieren und langfristig zu halten. Freiwillige Leistungen des Unternehmers sollten dabei helfen, qualifizierte Arbeitnehmer an den Betrieb zu binden. Über die ökonomischen Vorteile hinaus kam der Patriarchalismus dem Selbstverständnis der Unternehmer entgegen, da es an christliche Vorbilder der Fürsorge anknüpfen konnte.40 Auch Hartmut Berghoff betont, der Patriarchalismus stelle ein Modell zur Bewältigung von Organisationsproblemen dar. In diesem Sinne war er „a modern response to modern problems of industrial society“.41 Allerdings geht Berghoff über die Beschreibung des Patriarchalismus als einem reinen Organisationsproblem oder einer „Herrschaftsform“ hinaus, indem er dieses Konzept in eine Verbindung mit dem Konzept der Unternehmenskultur stellt. Zwar sieht er in patriarchalischen Unternehmenskulturen durchaus ein „betriebliches Steuerungsinstrument“ mit „Koordinations-, Integrations- und Motivationsfunktionen“.42 Dieses Instrument habe eine explizite Verregelung und Überwachung von Abläufen zumindest teilweise überflüssig gemacht und damit Lücken in der Organisation geschlossen, die allein durch finanzielle Anreize oder Zwang nicht reguliert werden konnten.43 Allerdings erlaubt der Bezug zum Konzept der Unternehmens 38 39 40 41
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Kaelble (1967), S. 57. Welskopp (1994b), S. 339. Vgl.: Pierenkemper (2000), S.162f. Berghoff (1997), S. 170. Berghoff zitiert hier: Geary, D.: The Industrial Bourgeoisie and Labour Relations in Germany 1871–1933, in: Blackbourn, D. / Evans, R. (Hg.): The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the late Eighteenth to the Early Twentieth Century, London 1991, S. 144. Ebd. S. 173. Vgl.: Ebd. S. 174.
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kultur Berghoff die Feststellung, dass der Patriarchalismus mehr war als eine funktionale Managementtechnik. In diesem umfassenden „Leitbild“ vermischten sich vielmehr die Anforderungen des jeweiligen Arbeitsmarktes und der Unternehmensorganisation mit dem Anspruch religiöser und sozialer Verantwortung.44 Das Phänomen des Patriarchalismus lässt sich daher nicht auf seine ökonomische Funktion reduzieren, schon allein deshalb, weil seine jeweilige Form das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses darstellt, an dem eine Vielzahl von Akteuren im Unternehmen beteiligt ist – nicht zuletzt die Arbeitnehmer selbst.45 Damit lässt sich der Patriarchalismus kaum auf ein klar bestimmbares Regelwerk der Unternehmensführung verdichten. Dieses Konzept konnte in der betrieblichen Praxis unterschiedlich gefüllt werden, was es auch nicht sinnvoll erscheinen lässt, verschiedene Formen des Patriarchalismus herauszudestillieren, etwa den Paternalismus und den Protektionalismus.46 Die Bedeutung patriarchalischer Konzepte für die Unternehmensorganisation beziehungsweise die Unternehmenskultur des Kaiserreichs ist durch zahlreiche Studien mittlerweile gut belegt.47 Gegenstand von Kontroversen sind, wie skizziert, in erster Linie Fragen der Gewichtung zwischen ökonomischer Funktion und unternehmenskulturellem, also sinngebendem, Gehalt. Ausgehend von der Frage nach dem Patriarchalismus als einer Wissensordnung steht Letzterer hier im Vordergrund. Der Patriarchalismus repräsentiert in diesem Sinne einen bestimmten Modus der Deutung des Unternehmens. Im Übrigen war diese Wissensordnung keineswegs auf das Unternehmen beschränkt. Der Patriarchalismus war im deutschen Kaiserreich ein Ordnungsmodell für die Gesellschaft insgesamt, das sich auf zahlreiche Lebensbereiche auswirkte – unter anderem auf die Arbeitswelt. Das Unternehmen wurde im Rahmen dieser patriarchalischen Wissensordnung zu einer „sinnstiftenden“ Einrichtung neben Familie und Kirche erhoben.48 Die patriarchalische Ordnungsvorstellung umfasst daher weit mehr als den Rückgriff auf die Familie als personelle oder organisatorische Ressource. Der Verweis auf die Familie als zentralem Topos der Thematisierung betrieblicher Sozialbeziehungen ist nicht einfach eine Überhöhung des Unternehmens durch die Unternehmer, sondern lässt sich als Teil einer Reaktion auf die Veränderung der Lebensweise im Zuge der Industrialisierung deuten. Die Verbindung von familiärer und unternehmerischer Logik diente in dieser Perspektive als Mittel der Integrati 44 45 46
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Ebd. S. 188. Das hat Anne Nieberding am Beispiel der patriarchalischen Unternehmenskultur des Unternehmens Bayer herausgearbeitet. Vgl.: Ebd. (2005), S. 52f. Diese Unterscheidung trifft beispielsweise Toni Pierenkemper. Vgl.: Ebd. (2000), S. 163. Zumal nicht unproblematisch ist, dass diese Unterscheidung aus den 1930er Jahren stammt, als ausgehend von einer Krisendiagnose bezüglich der Arbeitsbeziehungen nach neuen Möglichkeiten zur Organisation betrieblicher Sozialbeziehungen gesucht wurde. In diesem Kontext entwickelte bereits Ludwig Geck diese Unterscheidung. Vgl.: Geck (1953), S. 24. (Bei diesem Buch handelte es sich um eine Neuauflage der 1938 erschienen Erstfassung.) Vgl. zu den bereits genannten z.B.: Nieberding (2003); Rudloff (2005); Stremmel (2006). Pierenkemper (2000), S. 164.
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on. Im Rahmen des Patriarchalismus wurde ein neuer Lebensraum entworfen, in Anlehnung an eine zentrale und mit größter Legitimität ausgestatteten Kategorie gesellschaftlicher Ordnung: eben die Familie.49 Demzufolge war auch die öffentliche soziale Aktivität von Unternehmen, etwa die Förderung von Schulen, Kultureinrichtungen oder Festen, nicht einfach karitativen Ursprungs. Unternehmen gerierten sich in diesem Sinne als sozial bedeutende Einrichtungen, „denen die Aufgabe zukam, wesentliche Entwicklungen modernen Lebens aufzufangen.“50 Bereits im späten 19. Jahrhundert deutete sich eine Neudefinition dieses Ordnungskonzepts an. Im späten Kaiserreich befanden sich patriarchalische Konzepte der Unternehmensführung in einer Transformationsphase. In Konzernen und Aktiengesellschaften stießen inhaltliche Bestandteile des Konzepts, wie etwa die persönliche Beziehung zwischen dem Patriarchen und „seinen“ Beschäftigten, an ihre Grenzen. Das führte zu Veränderungen auf der organisatorischen Ebene, etwa indem die Bereitstellung freiwilliger betrieblicher Sozialleistungen professionalisiert und bürokratisiert wurde. Allerdings ist fraglich, ob damit der Endpunkt des Patriarchalismus erreicht ist.51 Das wäre nachvollziehbar, sähe man im Patriarchalismus allein ein Instrument betrieblicher Sozialpolitik, das in neue organisatorische Formen überführt wurde. Zumal dieser Form der Sozialpolitik durch die Genese des Wohlfahrtsstaates in der Weimarer Republik ein neues, kollektiv organisiertes Modell gegenübergestellt wurde. Allerdings, ließe sich einwenden, nahm damit der Umfang der betrieblichen Sozialpolitik keineswegs ab, sondern weiter zu.52 Gleichwohl deuten sich mit diesen Entwicklungen auf der Ebene der Unternehmensorganisation und der Übertragung sozial integrativer Funktionen auf den Staat Veränderungen an, die auch auf einen als Ordnungsvorstellung verstandenen Patriarchalismus nicht ohne Wirkung blieben. Zunächst scheinen jedoch vor allem Kontinuitäten aufzufallen. Im Rahmen des bereits angesprochenen Konzepts sich überlappender Zeitschichten hat Anselm Doering-Manteuffel auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass sich die erste Zeitschicht von 1880 bis 1950 durch eine Betonung dauerhaft verbindlicher Ordnungen auszeichnete.53 Nichts könnte diesen Umstand besser verdeutlichen als die Analogie, die innerhalb des Patriarchalismus zwischen dem Unternehmen und einer Familie hergestellt wurde. Auch in den 1920er Jahren war die Idee des Unternehmens als einer familiären Betriebsgemeinschaft, von der „Betriebsfremde“ wie Parteien und Gewerkschaften auszuschließen seien, höchst aktuell.54 So entwarf etwa Carl Arnhold, Oberingenieur der Gelsenkirchener Bergwerks-A.G., Leiter der dortigen Werksschulbetriebe und Direktor des Deutschen Instituts für Arbeitsschulung (DINTA), im Jahr 1926 ein Programm zur Ausbildung und Arbeitserziehung, mit dem Ziel eine „organi 49 50 51 52 53 54
Vgl.: Luks (2010), S. 54. Ebd. S. 64. Diese Ansicht vertritt Hartmut Berghoff. Vgl.: Berghoff (1997), S. 203. Vgl.: Welskopp (1994b), S. 338. Vgl.: Doering-Manteuffel (2009), S. 47. Vgl.: Kift (2012), S. 90.
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sche Betriebsgestaltung“ zu entwerfen, einen „Werkskörper“ zu schaffen, innerhalb dessen der Arbeiter als Teil einer „Werksgemeinschaft“ zu sehen sei.55 Derartige harmonisierende Konzepte sozialer betrieblicher Ordnung kamen konservativen und antigewerkschaftlichen Unternehmern entgegen, die damit die Beibehaltung des Status quo legitimieren konnten.56 Zentrale Inhalte des patriarchalischen Konzepts wurden also weitergedacht. Gleichzeitig war jedoch die Weimarer Krise symptomatisch für das bereits im 19. Jahrhundert offensichtliche Versagen des patriarchalischen Anspruchs, die Arbeitsbeziehungen auf der Ebene des Betriebes und auf der Grundlage der persönlichen Beziehung zwischen Arbeitgeber und -nehmer zur regulieren.57 Nachdem sich jenes Konzept als dysfunktional erwiesen hatte, galt es dieses zumindest zu erweitern. Der am Berliner Institut für Betriebssoziologie tätige Ludwig Adolph Geck entwickelte Ende der 1920er Jahre den Begriff der „sozialen Betriebspolitik“.58 Geck setzte sich intensiv mit dem Modell der patriarchalischen Unternehmensverfassung auseinander. Er teilte die Vorstellung des Unternehmers als zentraler Figur und Ordnungsfaktor des Betriebes, sah jedoch den Weg hin zu einer „kooperativen Personalverfassung“ eingeschlagen, die auf der Beteiligung der Mitarbeiter, etwa auf der Basis von Ausschüssen, beruhte.59 Die Frage, wie der Mensch harmonisch in den Betrieb zu integrieren sei, öffnete sich damit für neue Konzepte, die unter verschiedenen Begriffen diskutiert wurden. Die Vereinigung von Industrie- und Lebensraum etwa war ein zentrales Thema der Debatte unter Arbeitswissenschaftlern und Industriesoziologien, die für die Überwindung dieser Trennung plädierten und in diesem Sinne zum Beispiel die Einrichtung von Kantinen forderten.60 Auch die Frage, in welchem Verhältnis die betriebliche Ordnung zur Gesellschaft insgesamt stehe, wurde verhandelt; die Idee einer eigenständigen betrieblichen Gemeinschaft blieb jedoch leitend.61 Angesichts der Krise der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik änderte sich aber der Modus ihrer Thematisierung: Die Grundlagen der Arbeitsbeziehungen, die Sozialbeziehungen im Betrieb, sollten mit wissenschaftlichen Methoden sichtbar gemacht und neu geordnet werden. Bezeichnenderweise war es daher der französische Ingenieur Emile Cheysson, der Adolph Geck als Begründer einer „sozialen Betriebsführung“ galt. Dieser habe erkannt: „Der Friede im Betrieb ist eine wesentliche Voraussetzung für das wirtschaftliche Gedeihen der Unternehmung. Gute Beziehungen zum Personal stellen eine technische Notwendigkeit dar, wie der gute Zustand des Werkzeugs und des Motors. [...] Die sozialen Institutionen,
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Ebd. S. 75. Vgl.: Ebd. S. 102. Vgl.: Luks (2010), S. 55. Vgl.: Hilger (1996), S. 39. Vgl.: Ebd. S. 40. Vgl.: Uhl (2012), S. 368f. Vgl.: Luks (2010), S. 165f.
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welche den Widerstreit im Betrieb ausschalten sollen, müssen mit Klugheit und Takt, aber auch mit einer gewissen Technik geführt werden.“62
Die soziale Dimension des Unternehmens sollte demzufolge nicht mehr dem gleichermaßen „instinktiven“ Ordnungskonzept des Patriarchalismus überlassen werden, sondern müsse gezielt gestaltet werden. Der Betriebsführer müsse daher nicht nur Ingenieur und Kaufmann sein, sondern „sich zu einem Sozialingenieur verdoppeln“.63 Hier zeichnet sich die von Anselm Doering-Manteuffel beschriebene zweite Zeitschicht des Ordnungsdenkens ab, die durch eine deutliche Aufwertung des Fortschrittsbegriffs und der „Modernisierung“ gekennzeichnet war.64 Das machen gerade Personen wie Geck oder Arnhold deutlich. Auch Arnhold steht mit seinen Konzepten einer strukturierten Ausbildung für eine Professionalisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen, wie sie parallel in der Gründung von Betriebssoziologie und Arbeitswissenschaft zum Ausdruck kam. Diese planerische Optimierung der Gesellschaft durch Sozialexperten macht auch DoeringManteuffel zu einem zentralen Kennzeichen sich verändernden Ordnungsdenkens.65 Es ist die Geburtsstunde des „Social Engineering“, der Konjunktur von Sozialtechnologien und Expertenwissen, das noch bis Ende der 1950er Jahre und darüber hinaus die Verhandlung der betrieblichen Sozialbeziehungen der Bundesrepublik prägte.66 Damit zeichnet sich eine deutliche Veränderung der Thematisierung betrieblicher Sozialbeziehungen ab, ohne dass es dadurch einen Bruch der verhandelten Inhalte gegeben hätte. Genese sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenkens Im Nationalsozialismus flossen Topoi wie die Werksgemeinschaft in das Konzept der Volksgemeinschaft ein. Der Gedanke der Auflösung des Konflikts von Arbeit und Kapital in der Gemeinschaft wurde also aufgegriffen und auch in der Bundesrepublik weitergeführt.67 Diese Kontinuität lässt sich auch personell gut feststellen. Der erwähnte Carl Arnhold setzte seine Arbeit unter anderem in der Deutschen Arbeitsfront fort, im Amt für Berufserziehung und Betriebsführung. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging er seiner Tätigkeit in der Gesellschaft für Arbeitspädagogik weiter nach.68 Gleiches gilt für Ludwig Adolph Geck, der auch in den 1950er Jahren (und darüber hinaus) zu Fragen der sozialen Dimension des Betriebes publizierte. Seine Monographie über die „soziale Betriebsführung“, die 1938 62 63 64 65 66 67 68
Geck (1953), S. 32f. (Bei diesem Buch handelte es sich um eine Neuauflage der 1938 erschienen Erstfassung.) Ebd. S. 33. Vgl.: Doering-Manteuffel (2009), S. 47. Vgl.: Ebd. S. 47f. Vgl.: Etzemüller (2006), S. 128f. Vgl.: Luks (2010), S. 150ff. Vgl.: Kift (2012), S. 93.
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zum ersten Mal erschienen war, veröffentlichte Geck im Jahre 1953 sogar noch einmal in einer zweiten Auflage.69 Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich finden, darunter Guido Fischer, ein Protagonist der Debatte um die soziale Betriebsgestaltung, der ebenfalls sein erstmals 1929 erschienenes Buch „Mensch und Arbeit im Betrieb“ im Jahre 1949 ein zweites Mal auflegen konnte.70 Auch Josef Winschuh, der in den 1950er und 1960er Jahren mit zahlreichen Publikationen zur Bedeutung der betrieblichen Sozialpolitik – die er in enger Anlehnung an das Konzept einer betrieblichen Gemeinschaft entwarf – zur Formulierung der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung beitrug, hatte seine Karriere 1920 als Sozialsekretär begonnen.71 Damit ist auf einer personellen Ebene bereits angedeutet, was auch inhaltlich festzustellen ist: Die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung war keine „Neuerfindung“ der Bundesrepublik. Ihre Ursprünge liegen in den 1920er Jahren, in der beginnenden Ausdehnung einer neuen Zeitschicht des Ordnungsdenkens, die sich durch einen neuen Modus der Thematisierung der Sozialbeziehungen, dem „Social Engineering“, auszeichnet. Hier gilt für die Ordnungsvorstellungen, was für die Geschichte der industriellen Beziehungen und der Sozialpolitik bereits skizziert wurde. Um die sozialpolitischen Kontinuitäten und die langfristigen Wurzeln der industriellen Beziehungen der Bundesrepublik zu beschreiben wird daher häufig der Begriff der Sozialpartnerschaft nicht exklusiv für die Bundesrepublik gebraucht.72 Auch wenn der Begriff der „Partnerschaft“ seine Popularisierung erst im Kontext der Suche nach neuen Modi zur Thematisierung betrieblicher Arbeitsbeziehungen in der Nachkriegszeit erfuhr, wäre es falsch, hier von einer neuen Ordnungsvorstellung zu sprechen. Zu deutlich ist die inhaltliche Kontinuität von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus hin zu den partnerschaftlichen Konzepten der 1950er Jahre.73 Dennoch erfuhr die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung im Kontext der Nachkriegszeit eine besondere Popularität und damit verbunden auch eine inhaltliche Neukonturierung. Die Gründung der Bundesrepublik und der wirtschaftliche Wiederaufbau bedeuteten für die Zeitgenossen eine Zäsur. Entsprechend präsent war die Rhetorik des Bruchs und des Neuanfangs für die Beschreibung der gesellschaftlichen Ordnung und auch der Arbeitsbeziehungen.74 Die nationalsozialistische Vergangenheit warf die Frage nach der Tragfähigkeit gemeinschaftlicher Ordnungskonzepte auf. Entsprechend groß war auch innerhalb der Unternehmerschaft das Bedürfnis nach Orientierung, das noch bis Ende der 69 70 71 72
73 74
Vgl.: Geck (1953). Vgl.: Luks (2010), S. 153. Vgl.: Winschuh (1954), S. 7. Werner Plumpe spricht von der Sozialpartnerschaft als typischem „Leitbild“ für die politische Regulierung der industriellen Beziehungen im gesamten 20. Jahrhundert und verweist auf den Ersten Weltkrieg als Wendepunkt auf dem Weg hin zu diesem Konzept. Vgl.: Plumpe (2001), S. 178f. Vgl.: Luks (2010), S. 157. Vgl.: Nolte (2000), S. 274.
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1960er Jahre anhielt.75 Der Begriff der „Partnerschaft“ bot hier Abhilfe. Zum Vokabular der Beschreibung der Arbeitsbeziehungen der 1950er Jahre gehörten Begriffe wie „betriebliche Harmonie“, „überbetrieblicher Interessensausgleich“ und eben die „Sozialpartnerschaft“. Zwar sind die Bezüge zu den vorhergegangenen Gemeinschaftskonzepten deutlich, dennoch stellen sie den Versuch dar, neue Modi zur Beschreibung der Arbeitsbeziehungen innerhalb des Betriebes sowie auf der überbetrieblichen Ebene zu finden. Es fand eine Neuorientierung unternehmerischen Selbstverständnisses statt, das sich nun an „partnerschaftlichen Kriterien“ orientierte. „Partnerschaft“ wurde geradezu zu einem neuen Leitbild unternehmerischer Selbstdeutung.76 Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass der Begriff der „Sozialpartnerschaft“ hier nicht die bundesrepublikanische Wirtschaftsordnung beziehungsweise das Tarifvertragssystem bezeichnet, wie es häufig der Fall ist.77 Der Begriff der „Partnerschaft“ fand sowohl in der Beschreibung der industriellen Beziehungen insgesamt Anwendung als auch für den betrieblichen Sozialraum, der hier im Vordergrund steht. Allerdings fand in der Bundesrepublik nicht lediglich eine begriffliche Neuzentrierung der Ordnungsvorstellung statt. Sie erhielt im Kontext der Suche nach einer tragfähigen Wirtschaftsordnung für die junge Bundesrepublik auch eine Funktion, die weit über die Frage nach der Gestaltung betrieblicher Sozialbeziehungen hinausging. In der Nachkriegszeit schien der Kapitalismus als Grundlage der Wirtschaftsordnung zur Disposition zu stehen. Als Alfred Müller-Armack 1947 in der Publikation „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ für sein Konzept einer „Sozialen Marktwirtschaft“ warb, beschrieb er damit eine noch verhältnismäßig offene Suche nach einer sozial integrativen Wirtschaftsordnung. Ausgehend von der Diagnose eines historisch desavouierten Kapitalismus und der Ablehnung einer Planwirtschaft forderte Müller-Armack mit der Sozialen Marktwirtschaft einen „dritten Weg“ zwischen Lenkungs- und freier Marktwirtschaft.78 Nicht zuletzt im Kontext der Bundestagswahlkämpfe 1949 und 1953 verdichtete sich die anfänglich verhältnismäßig offene Debatte um die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik auf die beiden Alternativen einer (kommunistischen) Planund einer (sozialen) Marktwirtschaft.79 Sechs Monate vor der Bundestagswahl im September 1953 veröffentlichte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die Denkschrift „Gedanken zur sozialen Ordnung“. Darin ließ der Spitzenverband der Arbeitgeberverbände keinen Zweifel daran, dass bei dieser Wahl die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung auf dem Spiel stehe: 75 76 77 78 79
Vgl.: Reitmayer (2003), S. 317f u. S. 323. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 228; sowie: Luks (2010), S. 178. Vgl. z.B.: Plumpe (2001), S. 178. Müller-Armack (1947), S. 87f. Zumal in der unmittelbaren Nachkriegszeit Konzepte einer Lenkungswirtschaft eher überwogen. Vgl. zu den Diskussionen über die künftige Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik in der unmittelbaren Nachkriegszeit: Abelshauser (2011), S. 87ff u. S. 102f.
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2. Der Konflikt als Narrativ? „Im heutigen Deutschland ringen, wie man mit grober Vereinfachung sagen kann, in der Hauptsache drei Systeme miteinander, die für die soziale Ordnung von Bedeutung sind: Das System des Kommunismus, das System des demokratischen Sozialismus und das System der Sozialen Marktwirtschaft.“80
Auch aufgrund des sich abzeichnenden Systemkonflikts schien also die Frage nach dem Gelingen der marktwirtschaftlichen Ordnung eine besondere Dringlichkeit zu erhalten. Viele Unternehmer teilten die Angst vor ausbrechendem Chaos in der noch jungen Demokratie und fürchteten, in einer solchen Situation könnte die DDR als vielversprechenderes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell erscheinen.81 Dem Gelingen sozial integrativer Konzepte für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen kam in dieser Situation eine besondere Bedeutung zu. Explizit warb die BDA in den „Gedanken zur sozialen Ordnung“ für die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards.82 In diesem Kontext hatte auch die Unternehmerschaft ein Interesse, der marktwirtschaftlichen Ordnung zu Akzeptanz zu verhelfen. Auf Legitimität konnte jedoch nur ein „Konsensliberalismus“ hoffen, eine integrative, eben eine „soziale“ Marktwirtschaft. So zumindest erklärt sich die Bereitschaft von Unternehmern und Verbänden durch die Finanzierung von Vereinen wie „Die Waage“ für die Soziale Marktwirtschaft zu werben.83 Die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung war damit kein Konzept, das innerhalb der Unternehmen selbst als ein Modus zur Thematisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen entworfen wurde. Sie formierte sich in der Interaktion von Politik, Verbänden und Experten im Kontext der Suche nach einem tragfähigen kooperativen Konzept zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen insgesamt. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Verschiebung des Ordnungsdenkens, die mit den von Doering-Manteuffel konstatierten Zeitschichten des Ordnungsdenkens korreliert. Gegenüber familiären und gemeinschaftlichen Garanten von Stabilität rückten planerische Ordnungskonzepte in den Vordergrund, die den nationalen Staat, seine Gesellschaft und seine Wirtschaftsordnung zum zentralen Rahmen verbindlicher Ordnung erklärten.84 Auch im sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenken rückten neue Kriterien von Stabilität in den Vordergrund, die sich nicht mehr allein auf den Betrieb, sondern die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung bezogen. Die Sozialpartnerschaft bediente ein Orientierungsbedürfnis weit über die Frage nach der Organisation betrieblicher Sozialbeziehungen hinaus. Ihre Funktion ist im Kontext einer tiefen Unsicherheit der Unternehmer über ihre Rolle in der neuen politischen Ordnung und die künftige Wirtschaftsform zu sehen.85 Die Frage der Betriebsführung, der Ordnung des Unternehmens, stand in dieser Situation in einem direkten Zusammenhang zur überbetrieblichen, politisch 80 81 82 83 84 85
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § III., S. 4. Vgl.: Rauh-Kühne (1999), S. 187. Vgl.: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § IX., S. 8. Vgl.: Spicka (2007), S. 110f. Vgl.: Doering-Manteuffel (2009), S. 56. Vgl.: Reitmayer (2009), S. 353f.
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gesellschaftlichen Ordnung insgesamt. Damit ist zugleich ein wesentlicher Unterschied zwischen sozialpartnerschaftlicher und patriarchalischer Ordnungsvorstellung benannt. Letztere entstand im Kontext frühindustrieller Unternehmensgründungen. Es galt grundsätzlich Formen der Ordnung für diese neue Organisationsform von Arbeit zu finden, aber auch konkrete organisatorische Probleme, wie die erwähnte hohe Fluktuation der Arbeitskräfte, zu lösen. Die Organisation des Unternehmens in Analogie zur Familie bot in diesem Kontext ein für Arbeitgeber wie -nehmer legitimes und gleichzeitig auch ökonomisch funktionales Konzept. Im Rahmen der damit verbundenen Vorstellung des Betriebes als einer sozialen Gemeinschaft war die Regulierung der Arbeitsbeziehungen ausschließlich Sache der einzelnen Betriebe. Mit der Zunahme von Konflikten und Forderungen nach klaren überbetrieblichen Regeln für die Aushandlung der Arbeitsbeziehungen zeichnete sich zwar schon im späten 19. Jahrhundert die Dysfunktionalität dieses Konzepts ab. Erst unter dem Eindruck der fundamentalen Krise in der Weimarer Republik setzten jedoch umfassende Veränderungen ein, wie sie etwa in der Bereitschaft zur Gründung der ZAG ihren Ausdruck fanden. Vor allem führte die Erfahrung der Weimarer Republik zu einem Wandel des Ordnungsdenkens: Die Gleichsetzung des Betriebes mit einem privaten Raum konnte vor diesem Hintergrund kaum mehr tragfähig erscheinen. Vielmehr wurde der Betrieb nun als eminent politischer Ort wahrgenommen.86 Im Kontext des sich anbahnenden Systemkonflikts und der Unsicherheit über die künftige Ordnung der Wirtschaft in der Nachkriegszeit gewann diese Dimension in der Bundesrepublik zusätzlich an Bedeutung. In den 1950er Jahren, so stellt Paul Nolte fest, rückte „die Wirtschaft wieder in das Zentrum des Nachdenkens über gesellschaftliche Ordnung.“87 Damit kehrten sich die Bezugspunkte der Ordnungsvorstellungen seit der Erfahrung von Weimar gewissermaßen um: Nicht mehr die Kooperation im einzelnen Betrieb stand im Vordergrund, sondern die Bedeutung der betrieblichen Sozialbeziehungen für das Gelingen der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt. Kontinuität des Ordnungsdenkens: Kooperation im Zeichen der Gemeinschaft Sowohl die patriarchalische als auch die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung transportierten das Ideal einer auf Kooperation beruhenden betrieblichen Ordnung, die durch eine Vertrauensbeziehung charakterisiert war. Insofern geben sie unter anderen begrifflichen Vorzeichen durchaus ähnliche Antworten auf die Frage nach den Fundamenten der betrieblichen Sozialbeziehungen. Prägend für den Patriarchalismus war die Analogie zur Familie als begriffliches und gedankliches Zentrum zur Beschreibung der sozialen Ordnung des Betriebes. Ihren Ursprung hatte dieser Bezug des Unternehmens zur Familie zum Teil in der Frühindustrialisierung. Familiale Strukturen leisteten hier einen wichtigen Beitrag zur 86 87
Vgl.: Luks (2010), S. 55f. Nolte (2000), S. 291.
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Überwindung organisatorischer Probleme, zudem diente der Bezug zur Familie auch als Legitimation unternehmerischer Tätigkeit.88 In der Gründungsphase des Unternehmens Hohner beispielsweise lebten die ersten, vor allem jugendlichen Arbeiter tatsächlich mit dem Firmengründer unter einem Dach, es bestand in diesem Fall also Ähnlichkeit zu einem familiären Verband.89 Familiäre Netzwerke spielten eine wichtige Rolle für die Rekrutierung von Arbeitskräften, insbesondere auf den Leitungsebenen. Für Werner von Siemens bildeten familiäre oder zumindest freundschaftliche Beziehungen eine wichtige Grundlage für die Rekrutierung von Personal.90 Dieses Prinzip ging bei Bayer so weit, dass die Struktur der Betriebsleitung letztlich durch Heiratspolitik bestimmt war. Das leitende Personal bei Bayer war von der Ebene der Direktion bis hin zu den Abteilungsvorständen durch soziale oder verwandtschaftliche Beziehungen an die Gründerfamilien Friedrich Bayer und Friedrich Weskott gebunden.91 Auch Direktor und Vorstandsmitglied Carl Duisberg berief sich nicht selten auf seine enge Beziehung zur Gründerfamilie um seine Führungsposition zu legitimieren.92 Denn seine Stellung als Patriarch, die er ohne Zweifel für das Unternehmen einnahm, konnte sich nicht auf die Eigenschaft als Gründer oder Eigentümer stützen. Duisberg wurde 1883 als Chemiker eingestellt, 1888 wurde er zum Prokuristen ernannt und engagierte sich immer stärker im Management- und Organisationsbereich der Firma. Seit Januar 1900 war er Direktor und Vorstandsmitglied, 1911 Vorstandsvorsitzender und 1912 Generaldirektor.93 Mit Duisberg vollzog sich der Wandel des Unternehmens von einem durch die Gründerfamilie dominierten, zu einem Managementgeführten, eine Umorganisation der Betriebsführung, die im Zusammenhang mit der Gründung einer AG und dem Börsengang 1883 stand.94 Trotz dieser Formalisierung der Unternehmensorganisation griff Duisberg, beispielsweise im Rahmen von Firmenfeierlichkeiten, auf das Konzept familiärer Verbundenheit zurück, um seine Rolle im Unternehmen hervorzuheben. Auf dem Jubiläumsfest zu Duisbergs 25-jähriger Tätigkeit für das Unternehmen begann er seine Dankrede an Aufsichtsrat und Direktorium, indem er seine familiären Beziehungen zu zentralen Persönlichkeiten des Unternehmens darlegte. Er bedankte sich für „das freundschaftliche und herzliche Entgegenkommen“ das ihm „von der ganzen Familie Bayer und besonders von meinen beiden jetzigen Freunden Friedrich Bayer und Henry Böttinger entgegengebracht worden ist.“ Auch vergaß er nicht zu erwäh 88 89 90 91
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Vgl.: Budde (2011), S. 98. Vgl.: Berghoff (1997), S. 180. Vgl.: Kocka (1969), S. 82f. Vgl.: Hartmann (2010), S. 54. Das galt im Übrigen nicht allein für die Gründungsphase des Unternehmens. 1925 wurden die familiären Beziehungen bei Bayer intern dokumentiert: Circa die Hälfte der Personen in Aufsichtsrat und Vorstand standen in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander. Vgl.: Ebd. S. 56. Duisberg war mit der Nichte von Carl Rumpff verheiratet, dem Schwiegersohn von Friedrich Bayer. Vgl.: Ebd. S. 55. Vgl.: Mittag (2007), S. 61f. Vgl.: Erker (2007), S. 39.
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nen, dass es mit Carl Rumpff der Schwiegersohn des Firmengründers Friedrich Bayer war, der ihn eingestellt hatte.95 Rumpff, den er in seiner Rede als „Mitbegründer der heutigen Firma“ bezeichnete und ihm damit eine besondere Bedeutung für das Unternehmen zusprach, sei ihm als „väterlicher Freund und Berater“ besonders eng verbunden gewesen.96 Der Bezug zur Familie im Patriarchalismus gilt grundsätzlich jedoch weniger den realen sozialen Beziehungen innerhalb der Unternehmen. Vielmehr ist mit der Familie ein Ordnungs-Prinzip formuliert. Insofern ist die patriarchalische Ordnungsvorstellung auch kein reines Phänomen der Frühindustrialisierung oder an eine bestimmte Unternehmensgröße oder Organisationsform gebunden. Gerade im Falle von Bayer war die unternehmenskulturelle Familien-Symbolik weit über die Firmengründung hinaus ein zentraler Bezugspunkt für die Thematisierung betrieblicher Sozialbeziehungen. Auf dem ersten Fest für die Jubilare der Firma betonte Carl Duisberg in seiner Ansprache: „heute soll jeder Standes- und Berufsunterschied schwinden, heute wollen wir uns alle als Glieder einer Familie fühlen.“97 Die Beschäftigten, egal ob Angestellte oder Arbeiter, wurden auf solchen Veranstaltungen als „Angehörige der Farbenfabriken“ angesprochen, sie sollten eine Gemeinschaft bilden, zu deren Wohl jeder mit seiner Aufgabe beizutragen habe.98 Mit dieser rhetorischen Verknüpfung von Unternehmen und Familie ist zugleich der Begriff der Familie inhaltlich gefüllt: Sie steht für den Betrieb als einer Gemeinschaft, deren Zugehörigkeit im zitierten Beispiel sogar hergebrachte soziale Statusunterschiede zu nivellieren vermag. Dieses Motiv findet sich, entsprechend den Überlappungen zwischen den Zeitschichten des Ordnungsdenkens, auch in der Zeit sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenkens wieder. Der Begriff der Familie spielt zwar zur Beschreibung der betrieblichen Sozialbeziehungen in der Bundesrepublik keine zentrale Rolle mehr, allerdings blieben Inhalte der patriarchalischen Ordnungsvorstellung präsent. Gerade in Familienunternehmen spielten auch noch in den 1970er Jahren patriarchalische Praktiken der Vergemeinschaftung eine ganz erhebliche Rolle.99 Aber auch über den besonderen Fall von Familienunternehmen hinaus war das Konzept einer betrieblichen Gemeinschaft innerhalb der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung nach wie vor leitend für die Beschreibung der betrieblichen 95
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Erwiderung Duisbergs auf die Beglückwünschung der Direktion im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten zu Ehren seiner 25-jährigen Betriebszugehörigkeit am 29.9. und 2.10.1909, in: Duisberg (1923), S. 409–413, hier S. 409. Ebd. S. 409f. Zitiert nach: Nieberding (2005), S. 61. Zitiert nach: Nieberding (2004), S. 222. Nieberding bezieht sich hier auf eine Dankrede des Direktors Mann an die Angestelltenjubilare von 1913. Ein besonders eindrückliches Beispiel sind die von Christina Lubinski beschriebenen Inszenierungen der Todestage der Patriarchen. Sie verweisen auf die besondere Bedeutung des Unternehmers für den Betrieb, inszenierten aber zugleich eine familiäre Nähe zwischen Arbeitnehmern und Unternehmerfamilie, wenn etwa die Beschäftigten die Totenwache hielten. Vgl.: Lubinski (2010), S. 240f.
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Sozialbeziehungen. Der Begriff der „Betriebsgemeinschaft“ blieb bis in die 1960er Jahre hinein ein wichtiger Topos zur Beschreibung der betrieblichen Sozialbeziehungen. Das gilt vor allem für die interne Verwendung des Begriffs, der in den 1950er Jahren vollkommen gebräuchlich war, um die Bedeutung betrieblicher Kooperation zu betonen.100 Nach wie vor entsprach dies auch dem Leitbild der Unternehmensführung, demzufolge die Unternehmensleitung die Belegschaft führte und sie durch soziale Leistungen zur Gemeinschaft einte.101 Welche Bedeutung gemeinschaftliche Vorstellungen des Betriebes bis in die 1960er Jahre hinein hatten, und wie wenig sich Inhalte der patriarchalischen und der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung ausschließen, verdeutlicht in besonderem Maße das Beispiel der Singener Aluminium-Walzwerke.102 Generaldirektor des Unternehmens war Hans Constantin Paulssen, der es auf eine Art und Weise führte, die durchaus als „patriarchalisch“ bezeichnet werden kann. Paulssen war jedoch seit 1954 auch Präsident der BDA und war in dieser Funktion an der Formulierung und Propagierung der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung beteiligt.103 Als Vertreter der sozialpartnerschaftlichen Linie der BDA galt auch der Vorstandsvorsitzende von Bayer, Ulrich Haberland.104 Diese Haltung schloss jedoch keineswegs ein Unternehmensverständnis aus, das klare Bezüge zur patriarchalischen Tradition aufwies. Ein unternehmenskulturelles Leitbild blieb auch in den 1950er und 1960er Jahren die „Bayer-Familie“, deren Wurzeln explizit im 19. Jahrhundert bei Carl Duisberg festgemacht wurden – womit das Konzept einen klaren Bezug zum patriarchalischen Unternehmensverständnis aufwies.105 Dieses tradierte Konzept der betrieblichen Gemeinschaft stand einer „Demokratisierung“ der Betriebe durchaus entgegen.106 Gerade die Auslagerung des Konflikts an die „Sozialpartner“ ermöglichte es, das Konzept der „harmonieorientierten Vergemeinschaftung“ im Unternehmen weiter beizubehalten.107 Ein Moment der Beharrung und der Weigerung, die betrieblichen Sozialbeziehungen auf neue Grundlagen zu stellen, ist also durchaus sichtbar. Selbst die BDA, maßgeblich beteiligt an der Formulierung des sozialpartnerschaftlichen Konzepts, räumte in ihrem Grundsatzpapier zur „sozialen Ordnung“ 1953 dem Betrieb nach wie vor eine zentrale Bedeutung ein: „Nicht eine das Wesen des Betriebes missverstehende Demokratisierung, sondern die Humanisierung, die Wahrung der Menschenwürde und die Pflege der Persönlichkeitswerte der Mitarbeiter bilden den Inhalt unserer sozialen Betriebsgestaltung.“108 Der „Betriebsfrieden“ sollte demzufolge 100 101 102 103 104 105 106 107 108
Vgl.: Luks (2010), S. 177f. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 103; sowie: Ebd. (2004), S. 329. Vgl.: Rauh-Kühne (1999), S. 191. Vgl.: Ebd. S. 184. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 236. Vgl.: Ebd. S. 238. Vgl.: Rosenberger (2004), S. 329. Rosenberger (2008), S. 103. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), S. 13.
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auf „einem solidarischen Zusammenwirken aller Beteiligten“ basieren.109 Dieses Konzept ist von der Idee des gemeinschaftlichen Unternehmens nicht weit entfernt. Gleichzeitig verweisen die Begriffe „Menschenwürde“ und „Persönlichkeitswerte“ auf neue oder zumindest umgedeutete Inhalte des Unternehmensverständnisses. Es scheint daher sinnvoll, das Konzept der „Sozialpartnerschaft“ nicht nur auf die überbetriebliche Ebene der Verhandlung zwischen den „Tarifpartnern“ zu beziehen, sondern es im Sinne einer Ordnungsvorstellung weiter zu fassen; zumal der Bezug zu traditionellen Gemeinschaftsvorstellungen im BDA-Programm noch eine weitere Funktion gehabt haben könnte. Denn der Verweis auf den Bestand einer gemeinschaftlichen betrieblichen Ordnung ist verbunden mit dem Hinweis auf das Betriebsverfassungsgesetz als Grundlage des „guten Zusammenwirkens“ zwischen Beschäftigten und Betriebsleitung. Es wird nicht versäumt zu betonen, es sei der „Wille der deutschen Unternehmer, dem Betriebsverfassungsgesetz zu einer fruchtbaren Wirklichkeit zu verhelfen.“110 Insofern kann die Präsenz der Gemeinschaftsvorstellung auch als eine Vermittlungsstrategie in Zeiten des Wandels betrieblicher Sozialbeziehungen gesehen werden. Besonders deutlich wird dies anhand einer Rede, die Walter Raymond 1953 als Vorsitzender der BDA im Rahmen einer Kundgebung des Verbandes hielt, und die noch im selben Jahr veröffentlicht wurde. Raymond betonte in dieser Rede die historische Bedeutung des – in der Unternehmerschaft höchst umstrittenen – Mitbestimmungsgesetzes.111 Damit werde ein neuer Weg der Arbeitsbeziehungen beschritten, der bereits mit dem Betriebsrätegesetz von 1920 und dem Aufsichtsratsgesetz von 1922 eingeschlagen worden sei. Dieser Weg verbinde „die Gesetze der freien Wirtschaft“ und die „Prinzipien des sozialen Fortschritts“.112 Anschließend ließ Raymond seine Zuhörer jedoch wissen, dass dies das traditionelle Verständnis betrieblicher Sozialbeziehungen nicht in Frage stelle, sollten doch die innerbetrieblichen Beziehungen keinesfalls zum Betätigungsfeld der Gewerkschaften werden: „In jedem Betrieb, mag er noch so groß sein, wie er will, gleicht das Leben dem in einer Familie, und in einer Familie gibt und nimmt jeder direkt, nicht durch Vermittlung eines noch so nahen Verwandten.“113 Indem zentrale Inhalte des Unternehmensverständnisses ausdrücklich unangetastet blieben, relativierte sich die gegenwärtige Veränderung der betrieblichen Sozialbeziehungen. Unter diesen Voraussetzungen konnte die Unternehmerschaft den Partnerschaftsgedanken mittragen. Sehr deutlich zeigt sich daher im Bezug der Ordnungsvorstellungen auf den Topos einer (familiären) Gemeinschaft die Überlappung der von Doering-Manteuffel beschriebenen Zeitschichten des Ordnungsdenkens. Die Verbindung von Ordnung mit vermeintlich ewigen, überzeitlichen Garanten von Stabilität, wie sie im Be 109 110 111 112 113
Ebd. Ebd. Vgl.: Raymond (1953), S. 33f. Ebd. S. 35. Ebd. S. 38.
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griff der Familie angesprochen wird, blieb auch in der Bundesrepublik präsent. Aber auch wenn die Vorstellung des Unternehmens als einer sozialen Gemeinschaft in der Bundesrepublik weiterhin relevant blieb, sollte der Anspruch auf Neuigkeit, der im Entstehungskontext der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung angelegt ist, nicht unterschätzt werden. Im Folgenden werden daher die in den Ordnungsvorstellungen transportierten Kooperationsideale, bislang mit dem Begriff der „Gemeinschaft“ nur vage gefasst, einer genaueren Betrachtung unterzogen. Insbesondere gilt es zu fragen, inwiefern sich die Verschiebungen innerhalb des Gemeinschaftskonzepts, die Umkehrung der Bezugspunkte von Kooperation im Ordnungsdenken, auf die Bestimmung derjenigen Referenzgruppen auswirkten, die für die Bewertung der Legitimität unternehmerischen Handelns zentral waren. 2.3 DAS PATRIARCHALISCHE TREUE-IDEAL Die patriarchalische Vorstellung einer betrieblichen Gemeinschaft in Analogie zur Familie beinhaltet idealtypisch eine Vertrauensbeziehung zwischen Firmenleitung und Beschäftigten. Sie bildet den Kern des patriarchalischen Kooperationsideals. Die enge soziale Verbindung, wie sie im Begriff der „Treue“ ihren Ausdruck findet, war Grundlage einer hohen Loyalitätserwartung gegenüber den Beschäftigten. Wie wichtig dieses Konzept im Rahmen des Patriarchalismus war, verdeutlich das Beispiel der Firma Kübler und Niethammer in besonderem Maße. Um die langfristige Bindung an das Unternehmen sichtbar zu machen und die Bedeutung dieser Betriebstreue symbolisch zu unterstreichen, erwog das Unternehmen tragbare „Ehrenzeichen“ für langjährig verdiente Mitarbeiter. Wer 25 Jahre dem Betrieb „angehörte“, wurde in goldenen Lettern auf marmornen „Tafeln der Treue“ verewigt. Dort fand sich nicht nur das Motto „Treue um Treue“ – für das Unternehmen zu arbeiten wurde dort als „Ehre und Gottgeschenkte Fügung“ bezeichnet.114 Diese Überhöhung des Arbeitsverhältnisses macht gleichzeitig deutlich, dass das patriarchalische Konzept einer kooperativen Loyalitätsbeziehung nicht überstrapaziert werden sollte, sondern als idealtypischer Erwartungshorizont zu verstehen ist. Schließlich ging das Prinzip der „Betriebstreue“ ohne Weiteres mit umfassenden Kontrollen und Strafen einher. Das Ideal einer Treue-Beziehung und ein grundsätzliches Misstrauensverhältnis schlossen sich nicht aus, was die Diskrepanz zwischen dem familiär-gemeinschaftlichen Ideal der Ordnungsvorstellung und dem weiten Spektrum seiner praktischen Ausgestaltung verdeutlicht.115 Nichtsdestotrotz galt das Ideal als zu erreichendes Ziel, hatte also Wirkung. Das Beispiel der „Tafeln der Treue“ zeigt, dass Betriebstreue durch Anreizsysteme erzeugt beziehungsweise gefördert werden sollte. Maßgebliche Instrumente hier 114 Rudloff (2005), S. 241. 115 Auf diese Weise charakterisierte Ralf Stremmel beispielsweise auch das Verhältnis zwischen Geschäftsleitung und Beschäftigten im Falle von Krupp. Vgl.: Ebd. (2006), S. 75.
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für waren die betrieblichen Sozialeinrichtungen, typischerweise Konsumvereine, Arbeiterwohnungen, Sparkassen, Gesundheitsfürsorge oder die finanzielle Unterstützung von Familiengründungen.116 Um von diesen Einrichtungen profitieren zu können, mussten die Arbeitnehmer den Erwartungen der Firmenleitung an die Dauer der Betriebszugehörigkeit, Zuverlässigkeit und Loyalität entsprechen.117 Umgekehrt wurde den Beschäftigten die Möglichkeit gegeben, ihre Loyalität symbolisch unter Beweis zu stellen, indem sie etwa den Werkvereinen beitraten. Erst dann hatten sie beispielsweise bei Bayer die Möglichkeit, die Freizeit- und Bildungseinrichtungen in Anspruch zu nehmen.118 Mit Blick auf die betriebliche Praxis scheint das Konzept der „Betriebstreue“ daher rasch auf seinen funktionalen Charakter zu schrumpfen: die Fluktuation der Arbeitskräfte zu verringern und qualifizierte Arbeitnehmer zu binden. Gleichzeitig war die Vorstellung einer betrieblichen Gemeinschaft auf der Basis einer Vertrauensbeziehung aber auch Ausgangspunkt des Nachdenkens und Sprechens über den Betrieb. In der Zeitschrift „Die Erholung“, die bei Bayer den Mitgliedern des Erholungshauses zur Verfügung stand, hieß es 1913: „[Der Wurm der Unzufriedenheit] soll und darf nicht an der Wurzel unseres Unternehmens nagen. Wir müssen und werden ihm nachstellen, wo wir ihn treffen, wir werden ihn bekämpfen, wo wir ihn finden, denn es gilt unsere Zukunft unser Glück. Bei diesem schweren Kampf rechnen wir zuversichtlich auf Sie alle, nicht nur auf die Beamten, nicht nur auf die Arbeiter, sondern auch auf die Familien und vor allem die Frauen unserer Werksangehörigen.“119
In diesem Fall ging es darum, das Vertrauen der Firmenleitung in den loyalen Teil der Belegschaft zu bekräftigen und diese darauf aufmerksam zu machen, dass „illoyale“ Gruppen unter den Beschäftigten den Bestand des Unternehmens gefährdeten. Das Bild einer im Kampf geeinten Gemeinschaft zeigt deutlich, dass hier nicht einfach eine patriarchalische Floskel aufgegriffen, sondern eine Erwartung formuliert wurde. Diese Vorstellung der betrieblichen Gemeinschaft geht über die reine Funktion hinaus, sie erschließt sich erst im Kontext des Patriarchalismus als einer Wissensordnung, die Grundlage für die Thematisierung des Betriebes war. Die Loyalitätserwartungen an die Belegschaft erschienen innerhalb der patriarchalischen Ordnungsvorstellung als legitime Gegenleistung für die Fürsorge des Patriarchen. Auch die Unternehmensführung hatte also bestimmten Rollenerwartungen zu genügen. Dazu gehörte es, arbeitsrechtliche Vorgaben über das Mindestmaß hinaus zu erfüllen und sich auch um – aus heutiger Sicht – private Belange der Beschäftigten zu kümmern.120 Dies konnte den Kirchenbesuch, den Lebenswandel oder gar politische Wahlen betreffen, wie im Falle des Unternehmens Hohner. Hier kontrollierte der Firmengründer diese Bereiche persönlich und sank 116 117 118 119 120
Vgl.: Rudloff (2005), S. 240; sowie: Kollmer-von Oheimb-Loup (2004), S. 231. Vgl. ausführlich zum Falle Bayer: Nieberding (2005), S. 59. Vgl.: Ebd. S. 60. Zitiert nach: Nieberding (2005), S. 61. Vgl.: Berghoff (1997), S. 179.
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tionierte gegebenenfalls unerwünschtes Verhalten. Vor allem aber genoss dieses Denken auch innerhalb der Belegschaft Legitimität.121 Wenn also Hartmut Berghoff feststellt, die freiwilligen Leistungen des patriarchalisch geführten Unternehmens seien mit „rechtlich nicht gedeckten Eingriffen in das Privatleben der Beschäftigten“ einhergegangen, ist zu berücksichtigen, dass das keineswegs als unerwünschte Einmischung verstanden werden musste.122 Vielmehr entsprach beispielsweise die Schlichtung familiärer Streitigkeiten durchaus den Erwartungen der Arbeitnehmer von einer patriarchalischen Fürsorge. Dafür spricht die Einrichtung der Stelle eines sogenannten „Sozialsekretärs“ bei Bayer, mittels derer die Lösung eben solcher „privater“ Belange sogar personell institutionalisiert wurde.123 Der mit dem Patriarchalismus verbundene Erwartungshorizont bedingte also ein bestimmtes Rollenverständnis. Dieses war zwar ausgehend von der Person des Patriarchen als zentraler Autorität konstruiert, schloss aber in der Analogie zur bürgerlichen Familie bestimmte Zuschreibungen an die Rolle der Frau ein. Die Ehefrauen der „Patriarchen“ eines Unternehmens waren daher fester Bestandteil des familiär-gemeinschaftlichen Konzepts der Unternehmensorganisation; häufig engagierten sie sich auf einer karitativen Ebene für diese Gemeinschaft.124 Dieses aus dem Konzept der bürgerlichen Familie abgeleitete Rollenverständnis prägte auch die Erwartungen an den Lebenswandel der Beschäftigten, was sich etwa in geschlechterspezifischen Sozialisationsinstanzen in den Unternehmen niederschlagen konnte.125 Die auf den Patriarchen übertragenen Rollenzuschreibungen schränkten dessen Handlungsmöglichkeiten auf das innerhalb des Konzepts legitime Verhalten ein. Entsprach das Verhalten des Unternehmers nicht den Erwartungen der Belegschaft, konnte das erhebliche Konflikte auslösen.126 Auf diese Eigenschaft des 121 Vgl.: Ebd. S. 186 u. S. 198. 122 Ebd. S. 167. 123 Die an den Sozialsekretär herangetragenen Probleme reichten weit in Bereiche hinein, die heute als „privat“ bezeichnet würden. Aufgabe des Sozialsekretärs war es ausdrücklich, ein Ansprechpartner „in allen einschlägigen Fragen persönlicher Art“ zu sein. Protokoll der Betriebsführerkonferenz am 5.8.1910, in: BAL 13/4. Vgl. auch: Berichte des Sozialsekretärs, in: BAL 221/3. Zur Bedeutung des Sozialsekretärs vgl. auch Kap. V.2. 124 Ein besonders eindrückliches Beispiel vermag der Fall der Firma Hohner zu vermitteln. Hier waren es die Frauen der Unternehmer, die den Arbeitern der Firma während des Ersten Weltkrieges anlässlich kirchlicher oder politischer Feiertage „Liebesgabenpakete“ an die Front schickten. Vgl.: Berghoff (1997), S. 197. 125 Bei Bayer hatten die weiblichen Angestellten mit der „Fabrikpflegerin“ beispielsweise eigene Ansprechpartnerinnen für sich, aber auch für ihre Eltern, es gab Familienwohnungen, Junggesellen- und Mädchenheime. Vgl. zur Rolle der Fabrikpflegerin: Handbuch für die Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. 1912, in: BAL 10/8.2; zur Bedeutung geschlechterspezifischer Sozialisationsinstanzen vgl.: Nieberding (2003), S. 176ff u. S. 182ff. 126 Vgl.: Berghoff (1997), S. 199. Berghoff verweist hier auf einen Fall bei der Firma Hohner: Als das Unternehmen die früheren Kriegsheimkehrer nicht entsprechend ihrer Zugehörigkeitszeit zum Unternehmen entlohnen wollte, sondern die Dienstzeit abzog, kam es zum Konflikt.
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Patriarchalismus als eines Möglichkeitsraumes unternehmerischen Handelns wird noch genauer einzugehen sein (vgl. Kap. 4.4). Das familiale Unternehmenskonzept beinhaltete eine Verpflichtung des Unternehmers gegenüber „seinen“ Beschäftigten, bis hin zu deren privatem Wohlergehen. Eine solcherart durch den Patriarchen und dessen Familie gestiftete Gemeinschaft setzte eine persönliche Beziehung zu den Arbeitnehmern voraus.127 Mit zunehmender Unternehmensgröße und der damit verbundenen Unmöglichkeit persönlicher „Fürsorge“ wurden die Sozialbeziehungen formalisiert, vor allem in Form der betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen. Im Falle von Hohner wurden, ähnlich wie bei Bayer durch den Sozialsekretär, die persönliche Verbindung zum Patriarchen und die Regulierung der „privaten“ Angelegenheiten der Beschäftigten an „Sozialbeamte“ ausgelagert.128 Die über den direkten Kontakt hergestellte Beziehung zum Patriarchen wurde ersetzt durch Werkszeitungen oder auf Festen inszeniert, in die häufig die Familien der Beschäftigten einbezogen waren. Das Jubiläum seiner 25-jährigen Tätigkeit bei Bayer beging Carl Duisberg auch im Kreise von Arbeitern und Angestellten im sogenannten „Erholungshaus“ der werkseigenen Arbeiterkolonie. Diesen Anlass nutzte er, um die enge Verbundenheit zwischen ihm und den Beschäftigten zu betonen. Dafür rekurrierte er auf die patriarchalische Rollenerwartung und machte deutlich, der damit verbundenen Verantwortung gerecht geworden zu sein. Als ein Zeichen für das Vertrauensverhältnis zwischen Firmenleitung und Belegschaft wertet er, dass der Anstoß zu diesem Fest von den Arbeitern selbst gekommen sei: „Das ist es, was mich ganz besonders gefreut hat. Neben dem Wohl der Beamten aller Kategorien lag mir von Anfang an das Wohl der Arbeiter am meisten am Herzen. Wo immer ich für die Arbeiter eintreten, wo immer ich ihnen helfend und hilfreich zur Seite stehen und ihre Lage verbessern und verschönen konnte, habe ich es getan, trotz aller Anfeindungen von außen, die mir widerfahren sind. Es gewährt mir daher hohe Befriedigung, daß gerade unsere Arbeiter es gewesen, sie damit die Anerkennung meiner guten Absichten bezeugt haben. Deshalb Ihnen, den Vertretern der Arbeiter, besonders herzlichen Dank.“129
Auch in nicht von Firmengründern oder Eigentümern geleiteten Großbetrieben konnte also die patriarchalische Ordnungsvorstellung das zentrale Deutungsmuster für die Thematisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen darstellen. Das gilt ebenso für das Unternehmen Siemens. Der Firmengründer Werner von Siemens leitete das Unternehmen in patriarchalischer Manier, zu der die praktische und 127 Besonders prägnant war das etwa im Falle von Krupp. Noch bis in die 1860er Jahre wandten sich die Beschäftigten an Alfred Krupp, wenn sie etwas zu beanstanden hatten. Er bearbeitete ihre Anfrage persönlich und traf die entsprechenden Entscheidungen. Vgl.: Stremmel (2006), S. 77. 128 Vgl.: Berghoff (1997), S. 190f. 129 Dankrede Duisbergs im Rahmen der Gratulationsfeier im Erholungshaus Wiesdorf anlässlich seiner 25-jährigen Tätigkeit im Unternehmen am 29.9.1909, in: Duisberg (1923), S. 415–421, hier S. 416.
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symbolische Bestätigung einer persönlichen Beziehung zwischen dem Patriarchen und den Beschäftigten gehörte. An seinen Bruder Karl schrieb er: „[...] wichtig erscheint es mir aber, dort durch persönlichen Verkehr mit den Leuten, durch teilnehmendes Eingehen in ihre kleinen Wünsche und Bedürfnisse, durch Aufrechterhaltung ihrer Hoffnungen auf die Zukunft einen guten Geist unter den uns treu gebliebenen Leuten zu erhalten, resp. zu erwecken. [...] Wenn die Leute nicht immer per Wir in Geschäftsangelegenheiten sprechen, nicht Gelegenheit haben, sich bei Ehren und Sorgen des Geschäfts beteiligt zu fühlen, so kann man kein treues Festhalten, auch in trüberen Zeiten, verlangen und erwarten.“130
In diesem Fall bezog er sich auf die Angestellten. Dennoch kontrollierte er auch selbst, ganz im Sinne eines persönlichen Verhältnisses als Grundlage der betrieblichen Sozialbeziehungen, unangekündigt die Arbeiten in den Werkstätten, gewährte Arbeitern einen früheren Arbeitsschluss oder lud mehrmals im Jahr Teile der Angestellten ein, um „persönliches Attachement“ zu erwecken, „welches manche andere [sic] erleichtert.“131 Über Wilhelm von Siemens, der, gemeinsam mit seinem Bruder Arnold, den 1890 ausgeschiedenen Firmengründer Werner von Siemens als Geschäftsführer beerbte, schrieb Jürgen Kocka, dieser sei sich wie sein Vater „seiner Stellung als Haupt einer großen Familie wohl bewusst“ gewesen.132 Zu dieser Zeit hatte Siemens den Charakter eines überschaubaren Familienunternehmens längst verloren, die Arbeitsbeziehungen basierten nicht mehr auf persönlichen Beziehungen.133 Die persönliche Präsenz „des Unternehmers“ wurde in industriellen Großbetrieben dennoch durch Inszenierung aufrecht erhalten.134 Das galt auch dann, wenn es den einen Unternehmer beziehungsweise Patriarchen im ursprünglichen Sinne gar nicht mehr gab, sondern etwa einen Vorstand. Daraus könnte man folgern, die Formalisierung der Sozialbeziehungen habe dem Modell des Unternehmens als einer Familie „seine letzte Plausibilität“ geraubt, wie es Hartmut Berghoff formuliert.135 Allerdings macht dieser Umstand auch deutlich, welche Wirkmacht das patriarchalische Ordnungsdenken weit über frühindustrielle Unternehmensgründungen hinaus auf die Gestaltung der betrieblichen Sozialbeziehungen ausübte (vgl. Kap. 5.2). Das gilt insbesondere für die Deutung des Unternehmens als einer familiären, das heißt in sich geschlossenen Gemeinschaft. Schon die begriffliche Analogie zur Familie verweist darauf, dass das Unternehmen in der patriarchalischen Ordnungsvorstellung als eine exklusive soziale Einheit verstanden wurde. Dieser Umstand wird noch unterstrichen durch die skizzierte Vorstellung einer durch „Treue“ verbundenen Gemeinschaft. Die Entscheidungsgewalt über betriebliche Angelegenheiten aller Art oblag in dieser 130 131 132 133 134 135
Zitiert nach: Burhenne (1932), S. 12. Zitiert nach: Ebd. S. 13. Kocka (1969), S. 384. Vgl.: Ebd. S. 233. Vgl.: Berghoff (1997), S. 183. Ebd. S. 191.
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Ordnungsvorstellung allein dem Patriarchen. Er stand in Analogie zur Figur des Vaters in der bürgerlichen Familie für den „Herrn im Hause“. Der Unternehmer bildete daher im patriarchalischen (Selbst-)Verständnis den Fixpunkt der betrieblichen Gemeinschaft, er war „Traditionsstifter, Mythenträger, Spiritus rector“.136 Innerhalb dieser Deutung des Unternehmens als einer um den Unternehmer angeordneten familiären Gemeinschaft erschienen gewerkschaftliche oder staatliche Versuche, regulierend auf die betrieblichen Sozialbeziehungen einzuwirken, als nicht legitime Eingriffe.137 Auch an dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass es sich bei diesem Konzept des Unternehmens als einer familiären, geschlossenen sozialen Einheit nicht nur um ein Mittel handelte, das dem Unternehmer die alleinige und uneingeschränkte Verfügungsgewalt sichern sollte. Unternehmer wie Werner von Siemens waren durchaus davon überzeugt, dass ihre Interessen diejenigen der Beschäftigten nicht ausschlossen, und versuchten den innerbetrieblichen Interessenausgleich auch herzustellen.138 Das beeinflusste die Wahrnehmung von Konfliktsituationen: Die Firmenleitung der BASF war davon so überzeugt, dass sie von einem 1906 ausbrechenden Streik völlig überrascht wurde. Offenbar war das Vertrauen in die durch Wohlfahrtseinrichtungen gestärkte Gemeinschaft so groß gewesen, dass die Möglichkeit einer solchen Protestform gar nicht in Betracht gezogen worden war.139 Im Rahmen der in der patriarchalischen Vorstellung postulierten prinzipiellen Übereinkunft der Interessen von Arbeitgebern und -nehmern und der bereits skizzierten Loyalitätserwartung erschien gewerkschaftliches Engagement der Beschäftigten als ein Vertrauensbruch.140 Es war gleichzusetzen mit einem illegitimen Austritt aus der betrieblichen Gemeinschaft was illustriert, wie wichtig die Unterscheidung von „innen“ und „außen“ für die Definition dieser Gemeinschaft war. Ein besonders drastisches Beispiel für die Geschlossenheit der betrieblichen Gemeinschaft stellt das Unternehmen Heidelberg Cement dar. 1903 gründeten Personen aus dem Umfeld des Sängerbundes des Unternehmens den „Verein Gemeinde Cementwerk“, dessen Ziel es war, eine politisch unabhängige „Cementwerks-Gemeinde“ zu gründen. Sowohl die Stadt Leimen, innerhalb deren Gemarkungsgrenzen sich das Werk befand, als auch der badische Großherzog lehnten das Gesuch ab, aus der betrieblichen Gemeinschaft eine eigenständige politische Gemeinde zu machen.141 Das Beispiel vermag ein 136 Ebd. S. 178. 137 Vgl.: Ebd. S. 179. So betrachtete etwa auch Friedrich Alfred Krupp die Einrichtung gesetzlicher Arbeiterausschüsse, wie sie Wilhelm II. 1890 einzuführen gedachte, als einen Eingriff in eine private Beziehung. Vgl.: Stremmel (2006), S. 79. 138 Vgl.: Kocka (1969), S. 81. 139 Vgl.: Becker / Sattler (2005), S. 192. 140 Vgl.: Rudloff (2005), S. 242. 141 Vgl.: Cramer (2003), S. 16. Ende des 19. Jahrhunderts war das Werk nach einem Brand aus Heidelberg heraus in die Felder vor der Stadt Leimen verlegt worden. Aufgrund dieser geographischen Situation ergab sich eine zusätzliche Isolation der betrieblichen Gemeinschaft, insbesondere der vor Ort lebenden Arbeiter und Angestellten, was das Ansinnen sicherlich begünstigt hatte.
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drücklich zu illustrieren, wie weit das Konzept des Betriebes als einer geschlossenen sozialen Gemeinschaft gedacht werden konnte. Dieses Verständnis des Unternehmens bestimmte die Loyalitätserwartungen an die Belegschaft wie auch das Rollenverständnis des Unternehmers. Das Konzept des Unternehmens als einer eigenständigen, exklusiven sozialen Einheit machte die betriebliche Gemeinschaft zur zentralen Referenz unternehmerischen Handelns. Das zeigt sich insbesondere am skizzierten idealtypischen Konzept unternehmerischer Verantwortung in der patriarchalischen Ordnungsvorstellung: Verantwortlich war der Unternehmer in erster Linie dieser Gemeinschaft, also „seinen“ Beschäftigten. Die Grundlage für die Bewertung legitimen unternehmerischen Handelns bildete also das Konzept einer betrieblichen, durch das Prinzip von Treue und Fürsorge verbundenen Gemeinschaft. 2.4 KOOPERATION IM ZEICHEN DER „PARTNERSCHAFT“ Wie in Kapitel II.2 bereits skizziert, unterscheidet sich die Vorstellung des Betriebes als einer auf einem Vertrauensverhältnis basierenden Gemeinschaft in Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft nicht grundlegend. Allerdings bezog sich das Ideal einer kooperativen Gemeinschaft im sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenken nicht mehr exklusiv auf das Unternehmen. Diese ganz entscheidende Veränderung der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung kommt wiederum in dem in ihr angelegten Konzept unternehmerischer Verantwortung zum Ausdruck. Diese war im sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenken erheblich ausgeweitet, weit über die Fürsorge für die betriebliche Gemeinschaft hinaus. Im Rahmen der Diskussion um die Neuordnung der Wirtschaft beziehungsweise der Arbeitsbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Figur des Unternehmers eine Verantwortung für das Gelingen der wirtschaftlichen, sozialen und damit der politischen Ordnung insgesamt zugeschrieben. Damit waren in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung die Referenzen für die Bewertung der Legitimität unternehmerischen Handelns neu definiert: Gegenüber der betrieblichen Gemeinschaft wurde die wirtschaftliche und politische Ordnung insgesamt als Referenz ganz erheblich aufgewertet. Ein zentrales Dokument für die Inhalte der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung, aus dem diese Verschiebung der Referenzgruppen deutlich hervorgeht, ist das bereits erwähnte BDA-Grundsatzprogramm „Gedanken zur sozialen Ordnung“. Die BDA ließ es 1953 – ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl – in einer Auflage von 450 000 Exemplaren im In- und Ausland verbreiten.142 Paul Nolte erschien dieses Programm so wichtig, dass er das Kapitel über die „soziale Organisation der industriellen Gesellschaft“ in seiner Monographie über die „Ordnung der deutschen Gesellschaft“ mit einem Zitat daraus einleitet. Schließ 142 Angabe aus dem „Gesamtüberblick aus dem Jahresbericht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, Nov. 1953, in: SAA 11127–4.
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lich entfalteten diese Vorstellungen in den 1950er Jahren „erhebliche Breitenwirkung“.143 Gleich im ersten Paragraphen des Dokuments mahnt die BDA die Bedeutungsschwere der Situation mit dem von Nolte aufgegriffenen Satz an: „Wir leben in einer geschichtlichen Zeitenwende.“144 In dieser Situation also, galt es nach der Deutung der BDA die Entscheidung über die künftige soziale Ordnung zu fällen: „Der politische Gegensatz West-Ost droht die Völker der Erde in zwei Heerlager auseinanderzureißen. Und schon geht das Gespenst eines dritten Weltkriegs um. In Politik und Wirtschaft, im Gemeinschaftsleben und in der privaten Sphäre vollzogen sich grundstürzende Umwälzungen. Aber die Menschheit sucht noch immer nach tragfähigen Ordnungen.“145
Mit dieser Situationsbeschreibung appellierte die BDA eindrücklich an die Verantwortung aller beteiligten Akteure. Schon implizit waren in einer solchen Situation auch die Unternehmen dazu aufgerufen, ihren Beitrag zu einer gelingenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu leisten. Zumal explizit auf die Bereitschaft der Unternehmer verwiesen wurde, an der Gestaltung einer Ordnung mitzuwirken, die ein „höchstmögliches Maß an sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit“ garantiere: „Das entspricht dem sozialen Gewissen unserer Zeit, und das ist der Wille der deutschen Unternehmer.“146 Das Kooperationsideal, im Patriarchalismus auf die jeweilige betriebliche Gemeinschaft bezogen, wurde damit auf die gesellschaftliche Ordnung insgesamt übertragen. Diesen überbetrieblichen sozialen Ausgleich beschwor die BDA in ihrem Grundsatzprogramm regelrecht. Der „deutsche Unternehmer“ sei ein „Wesensbestandteil der sozialen Ordnung“ und „bekennt sich zu den freiheitlichen Grundrechten jeden Staatsbürgers“. In der wiederholten Formulierung „Der deutsche Unternehmer bekennt sich“ wird dessen Bereitschaft bekundet, an einer „sozialen“ gesellschaftlichen Ordnung mitzuwirken. Mit diesem „Bekenntnis“ der Unternehmerschaft sah die BDA die Grundlage für eine gemeinschaftliche Ordnung auf gesellschaftlicher Ebene geschaffen: „Der große Brückenschlag auf dem Gebiete der sozialen Ordnung ist also längst vollzogen. Für Klassenkampf ist kein Raum mehr.“147 Auch an dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung eine Variante der Thematisierung des Unternehmens darstellte. Nach wie vor hatten Deutungsmuster der Arbeitsbeziehungen Bestand, die sich am „Herr-im-Hause-Standpunkt“ orientierten. Das zeigt etwa der Blick auf den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der sich von der sozialpartnerschaftlichen Linie der BDA scharf abgrenzte.148 Das hing zusammen mit der Funktion der BDA, die als Verhandlungspartner der Gewerkschaften fungieren sollte. Diese Aufgabe wurde dem BDI auch deshalb nicht über 143 144 145 146 147 148
Nolte (2000), S. 273. Ebd.; bzw.: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § I., S. 3. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § I., S. 3. Ebd. § XI., S. 9. Ebd. § XIII., S. 10. Vgl.: Rauh-Kühne (1999), S. 189.
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tragen, um ihn „frei zu halten von Irritationen infolge widersprüchlicher Orientierungen und Selbstbilder.“ 149 Der Verband sollte die Interessen der Industrie vertreten. Auf Kompromisse mit den Gewerkschaften hinarbeiten zu müssen, hätte diesem Ziel hinderlich sein können. Es wäre dennoch zu einfach, die BDAProgrammatik des Jahres 1953 als Wahlkampfrhetorik eines auf Konsens ausgerichteten Arbeitgeberverbandes abzutun. Die Vorstellung einer sozialen Gemeinschaft war für die Gesellschaftspolitik der 1950er Jahre bestimmend, nicht zuletzt sichtbar im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als einer „Gemeinschaft der Wirtschaftssubjekte“.150 Es liegt also durchaus nahe, anzunehmen, dass sich im zitierten Grundsatzprogramm der BDA Bestandteile einer Form der Thematisierung des Unternehmens abzeichnen, in dem die Stellung des Unternehmens neu gewichtet wurde, dem Unternehmer eine Verantwortung weit über den Betrieb hinaus zugeschrieben wurde. Ein Hinweis auf diese Verschiebungen ist die Debatte um die Figur des Unternehmers. In den 1950er Jahren gab es eine intensive Diskussion innerhalb der Unternehmerschaft über das eigene Selbstverständnis. Das autoritäre Konzept des „Betriebsführers“ im Nationalsozialismus, das letztlich dem „Herr-im-Hause-Standpunkt“ recht nahe war, war nach dem Zweiten Weltkrieg öffentlich nicht mehr verhandelbar. Gleichwohl wurde dieses unternehmerische Selbstverständnis nicht einfach ersetzt, vielmehr wurde heftig um neue Konzepte gerungen.151 Einen Beitrag zur Neudefinition der UnternehmerFigur lieferte Ernst Wolf Mommsen, Vorstand der Phönix Rheinrohr AG. Gemeinsam mit der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“ veranstaltete er 1955 ein Programm zum Thema „Heranbildung des Führungsnachwuchses […] für die Wirtschaft“.152 In seinem einleitenden Aufsatz zu den im selben Jahr veröffentlichten Ergebnissen der Veranstaltungsreihe, die unter dem Titel „Elitebildung in der Wirtschaft“ erschienen, entwarf Mommsen ein Unternehmerbild, in dessen Zentrum der Begriff der „Verantwortung“ stand. Der „Typ des unternehmerischen Menschen“ habe sich demzufolge grundlegend verändert, die Zeiten des Einzelunternehmers seien passé: „Er ist zum Gesellschaftsfaktor allererster Art geworden.“153 Mommsen erklärte den Betrieb also zu einem politischen Ort, indem er die Wirtschaft als einen „gesellschaftsbildenden Faktor“ bezeichnete und daraus eine „Verantwortung der Wirtschaft“ ableitete.154 Dieser Aspekt einer auf die Gesellschaft insgesamt ausgeweiteten Verantwortung des „Unternehmers“ ist ein nicht unwesentlicher Teil der Neuorientierung 149 150 151 152 153
Rosenberger (2008), S. 111. Etzemüller (2006), S. 135. Vgl.: Reitmayer (2009), S. 330. Ebd. S. 343. Mommsen (1955), S. 11. Kursivierung im Original. Veröffentlicht wurde die Publikation in der Reihe „Lebendige Wirtschaft“, herausgegeben von der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft e.V.“ 154 Ebd. S. 13. Nicht zuletzt war dieses Konzept einer Verantwortungs-Elite ein attraktives Identifizierungsangebot, da es den Streit über die Unternehmerfigur zwischen Eigentümer und Manager zu überbrücken vermochte. Vgl.: Reitmayer (2009), S. 346.
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unternehmerischer Ordnungsvorstellungen, die vor dem Hintergrund eines starken Orientierungsbedürfnisses in der noch jungen Demokratie zu sehen ist.155 Zahlreiche Sozialexperten nahmen in den 1950er Jahren auf dieses Konzept Bezug. Adolph Geck etwa, verortete die betriebliche Sozialpolitik auch in ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit, die ihren Teil zur „Lösung der sozialen Frage“ beizutragen habe.156 Auch in der Diskussion um das unternehmerische Selbstverständnis zwischen „Unternehmer“ und „Manager“ tauchte dieser Bezug auf, etwa im Bild des „‚sozial-verantwortlichen‘ Managers, der gesamtpolitisch dachte“.157 Eines zeigt diese Debatte um das unternehmerische Selbstverständnis mit aller Deutlichkeit: Die Idee des Unternehmens als einer geschlossenen sozialen Gemeinschaft, zentriert um die Unternehmerpersönlichkeit, die sich allein dieser Gemeinschaft verpflichtet sah, war innerhalb der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung abgelöst worden durch ein Unternehmensverständnis, in dem vielfältige gesellschaftliche und politische Verflechtungen mitgedacht wurden. Die betriebliche „Familie“ war nun nur noch innerhalb einer weit umfangreicher gedachten, eben einer „Sozial“-Partnerschaft zu denken. Das blieb nicht ohne Auswirkung auf die Thematisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen. Gemeinschaftliche Vorstellungen blieben zwar erhalten, allerdings erlangten „partnerschaftliche“ Konzepte des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und -nehmer eine neue Bedeutung. Sie betonten das Element der Freiwilligkeit, der Zusammenarbeit unter Individuen.158 Ein Beispiel hierfür ist ein Gutachten, das die Firma Siemens 1954 anlässlich des bayerischen Metallarbeiterstreiks anfertigen ließ. In den „Gedanken zur Sozialpolitik im Hause Siemens“ legte der Autor Fritz Stöbe den Mitgliedern des Direktoriums die Ursachen des Streiks dar, die seiner Ansicht nach in der mangelnden Bindung der Beschäftigen an den Betrieb zu suchen sei. Der Grundstein dafür sei zwar durch die Tradition der Sozialpolitik des Hauses bereits gelegt, aufgrund der Unternehmensgröße verschwände jedoch das Bemühen um die Mitarbeiter hinter dem „Apparat“ der Sozialverwaltung.159 Stöbe interpretiert die betrieblichen Sozialbeziehungen in bekannten Kategorien, wenn er eine verlorene Vertrauensbeziehung beklagt, die zu einem Verlust an Loyalität geführt habe.160 Nicht zuletzt spricht er von der „Siemens-Familie“, deren „Geist“ es wieder zu beleben gelte. Auch bei der Wahl der Mittel setzt Stöbe auf Hergebrachtes: Wichtig für den Aufbau einer Vertrauensbeziehung sei die direkte persönliche Ansprache der Arbeitnehmer durch die Werksleitung.161 Stöbe formuliert damit Loyalitätserwartungen, wie sie auch schon für 155 Vgl.: Reitmayer (2009), S. 353f. 156 Geck, Adolf [sic]: Unternehmerische betriebliche Sozialpolitik in Idee und Wirklichkeit, in: Der Arbeitgeber, Nr. 24/1, 1950, S. 50–56, hier S. 56. 157 Berghahn (1985), S. 256. 158 Vgl.: Reitmayer (2003), S. 322 u. S. 329. 159 Stöbe, Fritz: Gedanken zur Sozialpolitik im Hause Siemens; Gutachten vom 12.8.1954, S. 1, in: SAA 12352. 160 Vgl.: Ebd. S. 2. 161 Ebd. S. 4.
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die familiäre Gemeinschaft des Patriarchalismus galten. Gleichzeitig verweisen die von Stöbe formulierten Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem auf eine Neuausrichtung betrieblicher Sozialpolitik, die der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung nahe steht. Denn eine zentrale Rolle nahm dabei die Vorstellung eines „selbständigen Mitarbeiters“ ein, der sich seiner „Verantwortung in einer betrieblichen Partnerschaft“ bewusst sei.162 Auf den ersten Blick mag das als eine graduelle, lediglich rhetorische Verschiebung erscheinen. Dennoch nimmt Stöbe mit seiner Wortwahl Bezug auf eine sich abzeichnende Aufwertung des Individuums als Adressat betrieblicher Sozialpolitik im Rahmen des sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenkens, die sich etwa am Begriff des „Partners“ festmachen lässt. Dieser Topos wurde in den 1950er Jahren zu einem äußerst populären Angelpunkt der Beschreibung betrieblicher Sozialbeziehungen. Über Konzepte und Beispiele „partnerschaftlicher“ Betriebsgestaltung berichtete auch die Zeitschrift der BDA, „Der Arbeitgeber“. So etwa über die Hauptversammlung der „Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“ 1950, auf der ihr Vorsitzender Curt Köhler die Verwirklichung der Partnerschaft von Arbeitgebern und -nehmern zu einem gesellschaftlichen Ziel erklärte.163 Wenn auch nur andeutungsweise, so zeichneten sich doch bereits in den 1950er Jahren sogar organisatorische Auswirkungen des Ideals „partnerschaftlicher“ Sozialbeziehungen ab. Sie lassen sich als Individualisierung der Sozialpolitik beschreiben, die sich vor allem in der Aufwertung der Personalabteilungen als Akteure bei der Gestaltung der Sozialbeziehungen widerspiegelt.164 Die Personal- und Sozialexperten spielten eine wichtige Rolle für die Reflexion über eine Neuorientierung betrieblicher Sozialbeziehungen im Zeichen der Partnerschaft. Unter dem Vorsitz von Fritz Jacobi, Leiter der Personal- und Sozialabteilung bei Bayer und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Personalführung, richtete der Öffentlichkeits-Ausschuss des „Arbeitsrings der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie beispielsweise eine „Beratungsstelle für betriebliche Partnerschaft“ ein.165 Der Partnerschafts-Topos spielte auch eine zentrale Rolle in Herbert Gross’ Publikation „Manager von Morgen“, die schon im Untertitel die „Partnerschaft als Wirtschaftsform der Zukunft“ proklamierte und die einen zentralen Stellenwert für die Neuformulierung des unternehmerischen Selbstverständnisses hatte.166 Diesem Ideal einer betrieblichen Partnerschaft lässt sich auch das in den 1950er und 1960er Jahren sehr präsente personalpolitische Konzept des „Menschen im Mittelpunkt“ zuordnen, das durch die Betonung des einzelnen „Menschen“ das Moment der Individualisierung noch unterstreicht.167 162 Ebd. S. 2. 163 Vgl.: Köhler, Curt: Ansprache auf der Hauptversammlung der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, in: Der Arbeitgeber, Nr. 15, 1950, S. 9–10, hier S. 10. 164 Vgl.: Rosenberger (2005), S. 66f. 165 Vgl.: Rosenberger (2008), S. 235. 166 Vgl.: Gross (1950); sowie: Rosenberger (2008), S. 229. 167 Wichtige Anstöße zur Entwicklung dieses Konzepts kamen aus der Betriebswirtschaftslehre, vor allem aus dem Umfeld der 1949 gegründeten Zeitschrift „Mensch und Arbeit“. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 124f u. S. 131.
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Die Bedeutung partnerschaftlicher Konzepte wurde also auch hinsichtlich ihrer Anwendung auf der betrieblichen Ebene reflektiert. Das gilt ebenso für das neue Verhältnis zwischen betrieblicher und gesellschaftlicher Ordnung. Der erwähnte Jacobi formulierte in seiner 1963 erschienenen Publikation „Personalpolitik heute und morgen“ schon in der Überschrift des ersten Kapitels „Sozialpolitik ist auch Gesellschaftspolitik“ einen Appell an die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers.168 Schon die Zeitgenossen sahen darin einen entscheidenden Unterschied zum patriarchalischen Unternehmensverständnis. In einem Artikel in der BDA-Zeitschrift „Der Arbeitgeber“ verwies Adolph Geck explizit auf das patriarchalische „Herr-im-Hause-Prinzip“ des 19. Jahrhunderts, von dem ein „Prozeß der ‚Veröffentlichung‘ der Betriebe“ abzugrenzen sei, der noch immer andauere.169 Der betrieblichen Sozialpolitik, deren Traditionslinie ins 19. Jahrhundert Geck betont, maß er in dieser Situation eine durchaus neue Funktion zu: „Denn das erste ist, daß der Betrieb gemäß seiner Funktion im sozialen Ganzen auch entsprechende naturgemäße sozialpolitische Aufgaben hat“.170 Insbesondere Ruth Rosenberger hat darauf hingewiesen, dass diese Versuche einer Neudefinition der gesellschaftspolitischen Dimension des Unternehmens nicht folgenlos blieben. Die von den betrieblichen Sozialexperten formulierten Ansprüche an das Unternehmen entwickelten eine Dynamik, die eine Positionierung erforderlich machte. Nicht zuletzt führt Rosenberger darauf auch den Wandel des Unternehmer-Verständnisses hin zum „sozial verantwortlichen Unternehmer“ zurück.171 Die Thematisierung des Betriebes bewegte sich damit in den 1950er und 1960er Jahren zwischen zwei Polen. In einem Artikel in der BayerWerkszeitschrift bringt der Autor sie prägnant zum Ausdruck: „Er [der Betrieb] steht als Lebenskreis schicksalhaft miteinander verbundener Menschen zwischen der Familie auf der einen und den größeren Gemeinschaften, der Gemeinde und dem Staat, auf der anderen Seite.“172 Auch die zitierten betrieblichen Sozialexperten betonten die neue Verantwortung der Unternehmen meist unter Verweis auf gemeinschaftliche Konzepte betrieblicher Ordnung. Sie nahmen damit eine Vermittlerrolle ein, ohne diese Dichotomie zwischen „altem“ Verständnis des Betriebes und den neuen Bezugspunkten des Nachdenkens über das Unternehmen aufzulösen. Entscheidend ist, dass der zweite Pol der Ordnungsvorstellung nun eine erhebliche Aufwertung erfuhr. Im Kontext der 1950er Jahre kristallisierte sich ein Merkmal als zentraler Bezugspunkt der Sozialpartnerschaft heraus, das gleichzeitig einen fundamentalen Unterschied zum patriarchalischen Unternehmensver 168 Vgl.: Jacobi (1963), S. 5. 169 Geck, Adolf [sic]: Unternehmerische betriebliche Sozialpolitik in Idee und Wirklichkeit, in: Der Arbeitgeber, Nr. 24/1, 1950, S. 50–56, hier S. 52. 170 Ebd. S. 56. 171 Vgl.: Rosenberger (2008), S. 227f. 172 Föhl, Carl: Klassenbewusstsein oder Betriebsverbundenheit? Auszug aus der Werkszeitschrift „Unser Werk“ Nr. 5, 1963, S. 84–85, in: BAL 210/1. Der Artikel von Prof. Föhl, ehem. Mitglied der Geschäftsleitung einer süddeutschen Nadelfabrik, erschien in der Rubrik „Beiträge zur eigenen Meinungsbildung“.
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ständnis markiert: Innerhalb der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung war der Betrieb als eine geschlossene soziale Einheit nicht mehr denkbar. Das im Patriarchalismus allein auf die Gemeinschaft des Unternehmens zugeschnittene Kooperationskonzept wurde in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung auf die gesellschaftlich-politische Ordnung insgesamt übertragen – und damit die überbetriebliche Ordnung als Referenz unternehmerischen Handelns im Vergleich zum Kaiserreich erheblich aufgewertet. Allein der Umstand, dass diese Neubewertung des Verhältnisses von Unternehmen und Gesellschaft von Verbänden und „Experten“ formuliert wurde, verdeutlicht das Verschwimmen der Grenzen des Unternehmens, zeigt die „Öffnung“ des Betriebes an. Über die gesellschaftliche Dimension betrieblicher Ordnung ist zwar auch schon im 19. Jahrhundert nachgedacht worden – man denke nicht zuletzt an die von Marx im Begriff der „Klasse“ hergestellte Verbindung zwischen betrieblicher und gesellschaftlicher Ordnung. Marx ging es dabei jedoch am allerwenigsten um das Element der Kooperation. Entscheidend ist, dass im Kontext der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung über den Betrieb hinaus gedachte Konzepte von Kooperation in den 1950er Jahren zu einem zentralen Bezugspunkt des Nachdenkens über die soziale Ordnung eines Unternehmens wurden. Welchen Unterschied diese Verschiebung der Referenzgruppen für die Bewertung unternehmerischen Handelns bedeutete, vermag ein Vergleich des Unternehmensverständnisses zweier Vorstandsmitglieder des Unternehmens Bayer zu veranschaulichen. 1900 thematisierte Carl Duisberg im Jahresbericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk die Veränderung der Arbeitsbeziehungen durch die erstarkende Gewerkschaftsbewegung: „Das so oft erwähnte, dem Arbeiter durch seine Presse tagtäglich als ein Ausfluss der Selbstsucht des Unternehmertums verleidete „Herr im Hause sein“, das dem unbefangenen Blicke als eine durch die Bedürfnisse der Ordnung und des Fortschritts begründete selbstverständliche Sache erscheint, seine Mäßigung durch die Wahrung der eigenen wohlverstandenen Interessen des Arbeitgebers erfährt und in seinen Auswüchsen eine Schranke in der Gewerbegesetzgebung findet, soll einseitig zugunsten der Arbeiter eine Änderung erfahren.“173
Das Unternehmen erscheint vor dem Hintergrund des patriarchalischen „Herr-imHause-Standpunkts“ als eine geschlossene und weitgehend autonome Einheit. Verantwortung trägt der Unternehmer hier nur gegenüber dem eigenen Betrieb und – im Interesse des Betriebes –gegenüber der „eigenen“ Belegschaft. Die betriebliche Gemeinschaft erscheint hier als zentrale Referenz unternehmerischen Handelns. Das Engagement der Gewerkschaften, auf das sich der letzte Absatz des Zitats bezieht, wird vor diesem Hintergrund als Eingriff von „außen“ bewertet, mit ihnen zu verhandeln wäre also nicht legitim. Zu einer vollkommen anderen Bewertung des Unternehmens kommt Personalleiter und Vorstandsmitglied Fritz Jacobi 1963 in seinem Buch „Personalpolitik heute und morgen“. Im ersten 173 Bericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk für das Jahr 1900, in: Duisberg (1923), S. 756–765, hier S. 758.
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Kapitel schrieb Jacobi, vor dem Hintergrund der gescheiterten Weimarer Demokratie und des Ost-West-Konflikts komme den Unternehmern eine politische Verantwortung zu: „Die ganzen äußeren Umstände des Unternehmens, die Arbeitsatmosphäre, die Bezüge, das Verhältnis zu den Vorgesetzten und Mitarbeitern, wirken auf die Einstellung des Werksangehörigen zu der Ordnung ein, in der er lebt. Fühlt er sich in seiner Tätigkeit unwohl, so wird er mit ihr auch die Ordnung, die ihn umschließt im allgemeinen Ablehnen. [...] Wenn aber schon, allein durch die Tätigkeit im Unternehmen, die Einstellung des Werksangehörigen zu der ihn umschließenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beeinflußt wird, so ergibt sich daraus zwangsläufig die Verpflichtung für das Unternehmen, bewußt dahin zu wirken, daß sein Mitarbeiter sich in seiner Tätigkeit wohlfühlt und damit auch die Ordnung, in der er lebt, als richtig empfindet.“174
Das Unternehmen erscheint in dieser Interpretation nicht mehr als autonome Einheit, in welcher der Unternehmer nur dem Erfolg des Unternehmens und der eigenen Belegschaft verpflichtet ist. Durch diese Aufwertung der gesellschaftlichen Ordnung als Referenz unternehmerischen Handelns wird dem Unternehmer eine Verantwortung zugeschrieben, die weit über den Betrieb hinausgeht und das Gelingen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung insgesamt umfasst. Diese Beispiele zeigen, wie sich im Wandel von der patriarchalischen zur sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung die Referenzen für die Beurteilung legitimen unternehmerischen Handelns verschoben. War die überbetriebliche Ordnung in Rahmen des Patriarchalismus explizit kein relevanter Bezugspunkt, so war diese Ordnung in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung als Referenz für die Bewertung der Legitimität unternehmerischen Handelns deutlich aufgewertet. Allerdings stellt sich die Frage, weshalb es über den Perspektivwechsel hinaus sinnvoll ist, nach der Rolle kooperativer Ordnungsvorstellungen für die Bewertung und die Aushandlung von Arbeitszeiten zu fragen. Daher gilt es die Bedingungen herauszuarbeiten, aufgrund derer Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft tatsächlich konkrete Wirkung entfalten konnten.
