Das Unternehmen ‘Empirische Sozialforschung‘: Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland [Reprint 2014 ed.] 9783486596274, 9783486568141

Für die Etablierung der Sozialwissenschaften an den westdeutschen Hochschulen spielten neue, "amerikanische" F

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German Pages 517 [520] Year 2004

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Das Unternehmen ‘Empirische Sozialforschung‘: Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland [Reprint 2014 ed.]
 9783486596274, 9783486568141

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Weischer Das Unternehmen •

.Empirische Sozialforschung'

Ordnungssysteme Studien

zur

Ideengeschichte der Neuzeit

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 14

R.

Oldenbourg Verlag München

2004

Christoph Weischer

Das Unternehmen

;Empirische

Sozialforschung' Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland

R.

Oldenbourg Verlag München 2004

Gedruckt mit Unterstützung des der VG Wort

Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2004 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet:

http://www.oldenbourg-verlag.de

Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH., Bad Langensalza ISBN 3-486-56814-0

Inhalt A. Das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< Einleitung 1 I. Die Tagung >Empirische Sozialforschung< 1951 2 1. Hintergrund der Tagung 2 4 2. Teilnehmer und Referenten 3. Das Credo 4 4. Stellungen und Stellungnahmen zur empirischen Sozialforschung 5 5 a) Die Vertreter der Sozialwissenschaften 9 b) Die Vertreter der Meinungsforschung 10 c) Die Vertreter der Marktforschung 11 d) Die Vertreter der amtlichen Statistik 5. Praktiken der empirischen Sozialforschung 12 14 6. Das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< II. Die Analyse des Unternehmens >Empirische Sozialforschung< 18 1. Die Analyse von Feldern 20 2. Paradigmen, Denkstile, Leitbilder 23 35 3. Entwicklungsphasen der empirischen Sozialforschung -

B. Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965) 37 I. Zur Situation der empirischen Sozialforschung nach dem zweiten 37 Weltkrieg 1. Der Entwicklungsstand der empirischen Sozialforschung: 37 Praktiken, Institutionen und Diskurse 39 a) Institutionelle Entwicklung Leitbilder 40 b) empirischer Sozialforschung 41 c) Methodische Entwicklung 2. Amerikanische Einflüsse 44 der 44 amerikanischen a) Spezifika Entwicklung Die zwischen amerikanischer und deutscher b) Beziehungen 49 Soziologie und Sozialforschung 3. Kontinuität und Neuanfang der empirischen Sozialforschung 52 a) Die Entwicklung der Produktions- und Verwendungskontexte 52 54 b) Kontinuität oder Neuanfang II. Institutionen der empirischen Sozialforschung 58 1. Empirische Sozialforschung an hochschulnahen und hochschulfreien Forschungsinstituten 60 63 a) Sozialforschungsstelle Dortmund b) Das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften 74 81 c) Das Institut für Sozialforschung 91 d) Sozialforschung in Köln e) Spezifika und Entwicklungsprobleme der Forschungsinstitute 95

Inhalt

VI

2. Die

Etablierung von Soziologie und Sozialforschung

an

den

wissenschaftlichen Hochschulen a) Auseinandersetzungen um die Professionalisierung der

b) c) d) e) f)

Soziologie

Entwicklung der Lehre >Schulen< in der Nachkriegssoziologie Sozialforschung an den Hochschulen

Die frühen Sozialforscher und Sozialforscherinnen Sozialforschung und Soziologie 3. Die Entwicklung der Markt und Meinungsforschung a) Institutionalisierung der Markt- und Meinungsforschung b) Die Arbeit der Markt und Meinungsforschungsinstitute c) Methoden der Markt und Meinungsforschung d) Markt und Meinungsforschung und Empirische

97 101 106 108 113 117 128 130 133 136 138

143 Sozialforschung 4. Die Amtliche Statistik und die >Statistiker< 146 148 a) Organisation und Entwicklung der amtlichen Statistik 159 b) Zwischen Substanz und Formalwissenschaft 161 c) Die Sorge um die statistische Ausbildung 163 d) Das Selbstverständnis der >Statistiker< 170 e) Soziologie, empirische Sozialforschung und >Statistik< III. Methoden und Methodendiskurse in der Sozialforschung 173 1. Darstellungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung 177 178 a) Handbücher, Einführungen und Lehrbücher Zeitschriften 185 und b) Buchveröffentlichungen an 187 Hochschulen c) Lehrveranstaltungen Die Rolle der wissenschaftlichen Gesellschaften 189 d) 2. Die Etablierung des Methodendiskurses und die Auseinanderset190 zungen um die >legitime< Methode der Sozialforschung IV. Bilder und Leitbilder der empirischen Sozialforschung 201 1. Bilder der Markt und Meinungsforschung 201 2. Der Amerikanisierungsdiskurs 206 3. Leitbilder empirischer Sozialforschung 211 a) Empirische Sozialforschung als Fundament einer wissenschaftlichen und akademisch institutionalisierten Soziologie 213 b) Sozialforschung als Schlüssel zu einem wissenschaftlich fundierten Projekt der Sozialreform, Gesellschaftskritik und 216 -Veränderung 219 als c) Sozialforschung Sozialtechnologie V. Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< 223

Inhalt

C Die >Große Zeit< der empirischen Sozialforschung (1965-1980) I. Sozialwissenschaften im >Boom< a) Sozialwissenschaftliche Expertise zur Planung und Steuerung b) Die >Soziologisierung< der Diskurse II. Die Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung an den Hochschulen 1. Die Entwicklung der Soziologie 2. Die Aufwertung der empirischen Sozialforschung 3. Auseinandersetzungen um die empirische Sozialforschung und ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen a) Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der empirischen

Forschung

b) Die Kritik an der Erhebungs- und Auswertungsmethodik c) Kritische Sozialforschung Alternative Forschungsansätze d) Stellenwert und Folgen des Positivismusstreits 4. Fazit III. Ausbau der empirischen Sozialforschung 1. Finanzierung der empirischen Sozialforschung a) Instanzen der Forschungsförderung b) Finanzierung der empirischen Forschung aus -

2.

Verwenderperspektive Entwicklung der institutionellen Struktur

a) b) c) d) e)

Amtliche Statistik Markt- und Meinungsforschung

Hochschulforschung Hochschulfreie Forschungsinstitute Sozialwissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen 3. Organisationsprobleme der empirischen Sozialforschung IV. Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit 1. Inhaltliche Schwerpunkte 2. Anwendungsbezogene Sozialforschung im Dienste gesellschaft-

licher Reform a) Leitbild: Improvement b) Leitbild: Emanzipation c) Die Bedeutung der unterschiedlichen Leitbilder V Die Entwicklung von Methoden und Methodendiskursen

1. Die Entwicklung der EDV 2. Entwicklungstrends der Erhebungs- und Auswertungsmethodik

3.

a) Erhebungsmethoden b) Auswertungsmethoden Die Kanonisierung der Lehre a) Lehrangebote b) Lehrbücher

Vil

235 238 239 244 247 247 250 252 254 265 272 280 283 287 292 292

300 302 303 306 308 309 313 316 319 319

321 321 330 338 339 339 341 342 345 347 347 348

Inhalt

VIII

4. Logiken der Methodenentwicklung und -anwendung VI.Resümee: Die >Große Zeit< der empirischen Sozialforschung 1. Von der Binnensteuerung zur Außensteuerung 2. Entwicklungsprobleme a) Differenz und Differenzierung b) Probleme mit dem Zeitgeist

c) Gewinn an Anerkennung Verlust an Autonomie

3. Das Wissenschafts- und das D. I.

Praxisversprechen -

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980) Sozialforschung unter veränderten Rahmenbedingungen 1. Implikationen für Sozialwissenschaft und Sozialforschung a) Sozialwissenschaften und postmoderner Diskurs b) Das Verhältais von Sozialforschung und gesellschaftlicher

Praxis 2. Kennzeichen des >Normalbetriebs< 3. Die institutionellen Rahmenbedingungen der Sozialforschung a) Die verschiedenen Produktionssphären der empirischen For-

II.

schung b) Die Finanzierung der empirischen Sozialforschung c) Entwicklungsprobleme der empirischen Sozialforschung

Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis 1. Die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens a) Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens im politischen Feld

355 360 360 361 361 362 364 365 367 367 368 368 370 374 376 377

378 380 381 383 386

b) Sozialwissenschaftliches Wissen im Feld der industriellen Be388 ziehungen c) Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens: der Mikrozensus

d) Probleme der verwendungsbezogenen Sozialforschung 2. Neue Formen des Wissenschaft-Praxis-Bezugs a) Entwicklungen der Evaluationsforschung b) Sozialwissenschaftliche Beratung c) Vom Datenlieferanten zum Management- und Politikberater III.Methodenentwicklung und -diskurs 1. Die Renaissance der qualitativen Sozialforschung a) Neuanfang oder Kontinuität b) Ansätze der qualitativen Forschung

390 392 395 395 396 398 399 400 403 405 410

c) Forschungsdesigns, Erhebungs-und Auswertungstechniken d) Probleme und Entwicklungsstand der qualitativen Sozialfor411 schung

2.

Entwicklung der quantitativen Sozialforschung a) Neue Forschungsdesigns und Untersuchungsperspektiven

414 415

Inhalt

IX

b) Verfahren der Datengewinnung c) Verfahren der Datenanalyse d) Veränderte Ressourcen

415

3. Das Verhältnis

von

qualitativer und quantitativer Sozialforschung 420

a) Forschungspraxis b) Der Methodendiskurs c) Das Verhältnis von qualitativen und quantitativen Forschungsansätzen

IV. Resümee:

417 420

Sozialforschung im >Normalbetrieb< Das Unternehmen >Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung< geht davon aus, daß damit mehr verknüpft war als eine Vielzahl von Forschungsanstrengungen oder die Etablierung von Forschungs- und Infrastruktureinrichrungen. Es war das Projekt verschiedener Generationen von Sozialwissenschaftlern

und Sozialwissenschaftlerinnen von Wissensproduzenten und -Verwendern -, das Projekt einer neuen Sozialwissenschaft und einer reformierten Gesellschaft; das Projekt steht für einen spezifischen Zugang zur Produktion soziologischen Wissens, für eine spezifische Lokalisierung im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs und schließlich für ein spezifisches Verständnis der Beziehungen von Sozialforschung und Soziologie. In dieser Analyse sollen die Diskurse der empirischen Sozialforschung und die Diskurse um die empirische Sozialforschung im Kontext einer sich formierenden und entwickelnden sozialwissenschaftlichen Disziplin und im Kontext einer sich verändernden bundesdeutschen Gesellschaft verortet werden. Eine Analyse der jüngeren Geschichte der empirischen Sozialforschung gerät so auch zu einer Soziologie der empirischen Sozialforschung, in der Hoffnung, daß die Analyse auch für die Auseinandersetzung mit Gegenwartsproblemen der empirischen Sozialforschung Früchte trägt. Ich möchte als Einstieg in das Thema zu einer Tagung über empirische Sozialforschung einladen, die 1951 stattgefunden hat. Die Analyse dieser Tagung wird einen Einblick in die Heterogenität der Vorstellungen, die mit diesem Projekt >Empirische Sozialforschung< verbunden waren, vermitteln; aber es werden auch Gemeinsamkeiten sichtbar. Es wird deutlich, daß in diesem Projekt der Grad seiner Kohäsion ist noch zu bestimmen unterschiedliche Akteure zusammenwirken, deren Wirken über verschiedene gesellschaftliche Sphären verteilt ist. Am Beispiel dieser Tagung soll der Blick auf den Gegenstand vorgestellt und dann in Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansätzen der Wissenschaftsforschung weiter präzisiert werden. -

-

-

A. Das Unternehmen

2

I.

Die Tagung

>Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung


Empirische Sozialforschung
Standards< fur Umfragemethoden, um sich vor unzuverlässigen Umfragen von nicht-qualifizierter Seite abzugrenzen. Zudem wurde ein Organ gefordert, »das in der Lage sei, autoritativ für die Meinungsforschung zur deutschen Öffentlichkeit zu sprechen und die Beziehungen zur Öffentlichkeit in einem koordinierten Programm zu pflegen« (16). Verschiedene dieser Formulierungen offenbarten eine klare Grenzziehung zwischen der Meinungsforschung und der akademischen Welt. Unklar war, wo in diesem Rahmen die hochschulnahen Forschungsinstitute eingeordnet wurden5. Für die recht jungen Markt- und Meinungsforschungsinstitute galt es, den eigenen Standort zu bestimmen (gegenüber Wirtschaft und Wissenschaft), Strategien der Oualitätssicherung zu entwickeln und ihr Außenbild (gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber den Kritikern) zu verbessern Aus der Perspektive der Hochschulvertreter wurde gewünscht, »die Theorie der Meinungsforschung zu diskutieren, insbesondere, die soziologische, ökonomische, statistische, politische und psychologische Problematik. Sie sahen ihre Aufgabe (...) in einer kritischen Wertung der Ergebnisse der Meinungsforschung« (17). Die Hochschulvertreter kamen, vermittelt über Mechanismen der Selbst- oder Fremdzuschreibung, in die Rolle von Kommentatoren, geschieden von den >PraktikernEmpirische Sozialforschung
empirischen Sozialforschungempirischen SozialforschungEmpirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung
case-workfield studies< und andere Arten der >research-ArbeitEmpirische Sozialforschung
relativ autonomer sozialer Mikrokosmos< begriffen33, mit einer spezifischen >Logik< und >NotwendigkeitAutor< ist, auch wenn man ein Feld nur von Individuen aus konstruieren kann (...) Das Feld muß im Mittelpunkt der Forschungsoperationen stehen. Was jedoch keineswegs bedeutet, daß die Individuen bloße >Illusionen< wären, die nicht existierten. Die Wissenschaft konstruiert sie, aber eben als >agents< als Akteure, und nicht als biologische Individuen, Handelnde oder Subjekte im Sinne der Existenz- oder Bewußtseinsphilosophie: Diese >agents< konstituieren sich dadurch als aktive und im Feld handelnde Akteure, daß sie die Eigenschaften besitzen, die erforderlich sind, um im Feld Wirkungen zu entfalten, Effekte zu produzieren«

([1992] 1996:1380-

»The scientific field is a field of forces whose structure is defined by the continuous distribution of specific capital possessed, at the given moment, by various agents or institutions operative in the field. It is also a field of struggles or a space of competition where agents or institutions who work at valorizing their own capital (...) confront one another. (...) These struggles, however, remain determined by the structure to the extent that scientific strategies which are always socially overdetermined, at least in their effects depend on the volume of capital possessed and therefore on the differential position within this structure and on the representation of the present and future of the field associated with this position« (1991b:60-

-

A. Das Unternehmen

22

>Empirische Sozialforschung
Kampf aller gegen alle< trägt eher zur Reproduktion des universitären Systems bei, als daß er die >Gefahr einer permanenten Revolution in sich birgt, insbesondere die Mechanismen der Einbindung der >Neuankömmlinge< in dieses Wettbewerbsspiels spielen eine wichtige Rolle (154f). Auch die Pluralität der Hierarchisierungsprinzipien und Kapitalien erweist sich als funktional. »In einem

Universum, dessen Realität wie beim universitären Feld in so starkem Maße

von der die sich die darin Handelnden selbst von ihr machen, können letztere von der Vielzahl vorhandener Hierarchisierungsprinzipien sowie vom niedrigen Objektivierungsgrad des symbolischen Kapitals zu profitieren suchen, um ihre Anschauung durchzusetzen und entsprechend der eigenen symbolischen Macht ihre Stellung im Raum dadurch zu verändern, daß sie das mögliche Bild der anderen von dieser Stellung sowie das eigene ändern« (49).

Vorstellung (Hervorhebung C.W.) abhängt, -

-

Stellung im Raum der Fakultäten, Stellung in universitären Hierarchien, wissenschaftliche Produktionen, Verfugung über Forschungsmittel und Forschungsgruppen, Mitgliedschaften, Kontrolle über Zugänge und Verlauf von Karrieren, Reputation in wissenschaftlichen und anderen Öffentlichkeiten, Studierendenzahlen etc. »For example, the competition for funds and research tools that puts specialists in opposition is never reduced to a simple struggle for strictly >political< power: those who come to head the large scientific organizations are obliged to impose a definition of research implying that the correct way to do science necessitates the use of the services of a large scientific bureaucracy (...) and to institute as the universal and ethernal methodology the survey of large random samples, the statistical analysis of data, and formalization of results« (1991b:16). Zudem gemahnt Bourdieu verschiedentlich, nicht angesichts der Differenz im Diskurs die weiten

Bereiche des Einverständnisses

z.B. über die -

Grundlagen dieses Diskurses

zu -

übersehen.

II. Die Analyse des Unternehmens

>Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung
Erfolgsgeschichte< der amerikanischen Sozialforschung, mit der sogenannten >SozialindikatorenbewegungEmpirische Sozialforschung
Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsachen0 steht verglichen mit Kuhns Ansatz für eine stärker relativistische Position der Wissenschaftsforschung wie auch der Wissenschaftstheorie: Jemand erkennt etwas >»als Mitglied eines -

bestimmten Kulturmilieus< oder am besten >in einem bestimmten Denkstil, einem bestimmten Denkkollektiv sozialer Verdichtung< bestimmte Glaubensgebilde und Kollektivvorstellungen heraus. Fleck sieht den Vorteil seiner >Denkkollektivtheorie< darin, ganz verschiedene Formen des Denkens mit einem einheitlichen Konzept untersuchen zu können. In seinem Ansatz kommt dem wissenschaftlichen Wissen kein besonderer Ort zu; in Abgrenzung zu den Erkenntnistheoretikern des Wiener Kreises wie gegen humanistisch orientierte Philosophen ' fragt er: »Können wir denn nicht überhaupt ohne ein >Fixum< auskommen? Beide sind veränderlich: Denken und Tatsachen. Schon darum, weil Denkveränderungen in veränderten Tatsachen sich offenbaren und umgekehrt grundsätzlich neue Tatsachen nur durch neues Denken auffindbar sind« (70). Für eine Analyse der Entwicklung der empirischen Sozialforschung sind Flecks Überlegungen zur Rolle von Denkstilen und Denkkollektiven von Diesen »Musterbeispielen« wird im Postskriptum besondere Aufmerksamkeit zugewandt (vgl. 199ff). Kuhn arbeitet heraus, daß entgegen den Darstellungen von Lehrbüchern, die wissenschaftliche Erkenntnis als in Theorien und Regeln eingebettet darstellen, die Einübung in das wissenschaftliche Denken und Arbeiten weit stärker durch das Lösen exemplarischer Aufgaben, das Erlernen von Ähnlichkeitsbeziehungen und Analogien (in Problemstellungen) und das Einüben von bewährten bzw. anerkannten Sichtweisen erfolgt. Schließlich verweist er auch auf die Rolle des impliziten, stillschweigenden Wissens (Polanyi [1966] 1985), das eher über wissenschaftliche Praktiken denn über die Aneignung von Regeln gewonnen wird. Die in Basel erschienene Studie Flecks zur Entwicklung des Syphilis-Begriffs ist in den 30er Jahren kaum rezipiert worden. »Die deutschsprachigen Zentren der Wissenschaftstheorie in Wien, Prag und Berlin lösten sich auf. (...) Flecks Buch gehörte nicht zu jenem Ideengut, das auf diesem Weg in die angelsächsischen Länder exportiert und weiterentwickelt wurde« (Schäfer/ Schnelle [1980] 1993:IX). Es fügt sich nicht in den neopositivistischen Kanon ein, der lange Zeit die wissenschaftliche Debatte dominierte. Erst mit Kuhn, der in der Einleitung ([1962] 1993:8) kurz auf die Studie Flecks verweist, kann sich dieser Denkstil in der wissenschaftlichen Debatte etablieren. Den einen wirft er einen »allzugroßen Respekt vor Logik, (...) vor logischem Schließen« (69) vor, den anderen (Wilhelm Jerusalem, Lucien Lévy-Bruhl) »eine Art religiöse Hochachtung vor naturwissenschaftlichen Tatsachen« (65).

A. Das Unternehmen >Empirische Sozialforschung
Präideen< (35), die zeitlich weit früher entstanden, strukturierend eingehen, sodaß sich »in jedem Denkstil immer Spuren entwicklungsgeschichtlicher Abstammung vieler Elemente aus einem anderen« (130) finden. Denkkollektive sind gemeinschaftliche Träger von Denkstilen. Sie sind die Träger des Wissens, nicht die Individuen. Diese Kollektive können eher flüchtigen Charakter haben, sie können sich aber auch im Kontext organisierter sozialer Gruppen stabilisieren (135). Solche stabilen Denkkollektive sind formal und inhaltlich abgeschlossen, sie sichern eine spezifische Problemselektion, und es gibt stufenweise Hierarchien des Eingeweiht-Seins von den esoterischen zu den exoterischen Kreisen. Diese Kreise hängen jedoch bei wissenschaftlichen Denkkollektiven funktional zusammen. »Aus dem fachmännischen (esoterischen) Wissen entsteht das populäre (exoterische). Es erscheint dank der Vereinfachung, Anschaulichkeit und Apodiktizität sicher, abgerundeter, fest gefügt. Es bildet die spezifische öffentliche Meinung und die Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück« (150). »Gewißheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort« (152). Zudem entwickeln stabile Denkkollektive Praktiken der Einführung, der Einweihung; es gibt Lehrzeiten, Phasen, »während welcher rein autoritäre Gedankensuggestion stattfindet, die nicht etwa durch allgemein rationellem Gedankenaufbau ersetzt werden kann« (136). Aus all diesen Überlegungen zu Denkstilen und -kollektiven im wissenschaftlichen Bereich erwächst bei Fleck eine große Skepsis gegenüber dem kritischen Potential -

-

-

von

scientific communities

.

»Die disziplinierte Stimmung wissenschaftlichen Denkens (...) verbunden mit den praktischen Mitteln und Auswirkungen, ergibt einen spezifischen wissenschaftlichen Denkstil. Gute stilvolle Arbeiten erwecken sofort solidarische Stimmung beim Leser, und sie ist es, die nach einigen Sätzen das Buch zu schätzen zwingt und wirkungsvoll macht. Nachher erst überprüft man die Einzelheiten: ob sie systemfähig sind, d.h. ob die Verwirklichung des Denkstils konsequent durchgeführt, insbesondere auch ob traditionsgemäß (= vorbildgemäß) vorgegangen worden ist. Diese Feststellungen legitimieren die Arbeit zum Wissenschaftsbestand und machen das Dargestellte zur wissenschaftlichen Tatsache« (1890'

II. Die Analyse des Unternehmens

>Empirische Sozialforschung
Schlagworte< und >Kampfrufemagische Kraftantipositivistischen Wende< (vgl. Heintz 1993:532) geleistet. In ihrem Gefolge haben ethnomethodologisch und konstruktivistisch orientierte Ansätze bedeutende Fortschritte im Bereich der empirischen Wissenschaftsforschung hervorgebracht. Viele dieser Studien beziehen sich auf den Bereich der Naturwissenschaften, wie die Laborstudien von Latour und Woolgar ([1979] 1986) bzw. Knorr-Cetina (1984) oder die Arbeiten von Hacking und Pickering (1992). Für den Bereich der Sozialwissenschaften liegen nur wenige Studien vor: z.B. die von der Edinburgh-School inspirierte Arbeit MacKenzies (1981) über die Entwicklung der Statistik in Großbritannien, die Studien Hackings (1975), Gigerenzers u.a. (1989) zur Entwicklung von Statistik und Wahrscheinlich-

keitskonzepten, die Arbeiten, die dem Diskussionszusammenhang um WagWhitley (1991) entstammen und schließlich die Untersuchung von Desrosières ([1993] 1998) und Thevenot (1984).

ner, Wittrock und

43

»Ob Erkenntnisse vom individuellen Standpunkt Wahrheit oder Irrtum, ob sie richtig oder mißverstanden scheinen, sie wandern innerhalb der Gemeinschaft, werden geschliffen, umgeformt, verstärkt oder abgeschwächt, beeinflussen andere Erkenntnisse, Begriffsbildungen, Auffassungen und Denkgewohnheiten« (58/59).

28

A. Das Unternehmen

>Empirische Sozialforschung
übrigen< sozialen Welt wird lediglich auf der Ebene des Wissens beschrieben, so z.B. in den Fleckschen Überlegungen zum Wechselspiel von esoterischem und exoterischem Wissen oder in der These Polanyis zur Deutung des impliziten Wissens als wesentlichem Potential zur

Antizipation von >EntdeckungenEmpirische Sozialforschung
Leistung< von Leitbildern in ihren gestaltenden und prägenden Funktionen (27) und differenzieren nach ihrer >Leit-FunktionBild-Funktion kollektive Projektion Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung < entwickeln, eine wichtige Funktion zukommt, um Sozialforschung in den Logiken des wissenschaftlichen und politischen Feldes operabel zu machen; daher soll ein besonderes Augenmerk jenen selbstverständigenden und legitimierenden Deutungen gelten, die über den Normalbetrieb der Handlungslogiken im wissenschaftlichen und universitären Feld hinausgehen. Selbstverständlich kann sich eine Analyse von Leitbildern nicht von den personellen und institutionellen Strukturen des wissenschaftlichen und politischen Feldes und den darin geronnenen Kräfteverhältnissen lösen. D.h. die Leitbilder erhalten immer auch funktionalen Charakter, z.B. im Kampf um Hegemonie, im Prozeß der Strukturierung, Konsolidierung und Abgrenzung einer Disziplin. Vielleicht wird sich auch herausstellen, daß sich der Stellenwert von Leitbildern für das Verständnis -

mes

Richtungsfeld ein (> synchrone Voradaptation ). Leitbilder ersetzen schließlich noch nicht gemeinsame, verbindliche Regelsysteme und Entscheidungslogiken in der Kommu
funktionales Äquivalent Denkzeug < betrachtet: »die Vertreter der verschiedenen Wissenskulturen bedienen sich seiner, um neues technisches Wissen denkbar zu machen« (55). Darüber hinaus fungieren die Bilder als personelle und interpersonelle Mobilisatoren, indem sie »die persönliche Involviertheit der Akteure in diesen Prozeß der Produktion neuen technischen Wissens« (ebd.) fordern und indem sie Menschen aus verschiedenen Milieus und aus unterschiedlichen Wissenskulturen aneinander binden.

II. Die Analyse des Unternehmens

>Empirische Sozialforschung
Tabellenknechten< vermag einen Eindruck von der Persistenz solcher Bilder zu geben. Sie haben jenseits ihres Entstehungskontextes ein Eigenleben gewonnen, indem sie sich in der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit, in Publikationen, später in Studiengängen und Lehrbüchern etc. >materialisiertenweichen< und >harten Methoden< immer auch ein bestimmtes Bild vom Prozeß der Sozialforschung und seinen Ergebnissen aus. Auch die Geschichte des sogenannten Positivismusstreits hat deutlich gemacht, daß es um mehr ging als um divergierende wissenschaftstheoretische Ansätze. Eine Untersuchung der Leitbilder empirischer Forschung soll die Fragen, welche Methoden wie und in welchem Maße gehandhabt werden, welche Methoden entwickelt wurden, welche in >Vergessenheit< gerieten, neu akzentuieren. Damit ist die Vorstellung verknüpft, die >Hintergründe< der verschiedenen Schulen bzw. Lager, der verschiedenen wissenschaftstheoretischen Grundpositionen eingehender zu analysieren zu können. Die hier dargestellten analytischen Konzepte des Feldes und des Leitbildes bilden den Rahmen der folgenden Untersuchungen; das Feldkonzept steht für den Blick auf Akteure, deren Spielstrategien und deren Praxis, schließlich auf die sich darüber einstellenden und reproduzierenden Strukturen und

lungnahmen

im

(sozial)wissenschaftlichen

bildet, zunächst im

Kontext

von

-

-

Begriff der Leitbilder steht eng mit dem Blick auf Wissenschaftsmilieus und Fachkulturen Zusammenhang. Diese bilden sich über eine Stabilisierung, eine Institutionalisierung und >Fortpflanzung< solcher Leitbilder bezogen auf ein Feld, eine spezielle Disziplin heraus. Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge in dem Band >Wissenschaftsmilieus< (Huber/Thum 1993). Bourdieu macht auf das Kuriosum aufmerksam, daß sich »um ein Verfahren der Datenerhebung herum ganze >Schulen< oder Traditionen bilden« ([1992] 1996:259). Der

in

32

A. Das Unternehmen

>Empirische Sozialforschung
Eigenlogiken< dieser Diskurse um die Sozialforschung nachgegangen werden. In diesem Sinne wäre zu fragen: Wie wurden die Techniken der empirischen Sozialforschung in verschiedenen Produktionskontexten (universitäre und hochschulfreie Sozialforschung, amtliche Statistik, Markt- und Meinungsforschung) für die Hervorbringung von >empirisch fundiertem Repräsentationen der sozialen Welt genutzt? Welche Rolle spielten dabei Vorstellungen und Leitbilder, die die beteiligten Akteure (Produzenten und Verwender) von den Techniken der empirischen Sozialforschung und dem Status der damit hervorgebrachten Repräsentationen entwickelt haben? Foucault hat vorgeschlagen, drei Aspekte zu unterscheiden, die bei der Entwicklung einer spezifischen neuen Technik, und als solche läßt sich die empirische Sozialforschung begreifen, bedeutsam sind; sie entwickelt sich »als Traum oder als Utopie, sodann als Praxis oder Regelwerk für bestimmte reale Institutionen, schließlich als akademische Disziplin« ([1988] 1993:178). In diesem Sinne verspricht die Analyse von Strukturen, Praktiken und Leitbildern der empirischen Sozialforschung eine Synthese. Ausgehend vom Feldkonzept lassen sich drei Analyseebenen ausmachen: Eine Analyse der Akteure umfaßt den institutionellen Rahmen, in dem Sozialforschung betrieben und sozialwissenschaftliches Wissen verwendet wird. Das schließt Personen, informelle Gruppen oder Schulen, die in diesen institutionellen Rahmen agieren, ein. Dabei konnte auf eine breite Palette von Materialien zurückgegriffen werden50, wenngleich festzustellen ist, daß das Bewußtsein für die historischen Dimensionen des Wissenschaftsund Forschungshandelns bei den Sozialforschern wenig ausgeprägt ist. Eine Analyse des Forschungs- und Wissenschaftshandelns beleuchtet die Praktiken, Strategien und Ressourcen der Sozialforscher. Da auf Befragung und Beobachtung verzichtet werden mußte, ist diese Analyse darauf verwiesen, die Praktiken über die >Produkte< und Bekundungen der Akteure zu erschließen, was der Reichweite und Qualität der Analyse enge Grenzen setzt. Schließlich werden neben den Forschungspraktiken auch die Wissen.

-



Gegenüber den Bourdieuschen Analysen zum universitären Feld, bei denen ein enger Bezug zwischen den Stellungen im Feld bzw. im sozialen Raum und den Stellungnahmen im wissenschaftlichen und politischen Diskurs aufgezeigt werden konnte, soll stärker den > Eigenlogiken < dieser Diskurse um die Sozialforschung nachgegangen werden. 50 Zum einen Selbstdarstellungen, Arbeitsberichte, historische Darstellungen, Informationsschriften etc. zu den einzelnen Forschungs- und Infrastruktureinrichtungen; zum anderen (autobio-

graphische Darstellungen, Festschnften, Nachrufe, Lexika, Universitätshandbücher, Vademécums, Vorlesungsverzeichnisse, Teilnehmerlisten, einzelne Interviews etc.

II. Die Analyse des Unternehmens

Schaftspraktiken

>Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung< für die Bundesrepublik Deutschland werden eine Reihe von Eingrenzungen getroffen, deren Berechtigung zu erwägen ist. Die räumliche und zeitliche Eingrenzung: Tenbruck geht davon aus, daß mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Wasserscheide überschritten wird, bis zu der die Entwicklung der Soziologie in Nationalkulturen eingelagert war; demgegenüber habe nach dem Kriege eine breite Internationalisierung des soziologischen Denkens eingesetzt53. Die Erfolgsgeschichte der empirischen Sozialforschung im Sinne einer Universalisierung der >neuen Forschungstechniken< amerikanischer Prägung so ein gängiges Bild ist eher ein internationales, zumindest aber ein europäisches Phänomen. Ihr Eingang in Forschungsprozesse und Forschungsprogramme, in sich etablierende Ausbildungsgänge, ihr Niederschlag in Infrastruktureinrichtungen ist jedoch trotz der beobachtbaren Internationalisierung des Diskurses eher aus -

-

Forschungserhebungen, Bundesforschungsberichte, Forschungsstatistiken, Daten zur Forschungsförderung der DFG und der VW-Stiftung, Untersuchung ausgewählter Forschungsprogramme, Analyse exemplarischer Forschungsarbeiten, Analyse von Lehrangeboten, Ausbildungsgängen, Prüfungsordnungen zur Statistik und empirischen Sozialforschung etc. Soweit zu einzelnen Fragestellungen zusammenfassende Darstellungen vorlagen, wurde auf diese zurückgegriffen. 52 Auswertung bibliographischer Datenbanken, Auswertung von Hand- und Lehrbüchern zur em-

pirischen Forschung (inkl. Erscheinungsdaten, Auflagen), Auswertung des Fachdiskurses der empirischen Sozialforschung (Monographien, Sammelbände, sozialwissenschaftliche Zeitschriften, Soziologentage, Fachtagungen etc.), Auswertung von programmatischen Schriften< und reflexiven Diskursen zum Entwicklungsstand und zur Zukunft der empirischen Sozialforschung. Die Auswertung wichtiger Eckdaten zu Publikationen, biographischen und institutionellen Ereignissen erfolgte im Rahmen einer dazu aufgebauten Ereignisdatenbank. Mit diesem Internationalisierungsprozeß war bei vielen die Vorstellung verknüpft, daß die nationalen Eigenarten der älteren Soziologie nichts mehr als »die durch den wissenschaftlichen Fortschritt überholten Vorstufen einer noch jungen Wissenschaft« (Tenbruck 1979:77) seien.

34

A. Das Unternehmen

>Empirische Sozialforschung
Gesellschaft< wird oftmals unhinterfragt mit nationalstaatlichen Horizonten verknüpft57. Mit der Eingrenzung auf die Bundesrepublik Deutschland bietet sich auch deren Gründungsjahr als Startpunkt dieser Untersuchung an, wobei noch zu klären ist, in welcher Hinsicht dieses Damm als Nullpunkt, als ein Neuanfang empirischer Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland zu betrachten ist. Es liegt auf der Hand, daß diese räumlich zeitliche Konzentration auf die Bundesrepublik also etwa die Jahre von 1949 bis 1995 dann zu erweitern ist, wenn es um die Hintergründe bestimmter (sozial)wissenschaftlicher und politischer Diskurse, um Fragen des Theorie- und Methoden>imports< oder um Fragen nationaler Sozialforschungskulturen geht. Die disziplinäre Abgrenzung: In fachwissenschaftlicher Perspektive soll der Untersuchungshorizont auf die Sozialwissenschaften begrenzt werden und sich hier insbesondere auf die Soziologie konzentrieren; wohlwissend, daß gerade im Bereich der Entwicklung und Anwendung von Erhebungsverfahren und Auswertungsverfahren enge Wechselbezüge insbesondere zwischen den verschiedenen human- bzw. wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen bestehen58. Ein Blick in fachspezifische Darstellungen zu empirischen Erhebungsmethoden und Verfahren der statistischen Analyse vermittelt jedoch einen Eindruck, wie stark die Auswahl und Darstellung dieser vermeintlich universellen Instrumentarien durch fachspezifische Problemlagen und Diskurse geprägt ist. Bolte (1989:309) hat, vor einem ähnlichen »Sowohl in Italien als auch in Deutschland wurde in den ersten Jahrzehnten nach der National-

staatsgründung in einem erheblichen und bis dahin ungekannten Ausmaß sozialwissenschaftliche Forschung wie auch Theoriebildung betrieben. In beiden Fallen geschah dies durch Wissenschaftler, die zum Teil innerhalb, zum Teil außerhalb der Universitäten tätig waren, in jedem Fall

jedoch nicht auf akademischen Positionen, die den Sozialwissenschaften ausdrücklich gewidmet waren« (Wagner 1990:101). 55 Vgl. Giddens (1991 :xiv). Auch Tenbruck relativiert an späterer Stelle sein Intemationalisierungsargument, wenn er deutlich macht, daß die Lagerung der Soziologie in nationalen Kulturen mit etablierten Praktiken wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Arbeitsteilung zusammenhing (1979:103). 57 Vgl. dazu Giddens ([1990] 1995:23). So skizziert Pié die »Bekehrung zur säkularen Botschaft der amerikanischen Sozialwissenschaft« (262) auch für die Psychologie, die Pädagogik und die Sozialarbeit.