174 Jacobi (1963), S. 7.
3. DIE ARBEITSZEITSENKUNG IN UNTERNEHMENSGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE: KOOPERATIVE LEITBILDER ALS ERKLÄRENDER FAKTOR? Kann die Untersuchung gängiger unternehmerischer Wissensordnungen einen Beitrag zur Erklärung der unterschiedlichen Dynamik der Arbeitszeitsenkungen im späten 19., frühen 20. Jahrhundert sowie den 1950er und 1960er Jahren leisten? Ausgehend von der Annahme, Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft hätten die Wahrnehmung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ auf Seiten der Unternehmer geprägt und die jeweils in Betracht gezogenen Handlungsoptionen im Umgang mit der Anforderung beeinflusst, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Ordnungsvorstellungen eine solche Wirkung entfalten konnten. In welchen Kontexten hatten die Unternehmen Siemens und Bayer Entscheidungen über die Handhabung der Arbeitszeiten zu fällen? Um das zu klären, muss der Umgang mit der Arbeitszeitsenkung in den Betrieben in den Blick genommen werden. Im Fokus steht dabei der Nachweis über die Erklärungsbedürftigkeit des Umgangs mit der Anforderung und zwar über Faktoren wie die konjunkturelle Situation oder die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinaus. Zunächst müssen daher die Unterschiede im Umgang mit der Arbeitszeitsenkung in den beiden Untersuchungszeiträumen herausgearbeitet werden, um zu klären, welche Potenziale aus Sicht der Unternehmen Siemens und Bayer für eine Senkung überhaupt bestanden. Herauszuarbeiten ist außerdem, innerhalb welches institutionellen Rahmens die Verhandlungen abliefen und von welchen unterschiedlichen Dynamiken der Umgang mit Arbeitszeiten geprägt war. In einem weiteren Schritt gilt es zu fragen, wie eindeutig sich die Handlungsspielräume und -möglichkeiten für den Umgang mit der Arbeitszeitverkürzung darstellten. Hatten die Akteure in den Unternehmen klare Zielpräferenzen in Bezug auf die Arbeitszeitsenkung, deren Umsetzung sie planmäßig verfolgten? In welchem Ausmaß galt es demgegenüber die Situation zunächst zu deuten, waren die Anforderungen und die Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen unklar, so dass die Ordnungsvorstellungen eine Orientierungsfunktion erfüllt haben könnten? 3.1 DIE ARBEITSZEITSENKUNG IN KAISERREICH UND BUNDESREPUBLIK Schon auf den ersten Blick unterscheidet sich die Art, wie die Arbeitszeitsenkung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert ausgehandelt wurde, von den 1950er und 1960er Jahren. Die Verkürzung der Arbeitszeiten im Kaiserreich war höchst kon-
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fliktträchtig, während die Verhandlungen in der Bundesrepublik von dem Bemühen um eine konsensuale Lösung geprägt waren. Konfliktreiche Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich Im Kaiserreich nahm die Brisanz der Debatte um die Regulierung der Arbeitszeiten seit den 1890er Jahren stetig zu, nachdem der Trend zur Senkung von Arbeitszeiten durch die Gründerkrise zunächst unterbrochen worden war.1 Günter Scharf sieht in den Jahren von 1890 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine eigene Phase der Arbeitszeitverkürzung, in der die wöchentlichen Arbeitszeiten erstmals kontinuierlich von durchschnittlich 66 auf circa 56 Stunden sanken – wenn auch mit erheblichen regionalen und branchenspezifischen Unterschieden.2 Politische Eingriffe in diesen Prozess blieben eher punktuell. Die Arbeitszeitfrage war zwar Teil der politischen Diskussion um die Sozialpolitik. Die Option, die Arbeitszeitentwicklung auf gesetzlichem Wege zu gestalten, wurde aber nur in Ansätzen genutzt.3 Die umfangreichsten rechtlichen Beschränkungen der Arbeitszeiten bis 1918 wurden in den Gewerbenovellen von 1891 und 1908 formuliert. Eine wichtige Änderung stellte die gesetzliche Beschränkung der Frauenarbeitszeit ab 1892 auf elf, vor Sonn- und Feiertagen auf zehn Stunden, dar, die seit den 1870er Jahren diskutiert worden war. Auch die Sonntagsarbeit wurde, mit Gültigkeit ab 1895, durch die Novelle verboten. Mitte der 1890er Jahre wurden darüber hinaus zahlreiche Vorschriften mit Sonderregelungen für Arbeitszeiten in verschiedenen Branchen und Berufen erlassen. Die Novelle der Gewerbeordnung von 1908, mit der die staatliche Regulierung der Arbeitszeiten bis zum Ersten Weltkrieg endete, begrenzte den Arbeitstag von Frauen und Jugendlichen ab 1910 auf zehn, vor Sonn- und Feiertagen auf acht Stunden.4 Dieser „Samstags-Frühschluss“ hatte auch Auswirkungen auf die Arbeitszeiten der Männer. Selbst dort, wo die organisatorische Trennung der Arbeitszeiten von Frauen und Männern überhaupt möglich war, nahm diese Art der Verteilung der Wochenarbeitszeit zu.5 Auch wenn die Bestimmungen der Gewerbeordnung eher geringfügige Eingriffe vornahmen, sind sie damit Ausdruck einer raschen Zunahme und Differenzierung des gesetzli 1 2 3 4 5
Vgl.: Scharf (1987), S. 203. Vgl.: Ebd. S. 331. Vgl.: Ritter / Tenfelde (1992), S. 383. Vgl.: Schröder (1980), S. 270. Vgl.: Scharf (1987), S. 318. Damit relativieren sich die auf den ersten Blick auf gesetzlichem Wege geschaffenen Unterschiede zwischen den Arbeitszeiten von Männern und Frauen. Der Unterschied zwischen den Arbeitszeiten von Frauen und Männern verlief ohnehin vor allem zwischen den Branchen und Beschäftigungsverhältnissen, in denen typischerweise eher Männer bzw. Frauen arbeiteten – also beispielsweise zwischen Metall- und Textilindustrie oder zwischen Arbeitern und Angestellten. Die Gesetzgebung regelte außerdem allein die Arbeitszeit der Fabrikarbeiterinnen, so dass der größte Teil der Arbeiterinnen, der in Werkstätten, Klein- und Mittelbetrieben tätig war, davon unbeeinflusst blieb. Vgl.: Schmidt (1984), S. 66.
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chen aber auch tarifvertraglichen Regelwerkes zur Gestaltung der Arbeitszeiten seit 1890. Vor 1891 existierte keine Begrenzung des Arbeitstages von Erwachsenen.6 Besonders die tarifvertragliche Regulierung der Arbeitszeiten hatte seit den 1890er Jahren deutlich zugenommen, die in der Mehrzahl einen Arbeitstag unterhalb von zehn Stunden festlegten.7 Diese Entwicklung war auch das Ergebnis häufiger Arbeitskämpfe im selben Zeitraum, in denen die Frage der Senkung von Arbeitszeiten gegenüber den bis dahin im Vordergrund stehenden Lohnforderungen eine zunehmend bedeutende Rolle spielte.8 Es handelte sich hier auch um die Folgen eines Wahrnehmungswandels, im Zuge dessen die Arbeitszeit in ihrer Bedeutung aufgewertet wurde. Daher fanden lange Arbeitszeiten, Überstunden oder Sonntagsarbeit immer weniger Akzeptanz, die bis dahin seit Dekaden ohne vergleichbaren Widerstand abgeleistet worden waren.9 Es kann als Ausdruck dieses Wandels gelten, dass bereits auf dem internationalen Sozialistenkongress 1889 in Paris die Forderung nach dem Achtstundentag ins Zentrum gewerkschaftlicher Bemühungen gerückt wurde. Der Achtstundentag hatte allerdings eher symbolische Bedeutung, in der Praxis richteten sich die Bemühungen der Arbeiterorganisationen – abgesehen von einigen stark spezialisierten und organisierten Berufsgruppen – auf die Einführung eines zehnstündigen Arbeitstages. Erst mit zunehmendem Erfolg der Tarifpolitik vor dem Ersten Weltkrieg schien der Achtstundentag ein reales Ziel zu werden.10 Die ersten großen Streiks, in denen die Forderung nach sinkenden Arbeitszeiten den zentralen Beweggrund darstellte, wurden zu Beginn der 1890er Jahre geführt. 1889 streikten die Bergarbeiter an der Ruhr, 1891/92 die Buchdrucker. Die Bergleute forderten die Verkürzung der Schichtzeiten auf acht Stunden, die Buchdrucker einen tarifvertraglich vereinbarten Neunstundentag. In beiden Fällen konnten sich die Streikenden nicht durchsetzen, nicht zuletzt aufgrund der schlechten Konjunkturentwicklung, die 1892/93 ihren Tiefpunkt erreichte.11 Die Zahl der um Arbeitszeiten geführten Streiks nahm vor allem seit 1896, der zweiten Konjunkturphase nach der Gründerkrise, deutlich zu, schwächte sich zwischen 1900 und 1905 ab, um dann erneut anzusteigen.12 Die Streikaktivität allein sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hälfte aller Streiks um die Senkung von Tages- und Wochenarbeitszeiten erfolglos blieben. Bei den Arbeitskämpfen, die 6 7 8
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Vgl.: Deutschmann (1985), S. 220. Vgl.: Ebd. S. 222f. Vgl.: Schröder (1980), S. 284; sowie: Deutschmann (1985), S. 184. Deutschmann bezieht sich auf die von Schröder angefertigten Aufstellungen über diejenigen Streiks, in denen die Arbeitszeitfrage eine Rolle spielte. Eine solche Aufschlüsselung der Streiks nach Anlässen findet sich auch bei: Schneider (1984), S. 72ff. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 184. Deutschmann verweist nicht nur auf Streiks, sondern beschreibt insbesondere ausführlich die sich häufenden Verweigerungen, nicht mehr legitime Arbeitszeiten abzuleisten. Vgl.: Ebd. S. 187f. Vgl.: Scharf (1987), S. 202. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 184f. Vgl.: Schröder (1980), S. 284.
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um die Abschaffung von Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit geführt wurden, waren es sogar zwei Drittel. Allein die Arbeitskämpfe für eine veränderte Lage der Arbeitszeiten konnten meist Erfolge verbuchen. Die Anzahl der erfolgreichen Streiks nahm in Phasen schlechter Konjunkturentwicklung ab, insbesondere jedoch seit 1909, was Christoph Deutschmann auf einen sich verhärtenden Widerstand der Unternehmer zurückführt.13 Trotz einer ambivalenten Bilanz der Arbeitskämpfe zeichnete sich seit den 1890er Jahren ein Trend zur Senkung der Arbeitszeiten ab. Er verlief allerdings in Abhängigkeit von der jeweiligen Branche und auch regional recht unterschiedlich. In der Berliner Metallindustrie waren 1902 Arbeitszeiten zwischen 60 und 54 Wochenstunden am häufigsten verbreitet, womit die Berliner Industrie im Durchschnitt unter den branchenüblichen Zehnstundentagen lag.14 In der Elektro- und optischen Industrie lagen die Arbeitszeiten häufig noch darunter. Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik zufolge, lagen sie 1910 bei durchschnittlich neun Stunden am Tag, die Hälfte der Betriebe hatte Arbeitstage zwischen 8 und 8,75 Stunden.15 Zu diesem Zeitpunkt setzte sich in Berlin die sogenannte „englische“, oder „durchgehende“ Arbeitszeit durch, das heißt eine Arbeitszeit von acht bis neun Stunden nach englischem Vorbild, unterbrochen nur von einer höchstens 30minütigen Mittagspause.16 Üblich waren bis in die 1880er Jahre, und darüber hinaus, lange Mittagspausen von ein bis zwei Stunden, die bei teilweise sehr langen Arbeitszeiten notwendig schienen, um die Arbeitskraft zu regenerieren.17 Siemens erprobte den Achtstundentag bei durchgehender Arbeitszeit bereits 1890 in der Mechaniker-Abteilung des Werks Charlottenburg. Schließlich wurde in der Charlottenburger Abteilung zunächst eine 8,5-stündige Arbeitszeit eingeführt, ab 1895 galt in dieser Abteilung die achtstündige Arbeitszeit. Die durchgehende Arbeitszeit war also zunächst auf einen bestimmten Werksteil begrenzt. In den übrigen Berliner Werken galt 1891 noch eine Arbeitszeit von neun Stunden mit einer zweistündigen Mittagspause, es zeichnete sich jedoch nach und nach ein Übergang zur durchgehenden Arbeitszeit ab.18 13 14 15 16 17
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Vgl.: Deutschmann (1985), S. 188f. Vgl.: Scharf (1987), S. 271. Vgl.: Ebd. S. 274f. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 192f. Außerdem erlaubten sie es den Beschäftigten, für das Mittagessen nötigenfalls auch nach Hause zurückzukehren. Speiseräume, in denen mitgebrachtes Essen verzehrt werden konnten, und Kantinen wurden erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend eingerichtet. Vgl.: Uhl (2012) S. 374f. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 251. Bereits in einer Bekanntmachung vom 23.12.1890 wurde die durchgehende Arbeitszeit bei 8,5 Arbeitsstunden pro Tag ab dem 1.4.1891 für „die Berliner Werkstätten“ angeordnet. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine stringente Entwicklung. In der Arbeitsordnung des Charlottenburger Werkes von 1895 war, abgesehen von der Mechanikerabteilung, wiederum eine Arbeitszeit von 8,75 Stunden bei einer zweistündigen Mittagspause vorgesehen. Vgl.: Abschrift einer Bekanntmachung vom 23.12.1890, in: Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, in: SAA 14 Lr 516; sowie: Kocka (1969), S. 578, Anhang III: Arbeitsordnung des Charlottenburger Werkes 1895.
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3. Die Arbeitszeitsenkung in unternehmensgeschichtlicher Perspektive
Demgegenüber begann die Senkung der ohnehin längeren Arbeitszeiten in der Chemieindustrie später. Bei Bayer wurde die allgemeine Arbeitszeit der Arbeiter 1905 von zehn auf neun Stunden verkürzt.19 Eine versuchsweise Umstellung der zwölfstündigen Wechselschicht im Werk Leverkusen auf eine achtstündige erfolgte 1909.20 Branchenüblich waren zu Beginn der 1890er Jahre zehnstündige Arbeitszeiten. Bei Hoechst wie auch der BASF war noch bis 1914 der Zweischichtbetrieb mit zwölfstündigen Arbeitszeiten üblich, wobei die BASF 1913 im Werk Oppau den Dreischichtbetrieb à acht Stunden einrichtete. Die regulären Arbeitszeiten bewegten sich zwischen elf und zehn Stunden.21 Die Anfänge der jeweiligen Umstrukturierung der Arbeitszeiten standen weder bei Bayer noch bei Siemens in direktem Zusammenhang mit Arbeitskämpfen im jeweils eigenen Unternehmen. Die zahlreichen Konflikte um Arbeitszeiten sollten nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass umfangreiche Senkungen stattfanden, denen kein Streik vorausgegangen war. Auch die Möglichkeit von Arbeitskämpfen konnte zwar eine Rolle für die Bereitschaft zur Senkung von Arbeitszeiten spielen, war aber nur einer von mehreren Faktoren.22 Zum einen konnten insbesondere in Zeiten positiver Konjunkturentwicklung Forderungen nach sinkenden Arbeitszeiten auch ohne Streiks in umfangreichem Maße durchgesetzt werden.23 Zum anderen sind diese Senkungen auf die parallel stattfindende Rationalisierung des Produktionsprozesses zurückzuführen, im Zuge derer die Arbeit verdichtet, Pausen verkürzt oder abgeschafft wurden, so dass die täglich geleisteten Arbeitsstunden zurückgingen. Christoph Deutschmann hält diese Senkungen für quantitativ ebenso bedeutsam wie die auf Arbeitskämpfe zurückzuführenden.24 Die Annahme, Arbeitszeitsenkungen im Kaiserreich seien „Einzelfälle“ gewesen, da eine Verkürzung von den Arbeitgebern „grundsätzlich“ abgelehnt worden seien, gilt es also differenziert zu betrachten.25 Wenn Markus Promberger feststellt, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hätten Unternehmer in „seltenen Fällen“ aus sozialpolitischen Gründen begonnen Arbeitszeiten zu senken, ist das eine zu grobe Vereinfachung.26 Auffällig ist jedoch in der Tat, dass kein konsensfähiger Modus gefunden wurde, die Verhandlung der Arbeitszeitfrage in potenziell weniger kon 19 20 21 22
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Vgl.: Rundschreiben der Direktion der „Farbenfabriken“ vom 7.11.1905, S. 1, in: BAL 215/11. Vgl.: Protokoll der Betriebsführer-Konferenz Leverkusen vom 19.3.1909, in: BAL 13/4. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 280. 1899 informierte Carl Duisberg seinen Onkel, dass man im selben Jahr die Arbeitszeit ohne „Anregung seitens der Arbeiter“ um eine halbe Stunde auf zehn Stunden reduziert habe. Gleichzeitig machte er deutlich, dass er im Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Forderung nach dem neun bzw. achtstündigen Arbeitstag mit baldigen Streiks rechnete. Vgl.: Schreiben Duisbergs an den Geheimen Oberregierungsrat Carl Gamp vom 15.11.1899, in: Kühlem (2012), S. 105. Vgl.: Schröder (1980), S. 281 u. S. 284f. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 189 u. S. 192f. Schröder (1980), S. 275. Promberger (2005), S. 19.
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fliktträchtige Bahnen zu lenken. Auch über verbindliche beziehungsweise zumindest langfristig anzustrebende Maßstäbe für die Gestaltung von Arbeitszeiten konnte kein Konsens erzielt werden. Rasche und konfliktarme Arbeitszeitsenkung in den 1950er Jahren Der Konflikt um verbindliche Grenzen des Arbeitstages belastete die Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik erheblich. Welche Bedeutung der Frage des Achtstundentages zugemessen wurde, zeigt der Umstand, dass er an immerhin neunter Stelle in das Arbeitsgemeinschaftsabkommen von 1918 aufgenommen wurde, um diesen Konfliktherd zu entschärfen.27 Mit den Vereinbarungen des Arbeitsgemeinschaftsabkommens war die Auseinandersetzung um die Arbeitszeiten in der Weimarer Republik jedoch nicht beigelegt. Im Gegenteil, die Frage der Arbeitszeiten blieb bis zum Ende der Republik in der Diskussion und war Anlass schärfster Konflikte. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer waren nicht in der Lage auf diesem sozialpolitischen Gebiet Kompromisse zu schließen. Obwohl im Arbeitsgemeinschaftsabkommen und in der vom Demobilmachungsamt 1918 erlassenen Arbeitszeitordnung rechtlich verankert, war der Achtstundentag Gegenstand höchst konfliktreicher Auseinandersetzungen.28 Einen ersten Erfolg erreichten die Arbeitgeberverbände der süddeutschen Metallindustrie, die eine Ausdehnung des Arbeitstages auf die gesetzlich möglichen 48 Wochenstunden forderten, anstatt der tarifvertraglich vereinbarten Arbeitszeiten zwischen 44 und 47 Stunden.29 Der Konflikt drohte sich auf die gesamte Metallindustrie auszudehnen, zwischen zwei und drei Monaten dauerten Streiks beziehungsweise Aussperrungen, bevor sich schließlich die Arbeitgeber weitgehend durchsetzten.30 Eine weitere Eskalation folgte auf die Änderung der Arbeitszeitordnung Ende 1923, die eine Ausdehnung des Arbeitstages auf zehn Stunden durch Ausnahmen oder Tarifverträge wieder ermöglichte.31 Die dadurch notwendig gewordenen Änderungen beziehungsweise Neuverhandlungen der Tarifverträge sorgten dafür, dass 1924 als „Kampfjahr“ der Weimarer Republik in Erinnerung blieb, in dem die Zahl der durch Streiks und Aussperrungen ausgefallenen Arbeitstage auf Rekordhöhen stieg.32 Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt im „Ruhrkampf“, der in einer Gesamtaussperrung der Bergarbeiter gipfelte. Die Einschätzung der Situation durch die Handelskammer Bochum, welche die Regierung 1924 in einem Schreiben um ihr Eingreifen bat, bringt die Dimension der Auseinandersetzung zum Ausdruck: „Es handelt sich 27 28 29 30 31 32
Vgl.: Arbeitsgemeinschaftsabkommen vom 15.10.1918, § 9, abgedruckt in: Feldmann / Steinisch (1985), S. 135. Vgl.: Feldman / Steinisch (1978), S. 357f. Vgl.: Ebd. S. 364. Vgl.: Ebd. S. 374 u. S. 378. Vgl.: Ebd. S. 411. Scharf (1987), S. 462.
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heute nicht mehr um einen Kampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern des Bergbaus allein, sondern um die Frage des Seins oder der Vernichtung der gesamten Wirtschaft.“33 Es war diese fundamentale Krisenerfahrung, welche die Weimarer Republik auch noch in der frühen Bundesrepublik zu einem wichtigen Bezugspunkt des Nachdenkens über die künftige Wirtschaftsordnung machte.34 In den Jahren von 1925 bis 1929 beruhigte sich die Lage. Aufgrund eines Rationalisierungsschubes ging die Ausdehnung der Arbeitszeiten zurück.35 Diese Entwicklung verstärkte sich noch durch die Wirtschaftskrise seit 1929/30. Sie bewirkte eine Änderung der Gewerkschaftspolitik, die nun zunehmend einheitlich aus beschäftigungspolitischen Gründen die Einführung einer 40-Stunden-Woche forderten; allerdings waren die Gewerkschaften durch die Krise zu geschwächt, als dass diese Forderung in eine offensive Arbeitszeitpolitik hätte münden können.36 Es war die NS-Regierung, die noch 1933 – befristet bis 1934 – verfügte, dass Arbeitsbeschaffungsaufträge nur an Firmen gehen sollten, die nicht mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten ließen, auch bei „Notstandsarbeiten“ sollte die 40Stunden-Woche gelten.37 In der Arbeitszeitverordnung von 1934 wurden aber die Bestimmungen der Weimarer Republik im Wesentlichen beibehalten. Sie, wie auch ihre Neufassung 1938, hielt am Grundsatz des Achtstundentages und der 48Stunden-Woche fest.38 Im Wortlaut der Arbeitszeitverordnung reduzierte sich, dem Diktum von der Auflösung der Klassengegensätze in der „Volksgemeinschaft“ entsprechend, die Frage der Arbeitszeitgestaltung auf die „Gefolgschaftspflicht“ in der Betriebsgemeinschaft.39 Fortgeschrieben wurden auch die rechtlichen Unterschiede in den Arbeitszeiten von Männern und Frauen, die 1891, mit der Festlegung der Arbeitszeiten für Frauen und ihrer Verkürzung vor Sonn- und Feiertagen, geschaffen worden waren. Im Kontext des Einsatzes von Frauen in der Rüstungsindustrie war bereits kurz nach Kriegsbeginn diskutiert worden, diesen Frauen einen oder mehrere freie Tage im Monat für die Hausarbeit zu gewähren. 1943 wurde dieser Anspruch gesetzlich verankert.40 In gesetzlicher Form wurde diese Regelung mit Gründung der Bundesrepublik zwar nur in vier Bundesländern übernommen, blieb aber, bis sie mit der allgemeinen Durchsetzung des arbeitsfreien Samstags praktisch bedeutungslos wurde, heftig diskutiert.41 Eine viel wesentlichere Veränderung der Arbeitszeiten von Frauen lag in der Teilzeitarbeit, die
33 34 35 36 37 38 39 40 41
Zitiert nach: Feldman / Steinisch (1978), S. 432. Vgl.: Ullrich (2009), S. 337. Vgl.: Schneider (1984), S. 126. Vgl.: Ebd. S. 144f. Vgl.: Scharf (1987), S. 586; sowie: Schneider (1984), S. 148. Vgl.: Scharf (1987), S. 590ff. Vgl.: Promberger (2005), S. 25; sowie: Schneider (1984), S. 147f. Vgl.: Sachse (1997), S. 254f. Vgl.: Ebd. S. 257f.
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sich in der Bundesrepublik als spezifisches Arbeitszeitarrangement verheirateter Frauen herauszubilden begann.42 Vor dem Hintergrund der äußert konfliktintensiven Aushandlung der Arbeitsbeziehungen und den Kämpfen um den Achtstundentag in der Weimarer Republik wird deutlich, wie rasch und konsensual die Entwicklung der Arbeitszeitsenkung in der Bundesrepublik verlief. Direkt nach Kriegsende hatte eine Senkung der Arbeitszeiten noch keine Rolle gespielt. Schon aufgrund der eingeschränkten Produktionskapazitäten sanken die Arbeitszeiten in den ersten drei Nachkriegsjahren deutlich, waren also eher ein Problem denn ein erstrebenswertes Ziel.43 Seit 1946 arbeitete Bayer in Leverkusen wegen Brennstoff- und Strommangels an lediglich fünf Tagen die Woche, allerdings bei insgesamt 48 Wochenstunden. Erst im August 1948, mit Blick auf die bevorstehende Währungsumstellung, sollte die Arbeitszeit im gesamten Werk wieder auf die 48-stündige Sechstagewoche umgestellt werden.44 Auch wenn in der Nachkriegszeit eher zu kurze Arbeitszeiten als Problem galten, wurden diese notgedrungenen Verkürzungen, vor allem der Arbeitswoche, zum Einstieg in eine dauerhafte Senkung. Anfang der 1950er Jahre schlossen sich zahlreiche Unternehmen der fünftägigen Wochenarbeitszeit an.45 Damit war freilich meist eine Erhöhung der täglich geleisteten Arbeitsstunden verbunden, denn auch in Betrieben mit 5-Tage-Woche lag die Wochenarbeitszeit in der Regel nicht unter 48 Stunden.46 Die 48-stündige Wochenarbeitszeit bei einem achtstündigen Arbeitstag bildete zwar gemäß der Arbeitszeitordnung die Normalarbeitszeit, allerdings war es aufgrund von Ausnahmebestimmungen ohne Weiteres möglich, den Arbeitstag auf zehn Stunden auszudehnen.47 Es handelte 42 43 44 45
46 47
Vgl.: Oertzen (1999), S. 21f. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Lohnarbeit von Frauen typischerweise auf junge alleinstehende, kinderlose Frauen beschränkt. Vgl.: Ebd. S. 21. Vgl.: Schildt (1995), S. 80. Vgl.: Protokolle der Technischen Direktions-Konferenz Leverkusen (Auszüge) am 6.7.1948 und 20.7.1948; sowie: Direktionsrundschreiben Nr. 1450, 28.7.1948; jew. in: BAL 215/11.4. Vgl.: Kevelaer / Hinrichs (1985), S. 55. Edwin Schudlich geht davon aus, dass Mitte der 1950er Jahre bereits ein Drittel der Betriebe die 5-Tage-Woche eingeführt habe. Vgl.: Schudlich (1987), S. 20f. Diese Zahl scheint allerdings etwas hochgegriffen. Zeitgenössische Schätzungen gehen für das Bundesgebiet von rd. 7–9% der Betriebe aus, wobei regionale und sektorale Unterschiede groß waren. Diese Zahlen ließ der Arbeitsminister Baden-Württembergs, Hohlwegler, verlauten. Vgl.: Auszug aus einem Artikel in „Die Union“, April 1954, in einem Schreiben an Generaldirektor Haberland vom 22.4.1954, in: BAL 215/11. Vgl.: Schildt (1995), S. 81. In § 3 der Arbeitszeitordnung (AZO) heißt es: „Die regelmäßige Arbeitszeit darf die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten.“ Allerdings war eine Ausdehnung auf zehn Stunden und darüber hinaus durchaus möglich. Im Falle der 5-Tage-Woche kam v.a. § 4 Abs. 1–3 zum Tragen, demzufolge bei einer regelmäßigen Verkürzung der Arbeitszeit an einzelnen Werktagen die ausfallende Arbeitszeit auf die übrigen Werktage verteilt werden konnte, bis zu einer Höchstdauer von zehn Stunden täglich. Weitere Ausnahmen betrafen z. B. tarifvertragliche Vereinbarungen (§ 7, Abs. 1); § 7 Abs. 2 schrieb fest: „Wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfange Arbeitsbereitschaft fällt, kann die Arbeitszeit auch über zehn Stunden täglich verlängert werden.“ In seinem Kommentar zur AZO stellte Johannes Denecke daher 1950 fest, aufgrund der Möglichkeit zur ungleichmäßigen Verteilung der Arbeits
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sich bei diesen Bestimmungen um die Arbeitszeitordnung von 1938, deren Beibehaltung die Besatzungsmächte der Westzonen nach Kriegsende verfügt hatten und die bei Gründung der Bundesrepublik übernommen wurde.48 Bis 1956 stiegen die durchschnittlichen Arbeitszeiten deutlich an, 1955 hatten sie mit 49 Wochenstunden ihren Höchststand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht. Zwischen 1956 und 1960 sank die wöchentliche Arbeitszeit der Industriearbeiter wieder, von durchschnittlich 47,1 auf 44,1 Stunden – wobei die Zahl der Überstunden in den 1950er Jahren durchgehend hoch blieb.49 Dazu trug auch die Verbreitung der 5-Tage-Woche bei. Gerade weil sie bei der üblichen 48-stündigen Wochenarbeitszeit zu überlangen täglichen Arbeitszeiten führte, wurde sie zum Einstieg in die Arbeitszeitsenkung. Bereits 1952 war die Einführung der fünftägigen 40-Stunden-Woche mit täglich achtstündiger Arbeitszeit vom Bundeskongress des DGB zur Forderung gemacht und 1955 in einem Aktionsprogramm forciert worden.50 Mitte der 1950er Jahr wurde auch der Weg in die tarifvertraglich vereinbarte Senkung der Arbeitszeiten beschritten, nachdem die Arbeitszeitverkürzung, häufig im Zusammenhang mit der Einführung der 5-Tage-Woche, auf der Grundlage von Betriebsvereinbarungen in vielen Unternehmen bereits eingeleitet worden war. Da Verhandlungen zwischen den Spitzenverbänden BDA und DGB 1956 gescheitert waren, wurden die Tarifabschlüsse auf der Branchenebene erzielt. Signalwirkung hatte dabei insbesondere das Bremer Abkommen, mit dem die Tarifparteien 1956 die Senkung der Arbeitszeiten in einem Flächentarifvertrag auf zunächst 45 Stunden für die gesamte westdeutsche Metallindustrie vereinbarten.51 Im Bad Sodener Abkommen vom Dezember 1957 wurde die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 44 Stunden beschlossen. Ein weiterer zentraler Tarifabschluss war das sogenannte Bad Homburger Abkommen, mit dem die Tarifparteien im September 1956 für die Metallindustrie (mit Ausnahme Bayerns, dessen Arbeitgeber bereits ein regionales Abkommen geschlossen hatten) die stufenweise Senkung der Arbeitszeiten auf 40 Stunden bis 1965 vereinbarten. Die Abschwächung des Wachstums Anfang der 1960er Jahre führte zu Neuverhandlungen um den Zeitpunkt der Einführung der 40-Stunden-Woche, der in der Metallindustrie schließlich auf 1967 verschoben wurde.52 Die Tarifverhandlungen zwischen dem Arbeitsring der Deutschen Chemischen Industrie und der Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik um eine manteltarifvertragliche Regulierung der Arbeitszeiten in der chemischen In
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zeit sei in der Praxis die 48-Studen-Woche an die Stelle des Achtstundentages getreten. Vgl.: Denecke (1950), S. 43. Erst 1994 erhielt der Achtstundentag durch das Arbeitszeitgesetz Gesetzesrang. Vgl.: Schildt (1995), S. 80. Vgl.: Schildt (1993), S. 358f. Vgl.: Freese (1995), S. 76 u. S. 80. Vgl.: Scharf (1987), S. 626f. Eine Aufstellung der in der Metallindustrie geschlossenen Tarifverträge findet sich in: Kalbitz (1991), S. 44. Detaillierte Informationen über den Verlauf der Verhandlungen liefert: Scharf (1987), S. 626ff.
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dustrie begannen ebenfalls 1956. Im Oktober desselben Jahres wurde die Verkürzung der Arbeitszeiten im Rahmen eines Manteltarifvertrags in der Normalschicht auf 45, in der Wechselschicht auf 52,5 Stunden ab Mai 1957 vereinbart. Erneute Tarifverhandlungen 1959 erbrachten eine Senkung der Arbeitszeiten in der Normalschicht auf 44, in der Wechselschicht auf 50 Stunden zum ersten Juni 1960. Ab Oktober 1963 galt für die chemische Industrie eine 42,5-stündige Wochenarbeitszeit. Durch den im „Nürnberger Abkommen“ ausgehandelten Manteltarifvertag sank die Arbeitszeit ab Anfang 1967 auf 41,25 Stunden, in den Wechselschichten auf 44 Stunden.53 Der Übergang zur 40-Stunden-Woche – dort, wo diese Marke erreicht wurde – vollzog sich in den einzelnen Branchen zeitlich stark versetzt. Erst 1974 galt die tarifliche Wochenarbeitszeit von 40 Stunden für rund 91% aller Beschäftigten, noch 1973 waren es erst rund 71%.54 Im Vergleich zu den Arbeitszeitsenkungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik verlief die Verkürzung in der Bundesrepublik auffallend konfliktfrei. Keine der Tarifvereinbarungen, die den Übergang zur 40-Stunden-Woche einleiteten, wurde durch Streiks erzielt – anders im Falle der Löhne.55 Die Forderungen der Gewerkschaften, insbesondere die nach einer 40-Stunden-Woche, stießen bei den Arbeitgeberverbänden auf keinen grundsätzlichen Widerstand.56 Erst 1976/77, als die Gewerkschaften begannen, Arbeitszeitsenkungen als Mittel der Beschäftigungspolitik einzusetzen, war das Ende dieser Phase konsensualer Arbeitszeitsenkungen eingeläutet.57. Häufig wird dieses Phänomen mit dem Verweis auf die gute Konjunkturentwicklung der 1950er Jahre erklärt. So führt auch Markus Promberger die verhältnismäßig rasche und konfliktlose Umsetzung der Arbeitszeitsenkung in der Bundesrepublik zurück auf den „stabileren ökonomischpolitischen Hintergrund […] die Faktoren Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und die entsprechenden Verteilungsspielräume.“58 An dieser Erklärung hatten Karl-Heinz Kevelaer und Karl Hinrichs jedoch bereits 1985 Kritik geäußert. Das Wirtschaftswachstum und die Verteilungsspielräume könnten die massiven Arbeitszeitsenkungen nicht erklären, auch aus beschäftigungspolitischer Sicht seien sie nicht nötig gewesen. Sie verweisen darauf, dass die Arbeitgeber insofern Interesse an tariflich regulierten Arbeitszeiten hatten, als das für eine Standardisierung der Wettbewerbsbedingungen gesorgt habe. Darüber hinaus verweisen sie auf einen Umstand, der im Folgenden von besonderem Interesse sein wird: „Sozialer Fortschritt“ war demzufolge ein wichtiges Element der Stabilisierung der Bundesrepublik. Gerade der arbeitsfreie Samstag sei ein solches „Fortschrittsymbol“ ge 53 54 55 56 57 58
Vgl.: Weber (1990), S. 482. Vgl.: Scharf (1987), S. 638f. Vgl.: Ebd. S. 650. Vgl.: Schneider (1984), S. 160; Kevelaer / Hinrichs (1985), S. 61; sowie: Hinrichs (1988), S. 124f. Vgl.: Otto (1989), S. 266. Promberger (2005), S. 26.
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wesen.59 Es liegt also nahe, eine weitere Erklärung für den konsensorientierten Prozess der Arbeitszeitsenkung in der Bundesrepublik auf der Ebene der Wahrnehmung der Akteure zu suchen und nach der Rolle der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung für die Bewertung der Arbeitszeitsenkung zu fragen. Ausgehend von der Annahme, die Wahrnehmung der Akteure beeinflusse die Dynamik der Arbeitszeitsenkung, ist auch die Konfliktträchtigkeit der Arbeitszeitverhandlungen im Kaiserreich erklärungsbedürftig. Schließlich sanken die Arbeitszeiten auch im ersten Untersuchungszeitraum deutlich, zumal keineswegs allein aufgrund von Arbeitskämpfen. Dennoch konnte offensichtlich kein dauerhaft konsensfähiger Modus der Aushandlung von Arbeitszeiten gefunden werden. Selbst Maßstäbe für den Umfang oder den Zeitraum künftiger Arbeitszeitsenkungen konnten nicht bestimmt werden. Demgegenüber waren in den 1950er Jahren innerhalb weniger Jahre, mit dem Einschlagen des tarifvertraglichen Weges der Arbeitszeitsenkung und den Zielen einer 5-Tage- und 40-Stunden-Woche, sowohl der Verhandlungsmodus als auch die Maßstäbe der Arbeitszeitverkürzung ausgehandelt worden. Dieser Umstand lässt auch für den ersten Untersuchungszeitraum die Frage nach der Situationsdeutung durch die Akteure gerechtfertigt erscheinen. Notwendige Voraussetzung dafür ist es, über die bisher lediglich schematische Darstellung der Arbeitszeitentwicklung hinaus die jeweilige Situation in den Unternehmen Siemens und Bayer herauszuarbeiten. Insbesondere gilt es dabei zu klären, wann, aus welchen Gründen und in welchem Umfang Arbeitszeiten gesenkt wurden und welche Spielräume die Geschäftsleitungen für eine Senkung der Arbeitszeiten überhaupt ausmachten. 3.2 SPIELRÄUME ZUR SENKUNG VON ARBEITSZEITEN BEI SIEMENS UND BAYER Konflikt als Zwangsläufigkeit? Erprobung verkürzter Arbeitszeiten im späten 19., frühen 20. Jahrhundert Die Handhabung der Arbeitszeiten im Kaiserreich ist vor allem durch ihre Flexibilität gekennzeichnet. Schwankungen folgten nicht nur den Wellen der Konjunktur, sondern waren auch saisonal bedingt, orientierten sich beispielsweise an der möglichst optimalen Ausnutzung des Tageslichts. Für den Maschinenbau geht Christoph Deutschmann daher so weit, die festgesetzten Arbeitszeiten als Fiktion zu bezeichnen, da die konjunkturabhängige Mehr- und Kurzarbeit zu erheblichen Abweichungen von der „normalen“ Arbeitszeit führten.60 Wenn daher im Folgenden von „regulären“ Arbeitszeiten gesprochen wird, bezieht sich dies auf die Vorgaben der Geschäftsleitung oder die in den Arbeitsordnungen festgehaltenen Werte, ohne dass diese mehr als Richtwerte waren. Die tatsächlichen Arbeitszeiten 59 60
Kevelaer / Hinrichs (1985), S. 52f. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 147.
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wurden von den Meistern in den einzelnen Werkstätten angeordnet, je nach erwartetem Arbeitsaufwand beziehungsweise Auftragseingang.61 Erste Versuche einer stärkeren Standardisierung der Arbeitszeiten setzten bei Siemens in den 1880er Jahren im Zuge der Einführung der englischen Arbeitszeit ein. Vorangetrieben wurden die Bemühungen um die Normierung der Arbeitszeit jedoch erst in den 1890er Jahren. Als 1883 die durchgehende Arbeitszeit für die Angestellten in den kaufmännischen und technischen Büros von 9 bis 16 Uhr verfügt wurde, erklärte Oberingenieur Frischen noch lapidar, er werde in seinen Abteilungen die alte Arbeitszeit beibehalten.62 Bereits 1881 hatten die Arbeiter von S.&H. die Einführung der englischen Arbeitszeit gefordert.63 Seit 1890 intensivierte die Geschäftsleitung die Bemühungen zur Verdichtung der Arbeitszeiten. In einer Verfügung ließ Werner von Siemens mitteilen, man sei der Einführung der durchgehenden Arbeitszeit „wie vor Jahren schon einmal“ nähergekommen. Probeweise werde die durchgehende (achtstündige) Arbeitszeit in der Mechaniker-Abteilung des Charlottenburger Werkes eingeführt.64 Vermutlich in diesem Zusammenhang hatte es Versuche mit Vergleichsgruppen gegeben, die zeigten, dass durch die lange Mittagspause im Vergleich zur englischen Arbeitszeit Arbeitsleistung verlorenging.65 Insgesamt wurde die englische Arbeitszeit jedoch eher zögerlich umgesetzt. In einer Bekanntmachung war zwar bereits 1890 für das folgende Jahr die Umstellung auf die durchgehende Arbeitszeit bei 8,5 Stunden pro Tag für „die Berliner Werkstätten“ angekündigt worden.66 Die Arbeitsordnung des Charlottenburger Werkes sah jedoch noch 1895, abgesehen von der Mechaniker-Werkstatt, eine Arbeitszeit von 8,75 Stunden bei einer zweistündigen Mittagspause vor.67 Einer Aufstellung über die Arbeitsverhältnisse bei S.&.H und SSW zufolge, herrschte 1905 ein Achtstundentag im Dynamowerk Charlottenburg, in den übrigen in und bei Berlin gelegenen Werken wurde 8,25 Stunden, im Dynamowerk Nürnberg 9,5 und in den Werken Wien 9 Stunden gearbeitet, jeweils bei durchgehender Ar 61
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Bei Siemens wurde die Verfügungsmacht der Meister über die Arbeitsverhältnisse erst 1903 deutlich eingeschränkt, indem ein Arbeiterausschuss gegründet wurde, der direkt mit der Werksleitung verhandelte. Vgl.: Kocka (1969), S. 348f. Vgl.: Verfügung vom 22.12.1883; sowie: Antwort von Frischen vom 28.12.1883; jew. Abschriften in: Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Verfügung vom 17.5.1881 an die Beamten, mit der Aufforderung, zu diesem Wunsch Stellung zu nehmen; Abschrift in: Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, in: SAA 14 Lr 516. Abschrift des Entwurfs Werner von Siemens’, datiert auf den 28.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Schmidt (1993), S. 170. Abschrift einer Bekanntmachung vom 23.12.1890 in: Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, in: SAA 14 Lr 516; sowie: Burhenne (1932), S. 40. Burhenne unterschlägt, dass es sich hierbei offensichtlich nicht um eine alle Betriebsteile betreffende Regelung handelte und auch noch Jahre danach längere Arbeitszeiten mit langen Mittagspausen üblich waren. Vgl.: Kocka (1969), S. 209; sowie: Ebd. S. 578, Anhang III, Arbeitsordnung des Charlottenburger Werkes 1895.
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beitszeit.68 Von einer einheitlichen Entwicklung kann also keine Rede sein, eher von einer sehr ausgedehnten und von einem Nebeneinander verschiedenster Institutionen geprägten Arbeitszeitorganisation. Begünstigt wurden die Versuche mit einer durch Verdichtung verkürzten Arbeitszeit durch die Konjunkturflaute von 1900 bis 1902.69 Bereits im Herbst desselben Jahres war darüber diskutiert worden, die in der Arbeitsordnung festgelegte regelmäßige Arbeitszeit herabzusetzen. 1902 nahm der Vorstand diese Überlegung wieder auf und berief eine Konferenz der Werksdirektoren ein, um Klarheit darüber zu bekommen, ob „8 Stunden als Normalarbeitszeit und zwei weitere Stunden als die Maximalgrenze einseitiger Arbeitszeitverlängerung angemessen“ seien.70 Wie aus dem Protokoll der Konferenz hervorgeht, hatte der Vorstand angeregt, die Normalarbeitszeit zu senken, um „in Fällen weichender Konjunktur die in der Arbeitsordnung angegebene längere Arbeitszeit nicht unterschreiten zu müssen.“ Es sei in diesem Fall „angenehmer“ zur regulären Arbeitszeit zurückkehren zu können als mit zwangsweise verkürzter Arbeitszeit arbeiten zu lassen. Darüber hinaus könne man bei einem auf acht Stunden festgelegten Arbeitstag den Arbeitern bei längerer Arbeit einen Zuschlag gewähren, sie also „an dem durch die Überstunden erzielten Gewinn teilnehmen“ lassen.71 Ohne Zweifel sollte diese Maßnahme die Bereitschaft der Arbeitnehmer fördern, bei guter Auftragslage auch hohe Überstunden in Kauf zu nehmen. Fast alle Mitglieder der Versammlung sprachen sich für eine solche Regelung aus.72 Diese Diskussion zeigt auch, dass es keineswegs darum ging mit dem Achtstundentag eine dauerhaft verbindliche Institution zu schaffen, sondern um die Festlegung eines Richtwertes, dessen Über- beziehungsweise Unterschreiten von vorneherein einkalkuliert wurde – eine verbindliche Regelung der Arbeitszeiten war gar nicht das Ziel dieser Arbeitszeitpolitik. Der Achtstundentag wurde dann auch nicht, abgesehen vom Werk Charlottenburg 1905, in die Arbeitsordnungen aufgenommen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gingen jedoch auch die formalen Arbeitszeiten kaum noch über acht Stunden hinaus.73 Im Zuge der Umstellung auf eine durchgehende Arbeitszeit seit 1891 sind jedoch Bemühungen erkennbar, Grundlagen für eine Systematisierung der Arbeitszeitorganisation zu schaffen. Im Februar 1902 hatte die CentralAbteilung damit begonnen, die Arbeitszeiten der einzelnen Werke zu eruieren, um eine Standardisierung einleiten beziehungsweise die Kosten einer solchen Umstel 68 69 70 71 72 73
Vgl.: Aufstellung über die Arbeitsverhältnisse in den Werken von S.&H. und SSW, 1905, in: SAA 14 Lr 516. Vgl. zur konjunkturellen Entwicklung: Kocka (1969), S. 315. Rundschreiben des Vorsitzenden der S.&H. Central-Abteilung, Bödiker, vom 5.5.1902, in: SAA 5329. Protokoll der vom Vorstand einberufenen Konferenz von Vertretern sämtlicher Werke am 12.5.1902, in: SAA 5329. Sie äußerten aber Zweifel an der Notwendigkeit, damit eine Erhöhung der Überstundensätze zu verbinden, da die Arbeiter „praktisch sehr gern in Überstunden“ arbeiteten. Vgl.: Ebd. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 251.
3. Die Arbeitszeitsenkung in unternehmensgeschichtlicher Perspektive
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lung errechnen zu können.74 Die Erhebung der Central-Abteilung kann als ein Versuch gedeutet werden, die Arbeitszeitgestaltung unternehmensweit zu systematisieren. Allerdings ohne dass zu diesem Zeitpunkt der institutionelle Rahmen dafür bestanden hätte, schließlich agierten die einzelnen Betriebe weitgehend frei bei der Festsetzung der Arbeitszeiten. Es ist bezeichnend für die Flexibilität beziehungsweise Uneinheitlichkeit der Institutionen für die Arbeitszeitgestaltung, dass die tatsächliche Arbeitszeit erst erfragt werden musste. Den in Verfügungen und Arbeitsordnungen festgehaltenen Regelungen wurde offenbar kein allzu hoher Grad an Verbindlichkeit zugemessen. In der chemischen Industrie setzten die Arbeitszeitverkürzungen im Vergleich zur Metall- und Elektroindustrie einige Jahre später ein. Ab Februar 1899 war die Arbeitszeit in allen Werken von Bayer um eine halbe Stunde auf zehn Stunden gesenkt worden, indem die Mittagspause um eine halbe Stunde verlängert worden war.75 Ende 1905 gab die Direktion bekannt, die tägliche Arbeitszeit für die Arbeiter werde erneut verkürzt, von zehn auf neun Stunden bei gleichbleibendem Lohn. In diesem Fall war die Senkung das Ergebnis des Wegfalls von (bezahlten) Pausen am Vor- und Nachmittag, die eineinhalbstündige Mittagspause blieb erhalten.76 Diese Senkung wurde also ebenfalls durch eine Verdichtung der Arbeit erreicht, die mit verschärften Kontrollen einherging. Die zur Arbeitszeitverkürzung ausgegebenen „Ausführungsbestimmungen für die Vorgesetzten“ verlangten von den Meistern und Aufsehern erhöhte Wachsamkeit bezüglich der Einhaltung von Arbeitsbeginn und -ende.77 Seit 1909 wurde zudem eine Neuorganisation der Schichtzeiten eingeleitet. Insbesondere sollte die Möglichkeit geprüft werden, in den kontinuierlich arbeitenden Betrieben die zwölfstündige durch eine achtstündige Schicht zu ersetzen. Auch wenn auf den Konferenzen der Betriebsführer vereinzelt Bedenken wegen nachteiliger Folgen für den Betriebsablauf geäußert wurden, ordnete Carl Duisberg an, die Versuche mit den verkürzten Schichtzeiten weiter fortzusetzen.78 1910 gingen die meisten der kontinuierlich arbeitenden Betriebe der Farbwerke Bayer zu diesem Modell über.79 Diese Senkungen der Arbeitszeiten fielen in einen Zeitraum, in dem Carl Duisberg die Standardisierung der Unternehmensorganisation bereits vorangetrieben hatte. Auch bei Bayer stand die Senkung der Arbeitszeiten also im Kontext einer Rationalisierung der Produk 74
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Vgl.: Antwortschreiben der einzelnen Abteilungen auf die Anfrage der Central-Abteilung vom 13.2.1902, in: SAA 5329. Die Berechnung der Kosten einer Neuregelung der Arbeitszeiten wurde ebenfalls auf der Konferenz am 12.5.1902 beschlossen. Vgl.: Protokoll der vom Vorstand einberufenen Konferenz von Vertretern sämtlicher Werke am 12.5.1902, in: SAA 5329. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 280. Vgl.: Rundschreiben der Direktion an „sämtliche Chemiker, Ingenieure und Betriebsführer“ in Elberfeld vom 7.11.1905, in: BAL 215/11. Vgl.: Ebd. Vgl.: Protokolle der Betriebsführer-Konferenzen in Leverkusen am 12.2.1909 und 19.2.1909, sowie der Konferenz am 19.3.1909, in: BAL 13/4. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 280.
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tion. Ähnliche Umstellungen der Arbeitszeiten erfolgten auch in anderen Betrieben der chemischen Industrie, wenn auch später. Hoechst arbeitete noch 1914 mit 12-stündigen Doppelschichten und 10- bis 11-stündiger Arbeitszeit, die in der Tagschicht beschäftigten Arbeiter hatten einen Arbeitstag von 9,5 Stunden.80 Die Kommission für Arbeiterangelegenheiten der BASF erfragte 1907 die Meinung der Betriebsführer über die Möglichkeit einer Einführung der neunstündigen Arbeitszeit – nicht zuletzt weil diese bei Bayer in Leverkusen bereits umgesetzt sei.81 Obwohl die Kommission für Arbeiterangelegenheiten die Senkung einstimmig befürwortete, erfolgte die Senkung des Arbeitstages auf neun Stunden jedoch erst 1911, wobei die 1,5-stündige Mittagspause beibehalten wurde.82 Damit war der Trend zu kürzeren Arbeitszeiten in der chemischen Industrie weniger deutlich ausgeprägt als in der Berliner Metallindustrie. Auch zeichnet sich keine derart deutliche Tendenz zur Einführung der „englischen“ Arbeitszeit ab, wie es in den Berliner Betrieben der Fall war. Dennoch deutet sich auch in der chemischen Industrie eine strukturelle Veränderung im Umgang mit den Arbeitszeiten an. Bei Bayer wurde im Zuge der Rationalisierung des Produktionsprozesses und der Formalisierung der Unternehmensorganisation der Umgang mit den Arbeitszeiten zunehmend standardisiert, unternehmensweit einheitliche Institutionen sollten geschaffen werden. Im Vergleich zu Siemens wurde die Senkung der Arbeitszeiten zwar später eingeleitet, ging jedoch von Anfang an mit der Schaffung verbindlicher und möglichst systematischer Institutionen einher. Die Verdichtung der Arbeit schuf Spielräume für eine Senkung der Arbeitszeiten. Aus Sicht der hier untersuchten Unternehmen Siemens und Bayer bestanden daher keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Arbeitszeitverkürzung. Zumal sie durchaus wirtschaftliche Vorteile brachte. Die Geschäftsführung von Bayer erhoffte sich von der neunstündigen Arbeitszeit insbesondere stabilere Beschäftigungsverhältnisse, Qualitätssteigerungen, eine bessere Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und nicht zuletzt sparten sinkende Arbeitszeiten Betriebskosten, wie sie für Dampf und Beleuchtung anfielen.83 Vier Jahre nach Einführung der neunstündigen Arbeitszeit bei Bayer äußerte Carl Duisberg seine Zufriedenheit über den Verlauf der Umstellung. In einem Brief ließ er Eugen Fischer, Direktor der Firma Kalle & Co., wissen, man habe mit der Senkung der Arbeitszeiten 80 81
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Vgl.: Ebd. Vgl.: Sitzungsprotokoll der Kommission für Arbeiterangelegenheiten vom 3.1.1907, in: BASF UA C 651/1; die zahlreichen Entwürfe für die Umfrage unter den Betriebsführern findet sich in: BASF UA C 631. Dergestalt wurde die Haltung der Kommission in einem Schreiben vom 19.7.1907 an Kommerzienrat Vischer ausgedrückt. Vgl.: Ebd., in: BASF UA C 631. Vgl. zu den Pausenregelungen: Deutschmann (1985), S. 280. Vgl.: Denkschrift „Einführung der neuen Arbeitszeit in den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Leverkusen“ (undatiert), S. 1. Die Denkschrift enthält auch einen Kosten- und Durchführungsplan des Neunstundentages. Im Zuge der eigenen Überlegungen zur Senkung der Arbeitszeiten hatte die BASF die Denkschrift 1907 von Bayer zugeschickt bekommen. Vgl.: Schreiben vom 8.12.1907 an Bayer und Denkschrift; jew. in: BASF UA C 631/ 1.
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„nicht die mindesten Schwierigkeiten bei der Änderung der Fabrikordnung und Durchführung der obigen [neunstündigen, AF] Arbeitszeiten gehabt.“ Die Bedenken der Arbeiter wegen des Fortfalls von Pausen hätten zerstreut werden können, auch mit der nötigen Disziplin habe es nach einer Übergangszeit keine Probleme gegeben.84 Noch einmal zwei Jahre später bestätigt Duisberg: „Bei der Herabsetzung der Arbeitszeit in unseren Fabriken von 10 auf 9 Stunden habe ich seinerzeit einwandfrei feststellen können, dass wir in 9 Stunden ohne Frühstückspause und scharfer Kontrolle mindestens dasselbe, wenn nicht mehr leisten wie früher in 10 Stunden mit Pause.“85
Duisberg führte allerdings nicht nur wirtschaftliche Argumente ins Feld. Schließlich gebe es keinen Zweifel daran, „dass die Kämpfe der Arbeiter-Organisationen in den nächsten Jahren sich immer und immer wieder um die Arbeitszeiten drehen werden.“ Daher sei es sinnvoll die Arbeitszeiten in ruhigen Zeiten und am besten bei zurückgehender Konjunktur „ohne Mitwirkung der Arbeiter zu verkürzen.“86 Es waren ganz ähnliche Überlegungen, die Siemens bereits 1890 dazu bewogen hatten, sinkende Arbeitszeiten zu erproben. Arnold von Siemens brachte gegenüber einem anderen Unternehmer zum Ausdruck, er betrachte die achtstündige Arbeitszeit als eine Folge der durchgehenden Arbeitszeit, die aufgrund der größer werdenden Entfernung zum Arbeitsplatz notwendig geworden sei. Die Firma habe mit den bisherigen Senkungen gute Erfahrungen gemacht und könne sicher auch mit der achtstündigen Arbeitszeit auskommen: „Was nun den AchtstundenArbeitstag betrifft, so sind wir der Ansicht, dass derselbe über kurz oder lang allgemein zur Einführung gelangen wird und dass die Industrie bei einer allgemeinen Durchführung desselben auch wird bestehen können.“87 Auch Arnold von Siemens weist darauf hin, dass man mit einer solchen Initiative den Forderungen der Arbeitnehmer zuvorkommen könne: „Aber dass die Industrie sich mit dem Gedanken vertraut machen muss, diesem sogenannten Normal-Arbeitstage allmählich immer näher zu kommen und im Laufe der Jahrzehnte, wenn die Arbeitsmethoden weiter fortgeschritten sein werden, noch darüber hinauszugehen, unterliegt bei uns keinem Zweifel, und in dieser Einsicht halten wir es zur Aufrechterhaltung der
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Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Fa. Kalle & Co., vom 23.3.1909. In seinem Antwortschreiben vom 27.3.1909 schreibt Fischer, damit seien seine letzten Bedenken zerstreut worden, man werde „ähnliche Einrichtungen“ in der eigenen Firma vornehmen; jew. in: BAL 215/11. Schreiben Duisbergs an Siegfried G. Werner, Eisenwerk Jäger Elberfeld, vom 14.12.1911, in: BAL 215/11. Ebd. Schreiben Arnold von Siemens an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. Mit wem genau Arnold von Siemens korrespondierte ist unklar, gerichtet war sein Schreiben an die „Herren Basse & Selve“. Das 1861 gegründete Unternehmen Basse & Selve war nach seinen Gründern Carl Basse und Hermann Dietrich Selve benannt. Seit 1872 war dessen Sohn Gustav Selve Geschäftsführer, seit 1883 war er außerdem Alleininhaber. Gustav Selve leitete das Unternehmen bis zu seinem Tod 1909. Vgl.: Stremmel (2002), S. 6 u. S. 19.
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3. Die Arbeitszeitsenkung in unternehmensgeschichtlicher Perspektive Autorität für nützlicher, freiwillig das zu tun, was man später gezwungen nachgeben müsste.“88
Über eine Verankerung des Achtstundentags in der Arbeitsordnung hatte der Siemens-Vorstand wie bereits erwähnt dennoch erst 1900 und schließlich erneut 1902 diskutiert. Im Zuge dessen waren auch die einzelnen Werke von der CentralAbteilung um ihre Einschätzungen gebeten worden. Auch aus den Antwortschreiben, welche die Central-Abteilung erreichten, geht zumindest keine grundsätzliche Ablehnung hervor. Die Abteilung für Eisenbahnsicherungswesen ließ wissen, die durchgehende Arbeitszeit habe sich als vorteilhaft erwiesen und auch das Berliner Werk nahm an, es seien keine Nachteile durch den Achtstundentag zu erwarten.89 In einer diesbezüglich einberufenen Konferenz der Werksdirektoren wurde es „von fast allen Mitgliedern der Versammlung als sehr erwägenswert bezeichnet, in den Arbeitsordnungen sämtlicher Werke eine gleichmässige normale Arbeitszeit von 8-stündiger wirklicher Arbeitsleistung einzuführen.“90 Auch wenn die Achtstundenmarke bei Siemens schließlich nur im Fall einzelner Werkstätten des Werkes Charlottenburg erreicht wurde: Die Diskussionen um die Arbeitszeitsenkung in den Unternehmen belegen, dass die Firmenleitungen sowohl von Siemens als auch von Bayer Spielräume zur Senkung der Arbeitszeiten sahen und diese einleiteten. Die Senkung von Arbeitszeiten wurde also in wichtigen Konzernen der damaligen Leitsektoren Maschinenbau beziehungsweise Elektroindustrie und Chemie, deren Handeln in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde und die für andere Firmen Vorbildfunktion hatten, als eine machbare, wenn nicht nötige Option betrachtet. Zudem handelte es sich bei der Verkürzung der Arbeitszeiten mittels „durchgehender“ Arbeitsweise keineswegs um Einzelfälle, sondern vielmehr um eine allgemein feststellbare Entwicklung der Arbeitszeiten, zumindest in bestimmten Branchen.91 Dennoch entwickelte sich auf der Basis dieser einzelbetrieblich vorgenommenen Arbeitszeitsenkungen keine branchenübergreifende Dynamik, wie der Vergleich von Metall- und chemischer Industrie zeigt. Im Falle von Siemens gelang es auch nicht, wie von Arnold von Siemens erhofft, durch die unternehmensseitige Initiative Konflikten um die Arbeitszeiten vorzubeugen. Die Frage der Arbeitszeitsenkung blieb im Kaiserreich ein äußerst konfliktbehaftetes Thema, was die Frage nach den Bedingungen aufwirft, welche die hier vorgestellten positiven Einschätzungen nicht mehrheitsfähig werden ließen.
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Schreiben Arnold von Siemens an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Antwortschreiben der Abteilung für Eisenbahnsicherungswesen an die CentralAbteilung vom 15.2.1902; sowie: Antwortschreiben des Berliner Werks vom 4.3.1902; jew. in: SAA 5329. Aktennotiz einer Besprechung der Werksdirektoren am 12.5.1902, in: SAA 5329. Vgl.: Deutschmann (1985), S. 192.
3. Die Arbeitszeitsenkung in unternehmensgeschichtlicher Perspektive
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Eine notwendige Folge günstiger Umstände? Der Weg in die Arbeitszeitsenkung in den 1950er Jahren Wenn für die Bundesrepublik von einem raschen Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung gesprochen wird, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser zunächst ungeordnet verlief. Von einem sich deutlich abzeichnenden Verlauf des Senkungsprozesses kann keine Rede sein. Besonders deutlich lässt sich das am Beispiel der Einführung der 5-Tage-Woche illustrieren. Diese erwies sich nicht nur als Einstieg in eine Senkung der Arbeitszeit insgesamt, sondern war auch in den Unternehmen selbst auszuhandeln. Die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Arbeitstage war nicht tarifvertraglich oder gesetzlich geregelt sondern zwischen Werksleitung und Betriebsrat per Betriebsvereinbarung festzulegen. Der Umstand, dass die Verteilung der Arbeitszeit auf eine geringere Anzahl an Wochentagen zu einer Erhöhung der täglichen Arbeitszeit führen würde, verknüpfte die 5-Tage-Woche unweigerlich mit der Diskussion um eine Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit insgesamt. Insofern wurde mit ihrer Einführung auch der Pfad zur Senkung der Wochenarbeitszeiten eingeschlagen, Jahre bevor entsprechende tarifvertragliche Regelungen vereinbart wurden. Das macht die 5-Tage-Woche zu einem besonders geeigneten Beispiel, die internen Diskussionen um die Senkung der Arbeitszeiten nachzuvollziehen. Bei Bayer begann die Sondierung der Möglichkeiten einer Einführung der fünftägigen Arbeitswoche 1954, also zwei Jahre nachdem die Gewerkschaften die 40-Stunden-Woche zu einer Hauptforderung erhoben hatten und zwei Jahre vor dem Abschluss des Manteltarifvertrages 1956, mit dem die Arbeitszeiten ab Mai 1957 auf 45 Wochenstunden verkürzt wurde.92 Der Leiter der Personal- und Sozialabteilung, Direktor Fritz Jacobi, erklärte den Leitern der Betriebe beziehungsweise Abteilungen im sogenannten Fabrikkontor-Ausschuss unmissverständlich, dass mit der Einführung der 5-Tage-Woche langfristig der Weg einer Senkung der Arbeitszeit eingeschlagen werde. „Eine Fünftagewoche bedeutet noch nicht eine Herabsetzung der Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Allerdings bringt eine 48-Stundenwoche in 5 Tagen einen sehr langen Arbeitstag. Deshalb wird sich auf die Dauer bei Einführung der Fünftagewoche eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 45 Stunden kaum vermeiden lassen.“93
Gegenwärtig handle es sich zwar nur um Vorüberlegungen, keinesfalls um eine Entscheidung für oder gegen die Arbeitszeitsenkung, allerdings müsse man sich dieser Frage stellen. Daher forderte Jacobi die Betriebsleiter auf, die Möglichkeiten der Durchführung in ihren Betrieben zu prüfen.94 Zunächst sollte geprüft werden, ob jeder zweite Samstag arbeitsfrei werden könne, unter der Vorgabe, dass dadurch weder mehr Personal eingestellt werden dürfe noch ein Ausfall der Pro 92 93 94
Vgl.: Weber (1990), S. 482. Protokoll der Besprechung des Fabrikkontor-Ausschusses am 26.4.1954, S. 1, in: BAL 214/6. Vgl.: Ebd. S. 2.
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duktion eintreten solle.95 Im Ergebnis ergaben die Prüfungen zwar, dass sich die 14-tägige 5-Tage-Woche weitgehend problemlos umsetzen ließe, allerdings wären in einigen Fällen Mehreinstellungen notwendig geworden.96 Mit dem Verweis auf die derzeit nicht zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte wurde den Arbeitnehmervertretern daher kommuniziert, die Angelegenheit müsse weiter geprüft werden.97 Beschleunigt wurde die Entscheidung schließlich durch den Abschluss einer Betriebsvereinbarung bei Hoechst im September 1955, mit der die Farbwerke eine 45-Stunden-Woche bei fünftägiger Arbeitszeit einführten.98 Ende 1955 legte Bayer, ebenfalls per Betriebsvereinbarung, für das Jahr 1956 zunächst elf arbeitsfreie Tage fest.99 Mit diesen sogenannten „Bayer-Tagen“ sank, da die an den Samstagen entfallende Arbeitszeit nicht auf die restlichen Arbeitstage umgeschichtet wurde, die Arbeitszeit auf 46,5 Stunden.100 Mit dem Mannheimer Abkommen von 1956 wurde die Arbeitszeit in der chemischen Industrie per Tarifvertrag ab 1957 auf 45 Wochenstunden gesenkt. Auf der Basis einer Betriebsvereinbarung wurde bei Bayer Anfang 1957 die Zahl der arbeitsfreien Tage auf 18 erhöht, so dass die wöchentliche Arbeitszeit mit rund 44,6 Stunden etwas unter der tarifvertraglich vereinbarten lag.101 Eingeführt wurde die regelmäßige 5-Tage-Woche schließlich zum 1.7.1959. Obwohl seit dem 1.1.1958 per Betriebsvereinbarung für alle BayerWerke bereits eine Senkung der Arbeitszeit auf 43,75 Stunden galt, ergab sich durch diese Regelung eine tägliche Arbeitszeit von immerhin 8,75 Stunden.102 95
Vgl.: Schreiben Jacobis an das Direktorium Leverkusen vom 5.5.1954, in dem er die Beschlüsse der Technischen Direktions-Conferenz zusammenfasst, in: BAL 215/11. 96 Vgl.: Antworten an Jacobi bzw. das Direktorium, die Ergebnisse der Prüfung in den einzelnen Betrieben betreffend, in: BAL 215/11. 97 Vgl.: Auszug aus dem Protokoll einer Besprechung mit dem Betriebsausschuss Leverkusen am 26.7.1954, in: BAL 215/11.4. Im Betriebsausschuss kamen der Betriebsratsvorsitzende, vier oder fünf Betriebsräte und Vertreter der Personal- und Sozialabteilung zusammen. Vgl.: Petrak (2007), S. 188. 98 Diese Hoechster Betriebsvereinbarung findet sich im Bayer-Archiv. Vgl.: BAL 215/11. Jacobi beschwerte sich umgehend, nicht von der beabsichtigten Regelung in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Vgl.: Schreiben Jacobis an Winnacker, Generaldirektor bei Hoechst, vom 3.10.1955, in: BAL 215/11.4. Einen Tag später kündigte Jacobi auf der Technischen Direktions-Conferenz an, einen für Bayer gangbaren Plan für einen allmählichen Übergang zur Arbeitszeitverkürzung zu entwickeln. Vgl.: Auszug aus dem Protokoll der Technischen Direktions-Conferenz am 4.10.1955, in: BAL 215/11.4. 99 Darunter waren jedoch nicht nur Samstage, sondern auch drei Montage. Vgl.: Direktionsrundschreiben Nr. 1686, 23.12.1955, in: BAL 215/11.4. Kurz zuvor, im September, war bei Hoechst bereits die 5-Tage-Woche bei 45-stündiger Wochenarbeitszeit eingeführt worden. 100 Allerdings galt das z.B. nicht für die Akkordarbeiter. Das geht aus eine Aktennotiz des im Arbeitsbüro tätigen Oberingenieurs Faul über den Stand eines Streits mit dem Betriebsrat um die Folgen einer im Direktionsrundschreiben 1686 erwähnten Pausenregelung hervor. Vgl.: Aktennotiz Fauls vom 13.4.1956, in: BAL 59/247. 101 Vgl.: Erläuterungen zum Direktionsrundschreiben Nr. 1704, 19.2.1957, S. 1, in: BAL 59/382. 102 Vgl.: Protokoll der Sitzung des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten (früher: Fabrikkontor-Ausschuss) am 19.1.1959, in der die Probleme mit der anstehenden Einführung
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Zum Zeitpunkt der Einführung einer regelmäßigen 5-Tage-Woche war der Maßstab der öffentlichen Diskussion um die Senkung der Arbeitszeiten bereits die fünftägige Arbeitswoche bei achtstündiger Arbeitszeit. Die Gewerkschaften hatten diese Forderung bereits 1952 aufgestellt, 1955/56 verhandelten der DGB und die BDA – wenn auch ergebnislos – über eine entsprechende Empfehlung zur Arbeitszeitverkürzung für die Tarifvertragsparteien.103 Es dürfte der BayerGeschäftsführung klar gewesen sein, dass der Weg in die 40-Stunden-Woche mit der 5-Tage-Woche eingeschlagen war. Dafür sprechen auch Äußerungen des Generaldirektors Haberland, der bereits 1958 auf einer Jubilarfeier die 40-StundenWoche ankündigte – wenn auch ohne diese Entwicklung an ein konkretes Datum zu binden.104 Darüber hinaus finden sich Hinweise darauf, dass die 40-StundenWoche bereits 1956 der Maßstab war, an dem bei Bayer verschiedene Schichtoder Pausenregelungen durchgespielt wurden.105 Die 5-Tage-Woche war gewissermaßen das Experimentierfeld, innerhalb dessen mögliche Folgen und die organisatorische Umsetzung der Arbeitszeitsenkung erprobt wurden. Die 1956 eingeführten elf arbeitsfreien Tage waren auch ein Testlauf für die organisatorische Umstellung des Betriebsablaufes – es wurden damit erste institutionelle Grundlagen für eine Neuregelung der Arbeitszeiten geschaffen, ihre Umsetzung und Folgen wurden erprobt. An den beobachteten Auswirkungen ließ sich außerdem die erwartete Steigerung der Produktionskosten abschätzen. So durfte zum Beispiel keine Erhöhung der Überstunden eintreten, die Intensivierung der Arbeit und damit verbunden eine strikte Arbeitsdisziplin wurden daher zur Voraussetzung des Versuchs gemacht: „Von den Erfahrungen, die im Jahre 1956 mit der vorstehenden Regelung gemacht werden, hängt es ab, ob und in welcher Form der Werksleitung eine Arbeitszeitverkürzung in den kommenden Jahren vertretbar scheint.“106 Gleichzeitig zeigt das Beispiel, welch intensive, langwierige Evaluations- und Kommunikationsprozesse der Umstellung vorausgingen, vor allem was das Finden neuer Institutionen für die organisatorische Umsetzung veränderter Arbeitszeiten anging. Gleiches gilt für das Unternehmen Siemens. Im Zuge erster umfassender Überlegungen zur möglichen Einführung einer 40-Stunden-Woche bei Siemens 1955 wird deutlich, dass der Übergang zur 5Tage-Woche bis dahin recht uneinheitlich verlaufen war. In einem Gutachten über den Stand und die Möglichkeiten der Arbeitszeitsenkung heißt es, seit dem Krieg habe sich ein vierzehntägiger freier Sonnabend „weitgehend eingebürgert“, wenn auch noch nicht in allen Betriebsteilen.107 In einigen Betriebsteilen wurde 1952 die
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der 5-Tage-Woche zum 1.7.1959 diskutiert wurden; sowie: Protokoll der Sitzung des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten am 13.5.1960, S. 1; jew. in: BAL 59/55. Vgl.: Scharf (1987), S. 624f. Vgl.: Protokoll der Rede Haberlands vom 21.9.1958, in: BAL 215/11. Vgl. die von Oberingenieur Faul durchgespielten Szenarien für die Akkordarbeiter in der von ihm verfassten Aktennotiz vom 29.6.1956, in: BAL 59/247. Direktionsrundschreiben Nr. 1686, 23.12.1955, in: BAL 59/247. Internes Gutachten „Überlegungen zu dem Thema 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich“, ohne Verfasserangabe, vom 9.2.1955, S. 4, in: SAA 14 Lr 516.
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5-Tage-Woche bei 42,5-stündiger Wochenarbeitszeit eingeführt, eine Regelung die kurze Zeit später auf weitere Betriebseinheiten ausgeweitet wurde.108 Die geregelte Erprobung einer 5-Tage-Woche begann Ende 1955, als der Vorstand von S.&H. und SSW beschloss, die Regelung eines zweiwöchig arbeitsfreien Samstags versuchsweise einzuführen, um zu prüfen, „welche Erfahrungen sich aus diesen Versuchen für eine allgemeine Regelung ergeben.“109 Dieser Versuch entfaltete allerdings eine gewisse Eigendynamik, das legen zumindest die für die Berliner Werke teilweise überlieferten Protokolle von Besprechungen der Firmenleitung mit den im Betriebsausschuss vertretenen Betriebsräten nahe. Letztere erklärten gegenüber der Firmenleitung, die Regelung habe für Unruhe gesorgt, da auch die Schichtarbeiter der anderen Betriebe eine solche Regelung wünschten. Der Betriebsausschuss beantragte daher eine Ausdehnung des Versuchs „auf sämtliche Schichtarbeiter der Berliner Siemens-Betriebe.“110 Dieses Anliegen lehnte die Firmenleitung mit dem Hinweis ab, zunächst gelte es die wirtschaftlichen Auswirkungen des Versuchs festzustellen. Um die Situation zu beruhigen, sollte der Leiter der Sozialpolitischen Abteilung, Schwennicke, am folgenden Tag auf einer Betriebsräte-Delegierten-Sitzung zur Arbeitszeitfrage sprechen.111 Allerdings konnte die von der Firmenleitung gewünschte einheitliche Regelung nicht einmal für die probeweise Einführung der 5-Tage-Woche erzielt werden, so dass in den verschiedenen Betriebsteilen selbst die Normalschichten teilweise mit einem, teilweise mit zwei arbeitsfreien Samstagen arbeiteten.112 Diese Regelungen bedeuteten zu jenem Zeitpunkt eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit, da die Wochenarbeitszeit von 48 Stunden beibehalten wurde. Diese sank zwar mit dem Bremer Abkommen vom Juni 1956 ab Oktober 1956 auf 45 Stunden. Die interne Diskussion, auf wie viele Arbeitstage sich die 45 wöchentlichen Arbeitsstunden verteilen sollten, hielt aber bis Ende 1956 an. Die Firmenleitung lehnte die Forderung des Gesamtbetriebsrates nach einer regelmäßigen 5-Tage-Woche unter anderem mit dem Argument ab, die tägliche Arbeitszeit steige damit auf neun Stunden, was nicht der Sinn der vereinbarten Senkung der Wochenarbeitszeit sein könne. Sie forderte daher die Ausdehnung des zweiwöchig freien Samstags auf alle Betriebe.113 Diese Regelung wurde schließlich festgelegt.114 Die Forderung der Be 108 Vgl.: KW/WL-Bekanntmachung Nr. 171, 26.2.1952; sowie: Nachtrag zur KW/WLBekanntmachung Nr. 171, 31.3.1952, jew. in: SAA 14 Lr 516. 109 Mitteilung der Zentral-Personalverwaltung vom 29.11.1955, in: SAA 14 Lr 516. Im konkreten Fall ging es um die Frage, wie diese Regelung auf die in Wechselschichten Beschäftigten übertragen werden könne. 110 Protokoll einer Besprechung von Vertretern der Firmenleitung mit dem Betriebsausschuss Berlin am 1.12.1955, S. 1, in: SAA 12782–1. 111 Vgl.: Ebd. S. 2. 112 Vgl.: Ebd. S. 1f. 113 Vgl.: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung über eine Besprechung der Firmenleitung mit dem Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates am 16.8.1956, S. 1f, in: SAA 14 Lr 516.
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schäftigten nach einer durchgängigen 5-Tage-Woche war damit jedoch nur vorerst aufgeschoben, was auch der Firmenleitung bewusst war, die selbst darauf verwies, dass darüber weiter verhandelt werden müsse.115 Auch im Falle von Siemens war also die 5-Tage-Woche das Experimentierfeld für die Schaffung und Erprobung neuer Institutionen zur Regulierung sinkender Arbeitszeiten. Die Verhandlungen um die 5-Tage-Woche bei Bayer und Siemens verdeutlichen außerdem, dass auch die Senkung der Arbeitszeiten in der Bundesrepublik nicht einfach tarifvertraglich vereinbart und durchgeführt wurde. Gerade die Frage der Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit blieb auf betrieblicher Ebene zu klären und bedurfte langwieriger interner Planung, Erprobung und Verhandlung. Das galt umso mehr, als mit der Entscheidung für die 5-Tage-Woche und ihrer Erprobung der Schritt hin zu weiteren Senkungen der Arbeitszeiten in der Betriebspraxis ja bereits gemacht war. Gerade weil die 5-Tage-Woche ein Experimentierfeld für die Neuorganisation der Arbeitszeiten darstellte, sie nicht tarifvertraglich vereinbart war und daher ihr Umfang, ihre Organisation und der Zeitpunkt ihrer Umsetzung der betrieblichen Verhandlung überlassen blieben, ist sie ein gutes Beispiel, um nach der Haltung der Unternehmen zur Arbeitszeitsenkung zu fragen. Sowohl bei Bayer als auch bei Siemens ist das Bemühen um eine konsensuale Lösung deutlich sichtbar. Als Fritz Jacobi im Fabrikkontor-Ausschuss 1954 die Erprobung der 5-Tage-Woche ankündigte, vergaß er nicht zu erwähnen: „Die Arbeitszeitverkürzung ist nicht nur eine Forderung der Gewerkschaften, sondern wird auch in Unternehmerkreisen im Hinblick auf das außerordentlich begrüßenswerte verlängerte Wochenende seit längerer Zeit erörtert.“ Auch wenn Jacobi deutlich gemacht hatte, dass damit langfristig eine Verkürzung der Arbeitszeit verbunden war, befürworteten die anwesenden Betriebsleiter diesen Weg, da „eine Verkürzung der Arbeitszeit als ein erstrebenswertes Ziel angesehen wird“.116 Abgesehen von den Betriebsleitern teilten neben Jacobi auch noch weitere Mitglieder des Direktoriums diese Einschätzung. Direktor Schellenberg ließ 1954 in einem Schreiben an Jacobi, das auch an die anderen Mitglieder des Direktoriums weitergeleitet wurde, keinen Zweifel an seiner Haltung, das Direktorium müsse „zu einer grundsätzlichen Bejahung der sog. 5-Tagewoche kommen.“ Nicht zuletzt bliebe damit die Initiative bei der Firma und Konflikte könnten vermieden werden: 114 Diese Regelung setzte auch der Diskussion in Berlin vorerst ein Ende, zumindest war damit eine Regelung für den Übergang in die im Bremer Abkommen vereinbarte 45-StundenWoche gefunden. Das Abkommen trat in Berlin am 1.1.1957 in Kraft. Vgl.: Protokoll einer Besprechung von Vertretern der Firmenleitung mit dem Betriebsausschuss Berlin am 6.12.1956, S. 1, in: SAA 12782–1. 115 Vgl.: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung über eine Besprechung der Firmenleitung mit dem Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates am 16.8.1956, S. 2f, in: SAA 14 Lr 516. 116 Protokoll der Besprechung des Fabrikkontor-Ausschusses am 26.4.1954, S. 1, in: BAL 214/6.
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Auch das Direktionsrundschreiben, in dem Ende 1955 die Umsetzung der bereits erwähnten elf arbeitsfreien Tage bekannt gegeben wurde, wird mit dem Satz eingeleitet: „Es liegt im Bestreben der Werksleitung, die Arbeitszeit in unseren Werken zu verkürzen.“118 Eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Arbeitszeitsenkung findet sich auch bei Siemens. Bereits 1955 lag ein Gutachten über die 40-StundenWoche vor, was an sich schon ein Beleg dafür ist, dass das Thema bereits frühzeitig ernst genommen wurde. Allerdings ergab die Untersuchung, dass eine derartige Verkürzung keinesfalls durch Rationalisierung wieder aufgefangen werden konnte. Vielmehr wurde eine Kostensteigerung um 13% erwartet. Dazu kämen Umsatzeinbußen, wenn nicht 10400 neue Arbeitskräfte zusätzlich eingestellt würden.119 Dennoch äußerte die Firmenleitung gegenüber dem Gesamtbetriebsrat im selben Jahr ihre grundsätzliche Bereitschaft diesen Weg einzuschlagen und erklärte, „dass die Arbeitszeitverkürzung auch ihrer Ansicht nach ein erstrebenswertes Ziel sei“ – wenn auch gegenwärtig noch nicht umsetzbar.120 Die Verhandlungen mit den Betriebsräten lassen dennoch das Bemühen erkennen, zu einer konsensualen Lösung zu kommen. In der Diskussion um die Umsetzung der im Bremer Abkommen vereinbarten 45-Stunden-Woche lehnte die Firmenleitung zwar die Forderungen des Gesamtbetriebsrates nach einer regelmäßigen 5-Tage-Woche mit dem Verweis auf die zu lange tägliche Arbeitszeit ab. Sie betonte jedoch, dass sie ihre „erfolgreichen Bemühungen um eine Verkürzung der effektiven Arbeitszeit fortsetzen“ wolle.121 Dennoch wich der Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates von seiner Forderung nach einem freien Samstag pro Woche nicht ab. Schließlich wurde vereinbart, vorerst den arbeitsfreien Samstag auf zwei pro Monat zu beschränken, dass „aber in den Betrieben, in denen es möglich ist, vier freie Samstage eingeführt werden.“122 Aus den Protokollen des Betriebsrates geht hervor, dass die Firmenleitung bestrebt war eine gemeinsame Richtlinie mit dem Gesamtbetriebsrat zu formulieren. Gleiches gilt für den Gesamtbetriebsrat, der angesichts verhärteter Fronten in dieser Angelegenheit bei den Belegschaftsvertretern 117 Schreiben Direktor Schellenbergs an Jacobi vom 1.6.1954, in: BAL 215/11. 118 Direktionsrundschreiben Nr. 1686, 23.12.1955, S. 1, in: BAL 215/11.4. 119 Vgl.: Internes Gutachten „Überlegungen zu dem Thema 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich“, ohne Verfasserangabe, vom 9.2.1955, S. 16, in: SAA 14 Lr 516. 120 Mitteilung der Zentral-Personalverwaltung vom 29.11.1955, in: SAA 14 Lr 516. 121 Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung über eine Besprechung der Firmenleitung mit dem Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates am 16.8.1956, S. 1, in: SAA 14/ Lr 516. 122 Ebd. S. 3.
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für „Tolerenz“ warb, da doch letztlich „auch die Firmenleitung der gleichen Meinung ist wie wir“.123 Das Beispiel verdeutlicht, dass über die Beteuerungen der Firmenleitung, die Arbeitszeitverkürzung voranzutreiben, hinaus, die Verhandlungen auf beiden Seiten vom Bemühen gekennzeichnet waren, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen und Konflikte möglichst zu vermeiden. Obwohl in der Bundesrepublik in beiden hier untersuchten Unternehmen Mitte der 1950er Jahre nicht feststand, ob wirtschaftliche Spielräume zur Senkung der Arbeitszeiten bestanden, waren sie bereit mit der Erprobung der 5-Tage-Woche diesen Pfad einzuschlagen. Es gibt keinen Hinweis, dass Siemens oder Bayer der Arbeitszeitsenkung grundsätzlich skeptisch oder negativ gegenüber gestanden hätten. Die Senkung an sich wurde überhaupt nicht diskutiert. Zur Disposition standen lediglich verschiedene organisatorische Varianten beziehungsweise die Zeitpunkte und das Ausmaß der Senkung. Damit unterscheidet sich die erste Einschätzung der Unternehmen hinsichtlich der Möglichkeit Arbeitszeiten zu senken in beiden Untersuchungszeiträumen nicht grundsätzlich. Im Kaiserreich schien die Rationalisierung der Produktion eine Senkung der Arbeitszeiten zuzulassen, wenn nicht gar sinnvoll erscheinen. Das Beispiel der 5-Tage-Woche hat gezeigt, dass sich auch für die Bundesrepublik eine positive Haltung gegenüber sinkenden Arbeitszeiten festmachen lässt, die letztlich in erster Linie als ein organisatorisches Problem behandelt wurde. Potenzial zur Senkung der Arbeitszeiten war also in beiden Untersuchungszeiträumen in den hier untersuchten Unternehmen vorhanden. Allerdings konnte sich im Kaiserreich keine vergleichbare Dynamik zugunsten sinkender Arbeitszeiten entwickeln, die Verhandlungen blieben konfliktintensiv. Die Nutzung der vorhandenen Potenziale zur Senkung der Arbeitszeiten stand also unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen. Diese lassen sich nicht endgültig aus den politischen, gesetzlichen oder konjunkturellen Rahmenbedingungen ableiten. Eine nicht unerhebliche Rolle scheinen die unterschiedlichen institutionellen Bedingungen der Organisation von Arbeitszeiten zu spielen. Insbesondere das Beispiel Siemens hat das Problem sichtbar gemacht, dass Ende des 19. Jahrhunderts gar kein verbindlicher institutioneller Rahmen bestand, der die Organisation einer systematischen Senkung der Arbeitszeiten erlaubt hätte. Und auch bei Bayer mussten diese institutionellen Grundlagen erst geschaffen werden. Das geschah zwar deutlich rascher als im Falle von Siemens, allerdings auch erst fast eine Dekade nachdem sich um 1890 der Trend zu sinkenden Arbeitszeiten abzuzeichnen begann. Demgegenüber hat die Umstellung der Unternehmen auf die 5-TageWoche gezeigt, dass es in den 1950er Jahren eine hohe Bereitschaft gab, die institutionellen Grundlagen für eine Senkung der Arbeitszeiten zu schaffen beziehungsweise zunächst zu erproben. Es unterschieden sich also die institutionellen Bedingungen der Aushandlung und organisatorischen Umsetzung der Arbeitszeitsenkung, was möglicherweise auch mit den Zielen und Aufgaben zusammenhing, 123 Protokoll des Betriebsrates des Verwaltungsgebäudes Berlin Siemensstadt über eine Vertrauensleutebesprechung am 28.8.1956, in der über die Ergebnisse der Verhandlung des Gesamtbetriebsrates mit der Firmenleitung vom 16.8.1956 berichtet wurde, S. 5, in: SAA 18068.
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die den Institutionen zur Regulierung von Arbeitszeiten jeweils zugeschrieben wurde. Grund genug, die Bedeutung der institutionellen Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung und ihre Rolle für die unterschiedliche Dynamik der Arbeitszeitsenkung in beiden Untersuchungszeiträumen genauer in den Blick zu nehmen. 3.3 EINE FRAGE DER ORGANISATION? UNTERSCHIEDLICHE DYNAMIKEN DER ARBEITSZEITSENKUNG IN KAISERREICH UND BUNDESREPUBLIK Die institutionellen Bedingungen der Aushandlung und Organisation der Arbeitszeitsenkung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert Sowohl die Geschäftsleitung von Siemens als auch die von Bayer waren sich in beiden Untersuchungszeiträumen im Klaren darüber, dass von ihnen eine Senkung der Arbeitszeiten erwartet wurde und zeigten sich auch durchaus bereit eine solche einzuleiten. Selbst im Kaiserreich wurde die Arbeitszeitfrage in den hier untersuchten Unternehmen nicht einmal in erster Linie als ein wirtschaftliches Problem wahrgenommen, sondern entpuppte sich vor allem als ein organisatorisches. Ähnlich stellte sich die Situation in der Bundesrepublik dar. Dennoch wohnte der Frage der Arbeitszeitsenkungen im Kaiserreich ganz offensichtlich ein weitaus höheres Konfliktpotenzial inne, als es in der Bundesrepublik der Fall war. Insbesondere konnten die institutionellen Grundlagen zur Verhandlung und Organisation der Arbeitszeitsenkung in den Unternehmen nicht oder nur schwer etabliert werden. Bei Siemens gestaltete sich der Prozess der Institutionalisierung kürzerer Arbeitszeiten äußerst langwierig. Immerhin vergingen seit der Erprobung des Achtstundentags 1890 zwölf Jahre, bevor die Central-Abteilung Bemühungen unternahm, die zur Systematisierung der Arbeitszeitgestaltung beitrugen. Als die Central-Abteilung 1902 die Arbeitszeiten in den einzelnen Werken erfragte, waren diese nach wie vor höchst unterschiedlich.124 Das Dynamowerk verwies in seiner Antwort darauf, dass Fragen wie etwa die Einführung einer durchgehenden Arbeitszeit nicht generell geregelt werden könnten, da dies letztlich von der Entfernung der Wohnungen der Arbeiter und der Schwere der Arbeit abhinge.125 Das Glühlampenwerk erklärte gar lapidar, „dass unsere Arbeitszeit im Laufe des Jahres eine ziemlich verschiedene ist, da dieselbe von den jeweiligen Saisonverhältnissen abhängt.“126 Das war vor allem dem Umstand geschuldet, dass Werkstattdirektoren, Betriebsingenieure, Obermeister und schließlich die Meister bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse weitgehend autonom agieren konnten. Von einem 124 Vgl.: Rundschreiben der Central-Abteilung vom 5.5.1902; sowie: Antwortschreiben; jew. in: SAA 5329. 125 Vgl.: Schreiben des Dynamowerkes an die Central-Abtheilung vom 22.2.1902, in: SAA 5329. 126 Schreiben des Glühlampenwerks Charlottenburg an die Central-Abteilung vom 22.2.1902, in: SAA 5329.