II. Die Analyse des Unternehmens

>Empirische Sozialforschung
soziologisch orientierten Sozialforschung< geprägt. Eine solche Eingrenzung läßt sich am ehesten im Hochschulbereich umsetzen; jenseits des Hochschulbereichs, bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, im Bereich der anwendungsbezogenen Forschung spielen diese Grenzlinien nur noch eine untergeordnete Rolle. Das führt dazu, daß es bei der Analyse von Forschungsstatistiken und ähnlichem Material nur schwer möglich ist, einen abgrenzbaren Bereich einer > soziologisch orientierten Sozialforschung< auszumachen. 3.

Entwicklungsphasen der empirischen Sozialforschung

Analyse der Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik kann kaum auf >epochale< Einschnitte im politischen, ökonomischen oder kulturellen Bereich zurückgriffen werden; dennoch erweist Für die

es sich als erforderlich, den zu untersuchenden Zeitraum genauer zu strukturieren, da sich wesentliche Rahmenbedingungen und institutionelle Strukturen der empirischen Sozialforschung verändern; auch die Binnenverhältnisse, der methodische Entwicklungsstand und die darum geführten Diskurse,

entwickeln sich fort59. In der ersten Phase von 1949 bis 1965, der >GründungsphaseRückzug< der Besatzungsmächte aus dem politischen und kulturellen Leben erfolgt eher graduell.

A. Das Unternehmen

36

>Empirische Sozialforschung
große ZeiU ist auf der einen Seite durch die starke Expansion der sozialwissenschaftlichen Fächer an den Hochschulen, durch die Gründung von neuen Forschungsinstituten, die Einrichtung großer Forschungsprogramme geprägt; zum anderen polarisierten sich die Diskurse um die Angemessenheit der Methoden und die wissenschaftstheoretischen Grundlagen empirischer Forschung, um ihren politischen und gesellschaftlichen Ort. Die ab 1980 einsetzende dritte Phase wird als Sozialforschung im >Normalbetrieb< umschrieben. Die Differenzen treten zurück, man besinnt sich auf Gemeinsames, die Instrumente der Sozialforschung werden weiterentwickelt. Zugleich verändert sich die Stellung der Sozialwissenschaften im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feld, die in sie gesetzten Erwartungen erwiesen sich als wenig realistisch. Der emphatische Duktus vieler Stellungnahmen weicht einer eher handwerklichen Orientierung. In dieser Phase werden insbesondere die Diskurse um den Praxisbezug sozialwissenschaftlicher Forschung und die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wis-

-

sens

analysiert.

Die in der Zusammenstellung von Bolte und Neidhardt (1998) vereinten Soziologen der Nachkriegsgeneration haben ihren ersten Lehrstuhl (durchschnittlich) im Jahre 1964 übernommen. Dieser Soziologentag wird von vielen als Einschnitt, als Ende der Nachkriegskonstellation der deutschen Soziologie benannt, als erster Soziologentag, der über das Niveau einer Gelehrtenversammlung hinausging und den Charakter eines modernen wissenschaftlichen Kongresses hatte. Die Öffnung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für Nicht-Habilitierte war bereits 1955 erfolgt (Scheuch 1990a:44). 1968 steht für einen Aufbruch und Umbruch im politisch-kulturellen Bereich, der das Gesicht der bundesrepublikanischen Gesellschaft radikal und langwährend verändert hat. Für die Entwicklung der Soziologie und der empinschen Sozialforschung war damit eine Veränderung der fachintemen Diskurse, insbesondere aber deren veränderte Rolle in den gesellschaftlichen und politischen Diskursen jener Zeit verbunden: die Förderung soziologischer Forschung fand in enger Verknüpfung mit großen gesellschaftspolitischen Reformvorhaben statt; das Interesse an soziologischen Studieninhalten

wuchs erheblich.

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

I. Zur Situation der empirischen

Sozialforschung

nach dem zweiten Weltkrieg

Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und nach dem Holocaust befanden sich die Sozialwissenschaften in einer exzeptionellen Situation. Bevor eingehender die Konstellation der empirischen Sozialforschung in der Gründungsphase beschrieben wird, sollen in zugespitzter Weise die Voraussetzungen beleuchtet werden, unter denen sich die Rekonstitution der Sozialwissenschaften und der Sozialforschung vollzog. 1. Der

Entwicklungsstand der empirischen Sozialforschung: Praktiken, Institutionen und Diskurse

Die den

Entwicklung der empirischen Sozialforschung war von den langwähren-

ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Transformationsprozessen geprägt, die sich in den vergangenen drei Jahrhunderten insbesondere

in den westlichen Industrieländern vollzogen haben. Die fundamentalen Veränderungen der ökonomischen Basis wie der sich verändernden Akkumulationsregimes und Produktionskonzepte, von Volkswirtschaften und transnationalen Märkten auf der Makroebene, von Branchen, Unternehmen und Institutionen auf der Mesoebene, gingen mit neuen Wirklichkeitsdeutungen und Regulationsleistungen auf der Ebene nationaler, regionaler und lokaler Politik einher. Mit der Herausbildung von Nationalstaaten und Zivilgesellschaften und mit den grundlegenden Veränderungen der sozialen Struktur waren enorme Anforderungen an die politische und soziale Integration erwachsen. All diese Entwicklungen korrespondierten mit einer Transformation der Lebens- und Arbeitsbedingungen, mit einer Veränderung von kulturellen Praktiken, Welt- und Selbstkonzepten. Keine der hier benannten Entwicklungen

Ungleichzeitigkeiten, Konjunkturen ungeachtet globaler Trends die Regel1.

hatte linearen Charakter:

waren 1

und Brüche

Zur Entwicklung der Sozialforschung vgl. Abrams (1981), Anderson (1959), Baines (1918), Birg (1989), Boeckh 1863), Bonß (1982), Boudon [1970] (1973), Boustedt (1959), Camic und Xie (1994) Clark ([1948] (1972), Cole (1972), de Bie [1959] (1980), de Haan (1994), Desrosières ([1993] (1998), Duncan und Shelton (1978), Elesh (1972), Esenwein-Rothe (1965a), Foucault [1972] (1991, [1963] (1973, [1988] (1993) ), Geck (1951), Gerß (1977), Gigerenzer u.a. (1989), ,

38

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Mit diesen politischen und ökonomischen Veränderungen vollzogen sich bedeutsame kognitive Veränderungen. Foucault konstatiert an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert einen Entwicklungssprung. So sei »ein Wille zum Wissen aufgetreten, der im Vorgriff auf seine wirklichen Inhalte Ebenen von möglichen beobachtbaren, meßbaren, klassifizierbaren Gegenständen entwarf; ein Wille zum Wissen, der dem erkennenden Subjekt (gewissermaßen vor aller Erfahrung) eine bestimmte Position, einen bestimmten Blick und eine bestimmte Funktion (zu sehen anstatt zu lesen, zu verifizieren anstatt zu kommentieren) zuwies; ein Wille zum Wissen, der (...) das technische Niveau vorschrieb, auf dem allein die Kenntnisse verifizierbar und nützlich sein konnten«. Eine institutionelle Absicherung erfolgte über die sich entwickelnden Wissenschaften, das »System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, der gelehrten Gesellschaften einstmals und der Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird« (Foucault [1972] 1991:15). In Anknüpfung an Foucault sprach Bonß (1982) für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung von der >Einübung des Tatsachenblickseigene Meinungen und Einstellungen< zubilligte, die nicht durch ihre soziale Lage oder ihre Zugehörigkeit zu weltanschaulichen Lagern determiniert waren3. 2

Die prekäre Lage der Wiener Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle offenbarte jedoch die Begrenztheit dieses Forschungsmarktes. anfängliche 3 Diese Forschungen wurden in der Regel in Eigenregie durchgeführt; das hing nicht unwesentlich mit dem Selbstverständnis der Parteien und Verbände sowie mit dem politischen Feld der Weimarer Republik zusammen: solange dies nach politischen Lagern strukturiert war und sich Verbände, Gewerkschaften und Parteien mehr als Repräsentanten denn als Vertretung ihres Klienteis begriffen, hielten sie auch an dem Monopol fest, als legitime Sprecher und Interpreten der >Interessen< und >Meinungen< dieser Klientel aufzutreten. So interessierten sich Gewerkschaften und Parteien

40

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Bei der Analyse dieser institutionellen Entwicklungen wird deutlich, daß diese ganz wesentlich mit den Veränderungen von Problem- und Wirklichkeitsdeutungen zusammenhängen. Die empirische Forschung und das mit ihren Mitteln hervorgebrachte Wissen gerieten in verschiedenen Praxisfeldern in eine Deutungskonkurrenz mit anderen Interpreten der sozialen Welt.

b) Leitbilder empirischer Sozialforschung Von Mayr sah in der amtlichen Statistik einen doppelten Sinn, sie sei »Selbstzweck der Verwaltung« und liefere »Material für die wissenschaftliche Erforschung des Gesellschaftslebens« ([1895] 1914:213). Zwischen diesen Polen von Wissenschafts- und Verwaltungsorientierung gewann jedoch auch die Tätigkeit des Sammeins und Aufbereitens statistischer Daten eine gewisse Eigenlogik; da die Schlußfolgerungen Domäne der Politik blieben, wurde »die Strenge der Methode ein Gegenstand besonderen Interesses der amtlichen Statistiker« (Meitzen [1886] 1903:60). Damit war eine Vorstellung von der Gültigkeit und Unparteilichkeit des so gewonnenen Wissens verknüpft und eine Hoffnung auf eine Rationalisierung der Auseinandersetzungen im politischen Feld. Mit dem Historismus und der konservativen Kritik an der Quantifizierung waren aber auch explizite Gegenpositionen formuliert worden. Die enge Verwaltungsorientierung der amtlichen Statistik trug nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit dazu bei, daß viele Statistiker nur zu gern bereit waren, sich der neuen Regierung anzudienen. Man begriff sich nach heutigem Jargon als Dienstleister, der weisungsgebunden Daten erhob, aufbereitete und bereitstellte. Im Bereich der nicht-amtlichen Statistik spielten zunächst sozialreformerische Interessen eine wichtige Rolle. Die soziale Lage bestimmter Bevölkerungsgruppen (Landarbeiter, Industriearbeiter, Angestellte) wurde in ihren materiellen, später aber auch in ihren psychischen Aspekten untersucht, und die Befunde wurden in verschiedenen Öffentlichkeiten vorgestellt. Die damit verfolgten Interessen waren recht verschieden: so sollten Forschungsbefunde zur Vorbereitung sozialpolitischer Interventionen des Staates dienen, oder es sollte die Wirkung staatlicher Maßnahmen, z.B. im Arbeitsschutz, überprüft werden; die Untersuchungen konnten aber auch dazu verwandt werden, politische Forderungen oder weiterreichende gesellschaftskritische Optionen zu fundieren. In dem Maße, wie sich z.B. aus den sozialen Bewegungen Organisationen herausbildeten, wurden die Befunde empirischer Forschung auch zu einem Medium, das in der Repräsentationsarbeit dieser Organisationen genutzt wurde.4 kaum für die Interessen ihrer Mitglieder; soweit überhaupt Befragungen durchgeführt wurden, dienten diese eher legitimatorischen und propagandistischen Zwecken. Die >überparteiische< Stellung der amtlichen Statistik wurde von Parteien und Gewerkschaften oft nicht anerkannt; so stellte man neben der amtlichen Statistik über Lebenshaltungskosten eige-

I.

Empirische Sozialforschung nach dem zweiten Weltkrieg

41

Die Forschungsarbeiten des Vereins für Socialpolitik verdeutlichen, daß neben der reformerischen und sozialpolitischen Orientierung auch die jeweiligen wissenschaftlichen Standards der einzelnen Disziplinen bedeutsam wurden. Die Auseinandersetzungen innerhalb des Vereins für Socialpolitik und später der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zeigten jedoch, das eine sozialpolitische Orientierung mit einer (je unterschiedlich bestimmten) wissenschaftlichen Orientierung (z.B. Weber und Tönnies) nur bedingt vereinbar war. Die Ansätze zu einer disziplinären Verankerung der Soziologie führten nicht unbedingt zu einer Intensivierung empirischer Forschung; es dominierte eher eine formale und theoretische Soziologie. Eine spezifische Verknüpfung von wissenschaftsorientierter Sozialforschung und Gesellschaftskritik zeichnete sich in der Forschungsarbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gegen Ende der Weimarer Republik ab. Die Forschungen waren in stärkerem Maße durch theoretische Überlegungen geleitet und die gesellschaftskritischen Stellungnahmen orientierten sich nicht unmittelbar an den Positionen und Konstellationen im politischen Feld der Weimarer Republik.

c) Methodische Entwicklung Im Rahmen der frühen empirischen Sozialforschung vor dem 1. Weltkrieg hatte sich ein breites Repertoire von (offenen und standardisierten) Erhebungsverfahren herausgebildet. Lange Zeit dominierten Forschungsansätze, in denen auf die Befragung von Experten zurückgegriffen wurde: Gutsbesit-

zer, Fabrikinspektoren, Ärzte, Gewerkschaftsfunktionäre etc. Daneben wurde mit verschiedenen Verfahren der offenen und verdeckten Beobachtung gearbeitet; im inhaltsanalytischen Spektrum wurde auf amtliche und private Dokumente zurückgegriffen. Experimentelle Methoden wurden zwar diskutiert, spielten aber im sozialwissenschaftlichen Bereich praktisch keine Rolle. Zur Aufzeichnung wurde auf standardisierte Erhebungsbogen oder mehr oder weniger systematische Protokolle zurückgegriffen. Die methodologische Reflexion und Kontrolle des Erhebungsprozesses war durchgängig nur wenig Nur vereinzelt wurden Techniken der kreuzweisen Validierung

ausgebildet5.

Erhebungsverfahren eingesetzt. Gegenüber dem reichhaltigen Potential von Erhebungsverfahren waren die Techniken zur Aufbereitung und Auswertung aus heutiger Sicht nur rudimentär entwickelt. Die Forschungsanstrengungen lagen auf dem mehr oder von

von Daten, dem >zu Taund Veröffentlichen von zu sozialen PhänomeInformationen geGründungsphase< (1949-1965)

dargeboten. Bei standardisierten Daten setzten sich zunehmend Verfahren der tabellarischen und graphischen Darstellung sowie die Berechnung einfacher deskriptiver Maßzahlen durch. Die Analyse von Zusammenhängen wurde mit Mitteln der Tabellenanalyse versucht, war methodisch jedoch wenig entwickelt bzw. reflektiert und oft fehlerhaft. Die von den Biometrikern entwickelten Ansätze zur Analyse und Berechnung von Zusammenhängen wurden kaum genutzt. Die Aufbereitung qualitativer Daten erfolgte neben rein impressionistischen Verfahren häufig in typologisierender Manier, oder es wurden Fallschilderungen erstellt. Die chinesische Mauer< zwischen qualitativen und quantifizierenden Forschungsansätzen und der darum konstruierte Streit um die richtige Methode6 hatten sich bereits in der frühen Sozialforschung herausgebildet. Auswahlverfahren wurden in der Regel nicht eingesetzt; es wurde entweder versucht, Vollerhebungen durchzuführen oder die Auswahlen erfolgten nach eher willkürlichen Gesichtspunkten. Zufallsstichproben und Quotenauswahlen wurden zwar in den zwanziger Jahren zunehmend bekannt, spielten jedoch in der Erhebungspraxis keine Rolle. Die amtliche Statistik verfügte mit ihrem hoheitsstaatlich legitimierten Zugriffsmöglichkeiten auf die Daten von Individuen und Wirtschaftssubjekten über eine Monopolstellung für repräsentative Aussagen über die soziale Welt7. Solange die Techniken der Zufalls- oder Quotenauswahl noch nicht hinreichend anerkannt und in der Infrastruktur von Befragungsinstituten implementiert waren, waren jenseits der amtlichen Statistik keine repräsentativen Aussagen über das Gesell-

ter Form in Berichten

schaftsganze möglich. Empirische Forschung wurde außerhalb der amtlichen Statistik in hohem Maße in Eigenregie von mehr oder weniger vorgebildeten und erfahrenen -forscherinnen,

von Studierenden und Doktoranden Forscher und Forscherinnen führten mehrere Undurchgeführt; wenige so daß kaum einer individuellen Kumulierung es zu durch, tersuchungen von Erfahrungen kommen konnte. In vielen Veröffentlichungen wurden die verwandten Datenquellen und die eingesetzten Verfahren der Erhebung und Auswertung nur unzureichend dargestellt. Sozialforschung war durchgängig low budget-Forschung, die in der Regel aus Eigenmitteln finanziert wurde. Das hatte auch zur Folge, daß sich nur in wenigen Fällen eine Arbeitsteilung in der empirischen Arbeit entwickelt hatte; nur gelegentlich war auf bezahlte Interviewer zurückgegriffen worden. Die (kollektive) Kumulierung von Forschungserfahrungen fand nur in einigen Diskurszusammenhängen statt:

Laienforschern und nur

Vgl. zur Konnotation des Qualitativen z.B. S. 197. Allenfalls die großen Parteien und Verbände hatten im Rahmen ihrer Mitgliedschaft ähnliche Möglichkeiten und die notwendige Infrastruktur zur Durchführung großer Befragungen, wie sich an den hohen Rücklaufquoten zeigt. Auch die Befragungen auf betrieblicher Ebene scheinen an die Tolerierung von SPD und Gewerkschaften gebunden gewesen zu sein, wie sich an den Untersuchungen Levensteins oder des Vereins für Socialpolitik zeigt. 7

I.

Empirische Sozialforschung nach dem zweiten Weltkrieg

43

Socialpolitik8,

in der in den statistischen Vereinigungen, beim Verein für Deutschen Gesellschaft für Soziologie, vor allem im Bereich der amtlichen Statistik; es entstanden erste Fachzeitschriften, Ausbildungseinrichtungen, Lehrbücher, Berufsorganisationen etc. Hier konnte sich dann zunehmend auch ein methodenkritischer Diskurs entfalten, der jedoch auf einen engeren Personenkreis begrenzt blieb und oft wieder in Vergessenheit geriet, da er lange Zeit nicht in Lehr- oder Handbüchern dokumentiert wurde. In diesem Kontext wurden auch die Entwicklung der mathematischen Statistik, die Arbeiten der Biometriker und die neuen Techniken der Stichprobenziehung verfolgt. Die Rezeption der amerikanischen Sozialforschung erfolgte, wie das Beispiel der Zeitschrift für Völkerpsychologie in der Weimarer Republik zeigt, eher an den Rändern der Sozialwissenschaften. Viele für die weitere Entwicklung der Sozialforschung charakteristische Entwicklungen steckten erst in den Anfangen: die zunehmende Scheidung von empirischer Forschung und Theorieproduktion, die Entwicklung einer methodischen und wissenschaftstheoretischen Reflexion von empirischer Forschung und schließlich die heute selbstverständliche Infrastruktur von

Lehrbüchern, Zeitschriften, Ausbildungsgängen etc.

Der Blick auf die institutionellen Defizite und den methodisch mnterentwickelten< Status der Sozialforschung sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, daß empirische Forschung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus im wissenschaftlichen und politischen Feld aber auch in der öffentlichen und privaten Administration >popularisiert< worden ist. Es hat sich dabei ein Repertoire an Diskursen zur empirischen Sozialforschung, ein Repertoire von damit verknüpften Leitbildern und Zielen und schließlich ein praktisches Repertoire an Forschungserfahrungen und empirischen Wissensbeständen herausgebildet. In vielen Bereichen hat eine Veralltäglichung von Sozialforschung stattgefunden: empirische Erhebungen wurden man sprach vom Zeitalter der Statistikfreie Wirtschaft als Karriereweg offenstand"2, lesen sich die Mitarbeiterübersichten der sechziger Jahre wie die Hochschullehrerverzeichnisse der siebziger Jahre113. Aus dem Kreis der Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle gingen (bis zur Verlegung nach Bielefeld) mindestens 54 Hochschullehrer"4 hervor; 1979 entstammten von den 505 Hochschullehrern und Hochschullehrerinnen115 im Bereich der Soziologie mindestens 41 der Sozialforschungsstelle.

nen.

was

Finanzierung »langfristige Basisfinanzierung« erreicht zu insbesondere hinzu kam wurde116; Beginn der 50er Jahre die in der Regel von projektbezogene Finanzierung Forschungsarbeiten aus Mitteln der der Rockefeller Foundation und der HICOG117. FinanzierungsUNESCO, Ende traten nach dem der amerikanischen probleme Zuwendungen auf"8. Die von Weyer erstellte Übersicht zum Zeitraum 1946-1960 vermittelt einen Eindruck von der Vielgestalt der Finanzquellen eines frei finanzierten Forschungsinstituts, implizit auch von dem komplexen Abhängigkeitsgefüge, in dem sich die Forschungsarbeit zu bewähren hatte"9. Unter Schelsky kam es später zu einer wesentlichen Erhöhung des Zuschusses durch das Land Nordrhein Westfalen (Neuloh 1983:42). Schelsky gab Neuloh

gab an, daß erst

1949 eine

112

Vgl. dazu z.B. Kurzbiographien von Angehörigen der ersten Generation von Mitarbeitern: Sozialforschungsstelle (o.J.:53f) und Schellhase (1982:323ff). " Neuloh gab an, daß allein in den »Jahren 1950 bis 1970 mehr als 40 Lehrstühle für Soziologie, Sozialgeschichte, Sozialpolitik, Sozialpädagogik mit ehemaligen Mitarbeitern« aus Dortmund besetzt worden seien (1983:22). Er hielt der Sozialforschungsstelle zu Gute, damit die Expansion der Soziologie und Sozialforschung überhaupt erst ermöglicht zu haben (85). 114 Es zeigt sich jedoch eine ausgesprochen geschlechtsspezifische Struktur: Aus den 60 männlichen im Vorlesungsverzeichnis der Universität Münster verzeichneten wissenschaftlichen Mitarbeitern (Abteilungsleiter, wissenschaftliche Referenten und Assistenten) der Sozialforschungsstelle in der »Ära Schelsky< gingen 38 Hochschullehrer hervor; aus den 11 Mitarbeiterinnen nur eine. 115 Die Daten wurden der Darstellung bei Sahner (1982a:280ff), Datensatz HSUK 1979, entnommen. Diese gehen auf das Hochschullehrerverzeichnis (1979) und die Angaben aus Kürschners

Gelehrtenkalender zurück. »Zum Teil durch höhere Beiträge von Firmen, Verbänden und Einzelpersonen, durch einen Jahresbeitrag der Stadt Dortmund und der Landesregierung« (1983:17). Eine detaillierte Übersicht über die Projekt-Finanzierung in den 40er und vor allem den 50er Jahren findet sich bei Weyer (1984a:224f,431f) und Schellhase (1982:58). 118 Vgl. Weyer (1984a:222) und auch Lepsius (1979:57). Auf nationaler Ebene die Förderung durch die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler bzw. die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Stadt Dortmund, die Provinz Westfalen und das Land Niedersachsen, das Statistische Bundesamt, die Gewerkschaften, die Untemehmerverbände, die Kammern, Einzelbetriebe, durch verschiedene Ministerien des Landes NRW (Kultus, Wirtschaft, Wiederaufbau, Arbeit und Soziales, Ernährung) und verschiedene Bundesministerien (Arbeit und Soziales, Vertriebene). Auf internationaler Ebene die Förderung durch die Rockefeller Foundation, die amerikanische Militärregierung, den Marshall-Plan, die UNESCO und durch verschiedene europäische Institutionen (1984:224f).

70

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

für das Jahr 1969 ein Haushaltsvolumen von mehr als einer Million DM an; damit seien in den letzten Jahren (vor der Verlegung) jährlich mehr als neunzig Forschungsprojekte durchgeführt worden (1980a:443). Die frühen Sozialforscher und Sozialforscherinnen Neuloh hat versucht, die Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle zu typisieren: Eine Gruppe bezeichnete er als freischwebende Intelligenz zu ihr rechnete er auch sich selbst -, für die die Sozialforschungsstelle eine Art Fluchtburg gewesen sei: »Viele von ihnen hätten unmittelbar im Aufbau der neuen Gesellschaft in beamteter oder jedenfalls sicherer Position wieder Verwendung finden können, wie ich selbst als Regierungsrat in der Arbeitsverwaltung. Aber sie wollten mehr angesichts der Not der Zeit, die nicht durch Tagesarbeit allein zu bewältigen war. Dabei spielten Opferbereitschaft aber auch wissenschaftliches Engagement eine große Rolle« (1983:30). »Eine andere Gruppe kam etwas später aus brennendem Interesse an >einer Reise in die gesellschaftliche Wirklichkeit^ wie sie nur im Ruhrgebiet mit ihrer Arbeitswelt zu finden war. Manche verzichteten auch hier auf Position und Sicherheit, um empirische Forschung und ihre Methoden zu internalisieren. Eine dritte Gruppe fand sich mit dem Wunsch ein, eine frühere akademische Laufbahn fortzusetzen oder empirische Forschungstätigkeit wieder aufzunehmen. Sie kamen auch aus besonderem Interesse an amerikanischen Forschungsmethoden, die in Dortmund durch die Kontakte mit Wissenschaftlern aus den USA und anderen Ländern so intensiv wie in kaum einem anderen Institut studiert und angewandt wurden« (30). Nicht wenige vor allem der frühen Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle waren im Nationalsozialismus in verschiedenen Bereichen der Sozialstruktur- und Sozialraumforschung tätig. In der Darstellung von Gutberger (1996) finden sich neun Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle, die an der »in allen Segmenten des Herrschaftsapparates betriebenen Sozialstrukturund Sozialraumforschung« (485) teilhatten120; in einer ergänzenden Liste von Personen, die gleichfalls mit diesem Forschungsbereich befaßt war (486), finden sich zwei weitere an der Sozialforschungsstelle tätige Personen: Bruno Kuske und Helmut Schelsky121 (488). Der Grad der Kompromittierung dieser Wissenschaftler ist ausgesprochen unterschiedlich wie auch ihr Umgang mit dieser >Vergangenheit. Neuloh selbst wird von Gutberger zur Gruppe derjenigen gerechnet, die »vor bzw. auch während ihrer akademischen Karriere in Behörden Verwaltungserfahrung gesammelt« hatten -

und »in engem Kontakt

xis« (4, Fn. 10)

zur

amtlichen oder parteiamtlichen Verwaltungsprazählt insgesamt 13 Mitarbeiter der

standen12 Klingemann .

120

Wilhelm Brepohl, Walter Christaller, Walther G Hoffmann, Günther Ipsen, Richard Korherr, Hans Linde, Karl Heinz Pfeffer, Elisabeth Pfeil, Eduard Willeke (488). 121 Zur Karriere Schelskys vgl. die Darstellung bei Cobet (1988:21fr), Schäfer (1998) und andere Beiträge in Waßner (1988). Zur Auseinandersetzung mit dem von Neuloh propagierten Konzept der Realsoziologie s.o.

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

71

Sozialforschungsstelle123,

»deren Karriere vor 1945 begonnen hatte« (1996:261). Mackensen, ehemaliger Assistent Ipsens und Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle, spricht von einem »Rückstand aus deutscher Vergangenheit«, kommt jedoch zu einer etwas anderen >Liste< von Kompromit-

tierten124.

Diese Wissenschaftler bekleideten in der Sozialforschungsstelle nicht nur untergeordnete Stellungen; so hatten Brepohl, Ipsen, Jantke, Kuske und Linde Abteilungsleiterstellungen inne. Noch unter Ägide Schelskys kam Karl Heinz Pfeffer, der von vielen als besonders >belastet< hervorgehoben wird, 1962 an die Sozialforschungsstelle125.

Methoden der

Sozialforschung

Das Novum der Sozialforschungsstelle war, daß man im Vergleich zu manchen Forschungseinrichtungen der Weimarer Zeit126 empirische Forschung nicht nur propagierte, sondern auch tatsächlich betrieb. Methodisch wurde in den Studien der Sozialforschungsstelle mit einem recht breiten Spektrum von Erhebungs- und Auswertungstechniken gearbeitet. Es läßt sich kein spezifischer Forschungsstil ausmachen; eine Besonderheit scheint eher darin zu liegen, daß keine Vorgehensweise favorisiert oder ausgegrenzt wurde. Bedingt durch die zunehmende Konzentration auf industrie- und betriebssoziologische Forschungen setzten sich doch die stärker fallanalytisch und typologisierend vorgehenden Ansätze durch, die weiterhin für die Industriesoziologie vorherrschend blieben und heute der qualitativen Sozialforschung zugerechnet werden. In verschiedenen Studien wurde jedoch versucht, standardisierte Befragungen parallel zu qualitativen Verfahren der Beobachtung oder der vertiefenden Interviews einzusetzen. 123 Neben vielen der bei Gutberger angesprochenen Personen führt Klingemann darüber hinaus Carl Jantke und Kurt Utermann an. ' 4 An der Sozialforschungsstelle »hatte sich ein Rückstand aus deutscher Vergangenheit etabliert mit Hans Freyer, als dem Repräsentanten der > Leipziger Schule < in Münster, in Dortmund mit Günther Ipsen aus der Jugendbewegung, sogar dem NS-prominenten Karl-Heinz Pfeffer, Johannes Papalekas als Verehrer Carl Schmitts, Hannes Kesting und Niklas Luhmann als ehemalige Geh/en-Assistenten, Elisabeth Pfeil als frühere Mitarbeiterin von Hans Harmsen und andererseits Otto Neuloh, Friedrich Siegmund-Schultze und Wilhelm Brepohl als Nachkommen bürgerlicher Bewegungen der politischen Arbeiterkultur aus der Weimarer Zeit« (Mackensen 1998a:174f). Zu Brepohl bemerkt Mackensen, ihm sei dessen frühere Tätigkeit unbekannt gewesen. In seiner Einschätzung Ipsens bleibt Mackensen eher sibyllinisch (1985:42f). Mackensen wehrt sich jedoch gegen eine zu pauschale Einordnung der Sozialforschungsstelle und die »Konstruktion einer >i-

SippenhaftGründungsphase< (1949-1965)

Hoffmann entwickelte sein methodisches Selbstverständnis

an

der Bezie-

hung von quantitativ-statistischen und qualitativen Verfahren127; so könne ein gut ausgebautes Forschungsinstitut wie die Sozialforschungsstelle nicht auf eine Hollerith-Anlage verzichten und auf dem Arbeitstisch des Sozialforschers werde man »Rechenschieber und Logarithmentafel« (1952:330) finden. »Er kann sich aber nicht darauf (quantitativ-statistische Verfahren C.W.) beschränken, sondern muß notwendig auch mit zahlreichen sonstigen Methoden arbeiten, die einmal vorläufig mit qualitativen Verfahren gekennzeichnet seien« (331); hier ging er insbesondere auf Verfahren der Klassifikation und der Typenbildung ein. In verschiedenen Beiträgen und methodischen Anmerkungen zeigte sich ein Bemühen um Qualitätssicherung in der empirischen Erhebungs- und Auswertungsarbeit; das war bereits auf der Tagung >Empirische Sozialforschung< deutlich geworden. Man grenzte sich gegen die »Eiferer« und »Weltbeglücker« ab, die das »Ansehen dieses jungen Wissenschaftszweiges diskreditiert haben« und bemühte sich, »den Werkzeugkasten des Gelehrten« durch »feinere Instrumente« zu ergänzen (Hoffmann 1952:324). Zur Rolle der Sozialforschungsstelle Die Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster hat für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland eine zentrale Rolle gespielt; diese ging vor allem auf die geleistete Forschungsarbeit, insbesondere im Bereich der Arbeits-, Betriebs- und Industriesoziologie, und ihre fachliche bzw. professionelle Sozialisationsfünktion zurück. Auch in den meisten zeitgenössischen und soziologiegeschichtlichen Darstellungen wird die besondere Bedeutung der Sozialforschungsstelle für die empirische Forschung in der Bundesrepublik hervorgehoben128. Demgegenüber finden sich jedoch auch Einschätzungen, die der Sozialforschungsstelle in den fünfziger Jahren den wissenschaftlichen Charakter absprechen; so hatte Ciaessens von einer eher »sozialkundlichen« (1998:45) Orientierung vor der Übernahme durch Schelsky gesprochen.

Dieses Etikett macht sich vermutlich an der Person und der volkskundlichen Orientierung Brepohls fest, wird aber den Arbeiten von Popitz und Bahrdt kaum gerecht, die unbestritten als wichtige Beiträge zur industriesoziologi127

Implizit zog er dabei das Argument heran, daß die Größe der Grundgesamtheit (der Großbetrieb, die Großstadt) die quantifizierenden Verfahren unumgänglich mache. Dabei ging er auch auf Stichprobenverfahren und Probleme der Repräsentation ein. 128 König bezeichnete sie als »ein wesentliches Zentrum der Sozialforschung in Deutschland (...) dessen Bedeutung gar nicht unterschätzt werden kann« (1956a:530). Die Darstellung von Lepsius war demgegenüber verhaltener; er sprach von einem »bedeutenden soziologischen Forschungsinstitut« (1979:34); für die sechziger Jahre hob er stärker die Habilitations- und Arbeitsmöglichkeiten an der Sozialforschungsstelle als ihre inhaltliche Arbeit hervor. Schelsky (1980a:439) und Neuloh (1983:20) betonten, daß die Sozialforschungsstelle die größte derartige Forschungseinrichtung in Europa gewesen sei. Ansonsten war das Verhältnis von Neuloh und Schelsky eher von Anwürfen wechselseitigen geprägt.