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formalen institutionellen Rahmen zur Regulierung von Arbeitszeiten konnte also keine Rede sein. Das begann sich erst zu ändern als die Konflikte sich häuften. Unter anderem aufgrund der „Meisterwillkür“ kam es 1903 zu Unruhen in der Belegschaft, die dazu führten, dass noch im selben Jahr die Statuten des Arbeiterausschusses geändert wurden. Dieser Ausschuss verhandelte nun mit der jeweils höchsten Instanz der Werke, überging also die Meister.127 Die Standardisierung der Arbeitsverhältnisse und die Koordination der Arbeitsbeziehungen voranzutreiben war auch die Aufgabe des 1904 gegründeten gemeinsamen Betriebsausschusses von SSW und S.&H., der dazu beitragen sollte eine Basis zu schaffen „für die auf Vereinheitlichung des Betriebsverhältnisses in den Werken gerichteten Bestrebungen“, unter anderem die Regelung der Arbeitszeiten, Überstunden und Pausen betreffend.128 Im Betriebsausschuss saßen je zwei führende Vertreter der produzierenden fünf Werke, meist Direktoren und deren Stellvertreter, die seit der Einrichtung der Arbeiterausschüsse die arbeitspolitischen Entscheidungen in ihren Werken trafen. Seit Anfang 1905 verhandelten daher die beiden Vorsitzenden des Betriebsausschusses mit den Obmännern der verschiedenen Arbeiterausschüsse über Arbeiterangelegenheiten, so dass nicht mehr mit jedem Ausschuss einzeln verhandelt werden musste. Damit hatte der Betriebsausschuss, eine Instanz unmittelbar unterhalb der Vorstandsebene, diejenigen Fragen zu behandeln, die wenige Jahre zuvor noch von den Meistern entschieden worden waren.129 Noch Ende 1905 sah sich dieser Ausschuss jedoch gezwungen, die Arbeitszeiten in den einzelnen Werken erneut zu erfragen, denn „es hat sich herausgestellt, dass die in den Arbeitsordnungen enthaltenen Bestimmungen über Anfang und Ende der Arbeitszeit, Pausen etc. in einzelnen Werken Abänderungen oder Zusätze erfahren haben.“ Dem Ausschuss seien daher die aktuell gebräuchlichen Regelungen mitzuteilen, außerdem müsse künftig der Ausschuss über jede Änderung informiert werden.130 Über die unterschiedlichen Regelungen hinaus mangelte es an der Bereitschaft, die in den Arbeitsordnungen festgeschriebenen Standards als tatsächlich verbindlich anzusehen. In der fünften Sitzung des Betriebsausschusses wurde von einer Arbeiterversammlung vom 8.1.1905 berichtet. In dieser Sitzung beklagten die Vertreter der Arbeiter, die Arbeitszeitverkürzung auf 8,5 Stunden habe nur der öffentlichkeitswirksamen „Reklame“ gedient, aufgrund von Überstunden bestehe sie in der Praxis faktisch nicht. Es sei eine Resolution verabschiedet worden, dass man sich nicht zur unbeschränkten Ableistung von Überstunden verpflichten lasse. Der Ausschuss beschloss allerdings, dass an der Verpflichtung der Arbeiter zu Überstunden unbedingt festgehalten werden müsse.131 127 Vgl.: Kocka (1969), S. 347f. 128 Protokoll der ersten Sitzung des Betriebsausschusses der Siemens & Halske AG und der Siemens-Schuckertwerke GmbH am 8.12.1904, in: SAA 5593. 129 Vgl.: Kocka (1969), S. 352f. 130 Schreiben des Betriebsausschusses der Siemens & Halske AG und der SiemensSchuckertwerke GmbH vom 27.10.1905, in: SAA 5593. 131 Protokoll der Betriebsausschusssitzung vom 9.1.1905, S. 1 u. S. 3, in: SAA 4 Lk 14.
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Die Arbeiterausschüsse beschwerten sich weiterhin über Willkür der Meister bei der Anordnung von Überstunden, „von denen diese Befugnis vielfach aus selbstsüchtigen Motiven missbraucht worden sei.“ Sie forderten daher, nur noch die Werkleitung solle künftig Überstunden anordnen dürfen.132 Auf ihre Beschwerde, der Arbeitstag werde durch regelmäßige Überstunden de facto verlängert, erklärte Direktor Dihlmann, Vorstandsmitglied von SSW jedoch: „im übrigen werde ebenso lange gearbeitet, als die vorliegenden Bestellungen etc. dies erforderlich machen, entweder solange, wie es in der Arbeitsordnung angegeben sei oder länger oder kürzer, je nach Bedarf, wie es auch bisher stets gehalten worden sei.“133 Es waren also die Vertreter der Arbeitnehmer, die verbindliche Institutionen zur Regulierung der Arbeitszeiten forderten, während von Seiten der Firmenleitung keine Bereitschaft bestand, die bestehenden Institutionen auch durchzusetzen. Sie hielt am Prinzip grundsätzlich flexibler Arbeitszeiten fest, die sich lediglich an Richtwerten orientierte. Es nimmt nicht wunder, dass eine solche Handhabung der Arbeitszeiten den Konflikt begünstigte. In Zeiten der Hochkonjunktur, wie sie die Jahre 1905 und 1906 darstellten, waren die Erfolgsaussichten von Streiks noch dazu besonders günstig. Siemens war von den Streiks die in diesen Jahren in der bayerischen Metall- und der Berliner Elektroindustrie um Löhne aber auch Arbeitszeiten geführt wurden, in besonderem Maße betroffen.134 Im April 1905 erstritten die Arbeiter des Siemens-Schuckertwerkes Nürnberg durch Streik eine Senkung der Arbeitszeit von 60 auf 57 Wochenstunden, die damit immer noch eineinhalb Stunden über dem vom Unternehmen selbst angestrebten Achtstundentag lag.135 Ebenfalls im April 1905 streikten auch die Modelltischler im Werk Charlottenburg für einen neunstündigen Arbeitstag.136 Im Frühjahr 1906 verweigerten Arbeiter im Charlottenburger Werk sowie im Wernerwerk Berlin die Leistung von Überstunden, mittels derer seit Monaten ihr Arbeitstag verlängert worden war.137 Der Konflikt brach erneut aus, als der Arbeitstag im Oktober desselben Jahres die zu diesem Zeitpunkt in der Arbeitsordnung des Charlottenburger Werkes festgeschriebenen 8,25 täglichen Arbeitsstunden per Anschlag auf 9 Stunden verlängert wurden.138 Offensichtlich war es zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht gelungen, die Ar 132 Protokoll der Besprechung von Vertretern der Firmenleitung von S.&H. und SSW mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse vom 27.1.1905, S. 8, in: SAA 4 Lk 12–13. 133 Ebd. S. 10. 134 Vgl.: Costas (1981), S. 93f. 135 Vgl.: Schreiben an Wilhelm von Siemens vom 26.4.1905, in dem er über den Streik in Kenntnis gesetzt wird. Zum Ergebnis der Verhandlungen vgl.: Schreiben an dens. vom 29.4.1905; jew. in: SAA 4 Lk 12–13. 136 Vgl.: Protokoll der 9. Sitzung des Betriebsausschusses des Werkes Charlottenburg am 5.4.1905, in: SAA 5593. 137 Vgl.: Protokoll der 22. Sitzung des Betriebsausschusses des Werks Charlottenburg am 27.1.1906, in: SAA 5593. 138 Vgl.: Protokoll der 30. Sitzung des Betriebsausschusses des Werks Charlottenburg am 16.10.1906, (Kopie, gerichtet an Direktor Maller, Werk Wien), in: SAA 5593.
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beitszeiten der verschiedenen Betriebsteile zu vereinheitlichen. Dabei war bereits im September 1905 sogar eine gemeinsame Kommission für Arbeiterfragen zwischen S.&H., SSW und der AEG ins Leben gerufen worden, um durch eine Vereinheitlichung der Arbeitsstandards die immer häufiger um Einzelregelungen geführten Teilstreiks zu verhindern.139 Selbst die Einführung einer gemeinsamen Arbeitsordnung aller drei Gesellschaften diskutierte diese Kommission – beschloss zunächst jedoch die Einrichtung einer Kommission für die Vereinheitlichung der Arbeitszeitregelungen.140 Offenbar mit mäßigem Erfolg, die Konflikte um verbindliche Arbeitszeitstandards hielten auch noch 1906 an. Die von der Geschäftsleitung geäußerte positive Einstellung gegenüber einer Senkung der Arbeitszeiten konnte also nicht in konsensuale Verhandlungen überführt werden. Trotz der bekundeten Bereitschaft, Arbeitszeiten zu senken, gestaltete sich das Finden der für diesen Prozess nötigen institutionellen Grundlagen höchst kompliziert. Konfliktpotenzial erwuchs insbesondere aus dem Umstand, dass die Werksteile nach wie vor ihre Arbeitszeiten dem Bedarf anpassten, es also an der Verbindlichkeit der gefundenen Institutionen mangelte. Der Versuch, unternehmensweit einheitliche Institutionen zu schaffen, steht hierbei im Kontrast zur praktischen Handhabung der Arbeitszeiten, die nach wie vor den Erfordernissen der Betriebe angepasst wurden, wie die häufig um Überstundenregelungen geführten Konflikte zeigen. Die zahlreichen um die Schaffung von Regelungen oder deren Verbindlichkeit geführten Konflikte weisen außerdem darauf hin, das auch kein konsensfähiger, institutionell abgesicherter Modus der Verhandlung zwischen Firmenleitung und Beschäftigten bestand. Hier zeigt sich die enge Verbindung der Arbeitszeitsenkung mit einer Umgestaltung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen, die parallel eingeleitet wurde. Es gab zunächst keine verbindlichen Institutionen, in deren Rahmen die Frage der Arbeitszeitgestaltung im Unternehmen hätte ausgehandelt werden können. Erst mit Einrichtung der Arbeiterausschüsse schuf Siemens eine erste formale Institution, mit deren Hilfe geregelte Verhandlungen geführt werden konnten. Auch dieser Institution mangelte es zunächst an Verbindlichkeit, allerdings war die Firmenleitung in diesem Fall aus verständlichen Gründen um Verbindlichkeit bemüht, da so die Verhandlungen kanalisiert werden konnten. Im bereits erwähnten Konflikt bei Siemens im Januar 1905 berichtete der Betriebsausschuss, die Arbeiter hätten, um eine Einigung mit der Firma zu erzielen, in einer Vertrauensmänner-Versammlung eine Kommission von 15 Mitgliedern gewählt. Noch bestünde kein Kontakt zu dieser Kommission, er werde aber auch abgelehnt, da man allein mit den Arbeiterausschüssen verhandeln wolle.141 Die Frage der Aushandlung von Arbeitszeiten stellte sich also zu 139 Vgl.: Protokoll der ersten Sitzung der von der AEG, S.&H. und SSW eingesetzten Kommission für Arbeiterfragen am 21.9.1905, S. 1, in: SAA 4 Lk 12–13. 140 Vgl.: Protokoll der Sitzung der von der AEG, S.&H. und SSW eingesetzten Kommission für Arbeiterfragen am 18.10.1905, S. 31, in: SAA 4 Lk 12–13. 141 Vgl.: Protokoll der Betriebsausschusssitzung vom 9.1.1905, S. 2, in: SAA 4 Lk 14.
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einem Zeitpunkt, als die dafür nötigen institutionellen Rahmenbedingungen erst erprobt wurden oder noch durchgesetzt werden mussten. Nicht in allen Unternehmen verlief die Senkung der Arbeitszeiten derart konfliktintensiv und gestaltete sich die Etablierung der institutionellen Bedingungen zur Organisation und Aushandlung von Arbeitszeiten so langwierig wie im Falle von Siemens. Bayer gelang die Einführung und Durchsetzung betriebsweit verbindlicher Regelungen für die Arbeitszeiten weitaus rascher und ohne dass es zu Konflikten gekommen wäre. Es hatte zwar 1899 einen ersten, 1900 einen zweiten Streik um Löhne und Entlassungen in Elberfeld gegeben.142 Auch 1904 gab es erneut einen Konflikt um Arbeitsbedingungen, der nicht zuletzt deshalb größere Ausmaße annahm, weil das Gesuch um Verhandlungen von Seiten der Gewerkschaften an Duisberg herangetragen worden war, der es wiederum ablehnte, diese als Vertreter der Belegschaft anzuerkennen.143 Auf mögliche Konflikte um Arbeitszeiten geben die Quellen jedoch keinen Hinweis. Die im Vergleich zu Siemens geringere Konflikthäufigkeit hängt auch mit der unterschiedlichen Zusammensetzung der Beschäftigten in beiden Unternehmen zusammen. Anders als in der Metall- beziehungsweise Elektroindustrie war der Anteil der Facharbeiter in der chemischen Industrie gering, beschäftigt wurden überwiegend ungelernte Arbeiter. Das Angebot an Arbeitskräften auf das Bayer zurückgreifen konnte, überwog daher meist die Nachfrage. Unter diesen Bedingungen waren Streiks wenig erfolgversprechend. Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern war der Wechsel der Arbeitsstätte der einfachere – und häufig genutzte – Weg.144 Dennoch: Dass es bei Bayer nicht zu Konflikten um Arbeitszeiten kam, könnte auch am Einsatz der Firmenleitung für die betriebsweite Einhaltung der gefundenen Institutionen gelegen haben. Carl Duisberg persönlich setzte sich dafür ein, nach der Senkung der Arbeitszeiten in der Normalschicht auch die in den Wechselschichten rasch zu verkürzen. Außerdem forderte er die Abschaffung der Überstunden, also die Einhaltung der vereinbarten neunstündigen Arbeitszeit.145 Die Anordnung von Überstunden scheint allerdings nur schwer einzudämmen gewesen zu sein. Ende 1912 beschwerte sich Duisberg erneut gegenüber den Betriebsführern, die Überstunden hätten in einem Maße zugenommen, dass die tägliche Arbeitszeit nicht mehr neun, sondern fast zehn Stunden betrage. Um deren Anordnung einer schärferen Kontrolle zu unterziehen sollten in den Betrieben Tafeln angebracht werden, auf denen täglich die Überstunden einzutragen seien.146 Es sind also Bemühungen der Firmenleitung erkennbar, mit der Verkürzung der Arbeitszeiten auch eine ver 142 Vgl.: Peetz (1981), S. 140f. 143 Dem darauf folgenden Streikaufruf schlossen sich allerdings nur verhältnismäßig wenige Arbeiter an, die sich in erster Linie aus denjenigen Teilen der Arbeiterschaft rekrutierten, die nicht von den betrieblichen Kommunikations- bzw. Sozialeinrichtungen erfasst waren. Vgl.: Nieberding (2005), S. 65f. 144 Vgl.: Nieberding (2003), S. 101 u. S. 355. 145 Vgl.: Protokoll der Betriebsführer-Konferenz Leverkusen am 12.2.1909, in: BAL 13/4. 146 Vgl.: Protokoll der Betriebsführer-Konferenz Leverkusen am 8.11.1912, in: BAL 13/4.
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bindliche institutionelle Grundlage für deren Organisation zu schaffen. Im Gegensatz zu Siemens bemühte sich Bayer darum, die Ausrichtung der Arbeitszeiten am Bedarfsfall einzugrenzen, also den gefundenen Regelungen zu Verbindlichkeit zu verhelfen.147 Die schwierigen Umstände der Arbeitszeitsenkung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert verweisen auf einen weiteren zentralen Faktor für die Problematik ihrer Aushandlung. Schließlich bezog sich die Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung nicht nur auf die Aushandlung und Organisation in den einzelnen Betrieben. Vielmehr hatte sie eine eminent politische Dimension; ein Umstand, der eine Institutionalisierung der Arbeitszeitsenkung erheblich erschwerte. Duisberg hatte die Arbeitszeitsenkung bei Bayer an die Voraussetzung gebunden, dass diese allein auf der Basis innerbetrieblicher Absprachen zustande gekommen war.148 Die Gewerkschaften lehnte er als Verhandlungspartner für die Arbeitszeitgestaltung grundsätzlich ab. Diese Haltung war innerhalb der Unternehmerschaft durchaus verbreitet.149 Auch Siemens lehnte es zunächst ab, sich einem Arbeitgeberverband anzuschließen und damit die Relevanz überbetrieblich organisierter Interessenvertretungen anzuerkennen. Wilhelm von Siemens glaubte, das gute Verhältnis zu den Arbeitern mache dies nicht erforderlich. Erst Ende 1904 entschloss sich die Firma zu diesem Schritt und trat dem Verband Berliner Metallindustrieller (VBMI) bei, nachdem in mehreren Werkstätten Streiks ausgebrochen waren, die postulierte betriebliche Vertrauensbeziehung sich also als unwirksam erwiesen hatte diese zu verhindern.150 Diese Ablehnung überbetrieblicher Verhandlungen entsprang einer Situation, in der sich die Arbeitsbeziehungen im Umbruch befanden und sich kaum absehen ließ, welche Handlungsmacht sich die Unternehmer künftig würden erhalten können. Dieser Umstand beeinflusste die Arbeitszeitfrage in einem Maße, welches selbst die mit sinkenden Arbeitszeiten einhergehende Vermehrung der Freizeit zu einer politischen Frage erhob. Lange Arbeitszeiten waren ein Organisationshindernis für die Gewerkschaften, mit der Senkung der Arbeitszeiten wurden also auch Zeiträume für gewerkschaftliches beziehungsweise politisches Engagement geschaffen.151 Der sozialdemokratische Politiker Karl Kautsky brachte 1890 die politische Dimension einer verkürzten Arbeitszeit auf den Punkt. Sie war seiner Ansicht nach „eines der mächtigsten
147 Es gab beispielsweise auch die Befürchtung, dass Meister und Aufseher Überstunden anordneten, um Lohnausfälle (vermutlich der Akkordarbeiter) auszugleichen. Auch solche kontraproduktiven Praktiken galt es zu vermeiden. Vgl.: Protokoll der Betriebsführer-Konferenz Leverkusen am 3.1.1913, in: BAL 13/4. 148 Vgl.: Rede Duisbergs auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands am 25.10.1912, in: Duisberg (1923), S. 551–553, hier S. 553. 149 Vgl.: Deutschmann (1985), S. 193. 150 Vgl.: Kocka (1969), S. 351. 151 Vgl.: Ritter / Tenfelde (1992), S. 369; sowie: Schneider (1984), S. 47.
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Mittel, das Proletariat ökonomisch und politisch selbständiger und widerstandsfähiger zu machen“.152 Selbst wenn die Verkürzung der Arbeitszeiten wirtschaftlich möglich erschien, ja sogar sinnvoll für die betrieblichen Sozialbeziehungen, erschwerte dieser Umstand die Aushandlung der Senkung erheblich, ging es doch nicht alleine um die betriebliche Neuorganisation der Arbeitszeiten. Auf dem Spiel stand, wie das Zitat Kautskys andeutet, eine grundsätzliche Veränderung des Verhältnisses von Arbeitgeber und -nehmer. Damit ist neben den innerbetrieblichen Schwierigkeiten, wie sie beim Finden einer institutionellen Basis für die Arbeitszeitverkürzung auftreten konnten, auf ein weiteres Element verwiesen, das geeignet war Senkungen zu behindern: Die Unternehmerschaft lehnte eine Institutionalisierung der Arbeitszeitsenkung über den einzelnen Betrieb hinaus weitgehend ab. In beiden Fällen erwuchs die Problematik der Arbeitszeitsenkung in erster Linie aus ihrer Verbindung mit dem gleichzeitig stattfindenden Wandel der Arbeitsbeziehungen inner- wie überbetrieblicher Art. Sowohl bei Siemens als auch bei Bayer ist daher das Bemühen zu beobachten, die unternommenen Schritte zur Senkung der Arbeitszeiten nicht in eine Neuregelung des Verhältnisses zu den Arbeitnehmern münden zu lassen, sei es im Betrieb selbst oder darüber hinaus. Dieser Befund deckt sich mit dem in der patriarchalischen Ordnungsvorstellung angelegten Verständnis des Betriebes. Der Umgang der Unternehmen Siemens und Bayer mit der Arbeitszeitfrage konzentrierte sich auf die Frage der betrieblichen Umsetzung der Arbeitszeitsenkung. Das entspricht der patriarchalischen Vorstellung des Betriebes als einer geschlossenen Gemeinschaft. Allein innerhalb dieser Gemeinschaft war die Senkung der Arbeitszeiten zu organisieren. Ausschließlich darauf waren die zur Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung geschaffenen Institutionen zugeschnitten, sowohl was deren Aushandlung, als auch was ihre Form anging. Um die Ausprägung dieser institutionellen Bedingungen und die Art ihrer Nutzung erklären zu können ist es unabdingbar, mit der patriarchalischen Ordnungsvorstellung die in den Firmenleitungen gängigen Wissensordnungen in den Blick zu nehmen. Die institutionellen Bedingungen der Aushandlung und Organisation der Arbeitszeitsenkung in den 1950er Jahren Durch das Tarifvertragssystem und das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 vollzog sich die Senkung der Arbeitszeiten in der Bundesrepublik innerhalb eines im Vergleich zum Kaiserreich vollkommen veränderten formal-institutionellen Rahmens. Allerdings stand zu Beginn der 1950er Jahre noch keineswegs fest, dass die Senkung der Arbeitszeiten auf der Grundlage von Tarifverträgen organisiert werden würde. Arbeitgeberverbände wehrten sich zunächst gegen diese institutionelle 152 Zitiert nach: Scharf (1987), S. 199.
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Form der Aushandlung von Arbeitszeiten. Sie präferierten stattdessen Betriebsvereinbarungen, also eine Organisation von Arbeitszeiten auf der Basis einzelbetrieblicher Regelungen. Bereits 1955 legten die Arbeitgeberverbände jedoch ihre ablehnende Haltung gegenüber einer tariflichen Regelung der Arbeitszeiten ab, allen voran die BDA, und bevorzugten diese nun gegenüber betrieblichen Einzelregelungen.153 Damit zeichnete sich ein Trend ab, von betriebsnahen hin zu einer zunehmend zentralisierten Aushandlung von Arbeitszeiten. Die Verbände bereiteten die Tarifabschlüsse vor, zum Teil wurden sie auch zentral abschlossen. Ein Beispiel dafür ist das Bremer Abkommen über die Verkürzung der Arbeitszeiten von 1956, das zwischen dem Gesamtverband der Metallindustriellen Arbeitgeberverbände und der IG-Metall geschlossen wurde. Mit ihm wurde der Weg zu künftig auf zentraler Ebene ausgehandelten Flächentarifverträgen eingeschlagen.154 Solcherart zentral für eine Branche geschaffenen Regelungen für die Arbeitszeitsenkung hatten für die Unternehmen mehrere Vorteile. Dieser Weg in die Arbeitszeitverkürzung kam ihren Ansprüchen an Flexibilität in Ausmaß und Dauer der Senkungen durchaus entgegen, da die Tarifverträge, im Gegensatz zu einer möglichen gesetzlichen Regelung, branchenspezifische Unterschiede zuließen. Vor allem aber trugen sie dazu bei, den sich abzeichnenden Wettbewerb um sinkende Arbeitszeiten zu begrenzen. Dieser war von solcher Brisanz, dass Volkswagen Ende 1955 gar die in der Presse bereits kolportierte Einführung der 40-StundenWoche wieder zurücknahm, um nicht einen bundeseigenen Betrieb zum „Wellenbrecher“ in der Arbeitszeitfrage zu machen und in Zeiten des Arbeitskräftemangels den Wettbewerb um sinkende Arbeitszeiten anzuheizen.155 Flächentarifverträge schützten so vor allem kleinere oder leistungsschwächere Unternehmen vor der Abwerbung von Arbeitskräften und zusätzlichen Kosten, etwa für Rationalisierungsmaßnahmen. In den leistungsstärkeren Unternehmen verhinderten tarifvertragliche Regelungen wiederum Vorstöße der eigenen Arbeitnehmervertretungen, die ansonsten möglicherweise weitergehende Forderungen durchzusetzen versucht hätten.156 Bei Bayer etwa, forderte der Betriebsrat Leverkusen bereits 1954 intern wie auch in der Presse die Einführung der 40-Stunden-Woche und berief sich dabei auf die „positive Einstellung“ und die „grundsätzliche Bejahung“, welche die Firmenleitung in dieser Frage zum Ausdruck gebracht habe.157 Es entband daher die Firmenleitung von weiteren potenziell konfliktträchtigen Verhandlungen, als die stufenweise Senkung ab 1957 tarifvertraglich vereinbart worden war. Dieser Umstand sollte nicht unterschätzt werden, schließlich band 153 Vgl.: Hinrichs (1988), S. 125. 154 Vgl.: Schroeder (2003), S. 515. 155 Artikel „‚Wellenbrecher‘ der Arbeitszeitverkürzung“, ohne Autor, in: Der Volkswirt, Nr. 45, 12.11.1955, in: BAL 215/11.4. 156 Vgl.: Hinrichs (1988), S. 127. 157 Artikel „Wann bringt Bayer die 40-Stunden-Woche? Brächte allen Vorteile!“, ohne Autor, in: Neue Rhein Zeitung, Nr. 277, 27.11.1954; sowie: Artikel „Bayer-Betriebsrat wünscht die 40Stunden-Woche bald“, ohne Autor, in: Neue Rhein Zeitung, Nr. 283, 4.12.1954; jew. in: BAL 215/ 11.4.
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das Finden betrieblicher Regeln für die Arbeitszeitgestaltung Ressourcen. Darüber hinaus hatten Tarifverträge den Vorteil, dass durch sie gerade diejenigen Fragen, die aufgrund ihrer grundsätzlichen Dimension konfliktträchtig waren, an die Tarifparteien ausgelagert werden konnten, so dass die Konfliktträchtigkeit der innerbetrieblich geführten Verhandlungen gering gehalten werden konnte.158 War es also in erster Linie der auf gesetzlichem Wege geschaffene formalinstitutionelle Rahmen der Aushandlung von Arbeitszeiten, der eine rasche und konfliktlose Senkung der Arbeitszeiten ermöglichte, weil er für die Unternehmen ökonomische und organisatorische Vorteile hatte? Erübrigt sich damit für die 1950er Jahre die Frage nach der Legitimität der institutionellen Bedingungen, innerhalb derer die Arbeitszeitsenkung verhandelt und umgesetzt wurde? Sicherlich spielten diese institutionellen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle, allerdings garantierte ihre Existenz noch nicht deren konsensuale Nutzung. Es sei hier noch einmal an die erheblichen Konflikte um die Gestaltung der Arbeitszeiten in der Weimarer Republik erinnert, in der die Aushandlung und Gestaltung von Arbeitszeiten ebenfalls formal institutionell reguliert war. Im Unterschied dazu war jedoch im Tarifvertragsgesetz von 1949 die Verantwortung für das Gelingen des Tarifsystems an die Arbeitsmarktparteien abgegeben worden. Anders als in der Weimarer Republik war es den Tarifparteien also nicht mehr möglich, ihre Verantwortung für das Finden von Kompromissen an eine staatliche Zwangsschlichtung zu delegieren.159 Auch dieser Umstand dürfte konsensorientierte Verhandlungen zwischen den Tarifparteien begünstigt haben. Häufig wird auch die positive konjunkturelle Situation der frühen Bundesrepublik als eine Erklärung für die rasche Umsetzung der Arbeitszeitsenkung innerhalb dieses Verhandlungsrahmens genannt. Waren es also günstige wirtschaftliche Bedingungen und durch Rationalisierung geschaffene Spielräume, die „einen Drang zu kürzeren Arbeitszeiten“ erzeugten, der durch die Tarifbewegung nur noch „eingeholt“ wurde, wie Markus Promberger vermutet?160 Der Vergleich mit dem Kaiserreich weckt Zweifel daran, dass damit alle Gründe für die rasche und konsensuale Senkung der Arbeitszeiten in den 1950er und 1960er Jahren benannt sind. Tarifverträge abzuschließen war anfangs nicht der von Unternehmerseite präferierte Weg zur Senkung der Arbeitszeiten und es war sicherlich der drohende Wettbewerb, der ihn schließlich doch sinnvoll erscheinen ließ. Aber es zeigt sich auch keine dem Kaiserreich vergleichbare grundsätzliche Ablehnung, die Bedingungen der Arbeitszeitsenkung auf einem überbetrieblichen Weg auszuhandeln. Es scheint daher auch für die zweite hier untersuchte Phase der Arbeitszeitsenkung berechtigt, die Frage zu stellen, welchen Anteil die Wahrnehmung der institutionellen Bedingungen zur Aushandlung und Gestaltung von Arbeitszeiten an deren konsensualer Nutzung hatte. Einen Hinweis auf die Bedeutung dieser Erklärungsebene vermag erneut das Beispiel der 5-Tage-Woche zu liefern. Sie war ein ganz wesentlicher Bestandteil 158 Vgl.: Rosenberger (2008), S. 110. 159 Vgl.: Plumpe (2006), S. 408. 160 Promberger (2005), S. 26.
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der Arbeitszeitsenkung, der jedoch nicht tarifvertraglich reguliert wurde, sondern auf der Basis von Institutionen zu bewältigen war, die in beziehungsweise von den Unternehmen zu etablieren waren. Auch in diesem Fall hatten sich die Arbeitgeberverbände gegen eine tarifvertragliche Lösung gewehrt. Der Verband der Berliner Metallindustriellen betonte 1954 in einem Schreiben an seine Mitglieder, die 5-Tage-Woche könne nur individuell, auf der Grundlage einzelbetrieblicher Regelungen eingeführt werden: „Jeder schematische überbetriebliche Regelungsversuch verbietet sich von selbst.“161 Der Verband verfolgte die politischen Initiativen im Zusammenhang mit der Senkung von Arbeitszeiten sehr genau. Im September 1954 schickte er seinen Mitgliedern eine vom Berliner Senator für Arbeit und Sozialwesen, Kreil, verfasste Denkschrift über die „Probleme der Fünftagewoche“. Diese hatte der Senator an die Presse ausgegeben und damit laut Industriellenverband eine „in der wirtschaftlichen Situation Berlins unverständliche Initiative entwickelt.“162 Kreil hatte zwar in dieser Denkschrift die Einführung der 5Tage-Woche und die Senkung der Arbeitszeiten befürwortet. Allerdings heißt es darin auch: „Nur im Zuge einer langsamen und organisatorischen Entwicklung von Betrieb zu Betrieb kann zu einer allgemeinen Fünftagewoche geschritten werden.“163 Die scharfe Verurteilung der Äußerungen Kreils, obwohl sie den Standpunkt des Verbandes nicht grundsätzlich in Frage stellten, belegt, wie sensibel auch Anfang der 1950er Jahre die Frage war, auf welcher institutionellen Grundlage die Senkung der Arbeitszeiten ausgehandelt und organisiert werden sollte. Auch Herbert Gross, Verfasser eines „Beratungsbriefes“ den die „Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947“ (WIPOG) an führende Unternehmen verschickte, vertrat diese Ansicht. Die 5-Tage-Woche müsse sich „gleichsam von unten her, organisch in den Betrieben entfalten lassen. Zu vermeiden wäre also ihre Einführung durch Gesetze oder politische Massnahmen von oben her.“164 Ähnlich urteilte auch der Verband „Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein“ in einem Dossier „Zur 5-Tage-Woche“, welches er 1955 an die Mitglieder des Vorstandes von Bayer schickte. Demzufolge könne die Arbeitszeitgestaltung nicht „schematisch oder gar dogmatisch“ behandelt werden, da die Möglichkeiten einer Senkung in den einzelnen Branchen zu verschieden seien.165 Zu 161 Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustriellen Nr. 29/54, 20.4.1954, in: SAA 11127–4. 162 Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustriellen Nr. 71/54, 18.9.1954, in: SAA 11127–4. 163 Denkschrift „Probleme der Fünftagewoche“, S. 13; Anhang zum Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustriellen Nr. 71/54, 18.9.1954, in: SAA 11127–4. 164 Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e.V.“ vom 8.10.1954, in: BAL 215/11.4. Zugrunde liegt dem Beratungsbrief ein von Herbert Gross auf dem Betriebswirtschaftlertag am 28.9.1954 gehaltener Vortrag. Die von Herbert Gross verfassten Beratungsbriefe wurden an alle „führenden Unternehmen“ verschickt. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 229. 165 Dossier „Zur 5-Tage-Woche“, S. 1; Anhang zum Schreiben der Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein vom 1.4.1955, in: BAL 215/11.5.
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mindest im Falle von Siemens und Bayer wurde dieser Spielraum aber nicht etwa genutzt um die Umsetzung der Anforderung hinauszuzögern. Vielmehr waren sie bereit, wie in Kapitel III.2 skizziert, frühzeitig die institutionellen Grundlagen für die Umsetzung der 5-Tage-Woche zu schaffen, etwa indem entsprechende Schichtregelungen eingeführt wurden. Da die 5-Tage-Woche eine Senkung der Wochenarbeitszeit langfristig nach sich zog, wurden auf diesem Wege die Grundlagen für einen Einstieg in die dauerhafte Senkung der Arbeitszeiten geschaffen, Jahre bevor die ersten Kürzungen tarifvertraglich vereinbart wurden. Anders als im Kaiserreich, als es ebenfalls nötig war zur Bewältigung der Anforderungen neue Institutionen zu schaffen, gelang dies in den 1950er Jahren sehr rasch und vor allem konfliktfrei. Dazu kommt, dass Unternehmen wie Siemens und Bayer um Konsens bemüht waren. Das Mitbestimmungsrecht hatte dafür natürlich wichtige Grundlagen geschaffen. Das Betriebsverfassungsgesetz legte nicht nur fest, welche Bereiche der Arbeitszeitgestaltung zwischen Firmenleitung und Betriebsräten auszuhandeln war – Beginn und Ende des Arbeitstages und der Pausen –, es bestimmte sogar, dass diese Verhandlungen im beiderseitigen Bemühen um eine konsensuale Lösung zu führen waren. Es sah vor, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in monatlichen Besprechungen „über strittige Fragen mit dem ernsten Willen zur Einigung“ zu verhandeln hätten. Dabei waren sie gehalten, „sich gegenseitig Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu machen.“166 Die Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes erleichterten die Aushandlung von Arbeitszeitstandards sicherlich, auch wenn sie Reibungen nicht per se verhinderten. Die ersten Versuche von Siemens, Regeln für die Gestaltung eines arbeitsfreien Samstags zu finden gestalteten sich zunächst schwierig (vgl. Kap. 5.3). Erkennbar ist jedoch ein beiderseitiges Bemühen um eine konsensuale Lösung. Auf einer ersten Sitzung kamen Firmenleitung und Betriebsräte zwar nicht zusammen. Die Firmenleitung verwies aber auf die auch bisher „trotz mancher Schwierigkeiten“ gemeinsam gefundenen Lösungen und versprach, auf die regelmäßige 5-Tage-Woche hinzuarbeiten.167 Auch die Vertreter der Betriebsräte waren der Ansicht, dass „die Firmenleitung der gleichen Ansicht ist wie wir“.168 Selbst mit dem Abschluss einer Betriebsvereinbarung waren die Aushandlungsprozesse nicht unbedingt beendet. Als Bayer Ende 1956 eine einvernehmliche Lösung mit dem Betriebsrat für eine Einführung elf arbeitsfreier (Sams-)Tage präsentierte, entzündete sich ein Streit um die damit verbundene Neuregelung der
166 Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung vom 11.10.1952, § 49, Abs. 3. 167 Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung über den Stand der Verhandlungen zwischen Firmenleitung und Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates vom 1.9.1956, S. 3, in: SAA 14 Lr 516. 168 Protokoll des Betriebsrates des Verwaltungsgebäudes Berlin Siemensstadt, vom 4.9.1956, S. 5, in: SAA 18068.
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Pausen.169 Der Vereinbarung zufolge stand jedem Werksangehörigen eine 15minütige Frühstückspause zu. Dabei handelte es sich um die Legalisierung einer ohnehin gängigen Praxis, die der Objektivierung der Arbeitszeiten dienen sollte. Allerdings sorgte diese Regelung für Diskussionen mit den Akkordarbeitern des Werkes Leverkusen, die sich bis Mitte des Jahres 1957 hinzogen. Die Akkordarbeiter forderten eine zusätzliche Bezahlung der eingeführten Pause, was in Verhandlungen des Betriebsrates mit Vertretern des Direktoriums, Sachbearbeitern, den Akkordvertretern aller Bayer-Werke sowie dem Arbeitsbüro mündete.170 Trotz „heftiger Kritik“ „ignorierte“ die Werksleitung die Frage der Pausenregelung zunächst, bevor sie im Februar 1957 beschloss, den Akkordarbeitern die Frühstückspause zu „schenken“. Die Pause wurde zwar aus der Arbeitszeit herausgenommen, die Akkordsätze jedoch nicht entsprechend gekürzt, so dass sich die Akkordüberverdienste erhöhten.171 Das Beispiel vermag schlicht zu verdeutlichen, dass es nach wie vor auch im Ermessen der Firmenleitung lag, auf welche Weise die Verhandlungen innerhalb des gegebenen institutionellen Rahmens geführt wurden. Wenn diese Verhandlungen bei Siemens und Bayer in den 1950er Jahren im Vergleich zum Kaiserreich sehr konsensual verliefen, so hatten daran auch die Bemühungen der Firmenleitungen einen Anteil. Insbesondere die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen der Unternehmen Siemens und Bayer leisteten einen nicht unerheblichen Beitrag zur konsensualen Nutzung des gegebenen institutionellen Rahmens (vgl. Kap. 5.3). Im Vergleich zum Kaiserreich ist das Fehlen beziehungsweise der geringe Umfang von Quellen, die auf Konflikte mit der Belegschaft oder auch nur Diskussionen um die Senkung der Arbeitszeiten hindeuten, geradezu auffällig. Die Verhandlungen mit den Belegschaften beschränkten sich weitgehend auf Fragen von organisatorischen Dimensionen. Angesichts der konfliktlosen Vereinbarung von Tarifverträgen zur Arbeitszeitsenkung erinnert der Blick auf die Situation im Kaiserreich daran, dass die Anerkennung der Gewerkschaften als Voraussetzung für den Genuss dieser Vorteile nicht nur dem ökonomischen Kalkül und den gesetzlichen Bedingungen entsprangen. Auch im späten 19. Jahrhundert konkurrierten die Unternehmen um knappe Arbeitnehmer, die zudem häufig den Arbeitsplatz wechselten – dennoch hielten Bayer und Siemens an den hergebrachten Formen der Verhandlung mit der Belegschaft beziehungsweise mit Teilen der Belegschaft, fest. Die Gewerkschaften als Verhandlungspartner anzuerkennen, wurde nicht nur nicht in Betracht gezogen, sondern explizit ausgeschlossen. Das bedeutet nicht, dass eine antigewerkschaftliche Haltung in der Unternehmerschaft und deren Verbänden, insbesondere des BDI, in den 1950er und 1960er Jahren ausgestorben war. Neben dieser gewannen jedoch sozialpartnerschaftlich orientierte Unterneh 169 Vgl.: Bekanntgabe der neuen Arbeitszeitregelung im Direktionsrundschreiben Nr. 1686, 23.12.1955, in: BAL 215/11.4. 170 Vgl.: Aktennotizen des für das Arbeitsbüro Leverkusen tätigen Oberingenieurs Faul vom 12.1.1956, 13.4.1956 und 29.6.1956; jew. in: BAL 59/ 247. 171 Erläuterungen zum Direktionsrundschreiben Nr. 1704, 19.2.1957, in: BAL 59/ 382.
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mer an Bedeutung, die sich um ein kooperatives Verhältnis zu den Gewerkschaften bemühten.172 Die Verhandlungen der 1950er Jahre um die Arbeitszeitsenkung zeugen von einem grundsätzlichen Bemühen um Konsens, was sich gerade in den Bereichen zeigt, die tarifvertraglich nicht abgedeckt wurden, wie etwa der 5-TageWoche. Dieser konsensuale Modus der Verhandlungen in der Bundesrepublik wurde zwar auf betrieblicher wie überbetrieblicher Ebene aufgrund der skizzierten Bedingungen begünstig. Auch in Kenntnis der hemmenden beziehungsweise begünstigenden Faktoren der Arbeitszeitgestaltung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert sowie den 1950er und 1960er Jahren bleibt die jeweils sehr unterschiedliche Dynamik des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung jedoch erklärungsbedürftig, ist die Frage nach der Legitimität der institutionellen Rahmenbedingungen erlaubt. Schließlich sahen die Unternehmen Siemens und Bayer in beiden Fällen Spielräume für eine Arbeitszeitverkürzung. Weder bedingten die institutionellen Rahmenbedingungen des Kaiserreichs grundsätzlich den Konflikt, noch ist mit den veränderten formalen Bedingungen der Bundesrepublik zwangsläufig deren konstruktive Nutzung verbunden. Auf dieser Grundlage ist die Annahme berechtigt, patriarchalisches Ordnungsdenken habe die Konfliktträchtigkeit der Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich begünstigt, während die an Bedeutung gewinnende sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung ein Faktor gewesen sein könnte, der die Verhandlungen um die Arbeitszeitsenkung begünstigte. Sie legte eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften nahe, indem sie diese als eine wichtige Referenzgruppe erscheinen ließ, anders als es im betriebs-zentrierten Denken des Patriarchalismus der Fall war. Zumal die Spielräume zur Senkung auch schlicht gesucht und geschaffen wurden, selbst wenn damit eine Kostensteigerung verbunden war. Schließlich war auch in der Bundesrepublik Anfang der 1950er Jahre keineswegs absehbar, auf der Basis welcher Regelungen, in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit Arbeitszeiten gesenkt werden würden. Die positive Dynamik zur Senkung der Arbeitszeiten entwickelte sich also immerhin in einer Phase relativer Unsicherheit. Dieser Umstand gilt für beide Untersuchungszeiträume und ist für die Frage nach der Bedeutung der Ordnungsvorstellungen zentral, da ihr Orientierungspotenzial vor allem in unsicheren Situationen zum Tragen kam.
172 Vgl.: Berghahn (1985), S. 228ff. Ruth Rosenberger geht davon aus, dass das partnerschaftliche Selbstverständnis der Unternehmer erst verstärkt in den 1960er Jahren an Bedeutung gewann. Vgl.: Rosenberger (2004), S. 331.
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3.4 UNKLARE ANFORDERUNG: DIE NOTWENDIGKEIT ZUR INTERPRETATION DER „ARBEITSZEITFRAGE“ Die Senkung der Arbeitszeiten stellte sowohl im Kaiserreich als auch in der Bundesrepublik eine Anforderung dar, die aus der gesellschaftlichen Umwelt an das Unternehmen herangetragen wurde. In beiden Untersuchungszeiträumen war diese Anforderung den Unternehmen Siemens und Bayer bewusst. Es war klar, dass Arbeitszeiten gesenkt beziehungsweise normiert werden sollten, daher kann nicht von einer Unsicherheit über die Anforderung an sich gesprochen werden. Allerdings wird im Folgenden zu zeigen sein, dass über die Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Anforderung sehr wohl Unsicherheit herrschte. Die Unternehmer hatten zwar durchaus Zielpräferenzen im Hinblick auf den Umgang mit der Arbeitszeitfrage. Vor allem waren die Unternehmen Siemens und Bayer in beiden Untersuchungszeiträumen bemüht, sich möglichst große Handlungsspielräume zu erhalten. Wie dieses Ziel zu erreichen war, lag jedoch keineswegs auf der Hand. Das gilt umso mehr, als es sich in beiden hier untersuchten Zeiträumen um Phasen handelte, in denen eine durchaus fundamentale Unsicherheit über das Gelingen der wirtschaftlichen Ordnung insgesamt bestand. Im späten 19. Jahrhundert zeichnete sich mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung ein von den Unternehmern als fundamental empfundener Wandel der Arbeitsbeziehungen ab, während sich in den 1950er Jahren die politische und wirtschaftliche Ordnung im sich anbahnenden Systemkonflikt zu bewähren hatte. Situationen, für deren Ausgang gerade auch der Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung eine nicht unerhebliche Bedeutung zugeschrieben wurde. Auch Ziele müssen erst gefunden und formuliert werden. Der Umgang mit der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ im Kaiserreich Der bereits skizzierte Umbruch der Arbeitsbeziehungen im Kaiserreich macht deutlich, dass sich die Unternehmen in einer unsicheren Situation befanden. Welche Stellung die Gewerkschaften bei der Aushandlung von Arbeitszeiten einnehmen würden, welche Handlungsmacht sich die Unternehmer demgegenüber erhalten konnten, zeichnete sich nicht von vorneherein ab. Wie in dieser Situation mit der Frage der Arbeitszeitsenkung verfahren werden konnte und sollte, war im späten 19., frühen 20. Jahrhundert höchst kontrovers. Schon die wirtschaftlichen Folgen einer Arbeitszeitsenkung waren in der Unternehmerschaft umstritten. Auch Werner von Siemens hielt Mehreinstellungen bei sinkenden Arbeitszeiten für unvermeidlich, sah darin aber die Möglichkeit eine Arbeitskraftreserve aufzubauen, mit deren Hilfe bei positiver Konjunktur Auftragsspitzen abgefangen werden
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konnten.173 Im Falle von Siemens sprechen auch die lange Erprobungsphase und die Zurückhaltung bei der Verregelung der Arbeitszeitsenkung dafür, dass die wirtschaftlichen Folgen einer Senkung nicht eindeutig abzusehen waren. Der Zusammenhang zwischen sinkenden Arbeitszeiten und einer Verdichtung von Arbeit war lange Zeit höchst umstritten. Zunehmend seit den 1890er Jahren wurde über die Potenziale einer Intensivierung der Arbeit diskutiert, die auch bei sinkenden Arbeitszeiten nicht zu Produktivitätsverlusten führen würde. Zahlreiche Unternehmen stellten auch schlicht fest, dass eine Erhöhung der Arbeitsintensität nur durch die Senkung der Arbeitszeiten zu erreichen war, da das durch die zunehmende Maschinisierung erhöhte, ununterbrochene Arbeitstempo die Belastung der Arbeiter erhöhte.174 Als sozialpolitisch engagierter Vertreter der Nationalökonomie gehörte beispielsweise Lujo Brentano zu den Verfechtern der These von der Intensivierung der Arbeit durch die Verkürzung der Arbeitszeit.175 Ein prominenter Vertreter dieses Arguments auf Unternehmerseite war Ernst Abbe, Geschäftsführer von Zeiss, der diesen Schluss aus den Erfahrungen mit der Einführung des Achtstundentages bei Zeiss im Jahre 1900 zog. Allerdings berief sich Zeiss in den internen Diskussionen um die Einführung der verkürzten Arbeitszeit zunächst auf die Erfahrungen des Unternehmens Siemens, denn dort habe es trotz sinkender Arbeitszeiten keinen Arbeitsausfall gegeben.176 Das unterstreicht noch einmal den Versuchscharakter dieser Arbeitszeitsenkung, über deren tatsächliche ökonomische Folgen eben keine Sicherheit bestand. Die bei Zeiss gesammelten Erfahrungen mit der achtstündigen Arbeitszeit fasste Abbe in einer Studie zusammen, welche die anfängliche Vermutung belegte. Den Zusammenhang von Kräfteverbrauch und Arbeitszeit bildete er gar in einer mathematischen „Bedingungsgleichung“ der industriellen Arbeitsleistung ab.177 Auf diesen Effekt des Produktivitätserhalts bei sinkenden Arbeitszeiten verwies auch Carl Duisberg bei der Einführung des Neunstundentages bei Bayer 1905. In der Korrespondenz mit anderen Unternehmern machte er ausdrücklich auf den von Abbe postulierten Zusammenhang aufmerksam, den man auch im eigenen Falle habe feststellen können, und bestätigte weitere entsprechende Studien.178 173 Vgl.: Burhenne (1932), S. 42. 174 Vgl.: Deutschmann (1985), S. 176ff. 175 Bereits 1876 veröffentlichte Brentano einen ersten Aufsatz zur Frage des Verhältnisses von „Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung“, 1893 erschien diese Studie in deutlich erweiterter Fassung. Vgl.: Brentano (1893). 176 Vgl.: Protokoll einer durch die Geschäftsleitung einberufenen Versammlung mit der Belegschaft am 12.3.1900, in: BACZ 23. 177 Vgl.: Studie „Ergebnisse der Einführung der achtstündigen Arbeitszeit in der Optischen Werkstaette von Carl Zeiss Jena“; sowie: „Bedingungsgleichung für das physiologische Gleichgewicht der industriellen Arbeitsleistung“; jew. in: BACZ 325. 178 Vgl.: Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Fa. Kalle & Co., vom 23.3.1909; sowie: Schreiben Duisbergs an Siegfried G. Werner, Eisenwerk Jäger Elberfeld, vom 14.12.1911; jew. in: BAL 215/11.
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Die Möglichkeiten und Folgen einer Arbeitszeitsenkung blieben ein kontroverses Thema innerhalb der Unternehmerschaft. Daran konnte auch die wachsende Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen zu diesem Problem zunächst nichts ändern. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen scheuten sich aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit diesen Schritt alleine zu gehen, für sie blieb die Arbeitszeitsenkung ein schwer kalkulierbares Risiko.179 Darüber hinaus war der Effekt steigender Produktivität durch sinkende Arbeitszeiten keineswegs in allen Fällen zu beobachten. Die Arbeitszeitsenkungen in der Textilindustrie seit 1891 hatten die Produktivität in vielen Fällen nicht erhöht. Das lag nicht zuletzt an der maschinell bedingten Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit. Die Arbeit an den Schnellwebstühlen war äußerst anstrengend, die Arbeiter ermüdeten rascher oder lehnten diese Arbeit und das damit verbundene Arbeitstempo ab.180 Die Studien Ernst Abbes wurden zwar breit rezipiert, seine Argumente waren fester Bestandteil der Diskussion um die Arbeitszeitsenkung, dennoch waren sie höchst umstritten.181 Auf Abbes Vorschlag, die Deutsche Gesellschaft für Optik und Mechanik solle eine Empfehlung für die Verkürzung der Arbeitszeiten aussprechen, erntete er auf dem 12. Deutschen Mechanikertag 1901 derart heftige Gegenreaktionen, dass sich der Vorsitzende, Dr. Krüß-Hamburg, genötigt sah, das Niveau zu rügen, mit dem die Teilnehmer ihre ablehnende Haltung in der Diskussion zum Ausdruck brachten.182 Dazu kam eine an Schärfe gewinnende öffentliche Debatte, in der sich nicht nur die Gewerkschaften sondern auch die bürgerliche Sozialreform für die Arbeiter einsetzten.183 Die Gräben in der skizzierten Kontroverse mögen nicht zuletzt dadurch vertieft worden sein, dass die These von der Intensivierung der Arbeit bei Verkürzung der Arbeitszeit auch ein zentrales Argument von Gewerkschaften und Sozialdemokraten darstellte.184 Auch wenn die Senkung der Arbeitszeiten bei Bayer und Siemens als wirtschaftlich machbare Option beziehungsweise sogar langfristig unausweichlich eingeschätzt wurde, bestand innerhalb der Unternehmerschaft nicht die geringste Einigkeit darüber, ob und wie dieser Weg eingeschlagen werden sollte. Diese Situation machte es schwierig, klare Ziele für den legitimen Umgang mit der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ zu formulieren. Nicht nur die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitszeitsenkung und damit das Agieren anderer Unternehmen waren schwer abzusehen, auch die öffentliche Debatte um die Arbeitszeiten war eher ein Unsicherheitsfaktor, als dass aus ihr klare Anforderungen hervorgegangen wären. In der Arbeitszeitdebatte des Kaiserreichs 179 Vgl.: Schröder (1980), S. 275. 180 Vgl.: Deutschmann (1985), S. 178f. 181 So berief sich auch der von Duisberg und Siegfried G. Werner im Schreiben vom 14.12.1911 (vgl.: BAL 215/11) diskutierte Autor, Fritz Selter, auf den Fall Zeiss, um zu belegen, dass die Verringerung der Arbeitszeit sogar mit einer Erhöhung der Arbeitsleistung einhergehen könne. Die Thesen Abbes wurden also breit rezipiert. Vgl.: Selter (1911), S. 48. 182 Vgl.: Bericht des 12. Deutschen Mechanikertages 1901, S. 50f, in: BACZ 248. 183 Vgl.: Ritter / Tenfelde (1992), S. 368. 184 Vgl.: Scharf (1987), S. 330.
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zeichnete sich ab, dass neben der eigenen Belegschaft eine darüber hinausgehende Öffentlichkeit als Referenzgröße für das Handeln der Unternehmen an Bedeutung gewann. Um potenzielle Konflikte zu vermeiden, war das Unternehmen Siemens darum bemüht, nicht den Eindruck zu erwecken, die Senkung der Arbeitszeiten grundsätzlich abzulehnen. Als 1905 ein Streik der Arbeiter des Nürnberger Siemens-Werkes ausbrach, die eine Senkung der Arbeitszeiten auf wöchentlich 54, später 56 Stunden forderten, kam der Betriebsausschuss von SSW und S.&H. zu dem Schluss, „es sei wichtig, die öffentliche Meinung für uns zu haben und ihr gegenüber könnte es kleinlich aussehen, wenn man sich weigert, von 57 auf 56 Stunden herabzugehen.“185 Das Unternehmen Siemens erachtete es für notwendig aktiv auf diese „öffentliche Meinung“ einzuwirken. Als Reaktion auf die Berichterstattung der sozialdemokratischen Presse über einen Streik bei Siemens 1906 lancierte das Unternehmen Gegendarstellungen. So monierte der „Vorwärts“, die Berichterstattung der National-Zeitung sei von der Leitung der Siemens-Werke beeinflusst worden.186 Konflikte wie bei Siemens zogen während ihrer Dauer ein überregionales Medienecho nach sich. Das galt erst recht für so symbolträchtige Schritte wie die Einführung des Achtstundentages. Durch Abbes öffentliches Eintreten für sinkende Arbeitszeiten erregte dieser Schritt etwa im Falle von Zeiss enorme Aufmerksamkeit.187 Als Zeiss 1901 den Achtstundentag einführte, erfuhr dieser Schritt eine beachtliche mediale Resonanz. Überregionale Zeitungen berichteten ebenso wie lokale Zeitungen von St. Petersburg über Berlin, Bremen oder Halberstadt bis hin nach Stuttgart und Basel. Allein der Umfang der archivierten Presseausschnitte über den Achtstundentag bei Zeiss belegt die Virulenz des Themas, das quer durch die politischen Lager von den Zeitungen aufgegriffen
185 Schreiben an Wilhelm von Siemens vom 25.4.1905 mit dem dieser über die Ergebnisse einer Sitzung des Betriebsausschusses von SSW und S.&H. anlässlich des Streiks in Nürnberg unterrichtet wurde, in: SAA 4 LK 12–13. 186 Vgl.: Artikelausschnitt aus dem Vorwärts Nr. 258, Sonntagsausgabe, 4.11.1906, in: BACZ: 10138. Die National-Zeitung kritisierte die Berichterstattung des Vorwärts heftig, und veröffentlichte Auszüge der Arbeitsordnung von Siemens, deren Überstundenregelung Anlass für den Konflikt gewesen war. Vgl.: Artikel „Die Arbeitsordnung in den Siemenswerken“, ohne Autor, in: National-Zeitung Nr. 623, Morgenausgabe, 6.11.1906, Beilage „Die Industrie“, in: BACZ: 10138. Es ist anzunehmen, dass zu den in der Korrespondenz zwischen Siemens und Zeiss über den Streik erwähnten „unsererseits veranlassten Publikationen“, auch Presseberichte gehörten. Vgl.: Schreiben von August Raps, Wernerwerk Berlin, an Siegfried Czapski, Mitglied der Geschäftsleitung von Zeiss vom 28.11.1906, in: BACZ 13419. 187 Abbe hielt zahlreiche Vorträge über die Verkürzung des Arbeitstages. Vgl.: Abbe (1906). Diese Reden wurden auf Anfrage beispielsweise an interessierte Politiker verschickt. Vgl.: Schreiben an den Reichstagsabgeordneten der Konservativen Max Porzig vom 12.1.1905, in: BACZ 12664. Zeiss verfügte außerdem über vorbereitetes Informationsmaterial – in deutscher und englischer Sprache – über die Arbeitsverhältnisse in Jena, das an interessierte Unternehmer verschickt wurde. Vgl.: Schreiben an „The Cambridge Scientific Instrument Company“ vom 6.7.1914, in: BACZ 321.
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wurde.188 Den Unternehmern des Kaiserreichs war klar, dass ihr Agieren in der Arbeitszeitfrage unter öffentlicher Beobachtung stand und enormes Konfliktpotenzial barg. Insbesondere der Fall Siemens zeigt, dass sich die Unternehmen angesichts zunehmender Arbeitszeitkonflikte auch in einem Kampf um die öffentliche Meinung verwickelt sahen. Beide Seiten richteten Pressebüros ein.189 Sowohl Siemens als auch Bayer verfügten über Pressestellen, die Zeitungsartikel zu aktuellen Themen sammelten und in den Unternehmen kursieren ließen (vgl. Kap. 4.1). Diese zunehmend systematisierte Form der Rezeption der öffentlichen Debatten um die Arbeitszeitsenkung lässt allerdings nicht auf eine klare Informationslage hinsichtlich des Umgang mit der Anforderung schließen, eher belegt sie das Gegenteil: die Notwendigkeit in einer unsicheren Situation Klarheit über die Anforderung und den Umgang mit ihr zu erlangen. Abgesehen von der Forderung nach einer Senkung legten die Debatten kein klares Handlungsspektrum nahe, aus dem sich Kriterien für legitimes Handeln in Sachen Arbeitszeitgestaltung einfach ableiten ließen. Die Situation war aus Sicht der Unternehmen von höchster Brisanz, gleichzeitig war der Verlauf der Arbeitszeitsenkung nicht abzusehen. Im Betrieb mussten in einer Situation Regeln für die Senkung der Arbeitszeiten gefunden werden, in der sich die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Umbruch befand. Die skizzierte Situation ist von zahlreichen Argumentationssträngen gekennzeichnet, die jeweils bewertet und ein Verhältnis zueinander gesetzt werden mussten, bevor eine Entscheidung über den Umgang mit der Arbeitszeitverkürzung gefällt werden konnte. Der Fall Siemens vermag an dieser Stelle noch einmal zu belegen, dass die Handhabung der Arbeitszeitsenkung keiner geplanten, nur noch umzusetzenden Strategie entsprang. Erst mit den zunehmend häufiger auftretenden Konflikten nach der Jahrhundertwende wurde die Frage der Arbeitsverhältnisse bei Siemens überhaupt in einem Maße als Problem wahrgenommen, dass sich die höchsten Hierarchieebenen damit beschäftigten. Nur aufgrund von Konflikten wurde 1904 ein gemeinsamer Betriebsausschuss von S.&H. und SSW gegründet, in dem die Direktoren der Werke und ihre Stellvertreter zusammenkamen, um die Arbeiterpolitik der beiden Gesellschaften zu koordinieren und die Arbeitsverhältnisse zu vereinheitlichen.190 Die zögerliche Neu-Institutionalisierung der Arbeitszeitorganisation im Unternehmen Siemens, in dem 1900, dann wieder 1902 über die Verankerung des Achtstundentags diskutiert wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits seit 12 Jahren Erfahrungen mit verkürzter, durchgehender Arbeitszeit gesammelt wurden, verdeutlicht den Grad der Unsicherheit. Zumal sich das bisherige System interner Aushandlungen der Arbeitszeiten im Falle von Siemens bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als untauglich erwiesen hatte, Konflikte zu verhindern. Die Versuche, Konsens auf der Basis des bisherigen in 188 Vgl.: umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten über die Einführung des Achtstundentages bei Zeiss, in: BACZ 325. 189 Vgl.: Schmidt (1993), S. 192. 190 Vgl.: Kocka (1969), S. 352.
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stitutionellen Rahmens zu erzielen, waren Anfang des 20. Jahrhunderts offensichtlich gescheitert. In einer Situation, in der sich immerhin ein Umbruch der Arbeitsbeziehungen abzeichnete, begannen sich auf lokaler- oder branchenweiter Ebene Lösungen für den Umgang mit der Arbeitszeitfrage zu entwickeln. Nach wie vor wurden verschiedene Varianten parallel erprobt und diskutiert, die Arbeitszeitsenkung zu organisieren. Noch 1905 wollte Duisberg die Senkung der Arbeitszeit bei Bayer ausschließlich auf der Basis innerbetrieblicher Aushandlungen vollzogen wissen.191 Zu diesem Zeitpunkt, als Duisberg den Weg überbetrieblicher Aushandlungen öffentlich noch ausschloss, schlug ihn Siemens bereits pragmatisch ein. 1905 beriet der Betriebsausschuss des Unternehmens über den auf der Hauptversammlung des Verbandes Berliner Metallindustrieller gemachten Vorschlag, eine Schlichtungskommission aus Arbeitgebern und -nehmern einzurichten. Er kam zu dem Schluss, das sei zwar ein erster Schritt zur Anerkennung der Arbeiterorganisationen aber letztlich unvermeidlich. Das Scheitern der bisherigen Aushandlungspraxis gestanden die Mitglieder des Betriebsausschusses offen ein: Die Arbeiterausschüsse hätten in ihrer Vermittlungsfunktion häufig versagt, so dass es nützlich sei, wenn von Seiten der Arbeitgeberverbände mit den Arbeiterorganisationen verhandelt werde.192 Daten über die Entwicklung der tarifvertraglichen Regulierung der Arbeitszeiten liegen erstmals für die Jahre 1903 und 1905 vor. Sie belegen die deutliche Ausweitung dieser Form der Festlegung von Arbeitszeiten. Zwischen 1906 und 1914 stieg die Zahl der tarifgebunden Beschäftigten von rund 380 000 auf 1 400 000, die meisten dieser Tarifverträge enthielten Arbeitszeitregelungen.193 In der Metallindustrie hatte der Deutsche Metallarbeiter-Verband den Arbeitgebern der Branche 1904 vorgeschlagen, mittels eines Abkommens die Arbeitsbedingungen, unter anderem die Arbeitszeiten, einheitlich zu regeln. Ein solches Abkommen konnte zwar nicht erreicht werden, allerdings schlossen immer mehr einzelne Betriebe und Arbeitgeberverbände seit 1905 regionale Tarifverträge ab, vor allem für einzelne Berufsgruppen, insbesondere solche mit handwerklicher Tradition.194 Diese Form der Arbeitszeitregulierung war in der Unternehmerschaft höchst umstritten, auch wenn sich eine Entwicklung in diese Richtung abzeichnete. Selbst Carl Duisberg, der Verhandlungen mit den Gewerkschaften ablehnte, hatte bereits 1900 im Jahresbericht des „Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk“ deutlich gemacht, dass der Zusammenschluss der Arbeiter zu Verbänden den „völligen Umschwung der Verhältnisse“ bedeute, der eine ent 191 Vgl.: Rede Duisbergs auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands am 25.10.1912, in: Duisberg (1923), S. 551–553, hier S. 553. 192 Vgl.: Protokoll der Betriebsausschuss-Sitzung am 11.2.1905, S. 5, in: SAA 4 Lk 14. 193 Vgl.: Scharf (1987), S. 206f; sowie: Aufstellung der Entwicklung von Tarifverträgen des Kaiserlichen statistischen Amtes zwischen 1906 und 1914, in: Ebd. S. 208f. 194 Vgl.: Scharf (1987), S. 292f.
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sprechende Organisation der Arbeitgeber notwendig mache.195 Damit erkannte er die veränderte Situation faktisch an. Auch bei Siemens war die Organisation in Verbänden eine ebenso pragmatische wie unbeliebte Entscheidung gewesen. Durch die Gründung eines „gelben“, also unternehmenseigenen, Unterstützungsvereins im Jahre 1907 sollte der Einfluss gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer möglichst zurückgedrängt werden, den innerbetrieblichen, konsensualen, oder zumindest stabilen, Arbeitsbeziehungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.196 Den Maßstab des Handelns bildete für die Unternehmen Siemens und Bayer nach wie vor das patriarchalische Ideal eines innerbetrieblich zu erreichenden Konsenses. Die Aushandlung von Arbeitszeitstandards auf der Ebene der Verbände entsprach diesem Ideal nicht. Im Notfall mag diese Verhandlungsform für notwendig erachtet worden sein, legitim war sie nicht. Geprägt war die Arbeitszeitpolitik der Unternehmer im Kaiserreich vom Bestreben gewerkschaftliche und politische Regulierungsversuche zu verhindern.197 Einiges spricht dafür, die Ursache hierfür in der patriarchalisch geprägten Deutung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ durch die Unternehmer zu suchen. Die skizzierten Beispiele machen deutlich, dass sich die Unternehmen in Fragen des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung in einer Situation befanden, in der nicht auf der Basis objektiv vorliegender und einfach abzuwägender Informationen eine Entscheidung gefällt werden konnte. Die Pole der Diskussion bewegten sich zwischen genereller Befürwortung eines mit wirtschaftlichen Vorteilen verbundenen Achtstundentages und einer Ablehnung der Senkung aus wirtschaftlichen oder grundsätzlichen politischen Erwägungen. Die Spielräume zur Senkung von Arbeitszeiten, wie sie bei Bayer und Siemens ausgemacht wurden, waren Bestandteil dieser Diskussion, die Art ihrer Nutzung daher höchst kontrovers. Auf dieser Grundlage ließ sich die weitere Entwicklung des Umgangs mit der Arbeitszeitverkürzung nur schwer abschätzen. Ein bestimmbarer Rahmen an legitimen Handlungsmöglichkeiten ging nicht einfach aus der Anforderung hervor, wie die Vielzahl der diskutierten Positionen und der unterschiedliche Umgang von Unternehmen mit der Arbeitszeitsenkung belegen. Gleichwohl zeigt beispielsweise die massive Kritik an der Handhabung der Arbeitszeitsenkung bei Zeiss, dass es innerhalb der Unternehmerschaft durchaus Vorstellungen über legitimes Verhalten gab. Diese gingen allerding nicht aus der Anforderung selbst hervor, sondern waren das Ergebnis einer Interpretation der Situation durch die Unternehmer. Insofern lassen sich die Zielpräferenzen „der“ Arbeitgeber nicht einfach aus ihrer Position ableiten, sondern müssen als Ergebnis eines Interpretationsprozesses verstanden werden, der auch durch die Selbstwahrnehmung der Unternehmer geprägt war. Entscheidend für die Frage nach der Relevanz der Ordnungsvorstellungen für diese Selbstwahrnehmung und damit den Interpretationsprozess ist der Umstand, 195 Bericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk für das Jahr 1900, in: Duisberg (1923), S. 756–765, hier S. 757. 196 Vgl.: Kocka (1969), S. 357f u. S. 361. 197 Vgl.: Promberger (2005), S. 19.
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dass diese in einer Situation erfolgen musste, deren Ausgang für die Arbeitszeitgestaltung und die Stellung der Unternehmer in den Arbeitsbeziehungen nur als unsicher bezeichnet werden kann. In diesem Kontext konnte die patriarchalische Ordnungsvorstellung Orientierung bieten, indem sie die legitimen Akteure für eine Aushandlung nahelegte und damit das Spektrum der möglichen Handlungsoptionen deutlich einschränkte. Die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ in der Bundesrepublik: eine klare Sache? Schon in formal-institutioneller Hinsicht unterschied sich die Situation, im Rahmen derer in der Bundesrepublik Arbeitszeiten zu senken waren, deutlich vom Kaiserreich. Über Tarifvertragsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz war der Rahmen für die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen bereits abgesteckt, als Mitte der 1950er Jahre die Frage der Arbeitszeitsenkung an Virulenz gewann. Allerdings verführt der Vergleich mit dem Kaiserreich leicht zu der Annahme, die Unsicherheit über den Umgang mit den Anforderungen müsse daher geringer, die Arbeitszeitsenkung dadurch erleichtert gewesen sein. Es wäre jedoch verfrüht, von einem in der Ex-post-Perspektive funktionierenden System der Arbeitsbeziehungen auf dessen von vorneherein feststehende Wirkung rückzuschließen und die Akteure und deren Wahrnehmung der Situation zu vernachlässigen. Auch in der Bundesrepublik der 1950er Jahre gilt es den Blick auf die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Selbstdeutungen der Akteure zu richten, vor deren Hintergrund die Bereitschaft zur Partizipation am politisch gesetzten Rahmen erst zu erklären ist. Zumal auch in diesem Fall eine dem Kaiserreich vergleichbare, doppelte Unsicherheit konstatiert werden muss: sowohl hinsichtlich der Stabilität der politischen und marktwirtschaftlichen Ordnung, als auch der Möglichkeiten des Umgangs mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken. Angesichts der wirtschaftlichen „Erfolgsgeschichte“ der frühen Bundesrepublik wird ex post häufig kaum mehr thematisiert, dass Anfang der 1950er Jahre die spätere Stabilität der Arbeitsbeziehungen und die Durchsetzung der marktwirtschaftlichen Ordnung keineswegs abzusehen war. Noch 1950/51 hatte sich die Frage der Mitbestimmung beziehungsweise das Betriebsverfassungsgesetz zu einer Krise der Beziehungen zwischen Industrie und DGB ausgewachsen.198 Ein offener Machtkampf, auch mit den Mitteln des Streiks, schien nicht ausgeschlossen. Erst 1951 konnte die Situation entschärft werden, indem die paritätische Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Betrieben durch eine Sonderregelung für den Bergbau, das Gesetz der Montanmitbestimmung, aus der Diskussion um das Tarifvertragsgesetz ausgeklammert wurde.199 Eine „partnerschaftliche“ Haltung der Verbände schien zu Beginn der 1950er Jahre unsicher, die Bedingungen der Arbeitsbeziehungen mussten zunächst ausgehandelt werden. Auch die Akzeptanz 198 Vgl.: Berghahn (1985), S. 216. 199 Vgl.: Ebd. S. 222f.
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der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik schien noch nicht in zuverlässigem Maße gesichert. Die Korea-Krise untergrub das Vertrauen der Bürger in die Marktwirtschaft. Meinungsumfragen ergaben, dass die Bundesbürger der Marktwirtschaft misstrauten und die Rolle der Industrie in der Gesellschaft eher kritisch bewerteten. Ein sozialistischer Regierungswechsel bei den Bundestagswahlen 1953 schien eine reale „Bedrohung“. Infolgedessen warben unternehmernahe Organisationen wie die „Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947 e.V.“, die „Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“ oder „Die Waage. Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e.V.“ für die von Ludwig Erhard populär gemachte „Soziale Marktwirtschaft“.200 Die 1952 gegründete „Waage“ widmete ihre erste Kampagne im selben Jahr der „Aufklärung über die Erfolge der Marktwirtschaft“, in der die Mangelzeit der Nachkriegsbewirtschaftung der raschen Verbesserung der Versorgung durch den freien Markt gegenübergestellt wurde.201 Zum Verständnis dieser Wahrnehmung innerhalb der Unternehmerschaft sollte auch berücksichtigt werden, dass DGB und SPD Anfang der 1950er Jahre die Verbindung von Kapitalismus und Demokratie – zumindest auf programmatischer Ebene – für unvereinbar hielten. Beide forderten eine Sozialisierung der Schlüsselindustrien, staatliche Wirtschaftslenkung und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Erst 1959 gab die SPD im Godesberger Programm offiziell die Opposition gegen die kapitalistische Marktwirtschaft auf, die Gewerkschaften nahmen 1963 im Düsseldorfer Programm Abstand von der Gegnerschaft zum „Kapital“ und formulierten ein neues Selbstverständnis als Tarifpartner innerhalb der Marktwirtschaft.202 Zum Zeitpunkt dieser programmatischen Neuorientierung hatten SPD und Gewerkschaften freilich ihre konstruktive Mitarbeit an der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik bereits unter Beweis gestellt. Bestes Beispiel ist das 1955 vorgestellte Aktionsprogramm des DGB für die 40-Stunden-Woche, das mit seiner allgemeinen Forderung nach Einführung einer 5-Tage-Woche bei achtstündiger Arbeitszeit für eine pragmatische Neuorientierung der Gewerkschaften an realistischen Zielen stand. Zumal die Gewerkschaften Gründe hatten, ihre Forderung mit Zurückhaltung zu vertreten, sollte doch dem Konsumbedürfnis der Beschäftigten Rechnung getragen werden, das mit einem Interesse an den häufig geleisteten Überstunden einherging.203 Das Konfliktpotenzial der Verhandlungen war daher im Vergleich zum Kaiserreich deutlich geringer einzustufen. Es war allerdings keineswegs ausgemacht, dass mit dem Weg tarifvertraglicher Senkungen die Senkungen weiter konfliktlos und in 200 Vgl.: Spicka (2007), S. 108f. 201 Vgl.: Greiß (1972), S. 98f. Greiß war Vorsitzender der „Waage“, Mitglied der BDA und des geschäftsführenden Vorstandes des Wirtschaftsrates der CDU. Finanziert wurde die Waage u.a. von Arbeitgeberverbänden; auch Fritz Jacobi, Personalleiter bei Bayer, setzte sich für den Verein ein. Vgl.: Ebd. S. 97. 202 Vgl.: Angster (2001), S. 43. 203 Vgl.: Freese (1993), S. 80f.
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einem aus Unternehmersicht angemessenen Zeitrahmen erfolgen würden. Auch die Tarifverträge wurden durchaus „erkämpft“. Bereits 1957 kündigte die IG Metall in Württemberg, Hessen und Bremen den Tarifvertrag und forderte neben Lohnerhöhungen weitere Senkungen auf 44 Wochenstunden. Diese Verhandlungen wurden zumindest in der Presse als durchaus angespannte Situation dargestellt, in der nicht klar sein konnte, ob es zum Streik kommen würde.204 Konfliktpotenzial blieb also ein Unsicherheitsfaktor, spielte aber im Vergleich zum Kaiserreich eine deutlich geringere Rolle. Weshalb also die Sorge um die Zukunft der marktwirtschaftlichen Ordnung? Zu erklären ist die auf Seiten der Unternehmer so präsente Sorge um das Gelingen der Marktwirtschaft und die politische Stabilität, wie sie sich im Engagement zahlreicher Organisationen und Arbeitgeberverbände, insbesondere der BDA, für eine „soziale“ Marktwirtschaft ausdrückt, auch vor dem Hintergrund des sich anbahnenden Systemkonflikts und der Erfahrung der Weimarer Republik. Seine Mitgliederversammlung stellte die BDA 1951 daher unter das Motto des „sozialen Friedens“. Damit sei eine entscheidende Frage angesprochen, betonte der Vorsitzende Walter Raymond in der Eröffnung seiner Rede: „Denn wir wissen, daß ohne den sozialen Frieden der Zusammenhang des Bundesgebietes mit dem westlichen Kulturkreis verloren gehen muß. Wir wissen also, daß die entscheidende Voraussetzung für unsere Zugehörigkeit zum Westen die Erhaltung des sozialen Friedens ist. Ständig bedroht ist diese Voraussetzung durch das strategische Ziel des Kreml [...].“205
Abhängig war der soziale Frieden nach Raymond darüber hinaus vom wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik und der Beilegung des politischen Streits.206 Auch in ihrem Grundsatzprogramm, den „Gedanken zur sozialen Ordnung“, warnte die BDA im Vorfeld der Bundestagswahl 1953 eindrücklich vor der Bedrohung durch den Kommunismus. Deutschland befand sich demzufolge mitten im „Ringen um die soziale Ordnung“ in dem die (soziale) Marktwirtschaft dem Kommunismus und Sozialismus gegenüberstand.207 Mit der „sozialen Marktwirtschaft“, wie sie in der Bundesrepublik geschaffen wurde, sei jedoch „die Grundlage zu einer besseren Sozialordnung in friedlicher Gemeinschaft gelegt.“208 Auf dieser Grundlage „verstummt die Irrlehre des bolschewistischen Kommunismus [...] verblaßt der Mythos des Sozialismus und des Klassenkampfes.“209 Damit knüpfte die BDA an das Gelingen dieser „sozialen“ Ordnung der Wirtschaft letztlich das Gelingen der gesamten wirtschaftlichen und sogar politischen Ordnung. Ebenso bewertete die BDA die Ergebnisse der Bundestagswahl, die gezeigt hät 204 Vgl.: Artikel „44 oder 45 Stunden?“, ohne Autor, in: Der Spiegel, Nr. 44, 1957. 205 Raymond, Walter: „im Dienste des Sozialen Friedens“; Rede von Walter Raymond auf der Mitgliederversammlung des BDA 1951, abgedruckt in: Der Arbeitgeber, Nr. 24, 1951, S. 26– 29, hier: S. 26. 206 Vgl.: Ebd. 207 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § I., S. 3f. 208 Ebd. § I., S. 15. 209 Ebd. § I., S. 16.
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ten, dass die Mehrheit der Bevölkerung „des Klassenkampfes müde“ sei. Daraus erwachse jedoch auch den Unternehmern eine sozialpolitische Verpflichtung, das Vertrauen der Bevölkerung in die gegenwärtige soziale Ordnung auch in den kommenden Jahren zu rechtfertigen.210 Die Drastik, mit der die BDA diese Situation in den „Gedanken zur sozialen Ordnung“ als eine historische „Zeitenwende“ heraufbeschwor, mag überzeichnet erscheinen.211 Allerdings belegen die zahlreichen von der Arbeitgeberseite unterstützten Organisationen welche die Soziale Marktwirtschaft bewarben, dass es sich hierbei um eine von den Zeitgenossen durchaus ernst genommene Unsicherheit handelte. In besonderer Weise verstärkt wurde diese Unsicherheit durch die Erfahrungen der Weimarer Republik. Zahlreiche Unternehmer der Bundesrepublik waren zu jener Zeit sozialisiert worden – darunter auch Hans Constantin Paulssen, der spätere Präsident der BDA, der nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in den 1920er Jahren so vehement für das Gelingen einer sozialpartnerschaftlichen Ordnung warb. Paulssen wurde nicht müde zu betonen, dass dem Verhältnis von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche und politische Stabilität der Bundesrepublik zukam. Die Sorge Paulssens, die Demokratie könne erneut an einem derartigen Konflikt von gesellschaftlicher Dimension zerbrechen, war eine weit verbreitete Furcht.212 Auch Sozialexperten wie Josef Winschuh begründeten mit dem expliziten Verweis auf die zerrütteten Arbeitsbeziehungen der Weimarer Republik die Notwendigkeit einer systematischen betrieblichen Sozialpolitik.213 Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung einer Eskalation der Arbeitsbeziehungen und der Unsicherheit über das Bestehen der marktwirtschaftlichen Ordnung in der Systemkonkurrenz wird deutlich, welche besondere Bedeutung der Frage der sozialen Integration in der frühen Bundesrepublik zukam – zu der auch die erfolgreiche Senkung der Arbeitszeiten gehörte. Welche Rolle den Unternehmern in diesem Prozess der Arbeitszeitsenkung zukommen würde, stand zu Beginn der 1950er Jahre keineswegs fest. Erst als die sehr unterschiedlich rasch voranschreitenden Arbeitszeitsenkungen auf der Basis einzelbetrieblicher Regelungen einen verlustreichen Wettbewerb befürchten ließen, befürworteten die Arbeitgeberverbände seit 1955 die überbetriebliche, tarifvertraglich regulierte Senkung der Arbeitszeiten.214 Durch die Festlegung auf eine tarifvertragliche Lösung war auch die aufgrund der politischen Machtverhältnisse ohnehin wenig wahrscheinliche Möglichkeit einer politischen beziehungsweise gesetzlichen Gestaltung der Arbeitszeiten keine reale Option mehr. Politische Ini 210 Gesamtüberblick aus dem Jahresbericht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, erstattet auf ihrer Mitgliederversammlung am 26.10.1953, S. 15, in: SAA 11127–4. 211 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § I., S. 3. 212 Vgl.: Rauh-Kühne (1999), S. 185. Die Sorge um die Rückkehr „Weimarer Verhältnisse“ war auch ein fester Bestandteil der Diskussionen um die künftige Wirtschaftspolitik Anfang der 1950er Jahre. Vgl.: Ullrich (2009), S. 336ff. 213 Vgl.: Winschuh (1954), S. 7ff. 214 Vgl.: Hinrichs (1988), S. 125.
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tiativen waren jedoch geeignet, die Dynamik der Debatten zu beeinflussen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass die Denkschrift, mit welcher der Berliner Senator Kreil 1954 für die Arbeitszeitsenkung warb, für immerhin soviel Aufsehen sorgte, dass der Arbeitgeberverband der Berliner Metallindustrie die Schrift und eine eigene Stellungnahme dazu bereits zwei Tage nach dem Erscheinen direkt an alle Mitgliedsfirmen verschickte.215 Im Zuge dessen verwies der Verband auch darauf, dass das Bundeswirtschaftsministerium eine andere Haltung vertrete.216 Kreil wiederum berief sich auf den Arbeitsminister Baden-Württembergs, Erwin Hohlwegler (SPD), der bereits seit 1953 die Umsetzung der 5-Tage-Woche in seinem Bundesland unterstütze.217 Dessen Initiative für die 5-Tage-Woche wurde auch bei Bayer wahrgenommen, Informationen darüber wurden direkt an den Vorstandsvorsitzenden Haberland weitergeleitet.218 Derartige politische Initiativen konnten die Handlungsspielräume der Arbeitgeber einschränken und wurden daher sehr sensibel aufgenommen. Zumindest konnte sich die Arbeitgeberseite auf den Umstand verlassen, dass das Bundeswirtschaftsministerium einer raschen Senkung der Arbeitszeiten kritisch gegenüberstand. Noch 1956 wurde Ludwig Erhard von den Gewerkschaften kritisiert, sich mit Appellen zum Erhalt der wirtschaftlichen Stabilität in die Tarifverhandlungen einzumischen.219 Die Sorge des Bundeswirtschaftsministeriums galt der Preisstabilität und dem Wirtschaftswachstum, die es durch die anstehenden Senkungen gefährdet sah.220 Auch auf politischer Seite hatte die Arbeitszeitsenkung also Befürworter und Gegner. Entsprechend widersprüchlich und wenig konkret waren die politischen Signale. Gleiches galt für die Unternehmerschaft, innerhalb derer der Umgang mit der Anforderung der Arbeitszeitsenkung ebenfalls höchst kontrovers diskutiert wurde. Bereits im Vorfeld der Tarifverhandlungen von 1955 war die Diskussion über die Arbeitszeitverkürzung geprägt vom Bemühen der Arbeitgeberseite, grundsätzliche Bereitschaft zu einer Senkung zu signalisieren. Innerhalb der Unternehmerschaft bestand jedoch keine Einigkeit über das Ausmaß und den Zeitraum, in dem Senkungen vorgenommen werden sollten. Auf einem Seminar der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft e.V.“ im Jahre 1955 betonte der Vertreter der BDA, Spiegelhalter, die 40-Stunden-Woche sei ein Ziel, „das heute wohl von jedem als erstrebenswert anerkannt wird.“221 Ein Artikel, der in „Die Zeit“ über die oben erwähnten Tagungen erschien, betonte diese konsensuale Haltung noch. Er 215 Vgl.: Begleitschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 18.9.1954, in: SAA 11127–4. 216 Vgl.: Rundschreiben M 29/54 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 20.4.1954, in: SAA 11127–4. 217 Vgl.: Denkschrift „Probleme der Fünftagewoche“ vom 16.9.1954, S. 2, in: SAA 11127–4. 218 Vgl.: Schreiben der Abt. Pharma-Betriebe an Haberland vom 22.4.1954, in: BAL 215/11. 219 Vgl.: Artikel „Erhard diskutiert die Arbeitszeitverkürzung“, ohne Autor, in: FAZ, 9.6.1956, S. 7. 220 Vgl.: Artikel „Die Arbeitszeitverkürzung beeinträchtigt die Produktion“, ohne Autor, in: FAZ, 27.11.1956, S. 11. 221 Spiegelhalter (1955), S. 164.
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stellte die im Kontext der Veranstaltung geäußerte Forderung des Generaldirektors der Duisburger Kupferhütte, Ernst Kuss, nach einem „radikalen Umschalten“ auf die 40-Stunden-Woche, ausgerechnet dem Plädoyer des Leiters der volkswirtschaftlichen Abteilung des DGB in Hamburg, Gerhard Kroebel, entgegen, der sich für eine schrittweise Senkung der Arbeitszeit auf 40 Stunden aussprach.222 Öffentlich war die positive Haltung der Arbeitgeberseite zur Arbeitszeitsenkung im Vorfeld der anstehenden Verhandlungen zwischen den Spitzenverbänden BDA und DGB zwar sehr präsent; nicht zuletzt durch die Arbeit der BDA und Organisationen wie der „Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“. Gerade die Aussage von Kuss markiert jedoch eine extreme Position in einer durchaus sehr kontroversen Debatte innerhalb der Unternehmerschaft. 1956 mussten die Gespräche zwischen BDA und DGB um eine Arbeitszeitsenkung nicht zuletzt deshalb abgebrochen werden, weil es der BDA nicht gelang, Einigkeit unter den Mitgliederverbänden herzustellen. Das auf branchenebene geschlossene Bremer Abkommen kritisierte die BDA als „vorpreschen“ der Metallindustrie.223 Ein Artikel in der FAZ, der am selben Tag wie der Zeit-Artikel erschien, fasste die Situation 1955 prägnant zusammen: „Auch auf der Seite der Unternehmer gibt es bislang keine einheitliche Stellungnahme zu den Forderungen auf Arbeitszeitverkürzung. Zum Teil werden sie einfach als indiskutabel erklärt, zum Teil will man sich mit den Gewerkschaften darüber unterhalten, um überstürzte Aktionen zu vermeiden.“224
Es zeichnete sich also auch noch 1955 keineswegs ein bestimmter Umgang mit der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ ab. Ein Hinweis auf die herrschende Unsicherheit gibt auch die Art, wie die Debatte um die 5-Tage-Woche geführt wurde. Sie ist geprägt vom Bemühen um eine rhetorische Trennung von 5-Tage-Woche und 40-Stunden-Woche. So schrieb beispielsweise Herbert Gross in seinem „Beratungsbrief“ zur 5-Tage-Woche: „Die Fünftagewoche ist nicht das Gleiche wie die Vierzigstundenwoche.“225 Kaum eine Stellungnahme von Verbänden oder Unternehmern zur 5-Tage-Woche kam ohne diesen Passus aus. Diese Unterscheidung war vor allem rhetorischer Art. Allen Beteiligten war klar, dass eine Vertei 222 Artikel „Keine 40-Stunden-Gleichmacherei“, ohne Autor, in: Die Zeit, Nr. 21, 26.5.1955, in: BAL 215/11.4. Kuss hatte bereits im Zuge der Mitbestimmungsdiskussion Aufsehen erregt, da er den Betriebsratsvorsitzenden 1948 zum Mitglied der Geschäftsleitung ernannt hatte. Direktionsassistent von Ernst Kuss war in der Nachkriegszeit Fritz Jacobi, später Leiter des sozialpartnerschaftlich orientierten Personal- und Sozialwesens bei Bayer. Vgl.: Rosenberger (2007), S. 250f. 223 Kevelaer / Hinrichs (1985), S. 65. 224 Vetter, Ernst Günter: Sind vierzig Stunden genug?, in: FAZ, 26.5.1955, S. 11. Ernst Günter Vetter war ein Schüler des ordoliberalen Walter Eucken und Wirtschaftsredakteur der FAZ, die zu jener Zeit klar für die Politik Ludwig Erhards Partei ergriff. Vgl. dazu: Löffler (2002), S. 273f. 225 Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e.V.“ vom 8.10.1954, in: BAL 215/11.4. Zugrunde liegt dem Beratungsbrief ein von Herbert Gross auf dem Betriebswirtschaftlertag am 28.9.1954 gehaltener Vortrag.
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lung der Wochenarbeitszeit auf fünf Tage letztlich auf fünf achtstündige Arbeitstage hinauslaufen würde (vgl. Kap. 3.2). Aber die 5-Tage-Woche zu bejahen bot die Möglichkeit, der Forderung nach einer Senkung der Arbeitszeiten entgegenzukommen, gleichzeitig jedoch die Festsetzung eines konkreten Umfangs oder Zeitraumes der Senkung zu vermeiden. Selbst innerhalb derselben Branche war das Vorgehen der Konkurrenten nur schwer abzusehen, gestalteten sich Absprachen schwierig. Der Personalleiter von Bayer, Fritz Jacobi, beschwerte sich 1955 beim Generaldirektor von Hoechst, Karl Winnacker, über eine mit Bayer nicht abgesprochene Senkung der Arbeitszeiten von 48 auf 45 Stunden bei fünftägiger Arbeitswoche.226 Jacobi beklagte insbesondere, nicht direkt über die bevorstehende Senkung informiert worden zu sein, erst aus der „Farbenpost“ habe er von den Verhandlungen erfahren. Die Senkung bei Hoechst war Gegenstand der Diskussion auf einer gemeinsamen Konferenz der Sozialabteilungsleiter gewesen, auf der überwiegend Bedenken gegen diese Senkung geäußert wurden. Damit bestand zwar ein Gremium, das für Absprachen genutzt werden konnte, Jacobi hatte jedoch erst einen Tag nach der Konferenz erfahren, dass Hoechst bereits einen Tag vor dem Treffen am 28.9.1955 die Betriebsvereinbarung unterzeichnet hatte.227 Diese Senkung bei Hoechst setzte Bayer unter Druck. Auch die BASF hatte die in der unmittelbaren Nachkriegszeit reduzierte Arbeitswoche nicht wieder auf sechs Tage erhöht, arbeitete also bereits in regelmäßiger 5-Tage-Woche. Bereits Ende 1954 verschärfte der BayerBetriebsrat die Forderung nach der 40-Stunden-Woche, indem er in der Presse die Stagnation der Verhandlungen mit dem Vorstandsvorsitzenden Ulrich Haberland beklagte.228 Wie ernst die Firmenleitung diese Situation nahm, belegt eine Gegendarstellung, die Jacobi der Bayer-Werkszeitschrift beilegte und die in der Presse als ein Entgegenkommen der Firmenleitung interpretiert beziehungsweise umgedeutet wurde.229 Darüber hinaus ließ die IG Chemie–Papier–Keramik 1955 Beitrittserklärungen mit der Überschrift verteilen: „Was die Farbwerke Hoechst können, müßte auch bei Bayer möglich sein: Den ersten Schritt zur Verwirklichung der 40-Stunden-Woche zu tun!“230 Das Beispiel macht deutlich, wie wenig einheitlich und wie kontrovers Zeitpunkt und Umsetzung der Arbeitszeitsenkung auch innerhalb derselben Branche waren. Der Wettbewerb um sinkende Arbeitszeiten 226 Vgl. zum Umfang der Senkungen bei Hoechst die entsprechende Hoechster Betriebsvereinbarung vom 27.9.1955, in: BAL 215/11. 227 Vgl.: Schreiben Jacobis an Winnacker vom 3.10.1955, in: BAL 215/11.4. Die Betriebsvereinbarung ist bereits auf den 27.9. datiert, wurde also vor dem Treffen der Sozialabteilungsleiter geschlossen. Aus dem Schreiben geht jedoch hervor, dass Jacobi erst einen Tag später davon erfuhr. 228 Vgl.: Artikel „Bayer-Betriebsrat wünscht die 40-Stunden-Woche bald“, ohne Autor, in: Neue Rhein Zeitung, Nr. 283, 4.12.1954, in: BAL 215/11.4. 229 Vgl.: Artikel „Auch Werksleitung der Farbenfabriken Bayer will die 40-Stunden-Woche“, ohne Autor, in: Neue Rhein Zeitung, Nr. 302, 28.12.1954, in: BAL 215/11.4. 230 Beitrittserklärung der IG Chemie–Papier–Keramik, Eingangsstempel vom 21.10.1955, in: BAL 215/11.
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war in vollem Gange und drohte die Gestaltungsspielräume der Unternehmen stark einzuschränken. Ein gemeinsames Vorgehen der Unternehmen war nur schwer abzustimmen und vorherzusehen. Insbesondere in der Phase zwischen der erstmaligen Forderung der Gewerkschaften nach der 40-Stunden-Woche im Jahre 1952 und dem Abschluss des ersten Flächentarifvertrags 1956 musste die Unternehmerschaft zunächst eine Haltung zur Arbeitszeitsenkung finden. Zum Zeitpunkt der Verhandlungen um das Bremer Abkommen 1956 hatte die Debatte bereits an Schärfe verloren. Einem Bericht der Gewerkschaftlichen Monatshefte zufolge war der „Sturm der Entrüstung“, der auf die Forderungen der Gewerkschaften nach einer 40-Stunden-Woche 1952 folgte, bereits Anfang 1955 einer grundsätzlichen Befürwortung gewichen, die nun auch von Politikern und Unternehmern mitgetragen wurde.231 Die Debatte der Jahre 1955/ 56 kann daher als ein Kristallisationspunkt der Situationsdeutung innerhalb der Unternehmerschaft gelten. Eine positive Haltung gegenüber der Arbeitszeitsenkung dominierte seither die Diskussion, eine Entscheidung über die Art der Verhandlungen war mit dem Beginn der Tarifverhandlungen getroffen. Die bis dahin geführten Auseinandersetzungen belegen jedoch, dass die Handhabung der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, nicht aus ihr selbst hervorging, sondern Ergebnis eines Aushandlungsprozesses innerhalb der Unternehmerschaft war. Das legitime Verhalten im Umgang mit der Anforderung stand nicht fest, verschiedene Handlungsoptionen wurden diskutiert beziehungsweise erprobt, erst 1955/56 bildete sich ein Korridor legitimer Handlungsmöglichkeiten heraus. Die in diesem Kapitel skizzierten Dynamiken des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung lassen sich nicht einfach aus der Arbeitgeberposition ableiten. Die Diskussionen um die Arbeitszeitfrage, in denen die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ zum Ausdruck kam, waren keineswegs geeignet ein klares Bild über die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Anforderung zu zeichnen, in dem Handlungsspielräume und -möglichkeiten offen gelegen hätten. Angesichts der in den Unternehmen sowohl im Kaiserreich als auch in der Bundesrepublik herrschenden Unsicherheit über den Umgang mit der Anforderung der Arbeitszeitsenkung kann in diesen Fällen kaum von institutionellen Anforderungen gesprochen werden. Legitime Handlungsoptionen standen nicht von vorneherein fest, sondern waren das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses innerhalb der Unternehmerschaft, welche die Anforderungen, die die Situation an sie stellte, zunächst zu deuten hatte. Diese Interpretationsbedürftigkeit der Situation lässt es gerechtfertigt erscheinen, der Selbstwahrnehmung der Unternehmerschaft erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Die Rolle der Ordnungsvorstellungen für diesen Interpretationsprozess gilt es daher im Folgenden zu bestimmen. Sie konnten in der skizzierten Situation der Unsicherheit Orientierung stiften, indem ihre jeweiligen Legitimitäts-Annahmen den Raum des möglichen Umgangs mit den Anforderungen bereits auf ein bestimmtes Handlungsspektrum einschränkten. 231 Schayer, Konrad: Zur Problematik der 40-Stunden-Woche, in: Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 1, 1955, S. 17–23, hier: S. 17.
4. DEUTUNGEN DER „ARBEITSZEITFRAGE“ IM ZEICHEN VON PATRIARCHALISMUS UND SOZIALPARTNERSCHAFT Die Unternehmen Bayer und Siemens befanden sich in beiden Untersuchungszeiträumen in einer unsicheren Situation. War die Frage der Arbeitszeitgestaltung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert verknüpft mit einer sich abzeichnenden Neuformation der Arbeitsbeziehungen, so stand sie in den 1950er Jahren im Kontext des sich anbahnenden Systemkonflikts, der die Stabilität der politischen beziehungsweise der marktwirtschaftlichen Ordnung zu gefährden schien. In beiden Situationen war zwar die Arbeitszeitsenkung eine Anforderung, die nicht in Frage stand. Allerdings war mit der Anforderung allein noch nicht deren Handhabung festgelegt, die jeweils legitimen Pfade des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung verdichteten sich erst mit der Zeit im Zuge eines Deutungsprozesses. Die Wahrnehmung und Bewertung der jeweiligen Situation war ein maßgeblicher Faktor für die in Betracht gezogenen Möglichkeiten des Umgangs mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken. Es kann daher keine Rede von einer bereits institutionalisierten Umweltanforderung sein, deren Handhabung sich von vorneherein auf klar bestimmbare Optionen eingrenzen ließ. Schließlich ist es das zentrale Merkmal einer Regel, dass der Umgang mit ihr festgelegt ist, sei es indem dieser durch Sanktionen geschützt ist oder durch Zuschreibungen von Legitimität eingegrenzt. Eine solche institutionelle Rahmung ging mit der Anforderung Arbeitszeiten zu senken nicht einher, vielmehr standen die Unternehmen Siemens und Bayer in beiden Untersuchungszeiträumen zunächst vor der Aufgabe, die Anforderung zu deuten, sie in mögliche Handlungsoptionen zu übersetzen. Dieser Prozess einer Identifikation der Anforderung fand nicht allein innerhalb der Unternehmen statt, sondern vollzog sich mittels eines intensiven Austauschs innerhalb der Unternehmerschaft, sei es über Korrespondenzen, in Gremien oder bei Verbandstreffen, in der Verbandspresse oder in unternehmernahen Zeitungen. Erst innerhalb dieses Kommunikationsprozesses wurde das legitime Verhalten für den Umgang mit der Arbeitszeitverkürzung festgelegt. In dem so konstituierten Issue-Feld erfolgte eine Institutionalisierung der Anforderung insofern, als ein legitimes Handlungsspektrum ausgehandelt wurde, ein Möglichkeitsraum für den Umgang mit der Arbeitszeitsenkung. In ihrer Eigenschaft als Orientierung stiftende Wissensordnungen prägten Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft diesen Prozess der Identifikation und Institutionalisierung der Anforderung, indem sie ein bestimmtes Spektrum an legitimen Handlungsmöglichkeiten bereits nahe legten.
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4.1 DIE UNTERNEHMEN SIEMENS UND BAYER ALS TEIL EINER DEUTUNGSGEMEINSCHAFT Der angedeutete Kommunikationsprozess, innerhalb dessen die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ eine nähere Bestimmung fand, wird im Neo-Institutionalismus als Issue-Feld konzeptionell gefasst. Zu einem solchen Issue-Feld können alle Akteure gezählt werden, die sich an der Definition des Themas „Arbeitszeitsenkung“ beteiligten.1 In diesem Fall ergibt sich aus der Fragestellung eine weitere Einschränkung des Feldes auf diejenigen Akteure, die sich auf Seiten der Unternehmerschaft an der Deutung der Arbeitszeitfrage beteiligten, beispielsweise Mitglieder von Unternehmensleitungen, von Verbänden oder anderen unternehmernahen Organisationen. Die Unternehmen Siemens und Bayer innerhalb dieses Issue-Feldes zu verorten, bedeutet demnach ihre Kommunikationsbeziehungen zu analysieren. So kann der Deutungskontext rekonstruiert werden, in dem sie sich bewegten. Dabei gilt es zu fragen, welche Informationen im Feld verfügbar waren, mit welchen Medien und in welchen Foren sie transportiert wurden und von welchen Akteuren die Deutung getragen wurde. Kurz: Nach welchen Mechanismen die Rezeption und Bewertung der Anforderung im Feld funktionierte. Die unterschiedliche Branche der Unternehmen ist dabei nicht von Bedeutung. Kontroverse Themen bestimmen die Zusammensetzung eines Issue-Feldes, die Verbindungen zwischen Organisationen entstehen lassen können, die zuvor nicht bestanden.2 Dies war im Falle der Diskussionen über die Arbeitszeitsenkung in beiden Untersuchungszeiträumen zweifelsohne der Fall, ging es doch darum, über Branchengrenzen hinweg zu einer grundsätzlichen Einschätzung ihrer Handhabung zu kommen. Zu diesem Zweck standen die Akteure des Feldes in direkten Kommunikationsbeziehungen oder rezipierten das Agieren anderer Akteure, beispielsweise mittels der Presse. Dieses Moment der gegenseitigen Beobachtung in Sachen Arbeitszeitgestaltung, das einen wichtigen Bestandteil der Konstitution eines Issue-Feldes darstellt, ist in beiden Untersuchungszeiträumen sehr deutlich. Konstitution des Issue-Feldes: Rezeptions- und Kommunikationsbeziehungen im Kaiserreich Die im Feld verfügbaren Informationen über die Arbeitszeitgestaltung einzelner Unternehmen waren teilweise höchst detailliert. Als Bayer 1905 die Arbeitszeiten auf neun Stunden senkte, vermeldeten das die Lokalzeitungen, auf die sich wiederum die Fach- beziehungsweise Verbandspresse bezog. So konnte die „Soziale Praxis“ unter Verweis auf die Lokalpresse gar den Maueranschlag zitieren, mit 1 2
Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 74. Vgl.: Ebd.
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dem die Senkung verkündet worden war.3 Derartige Informationen wurden teilweise auch von den Unternehmen an die Presse weitergegeben, beispielsweise um ihre Haltung zu einem Konflikt öffentlich zu machen und auf diese Weise Einfluss auf die (lokalen) öffentlichen Debatten zu nehmen. Besonders deutlich wird das im Falle der Stettiner „Maschinenbau-Actien-Gesellschaft Vulkan“. Anlässlich eines Streiks um Überstunden fanden nicht nur die an die Arbeiterschaft gerichteten Bekanntmachungen ihren Weg in die Presse.4 Die Firmenleitung veröffentlichte per Flugblatt und Anschlag auch den mit der Belegschaft geführten Schriftwechsel, um deren Forderungen zu desavouieren.5 Parallel versorgte sie ihr Aufsichtsratsmitglied Emil Rathenau mit detaillierten Informationen über jeden dieser Schritte. So erreichten Rathenau Schreiben, „welche wir an die Redaktion des Stettiner ‚Volksboten‘ bezw. [sic] des ‚Berliner Tagblatt‘ gerichtet und deren Abdruck wir in den Stettiner Zeitungen veranlasst haben. [...] Gleichzeitig fügen wir abschriftlich einen mit der Arbeiterschaft geführten Briefwechsel bei [...].“6
Das Beispiel zeigt, wie dicht verschiedene Ebenen der Kommunikation um die Arbeitszeitfrage verbunden waren. Über lokale wie überregionale Presse aber auch direkte Beziehungen war das Handeln von Unternehmen einer Feldöffentlichkeit ständig gegenwärtig. Das galt in besonderem Maße für symbolisch aufgeladene Arbeitszeitregelungen wie den Achtstundentag oder Unternehmen, die sich in Fragen der Arbeitszeitgestaltung in besonderer Weise exponiert hatten, wie etwa im Falle von Zeiss (vgl. Kap. 3.4). Über das Vorgehen eines Unternehmens in Sachen Arbeitszeitgestaltung lagen aber auch in weniger öffentlichkeitswirksamen Fällen aktuelle und umfangreiche Informationen vor, wozu vor allem die systematische Rezeption der Presseberichterstattung beitrug. Bei Siemens und Bayer waren eigene Abteilungen dafür zuständig, Zeitungsmeldungen zu sammeln und weiterzuleiten. Das Nachrichten-Bureau bei Bayer lieferte Informationen von beachtlicher Dichte und Aktualität. In einer Aufgabenbeschreibung für die kaufmännischen Beamten heißt es 1911 über die Aufgaben des „Bureaus“: „Das Nachrichten-Bureau übermittelt sowohl täglich mehrmals als auch in Form einer monatlichen Zusammenstellung (Bemerkenswertes) an die Abteilung alle Nachrichten, welche auf den genannten Gebieten für sie von Interesse sind.“7 Das Nachrichten-Bureau rezipierte auch Presseberichte über die Handhabung der Ar-
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Vgl.: Artikel „Neunstündige Arbeitszeit in einem chemischen Großbetriebe“, ohne Autor, in: Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik, Nr. 7, 1905, S. 168–169. Vgl.: Bekanntmachung vom 17.7.1908; sowie: Bericht darüber in der Ostsee-Zeitung vom 18.7.1908; jew. in: SDTB, HA, 1.2.060 A 00838. Vgl.: Schreiben von Vulkan an Emil Rathenau vom 24.7.1908, in: SDTB, HA, 1.2.060 A 00838. Schreiben von Vulkan an Emil Rathenau vom 21.7.1908, in: SDTB, HA, 1.2.060 A 00838. Handbuch für die kaufmännischen Beamten der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 1911, S. 5, in: BAL 10/8.4.
4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“
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beitszeitfrage, einschließlich der Berichterstattung über die Arbeitszeitgestaltung bei Bayer.8 Auch im Falle von Siemens belegen bereits 1890 zahlreiche Zeitungsartikel, die beispielsweise Arbeiterversammlungen bezüglich des Achtstundentages oder dessen Handhabung in England thematisieren, die Rezeption der Debatten um die Arbeitszeitsenkung.9 Diese noch lose Pressearbeit beschloss der Vorstand 1899 zu intensivieren und eine Person damit zu betrauen.10 1902 wurde daraus mit dem „Litterarischen Bureau“ auch bei Siemens eine eigene Stelle. Aufgaben des „Bureaus“, das der Central-Abteilung unterstand, waren die „Besorgung und Verteilung von Zeitungsausschnitten“, das „Inseratenwesen“, die „Versorgung der Presse mit Mitteilungen aus unserem Geschäftsbetriebe“ sowie Inhalt und Vertrieb der Kundenzeitschrift „Siemens-Nachrichten“. Die Rezeption von Informationen war ein zentraler Zweck dieser ersten PR-Abteilung bei Siemens, war es doch ihre Aufgabe: „[...] die Tageszeitungen über sämtliche unsere Gesellschaft und ihre geschäftlichen Beziehungen angehenden Veröffentlichungen fortlaufend zu kontrollieren und den einzelnen Dezernenten bzw. Abteilungen umgehend Nachricht von interessanten Veröffentlichungen zu geben.“11
1913 wurde die Pressearbeit in einzelne Abteilungen ausdifferenziert und die Bezeichnung „Pressebureau“ eingeführt.12 Diese Entwicklung ist charakteristisch für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Eine derartige Professionalisierung der Kommunikationsbeziehungen findet sich beispielsweise auch bei der AEG13 oder bei Krupp,14 war aber kein Phänomen der Wirtschaft alleine, wie Denise Bieler anhand zahlreicher Fallbeispiele von Kommunen bis Kirchen nachgewiesen hat.15 Ausgestattet mit einer derart systematisierten Rezeption waren die Firmenleitungen der Unternehmen Siemens und Bayer über das Agieren anderer Akteure im Umgang mit der Arbeitszeitsenkung ständig auf dem Laufenden. Auch sie selbst waren Gegenstand der Beobachtung. Ihr Handeln wurde von anderen Unternehmen beobachtet und stand damit immer in Beziehung zum Handeln anderer. Brach bei Siemens ein Streik aus, berichteten die Zeitungen darüber, was wiederum von anderen Feldteilnehmern rezipiert wurde. Die Direktion der „Actien-Gesellschaft Mix & Genest, Telephon-, Telegraphen- u. BlitzableiterFabrik“ wandte sich direkt an die „Herren Siemens und Halske“, nachdem sie aus 8
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Vgl.: Zeitungsausschnitt „Einführung der englischen Arbeitszeit in den Fabrikgeschäften in Elberfeld“, ohne Angaben zu Autor und Zeitung, datiert auf 5.2.1903. Die Nachricht bezieht sich auf die Arbeitszeit der kaufmännischen Angestellten. In: BAL 215/11. Vgl.: Sammlung von Zeitungsartikeln in: SAA 14 Lm 751. Vgl.: Bieler (2010), S. 215. Zitiert nach: Ebd. S. 216. Vgl.: Ebd. S. 217f. Vgl.: Zipfel (1997), S. 158ff. Vgl.: Wolbring (2000), S. 226. Vgl.: Bieler (2010).
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4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“
dem „Vorwärts“ von einer Arbeiterversammlung erfahren hatte, auf der die Einführung des neunstündigen Arbeitstages eine der Hauptforderungen gewesen sei. Diese Forderung würde sicherlich auch bald Siemens vorgelegt werden, daher bat die Direktion von Mix & Genest um eine vertrauliche Besprechung.16 Ebenfalls aus einer Zeitung hatte Siegfried Czapski, Mitglied der Geschäftsleitung von Zeiss, von einem Streik bei Siemens erfahren, weshalb er Kontakt mit dem Direktor des Wernerwerkes von Siemens in Berlin, August Raps, aufnahm, um mehr über die Haltung der Firma Siemens zu erfahren.17 Grund für den Ausstand war der Vorwurf an Siemens, die regulären Arbeitszeiten durch ständige Anordnung von Überstunden zu verlängern.18 Raps versprach, Czapski mit Informationen über den Streikverlauf zu versorgen, was auf das Abstimmungsbedürfnis in einer als heikel wahrgenommenen Angelegenheit hinweist. Im Zeiss-Archiv finden sich zahlreiche Zeitungsartikel über den Streik bei Siemens, darunter mehrere des „Vorwärts“. Einige andere Artikel des Bestandes kleben auf Papieren von „Schustermann Zeitungsnachrichten-Bureau“ und „Argus Nachrichten-Bureau“, was eine zumindest teilweise Systematisierung der Rezeption der Presseberichterstattung belegt.19 Die Kommunikation zwischen Zeiss und Siemens zeigt damit, wie sich auch über Branchengrenzen hinweg durch die Beobachtung anderer Feldteilnehmer Kommunikaionsbeziehungen konstituierten, sich also ein Issue-Feld über die Frage des Umgangs mit der Anforderung Arbeitszeiten zu senken etablierte. Konstitution des Issue-Feldes: Rezeptions- und Kommunikationsbeziehungen in der frühen Bundesrepublik Bei Siemens hatte es bereits 1919 Bemühungen gegeben, die Pressearbeit zu spezialisieren. In einem entsprechenden, als „streng vertraulich“ gekennzeichneten, Konzeptpapier heißt es: „Um über das Geschäft interessierende Fragen in der Angestellten- und Arbeiterbewegung usw [sic] unterrichtet zu sein, wird die Einrichtung einer Nachrichtenabteilung bei der Sozialpolitischen Abteilung empfohlen.“20 Diese Pressestelle der Sozialpolitischen Abteilung sollte das entsprechende Zeitungsmaterial sammeln und an die Nachrichtenabteilung weiterleiten. Allerdings hätte die Abteilung eher einem Geheimdienst denn einer Pressestelle geglichen, wäre es doch an erster Stelle ihre Aufgabe gewesen, in Besitz des Materials der 16 17
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Schreiben der Actien-Gesellschaft Mix & Genest, Telephon-, Telegraphen- u. BlitzableiterFabrik an S.&H. vom 22.4.1896, in: SAA 14 Lm 735. Vgl.: Schreiben von Siegfried Czapski (Zeiss) an August Raps (Siemens) vom 9.11.1906, in: BACZ 13419. Zu August Raps vgl.: Kocka (1969), S. 390. Zur Rolle Siegfried Czapskis: Hellmuth / Mühlfriedel (1996), S. 3 u. S. 123. Vgl.: Artikelausschnitt aus dem „Vorwärts“, Nr. 258, 4.11.1906, in: BACZ 10138. Vgl.: Sammlung von Zeitungsausschnitten in: BACZ 10138. Die von den Nachrichtenbureaus zusammengestellten Artikel stammen überwiegend aus den Jahren 1910 bis 1913. Konzept zur Einrichtung einer Nachrichtenabteilung vom 21.10.1919, S. 1, in: SAA 12489.
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politischen Abteilungen „der Polizeipräsidien Gross-Berlins“ zu gelangen.21 Darüber sollte ein interner Stab von Vertrauensleuten aufgebaut werden, um sich, unter anderem angesichts der „kommunistischen Agitation“, über den Stand der Arbeiterbewegung im Betrieb „zuverlässig unterrichtet halten zu können“.22 Diese Informationen sollten auch dem Verband der Berliner Metallindustriellen zugänglich gemacht werden, der einen Teil der Finanzierung übernehmen wollte.23 Ob diese Nachrichtenabteilung tatsächlich eingerichtet wurde geht aus den Quellen nicht hervor. Die Organigramme beziehungsweise Aufgabenbeschreibungen der Sozialpolitischen Abteilung von 1946 und 1951 geben keinen Hinweis mehr auf die Existenz einer solchen Abteilung.24 Gleichwohl hatte die Sozialpolitische Abteilung an Bedeutung für die Rezeption der im Issue-Feld aktuell verhandelten Informationen gewonnen, indem es ihre Aufgabe war, Kontakt zu Arbeitgeberverbände und sozialpolitischen Vereinigungen zu halten.25 Gerade die Verbände spielten eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Informationen über die Handhabung von Arbeitszeiten im Issue-Feld. In einem Rundschreiben schickte der Arbeitgeberverband der Berliner Metallindustrie seinen Mitgliedern, darunter Siemens, 1954 die Ergebnisse einer „Erhebung über Dauer und Verteilung der Arbeitszeit“ in den Mitgliedsfirmen. Mit Hilfe dieser Daten konnten die Adressaten „ein ziemlich massgebliches [sic] Bild hinsichtlich der in der Berliner Metallindustrie z.Zt. geltenden Arbeitsverhältnisse gewinnen“.26 Damit eruierte und bündelte der Verband diejenigen Informationen, die für eine Einschätzung der Entwicklungen in Sachen Arbeitszeitgestaltung im Feld notwendig waren. In den 1950er Jahren war also die Systematisierung der Beobachtung im Issue-Feld weiter vorangeschritten. Bei Bayer stellte der hauseigene Zeitungsdienst Presseartikel zusammen und leitete diese direkt an die Firmenleitung weiter. Den Vermerken über den Umlauf der vom Zeitungsdienst auf dafür vorgesehene Formulare kopierten Meldungen beziehungsweise den Gegenzeichnungen auf diesen Formularen, lässt sich entnehmen, dass wichtig erscheinende Zeitungsartikel direkt an Mitglieder des Direktoriums und des Vorstandes weitergeleitet wurden. So erfuhren Direktoriumsmitglieder über den Stand der 5-Tage-Woche innerhalb der Branche, etwa bei der BASF.27 Den Vorstandsvorsitzenden Ulrich Haberland erreichten auf diesem Wege nicht nur Informationen über die Arbeitszeitgestaltung 21 22 23 24
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Ebd. Ebd. S. 2. Vgl.: Ebd. S. 2f. Vgl.: Organigramm: „Arbeitsgebiete der Sozialpolitischen Abteilung“, 1.10.1946; Aufgabenbeschreibung „Erläuterungen zum ZP-Organisationsplan“, Anlage zum ZP-Rundschreiben Nr. 7, 30.6.1951; jew. in: SAA 12489. Vgl.: ZP-Rundschreiben Nr. 7, 25.9.1957, „Organisation der Sozialpolitischen Abteilung“, S. 2 u. S. 4, in: SAA 12489. Rundschreiben Nr. 29/54 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 20.4.1954, in: SAA 11127–4. Vgl.: Artikel „BASF möchte Fünftage-Woche nicht mehr missen“, Meldung der Vereinigten Wirtschaftsdienste (VWD), Nr. 117, 18.6.1954, in: BAL 215/11.4.
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anderer Unternehmen der Chemieindustrie, sondern etwa auch über die 5-TageWoche bei Zeiss oder den Stand der Arbeitszeitsenkungen bei VW.28 Diese Beobachtung im Issue-Feld konnte, wie bereits im Kaiserreich festzustellen war, konkrete Kommunikationsbeziehungen nach sich ziehen. So beschwerte sich Personalleiter Fritz Jacobi in einem Schreiben beim Generaldirektor von Hoechst, Karl Winnacker, erst aus der Verbandspresse von einer geplanten Senkung der Arbeitszeiten auf 45 Stunden bei fünf Arbeitstagen erfahren zu haben – und nicht etwa auf direktem Wege, bei einem Treffen der Sozialabteilungsleiter, das zuvor stattgefunden hatte.29 Auch im zweiten Untersuchungszeitraum bezogen die Unternehmen also detaillierte Informationen über das Agieren anderer Unternehmen über verschiedene Ebenen der Kommunikation, von der Presse über die Verbände bis hin zum direkten Austausch in Gremien, wodurch sich ein Issue-Feld über die Frage der Arbeitszeitsenkung konstituierte. Die Informationen, die beispielsweise über das Unternehmen Bayer im Issue-Feld verfügbar waren, waren geeignet ein sehr genaues Bild über den Stand und die Handhabung der Arbeitszeitgestaltung zu geben. Selbst betriebsinterne Verhandlungen fanden ihren Weg zumindest in die lokale Presse. Als die Neue Rhein Zeitung 1954 einen Artikel zum Thema „Wann bringt Bayer die 40-Stunden-Woche?“ brachte, nahm der Betriebsrat des Unternehmens dies zum Anlass, in einem in dieser Zeitung veröffentlichten Beitrag den schleppenden Verlauf der Verhandlungen mit der Firmenleitung zu beklagen.30 Darauf reagierte die Werksleitung mit einem Artikel in der Werkszeitung „Unser Werk“, einer Art interner Richtigstellung, in der die Firmenleitung ihre grundsätzliche Bejahung der Senkung und die Gründe darlegt, die gegen eine rasche Senkung sprechen.31 Auch dieser interne Artikel wurde wiederum an die Neue Rhein Zeitung weitergegeben, die ihn in voller Länge abdruckte.32 Selbst der Stand der internen Verhandlungen war damit – gewollt oder ungewollt – eine im Feld zugängliche Information. Noch über die im Geschäftsbericht von 1955 geäußerten Überlegungen zur Produktivität der einzelnen Arbeitskraft berichtete immerhin „Die Zeit“.33 Ein entsprechend großes Presse-Echo zog es nach sich, als sich der Vorstandsvorsitzende Ulrich Haberland 1958 zu den Möglichkeiten der Arbeits 28
29 30
31 32 33
Vgl.: Artikel „Fünf-Tage-Woche nicht aus der Retorte. Carl Zeiss in Oberkochen gibt ein Muster individueller Lösung“, Handelsblatt, Nr. 117, 7.10.1955; sowie: Artikel „Wellenbrecher der Arbeitszeitverkürzung“, Der Volkswirt, Nr. 45, 12.11.1955; jew. in: BAL 215/11.4. Vgl.: Schreiben Jacobis an Winnacker vom 3.10.1955, in: BAL 215/11.4. Vgl.: Artikel „Wann bringt Bayer die 40-Stunden-Woche? Brächte allen Vorteile!“, Neue Rhein Zeitung, Nr. 277, 27.11.1954; sowie: Artikel „Bayer-Betriebsrat wünscht sich die 40Stunden-Woche bald“, Neue Rhein Zeitung, Nr. 283, 4.12.1954; jew. in: BAL 215/11.4. Vgl.: Kopie des Artikels „Zur 40-Stunden-Woche“, erschienen als Extrablatt zur DezemberAusgabe von „Unser-Werk“ 1954, in: BAL 215/11. Vgl.: Artikel „Auch Werksleitung der Farbenfabriken Bayer will die 40-Stunden-Woche“, Neue Rhein Zeitung, Nr. 302, 28.12.1954, in: BAL 215/11.4. Vgl.: Artikel „Produktivität“, Die Zeit, Nr. 29, 21.7.1955, in: BAL 210/1.
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zeitsenkung auf 40 Stunden äußerte.34 Gerade große Unternehmen und symbolische Marken der Arbeitszeitgestaltung erfuhren besondere Aufmerksamkeit, so auch als 1955 VW die Einführung der 40-Stunden-Woche verkündete – eine Nachricht die vom Bayer-Zeitungsdienst direkt an Ulrich Haberland weitergeleitet wurde.35 Das Beispiel zeigt zugleich, dass sich die Unternehmen bewusst waren, innerhalb eines Issue-Feldes zu agieren, in dem die Handhabung der Arbeitszeitsenkung kritisch verfolgt wurde. So antizipierte die Geschäftsleitung von VW offenbar heftige Kritik und nahm die Aussage wieder zurück. Schließlich würden, so der Bericht in der Zeitung „Der Volkswirt“, „Verkürzungen der Arbeitszeit in den Großbetrieben der Automobilindustrie, der chemischen Industrie oder der Metallindustrie entsprechende Rückwirkungen in anderen Betrieben und schließlich in der gesamten Wirtschaft auslösen.“36 Die gegenseitige Beobachtung des Umgangs anderer Unternehmen mit Arbeitszeiten zeigt damit auch für die 1950er Jahre die Konstitution eines branchenübergreifenden, themenspezifischen IssueFeldes an. Die Frage der Arbeitszeitsenkung war eine gesamtwirtschaftliche, entsprechend intensiv war die Rezeption der Entwicklungen im Issue-Feld. Abgesehen von dem Umstand, dass die Unternehmen Siemens und Bayer in ein solches Issue-Feld eingebunden waren, stellt sich jedoch die Frage, welche Position sie darin einnahmen. Verortung der Unternehmen Siemens und Bayer im Issue-Feld Die Wahl der Unternehmen Siemens und Bayer als Ausgangspunkte für die Rekonstruktion eines Ausschnittes der Interpretationsprozesse im Issue-Feld rund um die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ ist insofern günstig, als sie wirtschaftliche Schwergewichte ihrer Branche waren, deren Handeln Signalwirkung zukommen konnte. Derart große beziehungsweise wirtschaftlich bedeutende Organisationen sind, der neo-institutionalistischen Feldtheorie zufolge, im Feld in besonderem Maße der Beobachtung ausgesetzt.37 Dieses Phänomen einer engmaschigen gegenseitigen Beobachtung verstärkt sich dabei noch in Situationen der Unsicherheit, wie sie in beiden Untersuchungszeiträumen hinsichtlich des Umgangs mit der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ herrschte. Je höher die Unsicherheit innerhalb des Feldes, desto größer ist die Orientierungsbedürftigkeit der 34
35
36 37
Darüber berichtete beispielsweise die Deutsche Zeitung und Wirtschafts-Zeitung, Nr. 78, 1.10.1958, die FAZ, Nr. 248, vom 25.10.1958, oder der Mannheimer Morgen, Nr. 247, vom 25.10.1958; jew. in: BAL 215/11.4. Der entsprechende Artikel („Wellenbrecher der Arbeitszeitverkürzung“, Der Volkswirt, Nr. 45, 12.11.1955) wurde vom Zeitungsdienst intern in Umlauf gebracht und trägt das Kürzel Haberlands; in: BAL 215/11.4. Artikel „Wellenbrecher der Arbeitszeitverkürzung“, Der Volkswirt, Nr. 45, 12.11.1955, in: BAL 215/11.4. Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 78.
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Feldakteure.38 Es ist daher anzunehmen, dass der Umgang der Unternehmen Siemens und Bayer mit der Arbeitszeitverkürzung im Issue-Feld besondere Aufmerksamkeit erfuhr. Für diese Annahme finden sich in beiden Untersuchungszeiträumen Anhaltspunkte, insbesondere dann, wenn das Handeln von Siemens oder Bayer aus Sicht ihrer Wettbewerber ihre Handlungsmöglichkeiten zu verändern drohte. Dies war etwa der Fall als die Arbeiter des Nürnberger Siemens-Werkes 1905 mit Streik drohten, wenn nicht Akkordsätze und Stundenlöhne erhöht und die Arbeitszeiten von 60 auf 54 Stunden gesenkt würden. Die Firmenleitung nahm daraufhin Kontakt mit dem Betriebsausschuss des Werkes und dem örtlichen Industriellenverband auf.39 Auf ein erstes Angebot, die Arbeitszeiten auf 57 Stunden zu verkürzen, gingen die Arbeiter nicht ein, senkten aber ihre Forderung auf 56 Stunden. Unter anderem aus Rücksicht auf die „öffentliche Meinung“ wäre die Firmenleitung bereit gewesen dem zuzustimmen.40 Das lehnte jedoch der Verband ab, Siemens dürfe nicht innerhalb eines Jahres die Arbeitszeiten von 60 auf weniger als 57 Stunden senken. Andernfalls drohte der Verband mit Ausschluss.41 Im Zuge der Verhandlungen stand Siemens in Kontakt mit Anton von Rieppel, Leiter des Nürnberger Bezirksverbandes des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller, der die Senkung ebenfalls ablehnte.42 Rieppel war darüber hinaus Aufsichtsratsmitglied der SSW, zu der das Nürnberger Werk gehörte, sowie Generaldirektor der MAN.43 Ebenfalls im April 1905 forderte auch der Arbeiterausschuss von MAN eine tarifvertraglich vereinbarte Verkürzung der Arbeitszeit auf 56 Stunden was die Unternehmensleitung unter Rieppel ablehnte. Noch am 29. April, am selben Tag, an dem Siemens sich bereit erklärte, der Linie des Verbandes zu folgen und damit den Konflikt zu riskieren, forderte der Industriellenverband seine Mitglieder auf, eine Erklärung zu unterschreiben, mit der sie sich verpflichten sollten, die Arbeitszeit nicht unter 57 Stunden zu senken.44 In diesem Fall ging es also darum, innerhalb eines lokalen, branchenspezifischen Kontextes angesichts des vorhandenen Konfliktpotenzials zu einem einheitlichen Vorgehen zu kommen. Eine Senkung der Arbeitszeiten bei Siemens auf 56 Stunden hätte zumindest die Verhandlungsposition von MAN gegenüber deren Belegschaft gefährdet. Ein Unternehmen wie Siemens konnte also kaum Arbeitszeiten senken, ohne dass das Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Unternehmen hatte. Der Umgang mit den Forderungen der Arbeiter des Nürnberger Werkes stand daher 38 39 40 41 42
43 44
Vgl.: Walgenbach (2006), S. 370. Vgl.: Protokoll einer Ausschusssitzung der Werksdirektionen von SSW und S.&H., übermittelt in einem Schreiben an Wilhelm von Siemens vom 25.4.1905, S. 2, in: SAA 4 LK 12–13. Ebd. S. 6. Vgl.: Schreiben Richard Fellingers (Vorstandsmitglied von S.&H.) an Wilhelm von Siemens vom 28.4.1905, in SAA 4 LK 12–13. Vgl.: Knips (1996), S. 125; sowie: Protokoll einer Ausschusssitzung der Werksdirektionen von SSW und S.&H., übermittelt in einem Schreiben an Wilhelm von Siemens vom 25.4.1905, S. 6, in: SAA 4 LK 12–13. Vgl. zur Funktion Rieppels bei SSW: Kocka (1969), S. 324 u. S. 425. Vgl.: Knips (1996), S. 173.
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unter genauester Beobachtung, durch den Arbeitgeberverband waren dessen Mitglieder über den Stand der Verhandlungen bei Siemens informiert und konnten, wo es wie in diesem Fall durch die Mitgliedschaft von Siemens im Verband möglich war, mit Sanktionen drohen. Dieser Umstand galt im selben Maße für die Handhabung der Arbeitszeitsenkung in den 1950er Jahren, was sich am Beispiel des Unternehmens Bayer belegen lässt. Am 21. September 1958 verkündete der Vorstandsvorsitzende Ulrich Haberland auf einer Feier für die Jubilare des Unternehmens, die 40-StundenWoche sei möglich und werde kommen. Im Kontext der Rede konnte das als eine Ankündigung für das kommende Jahr verstanden werden.45 Die Meldung fand ihren Weg in die Presse, am 25. September berichtete die FAZ über Haberlands Äußerung46 und noch am 1. Oktober schrieb die „Deutsche Zeitung und Wirtschafts-Zeitung“: „Aus dem Kreis der Vorreiter im Produktivitätsfortschritt erklärte dieser Tage Professor Haberland, daß die Farbenfabriken Bayer AG die 40Stunden-Woche ohne Neueinstellungen mitmachen könnte.“47 Haberland erfuhr daraufhin heftige Reaktionen im Issue-Feld, in Form von Schreiben anderer Unternehmen und von Verbandsfunktionären, die harte Kritik übten. Der Präsident der BDA, Hans Constantin Paulssen, hatte aus der FAZ von der Äußerung Haberlands erfahren. Diese überregionale Resonanz belegt zum einen, wie virulent das Thema war, zum anderen, dass dem Handeln eines Unternehmens wie Bayer zentrale Bedeutung für die Möglichkeiten des Umgangs mit der Anforderung zugemessen wurde. Paulssen erinnerte Haberland in seinem Schreiben daran, dass die Arbeitgeberverbände, einschließlich derjenigen der Chemieindustrie, vereinbart hatten, die Arbeitszeiten nicht unter 44 Stunden zu verkürzen, um andere Branchen beim Abschluss von Tarifverträgen nicht unter Druck zu setzen. Schließlich stünde für das kommende Jahr die Kündigung zahlreicher Tarifverträge an.48 Auch hier gab also die Sorge Anlass zur Kritik, ein großes Unternehmen wie Bayer könne den Handlungsspielraum anderer Unternehmen einschränken. Dass es sich hier um keine offizielle Ankündigung handelte, sondern um eine Rede an die Pensionäre des Unternehmens, und darüber hinaus um eine durchaus missverständliche Formulierung, weist umso mehr auf die bedeutende Stellung von Bayer im Issue-Feld hin. Dafür sprechen auch die Personen, die daraufhin mit Haberland in Kontakt traten. Neben Paulssen waren das unter anderem der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Chemie sowie der Vorstand des BDI. Beide forderten ein öffentliches Dementi von Haberland, das dieser schließlich auch veranlasste.49 45 46 47 48 49
Vgl.: Auszug aus der Rede Haberlands vom 21.9.1958, S. 6, in: BAL 215/11. Vgl.: Schreiben Paulssens an Haberland vom 30.9.1958, in: BAL 215/11. Artikel „Kürzer aber teurer“, Deutsche Zeitung und Wirtschafts-Zeitung, Nr. 78, 1.10.1958, in: BAL 215/11.4. Vgl.: Schreiben Paulssens an Haberland vom 30.9.1958, in: BAL 215/11. Vgl.: Schreiben Wilhelm Vorwerks, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Chemie, an Haberland vom 11.10.1958; sowie: Protokoll eines Telefongesprächs mit A. W. Menne über eine Vorstandssitzung des BDI vom 3.10.1958; jew. in: BAL 215/11.
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Welche Bedeutung Bayer im Issue-Feld zugemessen wurde, bringt ein Schreiben der Chemischen Fabrik Marktredwitz in besonderem Maße zum Ausdruck, das an den „Verband der chemischen Industrie e.V.“ gerichtet war.50 Haberland sei mit dieser Äußerung der übrigen Industrie in den Rücken gefallen. Mit einer entsprechenden Regelung bei Bayer sei die gesamte chemische Industrie zur selben Maßnahme gezwungen, kleinere Firmen wären dadurch nicht mehr konkurrenzfähig. Der Verband wird in dem Schreiben gebeten, klarzustellen, ob Haberland sich tatsächlich in dieser Weise geäußert habe und ob das mit dem Verband abgesprochen gewesen sei. Gerade Haberland habe in der chemischen Industrie aber auch im Verband eine außerordentliche Stellung, so dass ihm „ein Gewicht in der Öffentlichkeit beigemessen wird, wie kaum einem anderen Herrn.“51 Letztlich spricht die Aufregung, die Haberlands Rede im Issue -Feld erzeugte, auch für eine gewisse Sorge, trotz aller Mechanismen der Beobachtung und Kommunikation nicht von einem derart wichtigen Schritt eines anderen Akteurs erfahren zu haben. So lässt sich die Bemerkung Paulssens, aus der FAZ von Haberlands Äußerung erfahren zu haben, als Kritik lesen, den Verband nicht direkt informiert zu haben. So war Paulssen gezwungen durch ein Schreiben Aufklärung darüber zu fordern, was bei Bayer in Bezug auf die Arbeitszeitgestaltung eigentlich geplant sei.52 Die beiden Beispiele belegen, dass dem Agieren der Unternehmen Siemens und Bayer große Bedeutung für die Handlungsmöglichkeiten anderer Unternehmen zumindest innerhalb der jeweiligen Branche zugeschrieben wurde. Ihnen kam daher im Issue-Feld auch dann eine wichtige Position zu, wenn es um die Thematisierung von Fragen der Arbeitszeitsenkung ging, was für beide Untersuchungszeiträume und Unternehmen gleichermaßen gilt, wie im Folgenden noch gezeigt wird. Es kann dabei jedoch nicht Ziel sein, die Frage zu klären, ob und in welchem Maße die hier thematisierten Unternehmen im Feld eine Orientierungsfunktion in dem Sinne hatten, dass andere sich ihr Handeln zum Vorbild nahmen. Entscheidend für ihre Relevanz im Issue-Feld ist, dass ihr Handeln rezipiert wurde. Es wurde mit ihnen und über sie kommuniziert, was sowohl die Existenz eines Issue-Feldes anzeigt als auch die Voraussetzung für die Existenz von Quellen über die Einordnung der Arbeitszeitfrage innerhalb der Unternehmerschaft ist. Diese intensive Beobachtung, die den Unternehmen Siemens und Bayer zuteil wurde, belegt die Konstitution eines Issue-Feldes, innerhalb dessen die Kommunizierenden eine Bewertung der „Arbeitszeitfrage“ vornahmen.
50 51 52
Vgl.: Schreiben der Chemischen Fabrik Marktredwitz an den Verband der chemischen Industrie e.V. vom 2.10.1958, in: BAL 215/11. Ebd. S. 2. Vgl.: Schreiben Paulssens an Haberland vom 30.9.1958, in: BAL 215/11.
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4.2 BEWERTUNG DER „ARBEITSZEITFRAGE“ ZWISCHEN BETRIEBSGEMEINSCHAFT UND VERBANDSPOLITIK Angesichts des skizzierten Phänomens der gegenseitigen Beobachtung wird deutlich, dass sich die Unternehmen Siemens und Bayer innerhalb eines Issue-Feldes bewegten, in dem permanent das Agieren der Akteure in Beziehung zueinander gesetzt wurde. Anders als die Rezeption des Handelns der anderen Feldakteure, die vor allem über die Presse stattfand, vollzog sich die Bewertung der „Arbeitszeitfrage“ in sehr viel engeren Formen der Kommunikation innerhalb der Unternehmerschaft, etwa durch den Austausch in arbeitgebernahen Verbänden und Organisationen oder durch die Korrespondenz zwischen einzelnen Unternehmensmitgliedern. Es gilt daher herauszuarbeiten, welche Akteure für die Einordnung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ im Feld in den beiden Untersuchungszeiträumen verantwortlich waren. Direkte, persönliche Kommunikation als Grundlage des Austauschs über die Anforderung im Kaiserreich Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fand die Bewertung der Arbeitszeitsenkung in hohem Maße im Rahmen persönlicher Korrespondenzen zwischen Unternehmern statt. Anlass einer solchen Kommunikationsbeziehung konnte die Beobachtung eines Unternehmens durch die Presse sein. Im April 1890 erreichte Arnold von Siemens ein Schreiben der Firmenleitung des Unternehmens Basse & Selve, einem Unternehmen das sich auf die Verarbeitung von Nickel, Messing und Aluminium spezialisiert hatte,53 in dem sich die Firma nach der Richtigkeit einer Zeitungsmeldung erkundigte, derzufolge Siemens den Arbeitern am 1. Mai freigegeben habe. Die Frage des Umgangs mit Feiern zum 1. Mai 1890 war in der Unternehmerschaft heftig diskutiert worden, sie barg einiges Konfliktpotenzial. Der im März 1890 gegründete „Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller“ beschloss daher noch in seiner ersten Vorstandssitzung, von den Bezirksverbänden Berichte über den Ablauf der Feiern anzufordern.54 Derart aufgefordert, zum Agieren seines Unternehmens Stellung zu nehmen, beschwichtigte Siemens, ein solches Gesuch der Arbeiter liege nicht vor und würde auch nicht genehmigt. Darüber hinaus informierte er die Firma Basse & Selve, dass Siemens ein Gesuch der Arbeiter um Einführung der achtstündigen Arbeitszeit vorliege – wonach er offenbar überhaupt nicht gefragt worden war, denn das erwähnte Gesuch wurde erst nach der Anfrage von Basse & Selve an Siemens gerichtet. Arnold von Siemens begründete seine durchaus positive Einschätzung des Achtstundentages in 53 54
Vgl.: Stremmel (2002), S. 7f. Benannt war das 1861 gegründete Unternehmen nach seinen Gründern Carl Basse und Hermann Dietrich Selve. Vgl.: Ebd. S. 6. Vgl.: Knips (1996), S. 92.
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seiner Antwort sehr ausführlich.55 Nur einen Tag vor diesem Schreiben an Basse & Selve hatte Werner von Siemens eine Verfügung vorbereitet, mit der probeweise die durchgehende achtstündige Arbeitszeit in der Charlottenburger Mechaniker-Abteilung angeordnet wurde.56 Das Beispiel belegt, dass sich Siemens vollkommen bewusst war, in ein Issue-Feld eingebunden zu sein, innerhalb dessen gerade ein solch symbolischer Schritt wie die Einführung des Achtstundentags – und sei es nur, wie in diesem Fall, versuchsweise in einer Werkstatt – der Legitimation bedurfte. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass die Legitimation vorauseilend erfolgte, das heißt in dem Wissen, dass dieser Schritt auf jeden Fall Nachfragen nach sich ziehen würde. In seinem Schreiben versuchte Arnold von Siemens dieser Entscheidung jeglichen symbolischen Gehalt abzusprechen. Bei ihrer Forderung ginge es den Arbeitern hauptsächlich um „die immer größer werdenden Entfernungen von ihren Wohnungen. Die achtstündige Arbeitszeit betrachten sie nur als eine Consequenz davon und sehen auch wir als eine solche an.“57 Diese Form des direkten und persönlichen Austauschs über die Bewertung des Umgangs mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, ist für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert charakteristisch. Mitglieder der Firmenleitungen verschiedener Unternehmen erfragten die Handhabung der Arbeitszeiten in einem konkreten Fall und baten im Zuge dessen um eine persönliche Einschätzung. Auf diese Art und Weise war auch Bayer in das Issue-Feld eingebunden. So erkundigte sich etwa ein Direktor der Firma Kalle & Co. bei Carl Duisberg über den Verlauf der Arbeitszeitsenkung bei Bayer, woraufhin er eine Stellungnahme sowie Informationsmaterial über die Arbeitszeitgestaltung bei Bayer erhielt.58 Die Kommunikationsbeziehungen Duisbergs belegen auch, dass sich das Issue-Feld um das Thema Arbeitszeitgestaltung etablierte und nicht rein branchenbezogen strukturiert war. Über die Frage der Arbeitszeitgestaltung korrespondierte Duisberg beispielsweise auch mit Siegfried G. Werner, der in der Metallindustrie tätig war.59 Werner war Angestellter der United Steel Corp. gewesen und hatte anschließend versucht, die Methoden des „Scientific Management“ auf die Eisenwerke G. & J. Jaeger in Elberfeld zu übertragen.60 Die Kommunikation stand also in diesem Fall auf der Basis eines gemeinsamen Interesses an einer Rationalisierung der Arbeitszeiten. Diese branchenübergreifende Kommunikation über die 55 56 57 58 59 60
Vgl.: Schreiben Arnold von Siemens an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Abschrift des Entwurfs von Werner von Siemens für die entsprechende Verfügung, datiert auf den 28.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. Schreiben Arnold von Siemens an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Fa. Kalle & Co., vom 23.3.1909, in: BAL 215/11. Vgl.: Schreiben Duisbergs an Siegfried G. Werner, Eisenwerk Jaeger Elberfeld, vom 14.12.1911, in: BAL 215/1. Werner förderte auch Carl Arnhold, den späteren Leiter des Ausbildungswesens der Gelsenkirchener Bergwerks A.G., der die Debatte um die bessere „Bewirtschaftung der Menschenkraft“ im Bergbau prägte. Vgl.: Kift (2012), S. 74, Fußnote 4.
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Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung war kein Einzelfall, wie auch die bereits erwähnte Korrespondenz zwischen Siemens und Zeiss zeigt. Aufgrund seiner exponierten Stellung im Feld stand Zeiss mit zahlreichen Unternehmen in Kontakt, tauschte sich beispielsweise auch mit MAN über die Bedingungen und Möglichkeiten der Einführung des achtstündigen Arbeitstages aus.61 Seit den 1890er Jahren gewannen darüber hinaus die Verbände als Knotenpunkte der Kommunikation im Feld an Bedeutung, nachdem es 1890 zu einer regelrechten „Gründungswelle“ bei den Arbeitgeberverbänden gekommen war.62 Indem sie jeweils eigene Mitgliederzeitschriften unterhielten, beanspruchten die Verbände die Kommunikation ihrer Mitglieder zu bündeln und zu systematisieren. Die Kundgebungen des „Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände“ (VDA) wurden beispielsweise an die Mitgliederverbände weitergeleitet. Carl Duisberg war es, der dafür plädierte, dieses Verfahren noch zu vereinfachen, indem die Mitteilungen des jeweiligen Verbandes direkt in die Zeitung des Dachverbandes integriert werden sollte, damit „der Bezug dieser Zeitung für alle unserer Mitglieder der schnellste und sicherste Nachrichtendienst bezüglich aller Ausstandsbewegung“ werde.63 Auch die direkte, persönliche Kommunikation wurde durch die Verbände systematisiert. So wertete es Duisberg als eine Errungenschaft des „Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk“, dass die Verbandsleitung durch die „Teilnahme unserer Vertreter an den Vorstands- und Ausschußsitzungen des Vereins“ [gemeint ist der Verein Deutscher Arbeitgeberverbände, AF] durchgehend über „die Arbeitgebersache berührende Fragen“ informiert gewesen sei.64 Das Beispiel weist bereits auf den Grund für die zunehmende Organisation der Arbeitgeber in Verbänden hin, die eine Reaktion auf den sich abzeichnenden Umbruch der Arbeitsbeziehungen war. Dem Neo-Institutionalismus gilt die Mitgliedschaft in anderen Organisationen, wie sie die Mitgliedschaft in Verbänden darstellt, als Zeichen für die Bedeutung eines Akteurs im Feld.65 Das bestätigt sich in diesem Fall insofern, als die Verbandsmitgliedschaften Duisbergs zahlreiche Kommunikationsbeziehungen konstituierte. Das Unternehmen Bayer sticht daher hervor, was die Quellenlage hinsichtlich der Kommunikation auf Verbandsebene angeht. Carl Duisberg war führendes Mitglied in mehreren Verbänden der chemischen Industrie, unter anderem im „Verein zum Schutze des gewerblichen Eigentums“ sowie in dem von ihm begründeten „Verein Deutscher Chemiker“. Seit 1918 war er Vorsitzender des „Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands“, einem Interessenverband, der die Belange der 61 62 63 64 65
Vgl.: Handschriftlicher Entwurf eines Schreibens an die Vereinigte Maschinenfabrik Augsburg und Maschinengesellschaft Nürnberg A.G., 1911, nicht unterzeichnet, in: BACZ 321. Knips (1996), S. 76. Bericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk für das Jahr 1904/05, in: Duisberg (1923), S. 768–773, hier S. 772. Bericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk vom 1. April 1905 bis zum 31. März 1906, in: Duisberg (1923), S. 773–777, hier S. 776. Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 80.
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Branche gegenüber der Politik vertreten sollte.66 In seinem Publikationsorgan, der Verbandszeitung „Die Chemische Industrie“ veröffentlichte auch Duisberg.67 Darüber hinaus war Duisberg etwa im „Verband von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk“ aktiv.68 Damit konnte Duisberg auf zahlreiche Foren des Austauschs über die Arbeitszeitfrage zurückgreifen, aus denen wiederum Quellen für seine Bewertung derselben hervorgingen. Die Verbandstätigkeit des Unternehmens Siemens hat sich demgegenüber in vergleichsweise wenig Quellen niedergeschlagen, die über eine Bewertung der Arbeitszeitfrage Aufschluss geben könnten. Abgesehen vom Beitritt zum Verband Berliner Metallindustrieller 1904, schloss sich Siemens 1907 dem Centralverband Deutscher Industrieller (CVDI) an, in dem Wilhelm von Siemens von 1911 bis 1918 Direktoriumsmitglied war.69 Ergiebiger ist in diesem Fall der überlieferte Austausch auf der Ebene des direkten persönlichen Kontakts. Damit war der Austausch im Issue-Feld über die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ stark geprägt von direkten und persönlichen Kommunikationsbeziehungen. Anlass war zumeist ein konkretes Ereignis, etwa die Senkung von Arbeitszeiten durch ein Unternehmen, das Nachfragen anderer Unternehmer nach sich zog. Über diese Formen des Austauschs versuchten die Beteiligten zu einer Einschätzung der Anforderung zu kommen, indem Erfahrungen mit Senkungen kommuniziert, Kritik geübt oder eine Meinung erfragt wurde. Die Verbände boten im Issue-Feld durch Veranstaltungen oder ihre Zeitschriften zusätzliche Plattformen des Austauschs, mit Hilfe derer die Bewertung der Anforderung systematisiert wurde. Die durch sie etablierten Kommunikationsbeziehungen sollten, man denke an das oben erwähnte Zitat Duisbergs über die Zentralisierung der Verbandskommunikation, den Informationsaustausch kanalisieren und stabilisieren, über den Austausch von Einzelmeinungen hinaus. Die Verbände selbst leisteten darüber hinaus im ersten Untersuchungszeitraum noch keinen derart substanziellen Beitrag zur Bewertung der Anforderung, der dem der 1950er Jahre vergleichbar wäre. Verbände als zentrale Akteure für die Bewertung der Anforderung im Issue-Feld der 1950er Jahre Die zunehmende Etablierung des Austauschs über die Arbeitszeitfrage auf der Ebene der Verbände setzte sich in den 1950er Jahren fort. Die Anzahl der Rundschreiben, Stellungnahmen oder Informationsmaterialien über die Frage der Arbeitszeitgestaltung in den Archivbeständen der Unternehmen Siemens und Bayer 66 67 68 69
Vgl.: Herle / Gattineau (1931), S. 28f. Vgl. z.B.: Duisberg, Carl: Schutz des Erfinderrechts des Angestellten, Nachdruck eines Aufsatzes in „Die Chemische Industrie“, in: Duisberg (1923), S. 733–735. Duisberg äußerte sich beispielsweise mehrfach in den Jahresberichten des Verbandes. Vgl.: Duisberg (1923), Kap. X. („Sozialpolitik“). Vgl.: Zipfel (1997), S. 99f.
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verweisen darauf, dass diese Form der indirekten, systematischen Kommunikation im Verhältnis zum Kaiserreich stark an Bedeutung gewann. Das bedeutet nicht, dass im Umkehrschluss der persönliche und direkte Weg des Austauschs zwischen Unternehmen nachgelassen hätte. Die umfangreichen Zuschriften, die Haberland in Folge seiner missverständlichen Äußerung über die Einführung der 40Stunden-Woche bei Bayer erreichten, belegen, wie wichtig nach wie vor die direkte Kommunikation für die Verständigung über das Vorgehen innerhalb des Issue-Feldes sein konnte. Schon aufgrund des Abschlusses von Manteltarifverträgen seit Mitte der 1950er Jahre gewannen jedoch die Verbände an Bedeutung. Sie schufen Foren für die Verständigung über die Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung, beteiligten sich nun aber auch offensiv an der Bewertung der Anforderung. Ein zentraler Unterschied zum ersten Untersuchungszeitraum besteht daher nicht in erster Linie in einer quantitativ sehr deutlichen Zunahme von Verbandspublikationen in den Unternehmensarchiven. Vor allem geben die Publikationen der Verbände nun Auskunft über die Bewertung der Arbeitszeitsenkung und bilden damit zentrale Quellen für die Deutung der Anforderung im IssueFeld. In den überlieferten Publikationen der Arbeitgeberverbände treten sie nicht nur als Plattform für den Austausch zwischen den Mitgliederunternehmen in Erscheinung. Vielmehr setzten sie nun Themen, sie strukturierten die Debatte im Issue-Feld auch auf einer inhaltlichen Ebene und erbrachten damit in zentralisierter Form einen wichtigen Teil der notwendigen Deutungsleistung für die Unternehmen. An die Vorstandsmitglieder von Bayer schickte die „Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein“ eine Zusammenstellung zur 5-Tage- und 40-Stunden-Woche. Auf immerhin 26 Seiten wurden neben Informationen zum Stand der Arbeitszeitentwicklung die Argumente von Gegnern und Befürwortern aufgelistet.70 Auch der „Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie“ konnte mit einer 39 Seiten starken „Zusammenstellung von Argumenten und Gegenargumenten zur 5-Tage-Woche, zur 40-Stunden-Woche“, sowie einem Dossier zu „Arbeitszeitfragen“ aufwarten, in dem Presseartikel und Vorträge von Experten zusammengestellt waren.71 Auch der Arbeitgeberverband der Berliner Metallindustrie leitete seinen Mitgliedern Informationen weiter, die für eine Bewertung der Situation wichtig erschienen. Diese erhielten beispielsweise die bereits erwähnte Denkschrift des Berliner Senators für Arbeit und Sozialwesen, Kreil, die aufgrund ihrer positiven Haltung gegenüber der 5-Tage-Woche für Unruhe unter den Berliner Arbeitgebern gesorgt hatte.72 Entscheidend ist, dass 70
71
72
Vgl.: Anschreiben der „Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein“ vom 1.4.1955; sowie: Argumentationshilfe des Verbandes zu 5-Tage, und 40-Stunden-Woche; jew. in: BAL 215/11.5. Vgl.: Dossiers: „Zusammenstellung von Argumenten und Gegenargumenten“ (undatiert); sowie: „Betrifft: Arbeitszeitfragen“, vom 22.3.1955, jew. des „Arbeitsrings der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie“; jew. in: BAL 215/11.5. Vgl.: Rundschreiben des AVBM Nr. M71/54, 18.9.1954, in: SAA 11127–4.
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die Verbände mit diesen Informationen, insbesondere den scheinbar neutralen Zusammenstellungen von „Für“ und „Wider“, eben nicht nur organisatorische Probleme thematisierten oder die „Faktenlage“ schilderten, sondern Deutungsangebote unterbreiteten. Um ein weiteres Beispiel aufzugreifen: Der Arbeitgeberverband der Berliner Metallindustrie lieferte seinem Mitglied Siemens nicht einfach die „Ergebnisse unserer Erhebung über Dauer und Verteilung der Arbeitszeit“. Vielmehr schloss daran eine Interpretation an, der Verband bezog Position für eine schrittweise, auf einzelbetrieblichen Regelungen beruhende Arbeitszeitsenkung und lieferte die Argumente dafür gleich mit. In diesem Fall untermauerte der Verband seine Haltung durch eine Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums, das die eigene Deutung stützte, die 40-Stunden-Woche sei derzeit noch nicht diskussionsfähig.73 Auch die Lesart der an die Mitglieder weitergeleiteten Denkschrift des Senators Kreil war bereits im Anschreiben vorgegeben, wenn es dort hieß, Kreil entwickle damit eine gegenwärtig „unverständliche“ Initiative.74 Über dieselbe Denkschrift informierte in ihrer Zeitschrift „Der Arbeitgeber“ auch die BDA, ebenfalls ein wichtiger Akteur für die Bewertung der Anforderung im Issue-Feld. Der Artikel fasste in diesem Fall ebenfalls die von Kreil vorgebrachten Vorschläge nicht nur zusammen, sondern warnte vor zu raschen Maßnahmen, indem er auf die wirtschaftlichen Bedingungen hinwies, die für eine Senkung der Arbeitszeiten erfüllt sein müssten.75 Die Deutungen der BDA erreichten deren Mitglieder neben dem „Arbeitgeber“ auch noch durch Publikationen oder Vorträge ihrer Funktionäre sowie die Jahresberichte, in denen sie nicht zuletzt ihren sozialpartnerschaftlichen Standpunkt legitimierte und propagierte.76 Darüber hinaus beteiligte sich an der Deutung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ eine nicht unerhebliche Zahl von unternehmernahen Organisationen, insbesondere aus dem Kreis betrieblicher „Sozialexperten“, die ebenfalls versuchten auf einer branchenübergreifenden Ebene mit ihren Deutungsangeboten auf die Diskussion um die Arbeitszeitsenkung im Issue-Feld einzuwirken. Zu nennen wäre hier etwa die „Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft e.V.“, die in einem Seminar über die 40-Stunden-Woche Unternehmer und Führungskräfte zusammenbrachte und die Diskussionen anschließend in einem Sammelband veröffentlichte.77 Auch die „Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947 e. V.“ (WIPOG) zählte zu diesen Akteuren im Issue-Feld. Sie war von Unternehmern und Verbandsfunktionären gegründet worden, um Gewerkschaften und „sozialistischen“ Behörden Paroli zu bieten und warb für eine sozial orientierte Marktwirt 73 74 75 76
77
Rundschreiben des AVBM Nr. M29/54, 20.4.1954, in: SAA 11127–4. Rundschreiben des AVBM Nr. M71/54, 18.9.1954, in: SAA 11127–4. Vgl.: Artikel „Berliner Vorschläge zur Fünftagewoche“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 23/24, 1954, S. 882–885. Vgl. z.B.: Gesamtüberblick aus dem Jahresbericht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände von 1953, S. 15f., in: SAA 11127–4. In diesem Dokument sind die Topoi der sozialpartnerschaftlichen Ordnung absolut dominant. Vgl.: Haller / Kroebel / Seischab (1955).
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schaft – zu den Gründungsmitgliedern zählte auch Ludwig Erhard. Durch Vorträge und Publikationen unterbreitete sie Orientierungsangebote, die sich der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung zurechnen lassen. So veranlasste sie die Publikation von Herbert Gross „Manager von Morgen“, die maßgeblich zur Propagierung des Bildes vom „sozial verantwortlichen Unternehmer“ beitrug.78 In ihren Beratungsbriefen nahm die WIPOG auch zur Frage der Arbeitszeitverkürzung Stellung.79 Diese Informationen wurden in den Unternehmen durchaus rezipiert, wie die zahlreichen Verbandspublikationen in den Archiven der Unternehmen Siemens und Bayer und deren Mitwirkung in den Verbänden zeigen. Zuständig für die Kommunikation mit den Verbänden war bei Siemens die Sozialpolitische Abteilung, deren Aufgabe es war, die Interessen des Unternehmens in den Verbänden und sozialpolitischen Organisationen zu vertreten. In enger Abstimmung mit der Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen leitete die Sozialpolitische Abteilung beispielsweise ihre Kritik am Verlauf von Tarifverhandlungen an die „Vertreter des Hauses in den Arbeitgeberverbänden“ weiter.80 Auch bei Bayer unterhielt die Abteilung für das Personal- und Sozialwesen, insbesondere deren Leiter Fritz Jacobi, zahlreiche Verbindungen in die Verbände und Organisationen der Arbeitgeber. Er war unter anderem Vorsitzender des 1951 gegründeten Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit im „Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie“.81 In dieser Funktion unterhielt er auch Verbindungen zu Vereinen wie der „Waage“, deren Werbemaßnahmen für die Soziale Marktwirtschaft er finanziell unterstützte.82 Durch die zentrale Position von Verbänden und unternehmernahen Organisationen konstituierten sich im Feld neue Kommunikationsbeziehungen, innerhalb derer nun ein maßgeblicher Teil der Deutungsleistung erbracht wurde. Diese Akteure formulierten in ihren Publikationen nun Sprachregelungen für den Austausch über die Arbeitszeitgestaltung und lieferten die passenden Argumente dazu. Es handelt sich bei den genannten Verbänden und Organisationen aber nicht um Akteure, die zu Lasten der Unternehmen ins Issue-Feld drängten, vielmehr erbrachten sie für die Unternehmen eine wichtige Leistung. Die Kommunikation im Feld war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gekennzeichnet durch den direkten und persönlichen Austausch zwischen Mitgliedern verschiedener Firmenleitungen, die häufig durch die Mitgliedschaft in Verbänden oder etwa ihre Aufsichtsratsmandate in Kontakt standen. Anlass des Austauschs über die Frage der Handhabung der Arbeitszeiten konnten konkrete Ereignisse sein, wie etwa 78 79
80 81 82
Rosenberger (2008), S. 229. Vgl.: Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e.V.“ zum Thema „Arbeitszeit und Produktivität“, verfasst von Herbert Gross, vom 8.10.1954, in: BAL 215/11.4. Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Mitglieder der Firmenleitung vom 18.2.1966, in: SAA 7443–1. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 234. Vgl.: Greiß (1972), S. 96f.
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Streiks, oder das Interesse an Expertise derjenigen Unternehmen, die bereits über erste Erfahrungen mit sinkenden Arbeitszeiten verfügten. Diese Art der Kommunikation schlug sich in losen, anlassbezogenen Korrespondenzen nieder. Eine dichtere Form der Kommunikation etablierte sich im Issue-Feld dort, wo die Beziehungen zwischen den Akteuren beispielsweise durch den lokalen Kontext, die Branchenzugehörigkeit oder insbesondere die Mitgliedschaft in Verbänden enger waren. Auf diese unsystematische Art zu einer Bewertung der Anforderung zu kommen, war vergleichsweise langwierig – gerade um die Koordination unter den Arbeitgebern zu verbessern beziehungsweise zu ermöglichen, nahmen die Gründungen von Verbänden Ende des 19. Jahrhunderts deutlich zu. Gleiches gilt für die 1950er Jahre mit dem Unterschied, dass Verbände nun in viel höherem Maße selbstständig Themen setzten und Deutungsangebote unterbreiteten, also eine Koordinationsleistung gerade auch im Bereich der Identifikation der Anforderung erbrachten. Die Verbände und unternehmernahe Organisationen stehen damit für eine Professionalisierung der Deutung von Anforderungen im Issue-Feld, indem diese an bestimmte dafür vorgesehene Akteure ausgelagert wurde. Den Unternehmen wurde damit zumindest teilweise die nicht unerhebliche Last abgenommen, Informationen zu sammeln und vor allem zu einer Bewertung derselben zu kommen. Der Vergleich mit der aufwändigen direkten, anlassbezogenen Kommunikation im Kaiserreich macht sichtbar, welche Entlastung es bedeutete, von den Verbänden bereits eine Zusammenstellung der relevanten Argumente und damit eine Eingrenzung der Bewertungsmöglichkeiten zu erhalten. Insofern handelt es sich bei diesen Organisationen zweifelsohne um wichtige Akteure des IssueFeldes. Die skizzierten Kommunikationsbeziehungen, die das Issue-Feld rund um die Diskussion des Themas „Arbeitszeitgestaltung“ konstituierten, unterschieden sich damit in den 1950er Jahren von denen des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts vor allem durch die Bedeutung, die Verbände und andere arbeitgebernahe Organisationen als Instanzen für die Bewertung der Arbeitszeitfrage einnahmen. Diese Funktion muss sich in der Auswahl der Quellen für die Interpretation der Arbeitszeitfrage im Issue-Feld niederschlagen. Im ersten Untersuchungszeitraum kann ein Ausschnitt des Issue-Feldes ausgehend von der Kommunikation der Firmen Siemens und Bayer rekonstruiert werden, die mit anderen Unternehmern in direktem Kontakt standen, oder sich im Feld beispielsweise durch Vorträge zu Wort meldeten. Im zweiten Untersuchungszeitraum verlor diese direkte Kommunikation zwischen Mitgliedern der Firmenleitungen gegenüber den Deutungsangeboten der Verbände deutlich an Gewicht. Dementsprechend ist es nicht mehr möglich den Austausch über die „Arbeitszeitfrage“ in erster Linie anhand direkter Kommunikation zwischen Unternehmern zu rekonstruieren, vielmehr müssen Akteure wie die Verbände weitaus größere Berücksichtigung finden. Wenn auch im Rahmen eines durchaus veränderten Akteurskreises, war es in beiden Fällen das Ziel der Kommunikation im Issue-Feld, zu einer gemeinsamen Bewertung der Arbeitszeitverkürzung zu kommen. Eine solche gemeinsame Einschätzung war eine Voraussetzung für die Koordination des Handelns der Feldakteure, sei es auf lokaler Ebene, branchenintern oder – wie es im Falle des grundsätzlichen Umgangs mit Arbeitszeiten nötig erschien – auf gesamtwirtschaftlicher
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Ebene. Insofern ist es gerechtfertigt, die Unternehmen Siemens und Bayer als Akteure in ein und demselben Issue-Feld zu betrachten. Sie waren Teil eines Issue-Feldes, verbunden durch gegenseitige Beobachtung und eingebettet in Kommunikationsbeziehungen die demselben Zweck dienten: zu einer Bewertung des Themas Arbeitszeitsenkung zu kommen. Das Issue-Feld ist dabei weder kohärent oder stabil, noch ließe es sich auf einen klar benennbaren Kreis an Akteuren eingrenzen. Unternehmen schalteten sich häufig aufgrund eines konkreten Anlasses in die Diskussion ein, beispielsweise aufgrund eines Streiks, weshalb die Felddiskussionen durchaus fragmentiert und punktuell erscheinen. Rekonstruiert werden können daher nur Ausschnitte der Felddiskussion, die sich in diesem Fall an den Unternehmen Siemens und Bayer orientieren. Gerechtfertigt ist dies insofern, als diese Unternehmen im Issue-Feld eine wichtige Position innehatten. Ihr Umgang mit der Arbeitszeitgestaltung wurde von der Presse beobachtet, andere Unternehmen rezipierten ihr Verhalten, wie interessierte Nachfragen nach der organisatorischen Umsetzung von Arbeitszeitsenkungen ebenso belegen, wie die daran geäußerte Kritik. Erweitert wird dieser Ausschnitt durch Stichproben der Felddiskussion, die aus dem Kontext anderer Unternehmen oder der Verbände stammen, welche keinen direkten Bezug zu den Unternehmen Siemens und Bayer aufweisen. Das ist notwendig, um auch über die beiden im Fokus stehenden Unternehmen hinaus zeigen zu können, dass es sich bei den im Folgenden analysierten Bewertungen der Arbeitszeitfrage eben nicht um singuläre Phänomene handelte, sondern um Bestandteile eines Interpretationsprozesses innerhalb eines sehr viel weitläufigeren Issue-Feldes. Die Analyse der Deutung der „Arbeitszeitfrage“ im Issue-Feld kann daher zeigen, dass Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft den semantischen Raum des Möglichen auf einer Ebene weit über den einzelnen Betrieb hinaus prägten. 4.3 PATRIARCHALISMUS UND SOZIALPARTNERSCHAFT ALS GÄNGIGE DEUTUNGSHORIZONTE Die Kommunikation im Issue-Feld wies in beiden Untersuchungszeiträumen deutliche Bezüge zu den Ordnungsvorstellungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft auf. Belege dafür finden sich auf einer semantischen Ebene: Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft schlugen sich in spezifischen Topoi nieder, in sprachlichen Codierungen der Kommunikation im Issue-Feld, deren Sinnhaftigkeit sich erst vor dem Hintergrund der jeweiligen Ordnungsvorstellung erschließt. Auf diese Topoi griffen die Feldteilnehmer in der Kommunikation häufig zurück, wenn Fragen betrieblicher Sozialbeziehungen thematisiert wurden.
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Semantische Bezugspunkte der patriarchalischen Ordnungsvorstellung im Issue-Feld Ausdruck der patriarchalischen Wissensordnung sind insbesondere Äußerungen, die einen Bezug zur Vorstellung des Unternehmers als „Herrn im Hause“ erkennen lassen, sowie Bezüge zum Konzept des Unternehmens als einer geschlossenen Gemeinschaft, von dem alles „Betriebsfremde“ abzugrenzen ist. Ein zentraler Topos der patriarchalischen Ordnungsvorstellung war das Bild des Unternehmers als einer dem familiären Oberhaupt vergleichbaren Führungspersönlichkeit, die über die Arbeitnehmer zu wachen hatte, durchaus vergleichbar mit einem väterlichen Erziehungsauftrag. Beispiele für die Präsenz dieses Topos im Issue-Feld finden sich in der Kommunikation immer wieder. Gefragt nach der Umsetzung und den Folgen der neunstündigen Arbeitszeit bei Bayer schrieb Carl Duisberg einem anderen Unternehmer, man habe „auch eine sozial nicht zu unterschätzende Wirkung bei den Familien der Arbeiter beobachten können.“ Während früher „die Frau des Arbeiters im Bette liegen blieb“ als der Ehemann bereits zur Arbeit gegangen war, stünden die Frauen nun, nachdem die Frühstückspause im Zuge der Senkung gestrichen wurde, bei den meisten Familien mit den Männern auf und bereiteten ihnen das Frühstück zu. Das sei die Voraussetzung dafür, dass nun das Verzehren des Frühstücks während der Arbeitszeit im Gegensatz zu früher strikt unterbunden werden könne.83 Das Familienleben der Arbeitnehmer betrachtete Duisberg ganz selbstverständlich als einen Faktor, der gegebenenfalls der Steuerung bedurfte. In diesem Fall formulierte er eine Erwartung an die Zeitnutzung der Ehefrauen männlicher Beschäftigter. Als verheiratete Frauen waren sie, dem bürgerlich-patriarchalischen Familienideal entsprechend, nicht erwerbstätig. Ihre Aufgabe war die Familie, der eine zentrale Bedeutung für Moral und Sittlichkeit der Arbeiterschaft zugeschrieben wurde.84 Es schien also durchaus von Bedeutung, und daher fördernswert, dass die Frauen der Beschäftigten dieser Aufgabe mit der gebotenen Disziplin nachkamen. Die zitierte Feststellung Duisbergs ist also ein deutlicher Hinweis auf dessen patriarchalisches Denken, das in der Vorstellung einer betrieblichen „Gemeinschaft“ auch den heute als „privat“ geltenden Bereich der Familien der Arbeitnehmer einschloss. Auf diesen Bereich Einfluss zu nehmen erschien so legitim wie notwendig, wie der Umgang mit der durch die Arbeitszeitsenkung für die Arbeitnehmer frei werdenden Zeit zeigt. 1912 berichtete Duisberg auf der Hauptversammlung des „Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands“ über die Einführung der achtstündigen Wechselschicht, welche die zwölfstündige Schicht ersetzte. Die Betriebsführer hatten die Sorge geäußert, die Arbeiter könnten durch die deutlich kürzeren Schichtzeiten „dem Leben im Wirtshaus verfal 83 84
Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Fa. Kalle & Co., vom 23.3.1909, in: BAL 215/11. Dies war auch ein zentrales Argument in der Debatte um den Arbeiterinnenschutz, die letztlich auch zur gesetzlichen Regulierung der Frauenarbeitszeit führte. Vgl.: Schmidt (1984), S. 59ff.
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len“. Dieses Problem sei behoben worden, indem „die Aufseher sich in der ersten Zeit der Leute anzunehmen und sie anzuleiten hatten, wie sie sich in der Lesehalle, in ihren Gärten und sonstwie am besten beschäftigten.“85 Die Vorstellung, bei sinkenden Arbeitszeiten seien die Arbeitnehmer in der Gestaltung der nun frei werdenden Zeit anzuleiten, war Ende des 19. Jahrhunderts eine weit verbreitete Reaktion auf die Herausbildung arbeitsfreier, individuell gestaltbarer Zeiträume. Im Zuge der seit den 1870er Jahren sich verschärfenden Diskussionen um die Verkürzung der Arbeitszeiten war die Frage des Umgangs mit der frei werdenden Zeit zum Thema der bürgerlichen Sozialreform geworden. Bereits 1892 hatte die Berliner „Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen“ eine „Freizeitkonferenz“ veranstaltet, die Ausdruck der Überzeugung war, die Freizeit müsse „sinnvoll“ gefüllt und daher ihre Gestaltung angeleitet werden.86 Insbesondere in der Arbeiterschaft sahen sie die Gefahr sinkender Arbeitsdisziplin, aber auch schwindender moralischer Tugenden, vor allem hinsichtlich des Familienlebens. Daher galt es die Freizeit zu nutzen um Häuslichkeit und Familiensinn der Arbeiter zu fördern.87 In seinem Vortrag auf der Konferenz hielt der Zentrumspolitiker Franz Hitze ein Referat über „Die Erholung der Arbeiter in der Familie“. Er forderte daher eine „ ausreichende, gesunde, freundliche Wohnung“, in Ordnung gehalten von einer „tüchtige(n) sorgsame(n) Hausfrau“, die für wohlerzogene Kinder und „schmackhaftes Essen“ sorgen sollte.88 Dieses Thema der bürgerlichen Sozialreform war mit dem patriarchalischen Unternehmerverständnis vollkommen kompatibel: Explizit wurde dem Unternehmer die Aufgabe zugeschrieben, im Rahmen seiner patriarchalischen Fürsorge auch die Freizeit „seiner“ Arbeiter und deren Familien zu gestalten.89 Unternehmen wie Bayer kamen dem mit der Einrichtung von Angeboten für eine „sinnvolle“ Freizeitgestaltung nach, wozu etwa die von Duisberg erwähnte „Lesehalle“ zu zählen wäre, aber auch Sporteinrichtungen, oder Möglichkeiten zur häuslichen Betätigung durch den Bau entsprechend gestalteter Werkswohnungen.90 Der patriarchalische Topos eines „Herrn im Hause“, dem unmündige Arbeiter gegenüberstanden, wurde im Feld häufig auch dann aufgegriffen, wenn unerwünschtes Verhalten thematisiert wurde, beispielsweise im Falle von Streiks oder wenn die Arbeitnehmer Forderungen stellten. So schrieb Siegfried Czapski, Mitglied der Geschäftsleitung von Zeiss, an den Siemens-Direktor August Raps: „Unsere Mechaniker – Sie wissen ja wohl zur Genüge, wie anspruchsvoll gerade 85
86 87 88 89 90
Rede Duisbergs auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands, 25.10.1912, abgedruckt in: Duisberg (1923), S. 551– 553, hier S. 553. Reulecke (1980), S. 142f. Vgl.: Ebd. S. 144. Zitiert nach: Ebd. S. 147. Vgl.: Ebd. S. 149f. Zur betrieblichen Sozialpolitik bei Bayer, die z.B. auch Gartenbau und die Förderung geschlechterspezifischer „Tugenden“ umfasste, vgl. insbesondere: Nieberding (2003).
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dieses Völkchen ist“, hätten Lohnforderungen gestellt.91 In seiner Antwort bekundete Raps seine Zustimmung: „Auch bei uns sind es gerade die Mechaniker, die im Glauben an ihre Unentbehrlichkeit am meisten Schwierigkeit machen und den Streik in die Länge ziehen.“92 Die Charakterisierung der Arbeiter als aufmüpfig, ihre Herabsetzung als „Völkchen“, das glaubt unentbehrlich zu sein, und der Besitzanspruch, der sich in der Wahl des Possessivpronomens „unser“ ausdrückt, lässt die Verortung im Rahmen der patriarchalischen Wissensordnung erkennen. Hierbei handelte es sich nicht um Einzelfälle oder semantische Spitzfindigkeiten. Vielmehr war dieser Topos auch in anderen Fällen der Kommunikation im IssueFeld – auch in weitaus deutlicherer Wortwahl – ein gängiger Modus für die Thematisierung von Fragen, welche die Arbeitsbeziehungen betrafen. Ein besonders plastisches Beispiel dafür stellt die Korrespondenz zwischen der Direktion der Vulkan AG und ihrem Aufsichtsratsmitglied Emil Rathenau anlässlich einer Überstundenverweigerung der Nieter bei Vulkan 1908 dar. In einem Schreiben an Rathenau, dem die Abschrift eines Briefwechsels mit der Arbeiterschaft beiliegt, heißt es: „Wie sie demselben [dem Briefwechsel, AF] entnehmen werden, wissen die Nieter noch nicht einmal heute, was sie eigentlich von uns wollen.“ Dies sei ein „eclatanter Beweis“ für die Haltlosigkeit der Behauptung, man habe die Arbeiter ihre Forderungen nicht vorbringen lassen.93 In einem früheren Schreiben, in dem der Hergang des Konflikts geschildert wurde, ließ Vulkan Rathenau wissen: „Die Leute des Arbeiter-Ausschusses hatten gar keine Erklärung abzugeben, die Nieter wussten auch nichts anderes zu sagen, als dass sie des Abends gern mit ihren Frauen spazieren gehen möchten. Irgendwelche Forderungen oder sonstige Wünsche wurden nicht geäussert [sic], sodass wir annehmen, dass es sich seitens der Arbeiterorganisation im Wege des partiellen Streiks um eine agitatorische Beeinflussung unseres Betriebes handeln soll [...].“94
Das Zitat lässt eine deutliche Geringschätzung der Arbeiter erkennen, die sich weder über ihre eigenen Forderungen im Klaren seien, noch zu sagen wüssten, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen wollten. Die Gründe der Überstundenverweigerung werden nicht ernst genommen, das Verhalten der Arbeiter erscheint dadurch unüberlegt und impulsiv. Darin kommt wiederum der Anspruch des Patriarchen zum Ausdruck, entscheiden zu können, welches die für die Arbeiter „bessere“ Nutzung ihrer Zeit sei: nämlich Überstunden zu leisten, anstatt spazieren zu gehen, was aus Sicht der Arbeitnehmer durchaus einen hohen Wert hatte. Seit der Frühindustrialisierung waren gerade die arbeitsfreien Zeiträume Quellen der Konstitution und Bestätigung einer kulturellen Eigenständigkeit der Arbeiter.95 Auch wenn es sich beim abendlichen Spaziergang um eine recht bürgerliche Frei 91 92 93 94 95
Schreiben Siegfried Czapski (Zeiss) an August Raps (S.&H.) vom 9.11.1906, in: BACZ 13419. Schreiben August Raps (S.&H.) an Siegfried Czapski (Zeiss) vom 28.11.1906, in: BACZ 13419. Schreiben von Vulkan an Emil Rathenau vom 24.7.1908, in: SDTB, HA, 1.2.060 A 00838. Schreiben von Vulkan an Emil Rathenau vom 18.7.1908, in: SDTB, HA, 1.2.060 A 00838. Vgl. zum Verhältnis von (Frei-)Zeit und Arbeiterkultur insbesondere: Thompson (1967).
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zeitgestaltung handelte – die Arbeiter von Vulkan erhoben mit dieser Forderung selbstbewusst Anspruch auf die eigenverantwortliche Gestaltung ihrer arbeitsfreien Zeit.96 Darüber hinaus verweist das Zitat auf einen weiteren zentralen Topos der Feldkommunikation, der eine klare patriarchalische Prägung erkennen lässt. Gemeint ist die Trennung der „eigenen“ Belegschaft von Betriebs-„Fremden“. Ausgehend von der Feststellung, der Ausstand der „eigenen“ Arbeiter hätte keine ernstzunehmenden Gründe, führte die Firmenleitung von Vulkan den Konflikt auf „agitatorische Beeinflussung“ zurück – und konstatierte damit gegenüber ihrem Aufsichtsratsmitglied Rathenau indirekt auch, die betriebliche Gemeinschaft des Unternehmens sei intakt. Auf diesen Topos griff auch Arnold von Siemens zurück um die Vorstellung einer nach wie vor intakten betrieblichen Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. In einem Schreiben an das Unternehmen Basse & Selve, die nach der Handhabung der Feierlichkeiten zum 1. Mai bei Siemens gefragt hatten, erklärte er „unsere Arbeiter“ hätten kein solches Ersuchen an die Firmenleitung gerichtet. Überhaupt gelte es in derartigen „Arbeiterfragen“ möglichst wenig Staub aufzuwirbeln, „da es den Agitatoren vorzugsweise auf diesen ankommt.“ Siemens entschuldigte sich außerdem: „Wir hätten ihr geehrtes Schreiben umgehend beantwortet, wenn wir nicht das Ergebnis einer durch fremde Agitatoren veranlassten Versammlung unserer Arbeiter hätten Abwarten wollen. In dieser Versammlung sind alle agitatorischen Anträge mit grosser [sic] Mehrheit abgelehnt worden [...].“97
Diese Trennung der Gewerkschaftsbewegung – sie ist mit den „fremden Agitatoren“ gemeint – von den „eigenen“ Arbeitnehmern ist absolut typisch für die Thematisierung der Arbeitsbeziehungen im Issue-Feld. Darüber hinaus wird deutlich, welches Idealbild betrieblicher Arbeitsbeziehungen dem gegenübergestellt wird. Mit dem Verweis auf die Ablehnung der „agitatorischen Anträge“, wies Siemens darauf hin, dass er das Ideal einer betrieblichen Vertrauensbeziehung zwischen Arbeitgeber und -nehmer im Falle des eigenen Unternehmens bestätigt sah. Damit bezogen sich die Kommunizierenden auf die patriarchalische Vorstellung des Unternehmens als einem geschlossenen sozialen Raum, gekennzeichnet durch eine besondere Form der Gemeinschaft. Diese Vorstellung bestätigte auch Carl Duisberg als er im Bericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk 1900 die Gefahr beschrieb, der diese Gemeinschaft ausgesetzt sei. Vor dem Hintergrund zunehmender Konflikte mit der organisierten Arbeiterschaft rechtfertigte Duisberg die Bildung von Arbeitgeberverbänden als „durch die Notwehr gebotene Selbstverteidigung“. Denn: „Diese Abwehr erweist sich als besonders dringend, weil heutzutage die Ausstandsbewegungen ihren Entstehungsgrund nur selten in der augenblicklichen Unzufriedenheit der Arbeiter mit den Zuständen ihres eigenen Betriebes haben; viel häufiger ist die Erscheinung, daß die
96 97
Vgl.: Maase (1994), S. 170f. Schreiben Arnold von Siemens an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516.
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4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“ Ausstandsbewegung von außen in die Arbeiterschaft hineingetragen, daß bei anscheinend friedlicher und ruhiger Sachlage den Arbeitern die Stellung maßloser Forderungen aufgezwungen wird [...].“98
In der Beschreibung seiner Bedrohung durch die Gewerkschaften ist das patriarchalische Ideal in dieser Zustandsbeschreibung nach wie vor präsent. Konsequent werden der Konflikt und seine Ursachen „außerhalb“ des Betriebes verortet und zur Gefahr für die eigentlich intakten gemeinschaftlichen Arbeitsbeziehungen im Unternehmen erhoben. Interessant ist gerade diese Äußerung Duisbergs, da er mit seinem Plädoyer für den Zusammenschluss der Arbeitgeber in Verbänden selbst zur „außerbetrieblichen“ Organisation aufrief und sich damit vom Ideal allein auf der Basis der betrieblichen Gemeinschaft regulierter Arbeitsbeziehungen verabschiedete. Dieser Schritt schien ihm durchaus der Begründung zu bedürfen, weshalb er dafür allein die Arbeitnehmerorganisationen verantwortlich machte, die diese Form der „Notwehr“ erst notwendig gemacht hätten. Diese Einschätzung Duisbergs belegt, dass der Maßstab für die Bewertung der Arbeitsbeziehungen auch dann noch die patriarchalische Ordnungsvorstellung blieb, als sich die Arbeitsbeziehungen bereits im Umbruch befanden und sich auch die Arbeitgeber längst schon „außerbetrieblich“ in Verbänden organisierten. Dennoch versicherten sich die Feldteilnehmer in ihrer Kommunikation der Gültigkeit der patriarchalischen Ordnungsvorstellung, indem sie Bezug auf deren zentrale Topoi nahmen. Über alle Branchengrenzen hinweg war die patriarchalische Ordnungsvorstellung ein legitimer semantischer Bezugsrahmen für die Thematisierung von Fragen der Arbeitsbeziehungen. Hartmut Kaelble hat bereits 1967 darauf hingewiesen, dass der Patriarchalismus – den er jedoch als „sozialpolitische Ideologie“, und damit als ein Instrument des Klassenkampfs betrachtet – erst seit den 1870er Jahren, mit zunehmenden Auseinandersetzungen mit der Arbeiterbewegung, überhaupt formuliert worden sei.99 In einer ideengeschichtlichen Perspektive lässt sich der Patriarchalismus damit in die von Doering-Manteuffel konstatierte Neuformierung des Ordnungsdenkens Ende des 19. Jahrhunderts einordnen. Das Gefühl einer sich in nie gekannter Geschwindigkeit verändernden Lebenswelt begünstigte demzufolge verbindliche Entwürfe von Ordnung.100 Als ein solcher Ordnungsentwurf kann auch der Patriarchalismus gelten, der mit der Familie eine Kategorie ins Zentrum des Ordnungsdenkens stellte, die sich gerade durch ihre vermeintlich überzeitliche Verbindlichkeit auszeichnete. Das stützt die Vermutung, die Unternehmen hätten in einer Situation der Unsicherheit in besonderem Maße der Orientierung bedurft, die ihnen in diesem Fall die patriarchalische Ordnungsvorstellung bot. Sie diente nicht zuletzt der Selbstvergewisserung der Unternehmerschaft in einer Umbruchssituation, was ihre Präsenz und Beharrungskraft erklärt. 98
Bericht des Verbandes von Arbeitgebern im bergischen Industriebezirk für das Jahr 1900, abgedruckt in: Duisberg (1923), S. 756–765, hier S. 757. 99 Vgl.: Kaelble (1967), S. 55. 100 Vgl.: Doering-Manteuffel (2009), S. 51.