II. Institutionen der empirischen

sehen

Forschung begriffen

Sozialforschung

werden. Mackensen

folgt

der

73

Einschätzung

Ciaessens, räumt aber ein, ihm erscheine »es eher als Zufall, daß aus diesem Gemisch doch Arbeiten entstehen konnten, die für die weitere Entwicklung der Soziologie in Deutschland wesentlich werden sollten« (1998a:175)129. Eine sehr spezifische Einschätzung wird von Scheuch (1990a:42) vorgebracht; er stellt die methodische Orientierung der Sozialforschungsstelle dar, als habe man hier unter Beteiligung ehemaliger Nazis nach einem methodischen Konzept (Soziographie) gearbeitet, das seine Blüte im Nationalsozialismus erfahren habe130. Die Argumentation ist in dieser Form kaum nachvollziehbar: Auf das Wirken von Forschern, die sich in ihrer beruflichen Karriere mehr oder weniger eng mit nationalsozialistischem Gedankengut identifiziert hatten, war bereits deutlich hingewiesen worden; wie diese Personen die Themen und die Forschungsmethodik beeinflußt haben, ist jedoch nicht so einfach nachzuzeichnen. Zudem kann man die soziographische Methode nicht umstandslos als die Methode der Nationalsozialisten oder als eine unter den Nationalsozialisten dominante Methode bezeichnen131. Diese Einschätzungen zur Arbeit und zur Bedeutung der Sozialforschungsstelle wurden durchgängig von >Interessierten< getroffen, die über ihre eigene berufliche Entwicklung, als zeitgenössische Wissenschaftler mit dezidiert anderen bzw. konkurrierenden Optionen mit der Sozialforschungsstelle >verstrickt< waren. Sie erlauben einen guten Einblick in die Konfliktlinien, die das Feld der Sozialforschung prägten: Im Vordergrund scheinen die Auseinandersetzungen um den wissenschaftlichen Charakter der Sozialforschung zu stehen in der Notation Ciaessens >sozialkundlich< vs. >theoretisch-soziologischGründungsphase< (1949-1965)

kaum eine Trennung zwischen Soziologen in (universitärer) Wissenschaft und in der Praxis« (1994:232) gegeben. Schließlich ging es in den Auseinandersetzungen um die Rolle der Soziologen und Sozialforscher, die sich unter der nationalsozialistischen Herrschaft in der einen oder anderen Weise kompromittiert hatten. An der Argumentation Scheuchs wird deutlich, daß diese Konfliktebenen gern miteinander verquickt wurden; so verknüpfte dieser seine Stellungnahme zu den nationalsozialistisch Belasteten mit einer Fundamentalkritik des Forschungsstils. Das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften Das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften wurde 1946 gegründet. Im Unterschied zu den hochschuleigenen oder hochschulnahen Forschungsinstituten war es das erste Forschungsinstitut in Trägerschaft einer politischen Organisation. Die Forschungsarbeit und Wissenschaftsorientierung der Gewerkschaften konnte jedoch an eine Tradition der Gewerkschaftsstatistik und gewerkschaftlicher Forschungen anknüpfen, die bereits im Kaiserreich und in Weimarer Republik ausgebildet worden war (von Mayr [1895] 1914:212); auch im Kuratorium des Instituts für Konjunkturforschung waren verschiedene Gewerkschaften vertreten (Kulla 1996:38). Mit der Be>wirtschaftswissenschaftlich< wurde zeichnung demgegenüber jedoch ein indiziert. Fanden sich in der Weimarer Zeit spezifischer Forschungszuschnitt auch Studien zur Lebenslage einzelner Beschäftigtengruppen, ging es nun doch eher darum, die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Optionen bzw. die tarifpolitischen Forderungen der Gewerkschaften zu fundieren und argumentativ zu stärken. Mit den sich verändernden Kräfteverhältnissen unterschiedlicher politischer Gruppierungen in den Gewerkschaften132 und mit den Veränderungen im politischen Raum der Bundesrepublik Deutschland hat sich der Aufgabenzuschnitt des Instituts -jeweils vermittelt über die Institutsleitung mehrfach verändert; für die Herausbildung der empirischen Sozialforschung in der Nachkriegsphase sind daher nur einzelne Aspekte der Institutsarbeit von Interesse. Markmann und Spieker, später Geschäftsführer am WSI, rekonstruierten zum vierzigjährigen Bestehen des Instituts die Beweggründe der Institutsgründung: Den Gewerkschaftsgründern sei nach der nationalsozialistischen Herrschaft klar geworden, daß gesunder Menschenverstand und gesellschaftliches Engagement nicht mehr hinreichen, der wachsenden Komplexität des Wirtschaftsprozesses gerecht zu werden. Man hoffte auf exakte wissenschaftliche Beobachtung, Analyse und Reflexion133.

b)

-

132

Vgl. Weischer (1988:148ff).

Sie merkten dazu an, daß vermutlich auch eine spezifische Wissenschaftsgläubigkeit im Spiel gewesen sei, »die aus der lange anerzogenen Ehrfurcht vor scheinbar werturteilsfreien, aber in Wirklichkeit häufig interessengebundenen Äußerungen aus der akademischen Welt resultierte«

(Markmann/ Spieker 1986:121).

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

75

»Beides, wissenschaftliche Analyse und Beratung einerseits sowie von versteckten kapitalorientierfreie Aussagen andererseits, war aber von Universitäten, Hochschulen und Instituten nicht ohne weiteres zu erwarten; da lag es für die Gewerkschaften nahe, sich eigene wissenschaftliche Kapazitäten zu schaffen, die zwar nach wissenschaftlichen Methoden arbeiten, aber ihren Inter-

ten Wertungen

essenstandpunkt nicht verbergen und andere Interessen bloßlegen« (Markmann/ Spieker 1986:121). In den ersten Jahren stand die »Ermittlung und Zusammenstellung wirtschaftspolitischer Rahmendaten« sowie »die Operationalisierung der programmatischen Ansprüche« (Hülsdünker 1983:302), insbesondere der wirtschaftsdemokratischen Forderungen der Gewerkschaften im Vordergrund der Institutsarbeit. Man sah sich unter politischem Druck, die Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften in der Montanmitbestimmung unter Beweis zu stellen. Hülsdünker beschreibt die Rolle des Instituts innerhalb der gewerkschaftlichen Organisation als die eines Scharniers zwischen Gewerkschaftsführung und Betriebspraktikern (insbesondere den Arbeitsdirektoren, aber auch den Betriebsräten und Belegschaften), »so daß der größte Teil der dem WWI angetragenen Probleme und der von ihm entwickelten und bearbeiteten industrie- und betriebssoziologischen Fragestellungen unmittelbar aus dem Arbeitsfeld der in der mitbestimmten Hüttenindustrie engagierten Gewerkschafter herrührt« (307). Mit der Montanmitbestimmung aber auch mit der Tarifvertragspolitik erlangten die Gewerkschaften Einflußmöglichkeiten auf die betriebliche Lohn- und Leistungspolitik; in diesem Zusammenhang arbeiteten sie auch im RKW und im Refa-Verband mit. Die vorgelegten Forschungsberichte der ersten Jahre zeichneten sich dadurch aus, daß sie mit ihrer »fast >broschürenhaften< Darstellungsform« (304) weitgehend auf theoretische Einordnungen und Reflexionen verzichteten und für den Einsatz als Schulungsmaterial und Argumentationshilfe geeignet waren. Die Forschungsarbeiten hatten immer auch die Funktion, gewerkschaftliche Stellungnahmen zu erarbeiten und zu begründen. For-

schungsschwerpunkte lagen bei den Themen Montanmitbestimmung, Rationalisierung, Arbeitsleistung und Lohngestaltung134. Das Institut war insbesondere in den ersten Jahren sehr eng an die Gewerkschaften gebunden; es erarbeitete Gutachten und Stellungnahmen; Vertreter des Instituts waren in verschiedenen Mitbestimmungsgremien und Kooperationsorganen (RKW, Refa-Verband etc.) tätig; schließlich war das Institut auch für einzelne Bereiche der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zuständig. Die lohnstatistischen Erhebungen, die vom ADGB durchgeführt worden waren, fanden zunächst keine Fortsetzung; 1949 und 1950 wird jedoch eine repräsentative

Effektivverdiensterhebung durchgeführt (Gerß 1977:331). Bei dieser Erhebung griff man nicht auf die eigenen Organisationsressourcen zurück, sondern vergab einen Auftrag an das EMNID-Institut. Ab 1954 wurde auch die Wichtige Studien im industrie- und betriebssoziologischen Bereich waren »Gewerkschaften und Arbeitsstudien (Keller 1948b), »Grundfragen der Arbeitsbewertung< (1948a), »Arbeitsleistung und Lohngestaltung< (1949) sowie »Der Arbeitsplatz im Rahmen der betrieblichen Organisation (Heitbaum 1949).

76

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Tariflohnstatistik auf Basis des institutseigenen Tarifarchivs wieder aufgeErmittlung von durchschnittlichen Tarifsatzänderungen unterschied sich von den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (332). Ende der vierziger Jahre wurde mit der Integration der Abteilung > Statistik

nommen; die

und Konjunkturbeobachtung< des Statistischen Instituts für die Britische Besatzungszone der wirtschaftsstatistische Bereich weiter verstärkt. Der Leiter dieses statistischen Instituts, Rolf Wagenführ135, wurde zum Leiter der Abteilung >Wirtschaftsbeobachtung und Konjunkturverlauft. Daneben bestanden Anfang der fünfziger Jahre die Abteilungen Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik unter Viktor Agartz und die Abteilung >Betriebs- und Sozialwissenschaft136< unter Erich Potthoff137. Diese Abteilungsstruktur hatte jedoch keinen längeren Bestand; nachdem Wagenführ 1952 das Institut »im Unfrieden« (Braun 1986:121) verlassen hatte, wurde das Ressort unter den beiden großen Abteilungen aufgeteilt. Ab 1953 geriet das Institut unter einen wachsenden politischen Druck, der sich an der Person Agartz festmachte, der in Pressedarstellungen als >Chefideologe< des DGB dargestellt wurde und der für ein Festhalten an den in der Nachkriegszeit entwickelten gesellschaftspolitischen Optionen der Gewerkschaften stand. 1955 kam es schließlich zum offenen Konflikt und zu einer weitreichenden personellen und inhaltlichen Neustrukturierung des WWI, nicht zuletzt auch um der Gefahr einer drohenden Gewerkschaftsspaltung entgegenzuwirken. Mit dem Sturz von Agartz wurden auch weitere ihm nahestehende Mitarbeiter, Theo Pirker und Walter Horn aus dem WWI entlassen. Das bislang praktizierte kollegiale Leitungsprinzip wurde im folRolf Wagenführ, geboren 1903, war zu Beginn der dreißiger Jahre am Berliner Institut für Konjunkturforschung (ab 1941: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) tätig. In den späten dreißiger Jahren wurde er dort Abteilungsleiter. Die ihm unterstellte Industrieabteilung arbeitete seit 1943 »so gut wie ausschließlich für das Rüstungsministerium« (Krengel 1986:67). Galbraith bezeichnete Wagenführ später als »leitenden Volkswirtschaftler und Statistiker des Speerschen Ministeriums« (zitiert nach Krengel 1986:82). Von anderen sei er als »Roastbeef NaziArbeiter, Management, Mitbestimmung< von besonderer Bedeutung. Beide Untersuchungen hatten gegenüber der früheren eng organisations- und anwendungsbezogenen Forschungsarbeit stärker den Charakter wissenschaftlicher Studien. Während die Untersuchung >Psychologie im Betrieb< eher als Literaturstudie angelegt war, hatten die Untersuchungen der Forschungsgruppe Pirker u.a. mit sozialstatistischen Analysen, einer standardisierten Befragung und einigen Gruppendiskussionen ein breites empirisches Fundament. Die Forschungsgruppe war an der industriesoziologischen Außenstelle des WWI angesiedelt; diese wurde mit dem Ende der Forschungsarbeiten aufgelöst. Hülsdünker konstatiert, daß später die »industrie- und betriebssoziologische Arbeiten mit gewerkschaftspolitischem Grundsatzcharakter, wie sie für die Gründungsphase kennzeichnend waren (...) nicht wieder aufgenommen« (1983:382) wurden. Eine Ausnahme bildeten die Arbeiten Brauns, der beim DGB später Untersuchungen über Angestellte durchführte.

Bruno Gleitze war, wie bereits Wagenführ, zuvor am Deutschen Institut für WirtschaftsforSeit 1949 leitete er dort die neu geschaffene Abteilung »Sowjetische Besatzungszone< (Krengel 1986:106). 1954 trat er ins WWI ein und übernahm die Schriftleitung. Zur Frage der Autonomie des Instituts gingen die Stellungnahmen auseinander. Pirker, der im Zusammenhang der Agartz-Affäre das Institut verlassen mußte, bezeichnete in einem Interview das damalige WWI als »vollkommen autonom« (Jander 1988:89). Hülsdünker berichtete aus einem Gespräch mit dem späteren Institutsleiter Markmann, Gleitze habe diesem bei seiner Einstellung mitgeteilt: »Vergessen Sie ihre Sozialwissenschaft« (1983:378, Fußnote 1). Gleitze wurde 1966 als Wirtschaftsminister des Landes NRW berufen und verließ das Institut.

schung tätig gewesen.

78

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Das Wirtschaftswissenschaftliche Institut wurde bereits in den vierziger Jahren von den Gewerkschaften personell recht gut ausgestattet. Nach der Integration der Abteilung Wagenführs waren 1949 etwa 35 Mitarbeiter beschäftigt; bis 1955 wuchs die Zahl auf 55, wurde dann aber nach einem Beschluß zur Verkleinerung des WWI 1957 auf 41 zurückgeführt. Etwa die Hälfte der Mitarbeiter war im wissenschaftlichen Bereich tätig. Erst in den siebziger Jahren kam es wieder zu einem Anwachsen der Mitarbeiterschaft.

Leitbilder empirischer Forschung betonten ihr Selbstverständnis als Vertreter einer positiven Sozialforschung, geschieden von den Ansätzen einer normativen Sozialwissenschaft (Sozialphilosophie, Sozialtheologie) auf der einen Seite und der Sozialtechnik (politische Wissenschaften, Sozialpädagogik) auf der anderen Seite. Zudem setzten sie sich gegen die vorliegende kulturkritisch inspirierte >Sozialliteratur< zum Thema >Mensch und Technik< bzw. >Mensch und Betrieb ab. Als Vertreter einer Industriesoziologie, die sich aus verschiedenen Quellen speist »die Arbeitssoziologie, die Betriebssoziologie, die Regionalsoziologie, die Klassensoziologie« (Pirker u.a. 1955:26) sahen sie sich als Mitstreiter bzw. Vorreiter in einem Prozeß gesellschaftlicher Rationalisierung, insbesondere der industriellen Beziehungen. Sie gingen davon aus, »daß die Aufgabe der sozialen Rationalisierung nur als gemeinsame Leistung des Managements, der Belegschaften, der Gewerkschaften und der Sozialwissenschafter angegangen und optimal gelöst werden kann« (37). Sie begriffen soziologische Forschung als Forschung, die sich an gesellschaftlichen Problemlagen orientierte und Mittel zu ihrer Bearbeitung entwickelte, ohne jedoch einen wissenschaftlich analytischen Zugriff auf die soziale Welt zu vernachlässigen. Für die Konzeption und Organisation sozialen Wissens wiesen sie der Konstruktion von Idealtypen und Modellen orientiert an der modernen Ökonomie einen besonderen Stellenwert zu; sie machten jedoch auch auf die Schwierigkeiten aufmerksam, denen ein solches Modelldenken im historisch und sozialphilosophisch geprägten deutschen Diskurs unterliegt (22). Bei der Modellkonstruktion maßen sie dem Verwendungsaspekt besonderes Interesse zu. Siegfried Braun hatte das Frankfurter Institut für Sozialforschung verlassen, weil ihm das Institut in der Wissenschaftsauffassung zu akademisch gewesen sei: man habe die Bedeutung von Wissenschaft für die Gestaltung der Gesellschaft »zu gering veranschlagt«, äußerte er in einem Interview (Braun Pirker

u.a.

-

-

-

-

1987:15). Mit diesen Positionsbestimmungen wurde von Pirker und Braun ein Wissenschaftsverständnis umrissen, das sich als »nicht universitätsorientiert« (Jander 1988:58) begriff142. Ein wichtiger Adressat dieser industrie-

Pirker schilderte retrospektiv: »Die deutsche junge Industriesoziologie hat ja am Anfang nicht gedacht wie Adomo -, die Soziologie an den Universitäten zu etablieren. Sondern wir haben ja diese Untersuchung nicht auf unseren akademischen Ruhm oder Nachruhm hin gemacht wir wollten ja die Praxis der Arbeitsdirektoren, Betriebsräte und Gewerkschaften verändern. (...) Es -

-

-

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

79

soziologischen Forschung waren die Arbeitsdirektoren und die ihnen unterstehenden Verwaltungsbereiche. Man wollte mit der wissenschaftlichen Forschung exemplifizieren, wie betriebliche Untersuchungen durchgeführt und Betriebsdaten für das Sozialmanagement genutzt werden könnten. Sie begriffen es daher als eine Aufgabe der industriesoziologischen Forschung, »Methoden der Beobachtung und Erfassung sozialer Vorgänge im Industriebetrieb zu entwickeln, die vom Management aufgenommen und praktiziert werden können. Dabei wird es sich vorerst um die Erarbeitung einer sozialstatistischen Methode handeln« (Pirker u.a. 1955:35). Im Gegensatz z.B. zu manchen Studien der Sozialforschungsstelle, die sich stark an den Konzepten der amerikanischen Gruppensoziologie orientierten, bezogen sich die theoretische Konzepte der Forschungsgruppe Pirker, Braun, Lutz und Hammelrath stärker auf den französischen Diskurs143. Auch im Forschungsdesign unterschied sich die Forschungsgruppe von anderen industriesoziologischen Forschungsansätzen, obwohl die eingesetzten Erhebungsinstrumente manche Entsprechung aufwiesen. Pirker u.a. stellten eine, wie sie es nannten, sozialstatistische Analyse von Daten der betrieblichen Statistik in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Die standardisierte schriftliche Befragung, die sie darüber hinaus durchführten, orientierte sich am Untersuchungshorizont der Daten der betrieblichen Statistik, enthielt aber auch eine Reihe von Einstellungsfragen (zu Arbeit, Arbeitsklima, Entlohnung, betriebliche Zukunft sowie zur Einschätzung der betrieblichen Interessenvertretung und der Mitbestimmung). Der so erhobene durchgehend quantifizierte Datenbestand wurde uni- und bivariaten statistischen Analysen unterzogen. Die Forscher beschrieben ihr Vorgehen als nndirekte Methode^ die ihre Materialien »ohne Zwischenschaltung der Arbeiter aus Aufzeichnungen und Karteien der untersuchten Werke« (44) gewann. Sozialforschung und Gewerkschaft Die Bedeutung des WWI für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der BRD blieb recht begrenzt. Das Institut lieferte jedoch ein frühes Beispiel für die organisierte Produktion und Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens im Kontext von politischen Organisationen und Parteien. Die Forschungsarbeit folgte einer pragmatischen Grundorientierung und ist weitgehend organisationsgebunden. Wie auch bei der Sozialforschungsstelle wurde in dieser Phase auf die Vermittlung von Forschungsergebnisse innerhalb und außerhalb der Organisation besonderer Wert gelegt; das spielte insbesondere für

war

die Gewerkschaften eine

also eine Art unmittelbarer

Verbesserung der Sozialstatistik der Belegschaft« (58). gung 143

wichtige Rolle, da sie bis in die

Institutionalisierung der Sozialforschung. Das reichte von einer und Lohnstatistik bis hin zu einer permanenten Meinungsbefra-

So hatte Burkart Lutz 1952 und 1953

Übersetzungen des derzeit führenden französischen In-

dustriesoziologen Georges Friedman übersetzt und eingeleitet (Friedmann 1952, 1953, 1959).