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Semantische Bezugspunkte der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung im Issue-Feld Ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts griffen die Akteure des Issue-Feldes in den 1950er Jahren auf bereits existierende sinnstiftende Vorstellungen zurück, um ihr Orientierungsbedürfnis zu befriedigen. Es handelte sich um einen Strang des Ordnungsdenkens, der seit den 1920er Jahren an Bedeutung gewonnen hatte, und in dessen Mittelpunkt die Ordnung von Gesellschaft und Staat standen.101 Vorstellungen von Ordnung orientierten sich damit an weitaus größer gedachten Gemeinschaften als der Familie, wie sie im Patriarchalismus auf den Betrieb projiziert wurde. Ursächlich für die Popularität einer solchen Orientierung stiftenden Ordnungsvorstellung, wie sie auch die „Sozialpartnerschaft“ darstellte, war eine erneute Phase der Unsicherheit, als die Stabilität der wirtschaftlichen und politischen Ordnung noch nicht gesichert schien. Wiederum war es diese Situation relativer Unsicherheit, in der die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung erst in besonderem Maße explizit gemacht, ihre Inhalte formuliert wurden. Im Gegensatz zum späten 19., frühen 20. Jahrhundert hatten in den 1950er Jahren die Verbände stark an Bedeutung für die Thematisierung von Fragen der Arbeitsbeziehungen gewonnen. Sie setzten sozialpartnerschaftliche Bezugspunkte und trugen dazu bei, sie im Issue-Feld als zentrale Deutungsmodi zu etablieren, weshalb Verbandsquellen gegenüber der direkten Korrespondenz zwischen Unternehmern im zweiten Untersuchungszeitraum eine weitaus gewichtigere Rolle spielen. Eine Ausnahmestellung kommt dabei der BDA zu, die beispielsweise durch ihre Zeitschrift „Der Arbeitgeber“ Orientierungsangebote bereitstellte.102 Sie leistete einen wichtigen Beitrag sowohl für die Formulierung als auch für die Verbreitung zentraler sozialpartnerschaftlicher Topoi. Die Situation der Unsicherheit betonte die BDA in ihren Stellungnahmen noch, um der Bedeutung einer sozialpartnerschaftlichen Ordnung Nachdruck zu verleihen. Aus heutiger Sicht muten die Situationsbeschreibungen der BDA teilweise stark überzeichnet an. In den 1953 veröffentlichten „Gedanken zur sozialen Ordnung“ beschwor sie die Apokalypse eines „dritten Weltkrieges“ und ordnete das für Deutschland postulierte Ringen um „die soziale Ordnung“ in die Suche der ganzen Menschheit nach „tragfähigen Ordnungen“ ein, womit die BDA auf die Blockbildung im Systemkonflikt anspielte.103 In dieser Situation positionierte sich die BDA als Sinnstifter, der mit der „Sozialpartnerschaft“ ein Orientierungsangebot unterbreitete. Vor allem zwei Topoi waren dabei zentral: die Vorstellung eines gesellschaftlich verantwortlichen Unternehmers sowie, eng damit verbunden, ein Unternehmensverständnis, das die betrieblichen Sozialbeziehungen in einen direkten Zusammenhang zur sozialen und politischen Ordnung insgesamt brachte. Die BDA formulierte beide Ideale in ihren Publikationen und Veranstaltungen, stellte diese Orientierungsangebote also öffentlich zur 101 Vgl.: Ebd. S. 47f. 102 Vgl.: Reitmayer (2003), S. 323. 103 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (1953), § I., S. 3.
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4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“
Verfügung – nicht nur, aber auch den Akteuren des Issue-Feldes, das sich um die Frage der Arbeitszeitgestaltung etablierte. In den „Gedanken zur sozialen Ordnung“ appellierte die BDA wiederholt an die Verantwortung des „deutschen Unternehmers“ die sozialpartnerschaftliche Ordnung mitzutragen und legte ihm damit eine Verpflichtung auf, die weit über die Ebene der betrieblichen Gemeinschaft hinausging.104 Bereits 1951 hatte die BDA ihre jährliche Mitgliederversammlung unter das Motto des „sozialen Friedens“ gestellt. Ihr Vorsitzender Walter Raymond ließ in seiner Rede keinen Zweifel daran, dass nicht nur die Gewerkschaften sondern auch die Arbeitgeber aufgerufen seien, ihren „Dienst“ für den sozialen Frieden zu leisten, da ansonsten „der Zusammenhang des Bundesgebietes mit dem westlichen Kulturkreis verloren gehen muß.“ Ein Unterfangen, das durch „das strategische Ziel des Kreml“ ständig bedroht sei.105 Dieses Argument, in der Systemkonkurrenz mit der DDR durch die Arbeitszeitsenkung die soziale Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft unter Beweis zu stellen, war ein wichtiger Bestandteil der politischen Diskussion um die Verkürzung der Arbeitszeiten.106 Jedem Unternehmer, der sich dieser Verantwortung für den „sozialen Frieden“ entzog, unterstellte Raymond damit indirekt, die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes zu gefährden. Direkt mit diesem Unternehmerbild verbunden ist ein zweiter Topos der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung, der die gesellschaftliche Dimension betrieblicher Sozialbeziehungen betont. Dieser Topos äußerte sich unter anderem im populären Schlagwort vom „Menschen im Mittelpunkt“, das dem in Kapitel II. skizzierten sozialpartnerschaftlichen „Partnerschafts“-Ideal zugeordnet werden kann, mit Hilfe dessen in den 1950er und 1960er Jahren häufig die idealtypische Veränderung der betrieblichen Sozialbeziehungen beschrieben wurde. Unter das Motto „Der Mensch im Mittelpunkt der sozialen Ordnung“ stellte die BDA ihre Kundgebung im November 1953 und veröffentlichte die dort gehaltenen Reden und Ansprachen in der hauseigenen Schriftenreihe. Wiederum war es Walter Raymond, der in seiner Ansprache betonte, „eine Ordnung, die den sozialen Frieden sichern will, indem sie den Menschen in ihren Mittelpunkt stellt“, dürfe sich nicht nur um dessen materielle Sorgen kümmern.107 Der Arbeitnehmer müsse als „gebender Teil“ im wirtschaftlichen Ablauf betrachtet, sein Stolz anerkannt werden, „damit in ihm allmählich das Gefühl seiner Verantwortung für das große Ganze entsteht“.108 Der historische Konflikt zwischen Arbeitgebern und -nehmern, auf den sich Raymond in seiner Ansprache bezog, sollte demnach nicht zuletzt über eine Neuformation der betrieblichen Sozialbeziehungen beigelegt werden. Auch den Arbeitnehmern gelte es im Zuge dessen ihre Verantwortung für das Gelingen 104 Ebd. § XIII., S. 10. 105 Raymond, Walter: Im Dienste des sozialen Friedens; Rede auf der Mitgliederversammlung der BDA 1951, abgedruckt in: Der Arbeitgeber, Nr. 24, 1951, S. 26–29, hier S. 26. 106 Vgl.: Kevelaer / Hinrichs (1985), S. 60. 107 Raymond (1953), S. 34. 108 Ebd. S. 35.
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der Arbeitsbeziehungen bewusst zu machen.109 Raymond nahm in den zitierten Beispielen damit zwei Topoi auf, die im Issue-Feld häufig als semantische Bezugspunkte des Austauschs über Fragen der Arbeitsbeziehungen dienten. Für die Verbreitung der sozialpartnerschaftlichen Topoi im Feld war die BDA ein wichtiger, keinesfalls jedoch der einzige Akteur. Zahlreiche weitere sorgten dafür, dass die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung im Issue-Feld zu einem zentralen Modus für die Thematisierung der Arbeitsbeziehungen wurde. Auf der Jahrestagung der von Albrecht Weiß, Personalleiter der BASF, gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für soziale Betriebsgestaltung“ räsonierte ihr Geschäftsführer und Gründer 1952, die sozialen Beziehungen des Betriebes seien der Ort an dem die „Spannungen zwischen Arbeit und Kapital“ beizulegen seien. Dies gelinge durch eine „soziale Betriebsgestaltung“, die statt dem Produktionsfaktor Arbeit „die richtige Behandlung des Menschen“ im Betrieb in den Vordergrund stelle.110 Der Bezug auf den „Menschen“ im Betrieb, dessen richtige Behandlung den überbetrieblichen Interessenkonflikt zwischen „Arbeit und Kapital“ beizulegen vermöge, ist eine klare Verortung im sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenken, deren Bedeutung Weiß explizit betont: „[...] die soziale Frage ist nicht mit materiellen und rein rationalen Methoden zu lösen;[...] Der Mensch bei der Arbeit, der Mensch im Betrieb muß sich wieder als Persönlichkeit fühlen, als solche angesprochen und gewertet werden [...]. Wir, die wir im Zeitpunkt der Spannungen zwischen Ost und West, zwischen extremem Sozialismus und extremem Kapitalismus stehen, haben nur Aussicht, nicht das Opfer einer dieser beiden gleicherweise abzulehnenden Strukturen einer vermaßten Gesellschaft zu werden, wenn es uns nicht [sic] gelingt, den sozialen Ausgleich und damit eine Gesellschaftsordnung zu finden, die, [...] den Menschen und seine Arbeit wieder organisch miteinander verbindet [...].“111
Der Zusammenhang zwischen dem „Menschen im Betrieb“ und der „Gesellschaftsordnung“ wird von Weiß durch den Verweis auf die Unsicherheit angesichts des Ost-West-Konflikts in seiner Relevanz hervorgehoben. Im Feld war dies ein häufiger, wenn auch kein notwendiger Bezugspunkt bei der Thematisierung von Arbeitsbeziehungen. Populär war der Topos von der Schaffung einer stabilen Sozialordnung durch die Steuerung der Sozialbeziehungen im Betrieb auch ohne diese Drohkulisse. So konnte der Betriebssoziologe Adolph Geck sein bereits 1938 erschienenes Buch über die „soziale Betriebsführung“ 1953 neu auflegen – vom Herausgeber der Reihe „betriebswirtschaftliche Bibliothek“ eingeleitet mit den Worten: „Die Diskussion um die soziale Neugestaltung unseres gesellschaftlichen Daseins brachte es mit sich, daß auch die Probleme der sozialen Betriebsführung von Jahr zu Jahr immer stärker
109 Unter „Verantwortung“ der Arbeitnehmer versteht Raymond hier schlicht maßvolle Forderungen der Gewerkschaften. Als konkretes Beispiel für „verantwortungsbewusstes Handeln“ nennt er die Rücknahme von Lohnforderungen durch die IG-Bergbau. Vgl.: Raymond (1953), S. 35. 110 Weiß (1952), S. 8. 111 Ebd. S. 9.
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4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“ in den Vordergrund traten. [...] Das Maß der Verantwortung, mit dem die Probleme der sozialen Betriebsführung angepackt werden, ist also von wesentlicher Bedeutung für den Bestand einer Wirtschaftsordnung, die ihre Impulse aus der innerhalb gewisser Grenzen freien Verfügung des Einzelnen über ‚seine‘ Produktionsmittel zieht [...].“112
Der Herausgeber hob damit die Relevanz der Publikation hervor, indem er auf den gängigen Zusammenhang von „sozialer Betriebsführung“, also der betrieblichen sozialen Ordnung, und des „gesellschaftlichen Daseins“ hinwies. Gleichzeitig belegt die Aufnahme des Titels von Geck in die Buchreihe und die zitierte Einordnung des Herausgebers, eines Professors für Betriebswirtschaftslehre, die Popularität dieses Topos über einen Kreis an „Sozialexperten“ hinaus. Es war wiederum die BDA, die Sozialexperten wie Adolph Geck eine Plattform für die Verbreitung ihrer Konzepte bot und so als Multiplikator sozialpartnerschaftlicher Topoi im Feld fungierte. 1950 veröffentlichte Geck einen Aufsatz über die „Unternehmerische betriebliche Sozialpolitik“ in der BDA-Zeitschrift „Der Arbeitgeber“, in dem er erneut postulierte: „Sozialpolitik muß also Gesellschaftspolitik sein“.113 Wie sehr sich dieser Topos verfestigt hatte, zeigt sich auch daran, dass Fritz Jacobi sein 1963 erschienenes Buch „Personalpolitik heute und morgen“ mit dem Kapitel „Personalpolitik ist auch Gesellschaftspolitik“ einleitete, womit er den im Feld gängigen Topos prägnant verdichtete.114 Den in den 1950er Jahren sich formierenden Sozialexperten kam diese Deutung der betrieblichen Sozialbeziehungen entgegen, wertete sie doch ihre Arbeit ungemein auf. Die von ihnen popularisierten kooperativen Ordnungsentwürfe, die sich ausgehend vom Betrieb auf die ganze Gesellschaft auswirken sollten, nützten wiederum der BDA, die sich zum Ziel gesetzt hatte, einen kooperativen Modus der Arbeitsbeziehungen zu entwerfen. Diese Interessenübereinstimmung und die gegenseitige Unterstützung, die daraus resultierte, erklärt die bemerkenswerte Präsenz der sozialpartnerschaftlichen Topoi bei der Thematisierung von Fragen der Arbeitsbeziehungen im Issue-Feld. In der Vorstellung eines engen Zusammenhangs der betrieblichen Sozialbeziehungen mit der sozialen beziehungsweise wirtschaftlichen Ordnung bereits angelegt, war die Vorstellung einer besonderen Verantwortung des Unternehmers für diese Ordnung. In seinem Aufsatz für den „Arbeitgeber“ betonte Adolph Geck unter anderem diese gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers, indem er betriebliche Sozialpolitik als „Dienst an den Arbeitern und der Allgemeinheit“ bezeichnete. Diesen „Dienst“ zu leisten bedeute für die Unternehmer nichts anderes als sich ihre eigene Arbeit zu sichern und gleichzeitig zur Lösung der sozialen 112 Vorwort des Herausgebers Wilhelm Hasenack, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Göttingen, in: Geck (1953), S. 5. Geck hatte bereits in dem von Goetz Briefs nach dem Ersten Weltkrieg begründeten Institut für Betriebssoziologie maßgeblichen Anteil an der Formulierung von Konzepten betrieblicher Sozialpolitik. Vgl.: Hilger (1996), S. 38f. 113 Geck, Adolf [sic]: Unternehmerische betriebliche Sozialpolitik in Idee und Wirklichkeit, in: Der Arbeitgeber, Nr. 24/1, 1950, S. 50–56, hier S. 55. 114 Jacobi (1963), S. 5.
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Frage beizutragen.115 Dieser sozialpartnerschaftliche Topos wurde im Issue-Feld auch in der Diskussion um den Begriff der „Elite“ reproduziert. In diesem Fall war es die „Volkswirtschaftliche Gesellschaft“, die 1955 mit einem Seminar zum Thema „Elitebildung in der Wirtschaft“ ein Forum für die Artikulation und Bestätigung dieses Topos bot. Auf der Veranstaltung kamen Wissenschaftler, Vertreter von Unternehmen und Politiker zusammen, darunter der Mitveranstalter Ernst Wolf Mommsen, ein Vorstandsmitglied der Phönix-Rheinrohr AG. Er rekurrierte in seinem Vortrag wiederum auf die Vorstellung von der Wirtschaft als einem „gesellschaftsbildenden Faktor“ und leitete daraus einen „Zuwachs an öffentlicher Verantwortung“ ab, die den „verantwortlich Tätigen“ in der Wirtschaft zukomme.116 Ein so direkter Bezug auf den Topos des gesellschaftlich verantwortlichen Unternehmers, wie im Falle dieser Elite-Tagung, findet sich im Feld eher selten. Indirekt griffen insbesondere die betrieblichen Sozialexperten diesen Bezugspunkt häufig auf. So konstatierte beispielsweise Josef Winschuh eine „Unternehmerkrise“, unter anderem ausgelöst durch die Bedrohungen des „Bolschewismus“, und forderte ausgehend von dieser Diagnose eine stärkere öffentliche Beteiligung der Unternehmer.117 Er betonte außerdem die Leistungen eines Unternehmens für die Allgemeinheit, wenn es denn „mit solcher Verantwortung geleitet wurde, als ob es der Allgemeinheit gehörte.“118 Winschuh ist ein gutes Beispiel für die Mechanismen der Etablierung sozialpartnerschaftlicher Topoi als zentrale Bezugspunkte für die Thematisierung der betrieblichen sozialen Ordnung im Issue-Feld. Er hielt zahlreiche Vorträge über betriebliche Sozialpolitik und die Rolle des Unternehmers, etwa auf Tagungen der „Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer“, auf Veranstaltungen von Arbeitgeberverbänden, auf „Treffen junger Unternehmer“ oder bei Firmenjubiläen. Darüber hinaus veröffentlichte er seine Thesen in den Fachzeitschriften von Verbänden, regionalen und überregionalen Zeitungen, wie etwa der FAZ, und in Form von Monographien oder Sammelbänden.119 Winschuh kann daher als einer der „wichtigsten Impulsgeber“ für die Orientierung von Unternehmern nach 1945 gelten. Sein Konzept der „sozialen Betriebsgestaltung“ eignete sich nicht zuletzt auch die BDA an.120 Das belegt jedoch nicht nur, welche Breitenwirkung diese Winschuh’sche Deutung von Unternehmen und Arbeitsbeziehungen potenziell entfaltete. Die Zahl der Foren, die ihm zur Artikulation seines Unternehmens- und Unternehmerverständnisses angeboten wurden, zeigt vor allem, wie populär dieser Topos im Feld war. Es bestand gewissermaßen eine Nachfrage nach diesem Ori 115 Geck, Adolf [sic]: Unternehmerische betriebliche Sozialpolitik in Idee und Wirklichkeit, in: Der Arbeitgeber, Nr. 24/1, 1950, S. 50–56, hier S. 56. 116 Mommsen (1955), S. 10. 117 Winschuh (1951), S. 5. 118 Ebd. S. 23. 119 Ein Teil seiner Aktivitäten ist zusammengefasst in: Winschuh (1954); vgl.: Inhaltsverzeichnis S. 285ff. Als Monographie veröffentliche Winschuh z.B. einen Vortrag auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer. Vgl.: Winschuh (1951). 120 Rosenberger (2008), S. 260.
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entierungsangebot. Die BDA machte Winschuh zum Hauptreferenten ihrer Geschäftsführerkonferenz 1952 und veröffentlichte seinen Vortrag in ihrer Schriftenreihe, seine Publikationen fanden im „Arbeitgeber“ Erwähnung.121 Der Rezensent des „neuen Unternehmerbildes“ fasste in seiner Besprechung im „Arbeitgeber“ Winschuhs Überlegungen zur Stellung des Unternehmers auf eine Weise zusammen, die einen klaren semantischen Bezug zum sozialpartnerschaftlichen Topos des verantwortlichen Unternehmers aufweist: „Eingebettet in das sachlich und menschlich immer komplizierter werdende Spannungsfeld des Betriebes wird bei der steigenden Unsicherheit des Einzelnen im überbetrieblichen Raum der leitende Mann des Betriebes letzthin zum Mitträger einer ganz neuen gesellschaftspolitischen Verantwortung.“122
In derselben Ausgabe des „Arbeitgeber“ wird über ein Seminar berichtet, das der BDI 1954 zur Frage des Unternehmernachwuchses ausgerichtet hatte. Neben der Frage nach der „Stellung des Unternehmers im Betrieb“ ging es in einem zweiten Teil dieses „1. Baden-Badener Unternehmerseminars“ um den „Unternehmer im Gefüge von Gesamtwirtschaft, Kultur und Politik“. Die Ergebnisse der in diesem Kontext gehaltenen Vorträge – auch Josef Winschuh kam hier zu Wort – fasste ein Artikel im „Arbeitgeber“ zusammen. Er sah „eine historische Stunde für das Unternehmertum“ gekommen, „sich zu einem Staat und Gesellschaft mittragenden Pfeiler zu entwickeln.“123 Selbst auf Veranstaltungen des BDI konnten sozialpartnerschaftliche Topoi also als Basis für die Verständigung über die Rolle des Unternehmers fungieren. Die BDA begünstigte die Verbreitung dieser Einordnung im Feld, indem sie die entsprechenden Aussagen bündelte oder Plattformen für deren Artikulation zur Verfügung stellte. In einem Sonderteil zum zehnjährigen Bestehen der BDA ließ sie im „Arbeitgeber“ 1959 den Vorstandsvorsitzenden der Phoenix-Gummiwerke, Otto Friedrich, mit einem Beitrag zum Unternehmerbild zu Wort kommen, in dem er die Haltung beschrieb, die ein Unternehmer haben müsse, „wenn er nicht nur wirtschaftlichen Erfolg ernten, sondern auch ein entscheidender Träger einer dauerhaften Gesellschaftsordnung sein will.“ Aufgrund dieser Funktion war nach Friedrich unternehmerisches Handeln geprägt von einer „gesellschaftlichen Gesamtverantwortung“.124 Die BDA hatte einen wesentlichen Anteil daran, die skizzierten Topoi zu popularisieren und sie im Feld zu gängigen Bezugspunkten des Nachdenkens über das Unternehmen beziehungsweise die Arbeitsbeziehungen zu machen. Volker Berghahn hat abschätzig von der „sozialpartnerschaftlichen Propaganda“ der 121 Der von Winschuh auf der Geschäftsführerkonferenz der BDA am 10.10.1952 gehaltene Vortrag wurde z.B. in die Schriftenreihe der BDA aufgenommen. Vgl.: Winschuh (1952). 122 Rezension zu: „Das Neue Unternehmerbild“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 4, 1955, S. 116–118, hier S. 118. 123 Artikel „Zur Förderung des Unternehmer-Nachwuchses“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 4, 1955, S. 118–119, hier S. 119. 124 Friedrich, Otto A.: Das Leitbild des Unternehmers, in: Der Arbeitgeber, Nr. 1/2, 1959, S. 45– 49, hier S. 46.
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BDA gesprochen, die neben dem BDI ohnehin kaum von Bedeutung gewesen sei. Hinsichtlich der Etablierung der Sozialpartnerschaft als gängigem Deutungsmodus im Issue-Feld muss demgegenüber konstatiert werden, dass die BDA wesentlichen Anteil daran hatte diesen zu etablieren. Sie bot mit dem „Arbeitgeber“, der Schriftenreihe der BDA oder Veranstaltungen Foren für eine Thematisierung der Arbeitsbeziehungen, in denen der Bezug zu zentralen Topoi der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung bereits in der jeweiligen Plattform der Artikulation angelegt war, etwa durch die gesetzten Themen und Leitfragen. Zahlreiche Experten und Organisationen griffen die Topoi einer engen Verbindung zwischen betrieblicher und gesellschaftlicher Ordnung und das Bild des gesellschaftlich verantwortlichen Unternehmers auf. Indem sie auf der skizzierten semantischen Ebene Bezug auf zentrale Topoi der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung nahmen, bekundeten sie ihre Zugehörigkeit zu dieser Deutungsgemeinschaft und bestätigten dessen Relevanz. Eine wichtige Rolle für diese Präsenz der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung im Feld spielte auch der Umstand, dass Fragen der sozialen Betriebsgestaltung in den 1950er Jahren geradezu ein Modethema wurden, wie ausgerechnet Josef Winschuh selbst feststellte.125 Zahlreiche Vereinigungen wie die von ihm mitbegründete „Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer“, die bereits erwähnte „Arbeitsgemeinschaft für soziale Betriebsgestaltung“, die „Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Partnerschaft in der Wirtschaft“ oder der „Arbeitskreis für soziale Betriebspraxis“ boten mit ihren Zeitschriften und Veranstaltungen Foren für eine Thematisierung der Arbeitsbeziehungen, die schon aufgrund der Eigeninteressen der in ihnen organisierten „Sozialexperten“ einer sozialpartnerschaftlichen Deutung der Arbeitsbeziehungen und der Figur des Unternehmers nahe standen.126 Dazu kam das herrschende Orientierungsbedürfnis in einer als unsicher empfundenen Situation, welches es ebenfalls begünstigte, dass sich zentrale Annahmen der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung, wie die enge Verbindung von betrieblicher und gesellschaftlicher Ordnung, im Feld als dominante Modi der Thematisierung von Arbeitsbeziehungen etablierten. Der Rückgriff auf die zentralen Topoi der Ordnungsvorstellungen in der Kommunikation im Issue-Feld kann vor diesem Hintergrund als Beleg für deren Orientierungsfunktion gewertet werden. Stellten die Akteure auf direkte oder indirekte Weise Bezüge zu einem dieser Topoi her, so ist das nicht einfach deren Popularität oder gar dem Zufall geschuldet. Vielmehr wurden sie von den Kommunizierenden eingesetzt, um zu verdeutlichen, auf welcher Basis die Verständigung erfolgte. Indem die Akteure im Feld in ihren Zustandsbeschreibungen auf ein patriarchalisches beziehungsweise sozialpartnerschaftlich geprägtes begriffliches Inventar zurückgriffen, versicherten sie sich der Gültigkeit der Ordnungsvorstellung und bekundeten ihre Zugehörigkeit zu einer Deutungsgemeinschaft. 125 Vgl.: Winschuh (1952), S. 5. 126 Für einen kurzen Abriss über diese Organisationen vgl.: Winschuh (1952), S. 6f; zur „Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer“ vgl. insbesondere: Ebd. (1951).
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4.4 ZWISCHEN BEDROHUNG UND VERPFLICHTUNG: LEGITIME MÖGLICHKEITEN DES UMGANGS MIT DER ARBEITSZEITSENKUNG Solche von den Akteuren geteilte Wissensordnungen, wie sie im vorigen Abschnitt herausgearbeitet wurden, gelten dem Neo-Institutionalismus als wichtiges Merkmal eines Feldes, unter anderem weil sie die im Feld herrschenden Grundannahmen und Handlungslogiken bedingen.127 Die in der Verwendung der jeweiligen Topoi angezeigten, unterschiedlichen Modi der Deutung, ließen die Bewertung der Arbeitszeitfrage nicht unbeeinflusst. Vor die Notwendigkeit gestellt, die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ erst zu definieren, das heißt legitime Formen des Umgangs mit ihr festzulegen, boten die Ordnungsvorstellungen bereits Vorannahmen. Es ist daher zu fragen, ob die Ordnungsvorstellungen durch ihre Setzungen von Legitimitäten Auswirkungen auf die Institutionalisierung des Umgangs mit der Arbeitszeitverkürzung hatten. Allerdings gilt es zu präzisieren, in welcher Form innerhalb des Issue-Feldes überhaupt eine Institutionalisierung der Anforderung stattfinden konnte. „Institutionalisierung“ kann in diesem Fall keine Festsetzung einer formalen Regel bedeuten. Der Umgang mit der Arbeitszeitsenkung wurde im Issue-Feld jedoch insofern festgelegt, als die legitimen Handlungsmöglichkeiten ausgehandelt wurden. Diese können auf einer semantischen Ebene herausgearbeitet werden. Aus der Kommunikation innerhalb der Unternehmerschaft gilt es, die Regeln des Sagbaren in Bezug auf die Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung herauszuarbeiten. So kann der Raum des Möglichen bestimmt werden, innerhalb dessen sich die legitime Handhabung der Anforderung bewegte. Vergleichbar ist dieser Prozess mit dem im Neo-Institutionalismus beschriebenen Angleichen des Verhaltens beziehungsweise der Struktur von Organisationen im organisationalen Feld. Das Beobachten und gegebenenfalls Kopieren von anderen Organisationen führt beispielsweise dazu, dass eine erfolgreiche Strategie innerhalb des Feldes aufgegriffen und schließlich – wenn sich ihr genügend Akteure angeschlossen haben – institutionalisiert wird.128 Übertragen auf den hier interessierenden Möglichkeitsraum bedeutet das, die „erfolgreichen“ Modi der Thematisierung zu rekonstruieren, also diejenigen, die – zumindest im Issue-Feld – ausschlaggebend für die Bewertung des legitimen Verhaltens in Sachen Arbeitszeitverkürzung waren. Diese Etablierung bestimmter Deutungen kommt durchaus einer Institutionalisierung gleich, wird damit doch das Spektrum möglicher Hand 127 Vgl.: Becker-Ritterspach, J. / Becker-Ritterspach, F. (2006b), S. 129f; Auch Beschorner / Lindenthal / Behrens machen es zum Kennzeichen eines organisationalen Feldes, dass die darin zusammengefassten Organisationen ein gemeinsames „Sinnsystem“ teilen. Vgl.: Ebd. (2004), S. 291. 128 Vgl.: Beschorner / Lindenthal / Behrens (2004), S. 295. Unter „Institutionalisierung“ verstehen Beschorner / Lindenthal / Behrens in diesem Fall ganz allgemein die rasche Verbreitung einer Strategie im Feld, was deren hohe Legitimität anzeigt.
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lungsweisen auf bestimmte, als legitim geltende Pfade verdichtet. Durch diese Zuschreibung von Legitimitäten ist der ausgehandelte Möglichkeitsraum in gewisser Weise sanktioniert, da eine den Feldteilnehmern bekannte Abgrenzung zwischen „richtigem“ und „falschem“ Verhalten etabliert wird. Aufgrund dieser im Issue-Feld ausgehandelten Legitimitätszuweisungen lagen bestimmte Handlungsoptionen im Umgang mit der Arbeitszeitfrage nahe, während andere nicht legitim erschienen. Institutionalisierung der Anforderung im Kaiserreich: Arbeitszeitsenkung als Bedrohung des unternehmerischen Selbstverständnisses Die einzig legitime Referenzgruppe für die Entscheidungsfindung in Sachen Arbeitszeitverkürzung war vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung idealtypisch die betriebliche Gemeinschaft. Allein in dieser Gemeinschaft waren die Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung auszuhandeln. Diese Bewertung der Anforderung stand einer Verkürzung der Arbeitszeiten nicht per se im Wege. Wie bereits in Kapiel III. gezeigt, war es Siemens durchaus möglich, in der Korrespondenz mit anderen Unternehmern die Senkung der Arbeitszeiten zu befürworten. Zwar war es notwendig einen potenziell symbolträchtigen Schritt wie die Einführung des Achtstundentages, und sei es probeweise, zu legitimieren. Aber eine Arbeitszeitsenkung erschien grundsätzlich als begründbare unternehmerische Entscheidung. Arnold von Siemens beschrieb den Achtstundentag 1890 gegenüber dem Unternehmen Basse & Selve sogar als ein allgemeines, langfristiges Ziel. Er zweifle daher nicht daran, dass die Industrie „sich mit dem Gedanken vertraut machen muss, diesem sogenannten Normal-Arbeitstage allmählich immer näher zu kommen“.129 Insbesondere indem Siemens den Achtstundentag als „Normalarbeitstag“ bezeichnet, und damit einen sehr umstrittenen Begriff verwendet, der impliziert, dass eine verbindliche Grenze für die Länge des Arbeitstages gelten sollte, verweist er auf die Senkung der Arbeitszeiten als einem ebenso möglichen wie langfristig unvermeidlichen Ziel. Interessierte Fragen nach der Umsetzung verkürzter Arbeitszeiten erreichten auch Carl Zeiss, nachdem das Unternehmen die Arbeitszeit auf acht Stunden verkürzt hatte. Der Unternehmer Max Krause schrieb, er trage sich „mit der Absicht, die achtstündige Arbeitszeit in meinem Betriebe einzuführen“, und bat daher um Informationen über die bei Zeiss verwendeten Pausenregelungen.130 Auch die Anfragen, die Carl Duisberg in Folge der Senkung der Arbeitszeiten auf neun Stunden erreichten, lassen auf ein Interesse an der organisatorischen Umsetzung einer solchen Arbeitszeitverkürzung schließen, nicht jedoch auf eine grundsätzliche Ablehnung. Im Jahr 1907 hatte sich die BASF bei Bayer nach den organisatorischen Bedingungen der Arbeitszeitsenkung erkundigt und einen Kosten- und Organisationsplan über die 129 Schreiben Arnold von Siemens an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. 130 Schreiben Max Krauses an Carl Zeiss vom 3.9.1906, in: BACZ 321.
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Einführung des Neunstundentages erhalten.131 Zu diesem Zeitpunkt befürwortete die Kommission für Arbeiterangelegenheiten der BASF ebenfalls eine Senkung der Arbeitszeiten.132 Zwei Jahre später erläuterte Duisberg persönlich dem Direktor der Firma Kalle & Co, Eugen Fischer, die organisatorischen Rahmenbedingungen der Arbeitszeitverkürzung, welche dem Unternehmen keine Schwierigkeiten bereitet habe.133 Fischer antwortete, damit habe Duisberg „die letzten Bedenken zerstreuen können.“ Demnächst werde man daher im eigenen Unternehmen eine ähnliche Regelung einführen.134 1911 tauschte sich Duisberg mit Siegfried G. Werner über die Bedingungen einer Senkung der Arbeitszeiten aus. Beide waren sich einig, dass eine Senkung der Arbeitszeit durch eine „Verminderung des ‚Leergangs des Arbeiters‘“, also durch Rationalisierungsmaßnahmen und eine effiziente Organisation der Produktionsprozesse, möglich sei.135 Unter der Bedingung, dass dies gegeben sei konstatierte Duisberg, er würde „keinen Moment zögern, um eine Reduktion der Arbeitszeit eintreten zu lassen“ – nicht zuletzt um den von ihm bereits erwarteten Konflikten mit den Arbeitern vorzubeugen.136 Die Korrespondenzen zeigen, dass es im Issue-Feld durchaus legitim war Arbeitszeitsenkungen zu befürworten und das sowohl 1890 als auch noch 1911, also unabhängig von den nach der Jahrhundertwende sich noch verschärfenden Konflikten zwischen Arbeitgebern und -nehmern. In den beiden skizzierten Fällen enthält die Korrespondenz keine Spur einer grundsätzlichen Ablehnung der Arbeitszeitverkürzung, sie erscheint in erster Linie als ein organisatorisches Problem. Zumal die Korrespondenzen die Bereitschaft erkennen lassen, den Forderungen der Arbeitnehmer soweit als möglich entgegenzukommen um Konflikte zu vermeiden. Auch Arnold von Siemens hatte in seinem Schreiben an Basse & Selve keinen Zweifel daran gelassen, dass er es für sinnvoller hielt die Senkung selbst einzuleiten, um auf diese Weise die Kontrolle über ihre Entwicklung zu behalten.137 Allerdings war die Senkung der Arbeitszeiten, sollte sie auf eine Weise erfolgen, die im Issue-Feld als legitim galt, an bestimmte Bedingungen geknüpft. Entscheidend war, auf welcher Grundlage eine Senkung der Arbeitszeiten erfolgte. Das patriarchalische Kooperationsideal, von dem ausgehend die Situation bewertet wurde, bezog sich allein auf die betriebliche Gemeinschaft. In Gewerkschaften organisierte Arbeitnehmer erschienen dadurch als illegitime Akteure für 131 Vgl.: Dankschreiben an Bayer vom 8.12.1907; sowie: Denkschrift „Einführung der neuen Arbeitszeit in den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Leverkusen“ (undatiert); jew. in: BASF UA C 631/1. 132 Vgl.: Sitzungsprotokoll der Kommission für Arbeiterangelegenheiten vom 3.1.1907, in: BASF UA C 651/1. 133 Vgl.: Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Direktor von Kalle & Co, vom 23.3.1909, in: BAL 215/11. 134 Schreiben Eugen Fischers, Direktor von Kalle & Co, an Duisberg vom 27.3.1909, in: BAL 215/11. 135 Schreiben Siegfried G. Werners an Duisberg vom 12.12.1911, in: BAL 215/1. 136 Schreiben Duisbergs an Siegfried G. Werner vom 14.12.1911, in: BAL 215/1. 137 Vgl.: Schreiben Arnold von Siemens’ an Basse & Selve vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516.
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die Aushandlung von Arbeitszeiten. Kompromisse mit ihnen zu schließen bedeutete, ihren Forderungen „nachzugeben“, eine vom patriarchalischen Standpunkt aus betrachtet illegitime Form der Arbeitszeitsenkung. Solange jedoch die Frage der Arbeitszeitgestaltung im Bereich einer alleinigen Entscheidung der Unternehmensleitung lag beziehungsweise auf der Abstimmung mit der eigenen Belegschaft beruhte, war sie legitim. Wenn Arnold von Siemens in seinem Schreiben an Basse & Selve von der „übrigen Industrie“ sprach, die sich diesem Ziel nur langsam nähere, verwies er indirekt auf diese legitime Form der Arbeitszeitsenkung, nämlich eine Senkung auf der Basis einzelbetrieblicher unternehmerischer Entscheidungen. Sehr häufig wurde in diesem Kontext das Moment einer kooperativen Zusammenarbeit mit den Beschäftigten aufgegriffen. Carl Duisberg teilte dem Direktor des Unternehmens Kalle & Co. mit, anfangs hätten die Arbeiter Bedenken gegen die Streichung der Frühstückspause geäußert: „Als ich den Arbeitern aber sagte, dass jeder derselben das Recht habe, schon geraume Zeit vor ½ 8 [sic] Uhr den Pförtner passieren zu dürfen, dass die Erfrischungs- und Aufenthaltsräume von 6 Uhr an geöffnet sein sollten, und dass es jedem Arbeiter überlassen bliebe, sein Frühstück vor Beginn der Arbeitszeit in der Fabrik einzunehmen, waren sie beruhigt [...].“138
Der Passus „Als ich den Arbeitern aber sagte“ zeigt an, dass Duisberg die Veränderung der Arbeitszeiten in idealer patriarchalischer Manier persönlich mit der Belegschaft besprochen hatte. Unabhängig davon, ob das tatsächlich der Fall war, nahm Duisberg damit auf den patriarchalischen Topos eines persönlichen Verhältnisses mit den Beschäftigten Bezug. Indem er auf diese Weise die Arbeiter „beruhigen“ konnte, verweist Duisberg darauf, dass er über diese Veränderung der Arbeitszeit auf der Basis einer kooperativen Übereinstimmung mit der Belegschaft entschieden habe. Auf ein ähnlich idealtypisches Vorgehen verwies Arnold von Siemens gegenüber dem Unternehmen Basse & Selve: „Da wir bereits auf Anregung aus der Mechaniker-Abteilung unseres Charlottenburger Werkes, in derselben über Einführung [sic] der durchgehenden Arbeitszeit hatten abstimmen lassen, so soll dieselbe jetzt für diese Abteilung versuchsweise in Kraft treten [...].“139
Demzufolge war die probeweise Einführung des Achtstundentages auf den Wunsch der Belegschaft der Mechaniker-Abteilung zurückzuführen. Da es sich um eine begründbare „Anregung“ der Mechaniker handelte – keinesfalls also um eine durch Streik angedrohte oder von Gewerkschaften formulierte Forderung – zeigte sich die Firmenleitung bereit dem zu entsprechen, wiederum in direkter Absprache mit der Belegschaft, die über diesen Versuch abstimmte. Dadurch bestätigte Arnold von Siemens das patriarchalische Ideal und markierte die legitime Form der Arbeitszeitsenkung auf der Basis einer kooperativen Aushandlung mit der „eigenen“ Belegschaft. Diesen patriarchalischen Idealtypus stellte jede von Seiten der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft formulierte Forderung in Frage, ebenso wie eine tarifvertragliche Normierung des Arbeitstages. Gleiches 138 Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Kalle & Co, vom 23.3.1909, in: BAL 215/11. 139 Schreiben Arnold von Siemens’ an Basse & Selve vom 29.4.1890 in: SAA 14 Lr 516.
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4. Deutungen der „Arbeitszeitfrage“
galt für die Diskussionen, die in den 1890er Jahren im Zuge des „Neuen Kurses“ der Sozialpolitik über eine mögliche gesetzliche Regulierung der Arbeitszeiten geführt wurden.140 Die Arbeitszeiten auf einer überbetrieblichen Ebene zu regeln, bedeutete vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung, die Frage der Arbeitszeitsenkung aus dem Raum einer unternehmerischen Entscheidung herauszunehmen. Das stellte jedoch den „Herr-im-Hause-Standpunkt“ in Frage und somit einen fundamentalen Bestandteil des unternehmerischen Selbstverständnisses. So erklärt sich, weshalb die Einführung des Achtstundentages bei Zeiss nicht nur auf Interesse sondern auch auf heftige Kritik stieß. Die „Deutsche Tageszeitung“ wertete diesen Schritt als „Verbeugung vor der Sozialdemokratie“, bezeichnete sie gar als Unterwürfigkeit, die nur neue Forderungen nach sich zöge. Die Berliner Neuesten Nachrichten unterstellten Ernst Abbe eine arbeitnehmerfreundliche Haltung, die davon zeuge, dass er von den Pflichten des Inhabers eines großen Betriebes keine Ahnung habe.141 Dabei hatte Abbe eigentlich alle Anforderungen des patriarchalischen Ideals erfüllt. Bereits seit zwei Jahren hatte der Arbeiterausschuss über eine mögliche Senkung der Arbeitszeiten auf acht Stunden diskutiert, als im März 1900 eine Versammlung einberufen wurde, auf der Ernst Abbe und Siegfried Czapski zu den Arbeitern sprachen. Ziel war es, die letzten Bedenken der Belegschaft auszuräumen, die unter anderem eine Verstärkung der Kontrollen und übermäßiges Antreiben durch die Meister befürchteten.142 Czapski nahm direkt Bezug auf das patriarchalische Ideal einer Vertrauensbeziehung in einer Gemeinschaft als er entgegnete: „Wenn es nöthig wäre, Controll-Uhren anzuschaffen und die Thore zuzumachen, dann würden wir sagen, wir haben hier eine Arbeiterschaft, die für den 8 Stundentag [sic] nicht reif ist [...]“.143 Abbe verwies seinerseits auf die erfolgreiche Senkung der Arbeitszeiten bei Siemens, wo es weder zu Arbeitsausfällen gekommen sei, noch zu einer Erhöhung der Akkorde oder einer Senkung der Löhne.144 Drei Tage nach der Versammlung gab es darüber hinaus eine Abstimmung unter der Belegschaft.145 Erst nach dieser Auseinandersetzung mit den Sorgen der Beschäftigten begann die Erprobung des Achtstun 140 Vgl. dazu allgemein: Nipperdey (1998), S. 359f. 141 Artikelausschnitte: Deutsche Tageszeitung, Nr. 190, 24.4.1901; sowie: Berliner Neueste Nachrichten, Nr. 193, 25.4.1901; jew. in: BACZ 325. 142 Vgl.: Protokoll einer von der Geschäftsführung einberufenen Versammlung der Arbeiter vom 12.3.1900, S. 24f., in: BACZ 23. 143 Ebd. S. 29. Gerade dieses Beispiel zeigt im Übrigen, dass zwischen Idealtypus und Praxis erhebliche Lücken klafften. 1906 ließ Siegfried Czapski mitteilen, dass die Tore 15 Minuten vor und nach der Arbeitszeit geöffnet seien: „Während der Arbeitszeit bleibt das Tor geschlossen.“ Mitteilung der Geschäftsleitung, gez. Czapski, vom 28.12.1906, in: BACZ 263. 144 Vgl.: Protokoll einer von der Geschäftsführung einberufenen Versammlung der Arbeiter vom 12.3.1900, S. 8., in: BACZ 23. 145 Vgl.: Ergebnisse der Abstimmung unter der Arbeiterschaft über die Einführung des Achtstundentages am 15.3.1900, in: BACZ 22. Es wurden 745 Stimmzettel abgegeben, unter den gültigen waren 614 für, 105 gegen eine Senkung der Arbeitszeiten.
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dentages. Die Senkung der Arbeitszeiten bei Zeiss entsprach damit vollkommen dem patriarchalischen Ideal einer kooperativen Aushandlung innerhalb der betrieblichen Gemeinschaft, das auch in der Geschäftsleitung von Zeiss offensichtlich höchste Legitimität genoss. Allerdings machte Abbe nach der erfolgreichen Evaluation des Versuchs von 1900 die Ergebnisse nicht nur publik, er warb mit ihnen auch noch öffentlich für eine Senkung der Arbeitszeiten.146 Mit diesem Eintreten für den Achtstundentag leistete er der Debatte um eine allgemeine Normierung des Arbeitstages Vorschub. Eine allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch die Senkung der Arbeitszeiten war sein erklärtes Ziel, er selbst hielt eine gesetzliche Regelung des Arbeitstages für sinnvoll, auch wenn er nicht daran glaubte, dass ein solches Gesetz beschlossen würde.147 In der Kritik an Abbe zeigen sich die Grenzen des Sagbaren im Feld, in dem jede Form einer überbetrieblichen Organisation von Arbeitszeiten aufgrund des patriarchalischen unternehmerischen Selbstverständnisses abgelehnt wurde. Sehr prägnant fasste Carl Duisberg die legitimen und illegitimen Formen des Umgangs mit der Arbeitszeitverkürzung zusammen, als er 1912 auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands über die Einführung der achtstündigen Wechselschicht bei Bayer berichtete. Die Betriebsführer hätten zunächst große Bedenken gehabt, erste Versuche seien bereits gescheitert. „Wir haben dann die Arbeiter zusammengerufen [...] und haben gefragt, ob sie bereit wären, einen solchen Versuch ohne Veränderung der Löhne zu machen [...].“148 Dem Versuch ging also eine direkte Aushandlung mit der Belegschaft voraus, die bei dieser Gelegenheit ihre Kooperationsbereitschaft bestätigte, außerdem sei eine weitere Bedingung erfüllt gewesen: „Es stand keine Organisation dahinter, die diesen Versuch vereitelte, wie es an manchen anderen Stellen der Fall gewesen ist. Es ist so gut gelungen, daß ich allen empfehlen kann, die frei von einem derartigen Organisationszwang sind und in einem friedlichen Verhältnis mit ihren Arbeitern leben, es auch zu probieren, und zwar lediglich und allein im Interesse der Arbeiter.“149
Den Arbeitern sei mit dieser Regelung „ein großer Dienst erwiesen und sie wollen von der alten Arbeitszeit nichts mehr wissen.“150 Duisberg formulierte damit klare Bedingungen für die Arbeitszeitsenkung, die direkt aus der patriarchalischen Ordnungsvorstellung abgeleitet waren. Demnach war eine Voraussetzung für die Senkung das „friedliche Verhältnis“ zu den Arbeitern, also die Existenz der betriebli 146 Ein Zeugnis Abbes offensiven Werbens für die Arbeitszeitverkürzung sind z.B. seine Vorträge, die er 1901 in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft zu Jena hielt. Vgl.: Abbe (1906), S. 203–245. 147 Vgl.: Ebd. S. 243f. 148 Rede Duisbergs auf der Hauptversammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands am 25.10.1912, abgedruckt in: Duisberg (1923), S. 551– 553, hier S. 552. 149 Ebd. S. 552f. 150 Ebd. S. 553.
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chen Gemeinschaft, während „Organisationszwang“, das heißt von Seiten gewerkschaftlich organisierter Arbeiter erhobene Forderungen, Duisberg als ein Ausschlusskriterium galt. Auch die Rolle des Unternehmers bestimmte Duisberg näher, indem er das Wohl der Arbeiter zur alleinigen Motivation für eine solche Entscheidung erhob. Dieser Deutung der Arbeitszeitfrage zufolge, erfolgte die Senkung der Arbeitszeit idealtypisch als eine patriarchale Gunstbezeugung gegenüber einer treuen Belegschaft. Duisberg formulierte diese Bedingungen des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung im Rahmen einer Begrüßungsrede auf der Hauptversammlung eines Arbeitgeberverbandes. Es ist daher davon auszugehen, dass er mit seinen Deutungen an gängige Topoi anknüpfte, dessen Akzeptanz er beim Publikum voraussetzen konnte. Damit zeigt das Zitat, dass der Patriarchalismus die im Issue-Feld geteilte Wissensordnung darstellte, von der ausgehend die Ereignisse bewertet wurden. Erst durch diese im Issue-Feld von den Akteuren in ihrer Kommunikation wiederholt bestätigte Einordnung der „Arbeitszeitfrage“ wurden die Möglichkeiten des legitimen Umgangs mit der Anforderung benannt, stabilisiert und aufrecht erhalten. So wird auf einer semantischen Ebene sichtbar, wie sich im Issue-Feld ein Möglichkeitsraum etablierte, begrenzt durch klar definierte Vorstellungen von richtigem und falschem Verhalten in Sachen Arbeitszeitsenkung. Insofern wurde die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ innerhalb des Issue-Feldes institutionalisiert, da hier die Rolle des Unternehmers für den Prozess näher definiert, bestimmte Handlungsoptionen nahegelegt und andere ausgeschlossen wurden. Als einzig legitime Entscheidungsinstanz in Sachen Arbeitszeitverkürzung galt der Unternehmer. Der Zusammenhang zwischen der Frage der Arbeitszeitsenkung und der zeitgleich stattfindenden Neuorganisation der Arbeitsbeziehungen wurde zwar hergestellt. Indem die Gewerkschaften jedoch als „betriebsfremde Agitatoren“ eingeordnet wurden, bleiben sie idealtypischerweise von der Aushandlung der Arbeitszeiten ausgeschlossen. Die Arbeitszeitsenkung wurde im Issue-Feld als ein Problem definiert, das allein auf der Ebene einzelbetrieblicher Entscheidungen beziehungsweise auf der Aushandlung in der betrieblichen Gemeinschaft zu regulieren war. Während damit auf der idealtypischen Ebene die gesellschaftspolitische Bedeutung der Handhabung von Arbeitszeiten letztlich negiert wurde, war es eben diese politische Dimension der „Arbeitszeitfrage“, aufgrund derer auch die Handlungsspielräume auf der einzelbetrieblichen Ebene eingeschränkt wurden. Wegen der engen Verknüpfung der Arbeitszeitgestaltung mit dem vermeintlich drohenden Verlust der patriarchalen Unternehmensordnung wurde die Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung politisiert. Die Verkürzung der Arbeitszeiten war eben keine rein betriebliche Frage sondern eine von politischer Tragweite, weshalb die sie dort tabuisiert wurde, wo sie sich nicht an den im Issue-Feld formulierten Voraussetzungen orientierte.
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Institutionalisierung der Anforderung in den 1950er und 1960er Jahren: Arbeitszeitsenkung als unternehmerische Verpflichtung Die betont sozialpartnerschaftliche Thematisierung betrieblicher Arbeitsbeziehungen in den 1950er und 1960er Jahren wirkte sich weniger explizit auf die Bewertung der Arbeitszeitsenkung aus, als es die Popularität dieser Ordnungsvorstellung im Issue-Feld erwarten ließe. Äußerungen über die sozialpartnerschaftliche Bedeutung der Arbeitszeitsenkung wurden eher vermieden. Der „Arbeitgeber“ berichtete zwar über die Entwicklung der Diskussion um die 40-Stunden-Woche, hielt sich jedoch mit einer Bewertung im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung sehr zurück. Veröffentlicht wurde beispielsweise ein Artikel über die „40-Stundenwoche aus christlicher Sicht“, der von einer Tagung der evangelischen Kirche berichtete, auf der sowohl Vertreter von Arbeitgebern und -nehmern, als auch der Kirche Erwartungen an eine rasche Senkung der Arbeitszeiten dämpften und zu gemäßigtem, wohlüberlegtem Vorgehen aufriefen.151 Die weitaus meisten Artikel zu diesem Thema erschienen im Jahr 1955. Sie berichteten jedoch in erster Linie über Veranstaltungen, auf denen dieses Thema diskutiert worden war, und räumten dabei den kritischen Stimmen großen Raum ein.152 Die BDA selbst nahm nur sehr vorsichtig Stellung zur Arbeitszeitsenkung und mahnte beide Seiten zur Mäßigung, insbesondere nachdem der DGB im Aktionsprogramm vom 1. Mai 1955 die 40-Stunden-Woche zur zentralen Forderung erhoben hatte. Dieses Aktionsprogramm nahm Paul Osthold, Hauptschriftleiter des „Arbeitgeber“ seit dessen Bestehen, zum Anlass, in der Augustausgabe 1955 die Gewerkschaften zu „verantwortlicher Selbstbeschränkung“ aufzurufen.153 Auch ein Artikel in der Dezemberausgabe wertete das Aktionsprogramm als deutlich verfrühte Forderung, für die gegenwärtig weder die nötigen Arbeitskräftenoch Kapitalreserven zur Verfügung stünden.154 Deutlicher äußerte sich der Arbeitgeberverband der Berliner Metallindustrie zur Frage der Arbeitszeitsenkung, der 1954 seinen Mitgliedern die Ergebnisse einer Umfrage über „Dauer und Verteilung der Arbeitszeit“ zukommen ließ. Im Bericht zur Umfrage mahnte der Verband, alle „verantwortungsbewussten Kreise“ dürften sich einig sein, „dass das Problem der 40-stündigen Arbeitswoche weder für die deutsche Wirtschaft noch 151 Vgl.: Artikel „Die 40-Stundenwoche in christlicher Sicht“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 18, 1954, S. 680–681. 152 Vgl.: Artikel „Besinnung um die 40-Stundenwoche“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 5, 1955, S. 151–153; Artikel „40 Stunden – Wann und wie?“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 8, 1955, S. 269–271; Artikel „Noch einmal die 40-Stunden-Woche“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 11, 1955, S. 382–384. 153 Osthold, Paul: Um Lohn und Arbeitszeit und einiges mehr, in: Der Arbeitgeber, Nr. 15/16, 1955, S. 501–502, hier S. 502. Unter dem Pseudonym „Dr. O“ formulierte Osthold die Leitartikel im Arbeitgeber. Zur Person Paul Ostholds und seiner Rolle für den „Arbeitgeber“ vgl. dessen Würdigung in: Der Arbeitgeber, Nr. 13/14, 1959, S. 414–416. 154 Vgl.: Artikel „Lohn-, Tarif- und Arbeitszeitpolitik“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 23/24, 1955, S. 854–864, hier S. 856.
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etwa gar für die Berliner Wirtschaft heute schon eine diskussionsfähige Frage darstellt.“ Der Verband klassifizierte die geforderte Arbeitszeitsenkung auf 40 Stunden damit als bedrohliches Szenario, auf einer halben Seite ist in dem Schreiben immerhin vier Mal von einem „Problem“ die Rede.155 Diese Argumentation kann jedoch kaum verwundern, schließlich galt es für die Arbeitgeber, sich Handlungsspielräume zu erhalten, als eine Entwicklung hin zur Senkung der Arbeitszeiten bereits abzusehen war. Im Issue-Feld war es also auch vor dem Hintergrund der sozialpartnerschaftlichen Wissensordnung durchaus legitim die Arbeitszeitsenkung als Problem zu definieren und Argumente gegen eine Senkung auszutauschen. Allerdings fällt im Vergleich zur Diskussion im ersten Untersuchungszeitraum auf, dass im Issue-Feld nun ausschließlich sachliche Einwände zur Sprache kamen. Im oben erwähnten „Arbeitgeber“-Artikel verwies Paul Osthold unter anderem auf die Gefahr steigender Preise, die aufgrund der mit der Arbeitszeitsenkung einhergehenden faktischen Lohnerhöhung zu erwarten seien. Darüber hinaus verursache jede Arbeitszeitverkürzung einen Investitionsaufwand, der beispielsweise auf Kosten weiterer Lohnerhöhungen gehen müsse.156 Ebenfalls als Vertreter der BDA mahnte auch Franz Spiegelhalter auf einer Tagung der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“ zur 40Stunden-Woche im Jahre 1955 an, die Arbeitszeitverkürzung müsse sich an den „Grenzen der volkswirtschaftlichen Produktivitätssteigerung“ orientieren, um keine Preissteigerungen zu verursachen.157 Die Kritiker der von Ulrich Haberland 1958 vermeintlich angekündigten Arbeitszeitsenkung bei Bayer argumentierten unter anderem ebenfalls mit Verweis auf die Inflationsgefahr gegen zu rasch sinkende Arbeitszeiten.158 Selbst die Arbeitgeberverbände hielten sich mit grundsätzlichen Bewertungen zurück. Beispielsweise erhielten die Mitglieder der „Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein“, wie auch des „Arbeitsrings der Arbeitgeberverbände der Deutschen chemischen Industrie“, im Jahr 1955 Dossiers zur 5-Tage- und 40-Stunden-Woche, in denen Argumente für und gegen die jeweilige Form der Arbeitszeitsenkung zusammengestellt waren – womit die Senkung allerdings als ein prinzipiell begründbarer, also legitimer Schritt erschien.159 Die Appelle an die Gewerkschaften zur Mäßigung beziehungsweise die vorgebrachten Argumente gegen eine rasche Senkung der Arbeitszeiten, waren häufig verbunden mit einem Verweis auf den grundsätzlichen gemeinsamen Stand 155 Rundschreiben des AVBM Nr. M29/54, 20.4.1954, in: SAA 11127–4. 156 Vgl.: Osthold, Paul: Um Lohn und Arbeitszeit und einiges mehr, in: Der Arbeitgeber, Nr. 15/16, 1955, S. 501–502, hier S. 501. 157 Spiegelhalter (1955), S. 165. 158 Vgl.: Schreiben Josef Winschuhs an Ulrich Haberland vom 1.10.1958; sowie: Schreiben Wilhelm Vorwerks an Ulrich Haberland vom 11.10.1958; jew. in: BAL 215/11. 159 Vgl.: Zusammenstellung der „Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein“ vom 1.4.1955; sowie: Dossiers des „Arbeitsrings der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie“: „Zusammenstellung von Argumenten und Gegenargumenten“ (undatiert); sowie: „Betrifft: Arbeitszeitfragen“ vom 22.3.1955; jew. in: BAL 215/11.5.
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punkt, die Arbeitszeiten seien langfristig zu verkürzen. Paul Osthold hatte im Arbeitgeber bereits 1954 von den Gewerkschaften eine weiterhin gemäßigte Arbeitszeitpolitik gefordert, jede Senkung müsse sich an den wirtschaftlichen Möglichkeiten orientieren. Er betonte jedoch auch, dass diese Einwände am „Grundsatzziel“ einer Senkung der Arbeitszeiten nichts änderten. „Selbstverständlich sind wir nicht gegen den 8-Stunden-Tag und selbstverständlich sind wir nicht gegen eine Entwicklung in Richtung auf eine kürzere Arbeitszeit [...].“160 In einem Arbeitgeber-Artikel zur Tarifpolitik von 1955, wurde unter anderem das „Problem der Arbeitszeitverkürzung“ thematisiert, allerdings direkt verbunden mit dem Hinweis, die Forderung des DGB sei „auch von Arbeitgeberseite als erstrebenswertes Fernziel im Rahmen der zukünftigen Hebung unseres allgemeinen Lebensstandards anerkannt worden [...].“161 Einer solchen Bewertung der Arbeitszeitsenkung leistete auch die „Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft“ Vorschub, die 1955 ein Seminar zur 40-Stunden-Woche veranstaltete. Die Einordnung der Arbeitszeitverkürzung in die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung lag hier nahe, schließlich hatte es sich die „Gesellschaft“ zur Aufgabe gemacht, in den Arbeitsbeziehungen „die Gegensätze zu versachlichen und ein sozialpolitisch verantwortliches Handeln auf beiden Seiten zu fördern.“162 Im Mai 1955, kurz nach Veröffentlichung des DGB-Aktionsprogramms, brachte die Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft auf dem Seminar Unternehmer, Vertreter der Gewerkschaften und Wissenschaftler zusammen, da die Gefahr bestehe, „daß die 40Stunden-Woche zum Schlagwort wird, an dem sich die Standpunkte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in gegensätzlichen Interessen verhärten.“163 In seiner Eröffnungsansprache griff der Geschäftsführer des Vereins, Reinhard Höhn, einen gängigen semantischen Bezugspunkt der sozialpartnerschaftlichen Bewertung der Arbeitszeitsenkung auf, indem er feststellte, die 40-Stunden-Woche werde als „wünschenswertes Ziel“ „von allen Seiten bejaht.“164 Indem mit Franz Spiegelhalter einer ihrer Vertreter referierte, bot die Veranstaltung auch der BDA ein Forum zur Verbreitung ihrer Position. Spiegelhalter sprach zwar über das „Doppelgesicht der 40-Stunden-Woche“, betonte jedoch im ersten Satz seines Beitrags, sie sei ein grundsätzlich anerkanntes Ziel.165 Auch der Vertreter der BDA bremste allerdings die Erwartungen an eine rasche Senkung, indem er auf die Gefahr von Preissteigerungen verwies.166 Geradezu auffällig ist jedoch, dass kein einziger der Teilneh 160 Osthold, Paul: Arbeitszeit, gewachsen oder genormt?, in: Der Arbeitgeber, Nr. 9, 1954, S. 337–339, hier S. 338. 161 Artikel „Lohn-, Tarif- und Arbeitszeitpolitik“, ohne Autor, in: Der Arbeitgeber, Nr. 23/24, 1955, S. 854–864, hier S. 856. 162 Vorwort zur Reihe „Lebendige Wirtschaft. Veröffentlichungen der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft e.V.“, in: Haller / Kroebel / Seischab (1955). 163 Vorwort der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft zum Sammelband, in: Haller / Kroebel / Seischab (1955). 164 Höhn (1955), S. 9. 165 Vgl.: Spiegelhalter (1955), S. 164. 166 Vgl.: Ebd. S. 168f.
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mer eine Gegenposition formulierte, die eine Senkung an sich in Frage gestellt hätte – ganz im Sinne des von Höhn einleitend formulierten Topos der Arbeitszeitsenkung als einem erstrebenswerten Ziel. Am ehesten kam einer solchen Haltung der Vertreter der Eisenwerke Fr. Wilh. Düker A.G. nahe, der die 40-StundenWoche als „erstrebenswertes Ziel“ bezeichnete, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber nur „Wunschtraum“ sein könne.167 Gleichzeitig thematisierte er in seinem Vortrag aber die gelungene Umsetzung der 5-Tage-Woche im eigenen Unternehmen, mit der eine weitere Senkung der Arbeitszeiten de facto eingeleitet war. Die Beiträge von Unternehmensvertretern hatten daher letztlich den Charakter von Best-Practice-Beispielen. Ein Referent der Firma Bosch nahm zwar ebenfalls keine grundsätzliche Bewertung der Arbeitszeitfrage vor, schilderte aber die erfolgreichen Anfänge der bei Bosch bereits eingeleiteten 5-Tage-Woche. Dass dieser Weg letztlich zur 40-Stunden-Woche führen würde, war ihm ebenso bewusst, wie er dies offenbar als langfristiges Ziel akzeptierte: „Wir waren uns klar darüber, daß mit dieser Einrichtung der 1. [sic] Schritt zur 5-Tage-Woche bzw. 40Stunden-Woche gemacht war [...].“ Das Unternehmen habe daher von sich aus Pläne zu einer weiterführenden Senkung der Arbeitszeiten ausgearbeitet.168 An keiner Stelle wurde in den 1950er Jahren mit der Arbeitszeitsenkung ein grundsätzlicher Konflikt zwischen Arbeitgebern und -nehmern in Verbindung gebracht, wie er in der Felddeutung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts so präsent war. Das hätte dem sozialpartnerschaftlichen Ideal insofern widersprochen, als es ja gerade die Auflösung dieses Konflikts zwischen Arbeit und Kapital in einer echten Partnerschaft postulierte, während der „Klassenkampf“ zu einer Bedrohung für die wirtschaftliche und politische Ordnung erhoben wurde. Gerade aufgrund dieses Szenarios schien es notwendig, die Arbeitnehmer in die Marktwirtschaft zu integrieren, indem die soziale Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsordnung unter Beweis gestellt wurde.169 Vor dem Hintergrund sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenkens konnte es daher kaum opportun sein, die Arbeitszeitsenkung an sich öffentlich abzulehnen. Erst angesichts der vollkommen anderen Deutung der Arbeitszeitsenkung im ersten Untersuchungszeitraum wird diese Abwesenheit einer Bewertung in Kategorien des Konflikts auffällig und damit ihre Erklärungsbedürftigkeit sichtbar. Der Verweis auf die Senkung der Arbeitszeiten als ein langfristig zu erreichendes Ziel findet sich in der Feldkommunikation derart häufig, dass er als etablierter semantischer Bezugspunkt gelten kann. Der Zusammenhang zur sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung äußert sich hier eher implizit. Grundsätzlich war es ja auch in der patriarchalischen Deutung der Arbeitszeitverkürzung legitim, eine Senkung der Arbeitszeiten zu befürworten. Im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Interpretation war es jedoch nicht nur möglich, die Arbeitszeitsenkung zu befürworten. Vielmehr wurde sie zu einem Ziel von gesellschaftspoli 167 Eisenwerke Fr. Wilh. Düker A.G. (ohne Autorenangabe) (1955), S. 237. 168 Maier (1955), S. 231. 169 Vgl.: Kevelaer / Hinrichs (1985), S. 61.
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tischer Bedeutung, zu einer sozialpolitischen Errungenschaft, der, angesichts der Systemkonkurrenz zwischen Bundesrepublik und DDR, eine stabilisierende Wirkung für die Marktwirtschaft zugeschrieben wurde. Diese Bewertung unterscheidet sich erheblich von der patriarchalischen Einordnung, auf deren Grundlage zwar eine Senkung auf der Basis der betrieblichen Gemeinschaft im Issue-Feld als legitim galt, gleichzeitig jedoch als potenzielle Bedrohung des unternehmerischen Selbstverständnisses interpretiert wurde, sodass ihre Umsetzung engen Grenzen unterworfen war. Demgegenüber war es im Issue-Feld der 1950er Jahre weitgehend Konsens, die Arbeitszeitsenkung als „sozialen Fortschritt“ zu bewerten, einem Schlagwort, mit dem die Arbeitszeitfrage häufig in Verbindung gebracht wurde. Auf der Basis dieser Grundannahme äußerte 1958 Hans Constantin Paulssen, zu jener Zeit Präsident der BDA, seine Kritik an Ulrich Haberland, nachdem der Vorstandsvorsitzende von Bayer vermeintlich die Einführung der 40-StundenWoche angekündigt hatte. Paulssen kritisierte diesen Schritt Haberlands zwar als deutlich verfrüht, so dass er gerade angesichts knapper Arbeitskräfte eine schwere Belastung für viele andere Unternehmen darstelle, die „– zum Mindesten nicht sofort und nicht ohne weiteres – diesem Schritt folgen können.“ Gleichzeitig verortete er die von Haberland (vermeintlich) angekündigte Senkung der Arbeitszeiten im Bereich von „Pionierleistungen“, die „im Sinne des sozialen Fortschritts durchaus notwendig sind.“ In Sinne dieses Ziels machte Paulssen sogar Vorschläge, wie sich die Richtlinien der Arbeitgeberverbände unterlaufen ließen, um „die beabsichtigten sozialen Fortschritte in Arbeitszeit oder Lohn doch durchzuführen.“ Wenn man bei Bayer die Arbeitszeiten unbedingt senken wolle, solle man die zu diesem Zeitpunkt gültige 45-Stunden-Woche nicht offiziell unterschreiten, „sondern lediglich die neuen Arbeitszeiten in Uhrzeiten bekanntgeben“. Grundsätzlich befürworte er jedoch eine „zentrale Regelung“.170 Mit seiner Bewertung der Arbeitszeitsenkung als „sozialem Fortschritt“ bezog sich Paulssen in zweierlei Hinsicht auf die Grundannahmen der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung. Zum einen erscheint damit der Betrieb als Ort an dem – der gesamtgesellschaftlich gemeinte – „Fortschritt“ entsteht, organisiert und vorangebracht wird. Betriebliche und gesellschaftliche Ordnung werden also zusammengedacht. Zum anderen wird impliziert, der Unternehmer trage für diese Entwicklung eine Mitverantwortung, indem er mit seinen Entscheidungen über Zeitpunkt und Umfang des „sozialen Fortschritts“ mitbestimmt. Eine durchaus zwiespältige Verantwortung, wie die Reaktionen anderer Feldteilnehmer auf die Äußerung Haberlands zeigten, die sich genötigt sahen, ihn auf eine weitere Verantwortung hinzuweisen, die er gegenüber der übrigen Industrie trug, welche er nicht durch ein Vorpreschen des leistungsstarken Unternehmens Bayer in Bedrängnis bringen sollte. Paulssens Einschätzung sticht in diesem besonderen Fall heraus. Als Präsident der BDA, und somit als offizieller Vertreter des von ihr verfochtenen sozialpartnerschaftlichen Ideals, lag die grundsätzlich positive Veror 170 Schreiben Hans Constantin Paulssens an Ulrich Haberland vom 27.10.1958, in: BAL 215/11.
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tung der Arbeitszeitsenkung in besonderem Maße nahe. Außerdem hatte er in Haberland einen weiteren Verfechter der Sozialpartnerschaft, es bot sich also an, diese Einordnung zur Vermittlung seiner Kritik vorzunehmen. Andere Zuschriften, die Haberland erreichten, waren deutlich kritischer. Selbst Josef Winschuh, der selbst häufig Topoi der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung aufgriff, schrieb Haberland, er solle in dieser Sache nicht „den sozialen Vorreiter“ spielen und sah sich bemüßigt, ihn an die ohnehin schwer zu organisierende Solidarität unter Unternehmern zu erinnern.171 Die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung prägte damit mal explizit, mal eher implizit den Austausch über Fragen der Arbeitszeitgestaltung im IssueFeld. Das bedeutet nicht, dass damit semantische Bezugspunkte aus der Kommunikation völlig verschwunden wären, die eine patriarchalische Prägung erkennen lassen. Insbesondere bei „Sozialexperten“ wie Josef Winschuh war das Ideal einer betrieblichen Gemeinschaft nach wie vor sehr präsent, wie der Titel eines Vortrags von 1944 zeigt, der 1954 in einem Sammelband veröffentlicht wurde. Unter der Überschrift „Der Betrieb als Lebensgemeinschaft“ entwarf Winschuh ausgehend von seinen Konflikterfahrungen der Weimarer Republik das Bild einer betrieblichen Schicksalsgemeinschaft, die durch soziale Betriebsgestaltung zu einer echten, einer „organischen Lebensgemeinschaft“ geformt werden sollte.172 Das patriarchalische Ideal einer „innerbetrieblichen“ Kooperation lebte also fort. Das betriebliche Kooperationsideal wurde nun jedoch in Bezug gesetzt zu einer überbetrieblichen, gesamtgesellschaftlich gedachten kooperativen Ordnung. Mehr noch: Der Konsens auf einer überbetrieblichen Ebene schien von zentraler Bedeutung für das Gelingen der politischen Ordnung. Allein schon in der engen Verbindung, die im sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenken zwischen betrieblicher und gesellschaftlicher Ordnung hergestellt wurde, ist daher ein fundamentaler Unterschied zur patriarchalischen Ordnungsvorstellung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu sehen. Diese Verbindung wurde in der patriarchalisch geprägten Feldkommunikation überhaupt nicht hergestellt, im Gegenteil: Den Angelpunkt der Thematisierung von Arbeitsbeziehungen bildete nicht nur die betriebliche Gemeinschaft, von ihr wurden wichtige Entwicklungen der Arbeitsbeziehungen als „außerbetrieblich“ explizit abgegrenzt. Diese Verschiebung der Referenzgruppen, an denen sich das jeweilige Kooperationsideal orientierte, führte zu völlig anderen Vorstellungen über den legitimen Umgang mit gesellschaftlichen Anforderungen, wie sie die Arbeitszeitsenkung darstellte. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die Frage der Arbeitszeitsenkung vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung im Feld als Bestandteil eines fundamentalen Konflikts identifiziert und ein dementsprechend enger Möglichkeitsraum des Umgangs mit der Anforderung gesetzt. In den 1950er Jahren hingegen, waren die im Issue-Feld ausgehandelten legitimen Möglichkeiten mit der Arbeitszeitsenkung umzugehen vollkommen andere. In einem 171 Schreiben Josef Winschuhs an Ulrich Haberland vom 1.10.1958, in: BAL 215/11. 172 Winschuh, Josef: Der Betrieb als Lebensgemeinschaft, in: Ebd. (1954), S. 7–22, hier S. 13.
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Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e.V.“ schrieb der Autor Herbert Gross einleitend, die 5-Tage-Woche „bringt uns an die Schwelle einer neuen grundlegenden Besinnung über den künftigen Ablauf unserer Arbeit.“173 Erneut also wurde der Arbeitszeitsenkung eine sehr grundlegende Bedeutung für die Zukunft der Arbeitsbeziehungen zugeschrieben – die nun allerdings nicht als Bedrohung sondern als Versprechen daherkam: „Es gehört kein Weitblick dazu vorauszusagen, dass auch bei uns die Fünftagewoche genau so sicher kommen wird, wie man nach dem ersten Weltkrieg zum Achtstundentag überging. Das neue Ziel steht auch nicht im Widerspruch zu unseren Sozialproblemen und Kriegsverlusten. Im Gegenteil: Die Fünftagewoche könnte Wohlstand und unsere Wettbewerbsfähigkeit sogar fördern.“174
Gross thematisierte zwar die 5-Tage-Woche, nicht die weitaus kontroversere 40Stunden-Woche, dennoch ging es damit um eine langfristige Senkung der Arbeitszeiten. Sofern diese nicht durch die Politik der Wirtschaft aufgenötigt würde, so Gross, sondern sich mit der Produktivitätssteigerung „organisch in den Betrieben entfalten“ könne, würde mit der Arbeitszeitsenkung eine „neue Wohlstandsära“ eingeleitet.175 Die Senkung der Arbeitszeiten ordnete Gross einer positiven Zukunftserwartung zu, wie sie im Topos von der Senkung als erstrebenswertem Ziel im Feld bemerkenswert häufig bestätigt wurde. Es ist ohnehin anzunehmen, dass sich Gross mit dem Medium des „Beratungsbriefs“ nicht außerhalb der im Issue-Feld vertretbaren Positionen stellte, sondern zumindest annahm, auf der Basis eines von den Adressaten geteilten Grundverständnisses bezüglich der Einordnung der „Arbeitszeitfrage“ zu argumentieren. Mit dieser Einordnung war der Umgang mit der Anforderung bereits auf einen bestimmten Möglichkeitsraum eingegrenzt. Sich gegen eine Senkung der Arbeitszeiten auszusprechen war im Feld nicht legitim, öffentliche Äußerungen in diese Richtung haben Seltenheitswert. 1960 warb der „Arbeitskreis für soziale Sicherheit“ in einer Anzeige im „Arbeitgeber“ mit dem Slogan: „Lieber keine Unterstützung bei der Arbeitszeitverkürzung“. In der Anzeige hieß es, gerade aufgrund der Inflationsgefahr müssten die gewerkschaftlichen Forderungen kritisch hinterfragt werden.176 Allerdings ging es 1960 längst nicht mehr um das „ob“ sondern um das „wann“. Im selben Jahr kündigten zahlreiche Arbeitnehmerverbände die Tarifverträge beziehungsweise standen Neuverhandlungen an, wobei die endgültige Umsetzung der 40-Stunden-Woche ein zentrales Ziel darstellte. In aller Regel waren selbst die durchaus legitimen Zweifel am Zeitpunkt und den Ausmaßen der Senkungen verknüpft mit dem Hinweis auf die Senkung als einem nicht mehr hinterfragten Ziel, so dass diese grundsätzliche Bewertung des Umgangs mit der Arbeitszeitfrage als institutionalisiert gelten kann. Das in der sozialpartnerschaftli 173 Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e.V.“ zum Thema „Arbeitszeit und Produktivität“, verfasst von Herbert Gross, vom 8.10.1954, in: BAL 215/11.4. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Anzeige des „Arbeitskreises für soziale Sicherheit“, in: Der Arbeitgeber, Nr. 8, 1960, S. 193.
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chen Ordnungsvorstellung angelegte Unternehmerbild war geeignet, eine solche Deutung noch zu stützen, war es doch für einen Unternehmer, dem in hohem Maße gesellschaftliche Verantwortung zugeschrieben wurde, geradezu eine Verpflichtung, die Verkürzung der Arbeitszeiten zu befürworten. Die Arbeitszeitfrage erschien in der sozialpartnerschaftlichen Deutung als bedeutender Faktor für die soziale Integration. Arbeitszeiten zu senken konnte somit als Beitrag zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung bewertet werden. Hans Constantin Paulssen wies noch 1956 auf die unsichere Lage und das mögliche Aufbrechen von Konflikten zwischen Arbeitgebern und -nehmern hin, als er auf einer Mitgliederversammlung der BDA erklärte: „in der großen zentralen Frage Löhne: Arbeitszeit: Preise [sic] wandern wir und mit uns das ganze Volk weiter auf unsicherem, schwankendem und unsachlichem Boden.“177 Solcherart mit der politischen Stabilität verknüpft, war die sozialpartnerschaftliche Bewertung der Arbeitszeitverkürzung geeignet, eine Einbindung der Gewerkschaften in diesen Prozess zu begünstigen. Selbst wenn es letztlich gute wirtschaftliche Gründe für die Arbeitgeberverbände gab, ab 1955 einer tarifvertraglichen Regulierung der Arbeitszeiten zuzustimmen, war dieser Gesinnungswandel auf der Basis der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung zumindest begründbar. Die Ordnungsvorstellungen hatten damit eine nicht zu vernachlässigende Wirkung auf die im Issue-Feld ausgehandelten legitimen Möglichkeitsräume des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung in beiden Untersuchungszeiträumen. Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft waren im Issue-Feld gängige Wissensordnungen, vor deren Hintergrund Fragen der Arbeitsbeziehungen bewertet wurden. Als wirkmächtige Modi der Thematisierung beeinflussten sie die Situationsdeutung, als es im Issue-Feld über den möglichen Umgang mit der Anforderung zu verhandeln galt. Erst im Rahmen dieses Deutungsprozesses wurde die Anforderung „institutionalisiert“, indem legitime Verhaltensweisen bestimmt wurden. Es bestätigt sich damit das im Neo-Institutionalismus beschriebene Phänomen der Isomorphie. Demzufolge verbreiten sich besonders erfolgreiche oder legitime Strategien im Feld rasch, indem sich andere Organisationen daran orientieren. Schließen sich genügend Akteure an, wird sie institutionalisiert. Verstärkt wird dieser Prozess durch eine „gemeinschaftliche Denkhaltung“ der Feldakteure.178 Wenn auch nicht auf der Ebene einer strukturellen Angleichung der in einem Feld in Beziehung stehenden Organisationen, die im Neo-Institutionalismus im Vordergrund steht, so fand im Issue-Feld doch eine Angleichung der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten statt. Die Akteure fragten die Deutungen im Issue-Feld ab oder stellten ihre eigene zur Verfügung, bestätigten und verbreiteten so die ihnen vor dem Hintergrund der Ordnungsvorstellungen legitim erscheinende Bewertung. In diesem Kommunikationsprozess verdichteten sich die Interpretationen auf recht konkrete legitime Möglichkeitsräume. Entscheidend ist, dass vor dem Hintergrund der Wissensordnungen nur noch bestimmte Handlungsoptionen überhaupt in Be 177 Zitiert nach: Berghahn (1985), S. 240. 178 Vgl.: Beschorner / Lindenthal / Behrens (2004), S. 295f.
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tracht gezogen wurden. In der sozialpartnerschaftlichen Deutung der Arbeitszeitfrage als einem erstrebenswerten, ja notwendigen Ziel, lag es zumindest nahe, die Gewerkschaften in den Prozess der Arbeitszeitsenkung einzubeziehen. Auch wenn der Abschluss von Tarifverträgen nicht die erste Wahl gewesen sein mag, erschien er als legitime Option, eine Einordnung, die der Kompromissfindung zumindest zuträglicher gewesen sein dürfte, als im Fall der patriarchalischen Deutung. Diese war wenig geeignet einen konstruktiven Modus für die Verkürzung der Arbeitszeiten zu finden, schließlich standen die um die Arbeitszeitsenkung geführten Auseinandersetzungen für einen Umbruch der Arbeitsbeziehungen, der zentrale Annahmen des Patriarchalismus in Frage stellte. Arbeitszeiten sollten, so die Anforderung, eben nicht auf einem Treueverhältnis der Arbeiter zum Patriarchen beruhen, nicht von der Gunst des „Herrn im Hause“ abhängen, sondern formal reguliert werden, möglichst auf einer überbetrieblichen, also tarifvertraglichen oder gesetzlichen Basis. Der Umbruch der Arbeitsbeziehungen, wie er sich in der Arbeitszeitfrage widerspiegelt, nahm also eine Richtung, die das in der patriarchalischen Ordnungsvorstellung formulierte unternehmerische Selbstverständnis grundsätzlich in Frage stellte. Von der im Issue-Feld dominanten Deutung kann freilich nicht auf das Agieren der Unternehmen rückgeschlossen werden. Der neo-institutionalistischen Theorie zufolge müssen Unternehmen die im Feld ausgehandelten Institutionen zwar adaptieren um ihrem Handeln Legitimität zu verleihen. Allerdings stünden Unternehmen wie Siemens oder Bayer eine ganze Reihe von Strategien zur Verfügung, in der Praxis vom legitimen Möglichkeitsraum abzuweichen. Der NeoInstitutionalismus hat für letzteres Phänomen den Begriff der „Entkopplung“ geprägt. Während „Isomorphie“ die Strukturanpassung an die Umweltanforderungen bezeichnet, verweist Entkoppelung auf die Grenzen dieses Anpassungsprozesses, beziehungsweise die Handlungsspielräume der Akteure beim Umgang mit den Anforderungen.179 So hat etwa Heiner Minssen kritisiert, das Unternehmen sei mit Blick auf die Anforderungen der gesellschaftlichen Umwelt nicht einfach als ein reagierendes Objekt zu begreifen.180 Ein Unternehmen kann schlicht mit verschiedenen Legitimitätsanforderungen konfrontiert sein. Organisationen gehen in solchen Situationen strategisch mit den institutionellen Anforderungen um. Sie versuchen beispielsweise den institutionellen Kontext selbst mitzugestalten, oder belassen es dabei, den Anschein von Konformität zu erwecken.181 Dennoch stellt die Deutung der Arbeitszeitfrage im Issue-Feld einen wichtigen Baustein zur Erklärung der konfliktintensiven Senkung der Arbeitszeiten seit dem späten 19. Jahrhundert, wie auch der konsensualen Verhandlungen der 1950er Jahre, dar. Die Ordnungsvorstellungen, vor deren Hintergrund die Situation bewertet wurde, führten zu institutionalisierten Deutungen, die geeignet waren, den Konflikt beziehungsweise den Konsens allein dadurch zu begünstigen, dass sich rechtfertigen 179 Vgl.: Becker-Ritterspach, F. / Becker-Ritterspach, J. (2006a), S. 102. 180 Vgl.: Minssen (1994), S. 17. 181 Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 163. Vgl. dazu auch: Minssen (1994), S. 19.
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musste, wer den legitimen Raum des möglichen Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung verließ. Damit waren dem im Issue-Feld als nicht legitim bewerteten Handeln zumindest gewisse Hürden gestellt. Sicherlich konnten diese unterlaufen werden, so dass es im Rahmen der Entkopplung ein gewisses Spektrum im Umgang mit dem idealtypischen Möglichkeitsraum gab. Wenn es beispielsweise wirtschaftlich opportun erschien, wurden auch im Kaiserreich Tarifverträge geschlossen. Diese Option lag jedoch im Unterschied zu den 1950er Jahren nicht von vorneherein nahe, sondern erschien als eine letzte Möglichkeit. Auch für die Bereitschaft Kompromisse zu finden, macht es einen Unterschied, ob diese zwischen „Partnern“ verhandelt, oder Forderungen von „Agitatoren“ „nachgegeben“ werden sollte. Bestätigt wird dieser Befund für das späte 19., frühe 20. Jahrhundert von Hartmut Kaelble, der den Patriarchalismus für eine auf Selbsterhalt ausgerichtete Konfrontation der Unternehmer mit Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung mitverantwortlich macht.182 Es ist jedoch wichtig, dass in der patriarchalischen Ordnungsvorstellung eben nicht von vorneherein der Konflikt angelegt war, wie es Kaelble suggeriert, wenn er den Patriarchalismus als „Klassenideologie“ bezeichnet. So paradox es klingt, war es ein Kooperationsideal, das den Konflikt im Kaiserreich begünstigte – allerdings ein sehr exklusives, das Kooperation ausschließlich für die betriebliche Gemeinschaft vorsah. Die konfliktlastigen Arbeitszeitsenkungen im Kaiserreich sind daher, ebenso wie die konsensualen der 1950er Jahre, auch auf die spezifische Wahrnehmung der Akteure zurückzuführen. Diesen Faktor kultureller Prägung in Form der Ordnungsvorstellungen gilt es im Folgenden auch auf der Ebene des Betriebes in seine Auswirkungen auf die Wahrnehmung der „Arbeitszeitfrage“ und die Bedingungen ihrer Aushandlung zu bestimmen. Inwiefern bedingten die in ihnen angelegten Kooperationsideale die Bewertung der Situation im Unternehmen? Korrelierten die Deutungen in den Betrieben mit denen des Issue-Feldes, was die Wirkmächtigkeit der Ordnungsvorstellungen über einen Modus der Verständigung unter Unternehmern hinaus belegen würde? War das – jeweils unterschiedlich gewichtete – kooperative Gemeinschaftsideal eine idealtypische Phrase oder eine tatsächliche Referenz für die Aushandlung von Arbeitszeiten, die sich in der Praxis niederschlug?
182 Vgl.: Kaelble (1967), S. 57.
5. MEHR ALS SEMANTIK: FOLGEN KOOPERATIVER LEITBILDER FÜR DIE AUSHANDLUNG VON ARBEITSZEITEN IM BETRIEB Die Ordnungsvorstellungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft prägten die Einordnung der „Arbeitszeitfrage“ innerhalb der Unternehmerschaft. Als Wissensordnungen boten sie den Hintergrund, vor dem die Umwelt-Anforderung im Issue-Feld identifiziert und der Raum des legitimen Umgangs mit ihr institutionalisiert wurde. Es gilt jedoch auszuschließen, dass der in der Kommunikation im Issue-Feld so präsente Bezug auf die Ordnungsvorstellungen nicht allein einem Bedürfnis von Unternehmern nach Selbstvergewisserung in einer unsicheren Situation geschuldet war. Die Rolle der Ordnungsvorstellungen für die institutionelle Ausprägung der Art und Weise, wie Kooperation im Betrieb organisiert wurde, muss eigenständig untersucht werden. Im Verhältnis von Issue-Feld und Unternehmen kann nicht von einer direkten Wechselwirkung ausgegangen werden. Die neo-institutionalistische Annahme, die institutionellen Strukturen eines Unternehmens ließen sich aus den Anforderungen der Umwelt beziehungsweise des organisationalen Feldes ableiten, ist mittlerweile kritisch hinterfragt worden.1 Vor allem die jüngere Auseinandersetzung um Zugänge zur Mikro-Ebene von Organisationen legt eine Differenzierung des Zusammenhangs von Feld und organisatorischer Praxis nahe.2 Schließlich ist das Handeln der Akteure nicht durch Institutionen determiniert. Institutionen sind interpretationsbedürftig, sie lassen verschiedene Verhaltensweisen zu, je nachdem, wie die Akteure ihre Situation einschätzen oder wie hoch das Sanktionspotenzial ist.3 Ein Bestandteil dieses Phänomens der „Entkopplung“ kann der Aufbau von „Legitimitätsfassaden“ sein, die vor allem durch die semantische Bezugnahme auf das legitime Ideal die Übereinstimmung mit der Institution lediglich suggerieren und über tatsächliche Diskrepanzen hinwegtäuschen.4 Wahrten die Akteure im Issue-Feld mit dem Bezug auf die Ordnungsvorstellungen bei der Identifikation der Anforderung also lediglich die „Fassade“ in einer als unsicher wahrgenommenen Situation? Um den Rang der Wissensordnungen zu begründen, bedarf es des Blicks auf die Praxis der Organisation von Kooperation in den Unternehmen. Im Issue-Feld konnte zwar die Präsenz der Ordnungsvorstellungen, ihre Bedeutung für die Bewertung der Arbeitszeitsenkung aufgezeigt werden. Aussagen über ihre betriebspraktische 1 2 3 4
Vgl. hierzu die Diskussion um die Reichweite von Isomorphismus in: Becker-Ritterspach, F. / Becker-Ritterspach, J. (2006a), S. 111ff. Vgl.: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 162f. Vgl.: Walgenbach / Meyer (2008), S. 135; sowie: Meyer / Hammerschmid (2006), S. 169. Vgl.: Kieser / Walgenbach (2010), S. 45.
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Relevanz können daraus jedoch nicht abgeleitet werden, ohne die betriebliche Ebene auf Bezüge zum Issue-Feld untersucht zu haben. Gerade weil die Ordnungsvorstellungen keine normative Wirkung hatten und der Nachweis über ihre konkreten institutionellen Auswirkungen entsprechend schwierig ist, gilt es, ihren Einfluss in den Unternehmen gesondert zu bestimmen. Hinweise auf die praktische Relevanz der Ordnungsvorstellungen lassen sich auf zweierlei Ebenen finden: Erstens ist zu fragen, ob Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft nicht nur zentrale Bezugspunkte der Kommunikation über Arbeitszeiten im Feld darstellten, sondern ob sie als Wissensordnungen auch in den Unternehmen Siemens und Bayer die Bewertung der Arbeitszeitgestaltung beeinflussten; zweitens ist zu klären, ob sie darüber hinaus die institutionellen Bedingungen der Organisation von Kooperation in den Unternehmen prägten – und mit welchen Folgen für die Bedingungen, innerhalb derer in den Unternehmen die Arbeitszeitsenkung ausgehandelt wurde? Es liegt nahe anzunehmen, dass sich die in beiden Ordnungsvorstellungen angelegten Kooperationsideale in der Art und Weise niederschlugen, wie die idealtypische Gemeinschaft jeweils organisiert werden sollte. So könnten Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft auch die Kommunikationspraktiken geprägt haben – und damit die Bedingungen der Rezeption und Kommunikation der Arbeitszeitsenkung. Denn die Ordnungsvorstellungen legten nahe, welche Akteure legitime Ansprechpartner für die Aushandlung von Arbeitszeiten waren und auf welchen Wegen beziehungsweise in welcher Form mit ihnen kommuniziert wurde. 5.1 TREUE UND VERANTWORTUNG ALS IDEALTYPISCHE MECHANISMEN DER ARBEITSZEITGESTALTUNG Bei den im Issue-Feld sich austauschenden Akteuren handelte es sich zu einem großen Teil um dieselben Akteure, die als Mitglieder der Firmenleitungen in den Unternehmen die Bewertung der Arbeitszeitsenkung zu leisten hatten. Aufgrund dieser engen Verflechtung ist die Trennung zwischen Issue-Feld und Unternehmen, wie sie hier in der Gliederung dieser Arbeit aufscheint, eine analytische. Dennoch kann nicht einfach vom Issue-Feld auf die Interpretation der Anforderung im Betrieb rückgeschlossen werden, da auf beiden Ebenen jeweils andere Dynamiken und Entwicklungslogiken herrschten. So wie die Anforderung selbst an die spezifischen betrieblichen Bedingungen angepasst werden musste, also variieren konnte, wurde möglicherweise auch die Bewertung der Arbeitszeitverkürzung im Hinblick auf betriebliche Bedingungen angepasst. Mit Umweltanforderungen konfrontiert, entwickeln Unternehmen Strategien, diese so zu transformieren, dass sie für das Unternehmen steuerbar werden.5 Diese Transformation ist das Ergebnis notwendiger Kompromisse zwischen verschiedenen Interessen, 5
Vgl.: Minssen (1994), S. 19.