80

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

siebziger Jahre hinein ihren Funktionärskörper in hohem Maße aus ihrer eigenen Mitgliederschaft (vgl. Witjes 1976) reproduzierten. Die Orientierung an wissenschaftlichen Standards spielte, von wenigen Ausnahmen abgese-

hen, in dieser Zeit nur eine nachrangige Rolle.

In den Konflikten um das WWI wurden exemplarisch die Grundprobleme einer solchen organisationsgebundenen Sozialforschung deutlich: die Forschungsarbeit wie auch die Sozialforscher waren oft unmittelbar in die strategischen Spiele innerhalb und außerhalb der Organisation Bei der Neustrnkturierung des WWI nach der Agartz-Affäre wurde eine >Verwissenschaftlichung< der Forschungsarbeit vorangetrieben, um einige dieser Konflikte, die aus der engen Einbindung in die Organisationspolitik erwachsen waren, zu regulieren. Während die Sozialforschungsstelle insbesondere unter der Leitung Schelskys einen recht engen Wissenschafts- und Hochschulbezug ausbildete, der sie zur Sozialisationsagentur einer ganzen Generation von Hochschullehrern machte, stellte sich für das WWI kein derartiger Ausstrahlungseffekt in den universitären Raum ein. Die Karrierewege der dort Beschäftigten führten weit eher in das politische denn in das wissenschaftliche Feld; eine Ausnahme stellte die Forschungsgruppe Pirker, Lutz, Braun und Hammelrath145 dar. Sie verknüpften ihre politische Stellungnahme für bestimmte Optionen gewerkschaftlicher Politik mit einem

eingebunden144.

spezifischen wissenschaftlichen Selbstverständnis. Mitglieder dieser Gruppe gehörten zu den Gründern des >Clubs der Industriesoziologem, aus dem später die Sektion Industriesoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hervorging146. Sie standen dem Prozeß der akademischen Institutionalisierung der Soziologie skeptisch gegenüber; ihre akademischen Karrieren verliefen, verglichen mit anderen, eher gebrochen147.

Pirker machte in einem Interview deutlich, daß Agartz eigentlich eher an den »höheren gewerkschaftspolitischen und politischen Dimensionen« (Jander 1988:88) interessiert gewesen sei; industrie- und betriebssoziologische Forschungsarbeit wurde in diesem Rahmen mehr zu einem Instrument seiner strategischen Arbeit. Pirker, Lutz und Braun hatten bereits in der Nachkriegszeit zusammengearbeitet, als sie in der Redaktion der zunehmend linkskatholisch orientierten Jugendzeitschrift »Ende und Anfang< tätig waren. Lutz schildert: »Zu den >Augsburgem< (u.a. Braun C.W.), die sich alle noch aus der Schulzeit kannten, und denen ich mich ohne zu zögern (...) anschloß, stießen bald auch mehrere »Mün-

vor allem Theo Pirker und Ernst Schumacher, die uns mit der Macht ihrer Argumente und der Überzeugungskraft ihrer proletarischen Herkunft sowohl zu einer scharfen Politisierung als auch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Marxismus zwangen was wir gleichermaßen als intellektuelle wie als existentielle Herausforderung verstanden« (Lutz 1998:67f). dazu auch Braun (1987:14). Vgl. 14 »1955 fanden sich, unter aktiver Beteiligung von Lutz, gleichaltrige Kollegen aus vier Untersuchungsgruppen (die Gruppe um Popitz und Bahrdt), Angehörige des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Mitarbeiter des von Schelsky geleiteten Projekts zur Jugendarbeitslosigkeit und die ehemalige WWI-Gruppe) zu einem informellen Arbeitskreis zusammen, der bald darauf als Sektion >Industriesoziologie< der Deutschen Gesellschaft für Soziologie anerkannt wurde und erstmals 1959 beim Berliner Soziologentag in Erscheinung trat« (Grünert 1998:151). Theo Pirker war nach seiner Entlassung aus dem WWI als unabhängiger industrie- und betriebssoziologischer Forscher sowie als Journalist und Publizist im In- und Ausland tätig. 1972

chenen,

-

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

81

Bedeutung gewerkschaftlicher Aktivitäten für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung ging über das gewerkschaftseigene Forschungsinstitut hinaus. So haben sie z.B. entscheidend zur Darmstadt-Studie beigetragen, die umfangreiche Untersuchung Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend< an der Akademie für Gemeinwirtschaft gefördert und sich an der Finanzierung der Sozialforschungsstelle beteiligt (vgl. Schelsky 1980a:447). Die

Dennoch blieb das Verhältnis der Gewerkschaften zur wissenschaftlichen Forschung prekär. Bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre entwickelte sich das Institut »mehr und mehr zu einer Einrichtung, die zwar nach außen kritische Diskussionen führte, innerhalb der Gewerkschaften aber auf die Funktion, >facts and figures< zu liefern, beschränkt wurde, von der also eher ideologische oder rein praktizistische als wissenschaftliche Vermittlungen erwartet wurden« (Braun 1986:120f). Die Ansprüche an das Institut wurden zunehmend auf einen pragmatisch orientierten Beratungsbedarf zurückgenommen. So, resümiert Braun, sei die > Industriesoziologische Forschungsgruppe< als Störfaktor betrachtet worden148. Auch wenn diese Darstellung durch persönliche Enttäuschungen und das Scheitern einer politischen Erneuerung der Gewerkschaften zugespitzt sein mögen, beschreiben sie dennoch treffend, welche Schwierigkeiten den Gewerkschaften diese neuen Formen empirischen Wissens über die soziale Welt bereiteten149. Dem auch von der amerikanischen Militäradministration gestützten Versuch150, die Gewerkschaften stärker für die Möglichkeiten empirischer Forschung zu interessieren, war zunächst kein nachhaltiger Erfolg beschert. Das Institut für Sozialforschung Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt, das zu Beginn der fünfziger Jahre seine Arbeit wieder aufnahm, ist nur bedingt als Fortführung des Instituts zu begreifen, wie es in der Weimarer Zeit bzw. in der Emigrationsphase bestanden hatte. Mit Adorno, Horkheimer und Pollock bestand eine gewisse

c)

übernahm er schließlich eine Professur für Soziologie an der FU Berlin. Auch Burkart Lutz war längere Zeit als »Freischaffenden in der industriesoziologischen und der Arbeitsmarktforschung tätig, u.a. am Institut für Sozialforschung in Frankfurt, am Infas- und am Ifo-Institut sowie für das RKW. 1964 gründete er das Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München, 1967 wird er zum Honorarprofessor ernannt. Siegfried Braun verblieb zunächst beim WWI und war dann in RKW-Forschungsprojekten zum technischen Wandel am soziologischen Seminar in Göttingen tätig. Nach einer Tätigkeit an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg wurde er dort 1972 und dann 1973 in Bremen Professor für Soziologie. Insbesondere dann, »wenn sie nicht-objektivistisch von Klassenstrukturen sprachen, oder als Lückenbüßer, wenn dem gewerkschaftlichen Ökonomismus die Argumente ausgingen (...)« (122). Daß der Umgang mit sozialwissenschaftlichem Wissen innerhalb des DGB durchaus unterschiedlich war, zeigt die von Schelsky geleitete Studie zu Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Judie von der Hauptabteilung Jugend des DGB maßgeblich unterstützt wurde. gend, 1 ° Schelsky betonte insbesondere die Rolle des für die Militärregierung tätigen Neis Anderson. Er habe »den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) entscheidend beeinflußt, sich mit einer sozialwissenschaftlichen Forschung (die Darmstadt-Studie C.W.) zu befassen« (Schelsky 1980a:447).

82

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

personelle Kontinuität; auch die theoretischen Bezüge auf die kritische Theorie blieben ein wichtiger Bezugspunkt der Institutsarbeit; zugleich haben sich aber auch wesentliche Rahmenbedingungen der Institutsarbeit verändert: Das Institut hatte seine finanzielle Unabhängigkeit verloren. Es war wie viele andere Forschungsinstitute darauf verwiesen, aus verschiedenen Quellen Forschungsmittel und andere mehr oder weniger etatisierte Unterstützungsleistungen zu akquirieren151. Es mußte auch >Auftragsforschung< betreiben. Zudem wurde es in den fünfziger und sechziger Jahren in wachsendem Maße mit Ausbildungsaufgaben in der Soziologie betraut. -

Das wissenschaftliche Feld, in dem das Institut sich verorten und behaupten mußte, war in Bewegung geraten. Das Institut gehörte am Ende der Weimarer Zeit zu den Pionieren empirischer Forschung; nun stand es neben anderen sozialwissenschaftlichen Instituten, die je spezifische wissenschaftliche, politische und inhaltliche Schwerpunkte ausbildeten. Im Verlauf der fünfziger Jahre traten größere Veränderungen ein: Konnte sich das Institut anfangs über die amerikanische Erfahrung< seiner führenden Köpfe als Quasi-Monopolist in den >neuen amerikanischen Forschungstechniken< ausweisen, verbreitete sich dieses know how insbesondere durch die Arbeit verschiedener Stiftungen zusehends. Eine weitere Veränderung trat mit der gerade in Frankfurt favorisierten Professionalisierung und Akademisierung der Soziologie15 ein, die dann auch mit einer Veränderung der sozialwissenschaftlichen Strukturen an der Frankfurter Fakultät einherging153. Auch das politische Feld, in dem das Institut agierte, hatte sich (national wie international) erheblich verändert. Vor diesem Hintergrund sollte die Arbeit des Instituts, in Anerkenntnis der verschiedenen Vorgeschichten, stärker aus den wissenschaftlichen und politischen Kontexten der jungen Bundesrepublik und den Eigenlogiken empiri-

-

Demirovic verweist auf Finanzmittel der hessischen Landesregierung und des HICOG (1999:319); vgl. dazu auch Wiggershaus ([1986] 1993:492ff). Eine Finanzierung des Instituts als UNESCO-Institut hatte sich nach längeren Auseinandersetzungen zerschlagen; das Institut wurde schließlich in Köln angesiedelt (Demirovic 1999:311 ff). Demirovic betont, daß es »gegenüber anderen Bemühungen um die disziplinäre Institutionalisierung der Soziologie« ein spezifisches programmatisches Ziel des Instituts gab, »zu verhindern, daß die Soziologie zu einer untheoretischen Spezialausbildung verkäme« (1990:156). Steinert (1990b:21) wies mit seiner Formel von den »(mindestens) zwei Sozialwissenschaften

in Frankfurt« daraufhin, daß es bereits in der Weimarer Zeit neben dem Institut für Sozialforschung andere Vertreter der Sozialwissenschaften gab, so z.B. den Oppenheimer-Lehrstuhl. Auch in den fünfziger und sechziger Jahren hatte es neben dem Institut für Sozialforschung, das mit der Neustiftung bei der Amtsübernahme Horkheimers an die Philosophische Fakultät wechselte, eine Frankfurter Soziologie an der WiSo-Fakultät gegeben. Neben der Statistik waren das zunächst das 1943 gegründete soziographische Institut (Neundörfer, vgl. dazu Klingemann 1996:87ff), das Institut für Sozial-ökonomische Strukturforschung (Sauermann) und im Zeitraum zwischen 1957 und 1965 fünf neu eingerichtete Lehrstühle im Bereich der Soziologie: Kraft, Rüegg, Tenbruck, Zapf, Luckmann (vgl. Steinert 1990b:32).

II. Institutionen der

empirischen Sozialforschung

83

Forschungsinstitute begriffen werden154. In der Nachkriegsentwicklung des Instituts markierten die fünfziger und sechziger Jahre einen vergleichsweise konsistenten personellen und theoretisch konzeptionellen Zusammenhang. Nach 1969 trat das Institut unter neuer Institutsleitung, mit scher

einer veränderten theoretischen

Konzeption

und in

weitgehend

veränderter

personeller Besetzung in eine neue Entwicklungsphase ein. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte verglichen mit der Sozialforschungsstelle der fünfziger Jahre eine recht enge Universitätsbindung. Lepsius (1961:48) und Kern (1982:315) merkten an, es habe bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein immer auch die Funktion eines soziologischen Seminars wahrgenommen, und darunter habe die Wahrnehmung der empirischen Forschungsarbeit gelitten155. Verglichen mit den beiden anderen hier beschriebenen Instituten gehörte das Frankfurter Institut mit einem Stab von durchschnittlich etwa fünf bis acht Mitarbeitenden156 eher zu den kleineren Einrichtungen. Für einzelne Studien konnte dann aber ein größerer Kreis von wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräften rekrutiert werden157. Forschungsarbeiten Die inhaltlichen Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit des Frankfurter Instituts lagen bei Forschungen zur öffentlichen MeinungGruppenexperimente< entwickelte Erhebungsdesign zu einem Markenzeichen des Instituts159. Darüber hinaus finden sich verschiedene Studien, die sich, oft im engeren Sinne der Meinungsforschung, mit Reaktionen auf

Damit entgeht man auch einer »Geschichte der großen MännerGründungsphase< (1949-1965)

rechtsextreme bzw. antisemitische Aktionen und Propaganda, mit dem Frankreich-Bild, mit der Reaktion auf politische Ereignisse (Eichmann-Prozeß, Spiegel-Affäre) oder mit Fragen der Medienwirkung (ausländischer Rundfunksender) befassen160. Zu den industrie- und betriebssoziologischen Studien dieser Entwicklungsphase gehören neben der breit rezipierten Studie zum >Betriebsklima< (Institut für Sozialforschung 1955) Untersuchungen zur Fluktuation im Steinkohlenbergbau, zu Belegschaftsaktien bei Mannesmann, zu Fragen der Entlohnung, des Lohnanreizes und der Altersversorgung; auch die Untersuchung über Manager und Aktionäre ist diesem Themenkreis zuzuordnen161. Im Rahmen der bildungs- und hochschulbezogenen Forschung wurden Fragestellungen, die aus der Erforschung der öffentlichen Meinung erwuchsen, an die Gruppe der Studierenden gerichtet. Daneben finden sich die größer angelegten, 1956 abgeschlossenen Untersuchungen zu >Universität und Gesellschaft^ in der Studierende, Hochschullehrer und Experten befragt wurden162. Später entstand aus diesem Zusammenhang die 1961 von Habermas vorgelegte Studie > Student und Politikneuen amerikanischen Forschungsmethoden< in der Lehre vermittelt wurden. Man hatte sich bei der Wiedereinrichtung des Instituts verschiedene Aufgaben gestellt: die »Erziehung des soziologischen Nachwuchses«, die »Wiederbelebung der großen deutschen Tradition«, die »Verbindung dieser Tradition mit den neuen vor allem in Amerika, Frankreich und England entwickelten Methoden« und mit der »Ausbil160

Vgl. Schönbach (1961), Schmidt/ Becker (1967). Vgl. von Friedeburg (1963), von Friedeburg/ Weltz (1958), von Friedeburg (1957), Lutz/ Willener ( 1960). (1961a), 162 Demirovic (1999:208ff) oder auch Anger (1960) und Gembardt (1959). Vgl. 163 Vgl. Demirovic (1999:236ft). 164 Vgl. Teschner (1968) und Becker/ Herkommer/ Bergmann (1967). 165 Vgl. Dirks (1955). 161

Teschner

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

85

dung von Studenten in diesen Techniken durch Teilnahme an den Forschungen selbst« (Pollock 1955:V)166. Neben Adorno und Horkheimer führten u.a. von Friedeburg und Egon Becker Einführungen und Praktika zur empirischen Arbeit durch. Zudem boten sich entsprechend den didaktischen Vorstellungen des Instituts in den verschiedensten Projekten für die Studierenden Gelegenheiten, eigene Forschungserfahrungen zu sammeln. Für die Forschungsarbeit bedeutete dies jedoch da stellte das Frankfurter Institut keine Ausnahme dar -, daß sie eher von qualifizierten Amateuren denn von Professionellen betrieben wurde. Angesichts dieser Rahmenbedingun-

-

-

gen, erreichten manche Studien eine beachtliche >handwerkliche< Qualität. Neben der Frankfurter Soziologieausbildung hatte Adorno zusammen mit dem Gießener Agrarsoziologen Rolfes167 auch die wissenschaftliche Beratung des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung in Darmstadt übernommen168, wo orientiert an amerikanischen gemeindesoziologischen Studien (z.B. den Middletown-Studien) eine umfangreiche Studie über die Stadt und Region Darmstadt entstand169.