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etwa denjenigen von Belegschaft und Firmenleitung. Ihr Ziel ist demnach die soziale Integration.6 Demzufolge muss auch der im Issue-Feld ausgehandelte Möglichkeitsraum des legitimen Umgangs mit der Arbeitszeitfrage in eine Form übertragen werden, die es erlaubt, praktikable Lösungen für aktuelle Fragen der betrieblichen Arbeitszeitregulierung zu finden. Die Kommunikation im Issue-Feld zielte auf eine gemeinsame Einschätzung der Situation und ein einheitliches Vorgehen innerhalb der Unternehmerschaft. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass in der Aushandlung innerhalb der Firmenleitung und zwischen Firmenleitung und Belegschaft andere Prioritäten gesetzt wurden. Welche Rolle spielte beispielsweise die potentiell konfliktträchtige Einordnung der Arbeitszeitsenkung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert, gegenüber der Notwendigkeit, pragmatische Lösungen für den reibungslosen täglichen Ablauf zu finden? Welche Rolle spielten hierfür noch die Ordnungsvorstellungen? Es muss daher geklärt werden, in welchem Verhältnis die Deutung der Arbeitszeitfrage im Issue-Feld zu derjenigen steht, wie sie im Rahmen der Regulierung von Arbeitszeiten in den Unternehmen Siemens und Bayer entwickelt wurde. Patriarchalismus als legitimer Modus zur Regulierung der Arbeitszeitgestaltung Die idealtypischen Vorstellungen gemeinschaftlicher Kooperation als Angelpunkt der Thematisierung von Arbeitszeiten waren auch auf betrieblicher Ebene präsent. Ganz im Sinne der im Patriarchalismus postulierten und im Issue-Feld bestätigten Idee einer betrieblichen Gemeinschaft, war die in Kategorien wie „Treue“ oder „Vertrauen“ gefasste Beziehung zwischen Firmenleitung und Mitarbeitern ein zentrales Motiv zur Thematisierung von Fragen der Arbeitszeitregulierung. Besonders signifikant ist der Verweis auf diesen Topos in der Kommunikation mit den „Beamten“, also den höheren Angestellten. Wie wichtig die Vorstellung eines auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung beruhenden Loyalitätsverhältnisses war, zeigt sich gerade dort, wo die Problematik dieses Prinzips für die Regulierung von Arbeitszeiten thematisiert wurde. Als die Firmenleitung von Bayer 1905 eine Sonderregelung der samstäglichen Arbeitszeit von Chemikern und Betriebsführern in Elberfeld abschaffte, beschwerten sich die Betroffenen und forderten eine Rückkehr zur alten Regelung. Aus einem von Carl Duisberg und Friedrich Bayer an Dr. Dressel gerichteten Schreiben, der eine Rücknahme des Beschlusses gefordert hatte, geht hervor, dass „vor mehreren Jahren“ freie Samstagnachmittage für die Chemiker eingeführt worden waren: „Wir überliessen [sic] es den Betriebsführern, sich nach Lage ihres Betriebes so einzurichten und vertreten zu lassen, dass für diese auch dann und wann der ganze Samstag Nachmittag dienstfrei sei.“7 In dem Schreiben legte die Firmenleitung ihre Sicht der Angele 6 7
Vgl.: Ebd. S. 28. Abschrift eines Schreibens von Carl Duisberg und Friedrich Bayer im Namen der Direktion an Dr. Dressel vom 24.10.1905, S. 1, in: BAL 215/11.
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genheit dar. Mit der alten Regelung hatte sie demzufolge den Betriebsführern einen Vertrauensvorschuss gewährt, gerechtfertigt durch die Annahme, solche Gunstbezeugungen sicherten die Loyalität der Beamten: „Wir haben nicht nur ein warmfühlendes Herz für unsere Arbeiter sondern auch für unsere Beamten. [...] Wir sind vor allem auf das Wohlbefinden, Wohlergehen und die Fortbildung unserer Chemiker und Betriebsführer nach jeder Richtung hin bedacht, wie es nur bei wenigen Firmen der Fall ist. Wenn wir daher von unseren Elberfelder Betriebsführern ein ganz kleines Opfer, oder besser die Beseitigung einer irrigen und mit der Ordnung und Disziplin nicht im Einklang stehenden Praxis, verlangt haben, so geschah dies lediglich und allein aus dem Gefühl der Verantwortung für die Betriebe [...].“8
Mit dem „ganz kleinen Opfer“ war der Umstand gemeint, dass von den Betriebsführern selbstverständlich erwartet worden war, von der Möglichkeit des früheren samstäglichen Arbeitsendes nur dann Gebrauch zu machen, wenn es die Produktion erlaubte. Allerdings hatten die Betriebsführer die ihnen eingeräumten Möglichkeit eines früheren Feierabends zum Missfallen der Firmenleitung tatsächlich regelmäßig genutzt. Einige Betriebsführer, vor allem die „jüngeren und jüngsten“, hatten die Fabrik jeden Samstagnachmittag früher verlassen und ihren Betrieb den Aufsehern überlassen. Die Loyalitätserwartung auf der diese Regelung der Arbeitszeiten beruhte war damit enttäuscht worden, worauf die Firmenleitung die Betriebsführer nun wieder verpflichtete, am Samstagnachmittag anwesend zu sein. Auch diesen Schritt hatte sie jedoch vermieden, und zunächst auf die Einsicht der Angestellten gehofft: „Schon längst würden wir hier eine Aenderung [sic] haben eintreten lassen, wenn wir nicht geglaubt hätten, dass mit der Einführung der neunstündigen Arbeitszeit für die Arbeiter alle Chemiker und Betriebsführer dann ohne weiteres zu der Erkenntnis kommen mussten, für sie sei es jetzt Pflicht, nicht nur jeden Tag rechtzeitig mit Beginn des Betriebes [...] in der Fabrik anwesend zu sein, sondern auch dafür zu sorgen, dass das durch die Verkürzung der Arbeitszeit am Vormittage eingeschränkte Arbeitspensum wenigstens am Nachmittage [...] fertig gestellt werde.“9
Da die Betriebsführer der in sie gesetzten Erwartung nicht gerecht geworden waren, wurde die informelle, im Rahmen des Pflichtverständnisses der Angestellten angesiedelte, Institution also in eine formale umgewandelt, die mit greifbaren Sanktionen geschützt war: Diejenigen, denen die Neuregelung „nicht passt“, wurden in dem Schreiben aufgefordert sich zu melden, damit ihnen statt der Position als Betriebsführer „eine geeignete Laboratoriumstätigkeit mit freien Samstag Nachmittagen“ zugewiesen werden könne.10 Dies könnte man als Beispiel für den Niedergang des patriarchalischen Kooperationsideals werten, dessen Konzept auf gemeinschaftlicher Loyalität beruhender Sozialbeziehungen selbst auf höheren Hierarchieebenen keine praktische Entsprechung fand, weshalb informelle Regelungen auf der Basis eines „Treue“ 8 9 10
Ebd. S. 3. Ebd. S. 2. Ebd. S. 3.
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Verhältnisses in formale, durch Sanktionen geschützte Institutionen überführt wurde. Allerdings zeigt es gleichermaßen, welche Wirkmächtigkeit die Wissensordnung für die Thematisierung der Sozialbeziehungen nach wie vor besaß. Zumal derartige informelle Regelungen noch lange Jahre zur Praxis der Arbeitszeitgestaltung gehörten. Noch 1911 hatte die Direktion von Bayer im Namen von Carl Duisberg und Friedrich Bayer ein Gesuch des Ausschusses der technischen Betriebsbeamten um einen freien Samstagnachmittag pro Monat zwar abgelehnt. Jedoch nicht ohne Wohlwollen und Entgegenkommen zu signalisieren: „Um unsere Meister und Aufseher aber dafür zu belohnen, dass sie, wie dies nun einmal ihr Dienst verlangt, den Arbeitern mit gutem Beispiel vorangehen und Morgens die ersten, Abends die letzten sein müssen, haben wir unsere Abteilungsvorstände und Betriebsführer angewiesen, ihre Meister und Aufseher in jedem Monat einmal, und zwar an einem Mittwoch Nachmittag zu beurlauben [...]. Wir hoffen, dass dieses Entgegenkommen auch unseren Meistern und Aufsehern ein neuer Ansporn zu eifriger Arbeit und weiterer treuer Pflichterfüllung sein wird.“11
Nach wie vor wurden also Fragen der Arbeitszeitgestaltung in den Kategorien von „Treue“ und „Pflichterfüllung“ thematisiert, die zur Voraussetzung patriarchalen Wohlwollens gemacht wurde. Von einer verbindlichen formalen Institutionalisierung der Arbeitszeitregulierung kann in diesem Fall keine Rede sein, konnte doch diese Gunstbezeugung, wie auch im Falle des ersten Beispiels, bei Nichterfüllung der patriarchalischen Treue-Erwartung rückgängig gemacht werden. Die Beispiele zeigen, dass die Regulierung von Arbeitszeiten zumindest teilweise direkt aus der patriarchalischen Ordnungsvorstellung abgeleitet wurde. Allerdings handelte es sich dabei um die Arbeitszeiten der Beamten, einer Personengruppe also, der die Firmenleitung vermutlich in höherem Maße Vertrauen entgegenzubringen bereit war, als im Falle der Arbeiter. Zumal es in den skizzierten Fällen um verhältnismäßig unproblematische Fragen der Arbeitszeitgestaltung ging. Es gibt jedoch durchaus Hinweise, dass die patriarchalische Ordnungsvorstellung auch für die Thematisierung und Regulierung der Arbeitszeiten von Arbeitern eine Rolle spielte. Als Bayer die Arbeitszeiten 1905 von zehn auf neun Stunden senkte, legte die Direktion die damit verbundenen Regeln in den „Ausführungsbestimmungen für die Vorgesetzten“ fest. Angesichts dieser formalen Regulierung wäre anzunehmen, es sei kein Raum mehr für patriarchale Bezüge. Allerdings zeigt schon die Handhabung der Arbeitszeiten der Beamten, dass auch innerhalb bestehender formaler Institutionen genügend Raum für eine Gestaltung von Arbeitszeiten auf der Basis patriarchaler Gunstbezeugungen vorhanden war, die jederzeit wiederrufen werden konnten. Die „Ausführungsbestimmungen“ schließen mit den Worten: „[...] leiten uns doch bei dieser Verkürzung der Arbeitszeiten ausschließlich Wohlwollen und Mitgefühl für unsere Arbeiter [...].“12 11 12
Schreiben von Carl Duisberg und Friedrich Bayer im Namen der Direktion an die Meister und Aufseher in Elberfeld, Barmen und Leverkusen vom Juli 1911, in: BAL 215/11. Direktionsrundschreiben der Farbenfabriken an „sämtliche Chemiker, Ingenieure und Betriebsführer“ in Elberfeld vom 7.11.1905, in dem anlässlich der Senkung der Arbeitszeiten
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Die Senkung der Arbeitszeiten wird also mit dem Verweis auf patriarchale Fürsorge begründet. Quellen, die näheren Aufschluss über den Umfang der Präsenz der Ordnungsvorstellung für die Thematisierung von Arbeitszeiten im Falle der Arbeiter geben würden, liegen in diesem Fall nicht vor. Allerdings gibt es starke Hinweise darauf, dass die Arbeitsbeziehungen in der Praxis stark von der patriarchalischen Wissensordnung geprägt waren (vgl. Kap. 5.3 und 5.4). Derartige Verweise auf eine Loyalitätsbeziehung als Grundlage der Regulierung von Arbeitszeiten finden sich auch im Unternehmen Siemens. In einem Circular, das wiederum an die „höheren Beamten“ gerichtet war, schrieb Werner von Siemens 1885, um den Beamten die Einhaltung ihrer Arbeitszeiten „nach Möglichkeit zu erleichtern“, könne auf eine Verschiebung von Arbeitsbeginn und -ende „nach Bequemlichkeit der Einzelnen Rücksicht genommen werden.“ Die Firmenleitung werde diesen Wünschen soweit als möglich entgegenkommen, spreche „aber gleichzeitig den Wunsch und die Hoffnung aus, daß die Herren dann durch pünktliche Innehaltung dieser Arbeitszeiten den untergebenen Geschäftsbeamten mit gutem Beispiel vorangehen werden.“13 Werner von Siemens verweist in dieser Mitteilung auf das Vertrauensverhältnis zwischen Firmenleitung und den Beamten. Die pünktliche Einhaltung der Arbeitszeiten wird nicht einfach gefordert, sondern als Anforderung an, und Ausdruck von Loyalität bewertet, als Gegenleistung für eine Gunstbezeugung seitens der Firmenleitung. Das zeigt, dass hier nicht nur die „Treue“ der Angestellten gefordert wurde, sondern eine auf Gegenseitigkeit beruhende Vertrauensbeziehung der Ausgangspunkt für die Thematisierung des Sachverhalts darstellte. Im Falle von Siemens lässt sich belegen, dass sich diese Einordnung der Arbeitszeitgestaltung vor dem Hintergrund der patriarchalischen Wissensordnung weder auf die höheren Angestellten beschränkte, noch auf die Zeit des Patriarchen Werner von Siemens. Ende 1904 verhandelten die Firmenleitungen von S.&H. und SSW mit dem Arbeiterausschuss über eine Neufassung der Arbeitsordnung, insbesondere der Überstundenregelungen.14 Auf der Grundlage der bei diesem Treffen seitens der Firma gemachten Vorschläge trafen sich Anfang 1905 erneut Vertreter der Firmenleitung von S.&H. und SSW mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse der Berliner Werke. Diese Verhandlungen lassen erkennen, dass die patriarchalische Ordnungsvorstellung auch bei der Bewertung von Fragen der Arbeitszeitgestaltung präsent war, welche die Arbeiter betrafen, und das noch lange Jahre nach dem Ausscheiden des Patriarchen Werner von Siemens. Direktor Dihlmann eröffnete die Versammlung, indem er auf das Wohlwollen der Firmen gegenüber „ih
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auf neun Stunden die „Ausführungsbestimmungen für die Vorgesetzten“ bekannt gegeben werden. Vgl.: Ebd. S. 6, in: BAL 215/11. Circular Werner von Siemens vom 4.3.1885; Abschrift in Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Schreiben der SSW an S.&H., Wiener Werk, vom 31.12.1904; sowie: das angehängte Protokoll einer Besprechung mit dem Arbeiterausschuss (hier noch als „Arbeiterrat“ bezeichnet), in: SAA 5593.
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ren“ Arbeitern hinwies, womit er die Erwartung loyalen Verhaltens verband. In vielen Fällen „sei unseren Arbeitern das weitestgehende Entgegenkommen gezeigt und ihre Wünsche in jeder Beziehung berücksichtigt worden.“15 Die Firmenleitung bemühe sich auch um die Eindämmung der Überstunden, ohne solche könne man jedoch nicht auskommen. Die Firmen hätten den Arbeitern „das bereits erwähnte Entgegenkommen beweisen wollen“, indem sie den Vorschlag machten, die Überstundenzuschläge zu erhöhen, „und zwar ohne jede Gegenleistung der Arbeiter“. Aufgrund dieser „Mehrleistung der Firma“ kritisierte Dihlmann, dass die Arbeiter nach wie vor die Überstundenbezahlung beklagten. In einem Werk habe es gar Überstundenverweigerungen gegeben.16 Diesen Verstoß gegen die Arbeitsordnung nahm Dihlmann zum Anlass, eine präzisere Fassung derselben vorzuschlagen, um künftig keinen Raum mehr für Auslegungen zu lassen. Der Forderung der Arbeitervertreter, die Verpflichtung zu Überstunden zu streichen, hielt Regierungsbaumeister Pfeil, Vorstandsmitglied von S.&H., entgegen: „ [...] ohne eine solche Verpflichtung sei eine ordnungsgemäße Betriebsführung überhaupt nicht möglich und die schwerste Schädigung der Firmen unabwendbar. Wenn das Wort ‚Verpflichtung‘ Anstoss [sic] errege, so könne dafür ein anderes gesetzt werden. An der Tatsache der Verpflichtung müsse, wie dies in jeder grösseren [sic] Gemeinschaft unumgänglich sei, unbedingt festgehalten werden.“17
Die Bewertung der Überstundenfrage durch Mitglieder der Firmenleitungen von S.&H. und SSW war noch immer von der patriarchalischen Ordnungsvorstellung geprägt. Die Aussage von Pfeil zeigt, dass eine Regelung der Arbeitszeiten auf formal-institutioneller Grundlage keineswegs als Abkehr vom patriarchalischen Modell einer auf Entgegenkommen und Loyalität begründeten betrieblichen Gemeinschaft verstanden wurde. Ganz im Gegenteil: Sie wurde als stabilisierender Bestandteil einer solchen Gemeinschaft betrachtet, die vor allem „Missverständnissen“ vorbeugen sollte. Als die Firmenleitung der SSW 1905 die Senkung der Arbeitszeiten im Nürnberger Werk bekannt gab, welche die Arbeiter durch einen Streik erzwungen hatten, hieß es in der „Mitteilung an unsere Arbeiter“, das von ihnen überreichte „Gesuch“ zur Änderung der Arbeitszeiten sei „reiflich geprüft“ worden und die Firmenleitung sei bereit „Zugeständnisse“ zu machen. Abschließend ließ die Firmenleitung wissen: „Wenn wir mit vorstehenden Zugeständnissen das Aeusserste [sic] getan haben, was in Berücksichtigung der bestehenden Verhältnisse geschehen konnte, so hoffen wir, dass unsere Arbeiter in Anerkennung dieses Umstandes und im Vertrauen auf das Wohlwollen der Be-
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Protokoll der Besprechung von Vertretern der Firmenleitung von S.&H. und SSW mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse vom 27.1.1905, S. 3, in: SAA 4 Lk 12–13. Ebd. S. 4. Ebd. S. 7.
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5. Mehr als Semantik triebsleitung sich mit dem Erreichten zufrieden geben und sich nicht zu aussichtslosen, folgeschweren Schritten hinreissen [sic] lassen.“18
Die Bewertung dieses Falles vor dem Hintergrund der patriarchalischen Wissensordnung ist evident. Die durch Streik erzwungene Senkung der Arbeitszeiten wurde umgedeutet in ein „Zugeständnis“, eine patriarchalische Gunstbezeugung, welche die Firmenleitung nach reiflicher Überlegung aus freien Stücken gewährt habe. Insbesondere im Schluss der Mitteilung wird explizit auf das Vertrauensverhältnis in einer durch gegenseitiges „Wohlwollen“ begründeten Gemeinschaft verwiesen – allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dieses Wohlwollen Grenzen habe. Es wird damit suggeriert, nach wie vor sei die Firmenleitung in der Lage in patriarchalischer Manier über die Verteilung der Arbeitszeiten nach Gutdünken zu verfügen. Sowohl bei Bayer als auch bei Siemens kann die patriarchalische Wissensordnung daher nicht nur im Issue-Feld sondern auch in den Unternehmen selbst als ein zentraler Modus zur Thematisierung von Fragen der Arbeitszeitregulierung gelten. Dabei hätte die Entwicklung zunehmend formalisierter Sozialbeziehungen eigentlich erwarten lassen, dass diese „Gemeinschaftsideale“ abgelöst würden. Schließlich forderten die Arbeiter zunehmend eine Standardisierung von Arbeitszeiten, klare Zuständigkeiten und Ansprechpartner, also formal fixierte Rechte statt wohlwollender Geschenke. Allerdings ging mit der Etablierung formaler Institutionen zur Regulierung von Arbeitszeiten keine Abkehr von der Wissensordnung einher. Die Deutung in Kategorien einer Gefolgschaft treuer, durch wohlwollende Geschenke zur Gemeinschaft geeinten Arbeiterschaft prägte die Sicht auf die innerbetrieblichen Arbeitszeitverhandlungen. Nach wie vor galt das Prinzip der Treue in einer Gemeinschaft als ein legitimes Instrument der Arbeitszeitregulierung. Thematisierung der Arbeitszeitsenkung im Zeichen sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenkens Auch im zweiten Untersuchungszeitraum lässt sich eine deutliche Übereinstimmung zwischen der Deutung der „Arbeitszeitfrage“ im Issue-Feld und ihrer Wahrnehmung in den Unternehmen Siemens und Bayer feststellen. Bei Bayer wurde die Senkung der Arbeitszeiten von der Firmenleitung als ein Beitrag zum sozialen Fortschritt bewertet, der als langfristiges Ziel nicht in Frage stand. Insbesondere Fritz Jacobi betonte auf Besprechungen mit Abteilungsleitern und Betriebsführern, die 5-Tage-Woche und damit verbunden eine Senkung der Arbeitszeiten, stünde nicht in Frage. Auch in der Diskussion kamen die Vertreter der Firmenleitung zu dem Schluss, die Verkürzung der Arbeitszeiten sei ein „erstre 18
Mitteilung der Firmenleitung von SSW Nürnberg vom 28.4.1905, in: SAA 4 Lk 12–13.
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benswertes Ziel“.19 Eine Haltung, die sich in der Korrespondenz von einzelnen Mitgliedern der Firmenleitung wiederfindet20 oder auch in Direktionsrundschreiben aufgegriffen wurde, welche beispielsweise mit dem Passus eingeleitet wurden: „Es liegt im Bestreben der Werksleitung, die Arbeitszeit in unseren Werken zu verkürzen.“ 21 Auch gegenüber den Arbeitnehmern wurde diese Deutung der Senkung kommuniziert. Als 1954 ein Bayer-Betriebsrat in der lokalen Presse die Forderung nach einer rascheren Umsetzung der Arbeitszeitsenkung kundtat,22 reagierte die Firmenleitung mit einem Artikel in der Werkszeitung. In diesem Artikel stellte Fritz Jacobi klar, die Senkung der Arbeitszeit sei bereits seit einiger Zeit in Planung, der Vorstandsvorsitzende Haberland habe betont „daß er eine Entwicklung in diese Richtung begrüße und wünsche.“23 Diese Deutung der Arbeitszeitsenkung findet sich auch bei Siemens. Besonders deutlich geht sie aus einem Gutachten hervor, mit dem 1955 die Möglichkeit der Einführung einer 40-Stunden-Woche geprüft wurde. Es beginnt mit den Worten: „Der technische Fortschritt hat nur einen Sinn, wenn er dazu führt, daß die Menschen durch ihn mit geringerem Aufwand bzw. besser leben können.“ Daraus ergebe sich die Forderung nach einer Senkung der Arbeitszeiten.24 Die Frage der Arbeitszeitsenkung wurde in dem Gutachten mit einer Erhöhung des Lebensstandards verbunden, die nicht zur Disposition stand, selbst wenn sie sich nicht kostenneutral umsetzen ließe: „Es ist nicht zu erwarten, daß entsprechend der Verkürzung der Arbeitszeit die Intensität der Arbeit wächst, so daß der volle Lohnausgleich dadurch ermöglicht würde. Diese Intensivierung der Arbeit wird auch von uns abgelehnt.“25 Explizit knüpft das Gutachten bei dieser Bewertung an die sozialpolitische „Tradition“ von Siemens an, um diese Deutung zu legitimieren; denn: „Eine fortschrittliche Einstellung zur Frage einer Verkürzung der Arbeitszeit ist in unserem Hause nichts neues.“ Der „Blick in die Vergangenheit“ zeige, dass sich die Arbeitszeiten bei Siemens bereits im späten 19. Jahrhundert deutlich unter dem Durchschnitt bewegt hätten. „Auch bei der Einführung des 8Stundentages noch vor dem 1. Weltkriege [sic] ging Siemens der übrigen Industrie um Jahrzehnte voraus.“26 Diese grundsätzlich positive Bewertung der Arbeitszeitsenkung wurde auch gegenüber den Mitarbeitern kommuniziert. So bezeichnete die Firmenleitung von S.&H. gegenüber Vertretern des Berliner Betriebsausschusses, die Firma Siemens als „Schrittmacher in der Arbeitszeitfrage“. Man 19 20 21 22 23 24 25 26
Protokoll der Besprechung des Fabrikkontor-Ausschusses am 26.4.1954, S. 1, in: BAL 214/6. Vgl.: Schreiben Direktor Schellenbergs an Jacobi vom 1.6.1954, in: BAL 215/11. Direktionsrundschreiben Nr. 1686, 23.12.1955, S. 1, in: BAL 215/11.4. Vgl.: Artikel „Bayer-Betriebsrat wünscht die 40-Stunden-Woche bald“, in: Neue Rhein Zeitung, Nr. 283, 4.12.1954, in: BAL 215/11.4. Abschrift des Artikels „Zur 40-Stunden-Woche“ von Fritz Jacobi, in: BAL 215/11; der Artikel erschien in der Dezemberausgabe der Werkszeitschrift „Unser Werk“ 1954. Gutachten: „Überlegungen zu dem Thema ‚40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich‘“ vom 9.2.1955, S. 1, in: SAA 14 Lr 516. Ebd. S. 4. Ebd. S. 15.
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habe daher zunächst sogar negative Begleiterscheinungen bei der Einführung arbeitsfreier Samstag in der Wechselschicht in Kauf genommen.27 Naturgemäß finden sich solche Äußerungen zu einer Zeit, als es darum ging, eine grundsätzliche Position zur Frage der Arbeitszeitsenkungen zu entwickeln. Die Bezüge zur Bewertung sinkender Arbeitszeiten als grundsätzlich erstrebenswertem Fortschritt lassen mit Abschluss der ersten Tarifverträge deutlich nach. Ein wichtiger Bezugspunkt für die Thematisierung von Fragen der Arbeitszeitgestaltung war darüber hinaus nach wie vor das Verhältnis zwischen Unternehmen und den Beschäftigten. Dieses Verhältnis wurde auch in den 1950er Jahren als ein kooperatives gedacht, eng Verbunden mit dem Ideal einer betrieblichen Gemeinschaft, was besonders im Falle des Unternehmens Bayer deutlich wird. In dem erwähnten Artikel in der Werkszeitung zur 40-Stunden-Woche, mit dem Fritz Jacobi auf einen öffentlichen Vorstoß des Betriebsrates für eine rasche Arbeitszeitsenkung reagierte, argumentierte er mit dem Appell an die Verantwortung in einer Gemeinschaft. Die Werksleitung arbeite seit Langem daran, die Voraussetzungen für die Senkung der Arbeitszeiten zu schaffen: „[...] hierzu wünscht sie nicht nur die Mitarbeit eines verantwortungsbewußten Betriebsrats und aller Werksangehörigen, sondern sie glaubt, daß die Sache selbst diese Mitarbeit erfordert, damit das gemeinsam gesteckte Ziel ohne Rückschläge, die uns alle treffen würden, sicher erreicht werden kann.“28
Der Begriff der Verantwortung bezieht sich in diesem Falle allein auf die betriebliche Gemeinschaft, ebenso wie das Ziel der Arbeitszeitsenkung als ein in erster Linie innerbetriebliches formuliert wird. Auch vor dem Hintergrund der Bewertung der Arbeitszeitsenkung als ein betrieblich-gemeinschaftliches Projekt seien die Beschäftigten mit dafür verantwortlich, in welcher Geschwindigkeit Arbeitszeiten gesenkt werden könnten, zum Beispiel indem sie die dafür nötigen Rationalisierungsmaßnahmen mittrügen: „Das Tempo [der Senkung] hängt neben den Maßnahmen der Werksleitung in der Hauptsache von Ihrer verständnisvollen Mitarbeit ab.“ Unter dieser Voraussetzung „wird dieser Weg zur 5-Tage-Woche und zur 45- und 40-Stunden-Woche eine wirkliche Gemeinschaftsarbeit werden.“29 Als der Artikel Ende 1954 in der Werkszeitschrift erschien, lag die Aushandlung der Senkung tatsächlich noch bei den Unternehmen selbst, es galt sie per Betriebsvereinbarungen umzusetzen. Tarifverträge waren noch nicht geschlossen und es war auch nicht sicher, dass branchenweite Manteltarifverträge die Grundlage der Arbeitszeitverkürzung bilden würden. Insofern lag die Thematisierung der Arbeitszeitregulierung ausgehend vom Konzept einer betrieblichen Gemeinschaft in gewisser Weise näher, als es nach Abschluss des ersten Manteltarifvertrags für die Chemieindustrie 1957 der Fall gewesen wäre. Möglicherweise war 27 28 29
Protokoll einer Besprechung zwischen Firmenleitung und dem Berliner Betriebsausschuss am 13.8.1956, S. 1, in: SAA 12782–1. Abschrift des Artikels „Zur 40-Stunden-Woche“ von Fritz Jacobi, in: BAL 215/11; der Artikel erschien in der Dezemberausgabe der Werkszeitschrift „Unser Werk“ 1954. Ebd.
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das mit ein Grund dafür, dass Jacobi in seinem Artikel die Kategorie der Gemeinschaft allein auf den Betrieb bezog. Dem patriarchalischen Ideal einer betrieblichen Gemeinschaft ist das zweifellos sehr ähnlich. Im Verweis Jacobis auf eine „Verantwortung“ der Belegschaftsvertreter und die „verständnisvolle Mitarbeit“ der Beschäftigten deutet sich eine für die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung charakteristische Verschiebung höchstens an, derzufolge bedingungslose Loyalität, wie sie im Treue-Begriff zum Ausdruck kam, durch ein Partnerschaftsverhältnis ersetzt wurde. Dennoch war auch in diesem Verständnis einer betrieblichen Gemeinschaft die auf Leistung und Gegenleistung beruhende Loyalität der Mitarbeiter eine „Währung“, die für die Regulierung der Arbeitszeiten ins Spiel gebracht wurde. Eine starke Ähnlichkeit zum patriarchalischen Ideal scheint auch in der Exklusivität zu bestehen, die Jacobi der betrieblichen Gemeinschaft zuschrieb. Schließlich kritisierte er den Betriebsrat vor allem dafür, seine Forderung in der Presse artikuliert zu haben, was dem Problem nicht dienlich sei: „Es kann nur sachlich, unter Berücksichtigung aller betrieblichen Gegebenheiten im Werk selbst gelöst werden.“30 Allerdings ist fraglich, ob Jacobi hier das Agieren der Betriebsrats im Sinne des patriarchalischen Ideal als „außerbetriebliches“ und damit illegitimes Engagement bewertete, durch das er sich außerhalb des gemeinschaftlich-betrieblichen Projekts stellte. Schließlich setzte zu jener Zeit bereits ein Wettbewerb zugunsten sinkender Arbeitszeiten ein, den das Unternehmen Bayer nicht antreiben wollte und daher die Arbeitszeitsenkung als ein Problem definierte, das es zu diesem Zeitpunkt allein im Unternehmen selbst zu lösen galt. Bezüge zu einer so verstandenen betrieblichen Gemeinschaft finden sich in der Kommunikation über Arbeitszeiten bei Bayer immer wieder. Direktor Schellenberg begründete seine Bejahung der Arbeitszeitsenkung gegenüber dem Direktorium unter anderem mit Verweis auf die Loyalität der Beschäftigten. Er sei überzeugt, die bei einer Verkürzung wegfallenden Arbeitsstunden würden „von der Belegschaft durch eine freiwillig erhöhte Leistung angesichts des freien Samstags herausgearbeitet [...].“31 Mit dem Verweis auf die Freiwilligkeit der damit verbundenen intensiveren Arbeitsleistung formulierte er eine Erwartung, der implizit das Vertrauen in die Leistungsbereitschaft der Arbeiter zugrunde lag – ganz im Sinne des auch in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung präsenten Konzepts gemeinschaftlich organisierter Kooperation im Betrieb. Auch gegenüber der Belegschaft wurden auf der Basis dieser Deutung Fragen der Arbeitszeitsenkung kommuniziert. Ulrich Haberland griff die Erwartungen in die Loyalität der Mitarbeiter in seiner Ansprache an die Jubilare von 1958 wieder auf, die bereits aufgrund der Resonanz Erwähnung fand, die sie im Issue-Feld hervorrief. Die 40-Stunden-Woche komme, ließ Haberland die Jubilare wissen, es sei eine Frage erfolgreicher Rationalisierung aber auch der Leistungsbereitschaft jedes einzelnen Mitarbeiters. Viel Arbeitszeit würde noch immer durch Unpünktlichkeit 30 31
Ebd. Schreiben Direktor Schellenbergs an Jacobi und die weiteren Mitglieder des Direktoriums vom 1.6.1954, in: BAL 215/11.
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und eine laxe Arbeitsmoral verschwendet. Haberland kommt daher zu dem Schluss: „[...] wenn wir zu der richtigen Pflichtauffassung kommen, meine Damen und Herren, dann schaffen wir das eben auch in 40 Stunden.“32 Diese Deutung, die mit dem Verweis auf die Verpflichtung der Arbeitnehmer über das kontrollierbare Maß hinaus sowie durch das persönliche „wir“ auf die betriebliche Gemeinschaft verweist, zeigt im Übrigen, dass auch noch nach der tarifvertraglichen Regulierung von Arbeitszeiten gemeinschaftlich-kooperative Vorstellungen für die Thematisierung betrieblicher Arbeitszeitgestaltung nicht ausgedient hatten. Ein besonders deutliches Beispiel für die Einordnung der „Arbeitszeitfrage“ in dieses gemeinschaftliche Unternehmensverständnis ist die Benennung der 1956 zweimal im Monat eingeführten arbeitsfreien Samstage. Sie wurden als „Bayer-„ oder gar „Haberland-Tage“ bezeichnet, was den freien Samstag doch sehr in die Nähe einer patriarchalen Gunstbezeugung rückt, die sich die Arbeitnehmer gewissermaßen verdienen mussten.33 Die Beispiele zeigen, dass es auch in den 1950er Jahren durchaus üblich war, Fragen der Arbeitszeitgestaltung in Kategorien gemeinschaftlicher Kooperation zu thematisieren. Die im Issue-Feld so enge Verbindung zwischen dem Gelingen der Arbeitszeitsenkung im Betrieb und dem Gelingen der politischen Ordnung insgesamt findet sich jedoch im Unternehmen Bayer nicht. Es wäre für die Aushandlung von Arbeitszeiten mit der Belegschaft aus Sicht der Firmenleitung kaum sinnvoll gewesen, sich selbst durch den Verweis auf die gesellschaftspolitische Bedeutung des Themas jede Argumentationsgrundlage für eine langfristige und schrittweise Senkung der Arbeitszeiten zu entziehen. Zur Beschreibung der betrieblichen Sozialbeziehungen wurde der Zusammenhang zwischen betrieblicher und gesellschaftlicher Gemeinschaft durchaus aufgegriffen, insbesondere dort, wo die Gestalt der Sozialbeziehungen explizit reflektiert wurde. In der Werkszeitschrift erschien, in der Rubrik „Beiträge zur eigenen Urteilsbildung“, 1963 ein Artikel mit dem programmatischen Titel „Klassenbewußtsein oder Betriebsverbundenheit?“. Der Autor, Professor Carl Föhl, zeichnete darin ein Bild betrieblicher Sozialbeziehungen, das ganz am Ideal der gegenseitigen Verantwortung in einer Gemeinschaft ausgerichtet war: „Wir mögen es drehen und wenden, wie wir wollen: der Betrieb ist eben doch eine Gemeinschaft [...].“ Allerdings sei diese Gemeinschaft Teil einer größeren, nämlich 32 33
Auszug aus der Rede Haberlands am 21.9.1958, S. 7, in: BAL 215/11. Die Bezeichnung als „Bayer-Tage“ findet sich im internen Schriftverkehr. Vgl. z.B.: Aktennotiz des Arbeitsbüros Leverkusen vom 13.4.1956, in: BAL 59/247. Die Bezeichnung als „Haberland-Tag“ scheint sich lokal eingebürgert zu haben und wurde – vollkommen ohne Ironie – auch von der Presse aufgegriffen. Vgl.: Artikel „1957 achtzehn freie Tage“, ohne Autor, in: Leverkusener Anzeiger, Nr. 204, 1.9.1956, in: BAL 215/11.4. Ein Kolumnist der Kölnischen Rundschau hatte jedoch die übersteigerte Verehrung des Vorstandsvorsitzenden erkannt, die in dieser Bezeichnung der freien Samstage zum Ausdruck kommt: „St.-Ulrich- oder Haberland-Tage pflegt sie der Volksmund in stiller Verehrung zu nennen“, schrieb er über diese Tage, mit denen den Beschäftigten vom Werk Freizeit „geschenkt“ worden sei. Artikel: „Wo viel Licht ist ...“, ohne Autor, in: Kölner Rundschau, Nr. 11, 14.1.1957, in: BAL 215/11.4.
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der politischen. In der Gemeinschaft des Betriebes leiste der Einzelne daher immer etwas „Nützliches“ über den Betrieb hinaus, etwa indem er dazu beitrage den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen. Dem Schaffenden müsse klar sein, dass er mit seiner Arbeit „auch Verantwortung übernommen hat, Mitverantwortung für das Gelingen des Ganzen.“34 Im Rahmen dieses Gemeinschafts-Verständnisses grenzte Föhl explizit eine überkommene „Gefolgschaftstreue“ von der „Betriebsverbundenheit“, in der Arbeitgeber und -nehmer gleichermaßen „zusammenfinden“ und damit den Klassenkampf überwinden würden.35 Die für die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung charakteristische Ausweitung des Gemeinschafts-Ideals findet sich also in der Thematisierung betrieblicher Sozialbeziehungen in den Unternehmen selbst durchaus wieder. Vermieden wurde jedoch eine Kombination des sozialpartnerschaftlichen Topos eines sozial verantwortlichen Unternehmers mit der Frage der Arbeitszeitsenkung. Bei Siemens wurde hingegen durchaus ein Zusammenhang zwischen betrieblicher und gesamtwirtschaftlicher Ordnung auch im Falle der „Arbeitszeitfrage“ hergestellt. Allerdings mit einem gewendeten Verständnis von Verantwortung: diese wurde nicht etwa dem Unternehmen, sondern den Beschäftigten zugeschrieben. Nachdem mit dem Bremer Abkommen 1956 die Senkung der Arbeitszeiten auf 45 Stunden eingeleitet worden war, erschien in der Werkszeitung, den „Siemens-Mitteilungen“, ein Artikel zum Thema „45 Stunden – und was nun?“. Unter Verweis auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die mit der Senkung einhergingen, wurde darin auch die Frage thematisiert „was wir Arbeitnehmer dazu beitragen können, die angedeuteten Schwierigkeiten zu vermeiden oder zu mildern.“ Zwar wird auf die nötige Intensivierung der Arbeit hingewiesen, vor allem jedoch auf die Bedeutung, die jeder Einzelne für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung habe. Insbesondere gelte es den Konsum einzuschränken, um Inflation zu vermeiden.36 Etwas weniger implizit formulierte die Sozialpolitische Abteilung 1966 diesen Verweis auf die gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Arbeitnehmer. Zu diesem Zeitpunkt fanden Tarifverhandlungen statt, in denen sich die Arbeitgeber für eine Verschiebung weiterer Senkungen einsetzten. In einem Schreiben an die Belegschaft begründete die Sozialpolitische Abteilung diese Haltung der Firmenleitung. Angesichts drohender Inflation ginge es doch „nur noch um eine Viertelstunde Arbeitszeit am Tag: für den Einzelnen ein kleines Opfer, in der Summe ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung.“37 Das über den Betrieb hinausgehende Gemeinschaftsverständnis der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung fand also Anwendung bei der Thematisierung der Arbeitszeitsenkung. 34
35 36 37
Föhl, Carl: Klassenbewusstsein oder Betriebsverbundenheit?, in: Unser Werk, Nr. 5, 1963, S. 84; Auszug in: BAL 210/1. Föhl war ehem. Mitglied der Geschäftsleitung einer süddeutschen Nadelfabrik. Ebd. S. 85. Prigge, Hans: 45 Stunden – und was nun?, in: Siemens-Mitteilungen, Nr. 22, 1956, S. 14. Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung „An alle Mitarbeiter“ vom 10.2.1966, S. 2, in: SAA 7443–1.
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Aus verhandlungstaktischen Gründen wurde der Topos der Verantwortung für die überbetriebliche Ordnung in diesem Fall auf die Arbeitnehmer übertragen. Bezüge zu einer gemeinschaftlichen betrieblichen Ordnung flossen im Falle von Siemens hingegen kaum in die Bewertung der Arbeitszeitfrage ein. In den Verhandlungen innerhalb der Firmenleitung und zwischen Firmenleitung und Belegschaft spielte das Konzept der Kooperation auf der Basis einer Gemeinschaft keine Rolle. Als die Firmenleitung des Werkes Erlangen mit dem Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrats 1956 über die Durchführung der Arbeitszeitsenkung diskutierte, wurde zwar auf den guten Willen des „Hauses Siemens“ verwiesen, das in Sachen Arbeitszeiten der Entwicklung vorausgehe. Es wurden daraus jedoch keine expliziten Loyalitätserwartungen abgeleitet.38 Nur gelegentlich scheinen Verweise auf die betriebliche Gemeinschaft in der Diskussion um Arbeitszeiten durch. So hatte – man denke an die „HaberlandTage“ bei Bayer – auch Siemens einen „Firmenfeiertag“ vorzuweisen. Es handelte sich um den Pfingstdienstag, der im 19. Jahrhundert von Werner von Siemens zum arbeitsfreien Tag erklärt wurde – da die Berliner Holzarbeiter an diesem Tag „grundsätzlich blau“ machten, was jedoch nicht Bestandteil der Erzählung war.39 Diese „hergebrachte Tradition unseres Hauses“ wurde nach 1945 fortgesetzt. 1955 wurde ihr eine zusätzliche Bedeutung verliehen, indem dieser freie Tag auch mit den normalen Bezügen vergütet wurde. In der Bekanntmachung an die Belegschaft hieß es: „Damit wird der Pfingstdienstag fortan für alle Betriebsangehörigen ein Firmenfeiertag sein.“40 Bezüge auf ein gemeinschaftliches Kooperationsideal kamen aber vor allem dort ins Spiel, wo eine Reflexion der Sozialbeziehungen angebracht schien, insbesondere im Falle von Konflikten. Nur zwei Jahre vor der Bekanntmachung über die Aufwertung des „Firmenfeiertages“ hatte der Bayerische Metallarbeiterstreik von 1954 ein intensives Nachdenken über die Gestaltung der betrieblichen Sozialbeziehungen ausgelöst. In den Diskussionen über die Ursachen des Konflikts wurde die Bedeutung einer betrieblichen Sozialpolitik betont, die den Faktor der Gemeinschaft stärker zur Geltung bringen müsse. Insbesondere die Sozialabteilung erklärte den Streik durch einen Mangel an Verbundenheit und Verpflichtung.41 In dem von Fritz Stöbe über die Ursachen des Streiks angefertigten Gutachten heißt es, der Arbeiter müsse zum Mitarbeiter gemacht werden; er müsse als Mensch ernst genommen werden, um seine „innere und 38 39
40 41
Protokoll einer Sitzung der Firmenleitung Erlangen mit dem Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates vom 1.9.1956, S. 3, in: SAA 14 Lr 516. Notiz Dr. Weiher vom 12.4.1961; er beruft sich dabei auf die Erinnerung von Mitarbeitern. Zum offiziellen „Feiertag“ wurde der Pfingstdienstag wohl erst 1900 erklärt. Vgl.: Schreiben an die Abteilung für Beleuchtung und Kraft des Werkes Charlottenburg vom 20.3.1901, in dem dieser Beschluss des Direktoriums kommuniziert wurde; jew. in: SAA 14 Lr 516. Gemeinsame Bekanntmachung der Firmenleitungen von S.&H. und SSW, sowie des Gesamtbetriebsrates, August 1955, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Protokoll der S.&H. L-Besprechung am 15.12.1954, S. 2, in: SAA 12799.
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freiwillige“ Bereitschaft zu wecken, am Betriebserfolg mitzuwirken.42 Stöbe berief sich dabei auf ein sozialpartnerschaftlich gewendetes Gemeinschaftsideal. Nicht Treue als Gegenleistung von patriarchalem Wohlwollen galten ihm als der Kern der Zusammenarbeit, sondern eine Verantwortung der Arbeitnehmer in einer betrieblichen Partnerschaft.43 Es wurde also auch bei Siemens zur Thematisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen auf das auch in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung angelegte Ideal der betrieblichen Gemeinschaft zurückgegriffen. Das sozialpartnerschaftliche Ideal gemeinschaftlich begründeter und organisierter Kooperation spielte damit über das Issue-Feld hinaus auch in den hier untersuchten Unternehmen eine wichtige Rolle für die Bewertung der Sozialbeziehungen und nicht zuletzt der Frage der Arbeitszeitgestaltung. Im Unterschied zur Thematisierung der Arbeitszeitsenkung im Issue-Feld fällt insbesondere für das späte 19., frühe 20. Jahrhundert auf, dass sich die im IssueFeld so präsente Einordnung der Arbeitszeitfrage in einen grundsätzlichen Umbruch der Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen nicht wiederfindet. Im Vordergrund standen alltägliche oder akute Fragen der Regulierung von Arbeitszeiten, die zwar unter einem sehr deutlichen Rückgriff auf das patriarchalischgemeinschaftliche Ideal bewertet wurden, in keinem Fall jedoch mit den Entwicklungen „außerhalb“ des Betriebes in Verbindung gebracht wurden. Die Trennung zwischen „innen“ und „außen“ funktionierte also auch auf der Ebene der Thematisierung der Arbeitszeitsenkung in den Unternehmen. Versammlungen und Absprachen der Arbeiter „außerhalb“ des Betriebs wurden kritisiert,44 eine Verknüpfung zwischen der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitszeitgestaltung im Betrieb wurde unter Verweis auf das Konzept der betrieblichen Gemeinschaft möglichst vermieden. Dieser Umstand ist ein Hinweis auf die Gültigkeit der patriarchalischen Wissensordnung, welche die Entscheidungsfindung idealtypischerweise ausschließlich an innerbetriebliche Bedingungen knüpfte. Auch in den 1950er und 1960er Jahren ist die Bewertung der Arbeitszeitsenkung in den Unternehmen derjenigen im Issue-Feld recht ähnlich. In beiden Unternehmen wurde die Senkung an sich nicht in Frage gestellt und im Unterschied zum ersten Untersuchungszeitraum wurden Bezüge zwischen der Handhabung der Arbeitszeitsenkung in den Unternehmen und ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung nicht selten hergestellt – wenn auch nie in Verbindung mit dem Konzept unternehmerischer Verantwortung. Diese Änderung mag gradueller Art sein, im Vergleich zur expliziten Isolierung des Unternehmens von „außerbetrieblichen“ 42 43 44
Stöbe, Fritz: Gedanken zur Sozialpolitik im Hause Siemens; Gutachten vom 12.8.1954, S. 1, in: SAA 12352. Vgl.: Ebd. S. 2. Diesen Vorwurf erhoben z.B. Vertreter der Vorstände von S.&H. und SSW gegenüber den Obmännern der Arbeiterausschüsse, die solche „außerbetrieblichen“ Aktivitäten der Beschäftigten nicht zu verhindern wüssten. Vgl.: Protokoll der Besprechung von Vorstandsvertretern von S.&H. und SSW mit Obmännern der Arbeiterausschüsse der Berliner Werke am 27.1.1905, S. 2, in: SAA 4 Lk 12–13.
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Entwicklungen im ersten Untersuchungszeitraum macht sich deren Einbeziehung aber bemerkbar. Deutlich wird im Vergleich außerdem die Bewertung von Fragen der Arbeitszeitregulierung in Kategorien der Kooperation, wie sie auf der Basis des jeweiligen Gemeinschaftsgedankens formuliert wurden. Um diese Befunde einordnen zu können, darf nicht unerwähnt bleiben, dass die überwiegende Anzahl der Quellen, die über die Arbeitszeitgestaltung in den Unternehmen Siemens und Bayer Auskunft geben, keine Verbindung zu den Wissensordnungen erkennen lassen. In der Mehrzahl handelt es sich um Anordnungen, Bekanntmachungen oder Protokolle die ohne eine Bewertung der Arbeitszeitfrage oder gar eine Argumentation auskommen, die über Motive für die Arbeitszeitregulierung Aufschluss geben würde. Die zitierten Quellen, mit denen die Relevanz von Patriarchlismus und Sozialpartnerschaft für die Einordnung der Arbeitszeitsenkung belegt wurde, zeigen jedoch, dass die Topoi der Ordnungsvorstellungen dort bemüht wurden, wo es galt, den Beschäftigten Entscheidungen in Sachen Arbeitszeitgestaltung zu kommunizieren oder Mitglieder der Firmenleitung von einer Neuregelung zu überzeugen. Sie erfüllten in diesen Zusammenhängen eine Funktion: Sie vermittelten durch den Bezug auf die (vermeintlich oder tatsächlich) geteilte Wissensordnung zwischen den Beteiligten, indem sie eine schlichte Regelung in einen sinnhafte Zusammenhang einordneten. Den Fixpunkt bildete dabei immer die Kooperation der Beteiligten. Damit waren die Ordnungsvorstellungen auch insofern „Kooperationsideale“, als sie der Vermittlung zwischen den Beteiligten und damit der sozialen Integration im Betrieb dienten beziehungsweise dienen sollten. Daher ist es nachvollziehbar, weshalb der Rückgriff auf die Wissensordnungen gerade dort erfolgte, wo eine Vermittlung nötig beziehungsweise Mechanismen der Kooperation defizitär erschienen, insbesondere im Konfliktfall. Das mindert keinesfalls ihre Bedeutung zeigt es doch, dass sie gerade in Situationen der Unsicherheit, in denen ein Orientierungsbedürfnis herrschte, als Modi der Beschreibung und Bewertung dienten. Da die Wissensordnungen auch in den Unternehmen selbst zentrale Bezugspunkte für die Thematisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen waren, schließt sich die Frage an, ob sie sich über die Bewertung hinaus auch auf einer institutionellen Ebene niederschlugen: auf die Bedingungen der Organisation von Kooperation in den Betrieben. 5.2 ORGANISATION VON KOOPERATION: GEMEINSCHAFTS-IDEALE ALS LEITBILDER BETRIEBLICHER SOZIALBEZIEHUNGEN In beiden Untersuchungszeiträumen zeigt sich auch bei der Thematisierung der Arbeitszeitsenkung in den Unternehmen ein Bezug zu den im Issue-Feld präsenten Ordnungsvorstellungen. Fragen der Arbeitszeitgestaltung wurden häufig vor dem Hintergrund der Ordnungsvorstellungen bewertet, die auch als Bezugspunkte bei der Vermittlung von Entscheidungen dienten. Übertragen auf die praktische Handhabung der Arbeitszeitregulierung in den Unternehmen stellt sich die Frage nach der Wirkung der Kooperationsideale. Zweifelsohne lag diese nicht darin,
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dass Arbeitszeiten tatsächlich einvernehmlich gestaltet worden wären. Die Idealtypen schlossen den Konflikt oder harte Sanktionen nicht aus. Gegenüber den Arbeitern ließ beispielsweise die Leitung des Unternehmens Bayer keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft, die Einhaltung der Arbeitszeiten wenn nötig zu erzwingen. Ihren Unmut über „bedauerliche Unpünktlichkeit“ ließ sie per Aushang bekannt machen und formulierte darin ihre Bereitschaft, „rücksichtslos mit Strafen vorzugehen“, sollte sich am gegenwärtigen Zustand nichts ändern.45 Das beschränkte sich keineswegs auf die Arbeiter, auch mit dem Vertrauen in das freiwillige Engagement der Angestellten schien es in der Praxis nicht weit her zu sein. Wie bereits im vorigen Abschnitt angedeutet, setzte im späten 19. Jahrhundert ein Wandel ein, wobei die institutionellen Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung zunehmend ausdifferenziert und formalisiert wurden. Im Zuge dessen war bei Bayer das Vertrauen in die Freiwilligkeit der Angestellten, samstags wenn nötig länger zu arbeiten, durch eine formale Regel ersetzt worden. Für eine derartige Unzufriedenheit der Firmenleitung von Bayer mit der Arbeitsdisziplin ihrer Angestellten gibt es zahlreiche Belege. Das Direktorium bemängelte 1912 in einem Schreiben an „unsere Herren Abteilungs- und Bureauvorsteher“, die Beamten würden ihre Arbeit weder pünktlich beginnen noch beenden. „Die halbstündige Mittagspause ist schon wieder zu einer dreiviertelstündigen Pause verlängert worden [...]“, beklagte die Firmenleitung. Samstags führen außerdem „eine Reihe von Beamten schon mit der von Leverkusen um 2.03 Uhr nach Mülheim abgehenden Elektrischen.“ Sollte keine Verbesserung dieser Zustände eintreten, sehe man sich gezwungen „mit exemplarischen Strafen und eventuell mit Entlassungen vorzugehen.“46 Die Drohung schien jedoch wirkungslos geblieben zu sein, denn auch ein Jahr später musste das Direktorium in einem erneuten Schreiben konstatieren, dass „eine große Anzahl unserer Beamten die für die Mittagspause festgesetzten Zeiten überschreiten [...].“47 Die bereits formal institutionalisierten Arbeitszeiten wurden daher mit größerem Sanktionspotenzial ausgestattet. Beginn und Ende der Mittagspause wurden mit Glocken beziehungsweise elektrischen Uhren unmissverständlich angekündigt, Beamte die außerhalb der festgesetzten Dienstzeiten den Pförtner passierten, hatten bei selbigem ihren Namen sowie den Grund des Entfernens in ein Buch einzutragen.48 Diese zunehmende Formalisierung der Arbeitszeitregulierung kann einerseits als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Kategorien wie „Treue“ oder „Vertrauen“ in der Praxis keine Rolle mehr spielten. Andererseits waren sie offensichtlich nicht erste Wahl, sondern kamen erst an zweiter Stelle, nach dem Appell an die Kooperationsbereitschaft der Angestellten. 45
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Aushang „An unsere Arbeiter“, in dem die Unpünktlichkeit rund um die Mittagspause beklagt, und bekannt gegeben wurde, dass daher die Kapazität der Küche erhöht wurde. Vermutlich von 1913 oder 1914, in: BAL 212/1. Schreiben des Direktoriums der Farbenfabriken an die Abteilungs- und Bureau-Vorsteher, November 1912, S. 1, in: BAL 215/11.1. Schreiben des Direktoriums vom 26.8.1913, in: BAL 215/11.1. Vgl.: Ebd.
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Zumal eine gewisse Wirkungslosigkeit der stark formalisierten Institutionen konstatiert werden muss. Klagen über Unpünktlichkeit und mangelnde Arbeitsmoral finden sich durchgängig bis in den zweiten Untersuchungszeitraum hinein wieder. Auch in den 1950er Jahren mahnten die Firmenleitungen von Bayer und Siemens häufig Pünktlichkeit und Disziplin an. Die Angestellten des Bayerwerks Leverkusen wurden auch noch 1957 darauf aufmerksam gemacht, dass der Vorstandsvorsitzende Haberland persönlich „eindringlich“ auf die Einhaltung der Arbeitszeiten hingewiesen habe.49 Dieses Phänomen war weder auf Bayer noch auf die Angestelltenschaft beschränkt. Auch bei Siemens sind Klagen über Unpünktlichkeit beziehungsweise Aufrufe zu erhöhter Arbeitsdisziplin fester Bestandteil der Arbeitszeitregulierung.50 Strikte Regelungen markieren den Anspruch, die Handhabung der Arbeitszeiten möglichst genau zu kontrollieren und gegebenenfalls mit Sanktionen einzugreifen. Wer laut „Werkstatt-Ordnung für die Telegraphen-Bau-Anstalt von S&H Berlin“ von 1875 während der Arbeitszeit die Fabrik verlassen wollte, musste sich vom Meister einen Passierschein geben lassen. Wer zu spät kam, musste nicht nur Strafe bezahlen, er wurde auch später eingelassen und musste früher gehen, so dass sich sein Lohn schmälerte.51 Nach der Jahrhundertwende wurde das Sanktionspotenzial weiter erhöht, indem etwa im Charlottenburger Werk Kontrolluhren die Pünktlichkeit dokumentierten, und die Meister Abweichungen sanktionierten.52 Ähnliche Klagen und Sanktionsmechanismen machen auch in den 1950er Jahren einen nicht unerheblichen Teil des Quellenkorpus aus.53 Keine Spur von Treue und Vertrauen in der Praxis also? Die zahlreichen, durchgehend auftauchenden Klagen über Unpünktlichkeit und die Strafandrohungen zeigen vor allem eines: Allein auf der Basis formaler und mit Sanktionen geschützter Institutionen war die Einhaltung der Arbeitszeiten zu keiner Zeit vollständig zu erzwingen. Gerade im Falle von Arbeitszeiten standen die Unternehmen offensichtlich vor einem Kontrollproblem. Umfangreiche Kontrollmechanismen und harte Sanktionen sind daher immer auch Ausdruck des Umstandes, dass die effiziente Nutzung der Arbeitszeiten, zumindest zu einem gewissen Teil, auch von der Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer abhing. Unabhängig davon wie kooperativ die Handhabung von Arbeitszeiten in der Praxis gewesen sein mag: Kooperation war der idealtypisch formulierte Anspruch. Das Konzept der Kooperation in einer Gemeinschaft hatte das Ziel, potenzielle Verluste an Arbeitszeit durch eine intrinsische Motivation der Beschäftigten auszugleichen. Je besser die Integration der Beschäftigten in die betriebliche Gemeinschaft gelang, desto größer waren im 49 50 51 52 53
Schreiben des Bayerwerks Leverkusen an die Angestellten vom 29.1.1957, in: BAL 215/11.1. Auch bei Siemens betraf das ebenso die Angestellten und das ebenfalls noch Mitte des 20. Jahrhunderts. Vgl.: Rundschreiben SG-Nr. 122 der SSW vom 11.3.1959, in: SAA 14 Lr 516. Vgl.: Werkstatt-Ordnung für die Telegraphen-Bau-Anstalt von S.&H. Berlin vom 15.2.1875, in: SAA 14 Lm 751. Vgl.: Arbeitsordnung des Charlottenburger Werks, um 1900, in: SAA 32 Lo 613. Besonders zahlreiche Hinweise finden sich in: BAL 215/11.1.
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Idealfall die Kooperationseffekte – und desto geringer die Kosten wie sie für die Einrichtung und Aufrechterhaltung von Sanktionen anfielen.54 Studien, die sich mit betrieblichen Sozialleistungen und dem Phänomen der Unternehmenskultur beschäftigten, konnten die immense Rolle belegen, die der Aufbau solcher Kooperationsstrukturen in der Geschichte zahlreicher Unternehmen schon in finanzieller Hinsicht spielte.55 Konzepte wie das der „Treue“ als einer zentralen patriarchalischen Kategorie mögen im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang von Kooperation im betrieblichen Alltag praxisfremd gewesen sein – als Idealtypen hatten sie dennoch Folgen für den Aufbau von institutionellen Strukturen, mit deren Hilfe Kooperation organisiert werden sollte. Institutionalisierung des patriarchalischen Gemeinschafts-Ideals? Häufig wird angenommen, die „patriarchalische“ Organisation von Unternehmen habe mit der Entwicklung von Unternehmen zu Großbetrieben im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung verloren. Meist liegt dem das Argument zugrunde, das persönliche Verhältnis zwischen einem „Patriarchen“ und „seinen“ Arbeitern sei mit dem Wachsen von Unternehmen durch eine hierarchische Ausdifferenzierung der Unternehmensführung ersetzt worden. Hartmut Kaelble hat diese Entwicklung daher als eine „Entpersönlichung und Versachlichung des Arbeitsverhältnisses“ beschrieben.56 Auch Thomas Welskopp hat die Reichweite des Patriarchalismus für die Gestaltung betrieblicher Sozialbeziehungen in Frage gestellt. Ihm ging es vor allem darum, dem Gedanken patriarchalischer „Fürsorge“ seine Überhöhung zu nehmen und darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Konzept ökonomische Funktionen erfüllte.57 Am instrumentellen Charakter betrieblicher Fürsorgeleistungen kann kein Zweifel bestehen, allerdings sollte er nicht über die Wirkung hinwegtäuschen, die der Patriarchalismus als Idealtyp für die Organisation der Sozialbeziehungen in Unternehmen nach wie vor entfaltete. So zeigt etwa das Beispiel Krupp, welch bedeutende Rolle dem Konzept des Ver 54
55
56 57
Dieser Zusammenhang von Vertrauen, das hilft Transaktionskosten zu senken, ist natürlich der ideale Fall. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass auch Kooperation nicht kostenlos ist, sondern den Aufbau von Strukturen erfordert, die zu einer Vergemeinschaftung im Betrieb beitragen sollen, man denke an betriebliche Sozialleistungen wie den Wohnungsbau, Erfolgsbeteiligung etc. Vgl.: Wischermann (2003), S. 87. Das beträchtliche Ausmaß (auch in finanzieller Hinsicht) der Bemühungen, die Beschäftigten in das Unternehmen Bayer zu integrieren, hat Anne Nieberding herausgearbeitet. Vgl.: Ebd. (2003). Für das Kaiserreich liegen zahlreiche weitere Fallbeispiele vor, z.B.: Hilger (1996); Berghoff (1997); Kollmer-von Oheimb-Loup (2004); Rudloff (2005). Weitaus weniger dicht ist die Forschung zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; thematisiert werden der Faktor der Unternehmenskultur bzw. die betrieblichen Sozialbeziehungen als Instrumente der Integration z.B. bei: Raasch (2007); Rosenberger (2008); Lubinski (2010). Kaelble (1967), S. 60. Welskopp (1994b), S. 341f.
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trauens zur Koordination der Sozialbeziehungen zukommen konnte. Gerade angesichts zunehmender Komplexität und Anonymität der betrieblichen Verhältnisse wurde das Prinzip „Vertrauen“, so Ralf Stremmel, zu „einem Schlüssel für die Funktionsfähigkeit des Systems ‚Unternehmen‘“.58 Sichtbar wurde das insbesondere durch die gezielte Organisation der Vertrauensbeziehung in Form von Werkszeitschriften oder Firmenfeiern. Stremmel sieht damit das patriarchalische Treue-Verhältnis abgelöst durch eine vertrauensbasierte Unternehmenskultur, einen „bürokratischen Patriarchalismus“.59 Diese Formulierung macht aber deutlich, dass der Ausbau formaler Strukturen zur Organisation von Kooperation nach wie vor mit der patriarchalischen Ordnungsvorstellung in Beziehung stand. Insbesondere das Ideal einer betrieblichen Gemeinschaft blieb nicht nur ein zentraler Angelpunkt für die Thematisierung des Betriebes, sondern wurde zunehmend explizit gemacht, etwa bei der Begründung des Aufbaus betrieblicher Sozialpolitik. Selbst die zunehmende Formalisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen war in diesem Sinne durch den patriarchalischen Idealtypus geprägt, da sie mit der Notwendigkeit der Organisation einer „Gemeinschaft“ legitimiert wurde. Bereits Werner von Siemens leitete eine formale Institutionalisierung des Verhältnisses zwischen Firmenleitung und Beschäftigten ein, indem er das Element persönlicher Beziehungen um betriebliche Sozialeinrichtungen ergänzte. Die von ihm noch in den Anfangsjahren des Unternehmens eingeführte Gewinnbeteiligung der Mitarbeiter sollte in diesem Sinne „ein freudiges, selbsttätiges Zusammenwirken aller Mitarbeiter“ bezwecken.60 Patriarchalischer Impetus und ökonomischer Zweck gingen hierbei Hand in Hand. Gewinnbeteiligungen wie auch die 1872 geschaffene Pensionskasse hatten angesichts einer hohen Fluktuation der Arbeiter in Berlin das Ziel eine Stammarbeiterschaft aufzubauen.61 Als eine Reaktion auf konkrete Problemlagen kann auch der weitere Ausbau formaler Institutionen zur Regulierung betrieblicher Sozialbeziehungen gelten, wie er nach dem Ausscheiden von Werner von Siemens vor allem nach der Jahrhundertwende vorangetrieben wurde. Mit der konjunkturellen Erholung erhoben die Arbeiter 1903 Forderungen nach Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Beschwerden über den Umgang der Meister wurden geäußert, verbunden mit spontanen Arbeitsniederlegungen. Aufgrund dieser Unruhe beschloss der Vorstand noch im selben 58 59 60 61
Stremmel (2006), S. 87. Ebd. S. 88. Vgl. zum Verhältnis von „Treue“ und „Vertrauen“ bei Stremmel: Ebd. S. 74. Zitiert nach: Schmidt (1993), S. 198. Vgl.: Schmidt (1993), S. 199. Allerdings waren Instrumente wie die Gewinnbeteiligung stark selektiv. Schon von Beginn an waren die Akkordarbeiter von Prämien der Gewinnbeteiligung ausgeschlossen, bis Mitte der 1880er Jahre hatten die Beteiligungen de Facto nur noch für die Meister und Angestellten Bedeutung. Schmidt kommt, anders als Kocka, auch zu dem Schluss, die Sozialeinrichtungen hätten weder die Fluktuation nachhaltig einzuschränken noch Streiks zu verhindern vermocht. Vgl.: Ebd. S. 201f. Sie weist darauf hin, dass die Wirksamkeit dieser Einrichtungen zwar von der Firmenleitung konstatiert, aber nie hinterfragt oder evaluiert wurde. Vgl.: Ebd. S. 203.
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Jahr, Arbeiterausschüsse einzurichten.62 Angesichts von Streiks wurde 1904 der gemeinsame Betriebsausschuss von S.&H. und SSW gegründet, der die Arbeiterangelegenheiten koordinieren sollte und dessen Vorsitzende ab 1905 mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse verhandelten (vgl. Kap. 3.3). Jürgen Kocka hat diese Neuorganisation der Sozialbeziehungen als eine sichtbare Abkehr von patriarchalischen Formen der Unternehmensorganisation gewertet.63 Zumal zur selben Zeit die in den 1890er Jahren noch üblichen Feiern der Jubiläen verdienter Mitarbeiter abgeschafft wurden.64 Allerdings deutet diese Ausdehnung formaler Institutionen zur Regulierung der Sozialbeziehungen zunächst in erster Linie auf die große Aufmerksamkeit hin, die das Verhältnis von Beschäftigten und Firmenleitung erfuhr. Die zahlreichen kleineren und größeren Konflikte seit der Jahrhundertwende schienen eine Neuorganisation notwendig zu machen. Auch die Gründung eines Werkvereins im Jahre 1906, mit dessen Hilfe dem Einfluss der Gewerkschaften entgegengewirkt werden sollte, ging auf die Streiks von 1904/05 zurück.65 Instrumente wie der Werkverein oder auch eine Pensionskasse wurden in Zeiten gegründet, als Zweifel an der „Treue“ der Beschäftigten herrschten.66 Ein untrügliches Zeichen für die Bedeutung, die der Neuorganisation der Sozialbeziehungen zugemessen wurde, ist auch die Einrichtung einer Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen im Jahre 1907, der Kommission für soziale Angelegenheiten, der Wilhelm von Siemens als Vertreter des Aufsichtsrates vorsaß.67 Mit dieser Kommission entschied die höchste Hierarchieebene über Belange, die nur Jahre zuvor von den Meistern reguliert worden waren. Prägend für diese zunehmend formale Institutionalisierung der Sozialbeziehungen waren nach wie vor Vorstellungen einer betrieblichen Gemeinschaft. Nur waren Elemente wie die eines persönlichen Verhältnisses zwischen einem Patriarchen und den Beschäftigten institutionell anders gefasst worden, nachdem der persönliche Kontakt in der Praxis unmöglich geworden war. Aufgabe der Arbeiterausschüsse war es laut Satzung, „alle Interessen der Arbeitnehmer im Wege friedlichen Zusammenwirkens mit der Werksleitung zu fördern.“68 Tatsächlich eröffneten die Ausschüsse den Arbeitern einen formal institutionell abgesicherten Weg, auf eigenen Wunsch hin mit der Werksleitung in Kontakt zu treten. Eine Möglichkeit die sie erfolgreich nutzten, um die Verfügungsmacht der Meister einzugrenzen.69 Um über eine weitere institutionalisierte Verbindung zu den untersten Hierarchieebenen im Betrieb zu verfügen, entsandte das Sekretariat der Kommission für soziale Angelegenheiten Vertrauensleute in die einzelnen Säle 62 63 64 65 66 67 68 69
Vgl.: Kocka (1969), S. 347f. Vgl.: Ebd. S. 352f. Vgl.: Ebd. S. 354. Vgl.: Schmidt (1993), S. 206. Vgl.: Ebd. S. 301. Vgl.: Kocka (1969), S. 361f. Ebd. S. 348. Vgl.: Ebd. S. 349.
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der Werkstätten und die Abteilungen, die sie mit Informationen versorgen sollten. Sie stammten aus den Reihen des Werksvereins, über ihre Auswahl bestimmten die Direktoren im Betriebsausschuss mit.70 Geschaffen wurden diese neuen institutionellen Grundlagen der betrieblichen Sozialbeziehungen unter Bezug auf das patriarchalische Ideal einer Gemeinschaft, wofür sich zahlreiche Beispiele anführen lassen. Dazu ist nicht zuletzt der Werkverein zu zählen, der unter anderem Feste ausrichtete, die, wie Direktor Pfeil es formulierte, den „inneren Zusammenhalt“ festigen sollten.71 Die Inszenierung eines persönlichen, gemeinschaftlichen Verhältnisses zwischen Firmenleitung und Beschäftigten wurde wieder intensiviert, nachdem diese Form der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen seit der Jahrhundertwende zunächst reduziert worden war.72 Dennoch hatte just 1900 das Direktorium beschlossen, den Pfingstdienstag als einen „Firmenfeiertag“ zu behandeln.73 Eine wichtige Rolle für die Stiftung einer Gemeinschaft wurde der Tradition der Firma zugeschrieben. Die Firmenjubiläen wurden feierlich begangen, Werner-Siemens-Gedenkmedaillen als Auszeichnung vergeben. Auch die Gründung des Archivs 1907 stand ganz im Zeichen der betrieblichen Gemeinschaft. Gründer und auch der zweite Leiter des Archivs betrachteten das Arbeitsverhältnis als eine „Arbeitsgemeinschaft“, die Firmentradition sollte daher dazu beitragen, ein „Bewußtsein der Zusammengehörigkeit“, ein „inneres Verhältnis“ zum Unternehmen zu stiften.74 Mit den aus der patriarchalischen Ordnungsvorstellung idealtypisch abgeleiteten Regeln des Miteinanders im Betrieb wurde also die Schaffung oder zumindest die Ausrichtung und die Ziele konkreter Institutionen begründet. Es war vor allem Anne Nieberding, die am Beispiel des Unternehmens Bayer gezeigt hat, dass es sich bei Instrumenten betrieblicher Sozialpolitik und der Inszenierung von Gemeinschaft durch Feiern und andere Formen symbolischer Kommunikation nicht etwa um inhaltsleer gewordene Hülsen patriarchalischer Ideale handelte. Vielmehr stellten sie wichtige Mittel dar, um die Beschäftigten in das Unternehmen zu integrieren. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese erst systematisch entwickelt und institutionalisiert.75 Gerade das Beispiel Bayer zeigt, wie prägend dabei nach wie vor der patriarchalische Idealtypus war (vgl. auch Kap. II.3). Dabei gilt Bayer geradezu als „Beispiel technokratischer Unternehmensorganisation“.76 Seitdem Carl Duisberg 1900 zum Direktor ernannt worden war, trieb er die Systematisierung der Unternehmensorganisation voran. Die Aufgaben der Direktoren wurden ebenso formal reguliert, wie auch die Hand 70 71 72 73 74 75 76
Vgl.: Ebd. S. 362. Zitiert nach: Schmidt (1993), S. 209. Vgl.: Kocka (1969), S. 354f. Vgl.: Schreiben an die Abteilung für Beleuchtung und Kraft des Werkes Charlottenburg vom 20.3.1901, in: SAA 14 Lr 516. Kocka (1969), S. 447. Vgl.: Nieberding (2005), S. 58. Plumpe (1999), S. 70.
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lungsmöglichkeiten von Abteilungsvorständen, Meistern und Aufsehern, die in Handbüchern detailliert beschrieben wurden.77 Im Zuge dessen wurden auch die betrieblichen Sozialbeziehungen auf formal-institutionelle Grundlagen gestellt. Bei Bayer hatten die betrieblichen Sozialeinrichtungen bis 1903 einen Umfang angenommen, der es notwendig erscheinen ließ, eine eigene Wohlfahrtsabteilung zur Koordination der Sozialeinrichtungen zu schaffen, der ein Wohlfahrtssekretär vorstand.78 Duisberg hatte die betrieblichen Sozialeinrichtungen zu Instrumenten der Organisation von Kooperation ausgebaut. Kriterien wie Bedürftigkeit traten als Voraussetzung für den Erhalt von Unterstützungsleistungen zurück, stattdessen wurden Faktoren wie die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder Zuverlässigkeit entscheidend. Durch Sozialeinrichtungen wie Unterstützungskassen, Krankenkassen oder Wohnungsfürsorge wurde gezielt die „Treue“ zum Unternehmen belohnt. Wer beispielsweise einem der Werks- oder Berufsvereine beitrat, kam in den Genuss von Feiern, Freizeit- oder Bildungsangeboten. Darüber hinaus wurden die Erwartungen an die Loyalität der Beschäftigten gezielt kommuniziert, etwa durch die Werksvereine und Firmenfeste.79 Im Rahmen solcher Feiern, wie sie auch für die Jubilare oder anlässlich nationaler beziehungsweise politischer Anlässe stattfanden, wurden patriarchalische Rollen- und Verhaltenserwartungen kommuniziert. In ihren Ansprachen griff die Firmenleitung in Variationen immer wieder den Topos der Familie auf, um ihre Ansprüche an die Kooperation der Beschäftigten im Zeichen einer Gemeinschaft zu vermitteln (vgl. Kap. 2.4). Mit den betrieblichen Sozialeinrichtungen wurden also auch Anlässe für die Kommunikation eines Verständnisses betrieblicher Sozialbeziehungen geschaffen, das direkt aus der patriarchalischen Ordnungsvorstellung abgeleitet wurde. Wie auch im Falle des Unternehmens Siemens erfuhr die formale Institutionalisierung der Sozialbeziehungen einen neuen Schub durch den Ausbruch eines Konflikts. Als Reaktion auf den Streik 1904 wurde nicht nur ein Ausschuss für Arbeiterangelegenheiten geschaffen, sondern darüber hinaus mit sogenannten Sozialingenieuren ein ganz ähnliches Instrument eingesetzt, wie es die Vertrauensleute bei Siemens darstellten, um über die Entwicklungen der Sozialbeziehungen auf dem Laufenden zu sein. Über die Arbeit der Ausschüsse und der Sozialingenieure wurden Sozialberichte angefertigt, welchen die Firmenleitung statistische Informationen über die soziale Situation der Beschäftigten entnehmen konnte.80 Inwiefern diese formale Institutionalisierung der Sozialbeziehungen noch immer von der patriarchalischen Ordnungsvorstellung geleitet war, zeigt besonders deutlich der Posten des Sozialsekretärs, der 1910 geschaffen wurde. Die Ernennung von Dr. Schultze zum Sozialsekretär, der zugleich Geschäftsführer des Ausschusses für Arbeiterangelegenheiten war, zielte darauf ab, das Verhältnis 77 78 79 80
Vgl.: Hartmann (2010), S. 61; sowie: Plumpe (1999), S. 70. Vgl.: Plumpe (1994), S. 128. Vgl.: Nieberding (2004), S. 220f. Vgl.: Hartmann (2010), S. 82f. Überliefert sind die Berichte von 1907 und 1909.
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zwischen Unternehmen und den Arbeitern nicht mehr allein den Betriebsführern und Meistern zu überlassen: „In letzter Eigenschaft wird Dr. Schultze als Unparteiischer in allen Angelegenheiten zwischen Arbeitern und Betriebsführern zu vermitteln suchen. Ferner wird für die Arbeiter eine Sprechstunde eingerichtet werden, in der Dr. Schultze in allen einschlägigen Fragen persönlicher Art Rat und Aufklärung erteilen wird.“81
Damit wurde die Macht vor allem der Meister für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen beschnitten und stattdessen eine Stelle mit bestimmten Aufgaben und Rechenschaftspflicht geschaffen, deren Arbeit kontrollierbar war. Darüber hinaus sollte der Sozialsekretär aber auch eine verloren geglaubte persönliche Beziehung zwischen Firmenleitung und Beschäftigten wiederherstellen. So zumindest formulierte es Schultze selbst in seinem Bericht, in dem er gegenüber dem Direktorium zum Ausdruck brachte, das Arbeitsverhältnis dürfe nicht allein nach „technischen Gesichtspunkten“ geregelt werden, es müsse vielmehr der „persönliche Charakter“ berücksichtigt werden.82 Werner Plumpe hat die Aufgabe des Sozialsekretärs daher auch darin gesehen, „die abgerissene Fühlung zwischen Direktion und Belegschaft zu überbrücken.“83 Diese Vermittlerfunktion zwischen Firmenleitung und Belegschaft und insbesondere die von ihm angebotenen Sprechstunden für die Arbeiter weisen darauf hin, dass mit ihm ein Stellvertreter für die Person des Patriarchen geschaffen wurde: Mit dem Sozialsekretär gab es wieder einen persönlicher Ansprechpartner für die Beschäftigten, der außerhalb der bis dahin gültigen Hierarchien eine Instanz mit der Befugnis zur Lösung ihrer Probleme repräsentierte. Diese beschränkten sich keineswegs auf Fragen des Arbeitsverhältnisses. Im Handbuch für die Arbeiter heißt es über den Sozialsekretär: „Er soll den Arbeitern in allen geschäftlichen, bürgerlichen und persönlichen Angelegenheiten, in welcher sie seiner Auskunft bedürfen, ein Berater sein.“84 Die zahlreichen durchaus privaten Belange, die von den Arbeitern an den Sozialsekretär herangetragen wurden, zeigen im Übrigen, dass dieses Konzept nach wie vor auch unter den Beschäftigten Akzeptanz fand.85 Mit der Stelle des Sozialsekretärs wurde daher eine vormals implizite, aus dem patriarchalischen Idealtypus abgeleitete Rollenerwartung explizit gemacht, indem sie formal institutionalisiert wurde. Damit war geregelt, auf welchem Wege und mit welchen Anliegen sich die Beschäftigten an die Firmenleitung wenden konnten, die der Sozialsekretär repräsentierte. Legitimiert 81 82 83 84 85
Protokoll der Betriebsführerkonferenz am 5.8.1910, auf der Duisberg den Sozialsekretär vorstellte, in: BAL 13/4. Zitiert nach: Plumpe (1994), S. 128. Plumpe zitiert aus dem Bericht des Sozialsekretärs Leverkusen über das Jahr 1913. Zitiert nach: Ebd. S. 128. Handbuch für die Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 1912, S. 37, in: BAL 10/8.2. Vgl.: Berichte des Sozialsekretärs über die von ihm behandelten Anfragen, in: BAL 221/3. Die Berichte, die der Sozialsekretär i.d.R. monatlich anfertigte, tragen das Kürzel Duisbergs, wurden also an ihn weitergeleitet. Vgl. zum Sozialsekretär auch: Nieberding (2003), S. 358f.
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wurde diese direkte Verbindung zur Firmenleitung unter Verweis auf das patriarchalische Ideal, das eine solche „persönliche“ Beziehung zum Fundament der betrieblichen Gemeinschaft erklärte. Das in der patriarchalischen Ordnungsvorstellung angelegte Ideal einer kooperativen Gemeinschaft auf der Grundlage einer persönlichen Loyalitätsbeziehung war also mit der Formalisierung der Sozialbeziehungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs verloren gegangen. Im Gegenteil, es diente sogar der Begründung dieser Entwicklung, sollten doch angesichts des wachsenden Konfliktpotenzials die bis dahin häufig implizit und informell geregelten idealtypischen Vorstellungen der Organisation von Kooperation in einer Gemeinschaft systematisiert werden. Daher wurden für kaum mehr zugängliche „Patriarchen“ Ansprechpartner geschaffen, das im Sinne der Ordnungsvorstellung legitime Verhalten wurde durch das Belohnungssystem der Sozialeinrichtungen gezielt gefördert und die Maßstäbe dieses Verhaltens bei regelmäßigen Feiern oder in Einrichtungen wie den Werksvereinen vermittelt. Organisation von Kooperation im Zeichen der Sozialpartnerschaft? Die Bemühungen um die systematische Organisation von Kooperation wurden während und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg noch intensiviert. Für das Unternehmen Bayer sieht Werner Plumpe mit der Weimarer Republik einen Wandel der Organisation betrieblicher Arbeitsbeziehungen eingeleitet, der sich als Zentralisierung und Professionalisierung beschreiben lässt. Die Macht von Meistern und Aufsehern wurde weiter zugunsten spezialisierter Ausschüsse beschnitten, die personellen Ressourcen für die Gestaltung der Sozialbeziehungen deutlich ausgeweitet. In der Nachkriegszeit ging der Ausschuss für Arbeiterangelegenheiten im Fabrikkontorausschuss auf, in dem arbeits- und lohnpolitische Fragen entschieden wurden. Den Ausschuss leitete ein Mitglied des Direktoriums, weiterhin waren in ihm Abteilungsleiter und Betriebsführer vertreten. Eine 1921 gegründete Sozialabteilung übernahm wiederum die Geschäftsführung der verschiedenen Ausschüsse.86 In ihr wurden die Aufgaben derjenigen Abteilungen zusammengeführt, die mit sozialen Angelegenheiten befasst gewesen waren, wie das Fabrikkontor, die Wohlfahrtsabteilung und auch der Sozialsekretär.87 Der Leiter der Sozialabteilung wurde in das Direktorium einbezogen, was die Bedeutung sichtbar macht, die den Sozialbeziehungen zugeschrieben wurde.88 Ein ähnlicher Zentralisierungsprozess lässt sich bei Siemens beobachten. 1919 wurden die Aufgaben des 1904 gegründeten Betriebsausschusses und der 1907 zusätzlich geschaffenen Kommission für soziale Angelegenheiten in einer aus der Volkswirtschaftlichen Abteilung hervor 86 87 88
Vgl.: Plumpe (1999), S. 73. Vgl.: Pogarell / Pohlenz (2007), S. 148. Vgl.: Plumpe (1999), S. 73.
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gegangenen Sozialpolitischen Abteilung gebündelt.89 Richard Fellinger, der seit 1911 die Geschäftsstelle für volkswirtschaftliche Angelegenheiten leitete, war schon Sekretär der beiden 1904 und 1919 geschaffenen Gremien zur Regulierung der Sozialbeziehungen gewesen und damit eine zentrale Figur der Arbeiter- und Sozialpolitik bei Siemens.90 Bereits die von ihm geleitete Volkswirtschaftliche Abteilung hatte sich zu einer wichtigen Plattform für das Sammeln und die Weitergabe sozial- und arbeiterpolitisch relevanter Informationen entwickelt, die auch die Firmenleitung auf dem Laufenden hielt.91 Parallel zu dieser Formalisierung der Sozialbeziehungen intensivierte das Unternehmen aber auch die Bemühungen um die Aufrechterhaltung eines möglichst „persönlichen“ Verhältnisses zu den Beschäftigten. Bereits während des Ersten Weltkrieges erhielten die kämpfenden Siemens-Mitarbeiter eine Kriegszeitung, um die Verbindung zur Firma aufrecht zu erhalten. Seit 1919 sollten die „Wirtschaftlichen Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern“ durch die Erläuterung wirtschaftlicher Zusammenhänge Verständnis für die Entscheidungen der Firmenleitung wecken.92 Aus ihnen ging 1923 die Werkszeitschrift „Siemens-Mitteilungen“ hervor, die der „Pflege der persönlichen Beziehungen zwischen der Firma und ihren Angestellten und Arbeitern“ dienen sollte.93 Intensiviert wurden nach 1918 auch die Mittel, die der Inszenierung einer Gemeinschaft dienten, etwa durch Feiern und Appelle an den Stolz auf das gemeinsam Geleistete.94 Sowohl im Falle von Siemens als auch von Bayer markieren die ersten Jahre der Weimarer Republik eine neue Phase bei der Organisation betrieblicher Sozialbeziehungen. Mit der Gründung von Sozialabteilungen erhielt ihre Regulierung einen neuen Professionalisierungsschub. Ganz im Sinne des Glaubens an die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher, politischer und sozialer Prozesse, wie er unter dem Begriff des „Social Engineerings“ als neue Form des Ordnungsdenkens beschrieben wurde, sollte die soziale Ordnung des Betriebes nun nach wissenschaftlichen Kriterien von Experten gestaltet werden.95 Von besonderer Bedeutung erschien diese Professionalisierung im Kontext veränderter Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmärkte, erhielt aber auch besondere Relevanz mit der Verbreitung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ im Sinne des Taylorismus. Diese Neuorganisation fand vor allem in einigen Großunternehmen der neuen Industrien statt, denen auch die Unternehmen Siemens und Bayer zuzuordnen sind.96 Die Sozialabteilungen waren wichtige Orte für die Entwicklung einer Programmatik der Sozialbeziehungen, mit ihnen wurde daher auch eine neue Stufe der Reflexion über Ziele 89 90 91 92 93 94 95 96
Vgl.: Zusammenstellung „Zur Entwicklung der Sozialpolitischen Abteilung“, in: SAA 12489. Vgl.: Kocka (1969), S. 443. Vgl.: Ebd. S. 448. Vgl.: Zipfel (1997), S. 137. Zitiert nach: Ebd. S. 138. Vgl.: Kocka (1969), S. 447. Vgl.: Etzemüller (2006), S. 131f. Vgl.: Rosenberger (2005), S. 55.
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und Instrumente betrieblicher Sozialpolitik eingeleitet. Auf der inhaltlichen Ebene sollte der Anspruch auf Neuerung jedoch nicht überschätzt werden. Die Veränderung der Strukturen zur Organisation von Kooperation stand nach wie vor im Zeichen des Ideals einer betrieblichen Gemeinschaft als prägendem Leitbild für die betriebliche Personal- und Sozialpolitik und blieb es noch bis in die 1950er Jahre hinein.97 Entsprechend groß waren die inhaltlichen Kontinuitäten bei den idealtypischen Leitbildern betrieblicher Sozialpolitik (vgl. Kap. 2.2). Zur Beschreibung der Sozialbeziehungen bei Bayer hatte in den 1950er Jahren das Konzept der „Bayer-Familie“ zwar noch nicht ausgedient.98 Allerdings erhielt das Gemeinschafts-Ideal im Kontext der Diskussionen um den „Menschen im Mittelpunkt“ und den Beschäftigten als „Partner“ eine sich auch institutionell widerspiegelnde neue Ausrichtung. Fritz Jacobi hatte 1949 die „ArbeiterAnnahme“ zur Personalabteilung für Arbeiter ausgebaut und ihre Aufgaben auch auf die betrieblichen Sozialbeziehungen ausgeweitet.99 Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte die Personalabteilung die Sozialabteilung als Zentrum der Sozialpolitik verdrängt. Im Zuge dieser Neustrukturierung wurde die Personalabteilung für Arbeiter 1955 aus der Sozialabteilung ausgegliedert und der Leitung von Paul Gert von Beckerath unterstellt. 1957 fasste Jacobi die Personalabteilungen für Angestellte und Arbeiter zusammen, die nach wie vor Beckerath leitete. Er war es auch, der 1955 die Einführung sogenannter „Meister-Arbeitsgemeinschaften“ übernahm.100 Diese „Rückbesinnung“ auf die Bedeutung der Meister für das Gelingen der betrieblichen Sozialbeziehungen ist ein gutes Beispiel, um die Verschiebungen in der Ausrichtung der Sozialpolitik aufzuzeigen und nach dem Einfluss der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung für die Legitimierung dieser Änderung zu fragen. Ziel der Meister-Arbeitsgemeinschafen war es, die Meister mit dem „Gebiet der Menschenführung“ vertraut zu machen, denn in der zeitgenössischen Managementforschung wurde dieser Position eine besondere Bedeutung zugemessen.101 An der Entwicklung des Konzepts war auch Jacobi beteiligt, der die Bedeutung des Projekts mit den Worten des Ökonomen Peter Drucker betonte, demzufolge der Meister eine „Schlüsselstellung“ einnehme: Er fungiere als „Brücke zwischen den beiden Hauptgruppen in einem Unternehmen – Werksleitung und Arbeitnehmerschaft“. In diesem Sinne sei er auch ein „Organ der Werksleitung“ und müsse mit einer speziellen Schulung auf diese Funktion vorbereitet werden.102 Hierin ist zwar eine Aufwertung der Meister zu sehen, keinesfalls jedoch eine Rückkehr ihrer verhältnismäßig großen Handlungsmacht im 19. Jahrhundert. Vielmehr ist in den Arbeitsgemeinschaften der Anspruch der Personalabteilung zu 97 98 99 100 101 102
Vgl.: Ebd. S. 66. Vgl.: Rosenberger (2007), S. 254; Raasch (2007), S. 303f. Vgl.: Rosenberger (2008), S. 266f. Vgl.: Ebd. S. 268f. Schreiben Jacobis an die Direktionsabteilung vom 1.12.1954, in: BAL 329/737. Ebd.