Leitbilder empirischer

Sozialforschung und ihrer Kritik

Über die praktische Forschungsarbeit und die Qualifizierung von Studieren-

den in empirischen Forschungsmethoden hinaus hat das Frankfurter Institut das Feld der empirischen Sozialforschung in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem durch theoretische Beiträge zur empirischen Sozialforschung geprägt. Eine erste Einschätzung hatte Adorno auf der eingangs analysierten Tagung >Empirische Sozialforschung< vorgetragen. Das Grundmuster der Argumentation hat sich in den verschiedenen Beiträgen, die er in den folgenden Jahren bis kurz vor seinem Tod abgab, nicht grundsätzlich verändert; allenfalls haben sich die Gewichtungen etwas verschoben. Auf der einen Seite stand eine recht grundsätzliche Kritik der empirischen Sozialforschung als positivistisch, an naturwissenschaftlichen Vorbildern Zu einzelnen Forschungsarbeiten wurde in der Selbstdarstellung des Instituts vermerkt, diese seien übernommen worden, um Studierenden geeignete Ausbildungsmöglichkeiten zu geben (Institut für Sozialforschung 1990:21). Max Rolfes war in den vierziger Jahren als Abteilungsleiter am »Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront tätig gewesen. Vgl. dazu Gutberger (1996:402f), aber auch Kötter (1998:30). Bei Kötter finden sich auch Hinweise auf die Genese des Darmstädter Instituts. 168 Vgl. dazu Demirovic (1999:340f). Das Institut war 1949 auf Anregung von Neis Anderson konstituiert worden; es wurde von der amerikanischen Militäradministration finanziert und in Zusammenarbeit mit der gewerkschaftlichen Akademie der Arbeit in Frankfurt betrieben. Zur Durchführung der Studien waren 10 wissenschaftliche Mitarbeiter sowie ein Stab von Feldarbeitern beschäftigt; die Ergebnisse der Studien wurden in 10 thematisch orientierten Bänden vorgelegt (vgl. Anderson (1956), Adorno ([1952] 1962), Ferber (1952, 1956b), Stauffer (1954); zu den Ergebnissen der Darmstadt-Studie vgl. exemplarisch Kuhr/ Koepnick (1952) und Mausolf (1952). Nach Beendigung der Arbeiten stellte das Institut seine Tätigkeit ein. Neben der expliziten Forschungsaufgabe sollte das Institut auch einen Beitrag zur Verbreiterung und Förderung der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung liefern und insbesondere der Qualifizierung des sozialwissenschaftlichen Nachwuchses dienen.

86

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

orientiert, verdinglichend, theorielos, administrativen und ökonomischen Interessen dienend. Auf der anderen Seite wurde versucht, in der empirischen

Sozialforschung Potentiale der Demokratisierung, eine heilsame Korrektur gegen die deutsche geisteswissenschaftliche Tradition und schließlich einen Ansatz für Forschungen in emanzipatorischer Absicht zu sehen. Ein zentrales Moment all dieser Facetten des Diskurses um empirische Sozialforschung scheint das Verhältnis von Theorie und Empirie zu sein. Die Bedeutung der empirischen Forschung für die soziologische und sozialwissenschaftliche Theoriebildung stand dabei zu keinem Zeitpunkt in Frage; es ging eher um die Verteidigung einer von (kritischer) Theorie geleiteten und an gesellschaftlicher Totalität orientierten Sozialforschung gegen eine >theorielose Tatsachenforschungprofessionelle< Selbstverständnis geriet in Gefahr, wenn er den »Gelehrten« vom »Bürochef« verdrängt sah (103). Im selben Beitrag vertrat Adorno auch eine >versöhnende< Perspektive, wenn er die Heterogenität der Soziologie als akademischer Disziplin betonte171. Der grundsätzlichste Vorwurf gegenüber der empirischen Sozialforschung war stets der Positivismus-Vorwurf172, der dann auch zum Kristallisationskern des sogenannten Positivismusstreits erkoren wurde. Empirische Sozialforschung orientiere sich an naturwissenschaftlichen Wissenschaftsidealen der Exaktheit, Objektivität, Quantifizierung, Wiederholbarkeit etc.; sie werde zu einer partikularisierenden Tatsachenforschung, die gesellschaftliche Totalität und gesellschaftliches Wesen nicht erfassen könne. Sie sei somit verdinglichend und dringe nicht über Meinungen und die Befassung mit >Epiphänomenen< hinaus. Das zusammengenommen führe dazu, daß sie dem Bestehenden verhaftet sei, unfähig zur Kritik. 70

ter

Wiggershaus verdeutlicht in seiner Darstellung die prekäre Situation der remigrierten FrankfurSoziologen; sie agierten an den Hochschulen in einem Feld, das traditionell eher zu den kon-

servativen Bereichen der Gesellschaft zählte; auch die Sozialwissenschaften waren neben wenigen Emigranten eher von Leuten geprägt, »die unterm Nationalsozialismus eine mehr oder weniger normale Karriere gemacht« ([1986] 1993:499) hatten. Zudem waren sie in den fünfziger Jahren latenten und manifesten antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Vgl. Dahms (1994:292f). »Weder aber ist ihr Gegenstand einheitlich noch ihre Methode. Manche gelten der gesellschaftlichen Totalität und ihren Bewegungsgesetzen, andere in pointiertem Gegensatz dazu, einzelnen sozialen Phänomenen, welche auf einen Begriff der Gesellschaft zu beziehen als spekulativ verfemt wird« (86). Diesen Gedanken nimmt er auch in seinem Beitrag von 1969 (541 ) wieder auf. Demirovic macht in seiner Analyse von Universitätsreden der fünfziger Jahre auf die Verbreitung des Positivismusvorwurfs aufmerksam, dieser werde häufig mit der Kritik relativistischer Einstellungen und der Klage über einen Werteverfall verknüpft (1999:128, 143).

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

87

Unterhalb dieser grundsätzlichen Argumentationsebene fand sich eine spezifischere Kritik an den Eigenlogiken, den >objektiven Zwängen< der so gebrandmarkten empirischen Sozialforschung. Sie bringe einen Operationalisierungszwang mit sich, der oft die wesentlichen Untersuchungsdimen-

sionen neutralisiere und eliminiere. Die maschinelle Verarbeitung mache die Forschungsarbeiten weitgehend austauschbar; das erforderliche Teamwork verhindere individuelle und eigensinnige Forschungsbeiträge. Diese Einwände kumulierten in dem Vorwurf, daß in vielen Fällen die inhaltlichen

Fragen hinter den methodischen zurückträten. Schließlich wurde empirische Forschung als Forschung im Dienste staatlicher und ökonomischer Interes-

gebrandmarkt, als administrative research173 so die Worte Lazarsfelds oder als Markt- und Meinungsforschung. Die verschiedenen Kritikebenen waren in den einzelnen Stellungnahmen kunstvoll verschachtelt. Sie setzten sich aus verschiedenen Quellen zusammen: es war auf der einen Seite eine recht profunde und detaillierte Kritik, die auf eine Extrapolation der eigenen Forschungserfahrungen zurückging174; auf der anderen Seite war es eine Kritik, die auf dem in der kritischen Theorie entwickelten Verständnis von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie ruhte. Diese beiden Kritikmuster wurden dann mit kulturkritischen Sprachfiguren Frankfurter Couleur und mit zeitgenössischen Mustern der Kritik und Binnenkritik empirischer Forschung verschnitten. Ein Schlüssel zur >Entzauberung< dieser Argumentationsgänge liegt in der Dekonstruktion des Gegenstandes >Empirische Sozialforschung< und in den Bildern, die von der gegenwärtigen Lage und der Entwicklung der empirischen Sozialforschung gezeichnet wurden. In dem Artikel für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften von 1956 differenzierte Adorno175 zwischen einem weiteren und einem engeren Begriff von Sozialforschung: der eine umfasse »alle wissenschaftlichen Bemühungen zur Erkenntnis von Gesellschaftlichem« (Institut für Sozialforschung 1956:419), der andere beziehe sich auf diejenigen Forschungen, die sich an den naturwissenschaftlichen Forderungen nach Exaktheit und Objektivität orientieren, wo »Kriterien wie das der Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit von Aussagen, der Quantifizierbarkeit, der Wiederholbarkeit also weitgehende Unabhängigkeit von den subjektiven Momenten der Forschung« (419) eine wichtige Rolle spielen. Die Darstellung orientierte sich in dem Handbuchartikel dann über weite Strecken an diesem engeren Begriff von Sozialforschung. Die Möglichkeit, die Breite empirischer Forschungsansätze darzustellen176 sowie das Konzept einer kritischen Sozialforschung darzulegen, wurde nicht genutzt; sen

-

-

-

173

Zum Begriff der administrative research vgl. Pollak (1981:171), Adorno ([1969] 1981:304). Auf diese Kritikpunkte wird an späterer Stelle noch eingegangen. Für den Artikel zeichnete das Institut für Sozialforschung verantwortlich. Vgl. dazu z.B. den Beitrag Adornos auf der Tagung »Empirische Sozialforschung Poll Gründungsphase< ( 1949-1965)

allenfalls wurde auf das

Konzept einer verstehenden Soziologie verwiesen177. Auf die eigenen Forschungsansätze, wie sie z.B. in den Studies in Prejudice oder in dem Gruppenexperiment vorlagen, wurde nicht eingegangen. In dem Artikel wurde so ein spezifisches Bild der empirischen Sozialforschung konstruiert: Im Dienste eines umfassenden Positivismus-Vorwurfs wurde sie als ausgesprochen homogen dargestellt; die Pluralität und Dynamik unterschiedlichster Forschungsansätze, die sich in der Geschichte der empirischen Forschung herausgebildet haben, wurde vernachlässigt. Auch die Ambivalenzen in der Orientierung einzelner Protagonisten (z.B. Lazarsfeld) blieben unbeachtet. Neben der naturwissenschaftlich positivistisch orientierten Sozialforschung wurden auch deren >Gegenspieler< im amerikanischen Wissenschaftsfeld ethnographische oder sozialökologische Ansätze der Sozialforschung mit oft pragmatistischer Orientierung178 fundamental kritisiert. Ähnlich erging es den soziographischen Forschungsansätzen179. Indem schließlich Webers Forschungsansatz auf sein Wertfreiheitspostulat reduziert (431) und der Verein für Socialpolitik bzw. der Kathedersozialismus als positivistisch etikettiert wurde (420), wurde auch die Möglichkeit verstellt, produktiv an deutsche sozialkritische Forschungstraditionen anzuknüpfen. Qualitativen Forschungsansätzen wurde per se der Status des Explorativen (422), Hypothesengenerierenden (423) und Ergänzenden (431 ) zuzuschreiben. Angesichts dieser Konstrukte blieb keine andere Möglichkeit, als den Siegeszug der positivistisch durchdrungenen Sozialforschung zu konstatieren. In diesem Sinne wurde dann auch die gegenwärtige Lage der Soziologie in der Bundesrepublik skizziert: -

-

sinnfälligste Tendenz in der deutschen Soziologie nach dem Krieg ist die Zuwendung zu dieMethoden und das Zurücktreten der Theorie, die vor der Katastrophe für Deutschland charakteristisch war« (Adorno 1959:258). »Die deutsche Soziologie ist in jenen internationalen Integrationsprozeß einbezogen, der der Aufgliederung der Welt in Großräume mit sozialen Großplanungen zu entsprechen scheint« (259). »Die

sen

Diese

Lagebestimmungen für die fünfziger Jahre zeichneten jedoch ein soziologischen Feldes, das insbesondere die Arbeit

recht einseitiges Bild des

Wie die Analysen von Demirovic (1999:441ff) zum Frankfurter Lehrangebot zeigen, wurden diese Fragen u.a. im Sommersemester 1954 und 1956 behandelt. Im Sommer 1961 fand ein soziologisches Hauptseminar zu den »Problemen der qualitativen Analyse< statt (795). Adorno sah die eigentümliche Situation der empirischen Sozialforschung darin angelegt, daß sie »nicht eigentlich in der alten universitas literarum wurzelt«, sondern »dem amerikanischen Pragmatismus näher als jede andere Wissenschaft« ([1952] 1962:37f) stehe. Damit griffer auf eine bereits ältere Pragmatismuskritik zurück, die im Kontext der Kritischen Theorie entwickelt worden war (vgl. dazu Dahms 1994:191ff). Vgl. dazu den Diskussionsbeitrag Adornos zum Vortrag Neundörfers auf der Tagung »Empirische Sozialforschung< : Hier hielt er diesem vor, in der soziographischen Analyse einer »gewissen Romantik« zu unterliegen, wenn er ein »an der Hauswirtschaft gewonnenes Erkenntnisideal überträgt auf die Erkenntnis von Einzelheiten und einzelnen Sektoren, die in Wirklichkeit in ihrer gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit nur verstanden werden können kraft der sozialökonomischen Funktion, die sie innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs erfüllen« (Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten [1952] 1962:161).

II. Institutionen der empirischen

der

Forschungsinstitute

spezifischen ausgeblendet: die

nen

Sozialforschung

89

Vordergrund rückte. Sie mögen vielleicht eiwiedergeben, die Gegenbewegungen wurden aber König und Dahrendorf beklagte Skepsis gegenüber in den

Trend von

den >neuen amerikanischen Methoden^ gegen den Aufstand der Handwerker (Plessner), die häufig betonte Notwendigkeit, die amerikanischen Methoden für die europäischen Belange zu übersetzen, das Fortwirken historistischer Tradition insbesondere in der akademischen Soziologie180. Die wenig reflektierte Verquickung unterschiedlichster Analyseebenen wie auch die oben skizzierte spezifische Konstruktion des Gegenstandes brachten die Stellungnahmen zur empirischen Sozialforschung in eine komplexe double-bind Konstellation. Man hatte begründet, warum der empirischen Sozialforschung bestimmte objektive Zwänge innewohnen und stellte zugleich die Möglichkeit einer empirischen Sozialforschung mit kritischer Perspektive in Aussicht. Man wollte sich von den deutschen geisteswissenschaftlichen Traditionen emanzipieren und griff doch auf wichtige Argumentationsmuster gegen eine Quantifizierung des Sozialen zurück. Man wollte sich die aufklärenden und demaskierenden Effekte von Sozialforschung zu Nutze machen und versuchte sich dennoch im Diskurs eher an einer Fundamentalkritik denn an einer konstruktiven Weiterentwicklung. In diesem Sinne ist auch der These entgegenzutreten, Adornos Beiträge hätten letztlich dem »Entwurf einer kritischen empirischen Sozialforschung« (Wiggershaus [1986] 1993:502) gedient. Genau dies erfolgte in den Diskursen um die empirische Sozialforschung nicht. In der praktischen Forschungsarbeit des Frankfurter Instituts wurden demgegenüber Beiträge zu einer solchen Sozialforschung in kritischer Absicht entwickelt; sie fanden jedoch nicht den Weg zu einer systematischen und konzeptionellen Darstellung, die den Lehrbuchkanon amerikanischer und zunehmend auch deutscher Provenienz hätte bereichern können. Die vermutlich auf Lazarsfeld ([1970] 1972:113f) und Jay ([1973] 1985: 295) zurückgehende und in Darstellungen zur Entwicklung der Frankfurter Schule (Wiggershaus, Dahms) aufgenommenen These von einem Sinneswandel der >Frankfurter< in ihrer Einschätzung der empirischen Sozialforschung scheint durch die Stellungnahmen Adornos bzw. des Instituts nicht unbedingt gedeckt181; auch die Analysen von Demirovic stützen eher die -

-

Auch Kruse folgt in seiner Analyse der historischen Soziologie nach 1945 dem mainstream der Soziologiegeschichtsschreibung, der von einem Siegeszug der empirisch orientierten Paradigmen ausging; in seiner Analyse wird jedoch deutlich, daß es in den vierziger und frühen fünfziger Jahren zu einer »Neublüte der historischen Soziologie« (1994:42) gekommen war und daß die historisch orientierte Soziologie Heimanns, von Martins und Freyers bis etwa 1965 als Paradigma

identifizierbar blieb (46). Die einzelnen Argumente veränderten sich nicht grundsätzlich; so finden sich zentrale Argumentationsfiguren, die 1957 und 1969 eine wichtige Rolle spielen, bereits in dem Tagungsbeitrag von 1952. Dem vermeintlichen Sinneswandel in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre indiziert durch den 1957 erschienenen Beitrag »Soziologie und empirische Forschung< steht entgegen, daß noch der 1956 verfaßte Artikel und vom Institut verantwortete Artikel »Empirische Sozialfor-

-

90

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Kontinuitätsvermutung182.