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sehen, die Sozialbeziehungen bis hin zum persönlichen Verhältnis zwischen den Vorgesetzten und den ihnen unterstellten Mitarbeitern zu gestalten. Im Konzept für die Meister-Arbeitsgemeinschaften wurden diese dann auch als ein Beitrag zur „sozialen Rationalisierung unseres Unternehmens“ verstanden. Dem Konzept zufolge war es das Ziel der Arbeitsgemeinschaften, die Meister in die Organisation von Kooperation einzubeziehen: „Es ist ein wesentliches Anliegen der Werkleitung, bei dem einzelnen Werksangehörigen das Interesse und die innere Beteiligung an der eigenen Arbeit zu fördern.“ Das könne „in erster Linie nur über den Meister als unmittelbaren Vorgesetzten erfolgen“, daher seien bei den Meistern die nötigen Voraussetzungen dafür zu schaffen.103 Diesem Konzept der „inneren Beteiligung“ entsprach auch die Ausrichtung der Meisterschulungen selbst. Immerhin die ersten fünf Programmpunkte zielten darauf ab, den Meistern ihre Funktion im Betrieb zu vermitteln – zu vermitteln wohlgemerkt, denn es wurden nicht einfach Regeln formuliert und weitergegeben. Der erste Punkt des Schulungsprogramms beschäftigte sich mit der Frage: „Was ist der Meister in der Industrie heute? (Gespräch am runden Tisch; Bier, Rauchwaren)“.104 Der Hinweis auf das gesellige Element der Veranstaltung ist nicht unerheblich. Denn diese Form der Schulung entsprach ganz Jacobis Vorstellungen von einem neuen Führungsstil, der – allerdings vor allem gegenüber den „geistig tätigen Mitarbeitern“, in diesem Fall auch den Meistern – den Befehl ersetzen sollte durch „die Unterrichtung über das Ziel der Arbeit, das Überzeugen von der Richtigkeit dessen, was getan werden muss, und das Wecken von Interesse und Begeisterung für die Aufgabe.“105 Es war daher das sozialpartnerschaftliche Konzept einer auf intrinsischer Motivation beruhenden „Partnerschaft“ unter Individuen, mit dem dieser Beitrag zur formalen Institutionalisierung der Sozialbeziehungen legitimiert wurde. Der Umstand, dass diese Schulung der Meister von der Personalabteilung vorgenommen wurde, steht für einen Wandel bei der Organisation der Sozialbeziehungen. Er bestand in erster Linie in der Entwicklung einer Personalpolitik, die sich als integraler Bestandteil der betrieblichen Sozialpolitik verstand, dabei aber einen charakteristischen, auf das Individuum zugeschnittenen Zugang entwickelte. An dieser Individualisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen lässt sich, trotz der noch immer vorhandenen Nähe zu patriarchalischen GemeinschaftsIdealen, ein sich abzeichnender Wandel festmachen. Er war charakteristisch für die 1950er Jahre und stand in enger Verbindung mit der Professionalisierung der Personalpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Ruth Rosenberger zufolge, entwickelten die nach dem Zweiten Weltkrieg sich formierenden Human- und Personalexperten eine neue Strategie zur Integration der Beschäftigten, die „nicht mehr kollektiv auf die Beschäftigten abzielte, sondern stattdessen den Einzelnen ins 103 Konzeptpapier „Meister-Arbeitsgemeinschaften“ vom 12.11.1954, S. 1. Anlage zum Schreiben Jacobis an die Direktionsabteilung vom 1.12.1954; jew. in: BAL 329/737. 104 Ebd. S. 2. 105 Jacobi (1963), S. 5.
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Visier nahm.“106 Das sozialpolitische Leitbild, wie es noch dem Ausbau und der Ausdifferenzierung der Sozialbeziehungen in den 1920er Jahren entsprach, sei von der „Vorstellung von der ‚Masse‘ der Arbeitnehmer“ ausgegangen, die es „kollektiv zu integrieren galt.“107 Dieser Wandel der sozialpolitischen Ausrichtung, von der kollektiven Befriedung hin zu einer individuell integrierenden, begann sich in den 1950er Jahren allerdings erst abzuzeichnen, die Trennung von kollektiv verstandener betrieblicher Sozialpolitik und individuell orientierter Personalpolitik kam erst seit den 1960er Jahren wirklich zum Tragen.108 Diese Veränderung, die sich auf der Ebene der Organisation der Sozialbeziehungen vor allem in einer Neudefinition der Personalabteilungen als Instrumente der Sozialpolitik niederschlug, war nicht zuletzt unter Verweis auf die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung begründbar. Im Rahmen von Konzepten, wie dem des Beschäftigten als „Partner“ oder dem Führungsideal des „Menschen im Mittelpunkt“, wurde die individuelle Dimension der Sozialbeziehungen aufgewertet. In engem Bezug auf dieses Ideal etablierten sich neue Formen der Organisation betrieblicher Sozialbeziehungen. Fortbildungen und Schulungen sollten den Einzelnen individuell ansprechen, um ihn auf diese Weise zu motivieren und zu integrieren.109 Mit Instrumenten wie den Meister-Arbeitsgemeinschaften wurde dieses Konzept auf formaler Basis institutionell in der betrieblichen Sozialpolitik verankert. Zum einen wurde mit der Arbeitsgemeinschaft selbst ein Regelwerk geschaffen, um den Meistern eine „innere Beteiligung“ zu vermitteln. Zum anderen wurde das Verhältnis zwischen Meister und den von ihm beaufsichtigten Beschäftigten in Regeln gefasst, die der „Vermittlung von Grundsätzen für die Anleitung und Behandlung der dem Meister unterstellten Betriebsangehörigen“ dienen sollte.110 Dem Konzept der Meister-Arbeitsgemeinschaften von Bayer ist zu entnehmen, wie die Meister in 22 Schritten Regeln für die verschiedensten Situationen vermittelt bekamen. Darunter waren auch Bereiche wie Rechnungswesen (Schritt 9) oder Materialverwaltung (Schritt 15). Die Hinweise über das Anfertigen von Beurteilungen (Schritt 6 und 7), für die „Behandlung des Arbeitnehmers“ (Schritt 10) oder die „Behandlung des Lehrlings und des Jugendlichen“ (Schritt 16), betrafen jedoch direkt das Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Beschäftigten, das es im Zeichen der „Partnerschaft“ gezielt zu gestalten galt.111 Eine sehr ähnliche Entwicklung lässt sich im Unternehmen Siemens beobachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand bereits eine eigenständige Sozialpolitische Abteilung, die unter anderem mit Fragen des Arbeitsschutzes, der Durchführung sozialpolitischer Maßnahmen, den Tarifordnungen für Arbeiter und Ange 106 107 108 109 110
Rosenberger (2005), S. 70. Ebd. S. 66. Vgl.: Rosenberger (2007), S. 258. Vgl.: Rosenberger (2005), S. 72. Konzeptpapier „Meister-Arbeitsgemeinschaften“ vom 12.11.1954, S. 1. Anlage zum Schreiben Jacobis an die Direktionsabteilung vom 1.12.1954; jew. in: BAL 329/737. 111 Ebd. S. 2f.
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stellte, aber auch dem Bildungswesen und der Verwaltung der sozialen Einrichtungen betraut war.112 Die Existenz einer eigenen Abteilung mit immerhin 13 Mitarbeitern wurde jedoch 1947 aus wirtschaftlichen Gründen in Frage gestellt.113 1951 war für S.&H. und SSW eine Zentral-Personalverwaltung geschaffen geworden, in der auch die Sozialpolitische Abteilung und das Personalreferat zusammengefasst waren.114 Diese Zentral-Personalverwaltung war weit mehr als eine Verwaltungseinheit, immerhin war sie an der Formulierung und Umsetzung der Ziele für die Gestaltung der betrieblichen Sozialbeziehungen beteiligt, zu denen in den 1950er Jahren auch das Finden eines neuen Zugangs zu den Beschäftigten auf einer individuelleren Ebene gehörte. Bereits Anfang der 1950er Jahre hatte die Firmenleitung dazu aufgerufen „der Pflege der menschlichen Beziehungen in den Betrieben erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden.“115 1952 war dieses Ziel jedoch noch im 33. Punkt des Jahresberichts der Zentral-Personalverwaltung versteckt. Den Anstoß zu einer umfassenden Reflexion der Sozialbeziehungen, die in konkrete Veränderungen mündete, gab vor allem der bayerische Metallarbeiterstreik im August 1954. Die darauf folgende Organisationstätigkeit stand unter dem Eindruck, dem Engagement der Gewerkschaften, ihrer „Propaganda“ und Organisationsstärke, ein Gegengewicht bieten zu müssen. In einer von der Zentral-Personalverwaltung beziehungsweise der sozialpolitischen Abteilung angestoßenen Diskussion sollte daher geklärt werden, „welche positiven Maßnahmen im Sinne der Stärkung der Betriebsverbundenheit“ zusätzlich getroffen werden könnten:116 „Ziel aller Bemühungen muss sein, unsere Belegschaft durch Aufklärung und Unterrichtung über die Absichten der Firmenleitung, über die betrieblichen und über den Wert unserer sozialen Einrichtungen und Massnahmen [sic] sowie durch richtige Menschenbehandlung für uns zu gewinnen, damit sie sich dem Betrieb und dem Hause Siemens stärker verbunden und verpflichtet fühlen als aussenstehenden [sic] Organisationen.“117
Aus dieser Diagnose spricht ein durchaus am patriarchalischen Ideal orientiertes Unternehmensverständnis als einer durch Loyalität verbundenen Gemeinschaft, für die „außenstehende“ Organisationen eine potenzielle Bedrohung darstellen. 112 Vgl.: Organisationsplan der Sozialpolitischen Abteilung, Stand 1.11.1946, in: SAA 12489. 113 Vgl.: Vertraulicher Bericht über die Sozialpolitische Abteilung vom 31.3.1947, in: SAA 12489. 114 Vgl.: Erläuterungen zum ZP-Organisationsplan, Anlage zum ZP-Rundschreiben Nr. 7, 30.6.1951; sowie: ZP-Organisationsplan; jew. in: SAA 12489. 115 Jahresbericht der Zentral-Personalverwaltung 1951/52 vom 23.10.1952, Punkt 33, in: SAA 12386–1. 116 Protokollnotiz der S.&H.-L-Besprechung am 15.12.1954, S. 1, in: SAA 12799. Unterzeichnet ist das Protokoll von Dr. Kley, Leiter der Zentral-Personalverwaltung und Arbeitsdirektor von S.&H. Unter der Leitung von Kley und Meißner, dem Leiter der Sozialpolitischen Abteilung, wurden in den 1950er Jahren die Ziele und Maßstäbe der betrieblichen Sozialpolitik entwickelt. Vgl. dazu auch: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an S.&H., SSW und Tochtergesellschaften vom 9.5.1955, in: SAA 12799. 117 Protokollnotiz der S.&H.-L-Besprechung am 15.12.1954, S. 2, in: SAA 12799.
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Auf der anderen Seite deutet sich darin die bereits im Falle von Bayer festzustellende Verschiebung bei den zur Erreichung dieses Ziels in Frage kommenden Mitteln an: Nicht die Erwartung von Treue als Gegenleistung für Geschenke des Unternehmens stand im Vordergrund. Die Belegschaft sollte vielmehr „aufgeklärt“ werden, auf die richtige „Menschenbehandlung“ komme es an. Zu den gewählten Mitteln zählte nicht zuletzt die Schulung der Meister. In Konferenzen und Kursen gelte es zu erreichen, „dass die Meister sich als Organe der Betriebsleitung fühlen“.118 1955 hatte die Sozialabteilung diesen Vorschlag in ihr Konzept einer Neuausrichtung der „betrieblichen Zusammenarbeit“ aufgenommen. Diejenigen Vorgesetzten, mit denen der Beschäftigte „am unmittelbarsten in Berührung kommt“ müssten „in die Lage versetzt werden, [...] auch in sozialen Fragen Rede und Antwort zu stehen.“ Neben den Meistern zählte die Sozialabteilung dazu auch Betriebsingenieure und Einrichter. Bei diesem Personenkreis sollten die Voraussetzungen für die „richtige Ansprache des Arbeiters“ geschaffen werden.119 Hieraus spricht ein Anspruch an die Gestaltung des persönlichen Verhältnisses zwischen Vorgesetztem und Beschäftigtem, wie er mit fast demselben Wortlaut auch bei Bayer formuliert wurde und der Ausdruck einer Aufwertung des Einzelnen im Zeichen des „Menschen im Mittelpunkt“ und der „Partnerschaft“ ist. Die fehlende Beziehung der Beschäftigten zum Unternehmen hatte bereits Fritz Stöbe in einem noch im August 1954 angefertigten internen Gutachten zur Ursache des Metallarbeiterstreiks erklärt und daraus die Notwendigkeit abgeleitet, der „inneren und freiwilligen Bereitschaft zur Mitarbeit“ größere Aufmerksamkeit zu widmen.120 Stöbe griff auf patriarchalische Topoi zurück, wenn er als Ziel der Sozialpolitik letztlich eine betriebliche Gemeinschaft „im Geiste der SiemensFamilie“ beschwor.121 Eine Solche Gemeinschaft loyaler Verbundenheit war nach wie vor Ziel der betrieblichen Sozialpolitik, der die Individualisierung ihres Instrumentariums letztlich dienen sollte. Stöbes Kritik galt einer Sozialpolitik die sich zu einem formalen System ausgewachsen habe, so dass sie nur noch eine „anonym wirkende Sozialverwaltung“ darstelle.122 Er wandte sich gegen das Konzept „sozialer Geschenke“, die eben kein loyales Verhalten der Beschäftigten bewirken könnten, so lange sie „ohne inneres Beteiligtsein hingenommen“ würden. Explizit setzte er dem Konzept einer kollektiv zu befriedenden Arbeiterschaft die gezielte Gestaltung des Verhältnisses zum einzelnen Beschäftigten gegenüber. Der „undankbaren Masse“ könne nicht die Schuld gegeben werden. Betriebliche Sozialpolitik sei dann erfolgreich, wenn es gelänge, „den Arbeiter aus der ideologischen Massengebundenheit heraus zum selbständigen Mitarbeiter zu machen“, 118 Ebd. S. 8. 119 Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an S.&H., SSW und Tochtergesellschaften vom 9.5.1955, S. 2, in: SAA 12799. 120 Stöbe, Fritz: Gedanken zur Sozialpolitik im Hause Siemens; Gutachten vom 12.8.1954, S. 1, in: SAA 12352. 121 Ebd. S. 4. 122 Ebd. S. 1.
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was nur durch die „Erziehung zur Verantwortung in einer betrieblichen Partnerschaft“ zu erreichen sei.123 Notwendig hierfür sei eine „lebendige Beziehung zum Mitarbeiter in der Werkstatt“.124 Stöbe schlug daher unter anderem vor, die Werkszeitung umzugestalten: in „werksindividuell gestalteten Beilagen“ könne „der einzelne die menschlichen und sachlichen Probleme seiner unmittelbaren Erlebniswelt“ wiederfinden.125 Darüber hinaus plädierte er für eine möglichst persönlich gestaltete Beziehung zwischen Firmenleitung beziehungsweise ihren Agenten, den Vorgesetzten, und den Beschäftigten und sei es in Form persönlich gehaltener Schreiben.126 Tatsächlich folgte auf den Schock des Metallarbeiterstreiks bei Siemens eine ganze Reihe sozialpolitischer Maßnahmen, die sich als Individualisierung der Sozialpolitik beschreiben lassen. Neben den erwähnten Schulungen von Meistern und Einrichtern wurden beispielsweise in den einzelnen Betrieben Ingenieure als Verbindungsmänner der Sozialpolitischen Abteilung benannt. Sie sollten nicht nur den Abteilungsleitern als Ansprechpartner in sozialpolitischen Fragen dienen, sondern waren für die Sozialpolitische Abteilung auch Barometer für „die Stimmung im Betriebe“.127 Darüber hinaus wurden die Betriebsleiter von der Sozialpolitischen Abteilung aufgefordert auf Betriebsversammlungen zu erscheinen und sich dort zu Wort zu melden, um beispielsweise „die soziale Arbeit unseres Hauses zu behandeln.“ Von der Sozialabteilung wurde zu diesem Zweck sogar eine Handreichung an die Betriebsleiter herausgegeben, auch Filmmaterial für solche Versammlungen stellte sie zur Verfügung.128 Um die Steuerung der so generierten Informationsflüsse an die und von der Belegschaft besser zu koordinieren, richtete die Sozialpolitische Abteilung 1959, „zunächst nur ganz intern!“, sogar ein eigenes „Referat für sozialpolitische Informationen“ ein. Zu seinen Aufgaben gehörte die Koordination der Meister-Schulungen, das Referat sollte außerdem Informationsgespräche mit den Betriebsratsmitgliedern führen, „sozialpolitische Informationen“ für Seminare oder Fortbildungen vorbereiten und mit den „Sozialpolitischen Nachrichten“ einem internen „Informationsdienst“ zuarbeiten. Darüber hinaus gehörte zu seinen Aufgaben die direkte Vermittlung von Informationen an die Belegschaft, unter anderem in Form von Artikeln in der Werkszeitschrift, durch das Bereitstellen von Material für Betriebsversammlungen sowie mittels „Sozialpolitischer Filme“ in denen die betriebliche Sozialpolitik, aber auch „volks- und betriebswirtschaftliche Zusammenhänge in der freien Marktwirtschaft“ erklärt werden sollten.129 Noch in den 1950er Jahren leitete Siemens damit eine Neuaus 123 124 125 126 127 128
Ebd. S. 2. Ebd. S. 3. Ebd. S. 4. Ebd. S. 5. Protokoll der S.&H.-L-Besprechung am 15.12.1954, S. 8, in: SAA 12799. Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung zum Thema „Betriebliche Zusammenarbeit“ vom 9.5.1955, in: SAA 12799. 129 Konzept der Sozialpolitischen Abteilung für das geplante Referat für sozialpolitische Informationen vom 1.4.1959, S. 1–4, in: SAA 12489.
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richtung der betrieblichen Sozialpolitik ein, die sich auch auf einer institutionellen Ebene auswirkte. Sie ging auf die Kritik an zu „formalen“ Arbeitsbeziehungen zurück und orientierte sich in Form und Zielen am Ideal partnerschaftlicher Sozialbeziehungen. Auf den ersten Blick können diese Instrumente betrieblicher Sozialpolitik wie eine Rückkehr zum Kern der patriarchalischen Ordnungsvorstellung erscheinen, schließlich war eben das Element einer persönlichen Beziehung zwischen Firmenleitung und Beschäftigten einer ihrer zentralen Inhalte. Instrumente wie die Werkszeitungen wurden ja mit der Intention eingerichtet, diese fehlende Beziehung zu substituieren. Das ist insofern nicht überraschend, als sich am Konzept der Kooperation im Rahmen einer Gemeinschaft auch in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung nichts geändert hatte. Teilweise ähneln sich daher die Zustandsbeschreibungen der Sozialbeziehungen. Problematisierte Stöbe 1954 ein Fehlen der „inneren Beteiligung“, die es wiederherzustellen gelte, indem die Beziehung zwischen Firmenleitung und Beschäftigten persönlicher gestaltet werde, so sprach der Bayer-Sozialsekretär Dr. Schultze 1913 von der „abgerissenen Fühlung zwischen Direktion und Belegschaft“, die zu überbrücken sei.130 Zumal bereits der Sozialsekretär bei Bayer der Aufrechterhaltung einer persönlichen Beziehung diente, die zwischen Beschäftigten und Firmenleitung de facto nicht mehr bestehen konnte. Insofern muss sich die These von der Individualisierung betrieblicher Sozialpolitik die Frage gefallen lassen, ob damit nicht weniger eine Neuerung beschrieben wird, als vielmehr eine Rückkehr zu nachgerade klassischen Idealen der Unternehmensführung, nachdem einer vollständig in den Zustand formaler Organisation überführten Sozialpolitik die Wirksamkeit abgesprochen wurde. Ein Unterschied bestand sicherlich darin, dass, ganz im Sinne des „Social Engineering“, diese Beziehung nun von Experten gezielt gestaltet werden sollte. Stöbe war der Ansicht, alle „Anweisungen, Bekanntmachungen u.dgl.“ die von der Firmenleitung oder den Werksleitungen an die Beschäftigten gerichtet würden, müssten von einer zentralen sozialpolitischen Stelle „auf ihre soziologischen und psychologischen Auswirkungen hin gewissenhaft überprüft und im Sinne der gewünschten Wirkung abgefaßt werden.“131 Eine wichtige Unterscheidung markiert auch die bereits erwähnte Legitimierung dieser Form betrieblicher Sozialpolitik als Beitrag zu gesellschaftlicher Stabilität durch Fritz Jacobi. Diesen Zusammenhang formulierte Jacobi ausgehend vom sozialpartnerschaftlichen Konzept einer gesellschaftlichen Verantwortung des Unternehmens – was sich wiederum in dem Gutachten von Fritz Stöbe in keinster Weise wiederfindet, der ja gerade mit der Abwehr „außerbetrieblicher“ gewerkschaftlicher Einflüsse argumentiert. Häufig vermischen sich patriarchalische Ideale sowie sozialpartnerschaftliche Konzepte und Instrumente. 130 Zitiert nach: Plumpe (1994), S. 128. 131 Stöbe, Fritz: Gedanken zur Sozialpolitik im Hause Siemens; Gutachten vom 12.8.1954, S. 6, in: SAA 12352.
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Bei allen sich andeutenden Veränderungen ist in den 1950er Jahren eine Renaissance betrieblicher Gemeinschaftsideale zu beobachten. Sie lassen sich als Komplement zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen im Rahmen des organisierten Interessenausgleichs zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden deuten.132 Die Aufwertung vormals als „außerbetrieblich“ illegitimierter Arbeitnehmerverbände ging also nicht mit einer Abwertung der Beschäftigten als Referenzgruppe für die Bewertung legitimen Handelns einher. Vielmehr lebten sie neu auf, ganz im Zeichen der sozialpartnerschaftlichen Ideale vom „Menschen im Mittelpunkt“ beziehungsweise eines Partnerschaftsbegriffs, der auf die Beziehung zwischen Firmenleitung und Belegschaft übertragen wurde. Das fand seinen Niederschlag in der institutionellen Neuausrichtung betrieblicher Sozialpolitik, die als Individualisierung charakterisiert werden kann. Instrumente wie die MeisterArbeitsgemeinschaften mögen zwar noch keinen grundsätzlichen Wandel der Sozialpolitik bedeuten.133 Dennoch zeichnet sich mit ihnen eine Veränderung ihrer Ausrichtung ab, die dem Unbehagen an einer zunehmend formalisierten und an Verbände ausgelagerten Organisation der Arbeitsbeziehungen geschuldet war. Unabhängig davon, wie tragfähig die in den Wissensordnungen angelegten Kooperationsideale in der Praxis gewesen sein mochten, waren sie erklärtes Ziel der Organisation betrieblicher Sozialbeziehungen. Mit ihnen wurden die Strategien zur Erzeugung von Kooperation begründet. Die Wissensordnungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft prägten auf diese Weise Institutionen, mit Hilfe derer Kooperation organisiert werden sollte. Das gilt für den Sozialsekretär ebenso wie für die Meister-Arbeitsgemeinschaften und andere Formen der Gestaltung der Beziehung zwischen Repräsentanten der Unternehmensleitung und den Beschäftigten. Aber welche Folgen hatte das für die Art der Aushandlung von Arbeitszeiten im späten 19., frühen 20. Jahrhundert und den 1950er und 1960er Jahren? 5.3 BETRIEBLICHE KOMMUNIKATIONSPRAXIS IM ZEICHEN VON PATRIARCHALISMUS UND SOZIALPARTNERSCHAFT Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft waren nicht nur die gängigen Wissensordnungen, vor deren Hintergrund die Frage der Gestaltung von Arbeitszeiten in den Unternehmen Siemens und Bayer bewertet wurde. Die in ihnen angelegten idealtypischen Vorstellungen eines auf gemeinschaftlich-kooperativer Grundlage 132 Vgl.: Rosenberger (2008), S. 100. 133 Vgl.: Rosenberger (2004), S. 327. Karl Lauschke und Morten Reitmayer konstatieren, es hätten sich durchaus neue Formen der Kommunikation und der Lösung von Konflikten gebildet. Auch in der Wahrnehmung der Beschäftigten selbst habe sich das Verhältnis zu den Vorgesetzten zunehmend konsensual dargestellt. Beide berufen sich auf eine zeitgenössische industriesoziologische Studie von Otto Neuloh. Vgl.: Reitmayer (2003), S. 330; sowie: Lauschke (1993), S. 145f.
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organisierten Unternehmens bildeten die Legitimationsgrundlage einer bei Siemens und Bayer umfangreich dimensionierten betrieblichen Sozialpolitik. Sie sollte, in ihrer jeweiligen historischen institutionellen Ausprägung, dem Erzielen von Kooperationseffekten dienen, wie sie in den Ordnungsvorstellungen jeweils idealtypisch formuliert worden waren. Welche Folgen hatte das jedoch für die Bedingungen, innerhalb derer im späten 19., frühen 20. Jahrhundert sowie in den 1950er und 1960er Jahren die Senkung der Arbeitszeiten in den Unternehmen verhandelt wurden? Prägten die Wissensordnungen die Kommunikationspraxis in den Unternehmen und damit die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten? Immerhin legten die in Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft angelegten Referenzgruppen durchaus nahe, wer in Sachen Arbeitszeitsenkung auf welchem Wege, mit wem und auf welche Art kommunizieren sollte. Im Issue-Feld führte die patriarchalische Wissensordnung diesbezüglich zu einer klaren Bewertung: Als einzig legitime Bezugsgruppe für die Aushandlung von Arbeitszeiten galt die „eigene“ Belegschaft. Einiges deutet darauf hin, dass dieses Ideal praktische Folgen hatte. Im Wandel: patriarchalische Kommunikationspraxis und Arbeitszeitgestaltung Bereits erwähnt wurde das im Namen Carl Duisbergs an Angestellte gerichtete Schreiben, aus dem hervorgeht, welche Wirkungsmacht die patriarchalische Wissensordnung für die Deutung von Arbeitszeitfragen entfaltete (vgl. Kap. 5.1). Darüber hinaus zeigt das skizzierte Beispiel des vorgezogenen samstäglichen Arbeitsendes für Chemiker beziehungsweise Betriebsführer – welches vom Direktorium rückgängig gemacht wurde –, dass auch die Kommunikation selbst dem Ideal der patriarchalischen Ordnungsvorstellung entsprach. Darauf weist bereits der Anlass der Kommunikation hin, hatten doch die Betriebsführer eine Eingabe an das Direktorium gerichtet, um eine Rücknahme des Beschlusses zu erwirken mit dem die Möglichkeit zu einem früheren Arbeitsschluss aufgehoben worden waren.134 Es galt ihnen offenbar als eine legitime Option, sich bei Unzufriedenheit direkt an die Firmenleitung zu wenden. Auch die Direktion sah hierin offenbar eine legitime Kommunikationsform, immerhin reagierte sie auf die Eingabe, indem sie ihre Entscheidung in einem vierseitigen Schreiben begründete, das, von Duisberg unterzeichnet, persönlich an die einzelnen Betroffenen gerichtet wurde.135 Sowohl die Eingabe als auch die schriftliche Reaktion des Direktoriums entsprachen ganz dem Idealtypus auf direktem Wege zwischen Firmenleitung und den Beschäftigten ausgehandelter Arbeitszeitregelungen. Solche aus der patriarchalischen Ordnungsvorstellung abgeleiteten Kommunikationsformen hatten noch zu einem Zeitpunkt Bestand, als die Kommunikation bei Bayer unter der Leitung von Duisberg bereits zunehmend in formale Regeln 134 Vgl.: Schreiben Duisbergs an Dr. Dressel vom 24.11.1905, S. 1, in: BAL 215/11. 135 Vgl.: Ebd.
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überführt wurde. Eindrückliches Beispiel für das Ausmaß formaler Regulierung sind die Direktionsrundschreiben. In Direktiven war geregelt, an wen die Schreiben adressiert wurden, sogar in welcher Reihenfolge sie zu unterzeichnen waren. Die Rundschreiben dienten auch nicht allein der Kommunikation im Direktorium, sondern wurden an Abteilungs- beziehungsweise Betriebsleiter weitergereicht.136 Derartige Belege für die Etablierung einer formal regulierten Kommunikation sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in der Kommunikation mit Angestellten und Arbeitern informelle Wege der Kommunikation noch immer Bestand hatten. Sie gingen auf eine Erwartungshaltung zurück, die sich aus dem patriarchalischen Verständnis des Verhältnisses zwischen einem „Patriarchen“ und den Beschäftigten ergab, an die sich die Firmenleitung nach wie vor gebunden fühlte. Das galt auch nicht allein für vergleichsweise hochrangige Angestellte, wie die Betriebsführer, meist Chemiker, die als die wichtigste Gruppe unter den akademisch gebildeten Beschäftigten gelten konnte.137 Duisberg sprach die Arbeiter auch direkt an, was ihm als ein geeignetes Mittel erschien, um beispielsweise auf Konflikte zu reagieren. Hilla Peetz schildert Fälle, in denen streikende Arbeiter zu Duisberg bestellt wurden, um sich zu rechtfertigen beziehungsweise um ihre Forderungen vorzubringen.138 Auch im Kontext der Arbeitszeitsenkung auf neun Stunden 1909, die unter den Arbeitern wegen des Wegfalls von Pausen nicht unumstrittenen war, äußerte sich Duisberg gegenüber einem anderen Unternehmer dahingehend, dass er die Arbeiter persönlich von der Neuregelung habe überzeugen können.139 Vollkommen üblich scheint es gewesen zu sein, sich per Schreiben an Duisberg zu wenden, um sich über andere Arbeiter oder Vorgesetzte zu beschweren. Auch Vorgesetzte wandten sich an ihn, beispielsweise um die Entlassung eines zuverlässig erscheinenden Arbeiters zu verhindern.140 Allerdings war die Firmenleitung seit dem Streik von 1904 bemüht, solche informellen Formen der Kommunikation in formal institutionalisierte Bahnen zu lenken, was von den Beschäftigten auch angenommen worden zu sein scheint. Noch jahrelang artikulierten Arbeiter zwar ihre Interessen in Form von Unterschriftenlisten. Diesen Weg gingen etwa die Arbeiter des BauhandwerkerBetriebes Leverkusen, um ihre Bitte um die Kürzung der Mittagspause und einen entsprechend vorgezogenen Feierabend zu unterstreichen. Allerdings richteten sie diese Liste an den Arbeiterausschuss des Werkes Leverkusen, wandten sich also an die dafür geschaffene Stelle.141 Nicht an die Firmenleitung sondern den Aus 136 Vgl.: Hartmann (2010), S. 84. 137 Vgl.: Nieberding (2003), S. 104. 138 So geschehen im Falle einer Arbeitsverweigerung der Böttcher 1900 und einem Streik in Leverkusen Anfang des 20. Jahrhunderts. Vgl.: Peetz (1981), S. 143 u. S. 145. 139 Vgl.: Schreiben Duisbergs an Eugen Fischer, Fa. Kalle & Co., vom 23.3.1909, in: BAL 215/11. Wörtlich heißt es darin: „Als ich den Arbeitern aber sagte [dass sie das Frühstück vor der Arbeit einnehmen konnten] waren sie beruhigt.“ 140 Vgl.: Peetz (1981), S. 148f u. S. 153. 141 Vgl.: Unterschriftenliste von Arbeitern des Betriebes „Bauhandwerker“ an den Arbeiterausschuss Leverkusen, vermutlich nach 1918, in: BAL 215/11.
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schuss der technischen Betriebsbeamten richteten auch die Meister und Aufseher 1911 den Wunsch, einmal im Monat samstags nicht nachmittags arbeiten zu müssen. Weitergeleitet wurde er zur Prüfung an den Ausschuss für Arbeiterangelegenheiten. Die Kommunikation bewegte sich also in dem dafür vorgesehenen formal institutionalisierten Rahmen – bis auf den Umstand, dass die Vorstände Friedrich Bayer und Carl Duisberg die Entscheidung des Ausschusses in Schreiben an die Meister und Aufseher sowie die Abteilungsvorstände und Betriebsführer kommunizierten. Damit begründeten sie die Entscheidung auf dem Wege direkter Kommunikation. Die Meister und Aufseher, die um einen freien Samstagnachmittag im Monat gebeten hatten, erhielten ein immerhin zweiseitiges Schreiben, in dem die Direktion die Gründe für ihre Entscheidung darlegte, ihnen zwar nicht den Samstagnachmittag freizugeben, aber Möglichkeiten zu prüfen, sie an einem Mittwochnachmittag zu beurlauben.142 Patriarchale Rollenerwartungen an das Verhalten der Firmenleitung konnten also nach wie vor als legitim gelten, was sich in Formen direkter, persönlich gehaltener Kommunikation niederschlug, wie sie auf formaler Ebene gar nicht vorgesehen war. Denn die Organisation der Sozialbeziehungen und damit auch der Kommunikation nahm eine Richtung, in der die direkte und personenbezogene Kommunikationsbeziehung zwischen Firmenleitung und Beschäftigten durch Verhandlungen innerhalb spezialisierter Ausschüsse ersetzt wurde. Allerdings war der idealtypische Anspruch an das Verhältnis zwischen Firmenleitung und Beschäftigten nach wie vor wirkmächtig. Für die im Zeichen der Gemeinschaft postulierte Vertrauensbeziehung war zumindest die Möglichkeit des persönlichen Kontakts konstitutiv. Als dieses Prinzip mit den organisatorischen Anforderungen eines Großbetriebes nicht mehr vereinbar war, wurde es ersetzt, beispielsweise durch eine „ritualisierte Wir-Beziehung“.143 Außerhalb dieser symbolischen Ebene konnten Kommunikationsformen patriarchalischer Prägung durchaus auch formal institutionalisiert werden, man denke an den Posten des Sozialsekretärs, mit dem Bayer 1910 eine persönliche Anlaufstelle für die Arbeiter schuf. Die Etablierung formal institutionalisierter Kommunikationslinien ging also mit patriarchalischen Praktiken Hand in Hand. Die Meister beziehungsweise Aufseher, um das oben genannte Beispiel aufzugreifen, wandten sich mit ihrem Wunsch nach einem früheren samstäglichen Feierabend zwar nicht mehr an Personen sondern an Funktionsstellen, eben die genannten Ausschüsse. Die an sie gerichtete Antwort der Direktion musste ihnen jedoch vermitteln, mit ihrem Anliegen von höchster Stelle wahrgenommen worden zu sein, immerhin unterzeichneten die Vorstände Duisberg und Bayer das Schreiben. Dabei handelte es sich hier um eher alltägliche Fragen der Arbeitszeitgestaltung, nicht etwa um Entscheidungen von grundsätzlicher Tragweite. Das unterstreicht die Annahme, dass dieser Form der Kommunikation eine nach wie vor patriarchalisch geprägte Rollenerwartung der Fir 142 Vgl.: Schreiben der Direktion „An unsere Meister und Aufseher“, Juli 1911, S. 2, in: BAL 215/11. 143 Nieberding (2005), S. 59.
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menleitung entsprach, deren Erfüllung von Bedeutung dafür schien, dass ihr Handeln als legitim wahrgenommen wurde. Leider erlaubt es die Quellenlage im Falle von Bayer nicht, über die skizzierten Ambivalenzen hinaus fundierte Aussagen über das Verhältnis von formal organisierter Kommunikation und informeller Kommunikationspraxis patriarchalischer Prägung bei der Aushandlung von Arbeitszeiten zu treffen. Im Gegensatz dazu liegen für das Unternehmen Siemens zahlreiche Quellen auch aus der Zeit Werner von Siemens’ vor, die zeigen, welche prägende Bedeutung die patriarchalische Ordnungsvorstellung für die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten entfalten konnte. In diesem Fall bezeichnet „Aushandlung“ tatsächlich die direkte Verhandlung der Arbeitszeiten zwischen Beschäftigten und Patriarchen, die als etablierter Bestandteil der Arbeitszeitgestaltung bei Siemens gelten kann. Zahlreiche Bittgesuche, Petitionen und Unterschriftenlisten belegen, dass sich Arbeiter und Angestellte an die für sie greifbaren Repräsentanten der Firmenleitung wandten, um kleinere oder größere Änderungen ihrer Arbeitszeiten zu erwirken. Für Werner von Siemens und seinen Bruder Carl war dies eine legitime Grundlage, Entscheidungen über die Gestaltung der Arbeitszeiten zu erzielen. Als die Beschäftigten der Abteilung Alkoholometrie 1872 eine Petition einreichten, in der sie um die Veränderung ihrer Arbeitszeiten ersuchten, wurden sie nach ihren Wünschen befragt. Im Namen der Gebrüder Siemens wurden sie gebeten, mittels einer Unterschriftenliste über die gewünschten Änderungen abzustimmen.144 Diese Kommunikationsform wurde auch beibehalten, als es in den 1880er Jahren galt, die Einführung einer durchgehenden Arbeitszeit zu verhandeln. Aus einer Verfügung von 1881 geht hervor, dass „von den in unseren Werkstätten beschäftigten 531 Arbeitern 341 den Wunsch zu erkennen gegeben haben, eine durchgehende Arbeitszeit eingeführt zu sehen“.145 In diesem Fall bleibt unklar wem gegenüber sie diesen Wunsch geäußert hatten. Die Form der Aushandlung von Arbeitszeiten blieb jedoch auch dieselbe, als 1890 über eine Verkürzung der Arbeitszeiten entschieden wurde. Es zeigt sich hier sehr deutlich, dass die enge, direkte Kommunikation mit dem Patriarchen Werner von Siemens beziehungsweise Repräsentanten der Firmenleitung ein fester Bestandteil des Aushandlungsprozesses war. Der Wunsch zur Senkung der Arbeitszeit auf acht Stunden war der Firmenleitung von einer Abordnung der Arbeiter der Charlottenburger Mechaniker-Abteilung überbracht worden. Der Wortlaut der von Werner von Siemens zu dieser Frage verfassten Bekanntmachung lässt darauf schließen, dass er selbst oder ein Vertreter der Firmenleitung mit der Abordnung gesprochen hatte: „Wir haben heute der von unseren Arbeitern gewählten Kommission gegenüber ausgesprochen, daß prinzipielle Bedenken gegen Einführung [sic] der durchgehenden Arbeitszeit nicht be 144 Vgl.: Handschriftliche Petition und Abstimmung vom 22.11.1872, in: SAA 6482. 145 Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, Abschrift einer Verfügung vom 17.5.1881, in der die Beamten aufgefordert werden, wiederum per Abstimmung zu dieser Forderung Stellung zu nehmen; in: SAA 14 Lr 516.
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stehen.“146 Auf diesen von den Arbeitern geäußerten Wunsch reagierte die Firmenleitung mit einer Abstimmung in Form einer Unterschriftenliste, mit der die Arbeiter der Mechaniker-Abteilung aufgefordert wurden, sich eine Meinung zu der Frage zu bilden und dann ihren „Wunsch“ zum Ausdruck zu bringen: „Seitens einer größeren Anzahl von Mechanikern ist mir gegenüber der Wunsch ausgedrückt worden, die jetzt bestehende zweistündige Mittagspause auf eine halbe Stunde zu verkürzen [...]. Um nun übersehen zu können, wie sich die hier Beschäftigten diesem Wunsche gegenüberstellen, ersuche ich jeden Einzelnen, sich hierüber zunächst mit seinen Familien Mitgliedern [sic] zu besprechen.“147
Durch „Ausfüllung der betreffenden Rubrik“ auf dem Fragebogen sollte anschließend jeder Arbeiter „seine Ansicht zu dieser Sache aussprechen“.148 Das zitierte Anschreiben zur Unterschriftenliste ist nicht unterzeichnet. Angesichts der Tragweite des von den Arbeitern formulierten Wunsches nach einer achtstündigen Arbeitszeit und dem Umstand, dass Werner von Siemens auch die darauf folgende Bekanntmachung selbst verfasste, ist nicht unwahrscheinlich, dass sich hinter dem „mir“ im Anschreiben Werner von Siemens selbst verbirgt, der in dieser Angelegenheit in direkten Kontakt mit den Arbeitern trat. Das Ergebnis der Abstimmung gab schließlich auch den Anstoß, die achtstündige Arbeitszeit in der Charlottenburger Mechaniker-Abteilung versuchsweise einzuführen. Auch dieser Schritt wurde in einer von Werner von Siemens persönlich verfassten Bekanntmachung gegenüber den Arbeitern begründet. Schließlich bedürfe „die Frage der Durchführbarkeit einer so einschneidenden Maßnahme für unseren gesamten Betrieb [...] einer eingehenden Erwägung.“ Es gelte daher die Versuchsergebnisse abzuwarten, um festzustellen, „ob die durchgehende Arbeitszeit sich in einer solchen Weise wird einrichten lassen, daß die berechtigten Interessen beider Teile ihre Befriedigung finden. Nach Klärung dieser Verhältnisse beabsichtigen wir durch Abstimmung in den einzelnen Werken die Ansicht unserer Arbeiter festzustellen.“149
Noch im selben Jahr erreichte die Firmenleitung eine weitere Petition. Die Arbeiter weiterer Abteilungen – welche geht aus den Quellen nicht hervor – richteten eine Bittschrift an ihren „Hochverehrten Herrn und Chef“, also eine Person die ihnen gegenüber die Werksleitung repräsentierte. Darin teilten sie mit, man habe sich entschlossen, die Bittschrift „in allen Werkstätten mit Ausnahme der Glühlampen-Abtheilung circulieren zu lassen“, um Unterschriften für eine Regelung zu 146 Stoffsammlung zum Thema Arbeitszeit, Abschrift der Bekanntmachung vom 28.4.1890. Die Stoffsammlung enthält auch die Abschrift des handschriftlichen Entwurfs Werner von Siemens zu dieser Bekanntmachung; in: SAA 8624. Abschriften der Bekanntmachung finden sich auch in einer weiteren Zusammenstellung von Material zum Thema „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, sowie in deren Anlagen (Anlage 2), in: SAA 14 Lr 516. 147 Handschriftliches Anschreiben zur Unterschriftenliste vom 25.4.1890, in: SAA 14 Lm 751. 148 Ebd. 149 Stoffsammlung zum Thema Arbeitszeit, Abschrift der Bekanntmachung vom 28.4.1890, in: SAA 8624.
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sammeln, wie sie auch in der Mechaniker-Abteilung Charlottenburg üblich sei.150 Diese Bittschrift wurde daraufhin von den Vorgesetzten an die Werks-, möglicherweise auch die Firmenleitung, weitergeleitet, versehen mit einem zusätzlichen Anschreiben in dem eine „durchgehende 8 stündige [sic] Arbeitszeit nach dem Muster der mech: Abtheilung [sic] zu Charlottenburg“ erbeten wurde, da „ein grosser Teil unserer Mitarbeiter“ weit von der Arbeitsstätte entfernt wohne.151 Aus diesem Grund war es für die Arbeiter auch bei einer zweistündigen Mittagspause nicht mehr zweckmäßig für das Mittagessen nach Hause zu fahren, sondern sinnvoller, die Pausen zu verkürzen und dementsprechend das Arbeitsende vorzuverlegen. Allerdings setzte sich die durchgehende achtstündige Arbeitszeit nicht durch. Auch noch 1892 erreichte die „wohllöbliche Direktion der Firma Siemens & Halske, Charlottenburger Werk“ ein „Bittgesuch um Verlegung der Arbeitszeit“. Darin wurde die Direktion daran erinnert, dass die Beschäftigten nach wie vor, „dem schon längst geplanten Wunsche Gemäß“, die Umwandlung ihrer Arbeitszeit in eine durchgehende wünschten.152 Die Verhandlung von Arbeitszeiten auf direktem und persönlichem Wege mit Vorgesetzten bis hin zum Inhaber Werner von Siemens war eine legitime Grundlage der Arbeitszeitgestaltung. Das bedeutet freilich nicht, dass sie auch zweckmäßig war, wie schon die äußert langwierige und konfliktintensive Aushandlung der Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich nahelegt (vgl. Kap. 3.3 und 5.4). Die Form der „Bittgesuche“, „Bittschriften“ oder „Petitionen“ macht aber deutlich, dass diese Praxis auf dem legitimen Ideal der patriarchalischen Ordnungsvorstellung beruhte. Die Arbeiter formulierten darin keine Forderungen sondern äußerten „Wünsche“, oder zeichneten „in der Hoffnung auf die Gewährung dieser Bitte.“153 Sie bewegten sich damit ganz im Rahmen der offenbar auch für sie legitimen Vorstellung eines Patriarchen, der gegenüber den Bitten „seiner“ Arbeiter auf der Grundlage eines gemeinschaftlichen Konsenses prinzipiell wohlwollend eingestellt ist. Die Möglichkeit, sich direkt an die Firmenleitung zu wenden, stand den Beschäftigten nicht einfach nur offen. Auf der Grundlage dieses direkten Kommunikationsverhältnisses wurden so grundlegende Entscheidungen wie die Einführung des Achtstundentages getroffen. Selbst wenn es sich in diesem Fall noch um einen Versuch handelte, war sich Werner von Siemens durchaus bewusst, dass es sich um eine Entscheidung von erheblicher Tragweite handelte, die nicht zuletzt im Issue-Feld zu rechtfertigen sein würde (vgl. Kap. 4.2). Insofern kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser patriarchalisch geprägten Form der Aushandlung von Arbeitszeiten um eine in informeller Form fest institutionalisierte Praxis handelte, deren Legitimität nicht in Frage stand. Sie war ein fester 150 Handschriftliche Bittschrift, nachträglich datiert auf den SAA 14 Lm 735. 151 Petition zur Bittschrift vom November 1890, in: SAA 14 Lm 735. 152 Handschriftliches Bittgesuch vom 31.3.1892, in: SAA 14 Lm 751. 153 Petition zur Bittschrift vom November 1890, in: SAA 14 Lm 735.
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Bestandteil der Entscheidungsfindung in Sachen Arbeitszeitgestaltung und genoss sowohl bei Beschäftigten als auch in der Firmenleitung höchste Legitimität. Auch bei Siemens zeichnete sich seit dem Ausstieg Werner von Siemens’, vor allem aber seit den Konflikten nach der Jahrhundertwende ein institutioneller Wandel hin zu formal regulierten Kommunikationsbeziehungen ab. 1903 wurde die Einrichtung von Arbeiterausschüssen beschlossen, 1904 ein gemeinsamer Betriebsausschuss von S.&H. und SSW gegründet und 1907 eine Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen eingerichtet.154 Sowohl die Kommunikation mit den Arbeitern als auch die Kommunikation über die Arbeiter wurde damit formal institutionalisiert. Strittige Fragen, etwa die Regelung von Überstunden betreffend, wurden von den Arbeiterausschüssen an die Direktion der Werke herangetragen, die wiederum über die Ausschüsse ihre Entscheidungen kommunizierten. Die neuen Kommunikationsformen wurden konsequent angewandt. Die Handhabung der in den Arbeitsordnungen festgelegten Überstundenregelung hatte bereits 1904 zu Konflikten geführt, die sich bis 1905 hinzogen. Im Zuge dessen artikulierten sich die Arbeiter nicht nur mittels der dafür vorgesehenen Ausschüsse, sondern bildeten auch eine Kommission, um mit den Firmenleitungen von S.&H. und SSW zu verhandeln, was jedoch seitens der Direktion strikt abgelehnt wurde. Gegenüber den Arbeiterausschüssen erklärte ein Vertreter der Direktion: „Die Firmen müssten es aber ablehnen, mit einer auf solche Weise entstandenen Kommission zu verhandeln, da mit ausdrücklicher Einwilligung unserer gesamten Arbeiterschaft in jedem Werk Ausschüsse gewählt worden seien, die nach der Arbeitsordnung als die gesetzlichen Vertreter der Arbeiter anzusehen sind.“155
Auch im Falle des im Werk Nürnberg um eine Senkung der Arbeitszeiten geführten Streiks, verlief die Kommunikation sowohl seitens der Arbeiter als auch der Firmenleitung ausschließlich über den Arbeiterausschuss.156 Der Verhandlungsweg über Eingaben oder Bittschriften scheint demgegenüber bedeutungslos geworden zu sein. Die älteste überlieferte Petition datiert auf 1892, der letzte Hin 154 Vgl.: Kocka (1969), S. 348, S. 352, u. S. 361. 155 Protokoll der Besprechung mit Obmännern der Arbeiterausschüsse am 27.1.1905, S. 2, in: SAA 4 Lk 12–13. „Gesetzlich“ meint hier freilich nicht, dass die Arbeiterausschüsse gesetzlich vorgeschrieben gewesen wären, sondern bezeichnet den laut Fabrikordnung formalrechtlichen Weg der Interessenorganisation. Nach der Novelle der Gewerbeordnung von 1891 mussten die Arbeiter zu den seitdem notwendigen Fabrikordnungen zwar gehört werden, ggf. auch auf dem Wege von Ausschüssen, allerdings ohne dass diese vorgeschrieben waren. Seit 1905 wurden außerdem durch das Berggesetz gewählte Arbeiterausschüsse im Bergbau vorgeschrieben, bis 1914 stagnierte die weitere Entwicklung der gesetzlichen Regulierung der Betriebsverfassung jedoch. Vgl.: Nipperdey (1998), S. 362f. 156 Der Arbeiterausschuss richtete seine Forderungen direkt an die Direktion. Vgl.: Schreiben an die Direktion von SSW, Werk Nürnberg vom 23.4.1905, in: SAA 4 Lk 12–13. Die Firmenleitung verhandelte ebenfalls mit dem Ausschuss, erst das Ergebnis der Verhandlungen wurde in einer „Mitteilung an unsere Arbeiter“ bekannt gemacht. Vgl.: Schreiben an Wilhelm von Siemens über den Stand der Verhandlungen, vom 28.4.1905; sowie: Mitteilung an die Arbeiter vom 28.4.1905; jew. in: SAA 4 Lk 12–13.
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weis auf ein direktes Vorsprechen bei Vertretern der Firmenleitung stammt von 1900.157 Noch immer spricht aus den Protokollen der Ausschusssitzungen jedoch das patriarchalische Konzept von Arbeitern artikulierter Bitten, denen die Firmenleitung stattzugeben sich vorbehielt. Nachdem der Arbeiterausschuss des Kabelwerkes 1904 eine Neuregelung des Überstundenwesens gefordert hatte, „wurde der Ausschuss zu einer Besprechung zusammenberufen um ihm die Antwort auf die vorgebrachten Wünsche bezüglich einheitliche [sic] Regelung der Überstunden und Gewährung eines bezahlten Urlaubs zu erteilen.“158 Als Modus der Thematisierung von Fragen der Arbeitsbeziehungen blieb die patriarchalische Ordnungsvorstellung also leitend. Der Wandel patriarchalischer Praktiken der Entscheidungsfindung in Fragen der Arbeitszeitgestaltung scheint bei Siemens strikter gehandhabt worden zu sein, als im Falle von Bayer. Das mag damit zusammenhängen, dass sich dieser Wandel bei Bayer unter der Leitung von Carl Duisberg vollzog, dessen Unternehmensverständnis stark patriarchalisch geprägt war, während die patriarchalische Art der Unternehmensführung bei Siemens sehr eng mit Werner von Siemens verbunden war. Sein Sohn Wilhelm besaß hingegen „ein sehr viel distanzierteres Verhältnis zum Phänomen des Familienunternehmens“ als sein Vater, wie es Jürgen Kocka formulierte. Dem Charakter des Unternehmens als einem Familienunternehmen fühlte er sich zwar durchaus verpflichtet, allerdings schlug sich dieser Umstand bei ihm nicht wie bei seinem Vater in einem auf persönlichen Beziehungen beruhenden Führungsstil nieder.159 Der skizzierte institutionelle Wandel der Kommunikationsbeziehungen in den Unternehmen bedeutete jedoch keineswegs eine Abkehr vom patriarchalischen Ideal. Abgesehen davon, dass, wie im Falle von Bayer, direkte Formen der Kommunikation teilweise durchaus beibehalten wurden, diente die Systematisierung der betrieblichen Kommunikation nicht zuletzt dazu, das Ideal der innerbetrieblichen, gemeinschaftlichen Aushandlung der Arbeitsbedingungen aufrecht zu erhalten und gegen den Einfluss der Gewerkschaften zu verteidigen (vgl. Kap. 5.2). Patriarchalische Vorstellungen von den legitimen Formen der Aushandlung von Arbeitszeiten prägten insofern auch die Entwicklung formal institutionalisierter Kommunikationspraktiken.
157 Vgl.: Bittgesuch an die Direktion von S.&H. vom 31.3.1892, in: SAA 14 Lm 751; sowie: Aktennotiz Direktor Bödikers über von Arbeitern vorgebrachte Forderungen vom 16.5.1900, in: SAA 5329. 158 Abschrift des Protokolls der 9. Sitzung des Arbeiterausschusses des Kabelwerkes am 30.12.1904, S. 1, in: SAA 4 Lk 12–13. 159 Kocka (1969), S. 385.
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Sozialpartnerschaftlich geprägte Praktiken der Aushandlung von Arbeitszeiten? Die sozialpartnerschaftliche Bewertung der Arbeitszeitsenkung im Issue-Feld zeichnete sich durch eine deutliche Aufwertung des überbetrieblich organisierten Rahmens der Arbeitsbeziehungen aus. Indem die wirtschaftliche und politische Ordnung in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung als eine wichtige Referenz unternehmerischen Handelns galt, gewannen Entscheidungen an Legitimität, die auf Verhandlungen beruhten, die vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung als „außerbetrieblich“ abgelehnt worden wären. Was bedeutete das für die Praxis der Aushandlung von Arbeitszeiten in den Unternehmen? Welche Rolle spielte die Belegschaft noch als Referenz für die Entscheidungsfindung in Sachen Arbeitszeitgestaltung? Die idealtypische Bedeutung der „eigenen“ Belegschaft als Referenz unternehmerischen Handelns nahm zwar seit der Jahrhundertwende in den Unternehmen Siemens und Bayer andere Ausdrucksformen an. Wenn auch auf zunehmend indirektem und formal geregeltem Wege war es jedoch nach wie vor legitim, den Beschäftigten zumindest formal die Möglichkeit einzuräumen, bei der Entscheidungsfindung in Sachen Arbeitszeiten gehört zu werden – und sei es in der Form von „Wünschen“, die von den Ausschüssen an die Firmenleitung herangetragen werden konnten. Durch das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 waren die Partizipationsmöglichkeiten der Beschäftigten auf gesetzlichem Wege festgelegt und in vielen Bereichen deutlich aufgewertet worden. Paragraph 56 schrieb in Bezug auf die Arbeitszeiten vor: „Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifvertragliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen: a) Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und der Pausen.“160 Es war also keine Frage der Legitimität mehr, ob die „Wünsche“ der Belegschaft berücksichtigt wurden. Die Firmenleitungen waren verpflichtet, gemeinsame Lösungen mit den Betriebsräten zu suchen. In den entsprechenden mitbestimmungsrechtlichen Bahnen verliefen denn auch die Verhandlungen um die Einführung einer fünftägigen Arbeitswoche bei Siemens. Die Belegschaften artikulierten ihre Forderung nach einem regelmäßigen arbeitsfreien Samstag in Betriebsversammlungen, die Betriebsräte wiederum kommunizierten diese gegenüber der Firmenleitung mittels des von ihnen gewählten Betriebsausschusses beziehungsweise auf unternehmensweiter Ebene durch den Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates. Bevor die Arbeitszeiten tarifvertraglich vereinbart wurden, waren auf diesem Wege Betriebsvereinbarungen zu erzielen. Tarifvertraglich nicht geregelt war beispielsweise die Frage des arbeitsfreien Samstags, die auch vom Bremer Abkommen 1956 unberührt blieb. Bereits 1954 war in einem Berliner Werk versuchsweise eine Regelung eingeführt worden, die vorsah, jeden zweiten Samstag im Monat arbeitsfrei zu halten und die an den Samstagen ausfallende Arbeitszeit auf die restlichen Arbeitstage umzulegen. Diese Regelung befürworteten die Betriebsräte 160 Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung vom 11.10.1952, § 56, Abs. 1.
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wegen der verlängerten Arbeitszeiten an den übrigen Wochentagen nicht, sondern wiesen darauf hin, dass von Seiten der Beschäftigten eine allgemeine Senkung der Arbeitszeiten gefordert sei.161 Über ein Jahr später war ein weiterer Versuch mit nur einem freien Samstag unternommen worden. Die im Betriebsausschuss vertretenen Betriebsräte forderten nun, unter Verweis auf eine zunehmende Unruhe in der Belegschaft, eine Ausdehnung dieser Regelung. Das lehnte die Firmenleitung gegenüber dem Betriebsausschuss aufgrund anderslautender Vorstandsbeschlüsse zwar ab. Ein Vertreter der Firmenleitung sollte jedoch auf der kommenden Betriebsräte-Delegiertensitzung zur Frage der Arbeitszeitgestaltung Stellung nehmen.162 Mittels der formal durch das Mitbestimmungsrecht festgelegten Kommunikationswege erhielt die Firmenleitung also Kenntnis von sich anbahnender „Unruhe“ und konnte darauf reagieren. Die Besprechungen mit dem Betriebsausschuss wurden von den Vertretern der Direktion der Berliner Werke von S.&H. und SSW als ein Forum genutzt, um mit den Betriebsräten verschiedene Möglichkeiten für eine Regelung der samstäglichen Arbeitszeit zu besprechen und Entscheidungen über das weitere Vorgehen zu finden.163 Im selben Rahmen bewegten sich auch die Verhandlungen um die 5-TageWoche bei Bayer. Im Fabrikkontorausschuss bildeten sich 1954 die Mitglieder der Firmenleitung eine Meinung zu dieser Frage, in den Technischen DirektionsKonferenzen wurden die Möglichkeiten einer Umsetzung diskutiert und die so gewonnene Haltung in die Verhandlungen mit dem Betriebsausschuss, dem Verhandlungsgremium des Betriebsrates, getragen.164 Ende 1955 schlossen Firmenleitung und Belegschaftsvertreter eine Betriebsvereinbarung, die zunächst elf arbeitsfreie Samstage für das Jahr 1956 vorsah. Die an den Samstagen ausfallende Arbeitszeit wurde nicht auf die übrigen Arbeitstage übertragen, womit die wöchentliche Arbeitszeit auf 46,5 Stunden sank. Durch die Ausdehnung dieser Samstags-Regelung verkürzte sich die wöchentliche Arbeitszeit auf der Basis von Betriebsvereinbarungen bis 1957 auf knapp 45 Stunden. Die regelmäßige 5-TageWoche wurde schließlich 1959 eingeführt. Als 1957 im Mannheimer Abkommen die Senkung der Arbeitszeiten auf 45 Wochenstunden vereinbart worden war, lag 161 Vgl.: Protokoll einer Besprechung von Vertretern des Direktoriums mit dem Betriebsausschuss Berlin am 20.7.1954, S. 2, in: SAA 12782–1. 162 Vgl.: Protokoll einer Besprechung von Vertretern des Direktoriums mit dem Betriebsausschuss Berlin am 1.12.1955, S. 1f, in: SAA 12782–1. 163 Vgl.: Protokoll einer Besprechung von Vertretern des Direktoriums mit dem Betriebsausschuss Berlin am 13.2.1956, S. 1f, in: SAA 12782–1. Einfach war das jedoch nicht; auch noch im Herbst 1956 verhandelten Firmenleitung und der Verhandlungsausschuss des Gesamtbetriebsrates in mehreren Sitzungen über eine unternehmensweite Regelung der Samstagsarbeit. Erkennbar ist aber ein beiderseitiges Bemühen um konsensuale Lösungen (vgl. Kap. 3.3). 164 Vgl.: Protokoll der Besprechung des FabrikkontorAusschusses am 26.4.1954, in: BAL 214/6; Schreiben Jacobis an das Direktorium über die Ergebnisse der Technischen DirektionsKonferenz vom 5.5.1954, in: BAL 215/11; Auszug aus dem Protokoll über die Sitzung mit dem Betriebsausschuss am 26.7.1954, in: BAL 215/11.4.
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die wöchentliche Arbeitszeit bei Bayer aufgrund der arbeitsfreien Samstage bei unter 44 Stunden.165 Sowohl bei Bayer als auch bei Siemens war also auf der Basis innerbetrieblicher Verhandlungen die Senkung der Wochenarbeitszeit durch die Annäherung an die 5-Tage-Woche eingeleitet worden. Schon allein aus diesem Grund blieb die Belegschaft eine nach wie vor wichtige Referenzgruppe bei der Aushandlung von Arbeitszeiten. Angesichts dieses strikt formal institutionalisierten Kommunikationssystems zwischen Firmenleitung und Belegschaftsvertretern stellt sich jedoch die Frage, welche Rolle dabei sozialpartnerschaftliche Legitimitätszuweisungen spielen konnten. Selbst die kooperative Form der Verhandlungen war nun schließlich vom Gesetzgeber vorgeschrieben worden und für den Fall von Streitigkeiten durch die dann in Kraft tretenden Entscheidungs- beziehungsweise Schlichtungsstellen auch formal institutionell abgesichert. Zumal durch Tarifbindung und eine zunehmende Verregelung der Handhabung von Arbeitszeiten in den Unternehmen selbst, die Handlungsspielräume bei ihrer Gestaltung sehr eingeschränkt waren. Im Zuge der Senkung von Arbeitszeiten wurde ihre Erfassung methodisch verfeinert. Im Vorfeld der Einführung der 5-Tage-Woche führte Bayer Mustervordrucke zur Erfassung der Nettoarbeitszeiten ein, für die Ermittlung von Fehlzeiten wurden Formulare entwickelt, die über ein Lochkarten-System die jederzeitige statistische Erfassung von Fehlzeiten ermöglichte.166 Bei Siemens zeigt beispielhaft die Überstundenregelung der Berliner Werke von 1960, in welch engem Korsett an formalen Institutionen sich die Verfügungsmöglichkeiten über die Arbeitszeit mit der Senkung zunehmend bewegten. Jede Verlängerung der Arbeitszeit über das tarifliche Maß hinaus war „ausnahmslos mit ZFA-Vordruck 81043 zu beantragen.“ Diese Anträge mussten drei Tage vor Beginn der Überstunden „nach Gegenzeichnung durch zuständigen Abteilungsleiter (Fabrikleitung) und des Betriebsrates bei der ZBA/Arbeitsschutzstelle“ eingereicht werden. Ging die Überarbeit über sechs Stunden hinaus, war dies außerdem mit Abteilungsleitern und Betriebsräten abzusprechen.167 Diese Verregelung war, abgesehen von den arbeitsrechtlichen Bestimmungen, eine Konsequenz der Arbeitszeitverkürzung die eine möglichst effiziente Nutzung der Arbeitszeiten notwendig machte. Kosten, wie sie durch Überstunden, Fehlzeiten oder semi-offizielle Pausen entstanden, sollten daher möglichst vermieden werden. Die Aushandlung von Arbeitszeiten bewegte sich im Vergleich zum Kaiserreich also in einem strikt formal regulierten Rahmen. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass aus der Existenz dieser Regeln noch nicht deren produktive, in diesem Fall konsensuale, Nutzung abgeleitet werden kann. Sowohl bei Bayer als 165 Vgl.: Direktionsrundschreiben Nr. 1686, 23.12.1955, in: BAL 215/11.4; sowie: Protokoll der Sitzung des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten (früher: FabrikkontorAusschuss) am 19.1.1959, in: BAL 59/55. 166 Vgl.: Rundschreiben Jacobis an das Direktorium vom 18.2.1959; sowie: Rundschreiben Jacobis an alle Betriebsteile vom 24.3.1959; jew. in: BAL 215/11.4. 167 ZBLMitteilung Nr. 2/61 vom 19.10.1960, in: SAA 14 Lr 516.
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auch bei Siemens verliefen die in den vom Mitbestimmungsrecht vorgesehenen Gremien geführten Verhandlungen sehr kooperativ (vgl. Kap. 3.3). Das kann wiederum nicht einfach auf das Mitbestimmungsrecht selbst zurückgeführt werden. An dessen Funktionieren hatten nicht zuletzt auch die seitens der Unternehmen zur Organisation von Kooperation geschaffenen Einrichtungen einen nicht unerheblichen Anteil: die Sozial- beziehungsweise Personalabteilungen. Die Zuständigkeit der Sozialpolitischen Abteilung bei Siemens umfasste „die Behandlung aller grundsätzlichen sozialpolitischen und sozialrechtlichen Fragen“. Ihr oblag daher die „Bekanntgabe und Auslegung gesetzlicher und tarifvertraglicher Bestimmungen“, außerdem hatte sie „die Federführung in allen Angelegenheiten, die die Zusammenarbeit zwischen Firmenleitung und den zentralen Vertretungen der Betriebsräte betreffen.“168 Damit hatte die Sozialpolitische Abteilung eine Vermittlungsfunktion, ihr kam eine Schlüsselstellung für die konstruktive Nutzung des rechtlich gesetzten Verhandlungsrahmens zu. Konfliktpotenziale konnten im Zusammenhang mit Verhandlungen um die Arbeitszeitgestaltung immer wieder aufkommen. Ein typisches und zugleich gut dokumentiertes Beispiel ist ein Streit, der 1966 und 1967 zwischen der Firmenleitung und dem Berliner Betriebsrat um die Einführung einer Frühstückspause für Angestellte geführt wurde. Anfang 1966 hatte die Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen entschieden, sowohl bei den Arbeitern als auch den Angestellten in den Werkstätten eine 15-minütige Frühstückspause einzuführen. Diese Regelung sollte dazu beitragen, angesichts der zum 1.1.1967 in Kraft tretenden 40Stunden-Woche, denkbare Konfliktherde auszuräumen.169 Gegen eine solche Pausenregelung der Angestellten sprach sich daraufhin der Betriebsrat im Berliner Betriebsausschuss aus, denn damit wurde die bisher informell übliche Frühstückspause zu einer regulären – unbezahlten – Pause.170 Trotz mehrerer Verhandlungen zwischen der Sozialpolitischen Abteilung und dem Gesamtbetriebsrat konnte in dieser Frage jedoch keine Einigkeit erzielt werden. Die Frage der Pausenregelung hatte nicht nur in Berlin für Probleme gesorgt. Auch in Münchner Werken konnte keine einvernehmliche Lösung gefunden werden, so dass gemäß Betriebsverfassungsgesetz eine Einigungsstelle gebildet wurde. Allerdings wurde im Falle des Münchner Werkes entgegen des Wunsches der Firmenleitung keine Frühstückspause eingeführt. Die Berliner Werksleitungen hielten dennoch an dem Vorhaben fest, denn die Berliner Zweigstelle der Sozialpolitischen Abteilung war der Ansicht, die Pause bedürfe nur aufgrund des in Bayern gültigen Tarifvertrages der Mitbestimmung. Rechtlich wie auch tarifvertraglich könne die Pause in Berlin 168 Erläuterungen zum ZP-Organisationsplan, Anlage zum ZP-Rundschreiben Nr. 7, 30.6.1951, S. 1, in: SAA 12489. 169 Vgl.: Entwurf eines Rundschreibens der Sozialpolitischen Abteilung vom 17.1.1966; sowie: Protokoll der Sozialpolitischen Abteilung über eine Sitzung der Kommission für Lohnfragen vom 4.3.1966; jew. in: SAA 12491–1. 170 Vgl.: Protokoll der Besprechung des Betriebsausschusses Berlin am 11.10.1966, in: SAA 7437.
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durch die Direktion angeordnet werden. Dennoch beraumte sie zahlreiche Sitzungen mit den Betriebsräten an, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.171 Gegenüber den Werksleitungen hatte die Sozialpolitische Abteilung kommuniziert, den Betriebsräten bliebe letztlich gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Dennoch bat sie darum „den Betriebsräten die Zustimmung zu erleichtern“, indem die Pausen alle einheitlich gehandhabt würden, so dass es in dieser Zeit zu keinen größeren Störungen komme. Sollte es dennoch „in den einzelnen Werken zu keiner Einigung kommen“, bat die Sozialpolitische Abteilung darum, „uns umgehend zu verständigen, damit der Versuch einer Einigung unter Hinzuziehung der SozPol sowie des GBR gemacht werden kann.“172 Die Verhandlungen im Betriebsausschuss leitete ohnehin der Vertreter der Berliner Sozialpolitischen Abteilung, Schwennicke. Darüber hinaus gab die Sozialpolitische Abteilung aber auch den Berliner Werksleitungen eine konsensorientierte Linie für den Umgang mit der Problematik vor und bot zugleich Lösungsmöglichkeiten an, wie Konflikte vermieden werden konnten. Wenn es nötig schien, wirkte die Sozialpolitische Abteilung aber auch außerhalb der mitbestimmungsrechtlich vorgesehenen Gremien vermittelnd. Als Anfang 1966 Gesamtmetall mit der IG Metall über Lohnforderungen und ein nochmaliges Hinausschieben des Übergangs zur 40-StundenWoche verhandelte, warb die Sozialpolitische Abteilung München in einem Schreiben „An alle Mitarbeiter“ für die Haltung der Firmenleitung. Auf zwei Seiten erläuterte sie, aus welchen Gründen die Arbeitgeberseite die Vorschläge der IG-Metall abgelehnt habe. An keiner Stelle dieses Schreibens wird auf eine Loyalitätserwartung gegenüber den Beschäftigten verwiesen, oder eine betriebliche Gemeinschaft den Gewerkschaften gegenübergestellt. Stattdessen wird, ganz im Sinne des Konzepts gleichwertiger Partner, ausschließlich mit den Folgen von Lohnerhöhung und Arbeitszeitsenkung für Preissteigerungen und Wettbewerbsfähigkeit argumentiert.173 Die Vermittlungsarbeit der Personal- und Sozialabteilungen beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Verhandlungen mit den Beschäftigten beziehungsweise ihren Vertretern. Sie leisteten auch insofern einen wichtigen Beitrag für konsensuale Verhandlungsbedingungen, als sie in den Gremien, in denen Mitglieder der Firmenleitung über die Gestaltung der Arbeitszeiten verhandelten, Grundlagen für eine Kompromissfindung schufen. Besonders deutlich lässt sich das am Beispiel der Rolle nachvollziehen, die Fritz Jacobi bei Bayer für die Kommunikation der Arbeitszeitsenkung spielte. Als 1954 Mitglieder von Direktion und Werksleitungen im Fabrikkontorausschuss die Einführung der fünftägigen Arbeitswoche diskutierten, legte Jacobi den Rahmen des Diskutablen fest. Er stellte klar, dass die 5-Tage-Woche zu einer Senkung der Wochenarbeitszeit führen würde und 171 Vgl.: Protokolle der Besprechungen des Betriebsausschusses Berlin am 25.11.1966 und 12.12.1966, in: SAA 7437. 172 Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung Berlin vom 25.10.1966, S. 2, in: SAA 7437. 173 Vgl.: Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung München „An alle Mitarbeiter“ vom 10.2.1966, in: SAA 7443–1.
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auch nur mit Lohnausgleich denkbar wäre. Damit schloss Jacobi jene Fragen von der Diskussion aus, die gleichzeitig in der öffentlich geführten Debatte noch heftig umstritten waren. Er nahm diesen Fragen noch zusätzlich ihre Schärfe, indem er betonte, es handle sich hier nicht nur um gewerkschaftliche Forderungen, sondern das verlängerte Wochenende werde auch von Unternehmerseite grundsätzlich begrüßt.174 Von Beginn an hielt Jacobi damit die Diskussion frei von grundsätzlichen Debatten. Schon in dieser frühen Sitzung thematisierte der Ausschuss ausschließlich die Möglichkeiten beziehungsweise Probleme einer praktischen Umsetzung von Arbeitszeitverkürzungen. Bereits vor der Sitzung hatte die Sozialabteilung den Ausschussmitgliedern Informationsmaterial zukommen lassen, so dass bereits eine Grundlage für die Diskussion über die Möglichkeiten des Umgangs mit der Senkung bestand.175 Die Sozialabteilung trug auf diese Weise wesentlich dazu bei, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt nur noch um das „Wie?“ diskutiert wurde. Zumal Jacobi dafür sorgte, dass bis Anfang Juni 1954 von allen Betriebsteilen und Abteilungen des Unternehmens Stellungnahmen vorlagen, also bereits eine Entscheidungsgrundlage geschaffen war.176 In seinem Schreiben an die Mitglieder des Direktoriums, in dem Jacobi um die Stellungnahmen bat, hatte er bereits indirekt darauf hingewiesen, dass es ihm nicht darum ginge, über Bedenken informiert zu werden, sondern darum, Lösungsmöglichkeiten zu finden. Die in dem Schreiben dargelegte, zu prüfende Schichteinteilung wollte er nicht als einzige Möglichkeit verstanden wissen, sondern forderte die Direktoren auf, gegebenenfalls einen anderen Vorschlag zu machen, „der zu einem freien Samstag innerhalb von 14 Tagen führt.“177 Auch im Vorfeld der Umstellung auf die 5-Tage-Woche 1959 waren es mit Jacobi und Gert Paul von Beckerath die Leiter der Personal- und Sozialabteilung, die ein halbes Jahr vor der Umstellung von den Mitgliedern des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten (früher: Fabrikkontor-Ausschuss) zu klärende Punkte und mögliche Probleme bei der Umsetzung erfragten. Jacobi erklärte einleitend, „es solle durch die Erörterung aller auftauchenden Fragen den Betrieben Gelegenheit gegeben werden, sich mit den Problemen zu befassen und sich rechtzeitig auf die neue Situation einzustellen.“178 Im Anschluss referierte Beckerath die Einzelheiten der Umstellung, erklärte, welche Änderungen das für Arbeitsbeginn und -ende nach sich zöge, und machte Empfehlungen für die entsprechende Anpassung der Arbeitszeiten.179 So konnte als gesichert gelten, dass allen Betriebsleitern die Bedingungen 174 Vgl.: Protokoll der Besprechung des Fabrikkontor-Ausschusses am 26.4.1954, S. 1, in: BAL 214/6. 175 Vgl.: Ebd. S. 2. 176 Vgl.: Schreiben Jacobis an das Direktorium in dem die entsprechenden Stellungnahmen angefordert wurden vom 5.5.1954; sowie: an Jacobi bzw. das Direktorium gerichtete Stellungnahmen; jew. in: BAL 215/11. 177 Schreiben Jacobis an das Direktorium vom 5.5.1954, in: BAL 215/11. 178 Protokoll der Sitzung des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten am 19.1.1959, in: BAL 59/55. 179 Vgl.: Ebd.
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der Umstellung bekannt waren beziehungsweise mögliche Unklarheiten und damit Konfliktpotenzial rechtzeitig diskutiert werden konnten. Die Sozialabteilung bei Bayer hatte damit wesentlichen Anteil an einer sachlichen Diskussion um die Senkung von Arbeitszeiten, die von Anfang an nur darum geführt wurde, wie die gewünschten Senkungen umgesetzt werden konnten. Jacobi warb im Direktorium für die Anerkennung der Position der Arbeitnehmer im Rahmen des betrieblich Möglichen, erhob und vermittelte die für eine Entscheidungsfindung relevanten Informationen. Mit den Betriebsräten verhandelte Jacobi selbst, oder aber Vertreter der Sozial- beziehungsweise Personalabteilung. Das Verhältnis von Geschäftsleitung und Betriebsrat war äußerst kooperativ. Der Betriebsrat arbeitete in Fragen der betrieblichen Sozialpolitik freiwillig eng mit der Sozialabteilung zusammen.180 Der Einfluss der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung auf die Aushandlungsbedingungen von Arbeitszeiten liegt damit weniger in der institutionellen Form des Kommunikationsrahmens selbst, als vielmehr in der Art seiner Nutzung. Die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung schlug sich in einer Aufwertung der Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen nieder, die in den 1950er Jahren in beiden hier untersuchten Unternehmen erheblich umstrukturiert und ausgebaut wurden. Die Abteilungen schufen einen institutionellen Rahmen für die betrieblichen Sozialbeziehungen, der auf kooperative Beziehungen im Zeichen der Partnerschaft ausgerichtet war. In diesem Sinne leisteten die Personalbeziehungsweise Sozialabteilungen sowohl bei Siemens als auch bei Bayer einen erheblichen Beitrag zur konstruktiven und konsensorientierten Nutzung der mitbestimmungsrechtlich gesetzten Verhandlungswege. Ihre Arbeit ist Ausdruck des sozialpartnerschaftlichen Kooperations-Ideals, das konsensualen Sozialbeziehungen einen wichtigen Stellenwert beimaß. Aus der von Fritz Stöbe nach dem bayerischen Metallarbeiterstreik formulierten Kritik an den Sozialbeziehungen bei Siemens wird erkennbar, dass gerade die mitbestimmungsrechtlichen Regelungen besondere Bemühungen um das Verhältnis zu den Beschäftigten von Seiten des Unternehmens notwendig erscheinen ließen. Den Streik sah Stöbe als eine Warnung davor, was passiere, wenn Verhandlungen um Arbeitsbedingungen unter dem Einfluss von Gewerkschaften und Betriebsräten geführt würden. Dem galt es eine systematische Sozialpolitik entgegenzusetzen, welche die persönliche Beziehung zu den Beschäftigten gezielt gestalten sollte: „Es sollten keine Betriebsversammlungen mit Lageberichten des Betriebsrates stattfinden, auf denen nicht die Werkleitungen vertreten sind und die Vierteljahresberichte der Firmenleitung persönlich und mit anschaulichen Beispielen aus dem Geschäftsablauf des jeweiligen Werkes erläutern.“181
180 Vgl.: Rosenberger (2007), S. 251f. Dieses gute Verhältnis wurde auch noch in den 1980er Jahren betont. Nichts bringt das besser zum Ausdruck als ein vom Betriebsratsvorsitzenden Unger und einem leitenden Mitarbeiter des Personalwesens, Keim, 1986 gemeinsam verfasstes Buch mit dem Titel: „Kooperation statt Konfrontation“. Vgl.: Ebd. S. 262. 181 Stöbe, Fritz: Gedanken zur Sozialpolitik im Hause Siemens; Gutachten vom 12.8.1954, S. 4, in: SAA 12352.
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Als Voraussetzung einer solchen Neuausrichtung der betrieblichen Sozialbeziehungen hielt Stöbe eine organisatorische Umstrukturierung für notwendig. Von einer „weitgehend zentralen Personal- und Sozialverwaltung“ gelte es zu einer „zwar zentral angelegten aber dezentral verwirklichten Personal- und Sozialführung zu gelangen.“ Das bedeute insbesondere „auf diesem Gebiet viel mehr Initiative auf die Werksebene zu verlagern“, nur so könne es gelingen, „die Menschen in den Betrieben anzusprechen und für das Unternehmen zu gewinnen.“182 Diese von Stöbe geforderte Reform der Organisation betrieblicher Sozialpolitik in Richtung einer „Individualisierung“, setzte Siemens zumindest teilweise auch um. Bereits vor dem Streik gab es Überlegungen, die Maßnahmen zur „betrieblichen Zusammenarbeit“ noch zu erweitern, die nach dem Streik Gegenstand intensiver Diskussionen über eine Neuausrichtung der Sozialpolitik waren (vgl. Kap. 5.2). Sie fanden ihren konkreten Niederschlag in den Meisterschulungen oder den sozialpolitischen Verbindungsmännern, mit Hilfe derer die Sozialabteilung über „die Stimmung im Betriebe“ ständig im Bilde sein sollte.183 Auch die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung hatte daher durchaus praktische Folgen für die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten. Allerdings bestanden diese nicht mehr darin, dass Bestandteile des Regelwerks der Verhandlungen selbst auf die Wissensordnung zurückzuführen gewesen wären. Vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung war es für die Erreichung von Legitimität wichtig, informell institutionalisierte Formen der direkten Kommunikation bei der Verhandlung von Arbeitszeiten aufrechtzuerhalten. Im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung war es hingegen von großer Bedeutung, innerhalb des gegebenen formalen Verhandlungsrahmens einen konsensualen Modus der Verhandlungspraxis zu finden. Diesen zu gewährleisten, war mit den Aufgaben der Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen institutionell abgesichert. Sie hatten eine bedeutende Funktion für die Vermittlung in und zwischen den mitbestimmungsrechtlichen Gremien, sie kommunizierten und bewerteten die Ziele von Belegschaftsvertreten und Firmenleitung und engagierten sich im Konfliktfall für die Kompromissfindung. In beiden Fällen waren die Verhandlungspraktiken von Arbeitszeiten damit am Ideal eines konsensualen Verhältnisses zu den Beschäftigten ausgerichtet, deren Loyalität es sicherzustellen galt. Für die Legitimität einer Entscheidung in Sachen Arbeitszeitgestaltung war es in beiden Untersuchungszeiträumen beziehungsweise vor dem Hintergrund beider Ordnungsvorstellungen nicht unerheblich, ob sie im Konsens mit den Beschäftigten zustande gekommen war.
182 Ebd. S. 6. 183 Protokoll der S.&H.-L-Besprechung, am 15.12.1954, S. 8, in: SAA 12799. Das Protokoll gibt Aufschluss über die ausführliche Diskussion um die durchzuführenden Reformen der Sozialpolitik.
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5.4 FOLGEN DER LEITBILDER FÜR DIE REZEPTION ENTSCHEIDUNGSRELEVANTER INFORMATIONEN Sowohl die patriarchalische als auch die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung hatten Auswirkungen auf die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten in den Unternehmen Siemens und Bayer. Sie legten die Etablierung bestimmter Kommunikationswege nahe oder ließen es vor dem Hintergrund des Kooperationsideals legitim erscheinen, sich bei den Verhandlungen um Konsens zu bemühen. Dieser Befund wirft jedoch die Frage auf, welche konkreten Folgen die Ordnungsvorstellungen für die Rezeption von Informationen über die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ hatten. Schließlich liefen bei den Firmenleitungen nicht einfach alle verfügbaren Informationen zusammen. Vielmehr schenkten sie Informationen besondere Aufmerksamkeit, die von besonderer Bedeutung schienen, da sie einer bestimmten Referenzgruppe im Sinne der jeweiligen Ordnungsvorstellung zuzuordnen waren. Aufgrund dessen wurden überhaupt nur bestimmte Kommunikationswege institutionalisiert, die sich an den jeweils zentralen Referenzgruppen orientierten. Insofern stellt sich die Frage, auf der Grundlage welcher Informationen die Firmenleitungen ihre Entscheidungen fällten: Hatten die Ordnungsvorstellungen strukturelle Auswirkungen auf die Rezeption von Informationen über die Frage der Arbeitszeitsenkung? Was will die Belegschaft eigentlich? Probleme der Informationsbewältigung und Konfliktlastigkeit des patriarchalischen Kommunikationsideals Im Rahmen des patriarchalischen Ideals einer Vertrauensbeziehung zwischen dem Patriarchen und „seinen“ Beschäftigten sollte die Arbeitszeitgestaltung auf der Aushandlung mit der „eigenen“ Belegschaft beruhen. Dementsprechend war bei Siemens die Kommunikation lange Zeit institutionell auf den direkten und persönlichen Austausch zwischen dem Patriarchen Werner von Siemens und der Belegschaft zugeschnitten. Der Fall Siemens eignet sich daher hervorragend, um die Problematik dieses Kommunikationsmodells darzulegen, das die Rezeption von Informationen über die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ teilweise massiv erschwerte. Denn die Firmenleitung erreichten auf diesem Wege lediglich bruchstückhafte Informationen, die keine tragfähige Grundlage für das Finden unternehmensweiter Regelungen bieten konnten. Das zeigt beispielsweise die Kommunikation mit den Beschäftigten im Rahmen der Einführung einer verkürzten Mittagspause, eine Maßnahme, die einen wichtigen Schritt hin zu sinkenden Arbeitszeiten darstellte. 1890 war die sogenannte „englische Arbeitszeit“ im Charlottenburger Werk aufgrund des „Wunsches“ einer „größeren Anzahl von Mechanikern“ versuchsweise eingeführt worden.184 Ein Jahr später richtete wiede 184 Anschreiben der daraufhin in Umlauf gegebenen Unterschriftenliste vom 25.4.1890, in: SAA 14 Lm 751.
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rum „ein Theil der älteren Arbeiter“ ein Bittgesuch an „Euer Hochwohlgeboren“, in dem sie darum baten die frühere Arbeitszeit wieder einzuführen, da sie die neue Arbeitszeit übermäßig anstrenge: „[...] was die Jugend mit Leichtigkeit vermag zu überwinden, da fordert das Alter sein Recht, denn heute schon zeigen Erschlaffung und Krankheitserscheinungen, daß ein Durcharbeiten entschieden mehr Nachtheile, als irgendwelche Vortheile verspüren lassen [sic].“185
Darüber hinaus legten sie in der vier Seiten umfassenden Petition unter anderem dar, welche Änderung die neue Arbeitszeit für die Familienverhältnisse mit sich brachte, müssten doch Kinder und Lehrlinge nach wie vor mittags versorgt werden, sie selbst abends dann erneut, „wodurch der Frau bedeutend mehr Arbeit und uns mehr Unkosten entstehen“.186 Diese Argumentation macht noch einmal deutlich, dass sich diese Kommunikation im Rahmen der patriarchalischen Ordnungsvorstellung bewegte, vor deren Hintergrund es offenbar legitim erschien, den Patriarchen auf der Grundlage einer rein persönlichen Argumentation zur Rücknahme einer Entscheidung zu bewegen. Allerdings konnten auf der Basis solcher Informationen lediglich Einzelfallentscheidungen mit dem Charakter von Gunstbezeugungen getroffen werden. Es handelte sich hier nicht um Informationen, mit denen sich unternehmensweite Regelungen oder, wie im Falle der Mittagspause, ein prinzipieller Schritt hin zu einer langfristigen Senkung der Arbeitszeiten begründen ließen. Zumal die Informationen, welche die Firmenleitung auf diesem Wege erreichten, nicht selten widersprüchlich waren. Noch ein Jahr später richteten erneut Beschäftigte ein Bittgesuch an „die wohllöbliche Direktion der Firma Siemens & Halske“, in der sie wiederum die Einführung einer durchgehenden Arbeitszeit forderten.187 Dieses Problems waren sich sowohl die Arbeitnehmer als auch die Firmenleitung bewusst. Beide setzten daher das Mittel der Unterschriftenlisten ein um eine Mehrheitsmeinung abzubilden beziehungsweise zu erheben.188 Auch dieses Instrument war jedoch auf einzelne Werkstätten oder Abteilungen beschränkt, es war kaum geeignet um Entscheidungen über die Entwicklung der Arbeitszeiten insgesamt zu treffen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts mit der sich abzeichnenden Verdichtung und Verkürzung der Arbeitszeiten gefordert waren. Die Petitionen an die Firmenleitung offenbaren darüber hinaus ein weiteres gravierendes Problem der idealtypischen Aushandlung von Arbeitszeiten zwischen Patriarchen und Beschäftigten. Denn diese Kommunikationsform machte die Rezeption der Anforderungen an die Arbeitszeitgestaltung zumindest teilweise 185 186 187 188
Handschriftliche Petition vom 15.12.1891, in: SAA 14 Lm 735. Ebd. Handschriftliche Bittschrift vom 31.3.1892, in: SAA 14 Lm 751. Auf den von den Charlottenburger Mechanikern vorgebrachten Wunsch nach durchgehender Arbeitszeit hin, hatte die Firmenleitung eine Unterschriftenliste kursieren lassen. Vgl.: Anschreiben und Liste vom 25.4.1890. Auch die Arbeiter, die 1892 die Einführung einer durchgehenden Arbeitszeit forderten, hatten ihrem Wunsch mit einer Unterschriftenliste Nachdruck verliehen. Vgl.: Anschreiben vom 31.3.1892; jew. in: SAA 14 Lm 751.
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von der Initiative der Beschäftigten selbst abhängig. Schließlich beruhte das Kommunikationsmodell auf der Annahme, die Belegschaften würden sich an den Patriarchen beziehungsweise dessen Repräsentanten wenden, um Wünsche oder auch Probleme zu artikulieren. Allerdings stellte die direkte und persönliche Kommunikation eine hohe Hemmschwelle dar, schon aufgrund der Gefahr, wegen der geäußerten Forderungen in Ungnade zu fallen. Das geschah beispielsweise 1887, als 13 Angestellte des Versuchsraumes mittels einer Petition die Einführung der durchgehenden Arbeitszeit erbaten. Als Repräsentant der Firmenleitung erteilte Oberingenieur Frischen, Leiter der technischen Direktion, daraufhin der Werksleitung den Auftrag:189 „[...] die Petenten einzeln zu befragen: a) ob sie es vorziehen, anderweitig beschäftigt zu werden, oder in ihre ursprüngliche Arbeitsstelle zurückzukehren, oder b) ob sie sich einverstanden erklären, unter den obwaltenden Umständen weiter zu arbeiten, oder c) ob sie ihre Entlassung wünschen, welche eventl. sogleich gewährt werden kann.“ 190
Die „Petenten“ wurden aufgefordert „durch Namensunterschrift“ anzugeben, welchem der „genannten Vorschläge sie sich anschließen wollen.“ Die auf diese Weise wegen ihrer Petition mit der Entlassung bedrohten Angestellten wurden zusätzlich „durch den Werkstatts-Direktor Jacobi einzeln verwarnt.“191 Es konnte also ein nicht unerhebliches Risiko darstellen, diesen direkten Kommunikationsweg zu beschreiten und dadurch möglicherweise mit den Vorgesetzten in Konflikt zu geraten. Für die Firmenleitung wiederum konnte diese Kommunikationsform nicht geeignet sein um etwa zuverlässig über möglichen Unmut der Beschäftigten, und damit Konfliktpotenzial informiert zu sein. Die zahlreichen Versammlungen von Arbeitern der Siemens-Werke Ende des 19. Jahrhunderts zeigen, dass sich die Beschäftigten diesem Kommunikationsmodell außerdem gezielt entzogen, um ihre Forderungen „außerhalb“ des Unternehmens zu diskutieren und zu formulieren.192 Damit boykottierten sie das Prinzip an den Patriarchen adressierter Bitten, deren Gewährung sie mit dem Beschreiten dieses Weges ja auch von seinem Wohlwollen abhängig machten. Die vom Unternehmen über diese Versammlungen zusammengetragenen Zeitungsberichte und die in Auftrag gegebenen Berichte über sie, belegen gleichzeitig das Interesse der Firmenleitung über solche Informationen zu verfügen, ohne dass es jedoch einen institutionalisierten Weg gegeben hätte, sie verfügbar zu machen.193 Darüber hinaus war das skizzierte patriarchalische Kommunikationsmodell tendenziell konfliktlastig, weil es keine 189 Vgl. zu Frischen: Kocka (1969), S. 147. 190 Stoffsammlung „Arbeitszeiten in den Werken von S.&H.“, Abschrift der Reaktion Frischens auf die Petition vom 8.2.1887, in: SAA 14 Lr 516. 191 Ebd. 192 Insbesondere 1890 gab es eine ganze Reihe von Versammlungen, bei denen über den Achtstundentag diskutiert wurde. Vgl.: Zeitungsartikel und Teilnahmeaufforderungen in: SAA 14 Lm 751. 193 Vgl. z.B.: Bericht über eine Versammlung der Arbeiter vom 26./27.4.1890, in: SAA 14 Lm 751.
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systematische Form der Interessenartikulation vorsah. Scheiterten die Beschäftigten sowohl beim direkten Vorgesetzten als auch mit einer Petition oder erschien das Risiko zu hoch beziehungsweise die Erfolgsaussichten ungewiss, blieb nur noch der Konflikt als eine weitere Variante der Interessenartikulation – ein Kommunikationsmittel, das die bei Siemens Beschäftigten vor allem nach der Jahrhundertwende häufig nutzten, wie zahlreiche Streiks zeigen (vgl. Kap. 3.3). Auch im Falle von Bayer waren vor der Einrichtung des Ausschusses für Arbeiterangelegenheiten 1904, von Arbeiterausschüssen 1905 und dem Posten des Sozialsekretärs 1910, nur die direkte Kommunikation oder der Konflikt die möglichen Kommunikationsformen. Dementsprechend waren spontane, kleinere Arbeitsniederlegungen keine Seltenheit. Deren verhältnismäßig nichtige Anlässe zeigen, dass es sich hierbei um eine Möglichkeit handelte, von der Firmenleitung gehört zu werden. Anfang des 19. Jahrhunderts legten beispielsweise Arbeiter in Leverkusen die Arbeit nieder, weil es an Toilettenanlagen mangelte. Dieser Schritt verschaffte Vertretern der Arbeiter Zugang zu Carl Duisberg, der sie persönlich zur Rede stellte, so dass sie ihre Forderung dem Patriarchen mitteilen konnten – in diesem Fall mit Erfolg.194 Diese Form der Kommunikation wurde von der Firmenleitung erst in Frage gestellt, als die Gewerkschaften sich in diesem Kontext als Interessenvertretungen einschalteten. Im Juli 1904 hatte eine Werkstattversammlung der Schlosser, Dreher und Klempner stattgefunden, in der verschiedene Missstände diskutiert worden waren. Durch einen über diese Versammlung angefertigten Bericht war die Firmenleitung im Bilde und wies einen Arbeiter zurecht, der das Wort ergriffen hatte.195 Der Streik brach aus, nachdem zwei Vertreter der örtlichen Gewerkschaft Duisberg in einem Brief um ein Gespräch gebeten hatten, um über die in der Versammlung diskutierten Missstände zu sprechen. Duisberg wies dieses Anliegen zurück, da er nicht bereit war, die Gewerkschaften als Vertreter der Beschäftigten des Unternehmens anzuerkennen.196 In einem Schreiben an die Absender des Briefs ließ die Firmenleitung wissen, dass für sie allein das patriarchalische Kommunikationsmodell legitim sei: „Wenn, was wir auf das Entschiedenste bestreiten, Miß- und Übelstände auf der Fabrik herrschen sollen, so sind wir fest davon überzeugt, daß unsere Arbeiter selbst so viel Mut und das erforderliche Vertrauen zu uns besitzen, um uns hiervon persönlich Kenntnis zu geben.“197
Einen Tag später berief Duisberg eine Versammlung mit Vertretern der Werkstätten ein, auf der diese das Fehlen beziehungsweise den Zustand der Toiletten sowie allgemein Sparzwang bemängelten.198 Diese Punkte erkannte die Firmenleitung nicht an, stattdessen forderte sie, wer unzufrieden sei, möge das Unternehmen verlassen, alle anderen sollten „ihre Zufriedenheit und Geneigtheit bei uns zu 194 195 196 197 198
Vgl.: Peetz (1981), S. 145f. Vgl.: Ebd. S. 146. Vgl.: Nieberding (2003), S. 352f. Zitiert nach: Peetz (1981), S. 146. Vgl.: Nieberding (2003), S. 353.
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bleiben“ per Unterschrift bezeugen – und damit einen Nachweis ihrer Verbundenheit mit der betrieblichen Gemeinschaft erbringen.199 In konsequenter Fortsetzung dieses Ideals forderte die Firmenleitung, nach einer weiteren Werkstattversammlung, die Mitglieder von Metallarbeiterverband und Hirsch-Dunkerschem Gewerkverein auf, die Verbände zu verlassen oder das Arbeitsverhältnis zu beenden. Daraufhin riefen die Gewerkschaften nach weiteren Werkstattversammlungen zum Streik auf, im Zuge dessen schließlich 483 Arbeiter und Handwerker das Unternehmen verließen.200 Das Beispiel macht deutlich, dass in den Verhandlungen mit den Beschäftigen ausschließlich diejenigen Informationen rezipiert wurden, die im Rahmen der patriarchalisch-legitimen Kommunikationsformen generiert worden waren. Um an Informationen über die von den Beschäftigten formulierten Anforderungen zu gelangen, wurden zwar Berichte über ihre Versammlungen angefertigt. Grundsätzlich erwartete die Firmenleitung jedoch, von den Beschäftigten selbst in Kenntnis gesetzt zu werden. Abgesehen von dieser Option gab es für die Beschäftigten keine weiteren Möglichkeiten, ihre Interessen zu artikulieren, was erstens potenziell konfliktträchtig war und zweitens die Gewerkschaft als ein zusätzliches Instrument der Artikulation ihrer Interessen attraktiv machte. Nicht zuletzt weil mit Hilfe ihrer Organisationsmacht der Erfolg des Unterfangens nicht mehr allein an die Gunst des Patriarchen gebunden war. Der Streik von 1904 war für das Unternehmen Bayer ein Wendepunkt. Im Anschluss daran änderte sich die Strategie der Personalpolitik, die Personalauswahl wurde verfeinert, insbesondere unterstützt durch den neu eingerichteten Ausschuss für Arbeiterangelegenheiten. Zuvor war für alle das Arbeitsverhältnis betreffenden Fragen das Fabrikkontor zuständig gewesen.201 Damit begann eine Systematisierung der Kommunikation zwischen Firmenleitung und Beschäftigten, die innerhalb weniger Jahre stetig ausgebaut wurde. Das den Arbeitern bei der Einstellung ausgehändigte Handbuch von 1912 zählte bereits fünf „Instanzen für Arbeiter-Angelegenheiten“. An erster Stelle stand der Ausschuss für Arbeiter-Angelegenheiten, mit dem nicht zuletzt eine Plattform formal institutionalisiert wurde, welche die Arbeiter zur Artikulation ihrer Interessen nutzen konnten: „Alle Anträge Wünsche und Beschwerden der Arbeiter“ waren „schriftlich oder mündlich an den Geschäftsführer oder den Vorsitzenden zu richten.“202 Der Geschäftsführer des Ausschusses war wiederum der Sozialsekretär, der Beschwerden zunächst prüfte und bei Differenzen zwischen Arbeitern und Beamten vermittelnd einschreiten sollte. Speziell für die weiblichen Beschäftigten gab es ein Fabrikpflegerin, mit der ein zusätzlicher Kommunikationsweg geschaffen wurde: „Den Arbeiterinnen ist damit Gelegenheit gegeben, ihre Wünsche und etwaige Beschwerden in geschäftlichen Angelegenheiten der 199 200 201 202
Zitiert nach: Peetz (1981), S. 147. Vgl.: Nieberding (2003), S. 354. Vgl.: Ebd. S. 357. Handbuch für die Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 1912, S. 37, in: BAL 10/8.2.
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Fabrikpflegerin vorzutragen und auch persönliche Fragen mit ihr zu beraten.“203 Weiterhin stellte das Handbuch Fabrikkontor und Arbeiterausschuss vor. Ersteres diente der reinen Verwaltung des Arbeitsverhältnisses, während der Allgemeine Ausschuss für Arbeiter die „Vertretung der Arbeiterschaft der Direktion gegenüber“ darstellte. Seine zwölf Mitglieder setzten sich zu gleichen Teilen aus Arbeitern und Angestellten zusammen. Die Angestellten wurden von der Direktion bestimmt, die Vertreter der Arbeiter jährlich gewählt. Dem Ausschuss oblagen an erster Stelle „die Prüfung von Beschwerden“ und die „Prüfung aller von Arbeitern vorgebrachten Wünsche“. Grundsätzlich hatte jeder Arbeiter das Recht, „etwaige Wünsche mündlich oder schriftlich an den Allgemeinen Ausschuss zu richten“, die entgegenzunehmen nicht nur die vorsitzenden Beamten berechtigt waren, sondern „auch jedes andere Ausschussmitglied berechtigt und verpflichtet ist.“204 Mit dieser formalen Institutionalisierung der Kommunikationswege wurden die Hürden der Kommunikation zwischen Beschäftigten und Firmenleitung massiv abgebaut. Durch die Berichte der Ausschüsse, des Sozialsekretärs und der Fabrikpflegerin war die Firmenleitung zudem systematisch über mögliche Konfliktpotenziale informiert. Die institutionalisierten Kommunikationswege wurden auch durchaus genutzt. Als die Arbeiter des Betriebes Bauhandwerker mit einer angeordneten Verschiebung ihrer Arbeitszeiten nicht einverstanden waren, richteten sie eine Petition, gestützt durch eine Unterschriftenliste, an den Arbeiterausschuss.205 Trotz veränderter institutioneller Grundlagen der Kommunikation war in diesem Fall ihre Form geprägt vom patriarchalischen Kommunikationsmodell. Nach wie vor wurden ja auch seitens der Firmenleitung Formen der direkten Kommunikation auf einer informellen Ebene aufrechterhalten, was zeigt, dass die patriarchalische Ordnungsvorstellung noch immer einen Maßstab für die Bewertung legitimer Kommunikationsformen darstellte. Insbesondere bei Bayer wurde außerdem gerade die persönliche Kommunikation, etwa in Form von Sozialsekretär und Fabrikpflegerin, auf formalem Wege institutionalisiert. Nicht zuletzt sollten die institutionellen Veränderungen ja dazu beitragen, die Verhandlungen um Arbeitsbedingungen, ganz dem patriarchalischen Gemeinschafts-Konzept entsprechend, innerhalb der betrieblichen Gemeinschaft zu halten und somit „außerbetriebliche“ Interessenvertretungen überflüssig zu machen (vgl. Kap. 5.2). Eine ganz ähnliche Entwicklung nahm der institutionelle Wandel der Kommunikationsstrukturen seit der Jahrhundertwende bei Siemens. Um über eine Entscheidungsgrundlage zu verfügen, die sich nicht nur auf den Einzelfall beschränkte, erfragte 1902 die Central-Abteilung die in den einzelnen Werken geltenden Arbeitszeitregelungen.206 1903 wurde auch die Kommunikation mit den Beschäftigten systematisiert. Die in einigen Werken bereits bestehenden Arbeiterausschüsse stellten im selben Jahr ihre Arbeit ein, da sie die Beschäftigten nicht mehr 203 204 205 206
Ebd. S. 38. Ebd. S. 39. Petition an den Arbeiterausschuss der Farbenfabriken Leverkusen, undatiert, in: BAL 215/11. Vgl.: Antwortschreiben der Werke an die Central-Abteilung, in: SAA 5329.
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hinter sich wussten. Das geschah zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Angesichts der herrschenden „Gährung in den Betrieben“ beschloss daher der Vorstand, „dem offenbar ganz allgemein gehegten Wunsche unserer Arbeiter nach Errichtung gesetzlicher Arbeiterausschüsse“ entgegenzukommen.207 In diesem Fall wird besonders deutlich, dass die Ausschüsse eine Form der systematischen Informationsbeschaffung darstellten, mit deren Hilfe die Verhandlungen um die Arbeitszeitgestaltung in das Unternehmen zurückgeholt werden sollten. Zumindest lassen Äußerungen des Vorstandsvertreters der SSW, Dihlmann, gegenüber den Vertretern der Arbeiterausschüsse diese Absicht vermuten. Er klagte bei einer Besprechung mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse 1905, noch immer würden Teile der Arbeiterschaft versuchen, „durch Aussenstehende mit den Firmen in Verbindung zu treten“, anstatt die „Weisungen“ der Ausschüsse anzuerkennen. Zumal die Verhandlungen nicht allein in den Ausschüssen geführt, sondern bereits im frühen Stadium „in öffentlichen Versammlungen und Zeitungsartikeln von aussenstehenden Personen“ diskutiert würden.208 Auch RegierungsBaumeister Pfeil, der als Vorstandsvertreter von S.&H. an der Besprechung teilnahm, war der Ansicht, es sei Aufgabe der Obmänner sich dafür stark zu machen, dass die Arbeiterschaft die hier diskutierten „Zugeständnisse der Firma“ auch annehmen. Es könne „nicht der rechte Weg zur friedlichen Einigung“ sein „wenn auf Vorschläge der Firma immer wieder durch Einberufung von neuen Versammlungen ausserhalb der Firma und Aufstellung neuer Gegenforderungen geantwortet werde.“209 In dieser Hinsicht erfüllten die Arbeiterausschüsse die Erwartungen der Firmenleitung offenbar nicht. Sie konnten nicht verhindern, dass ein Teil der Meinungsbildung nach wie vor „außerhalb“ des Unternehmens stattfand, was der Firmenleitung als illegitimes Verhalten galt.210 Allerdings hatten sie einen weiteren Effekt: Mit ihnen verteilten sich die Informationslasten in den Unternehmen völlig neu. Es lag nun nicht mehr an der Firmenleitung, sich etwa durch Befragungen ein Bild über die Anforderungen an die Gestaltung von Arbeitszeiten zu verschaffen. Als die Leitung des Glühlampenwerkes 1905 darüber nachdachte, die Mittagspause von einer auf eine halbe Stunde zu verkürzen, war es an den Obmännern des Arbeiterausschusses, herauszufinden, „wie sich die Arbeiterschaft zu einer derartigen Verschiebung der Arbeitszeit stellen würde.“ Der Arbeiteraus 207 Schreiben von Wilhelm von Siemens, in dem er die Aufsichtsräte von S.&H. und SSW um Zustimmung zum Beschluss des Vorstandes bittet, Arbeiterausschüssen einzurichten vom 24.8.1903, in: SAA 4 Lk 12–13. 208 Protokoll einer Besprechung mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse am 27.1.1905, S. 2, in: SAA 4 Lk 12–13. 209 Ebd. S. 11. 210 Das war im Übrigen auch gar nicht ihr Ziel. Der Kritik Dihlmanns und Pfeils entgegneten sie, ohne „Anhörung ihrer Wählerschaft“ könnten sie keine verbindliche Erklärung abgeben. Sie erklärten sich allerdings bereit, in den Versammlungen die Annahme der gemachten Vorschläge zu empfehlen. Vgl.: Protokoll einer Besprechung mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse am 27.1.1905, S. 12, in: SAA 4 Lk 12–13.
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schuss wurde gebeten, auf „der nächsten Werkstattversammlung diesen Punkt zur Sprache bringen und durch Abstimmung festzustellen, wie sich die Arbeiterschaft zu dieser Frage stelle.“211 Das Problem, aus den verschiedenen Interessen der Belegschaft eine einheitliche Position zu bilden, lag damit bei den gewählten Vertretern der Belegschaft. Wie schwierig sich diese Aufgabe gestalten konnte, zeigt noch einmal die Kritik Dihlmanns an der Arbeit der Ausschüsse, die „von ihren Wählern im Stich gelassen würden und nicht in der Lage wären, bindende Erklärungen abzugeben“.212 Die ursprünglichen informellen Formen der Kommunikation mit den Beschäftigten, wie sie aus der patriarchalischen Wissensordnung abgeleitet worden waren, hatten erhebliche Nachteile. Die fragmentierten und häufig lediglich auf Einzelfälle bezogenen Informationen, die auf diesem Wege die Firmenleitung erreichten, boten keine tragfähige Grundlage für die Bewältigung einer so fundamentalen Anforderung wie der langfristigen Senkung der Arbeitszeiten. Zumindest waren diese Kommunikationsformen geeignet, den Wandel durch ihre Konfliktlastigkeit zusätzlich zu erschweren. Die institutionelle Neuordnung der Kommunikation systematisierte und erleichterte die Rezeption von Informationen über die von den Beschäftigten gestellten Anforderungen erheblich, nicht zuletzt weil ihnen nun ein Teil an der Bewältigung der vorliegenden Informationslasten übertragen wurde. Dennoch bewegten sich diese institutionellen Veränderungen im Rahmen patriarchalischer Legitimitätserwartungen: Nach wie vor galt die Belegschaft als zentrale Referenzgruppe für die Aushandlung von Arbeitszeiten, so dass die Rezeption von Informationen vor allem auf sie zugeschnitten war. Neuverteilung der Informationslasten: Rezeption und Bewertung von Informationen vor dem Hintergrund der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung Das Prinzip des zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleiteten institutionellen Wandels der Kommunikation mit den Beschäftigten hatte sich in der Bundesrepublik nicht geändert. War die Aufgabe, Informationen über die Forderungen der Beschäftigten zu erheben und an die Firmenleitung weiterzuleiten, im Kaiserreich auf die neu gegründeten Ausschüsse übertragen worden, übernahmen in der Bundesrepublik die Betriebsräte diese Funktion. Sie waren beteiligt an der Interpretation und Kommunikation der auf tarifvertraglicher Ebene ausgehandelten Entscheidungen, außerdem mussten sie eine Position zu offen gebliebenen Fragen formulieren, die sich hinsichtlich der Umsetzung tarifvertraglicher Vereinbarungen stellten. Damit übernahmen sie, wie schon die Arbeiterausschüsse, die Auf 211 Protokoll einer Besprechung der Direktion des Glühlampenwerks mit dem Arbeiterausschuss am 13.3.1905, S. 1, in: SAA 4 Lk 12–13. 212 Protokoll einer Besprechung mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse am 27.1.1905, S. 2, in: SAA 4 Lk 12–13.
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gabe, Informationen über die Haltung der Beschäftigten einzuholen, was sich durchaus aufwändig gestalten konnte. Im Jahr 1956 war der Betriebsrat des Berliner Verwaltungsgebäudes von Siemens gefordert, eine Position zur Einführung der 5-Tage-Woche zu formulieren. Zu diesem Zweck hatte eine Vertrauensleutebesprechung stattgefunden, auf der „die Frage der Arbeitszeitverkürzung ausführlich durchgesprochen“ worden war, wie der Betriebsrat in einem Schreiben an Vertrauensleute und Betriebsräte festhielt. Schließlich wurde „nach ausführlicher Diskussion des Für und Wieder Einstimmigkeit darüber festgestellt, daß 2 freie Sonnabende innerhalb von 4 Wochen gewünscht werden.“213 Damit war der Meinungsbildungsprozess jedoch nicht abgeschlossen, wie sich auf einer späteren Betriebsversammlung herausstellte: „Obgleich seitens der Kollegen Vertrauensleute keine Änderung dieser Meinung an den Betriebsrat herangetragen wurde, stellte sich dann in der Betriebsversammlung am 22.11.1956 heraus, daß offenbar die Mehrzahl der auf dieser Versammlung anwesenden Belegschaftsmitglieder die Einführung einer 5Tagewoche [sic] mit 4 freien Sonnabenden wünscht. Infolge dieses inneren Widerspruches kann sich der Betriebsrat z.Zt. kein Bild über die wahre Meinung der Gesamtbelegschaft machen.“214
Der Betriebsrat sah sich daher genötigt, die Vertrauensleute aufzufordern, festzustellen „ob die Mehrheit ihrer Abteilungsbelegschaft eine 5Tagewoche [sic] fordert“, und eine erneute Vertrauensleutesitzung anzuberaumen.215 Die Aufgabe, zwischen den verschiedenen Interessen der Beschäftigten zu vermitteln und diese zu einer verhandlungsfähigen Position zu bündeln, konnte also mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein. Zumal die Betriebsräte auch die Last der Legitimation der mit der Firmenleitung ausgehandelten Beschlüsse gegenüber der Belegschaft zu tragen hatten. Nicht mehr in erster Linie die Firmenleitung war gefordert, gefundene Kompromisse – sei es auf tarifvertraglicher Ebene oder im Rahmen der Mitbestimmung – gegenüber der Belegschaft zu kommunizieren, sondern vor allem die verhandelnden Arbeitnehmervertretungen. Diese Neuverteilung der Informations- und Legitimationslasten im Betrieb war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eingeleitet worden. Einen deutlichen Ausbau erfuhr in den 1950er Jahren die Systematisierung der Kommunikation durch die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen. Sie hatten ihre Ursprünge ebenfalls bereits in Ausschüssen wie dem für Arbeiterangelegenheiten (Siemens), dem FabrikkontorAusschuss (Bayer) oder in Posten wie dem Sozialsekretär oder der Fabrikpflegerin. Sie spielten eine bedeutende Rolle für den Informationsfluss und prägten daher neben den mitbestimmungsrechtlich festgelegten Gremien die institutionellen Bedingungen, innerhalb derer die Anforderungen an die Arbeitszeitgestaltung rezipiert wurden. 213 Schreiben des Betriebsrates des Verwaltungsgebäudes Berlin Siemensstadt an die Vertrauensleute und Betriebsräte vom 27.11.1956, S. 1, in: SAA 18068. 214 Ebd. S. 2. 215 Ebd.
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Bei Siemens und Bayer führten meist die leitenden Mitarbeiter der Personalbeziehungsweise Sozialabteilungen die Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern und bildeten somit eine wichtige Schnittstelle der Kommunikation zwischen Firmenleitung und Beschäftigten. Darüber hinaus legitimierten sie die diskutierten Positionen sowohl gegenüber der Firmenleitung als auch den Beschäftigten, spielten also eine vermittelnde Rolle. Vor allem aber sorgten sie für die Institutionalisierung des Informationsflusses über Fragen der Arbeitszeitgestaltung und zwar weit über die mitbestimmungsrechtlichen Gremien hinaus. Bestes Beispiel dafür sind die sogenannten „Verbindungsmänner für sozialpolitische Fragen“, welche die Sozialpolitische Abteilung bei Siemens seit 1954 mit Informationen über offene Fragen oder Probleme in den einzelnen Betrieben versorgten.216 Die Verbindungsmänner waren für die Weitergabe von Informationen in den Betrieben zuständig. Nachdem die IG-Metall 1956 ihre Forderungen zur Senkung der Arbeitszeit vorgelegt hatte, die noch im selben Jahr in das Bremer Abkommen mündeten, wurden die Verbindungsmänner im Rahmen eines Treffen von der Sozialpolitischen Abteilung beauftragt, „erstmals zum 1.6.1956 und sodann vierteljährlich [...] Bericht an SozPolAbt München zu erstatten“ und zwar an erster Stelle über die „Arbeitszeitregelung im Betrieb“. Die Art der geforderten Informationen war klar benannt: „insbesondere: wöchentliche Arbeitszeit, Verteilung auf wieviele Wochentage, Anfang und Ende der täglichen Arbeitszeit (Uhrzeit) in der Normal- und Wechselschicht, Pausenregelung.“217 Beim folgenden Treffen der Verbindungsmänner erhielt die Sozialpolitische Abteilung 1957 Informationen über die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung. Dabei stellte sich heraus, „daß neben geringfügigen, auch schwerer wiegende Abweichungen von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften vorliegen“.218 Die Sozialpolitische Abteilung war aufgrund dieser Informationen in der Lage, mögliche Probleme zu erkennen und gegenzusteuern: „SozPolAbt wies darauf hin, daß auch in den Fällen, in denen solche Abweichungen seitens der Gewerbeaufsichtsämter ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt worden sind, mit späteren Schwierigkeiten gerechnet werden müßte“. Nach Prüfung der geschilderten Fälle werde sie sich daher mit den betroffenen Betrieben in Verbindung setzen.219 Im Vergleich zum ersten Untersuchungszeitraum wird der Unterschied dieser Form der Informationsbeschaffung deutlich. Als 1902 eruiert werden sollte, wie lange in den einzelnen Betrieben überhaupt gearbeitet wurde, musste die CentralAbteilung von Siemens diese Informationen erst erfragen, was sich nicht nur über fast einen Monat hinzog, sondern auch nur bruchstückhafte Ergebnisse lieferte, da 216 Vgl.: Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Direktoren Kley und Meißner vom 15.6.1954, in: SAA 12426. 217 Protokoll des 4. Treffens der Verbindungsmänner für sozialpolitische Fragen am 24.5.1956, S. 8, in: SAA 12426. 218 Protokoll des 5. Treffens der Verbindungsmänner für sozialpolitische Fragen am 1.2.1957, S. 2, in: SAA 12426. 219 Ebd.
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selbst die einzelnen Betriebe keine klare Auskunft geben konnten oder wollten.220 Institutionen wie die von der Sozialpolitischen Abteilung eingerichteten Verbindungsmänner generierten hingegen aktiv Informationen und erleichterten damit die Rezeption von Anforderungen an die Gestaltung von Arbeitszeiten erheblich. Darüber hinaus bereitete die Sozialpolitische Abteilung ihre Informationen auf, bevor sie diese an die Firmenleitung weitergab. Die Informationen, welche die Mitarbeiter der Abteilung in die entsprechenden Gremien trugen, waren für eine Entscheidungsfindung vorbereitet. Sie lieferten der Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen beispielsweise vorgefertigte Aufzeichnungen über die möglichen Regelungen von Arbeitspausen.221 Auch als 1966 die Kommission für Lohnfragen über mögliche Probleme im Zusammenhang mit der für das kommende Jahr anstehenden Einführung der 40-Stunden-Woche diskutierte, konnte sie das auf der Basis einer Vorlage tun, in der die Sozialpolitische Abteilung beispielsweise die Grundsätze für Pausenregelungen bereits ausgearbeitet hatte.222 Nach demselben Prinzip funktionierte die Beschaffung und Kommunikation von Informationen bei Bayer. Auch hier war es die Sozialabteilung, welche die Mitglieder des Fabrikkontor-Ausschusses bereits vor den Sitzungen mit entsprechendem Informationsmaterial versorgte, in dem die geltenden Arbeitszeitregelungen dargelegt und Lösungsvorschläge für Neuregelungen ausgearbeitet waren.223 Mit Fritz Jacobi war es gar das für Personal- und Sozialwesen zuständige Vorstandsmitglied persönlich, das die Erhebung entscheidungsrelevanter Informationen veranlasste. Er bat bereits 1954 die Mitglieder des Direktoriums, in den von ihnen geleiteten Betrieben die Möglichkeiten einer Umstellung auf die Fünftagwoche zu prüfen und ihm die Ergebnisse mitzuteilen.224 Der Informationsfluss war damit sowohl bei Siemens als auch bei Bayer institutionell darauf zugeschnitten, aktiv Informationen in Beschluss- oder zumindest diskussionsfähiger Form zu generieren. Die grundlegende Veränderung im Vergleich zum ersten Untersuchungszeitraum liegt darin, dass die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen nun auch die Rezeption von Informationen absicherten, die nicht die innerbetrieblichen Verhandlungen betrafen. Auch durch die Arbeiterausschüsse und Stellen wie den Sozialsekretär waren Informationen aktiv erhoben und in aufbereiteter Form an die Firmenleitung weitergegeben worden. Die institutionellen Strukturen zur Beschaffung und Bewertung von Informationen waren jedoch auf die Aushandlung von Arbeitszeiten im Betrieb selbst zugeschnitten. Demgegenüber war die syste 220 Vgl.: Antwortschreiben der Werke an die Central-Abteilung zwischen dem 15.2. und dem 4.3.1902, in: SAA 5329. 221 Vgl.: Protokoll der Sitzung der Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen am 1.4.1964, S. 4, in: SAA 7443–1. 222 Vgl.: Protokoll der Sitzung der Kommission für Lohnfragen am 28.2.1966, S. 2, in: SAA 12491–1. 223 Vgl.: Protokoll der Besprechung des Fabrikkontor-Ausschusses am 26.4.1954, S. 2, in: BAL 214/6. 224 Vgl.: Schreiben Jacobis an die Mitglieder des Direktoriums vom 5.5.1954, in: BAL 215/11.
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matische Rezeption von Informationen über den Betrieb hinaus vor dem Hintergrund der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung nicht mehr als „außerbetrieblich“ illegitimiert, sondern schien von größter Bedeutung. Durch die Zuständigkeiten der Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen war sie auf eine Weise institutionell abgesichert, wie es im ersten Untersuchungszeitraum nicht annähernd der Fall war. Diese Neuerung war zum Teil eine Folge des Tarifvertragssystems, das es notwendig machte, über den Stand der Verhandlungen zwischen den Tarifvertragsparteien informiert zu sein. Eine Funktion, die ebenfalls die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen übernahmen. Im Falle von Bayer waren es Fritz Jacobi und Gert Paul von Beckerath, die im Ausschuss für Sozialpolitische Angelegenheiten über veränderte tarifvertragliche Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung informierten. Sie legten dar, wie die Tarifverträge auszulegen waren, welche Folgen sie für die Arbeitszeitgestaltung im eigenen Unternehmen haben würden und welches noch zu klärende Fragen seien.225 Auch bei Siemens war es die Sozialpolitische Abteilung, welche die Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen über den Stand von Tarifverhandlungen informierte. Auch außerhalb der Sitzungstermine versorgte sie die Mitglieder der Kommission mit ausführlichen Berichten über Verlauf und den möglichen Ausgang der Verhandlungen.226 Die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen garantierten damit eine systematische Rezeption von Informationen über Tarifverhandlungen, die insbesondere im Falle von Siemens eine erhebliche Dichte erreichten. Denn im Rahmen der Funktionen der Sozialpolitischen Abteilung waren die Kommunikationsbeziehungen ins Issue-Feld institutionalisiert worden. Zu ihren Aufgaben gehörte die Mitarbeit in Organisationen wie der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dem Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände oder der Arbeitgeberverbände der Metallindustrie; auch in „sozialpolitischen Vereinigungen“ sollte sie vertreten sein.227 Daher waren die von der Sozialpolitischen Abteilung zusammengestellten Informationen über den Stand der Arbeitszeitverhandlungen nicht nur an die Vorstandskommission gerichtet, sondern häufig auch an die „Vertreter unseres Hauses in den Arbeitgeberverbänden“.228 Beiden berichtete die Sozialpolitische Abteilung etwa von einem Gespräch, das der Bundeskanzler 1965 angesichts anstehender Tarifverhandlungen mit Vertretern der Tarifparteien geführt hatte und über das ein Vertreter der BDA die Abteilung infor 225 Vgl.: Protokoll der Sitzung des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten am 26.4.1960; sowie: Protokoll der Sitzung des Ausschusses für sozialpolitische Angelegenheiten am 11.2.1961; jew. in: BAL 59/55. 226 Vgl.: Schreiben Dr. Kleys an die Mitglieder der Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen vom 17.1.1966, in: SAA 7443–1. 227 ZP-Rundschreiben Nr. 27, 25.9.1957 über die Organisation der Sozialpolitischen Abteilung, S. 1 u. S. 3, in: SAA 12489. 228 Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen, Lohnkommission und die Vertreter in den Arbeitgeberverbänden vom 15.12.1965, in: SAA 7443–1.
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miert hatte. So war sie in der Lage, bereits zu Beginn der Verhandlungen die Haltung der Regierung zu Lohn- und Arbeitszeitfragen weiterzugeben, was für die Abschätzung des Verhandlungsspielraumes wichtig war.229 Im Anschluss an abgeschlossene Tarifverhandlungen bewertete die Sozialpolitische Abteilung die Ergebnisse und formulierte damit für die Vertreter in den Verbänden, aber auch die Mitglieder der Vorstandskommission für sozialpolitische Angelegenheiten, die von Seiten des Unternehmens eingenommene Haltung zum Tarifabschluss. Zu den 1966 geführten Verhandlungen, in denen unter anderem das Datum der Einführung der 40-Stunden-Woche zur Diskussion stand, stellte sie fest: „Mit diesen Vorbelastungen wäre ein besseres Ergebnis nach einem Arbeitskampf, der durch den Tarifabschluß abgewendet wurde, nicht zu erwarten gewesen.“230 Diese Form einer institutionell abgesicherten Rezeption von Informationen über außerhalb des Unternehmens geführte Verhandlungen stellt einen fundamentalen Unterschied zum ersten Untersuchungszeitraum dar. Auf diese Weise bestand ein systematischer Informationsfluss zwischen Issue-Feld und Unternehmen, im Gegensatz zur häufig anlassbezogenen, unsystematischen Korrespondenz über Fragen der Handhabung von Arbeitszeiten im Kaiserreich. Dieser Unterschied liegt zwar auch in der Logik des Tarifvertragssystems begründet. Allerdings ging die Rezeption von Informationen über die Frage des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung weit über tarifvertragliche Verhandlungen hinaus, was dafür spricht, dass diese Informationen als relevant beziehungsweise als legitim im Sinne der Ordnungsvorstellung galten. Über die systematisierten Informationsflüsse zum Issue-Feld hinaus rezipierten die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen auch die Rundschreiben von Arbeitgeberverbänden und arbeitgebernahen Organisationen. Das ist insofern von zentraler Bedeutung, als sich im zweiten Untersuchungszeitraum die Bewertung der „Arbeitszeitfrage“ maßgeblich ins Issue-Feld verlagert hatte (vgl. Kap. 4.2). Vor dem Hintergrund der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung waren die Verbände zu legitimen Akteuren bei der Aushandlung von Arbeitszeiten geworden, die einen erheblichen Teil der nötigen Deutungsleistung erbrachten. Diese Informationen wiederum wurden von den Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen gesammelt und im Unternehmen verbreitet, ihre Rezeption war also durch deren Aufgabenbeschreibung institutionell verankert. Die Sozialabteilung von Siemens erreichten daher die Jahresberichte des BDA ebenso, wie Stellungnahmen und Material des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie zur 5-Tage-Woche.231 Auch bei Bayer sind es die Bestände des Personal- und Sozial 229 Vgl.: Ebd. 230 Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Vertreter des Hauses in den Arbeitgeberverbänden und die Vorstandskommission für sozialpolitische Angelegenheiten vom 18.2.1966, S. 3, in: SAA 7443–1. 231 Vgl.: Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 3.3.1954 und 18.9.1954; sowie: Gesamtüberblick aus dem Jahresbericht der BDA 1953, in den Akten der Sozialpolitischen Abteilung; jew. in: SAA 11127–4.
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wesens, welche die Entscheidungshilfen verschiedener Verbände und arbeitgebernaher Organisation enthalten.232 Hier war es Fritz Jacobi, der Publikationen, beispielsweise zur 5-Tage-Woche, sichtete und gegebenenfalls an die Vorstandsmitglieder weiterleitete; so geschehen etwa mit einem Aufsatz von Herbert Gross zum selben Thema. Vermutlich handelte es sich dabei um den von Gross verfassten „Beratungsbrief“ zur 5-Tage-Woche, den die „Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947 e.V.“ 1954 an Bayer geschickt hatte und in dem Gross die 5Tage-Woche als ein ebenso unvermeidliches wie erstrebenswertes Ziel bewertete.233 Die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen bildeten damit eine zentrale Schnittstelle zwischen Issue-Feld und Betrieb. Verbände hatte es freilich im ersten Untersuchungsraum schon gegeben, auch waren durch die Zeitungsdienste Informationen über die Vorgänge im Issue-Feld erhoben worden. Durch die ausdifferenzierten Kommunikationsstrukturen wie sie von den Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen institutionalisiert worden waren, erhielt diese Rezeptionsebene jedoch eine völlig neue Bedeutung und Qualität. Entscheidend ist, dass es vor dem Hintergrund der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung nicht mehr ein notwendiges Übel war, auch Informationen einzuholen, die in der patriarchalischen Deutung als „außerbetrieblich“ illegitimiert waren, sondern dass deren Rezeption nun legitim war. In der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung wurden sie zu einem legitimen Beitrag zur Entscheidungsfindung aufgewertet, ihre Rezeption entsprechend abgesichert. Durch die von den Verbänden und wirtschaftsnahen Organisationen zur Verfügung gestellten Entscheidungshilfen wurde die Notwendigkeit, die verfügbaren Informationen zu Bewerten, außerdem ganz erheblich erleichtert. Sie trugen zur Setzung der legitimen Sprachregelungen bei, sie unterbreiteten Deutungsangebote, welche der Entscheidungsfindung im Unternehmen als Grundlage dienen konnten. Damit hatten die Wissensordnungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft auf einer strukturellen Ebene Auswirkungen darauf, welche Informationen in den Unternehmen über die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ für rezeptionswert erachtet wurden. Die institutionellen Bedingungen Ende des 19. Jahrhunderts waren auf direkte Verhandlungen zugeschnitten, die keine tragfähige Grundlage für die Entscheidungsfindung bieten konnten, angesichts des grundsätzlichen Wandels der Arbeitszeiten, den es zu bewältigen galt. Selbst der daraufhin einsetzende institutionelle Wandel war in erster Linie auf eine Neuordnung der Verhandlungen mit den eigenen Beschäftigten ausgerichtet und sollte helfen, diesen Aushandlungsmodus von Arbeitszeiten aufrechtzuerhalten. Insofern stellte es eine erhebli 232 Vgl. z.B.: Zusammenstellung „Zur 5-Tage-Woche“ und „Zur 40-Stunden-Woche“ der Unternehmerschaft der Industrie am linken Niederrhein; zu denselben Themen vgl. auch: Dossier des „Arbeitsrings der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie“; jew. in: BAL 215/11.5. Ein Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft“ findet sich ebenfalls im Bestand „Personal- und Sozialwesen“, in: BAL 215/11.4. 233 Vgl.: Schreiben Jacobis an die Vorstandsmitglieder vom 14.10.1954; sowie: Beratungsbrief der „Wirtschaftspolitischen Gesellschaft“ vom 8.10.1954; jew. in: BAL 215/11.4.
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che Veränderung dar, dass im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung die Rezeption von Informationen „außerhalb“ des Unternehmens legitim erschien. So unterschieden sich nicht nur die Systematik der Kommunikation und die Dichte der Informationen, die das Unternehmen aus dem Feld erreichten: Auch die Informationen selbst waren bereits für eine Entscheidungsfindung aufbereitet. In ihrer Form, etwa als Aufstellung von „Für“ und „Wider“ oder als konkrete Wertung, war bereits ein erheblicher Teil der Deutungsarbeit geleistet, die weitere Bewertung war außerdem den Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen zugewiesen und damit institutionalisiert worden. Diese garantierten damit sowohl für Aushandlungen im Betrieb wie auch im Issue-Feld, dass die Unternehmensleitungen Informationen erreichten, die bereits entscheidungsfähige Form hatten. Damit erleichterten sie die Rezeption der Anforderung im Vergleich zum Kaiserreich ganz erheblich. Nicht nur im Issue-Feld sondern auch in den Unternehmen selbst prägten die Wissensordnungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft die Wahrnehmung und den Umgang mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken. Mit dem im Issue-Feld so präsenten Bezug auf die Ordnungsvorstellungen bei der Bewertung der Anforderung waren also nicht einfach „Legitimitätsfassaden“ aufgebaut worden, die den Akteuren der Vergewisserung über die Zugehörigkeit zu einer Deutungsgemeinschaft und damit der Integration in einer Situation der Unsicherheit dienen sollten. Vielmehr decken sich die Wahrnehmungen der Arbeitszeitfrage im IssueFeld und in den Betrieben weitgehend, selbst das Ausmaß der Transformation der im Issue-Feld ausgehandelten Deutung im Zuge der Anpassung an die jeweiligen Bedingungen in den Unternehmen war also gering. Schon aufgrund der Tatsache, dass die Ordnungsvorstellungen als Wissensordnungen die Wahrnehmung der Akteure prägten, können sie nicht als rhetorisches Phänomen abgetan werden. Zumal die zwischen den Ordnungsvorstellungen festgestellten Verschiebungen der Referenzen für die Zuweisung von Legitimität keineswegs semantischer Art waren, sondern konkrete Folgen für die Bedingungen der Aushandlung und Bewertung der Anforderung hatten. Vor dem Hintergrund der Ordnungsvorstellungen wurden die Ziele und Maßstäbe der betrieblichen Sozialpolitik formuliert, was sich auch in deren jeweiliger institutioneller Ausrichtung niederschlug. Die zur Organisation von Kooperation geschaffenen und institutionell abgesicherten Bedingungen, weisen in beiden Untersuchungszeiträumen einen nachweisbaren Bezug zu den Idealtypen der Ordnungsvorstellungen auf. Auf diese Weise wirkten sie sich auf die jeweilige Praxis der Aushandlung von Arbeitszeiten ebenso aus, wie sie strukturelle Folgen für die Informationsgrundlagen hatten, auf deren Basis in den Unternehmen Entscheidungen über die Gestaltung von Arbeitszeiten getroffen wurden.
6. FAZIT Idealtypische Konzepte betrieblicher Kooperation, wie sie in den Ordnungsvorstellungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft zum Ausdruck kommen, können nicht als „Ideologie“,1 „Propaganda“2 oder bloße Rhetorik abgetan werden. Sicherlich, derartige Konzepte der Organisation eines konsensualen Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und -nehmer waren Idealtypen. Sie bezogen sich nie auf die Gesamtheit der im Unternehmen Beschäftigten, ebenso wenig wie sie strikte Kontrolle, Machtausübung und zum Teil heftige Konflikte ausschlossen. Nichtsdestotrotz bildeten sie den Hintergrund, vor dem die Unternehmensleitungen von Siemens und Bayer die Arbeitszeitsenkung bewerteten. Der Vergleich zweier wichtiger Phasen der Arbeitszeitsenkung hat gezeigt: Mit den jeweils gültigen Ordnungsvorstellungen unterschieden sich die Wahrnehmungen der Anforderung und die Bedingungen ihrer Aushandlung deutlich. Es gilt diese Ordnungsvorstelllungen daher ernst zu nehmen, sie als Wissensordnungen zu betrachten, welche die Weltsicht der historischen Akteure prägten. Perspektivwechsel in der Geschichte der Arbeitszeiten Aufgrund einer narrativen Verengung der Geschichte der Industriearbeit beziehungsweise der Arbeitsbeziehungen auf den Konflikt, spielte die Frage nach der Bedeutung von Konsens und Kooperation in der Forschung bislang kaum eine Rolle. Dabei ist die Suche nach Konzepten für eine kooperative Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ein fester Bestandteil der Wirtschaftsgeschichte. Gerade die Geschichte der Arbeitszeiten wird üblicherweise beschrieben als fortwährender Kampf der organisierten Arbeiterschaft gegen Arbeitgeberinteressen. Hinweise auf die Bedeutung des Faktors Kooperation gab es durchaus. In der Unternehmensgeschichtsschreibung wurde das Phänomen der Deutung des Unternehmens als einer Form gemeinschaftlich organisierter Kooperation bereits beschrieben, in erster Linie im Rahmen unternehmenskultureller Fragestellungen. Hinweise darauf, dass auch die Verhandlungen um die Gestaltung von Arbeitszeiten in Unternehmen durchaus vom Bemühen um Konsens geprägt waren, ließen es gerechtfertigt erscheinen, die Relevanz von Kooperationskonzepten im konkreten Fall der Aushandlung von Arbeitszeiten zu prüfen und damit die Perspektive zu wechseln. Dabei hat sich der Rückgriff auf zentrale Grundannahmen und Konzepte des soziologischen Neo-Institutionalismus als fruchtbar erwiesen. So konnte die Arbeits 1 2
Kaelble (1967), S. 57. Berghahn (1985), S. 202.
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zeitsenkung als eine Umweltanforderung beschrieben werden, zu der sich die hier untersuchten Unternehmen positionieren mussten. Die Annahme des NeoInstitutionalismus, dass sich unternehmerisches Handeln an Kriterien der Legitimität orientiert – und damit auch der Umgang mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken – ermöglichte es erst, die Frage nach dem Einfluss der patriarchalischen und sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung operationalisieren zu können. Auf der Grundlage des Neo-Institutionalismus konnten die in den Ordnungsvorstellungen angelegten Konzepte idealtypischer betrieblicher Kooperation auf ihre Bedeutung für die Zuweisung von Legitimität befragt werden. In dieser Perspektive wird deutlich, dass sich zwischen patriarchalischer und sozialpartnerschaftlicher Ordnungsvorstellung die Bezugspunkte der betrieblichen Kooperationskonzepte veränderten und damit die Bezugspunkte für die Zuschreibungen von Legitimität. Das patriarchalische Konzept einer am Ideal der Familie ausgerichteten betrieblichen Gemeinschaft machte die Beschäftigten des Unternehmens zur zentralen Referenz unternehmerischen Handelns. Im Rahmen des Kooperationsideals wurde daraus ein besonderes Maß an Loyalität abgeleitet, das den Beschäftigten abverlangt wurde sowie ein unternehmerisches Rollenverständnis, das dem Patriarchen eine Verantwortung „seiner“ Belegschaft gegenüber zuschrieb. Dieses Ideal einer betrieblichen Gemeinschaft blieb auch noch in der frühen Bundesrepublik präsent. Allerdings wurde im Kontext des politischen und wirtschaftlichen Neuanfangs nach 1945, und später im Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden OstWest-Konflikt, die soziale und wirtschaftliche Ordnung insgesamt als Referenz unternehmerischen Handelns erheblich aufgewertet. Das war eine fundamentale Veränderung gegenüber der patriarchalischen Ordnungsvorstellung, die Kooperation ausschließlich auf die betriebliche Gemeinschaft bezog. Demgegenüber lag in der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung eine Ausweitung des Kooperationsideals über den Betrieb hinaus weitaus näher, was sich in der Verschiebung der Verantwortung des Unternehmers widerspiegelte, die ihm nun für die soziale Ordnung insgesamt zugeschrieben wurde. Damit verschoben sich mit der Neugewichtung der Referenzen unternehmerischen Handelns auch die Maßstäbe für die Bewertung seiner Legitimität. Im Vergleich wurde auch die sehr unterschiedliche Dynamik des Umgangs mit der Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich und der frühen Bundesrepublik deutlich. Die Aushandlungen um die Arbeitszeitverkürzung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhundert zeichneten sich durch eine hohe Konfliktintensität aus, sie konnten nicht in einen konsensualen Verhandlungsmodus überführt werden. Auch gelang es nicht, Maßstäbe für die künftige Gestaltung von Arbeitszeiten zu finden, etwa Standards für einen „Normalarbeitstag“ auszuhandeln. Demgegenüber waren die Aushandlungsprozesse um die Senkung von Arbeitszeiten in den 1950er Jahren gekennzeichnet vom Bemühen um Konsens. Mit der 5-Tage- und der 40Stunden-Woche standen bereits Mitte der 1950er Jahre die Maßstäbe der Senkung fest. Sowohl die Konfliktträchtigkeit der Arbeitszeitsenkungen im späten 19., frühen 20. Jahrhundert als auch ihre konsensuale Umsetzung in den 1950er und 1960er Jahren sind mit dem Verweis auf ökonomische Faktoren und politische Rahmenbedingungen nicht erschöpfend zu erklären. Das macht insbesondere die
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Einschätzung der „Arbeitszeitfrage“ in den Unternehmen Siemens und Bayer deutlich. Die Firmenleitungen beider Unternehmen sahen in beiden Zeiträumen das Potenzial zur Senkung und bekundeten auch ihre Bereitschaft zu einer Verkürzung. Im Kontext von Bemühungen zur Rationalisierung der Produktion erschien eine Senkung den Firmenleitungen von Siemens und Bayer im Kaiserreich ökonomisch möglich und außerdem politisch sinnvoll, um sich angesichts erstarkender Gewerkschaften Handlungsspielräume für die Arbeitszeitgestaltung erhalten zu können. Vergleichbar fiel die Einschätzung in den 1950er Jahren aus. Gegenstand der Diskussion waren in erster Linie Zeitpunkte der Verkürzung und Fragen der organisatorischen Umsetzung. Obwohl in beiden Untersuchungszeiträumen also Spielräume zur Senkung der Arbeitszeiten vorhanden waren, unterschied sich die Art der Nutzung dieser Spielräume erheblich. Das lag nicht zuletzt an den institutionellen Bedingungen der Gestaltung und Aushandlung von Arbeitszeiten. Insbesondere das Unternehmen Siemens hatte Ende des 19. Jahrhunderts erhebliche Probleme, verbindliche Institutionen für die systematische Gestaltung von Arbeitszeiten zu finden. Die Arbeitszeitgestaltung war an größtmöglicher Flexibilität ausgerichtet, eine unternehmensweite Standardisierung, wie sie eine langfristige Senkung erforderlich machte, war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts daher gar nicht das Ziel der Arbeitszeitpolitik des Unternehmens gewesen. Gerade der nach wie vor weitgehend willkürliche Einsatz von Überstunden führte daher häufig zu Konflikten. Auch was die Aushandlung von Arbeitszeiten im Unternehmen angeht, befanden sich die institutionellen Bedingungen im Umbruch, die Leistungsfähigkeit neuer Institutionen, wie etwa der Arbeiterausschüsse als Foren zur Kanalisierung der Kommunikation zwischen Firmenleitung und Belegschaft, wurde in der Praxis erst erprobt. Demgegenüber gelang die Verkürzung bei Bayer vollkommen konfliktfrei, begünstigt nicht zuletzt durch den Umstand, dass sich Carl Duisberg für die Entwicklung zentraler Regelungen und vor allem für deren Verbindlichkeit einsetzte. In den 1950er Jahren bestand hingegen mit Tarifvertragsgesetz und Betriebsverfassungsgesetz bereits ein formaler institutioneller Rahmen zur Aushandlung von Arbeitszeiten. Arbeitszeiten durch Flächentarifverträge zu regulieren, war zwar innerhalb der Unternehmerschaft zunächst umstritten, bereits Mitte der 1950er Jahre war dieser Pfad aber festgelegt. Damit waren die Unternehmen im Vergleich zum Kaiserreich in erheblichem Umfang von der Aufgabe entlastet, selbst Institutionen für die Gestaltung der Arbeitszeiten auszuhandeln. Zumal die Regeln, die auf betrieblicher Ebene auszuhandeln waren, etwa über die Lage von Pausen, ein vergleichsweise geringes Konfliktpotenzial besaßen. Dennoch bedingte der auf gesetzlichem Wege geschaffene institutionelle Rahmen noch nicht seine konstruktive Nutzung. Im Vergleich zum Kaiserreich und vor allem der Weimarer Republik fällt die Bereitschaft der Unternehmen Siemens und Bayer auf, innerhalb des vorhandenen Rahmens zu kooperieren. Ein Hinweis darauf, dass neben den institutionellen Bedingungen der Gestaltung und Aushandlung von Arbeitszeiten auch nach der Legitimität dieser Bedingungen gefragt werden muss.
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Handhabung der Arbeitszeitsenkung: auch eine Frage der Situationsdeutung Die Ordnungsvorstellungen waren für die Bewertung der „Arbeitszeitsenkung“ von Bedeutung, da die Unternehmen Siemens und Bayer in beiden Untersuchungszeiträumen in unsicheren Situationen eine Haltung zum Umgang mit der Anforderung zu finden hatten. Die möglichen Handlungsoptionen waren höchst kontrovers. Ende des 19. Jahrhunderts wurden nicht nur sehr unterschiedliche Positionen öffentlich und innerhalb der Unternehmerschaft diskutiert, auch in der Praxis konkurrierten verschiedene Lösungsansätze, die parallel erprobt wurden. Während Siemens und Bayer bemüht waren, die institutionellen Bedingungen für eine Verhandlung von Arbeitszeiten im Unternehmen selbst zu schaffen, schlossen zahlreiche andere Unternehmen bereits Tarifverträge ab. Die Anforderung selbst legte den Umgang mit ihr nicht fest. Er war das Ergebnis eines Interpretationsprozesses in den Unternehmen und innerhalb der Unternehmerschaft. Diese Interpretationsleistung musste auch in den 1950er Jahren erbracht werden. In einer Situation, in der marktwirtschaftliche und politische Ordnung noch keineswegs gefestigt schienen, kam dem Gelingen der Arbeitszeitsenkung eine enorme Bedeutung für die soziale Integration zu. Gleichzeitig waren die politischen Signale über die Handhabung der „Arbeitszeitfrage“ widersprüchlich, auch innerhalb der Unternehmerschaft bestand keine Einigkeit über den Umgang mit ihr. Zwar hatten die Unternehmen Präferenzen hinsichtlich ihrer Ziele im Umgang mit der Anforderung. Die möglichen Handlungsoptionen waren jedoch unsicher, sie mussten zunächst rezipiert und interpretiert werden. In solchen Situationen der Unsicherheit stifteten die Ordnungsvorstellungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft Orientierung. Anders als es die neo-institutionalistische Theorie annimmt, kann daher im Falle der Arbeitszeitsenkung nicht von einer institutionalisierten Umweltanforderung gesprochen werden. Es war eine Deutungsleistung zu erbringen, die zu großen Teilen im Rahmen eines Aushandlungsprozesses innerhalb der Unternehmerschaft erbracht wurde. Im Umgang mit der Frage der Arbeitszeitsenkung agierten Unternehmen nicht frei vom Verhalten anderer. Um sich Orientierung über die Möglichkeiten zur Handhabung der Anforderung zu verschaffen, rezipierten sie das Verhalten anderer Unternehmen, wie auch ihres einer ständigen kritischen Beobachtung unterlag. Damit bewegten sie sich in einem Issue-Felde, innerhalb dessen die Unternehmerschaft auf verschiedenen Wegen zu einer Einschätzung der Situation zu kommen versuchte. Die Issue-Felder in Kaiserreich und Bundesrepublik unterschieden sich jedoch erheblich was die Bedingungen betrifft, unter denen die Bewertung der Anforderung stattfand. Im ersten Untersuchungszeitraum war die direkte, briefliche Korrespondenz zwischen Mitgliedern von Firmenleitungen der gängige Weg, um zu einer Einschätzung der Arbeitszeitfrage zu kommen. Zusätzlich etablierten sich durch Verbände zwar Foren und Netze der Kommunikation. Dennoch blieb der Weg der direkten Kommunikation wichtig, der sich vergleichsweise langwierig und aufwändig gestaltete. Im zweiten Untersuchungszeitraum nahmen Verbände und wirtschaftsnahe Organisationen einen vollkommen neuen Stellenwert im Issue-Feld ein. Sie erbrachten nun einen erheb-
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lichen Teil der nötigen Deutungsleistung und erleichterten damit die Rezeption und Interpretation der Situation. Diese im Issue-Feld erbrachte Situationsdeutung war nicht voraussetzungslos. Angesichts der erheblichen Unsicherheiten, mit denen sich die Unternehmen im Umgang mit der Arbeitszeitsenkung konfrontiert sahen, boten die Ordnungsvorstellungen Bezugspunkte, an denen sich die Diskussionen orientierten. Zentrale Annahmen patriarchalischen Ordnungsdenkens bildeten die unhinterfragte Grundlage des Austauschs über die „Arbeitszeitfrage“, so etwa die Vorstellung des „Herrn-im-Hause“, dem allein die letzte Entscheidung in Sachen Arbeitszeitgestaltung obliegen müsse. Der so deutliche Verweis auf die gemeinsam geteilte Wissensordnung in der Feldkommunikation zeigt auch, dass sie in einer als Umbruch wahrgenommenen Situation der Orientierung letztlich der Selbstvergewisserung der Unternehmerschaft diente. Ähnlich verhielt es sich in den 1950er Jahren. Zu einem Zeitpunkt, als im Zeichen des Gegensatzes zwischen Kapitalismus und Sozialismus ein Aufbrechen von Konflikten um die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen möglich schien, welche aus zeitgenössischer Sicht für die Stabilität der politischen und marktwirtschaftlichen Ordnung bedrohlich werden konnten, wurde die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung von Verbänden wie der BDA als ein Orientierungsangebot entworfen. Die in diesem Kontext entwickelten Topoi, etwa des sozial verantwortlichen Unternehmers, waren ein fester Bestandteil der Thematisierung der Arbeitszeitsenkung im Issue-Feld. Sowohl die patriarchalische als auch die sozialpartnerschaftliche Ordnungsvorstellung bildeten damit zentrale Bezugspunkte für die Thematisierung der Arbeitszeitsenkung im IssueFeld. Das hatte Folgen für ihre Deutung, insbesondere für die Bewertung der als legitim geltenden Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit der Anforderung. Die patriarchalische Ordnungsvorstellung schloss eine Senkung der Arbeitszeiten keineswegs aus. Allerdings beschränkten sich die legitimen Optionen auf eine Aushandlung der Senkung mit der „eigenen“ Belegschaft. Verhandlungen mit Gewerkschaften hingegen hätten vor dem Hintergrund der patriarchalischen Wissensordnung das Selbstverständnis der Unternehmer als „Herren-im-Hause“ in Frage gestellt. Im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Wissensordnung fiel die Bewertung der Arbeitszeitsenkung vollkommen anders aus. Auch hier bestanden keine grundsätzlichen Einwände gegen eine Senkung. Darüber hinaus wurde sie jedoch nicht als ein bedrohliches Szenario interpretiert, sondern als ein Beitrag zum sozialen Fortschritt. Die Senkung der Arbeitszeiten erschien gar als Beitrag zur politischen und wirtschaftlichen Stabilität, für deren Gelingen nun auch den Unternehmern Verantwortung zugeschrieben wurde. Kooperation über das eigene Unternehmen hinaus mit dem „Tarifpartner“ war vor diesem Hintergrund nicht mehr illegitimiert, sondern schien von zentraler Bedeutung. Damit verdichtete sich im Issue-Feld die Deutung der „Arbeitszeitfrage“ auf legitime Möglichkeitsräume des Umgangs mit dieser Anforderung, die sich in Abhängigkeit von den Ordnungsvorstellungen erheblich unterschieden. Erst in der Diskussion im IssueFeld wurden die legitimen Möglichkeiten des Umgangs mit der Anforderung ausgehandelt und damit institutionalisiert.
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Die Ordnungsvorstellungen prägten jedoch nicht nur die Einordnung der Arbeitszeitverkürzung im Issue-Feld. Sie waren mehr als semantische Bezugspunkte, die den Verhandelnden dazu dienten, sich in einer unsicheren Situation der gemeinsamen Grundlagen zu versichern, auf denen zu einer Bewertung der Anforderung zu kommen war. Sie prägten auch in den Unternehmen selbst die Wahrnehmung der Arbeitszeitsenkung und hatten darüber hinaus praktische Folgen für die Organisation von Kooperation in den Unternehmen Siemens und Bayer – und damit für die institutionellen Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten. Sowohl bei Siemens als auch bei Bayer bot im späten 19., frühen 20. Jahrhundert die patriarchalische Ordnungsvorstellung den zentralen Modus zur Thematisierung von Fragen der Arbeitszeitgestaltung. In der Folge galt das Konzept treuer Pflichterfüllung in der betrieblichen Gemeinschaft, eine Gegenleistung für patriarchalisches Wohlwollen, als Grundlage der Regulierung von Arbeitszeiten. Die Thematisierung der Arbeitszeitsenkung in den 1950er und 1960er Jahren entsprach ebenfalls der des Feldes. Die Senkung bewerteten Bayer und Siemens als Beitrag zum sozialen Fortschritt, der nicht grundsätzlich in Frage stand. Vor dem Hintergrund der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung blieb die Gemeinschaft zwar ein wichtiger Bezugspunkt für die Thematisierung der Arbeitszeitsenkung. Allerdings wurde das Konzept einer „treuen“ Belegschaft als Grundlage der Arbeitszeitgestaltung bei Siemens und Bayer zunehmend abgelöst von einer anders gefassten Vorstellung des Verhältnisses zwischen Beschäftigten und Firmenleitung, wie sie im Begriff des „Partners“ zum Ausdruck kam. Im Zeichen der Partnerschaft standen die Arbeiter nicht in einem durch Wohlwohlen und Treue organisiertem Abhängigkeitsverhältnis. Vielmehr kam es in einem auf Freiwilligkeit basierenden Kooperationsverhältnis auf die intrinsische Motivation des Einzelnen an. Darüber hinaus wurde das Konzept gemeinschaftlicher Kooperation nun wesentlich weiter gefasst, da die Arbeitszeitsenkung auch über den Betrieb hinaus, in ihrer gesellschaftlichen Dimension, thematisiert wurde. Sowohl im Feld als auch in den Unternehmen Siemens und Bayer war der Bezug auf die Ordnungsvorstellungen eine Vermittlungsstrategie. Sie bildeten Sinn und damit Gemeinschaft stiftende Ideale. Sie schlossen Kontrollen, harte Sanktionen und auch Konflikte nicht aus. Aber mit ihnen wurde die Notwendigkeit der Organisation von Kooperation begründet, also die Schaffung von Institutionen. Dazu ist die symbolische Inszenierung von Gemeinschaft ebenso zu zählen, wie betriebliche Sozialeinrichtungen oder Posten wie die des Sozialsekretärs, deren Schaffung und Ausrichtung mit dem patriarchalischen Ideal einer auf Treue und patriarchalischem Wohlwollen basierenden Gemeinschaft begründet wurde. Insofern hatten die Ordnungsvorstellungen konkrete institutionelle Auswirkungen. Vor dem Hintergrund sozialpartnerschaftlichen Ordnungsdenkens erhielt das Gemeinschaftsideal auch institutionell eine neue Ausprägung. Instrumente wie die „Meister-Arbeitsgemeinschaften“ entstanden im Kontext einer sozialpartnerschaftlichen Neubewertung des Beschäftigten als „Partner“. Im Zuge dessen wurde das Treue-Konzept ersetzt durch das einer intrinsischen Motivation von Individuen, die institutionell abzusichern nun notwendig erschien. Die Kooperationskonzepte mögen in der Praxis zwar häufig Idealtypen geblieben sein; sie waren
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jedoch die Maßstäbe für die Formulierung der Ziele betrieblicher Sozialpolitik und prägten somit die institutionelle Ausprägung ihrer Instrumente. Folgen der Ordnungsvorstellungen für Rezeptionsbedingungen und Bewertung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ Das hatte Folgen für die Organisation von Kommunikation in den Unternehmen Siemens und Bayer und damit für die institutionellen Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten. Im späten 19. Jahrhundert war die Kommunikation auf die eigene Belegschaft zugeschnitten, die dem patriarchalischen Ideal zufolge die einzig legitime Referenzgruppe für die Aushandlung von Arbeitszeiten darstellte. In ihrer Form entsprach die Kommunikation dem Konzept des ansprechbaren Patriarchen, so dass direkte und persönliche Kommunikationsbeziehungen einen ihrer wesentlichen Bestandteile bildeten. Bei Siemens wurden Ende des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage von Petitionen und Unterschriftenlisten weitreichende Entscheidungen getroffen, etwa über die probeweise Einführung des Achtstundentages. In den 1950er und 1960er Jahren waren die Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten durch das Betriebsverfassungsgesetz geregelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Frage nach dem Einfluss der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung erübrigt hätte. Sie war es vielmehr, die dieses Verhandlungssystem legitim erscheinen ließ. Es lag daher nahe, Institutionen zu schaffen, welche die konsensuale Nutzung dieses Verhandlungsrahmens garantieren sollten. Die Zuständigkeit dafür wurde an die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen delegiert. Sie trugen erheblich dazu bei, potentielle Konflikte zu entschärfen, etwa indem sie zwischen Firmenleitung und Beschäftigten vermittelten. Diese aufgrund der Ordnungsvorstellungen recht unterschiedlich ausgeprägten Kommunikationsbeziehungen hatten Folgen für die Aushandlung der Arbeitszeitsenkung. Im ersten Untersuchungszeitraum erschwerte die Fokussierung auf direkte Formen der Kommunikation zwischen Firmenleitung und Beschäftigten die Rezeption der Anforderung ganz erheblich. Die Informationen, welche die Firmenleitungen auf diesem Wege erreichten, waren fragmentarisch oder gar widersprüchlich. Sie boten keine tragfähige Grundlage, um Entscheidungen über den Einzelfall hinaus zu treffen, waren also ungeeignet, um einen so grundlegenden Wandel wie die Organisation langfristig sinkender Arbeitszeiten zu bewältigen. Aus diesem Grund systematisierten Siemens und Bayer Anfang des 20. Jahrhunderts die Kommunikation mit den Beschäftigten. Durch Institutionen, wie sie etwa mit den Arbeiterausschüssen geschaffen wurden, kehrte sich die Verteilung der Informationslasten um: Nun lag es an den Vertretern der Beschäftigten, die Meinung der Belegschaft zu erheben und zu einer verhandlungsfähigen Position zu bündeln. In der frühen Bundesrepublik war dieses Prinzip durch die Betriebsräte institutionalisiert. Darüber hinaus garantierten die Personal- beziehungsweise Sozialabteilungen den Informationsfluss über die Anforderung – nicht nur mit den Beschäftigten, sondern nun auch mit dem Issue-Feld, in dem die Verbände nun einen erheblichen Teil der Deutungsleistung erbrachten. Erst vor dem Hintergrund der sozial-
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partnerschaftlichen Ordnungsvorstellung war die Rezeption dieser „externen“ Informationen legitim geworden und erschien relevant. Entscheidend ist, dass die Personal- und Sozialabteilungen Informationen aus Issue-Feld und Unternehmen bündelten, die in ihrer Form bereits entscheidungsfähig waren. Damit erleichterten sie die Rezeption der Anforderung im Vergleich zum Kaiserreich ganz erheblich. Durch ihre Auswirkungen auf die institutionellen Bedingungen der Organisation von Kommunikation beeinflussten die Ordnungsvorstellungen daher sogar die Auswahl und Verfügbarkeit der Informationen, auf deren Grundlage in den Unternehmen Entscheidungen über die Arbeitszeitgestaltung getroffen wurden. Der Blick auf die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen leistet einen Beitrag zum Verständnis der sehr unterschiedlichen Dynamik der Arbeitszeitsenkung im späten 19., frühen 20. Jahrhundert und den 1950er und 1960er Jahren. Durch diese Vorgehensweise erscheint die Geschichte der Arbeitszeitsenkung nicht als eine stringente Entwicklung institutionellen Lernens, derzufolge die konsensualen Arbeitszeitsenkungen in der Bundesrepublik auf „verbesserte“ institutionelle Rahmenbedingungen innerhalb wie außerhalb der Unternehmen zurückführen wären. Stattdessen rückt diese Perspektive die spezifischen Dynamiken in den Vordergrund, die den Situationsdeutungen der historischen Akteure entsprangen. Sie erst erklären die Tendenzen zu einer konsensualen beziehungsweise konfliktintensiven Nutzung dieser Rahmenbedingungen. Aufgrund des historiographischen Konflikt-Narrativs wurden diese unterschiedlichen Dynamiken bislang nicht vergleichend thematisiert und erschienen daher gar nicht erklärungsbedürftig. Verknüpft man jedoch die Frage nach der Konfliktintensität der Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich mit der nach den herrschenden Vorstellungen von der legitimen Organisation eines Unternehmens, ergeben sich neue Antworten abseits schematischer ökonomischer oder Klassen-orientierter Logiken. Vor dem Hintergrund der patriarchalisch-idealtypischen Praxis der Arbeitszeitgestaltung beschränkte sich die Rezeption der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ Ende des 19. Jahrhunderts auf fragmentarische, unsystematisch erhobene Informationen. Das erschwerte eine Entscheidungsfindung, die Unsicherheit über die Handlungsoptionen im Umgang mit der Anforderung war hoch. Selbst als ein institutioneller Wandel der Aushandlungsbedingungen von Arbeitszeiten Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzte, fokussierte dieser vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung auf die Aushandlung mit der eigenen Belegschaft, während „außerbetriebliche“ Akteure und Informationen strukturell vernachlässigt wurden. Dieser Umstand, gepaart mit der patriarchalisch geprägten Deutung der Anforderung, leistet einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Konfliktintensität der Verhandlungen angesichts vorhandener Spielräume zur Senkung von Arbeitszeiten. Vor dem Hintergrund des patriarchalischen Kooperationsideals erschien es als einzig legitime Variante, die Verhandlungen um die Senkung der Arbeitszeit innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft zu führen. Die dafür notwendigen Kommunikationsstrukturen wurden reformiert, während es zur Aufrechterhaltung desselben Kooperationsideals nahe lag, den Konflikt mit den Gewerkschaften auszufechten, um sie von den Verhandlungen auszuschließen.
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Demgegenüber erleichterten die Kriterien zur Bemessung legitimen Verhaltens im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung sowohl den konstruktiven Umgang mit den durch Tarifvertragsgesetz und Mitbestimmungsrecht geschaffenen institutionellen Bedingungen der Aushandlung von Arbeitszeiten, als auch die rasche Rezeption und Bewertung der Anforderung. Das erweiterte Kooperationskonzept der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung legte es deutlich näher, die Verhandlungen über die Arbeitszeitsenkung nicht auf die betriebliche Gemeinschaft zu beschränken, da die wirtschaftliche und politische Ordnung als Referenz unternehmerischen Handelns erheblich aufgewertet wurde. Der in diesem Fall gegebene institutionelle Rahmen konnte also auch deshalb konstruktiv genutzt werden, weil er für legitim erachtet wurde. Dazu kam, dass die Unsicherheit über den Umgang mit der Anforderung in den 1950er Jahren auch aufgrund des institutionellen Zuschnitts der betrieblichen Kommunikation bereits nach kurzer Zeit erheblich reduziert werden konnte. Die Ordnungsvorstellung ließ es nun legitim erscheinen, die Bewertung der Arbeitszeitfrage „außerbetrieblich“ zu organisieren und in erheblichem Umfang an Feldakteure abzugeben. Auf institutionell gesicherten Wegen erreichten die Firmenleitungen von Siemens und Bayer nun Informationen, die noch im ersten Untersuchungszeitraum strukturell ausgeblendet worden waren. Einen Beitrag zu Konflikt wie Konsens in Sachen Arbeitszeitsenkung leisteten daher nicht zuletzt unterschiedliche Kooperationsideale. Der lange Weg zur Historisierung des Unternehmens Diese Ergebnisse sind freilich zum Teil nur bedingt über die Unternehmen Siemens und Bayer hinaus verallgemeinerbar. Derart große Unternehmen hatten Spielräume zur Senkung von Arbeitszeiten und konnten auf Ressourcen zur Gestaltung der Sozialbeziehungen zurückgreifen, die mit denen anderer Firmen oder gar Branchen kaum vergleichbar sind. Das Unternehmen Bayer gehörte in den 1950er Jahren zur „Avantgarde“ was die Personal- und Sozialpolitik anging.3 Der hier beobachtete Einfluss der sozialpartnerschaftlichen Ordnungsvorstellung zeugt daher nicht von sich rasch und allgemein ändernden Vorstellungen betrieblicher Ordnung in den 1950er und 1960er Jahren. Dennoch markiert er eine einsetzende Veränderung des Nachdenkens über die soziale Ordnung des Betriebes und das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft, auch wenn sich diese erst viel später auf einer breiteren Basis in der betrieblichen Praxis bemerkbar gemacht haben mag. Zumal die Bewertung der „Arbeitszeitfrage“ im Issue-Feld deutlich gemacht hat, dass Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft weit über die Unternehmen Siemens und Bayer hinaus zentrale Bezugspunkte für die Bewertung der Arbeitszeitsenkung darstellten. Unabhängig von der Frage nach der Allgemeingültigkeit 3
Rosenberger (2008), S. 265.
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der hier beispielhaft untersuchten Relevanz kooperativer Ordnungsvorstellungen ist entscheidend: Die in Unternehmen geteilten Wissensordnungen Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft zeitigten konkrete Wirkung. Die Konfliktintensität der Verhandlungen um die Senkung von Arbeitszeiten im Kaiserreich war ebenso wenig zwangsläufig, wie die konsensuale Nutzung der vorhandenen Spielräume in der frühen Bundesrepublik. Diese unterschiedlichen Dynamiken der Arbeitszeitsenkung waren nicht einfach das Ergebnis der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung. Eine positive Wirtschaftsentwicklung, wie sie häufig als Ursache der raschen Arbeitszeitsenkung in der frühen Bundesrepublik genannt wird, gab es schließlich auch während der Hochindustrialisierung. Auch Ende des 19. Jahrhunderts stieg im Zuge des Aufschwungs die Nachfrage nach Arbeitskräften und verfügte eine differenzierte Arbeiterschaft aufgrund ihrer Qualifikationen über eine verhältnismäßig gute Verhandlungsposition.4 Vor dem Hintergrund der vergleichenden Perspektive zeigt sich, dass strukturelle ökonomische und politische Bedingungen nur einen Teil der Arbeitszeitdynamiken zu erklären vermögen. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage der Legitimität der jeweils vorzufindenden Bedingungen, die nur über die Wahrnehmung der Akteure erschlossen werden kann. Schon das Beispiel der Krise der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik belegt eindrücklich, dass aus einem vorhandenen gesetzlichen Regelwerk noch lange nicht auf dessen produktive Nutzung zu schließen ist, solange es von Seiten der Unternehmerschaft für illegitim erachtet wird. Mit der hier gewählten Methode des Vergleichs konnte gezeigt werden, dass es eine Rolle spielt, vor dem Hintergrund welcher Wissensordnungen Unternehmen agieren. Daher können die etwa von der BDA entworfenen Orientierungsangebote nicht einfach als „sozialpartnerschaftliche Propaganda“ abgetan werden, mit der die Gewerkschaften ruhig gestellt werden sollten.5 Nimmt man die Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung der Situation ernst, müssen derartige Ordnungsvorstellungen als ein erklärender Faktor Berücksichtigung finden. Die Ordnungsvorstellungen beeinflussten jedoch nicht nur die Wahrnehmung der Anforderung und die im Umgang mit ihr jeweils in Betracht gezogenen Handlungsoptionen. Sie erklären auch erst den spezifischen institutionellen Zuschnitt der in den Unternehmen etablierten Bedingungen für die Aushandlung von Arbeitszeiten, der in seinen jeweiligen Ausprägungen erst vor dem Hintergrund der Ordnungsvorstellungen sinnhaft erscheint. Gegenüber den „hard-facts“, etwa konjunkturellen und politischen Bedingungen, spielt die Frage nach der Rezeption und der Wahrnehmung dieser Bedingungen durch Unternehmen in der Unternehmensgeschichte noch immer eine untergeordnete Rolle. Auch die neoinstitutionalistische Organisationstheorie geht ja von institutionalisierten Anforderungen aus. Dabei zeigt die Arbeitszeitsenkung, dass sich die Bewertung einer ähnlichen Anforderung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wissensordnungen erheblich unterscheiden konnte. Erst innerhalb eines Interpretationsprozesses 4 5
Vgl.: Plumpe (2006), S. 398. Berghahn (1985), S. 202.
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6. Fazit
wurden die legitimen Möglichkeiten des Umgangs mit der Anforderung festgelegt, und damit die im Sinne einer Regel notwendige Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ getroffen. In Bezug auf die Institutionentheorie wirft dieser Befund daher ein neues Licht auf den Begriff der „Umwelt“. Sie kann vor dem Hintergrund dieser Befunde nicht als eine monolithische Gegebenheit betrachtet werden, von der klar zu benennende Anforderungen ausgehen. Vielmehr muss die Umwelt eines Unternehmens als Ergebnis einer Interpretationsleistung in den Blick genommen werden. Diese Sichtweise birgt – über die Institutionentheorie hinaus – auch unternehmensgeschichtliches Potenzial: Nach wie vor besteht gerade in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte die Aufgabe, das Unternehmen radikal zu historisieren. Den Wissensordnungen der Akteure einen erklärenden Stellenwert zuzumessen erscheint als ein fruchtbarer Schritt in diese Richtung. Der Perspektivwechsel hat sich auch als lohnenswert erwiesen, um mit festgefügten Narrativen der Arbeitszeitgeschichte zu brechen und neue Fragestellungen zu finden. Allein die unternehmensgeschichtliche Perspektive auf Arbeitszeiten weckt Zweifel an bisherigen Zugängen, die sich vor allem an durchschnittlichen Arbeitszeiten orientieren, um davon ausgehend „Trends“ der historischen Arbeitszeitentwicklung abzuleiten. Abgesehen vom grundsätzlichen Wandel von der extensiven zur intensiven Nutzung der Arbeitszeiten – der auch nicht auf alle Branchen übertragbar ist – scheint das Kennzeichen der Arbeitszeitentwicklung keineswegs ein bestimmter Trend, etwa zur Verkürzung, zu sein, sondern gerade ihre Flexibilität. Arbeitszeiten unterschieden sich nicht nur regional, sondern auch branchenspezifisch ganz erheblich. Selbst innerhalb eines Unternehmens hatten Angestellte und Arbeiter meist nicht dieselben Arbeitszeiten, ebenso wenig wie die Arbeiter der Normal- und Wechselschicht, deren Arbeitszeit sich wiederum von derjenigen der Akkordarbeiter unterscheiden konnte. Der Abschluss von Flächentarifverträgen führte zwar zu einer Angleichung, ohne jedoch diese Unterschiede zwangsläufig aufzuheben. Zumal die tarifvertraglich vereinbarten Grenzen der Arbeitszeit je nach Branche mit deutlichen zeitlichen Unterschieden in Kraft traten.6 Anstatt über die Nivellierung von Arbeitszeiten Aussagen über ihre Entwicklung zu treffen und damit extreme quantitative und zeitliche Unterschiede zu vernachlässigen, scheint es daher sinnvoller, ihre grundsätzliche Flexibilität und Wandelbarkeit zum Gegenstand zu machen. Dann erübrigt es sich, aus den – charakteristischerweise immer unterschiedlichen – Arbeitszeiten selbst ihre Entwicklung abzuleiten und es öffnet sich der Blick für die produktivere Frage, wie sich die gesellschaftlichen Vorstellungen der Nutzung von Arbeitszeit änderten. Davon ausgehend wäre dann etwa zu fragen, weshalb flexible oder stärker regulierte Arbeitszeiten zu verschiedenen Zeiten legitim erschienen. 6
Zwar hatte sich die 40-Stunden-Woche bereits 1956 mit dem Abschluss des Bremer Abkommens als Maßstab der Arbeitszeitsenkung etabliert. Noch 1973 galt eine tarifvertraglich festgelegte Wochenarbeitszeit jedoch nur für rd. 71% der Beschäftigten. Ein Jahr später allerdings schon für rd. 91%. Vgl.: Scharf (1987), S. 638f.
6. Fazit
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„Kooperation statt Klassenkampf“ – eine tragfähige wirtschaftshistorische Perspektive? Gefragt war nicht nur nach der Relevanz von Wissensordnungen und ihren Folgen für die Bewertung und Aushandlung von Arbeitszeiten, sondern nach der Bedeutung kooperativer Konzepte betrieblicher Ordnung. Als wie tragfähig ist diese Perspektive abschließend zu bewerten? Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass es sich bei den in Patriarchalismus und Sozialpartnerschaft angelegten Konzepten für eine kooperative Gestaltung der Sozialbeziehungen um Idealtypen handelte, die in erster Linie im Hinblick auf eine Stammarbeiterschaft entworfen waren und strikte Machtausübung nicht ausschlossen. Aber erstens hatten sie konkrete Folgen für Ziele und Gestalt betrieblicher Sozialbeziehungen. Zweitens verweist allein ihre Präsenz und Wirkmacht auf die Bedeutung von Vertrauen beziehungsweise freiwilliger Kooperationsbereitschaft in schwer zu kontrollierenden Bereichen der Organisation von Arbeit. Und drittens trägt das Wissen um ihre Bedeutung für die Wahrnehmung betrieblicher Sozialbeziehungen zum besseren Verständnis des Betriebes als eines sozialen Raumes bei, etwa indem sie die Konfliktträchtigkeit der Arbeitszeitorganisation des Kaiserreichs zu erklären hilft. Bei der Regulierung der betrieblichen Sozialbeziehungen kam den Kooperationsidealen Vermittlungsfunktion zu. Das Ideal der Kooperation in einer Gemeinschaft wurde als Mittel der sozialen Integration eingesetzt, etwa um eine Entscheidung zu legitimieren, indem ihr durch diese Einbettung ein Sinn verliehen wurde. Bislang wurde das Phänomen betrieblicher Kooperationsideale nur als Einzelphänomen betrachtet, meist im Zusammenhang mit der Frage nach spezifischen Unternehmenskulturen. Allerdings weist der Vergleich von Bayer und Siemens eher auf die signifikante Ähnlichkeit des jeweils herrschenden Verständnisses von der Ordnung des Unternehmens hin, und das in verschiedenen Zeiträumen. Es stellt sich daher die Frage, wie sinnvoll es ist, nach den Verschiedenheiten scheinbar spezieller „Unternehmenskulturen“ zu fragen, was bereits im Kaiserreich zur Diagnose zahlreicher verschiedener Abstufungen des „Patriarchalismus“ geführt hat, obwohl doch gerade die übergreifende Präsenz dieser Ordnungsvorstellung bemerkenswert erscheint. Das Konzept der Unternehmenskultur hat sicherlich seine Berechtigung, um Unterschiede und Besonderheiten im Agieren zwischen einzelnen Unternehmen zu erklären, gerade in Bezug auf die Frage nach der Wahrnehmung von Firmenleitung und Beschäftigten. Die Ähnlichkeiten der bei Siemens und Bayer und auch im Issue-Feld so präsenten Ordnungsvorstellungen lassen aber darüber hinaus die Frage nach der überbetrieblichen Relevanz kooperativer Ordnungskonzepte wichtig erscheinen. Sie kann dazu beitragen, vermeintliche Besonderheiten der Unternehmensorganisation zu relativieren und setzt darüber hinaus ein Gegengewicht zur der häufig von den Unternehmen selbst kolportierten Vorstellungen einer in besonderer Weise kooperativen „Unternehmenskultur“. Die Bedeutung idealtypischer kooperativer Ordnungsentwürfe konnte an dieser Stelle für zwei Unternehmen am Beispiel der Arbeitszeitsenkung nachgewiesen werden. Diese Perspektive gilt es noch zu erweitern, könnte doch die Geschichte der Arbeitsbeziehungen, aber auch von Wirtschaftsordnungen, davon
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6. Fazit
profitieren. Gerade in Bezug auf die häufig stark an Konflikten orientierte Gewerkschaftsgeschichte böte die systematische Frage nach Kooperation eine zusätzliche Erklärungsdimension. Schließlich lässt sich gewerkschaftliches Handeln nicht auf Arbeitskämpfe reduzieren, war doch die Suche nach Ausgleich, nach Konsens ein wichtiger Bestandteil ihres Handelns. Das Bild aggressiv agierender Arbeitnehmerverbände ist nicht zuletzt ein Bild, das die Arbeitgeber von ihnen zeichneten, wie diese Untersuchung zeigt. Darüber hinaus läge in der Untersuchung wirtschaftlicher Kooperation-Konzepte beispielsweise die Möglichkeit einer Neubewertung der für die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte so zentralen Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“. Hilfreich wäre es in diesem Fall allein schon, konkrete Kooperationsbeziehungen von idealtypischen zu trennen, schließlich wird die „Soziale Marktwirtschaft“ häufig als Wirtschaftsordnung missverstanden, anstatt als idealtypisches Ordnungskonzept behandelt zu werden.7 Dennoch konnte dieses Konzept erhebliche integrative Kraft entfalten, die weit über die Zeit der „alten“ Bundesrepublik hinausreichte. Es gilt also, die Reichweite kooperativer Entwürfe wirtschaftlicher Ordnung auch über das Unternehmen hinaus zu bestimmen. Denn die Frage, wie sich wirtschaftliche Beziehungen auf kooperative Weise organisieren lassen, stellte und stellt sich ständig neu.
7
Spoerer (2007), S. 28f.
7. ANHANG 7.1 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AfS AJSoc BACZ BASF UA BAL BDA BDI BJS DGB GBR GG JEconH JbWG P&P PVS SAA SDTB, HA S.&H. Sowi SozPol SSW TDC WestF ZAG ZfS ZBL ZP ZUG
Archiv für Sozialgeschichte American Journal of Sociology Betriebsarchiv Carl Zeiss BASF Unternehmensarchiv Bayer-Archiv Leverkusen Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie British Journal of Sociology Deutscher Gewerkschaftsbund Gesamtbetriebsrat Geschichte und Gesellschaft Journal of Economic History Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Past and Present Politische Vierteljahresschrift Siemens Akten-Archiv Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Historisches Archiv Siemens & Halske Sozialwissenschaftliche Informationen Sozialpolitische Abteilung (Siemens) Siemens-Schuckertwerke Technische Direktions-Conferenz (Bayer) Westfälische Forschungen Zentralarbeitsgemeinschaft Zeitschrift für Soziologie Zentrale Berliner Leitung (Siemens) Zentral-Personalverwaltung (Siemens) Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
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7. Anhang
7.2 QUELLENVERZEICHNIS Archivquellen Bayer-Archiv Leverkusen Unser Werk. Werkzeitschrift der Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft, Ausgabe: Nr. 7, 1959; Nr. 5, 1963. BAL 10/8.2. Handbuch für die Arbeiter der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. 1912. BAL 10/8.4 Handbuch für die kaufmännischen Beamten der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. 1911. BAL 13/4 Betriebsführerkonferenzen in Leverkusen, Vol. 1, 1906–1927. BAL 59/55 Fabrikkontor-Ausschuss / Sozialpolit. Ausschuss, 1942–1970. BAL 59/247 Arbeitszeit, 1929–1972. BAL 59/382 Fünf-Tage-Woche, 1954–1960. BAL 210/1 Vol.1 Menschenführung im Betrieb, 1907–1960; Vol. 2, Menschenführung im Betrieb, 1961–1984. BAL 212/1 Arbeiterangelegenheiten, Allgemeines, 1907–1937. BAL 214/6 Sitzungsprotokolle des Fabrikkontorausschusses, Vol. 5, 1951–1956. BAL 215/1 Tarifverträge für gewerbliche Arbeitnehmer, Vol. 2, 1908–1987. BAL 215/11 Arbeitszeitregelungen bei Bayer, Vol. 1, reguläre Arbeitszeit, 5-Tage Woche 1903– 1986; Vol. 2, reguläre Arbeitszeit, 5-Tage-Woche, 1956–1979. BAL 215/11.1 Arbeitszeitregelungen bei Bayer 1919–1982. BAL 215/11.4 Arbeitszeitregelungen bei Bayer, Vol. 1, Einführung der 40-h-Woche, 1947–1955; Vol. 2, Arbeitszeitregelungen bei Bayer, 1955–1963. BAL 215/11.5 Einführung der 40-Stunden-Woche, 1952-1955. BAL 221/3 Vol. 1, Jahresberichte der Wohlfahrtsabt. bzw. der Sozialabteilung, 1905–1912. BAL 329/737 Meisterarbeitsgemeinschaft 1954–1970.
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7. Anhang
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Unternehmensarchiv BASF 1 BASF UA C 651/1 Soziale Entwicklung, 1906–1919 (Altsignatur). BASF UA C 631/1 Soziale Entwicklung (Altsignatur). BASF UA C 631 unverzeichneter Aktenbestand (Altklassifikation).
Unternehmensarchiv Carl Zeiss Jena BACZ 22 Abstimmung der Belegschaft über 8-Stunden-Tag am 15.03.1900 – Einführung des 8Stunden-Tages am 29.03.1900, 15.03.1900–29.03.1900. BACZ 23 Verhandlung über Einführung des 8-Stunden-Tages, Betriebsversammlung im „Lindenhof" mit der Hauptrede von Prof. Dr. Abbe und Ergänzungen von Dr. Czapski, 12.03.1900. BACZ 248 Lehrlingsausbildung: Grundsatzfragen, 1895–1902. BACZ 263 Bekanntmachungen der Geschäftsleitung, 1906–1911. BACZ 321 Ergebnisse der Einführung des 8-Stunden-Tages. Handschriftliches von Abbe zur Arbeitszeit 1891 und 1900, 1900–1925. BACZ 325 Zeitungsausschnitte und Druckschriften zum Achtstundentag und zur Arbeitszeit, 1901–1930. BACZ 10138 Streik und Aussperrung, 1905–1913. BACZ 12664 Briefwechsel Fischer mit dem Reichstagsabgeordneten Dr. Porzig betr. 8-StundenTag, 12.01.1905–14.01.1905. BACZ 13419 Schriftwechsel des Geschäftsführers Dr. Czapski mit Prof. Dr. A. Raps von der Siemens & Halske AG in Berlin über den gegenseitigen Austausch von Mitteilungen über Arbeiterfragen, insbesondere Löhne, 01.11.1906–01.01.1907.
1
Die Bestände des BASF-Unternehmensarchivs wurden nach den für diese Arbeit durchgeführten Recherchen neu verzeichnet. Daher können an dieser Stelle nur die Altsignaturen angegeben werden.
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7. Anhang
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7. Anhang
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Warum gestaltete sich die Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich äußerst konfliktintensiv und langwierig, während sie in den 1950er und 1960er Jahren rasch und fast völlig konfliktfrei umgesetzt werden konnte? Der Vergleich dieser zentralen Phasen der Arbeitszeitsenkung in Deutschland zeigt, dass dafür keineswegs allein unterschiedliche ökonomische oder politische Bedingungen ausschlaggebend waren. In einer unternehmensgeschichtlichen Perspektive wird vielmehr deutlich, dass Firmenleitungen die „Arbeitszeitfrage“ jeweils vollkommen anders bewerteten. Ausschlaggebend dafür waren unterschiedliche Vorstellungen des Unternehmens: Dem Patriarchalismus des
Kaiserreichs stand mit der Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik ein stark verändertes Verständnis von Unternehmen und Unternehmern gegenüber. In beiden Fällen handelte es sich jedoch um idealtypische Leitbilder für eine kooperative Organisation von Arbeit. Am Beispiel der Unternehmen Siemens und Bayer arbeitet Albrecht Franz die Bedeutung dieser Kooperations-Ideale für die Arbeitszeitsenkung heraus. Damit markiert diese Studie nicht nur einen Perspektivenwechsel in der Arbeitszeitgeschichte, sondern bricht auch mit dem KonfliktNarrativ in der Geschichte industrieller Beziehungen.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10818-8
9
7 83 5 1 5 1 08 1 88