Was variierte, war eher der Duktus, unter dem die einzelnen Argumentationsstränge zu einem Ganzen zusammengebunden wurden, die Art und Weise, wie in den oben skizzierten douWe-f3/«i/-Strukturen Akzente gesetzt wurden183. Die Motive, die Lazarsfeld und in Abgrenzung dazu Dahms für den von ihnen konstatierten Sinneswandel ins Feld führen184, erscheinen dennoch geeignet, die Lage bzw. die Selbsteinschätzung der Sozialforschung Frankfurter Provenienz zu charakterisieren. Vor diesem Hintergrund liegt die Einschätzung Atteslanders (1998:136) nahe, der vermutet, Adorno habe zu Beginn seiner wiederaufgenommenen Frankfurter Arbeit die Möglichkeiten der empirischen Sozialforschung schlicht überschätzt. Zur Rolle des Instituts für Sozialforschung In dieser zumindest diskursiv produzierten Kohärenz lag ein Spezifikum der Frankfurter (mit Einschränkungen auch der Kölner) Forschungsarbeit. Man versuchte, auch unter Bedingungen der Auftragsforschung und den damit verbundenen Kontingenzen dem Disparaten eine Struktur zu geben, die dann natürlich von den Zeitgenossen wie von den Chronisten begierig aufgenommen wurde185.

schung
amerikanische Position < Adorno zu einer exzeptionellen Stellung im sozialwissenschaftlichen Feld verholten habe, habe er in späteren Zeit diesen Bonus eher von einer allumfassenden philosophischen Stellungnahme erwartet. Darüber hinaus vermutete Lazarsfeld, daß Adorno nach dem Siegeszug der empirischen Soziologie bei der jüngeren Generation eher die kritische Reflexion habe stärken wollen (vgl. [1970] 1973:Fn 94). Dahms verwirft die Überlegungen Lazarsfelds und führt seinerseits zwei Überlegungen zu Adornos > Einstellungsänderung < an: »»Eine zunehmende Enttäuschung über die Entwicklungstendenzen der Bundesrepublik im allgemeinen und ihres Erziehungs- und Hochschulwesens im speziellen, die ihm in Richtung Restauration zu weisen schienen (...) und damit einhergehend eine zunehmende Enttäuschung über eine Soziologie, die die Symptome der Restauration nur bestenfalls registrierte, im Normalfall aber guthieß« (1994:290). Pollak stützte seine Deutung des schwierigen Verhältnisses von Adorno und Lazarsfeld auf deren Herkunft aus unterschiedlichen jüdischen Sozialmilieus ([1979] 1981:176). 185 Deutlich wurde dieses Bemühen z.B. in der 1981 und 1990 erschienen Darstellungen zur Forschungsarbeit des Instituts für Sozialforschung. Vergleicht man beide Darstellungen wird die je »neuen

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

91

spricht für die fünfziger und sechziger Jahre vom romantischen Entwicklungsstadium< der Frankfurter Schule, das den in den dreißiger und vierziger Jahren erreichten Schulzusammenhang ablöste186. Dieses Entwicklungsstadium sei eher durch die individuellen Positionen von Adorno und Brunkhorst

Marcuse

geprägt gewesen; die reale Einheit sei zerfallen. Diesen Zerfall

macht er insbesondere am Verlust eines integrierenden Forschungsprogramms fest187. Auch Steinert kommt zu der Einschätzung, daß es in der Nachkriegszeit nicht mehr gelungen sei, die einzelwissenschaftlichen For-

schungsergebnisse sozialphilosophisch anzuleiten188.

d) Sozialforschung in Köln war Krieg ein Geflecht von Hochschuleinrichtungen und entstanden189. Forschungsinstituten Ausgangspunkt war 1947 die Wiederdes Kölner eröffnung Forschungsinstituts als Forschungsinstitut für Sozialund Verwaltungswissenschaft, das sich in seiner Abteilungsstruktur weiter In Köln

nach dem

zeitspezifische Konstruktionsarbeit sichtbar: die aktuelle Institutsarbeit erscheint in der einen Darstellung als Bruch mit den Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre und als Rückbesinnung auf verschüttete Traditionslinien marxistischer Natur; in der anderen Darstellung wird stärker versucht, eine lange eher kontinuierliche Entwicklungslinie zu (re)konstruieren. So wird für die hier untersuchte Entwicklungsphase die Forschungstätigkeit unter den Themen »Deutsche Ideologie und demokratische Kultun, »Erziehung zur Mündigkeit< und »Rationalisierung und Industriearbeit< subsumiert. Damit soll gegenüber der Pragmatik der alltäglichen Forschungsarbeit und Projektakquisition stärker eine programmatisch diskursive Logik akzentuiert werden. Er begriff die Institutsentwicklung von der Übernahme des Direktorats durch Horkheimer bis zum Erscheinen der ersten Hefte der Zeitschrift für Sozialforschung in den dreißiger Jahren als Vorgeschichte. Erst im New Yorker Exil insbesondere in der Zeit zwischen 1935 und 1940 sei unter Horkheimers Regie ein »normalwissenschaftlicher Schulzusammenhang« entstanden (1986:197). Die Krise dieses klassischen Paradigmas, er folgt hier der Kuhnschen Begrifflichkeit, sieht er durch die Faschismuskontroverse indiziert, die unversöhnliche Gegensätze zu Tage förderte (vgl. dazu auch Brandt 1981:26f). »So läßt die empirische Forschungstätigkeit des Instituts, die durchaus methodologische Impulse und sozialpsychologische Fragestellungen aus den 30er und 40er Jahren aufnimmt, kaum noch signifikante Bezüge zu den philosophischen und kulturkritischen Arbeiten Adornos und Marcuses erkennen, denjenigen Arbeiten also, die Generationen von kritischen Studenten und Intellektuellen im Nachkriegsdeutschland, später, mit der Studentenbewegung auch in den USA kulturell geprägt, zumindest erheblich beeinflußt haben« (1986:199). Der Kem des wissenschaftlichen Forschungsprogramms, »die Einheit von Theorie und Empirie, ist in der romantischen Phase zersplittert« (199). »In der Nachkriegszeit und unter Adornos Leitung wurden, gestützt auf die (gerade für Adorno nicht nur glücklichen) Erfahrungen in Amerika und unter Beteiligung von hervorragenden Forschern aus den nachfolgenden Soziologen-Generationen, empirische Projekte energisch und innovativ vorangetrieben, aber Adornos eigene Schriften wurden davon praktisch nicht mehr beeinflußt. In seinem Werk und seiner Person vollzog sich die Trennung von Soziologie und Philosophie, allenfalls noch einmal überbrückt im Methodologischen, nämlich im > Positivismusstreit Gründungsphase< (1949-1965)

differenzierte: zu der soziologischen und einer (zusammengelegten) sozialpolitischen und -rechtlichen Abteilung kam eine kommunal- und verwaltungswissenschaftliche Abteilung hinzu (von Wiese 1949); 1957 wurden darüber hinaus eine wohnungsrechtliche und eine wohnungswirtschaftliche Abteilung angeführt, die jedoch zum Teil in Personalunion geführt wurden. Die Leitung der soziologischen Abteilung war 1954 an René König übergegangen190. Am Kölner Forschungsinstitut für Soziologie dominierten, wie aus den Tätigkeitsberichten191 hervorgeht, vor allem berufssoziologische Studien, daneben wurden u.a. betriebs- und gemeindesoziologische, wohnungswissenschaftliche und sportsoziologische Studien durchgeführt. Zu Beginn der sechziger Jahre wurden einzelne Abteilungen in eigenständige Forschungsinstitute überführt, so entstand ein Forschungsinstitut für Soziologie unter König und eines für Sozialpolitik unter Gerhard Weisser. 1951 wurde das UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften gegründet, das zunächst von Schokking und später von Neis Anderson192 geleitet wurde. Zu Beginn der fünfziger Jahre war dort auch der amerikanische Sozialanthropologe Arensberg als Forschungsdirektor tätig. Unter Anderson waren Wurzbacher und Reigrotzki als Abteilungsleiter beschäftigt; im Kontext des Instituts entstanden Reigrotzkis >Soziale Verflechtungen in der Bundesrepublik^ eine historische Studie über die politische Rolle der Frau in Deutschland (Bremme 1956) sowie die gemeindesoziologischen Studien >Das Dorf im Spannungsfeld der industriellen Entwicklung< (Wurzbacher [1961] 1954) und >Soziale

Schichtung

und sozialer Wandel in einer

Industriegemeinde

(Mayntz 1958). 1958 (I960193) wurde das Institut aufgelöst. Im selben Jahr wurde

an

den Hochschulen Köln und Bonn das Institut für

Mittelstandsforschung aufgebaut, das mit Mitteln des Bundes bzw. des Landes NRW gefördert wurde; neben eher ökonomisch orientierten Abteilungen (Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Finanzwirtschaft, Konjunktur) entstand dort auch eine soziologische Abteilung, die von König geleitet wurde. Dort wurden vorwiegend berufssoziologische Untersuchungen durchgeführt194. Nachdem 1964 der mit Scheuch besetzte zweite Lehrstuhl am soziologischen Seminar eingerichtet worden war, gründete dieser 1965 das Institut für (international) vergleichende Sozialforschung, das 1975 unter der Leitung von Scheuch und Mayntz zum Institut für angewandte Sozialforschung Unter der Leitung Königs wurden die Abteilung Massenkommunikation (1959), eine psychoanalytische Abteilung (1963) und eine wehrsoziologische Forschungsstelle (1964) gegründet (Soziologie in Köln 2000:9). Vgl. Scheuch (1957a), Schriftleitung der Sozialen Welt (1957), Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute (1963). Neis Anderson hatte zu Beginn der zwanziger Jahre an der Universität Chicago studiert, und 1923 den Klassiker »The Hobo. The sociology of the Homeless Man< verfaßt. Vgl. dazu auch Lindner (1990:164ff). 193 So die Angabe in Soziologie in Köln (2000:10). 194 Vgl. dazu auch die Darstellung bei Daheim (1998:319), der als Assistent Königs dort tätig war.

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

93

zunächst in kleinem Maßstab das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung aufgebaut worden195, das zunehmend ausgebaut später unter dem Dach der GESIS zu einer wichtigen Einrichtung sozialwissenschaftlicher Infrastruktur wurde. Die >Wahlstudie 1961< [Bl]196 war die Keimzelle einer bundesrepublikanischen Wahlforschung, deren Ansprüche

wurde. Bereits 1960

war

über den Horizont von reinen Meinungsbefragungen hinausreicht; es entstand ein »ganzes Netzwerk junger Politologen und Soziologen, die miteinander das Handwerk der Analyse politischer Prozesse gelernt hatten« (244). Die Finanzierung dieser Einrichtungen erfolgte aus Mitteln der Hochschule Scheuch verweist auf seine und Königs erfolgreichen Berufüngsverhandlungen -, Mitteln des Bundes und Landes sowie aus eingeworfenen Drittmitteln verschiedenster Provenienz197. Neben diesem Imperium König-ScheuchImperium< gehörten neben dem 1960 verselbständigten Forschungsinstitut für Sozialpolitik, das 1952 gegründete Institut für Selbsthilfe (später: Selbsthilfe und Sozialforschung), das neben Weisser von Karl Gustav Specht und Otto Blume geleitet wurde und die 1955 entstandene Forschungsstätte für öffentliche Unternehmungen. Die sozialpolitische Abteilung des Kölner Forschungsinstituts war 1950 von Weisser übernommen worden und hatte sich vornehmlich mit «theoretischen Arbeiten auf dem Gebiet der normativen Sozialwissenschaften« (Scheuch 1957a:348) befaßt. Darüber hinaus wird von empirischen Arbeiten über Vertriebene, über die Teilzeitarbeit von Frauen und die politische Informiertheit von Volksschulabgängern berichtet. Das Institut für Selbsthilfe sollte nach seiner Satzung (zit. nach Domay 1964:366) »die sozialwissenschaftlichen (volkswirtschaftlichen, betriebswirtschaftlichen, rechtswissenschaftlichen und sozialpädagogischen) Fragen der sozialen Selbsthilfe sozial Schwacher und der Selbsthilfeunternehmen untersuchen und Anregungen zur weiteren Ausgestaltung der Selbsthilfe« geben. Die Arbeit stand in enger Verbindung mit den Selbsthilfeverbänden, -

19

Erste Überlegungen am UNESCO-Institut eine zentrale »Bücherei der Lochkarten« anzulegen, bereits 1957 entwickelt worden (Scheuch 1957a:351). Die so bezeichneten Tabellen und Abbildungen sind über das Internet (http://homepage.ruhroder http://www.oldenbourg.de/) zugänglich. uni-bochum.de/Christoph.Weischer/ 197 Wie komplex sich die Finanzierung einzelner Projekte gestalten konnte, erläuterten Scheuch und Wildenmann (1965a:359) für die »Wahlstudie 1961Gründungsphase< (1949-1965)

sowie mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen und Sachverständigen. Die Ergebnisse sollten als Veröffentlichungen, Gesetzesvorschläge, Gutachten etc. den verschiedenen Adressaten zugänglich werden, bzw. gezielt in Bildungsmaßnahmen eingehen. Damit wurde das Konzept einer anwendungsbezogenen Sozialforschung mit engem Adressatenbezug, vergleichbar z.B. dem WWI des DGB, formuliert. Einen wichtigen Platz in der Forschungsarbeit so das Institut in einer Selbstdarstellung (1959) nahmen »Forschungsaufträge ein, die das Institut für Bundes- und Länderministerien durchführt«. Neben klassischen Themen der Selbsthilfe und Sozialpolitik wurde in den frühen sechziger Jahren auch eine Reihe betriebs- und gewerkschaftssoziologischen Themen bearbeitet. Dieses Nebeneinander sehr unterschiedlicher Vorstellungen von Sozialwissenschaft und Sozialforschung machte in Köln das Klima aus, das von prominenten Studierenden beschrieben wurde; so heben Daheim (1998:316) und Rüschemeyer (1996:331) die Vielseitigkeit der Ausbildung in Köln bei König, Heyde, Weisser, Albert u.a. hervor. Verglichen mit der Forschungslandschaft an anderen Hochschulstandorten wurde in Köln insbesondere von Scheuch und König recht gezielt ein institution building betrieben198. Über den Aufbau mehr oder weniger hochschulfreier Forschungsinstituten wurden zudem viele Probleme gelöst, die mit der Forschungsarbeit an soziologischen Seminaren verbunden waren. So gelang es, trotz der in den sechziger Jahren stark steigenden Lehrbelastung eine kontinuierliche Forschungsarbeit sicherzustellen. Nach der Auflösung des UNESCO-Instituts für Sozialforschung setzte sich ein Forschungsstil durch, wie er durch die beiden Studien von Scheuch/ Wildenmann und Mayntz markiert war: Er war in der Forschungsfrage weit dezidierter als viele andere Untersuchungen der fünfziger Jahre, die immer auch gesellschaftstheoretische Fragen zu verfolgen versuchten199 und die damit ihre Stellung als exemplars der bundesdeutschen empirischen Sozialforschung erlangten. Forschungsdesign, Erhebungs- und Auswertungsmethoden waren deutlich elaborierter als vergleichbare Untersuchungen, wobei standardisierte Erhebungsverfahren und entsprechende statistische Auswertungsverfahren dominierten; die Erhebungsarbeit wurde in stärkerem Maße durch kommerzielle Befragungsinstitute ausgeführt. Die Untersuchungen wurden eher für einen wissenschaftlichen Markt gefertigt; der Anspruch, die Befunde auch für Praktiker verschiedener Berufsfelder zugänglich zu machen und der damit verknüpfte sozialpädagogische und -

-

sozialpolitische Impetus, der sich in vielen Studien der fünfziger Jahre fand, schwand.

Die Parallelen zum Lazarsfeldschen Vorbild drängen sich auf. Wie z.B. die Studien: das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Arbeiter mung, Arbeitslosigkeit und Berufsnot, das Gruppenexperiment.

Management

Mitbestim-

II. Institutionen der

empirischen Sozialforschung

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e) Spezifika und Entwicklungsprobleme der Forschungsinstitute Die Entstehung eines breiteren Spektrums von Forschungsinstituten stellte ein Novum dieser Entwicklungsphase dar. Es lassen sich drei Typen ausmachen: das wissenschaftlich/akademisch orientierte Forschungsinstitut; das Forschungsinstitut als rationalisierter dienstleistungsorientierter Forschungsbetrieb und das Forschungsinstitut als Einrichtung eines Verbandes oder einer Behörde. Daß diese Typen selten in Reinform existierten, liegt auf der Hand. So mußte das seinem Selbstverständnis nach wissenschaftlich orientierte, einem bestimmten Theorieprogramm verpflichtete Frankfurter Institut für Sozialforschung von Forschungsaufträgen abhängig auch als Dienstleistungseinrichtung füngieren; die betriebsmäßig organisierten Forschungsinstitute begriffen ihre Struktur als ein fortgeschrittenes Stadium zur Produktion wissenschaftlichen Wissens und auch die verbandsgebundenen Institute waren auf die wissenschaftliche Absicherung ihrer Befunde bedacht. Die Entstehung der Forschungsinstitute außerhalb der Hochschulen war an einen allmählich entstehenden Forschungsmarkt für empirische Sozialforschung gebunden; die Beziehungen waren dabei wechselseitig: die Forschungseinrichtungen >reagierten< auf eine vorhandene Nachfrage, sie unternahmen aber auch vielfältige Anstrengungen, diese Nachfrage auszuweiten. >Vorreiter< bei der Herausbildung dieses Forschungsmarktes war zunächst die Nachfrage nach Produkten der Markt- und Meinungsforschung200 im engeren Sinne; eine Ausweitung erführ der Markt durch die Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise durch Parteien, staatliche Verwaltungen etc.201. Parallel zu diesen nachfragebedingten Segmenten bildeten die verschiedenen Instanzen der wissenschaftlichen Forschungsförderung ein wichtiges Segment dieses Marktes. Mit der Ausweitung dieses Forschungsmarktes stellten sich in den verschiedensten Teilbereichen Konkurrenzkonstellationen ein. Eine organisierte Interessenvertretung202 der sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute auch im politischen Bereich sollte durch die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute sichergestellt werden. Sie ging auf eine 1948 gestartete Initiative Neulohs zurück, der innerhalb der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Institute den Aufbau eines Zusammenschlusses der sozialwissenschaftlichen Einrichtungen betrieb, u.a. auch mit dem Ziel der Gründung einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift (Sahner 1999:22). Sahner betont den Beitrag der Arbeitsgemeinschaft für die »Institutionalisierung der Soziologie nach dem Zweiten Welt100

Noch 1979 konstatierte Luschen, daß die »feste gesellschaftliche Funktion im Bereich der empirischen Forschung vor allem auf dem Gebiet der Meinungsforschung« (54) läge. 01 Vgl. dazu die Beiträge in Schildt u.a. (2000); zum Verhältnis von Meinungsforschung und politischen Parteien Kruke/ Ziemann (2001). Sahner (1999:23) erinnert daran, daß es anfangs durchaus umstritten war, ob die Arbeitsgemeinschaft eher als lockererer Verbund von Forschungseinrichtungen fungieren (von Wiese) oder als agiler Interessenverband (Neuloh) auftreten sollte.

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B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

als Herausgeberin der Sozialen Welt203, als Kommunikationsmedium zwischen den Instituten und ihren Vertretern, als Schnittstelle zwischen Forschung und Öffentlichkeit, in ihrem Engagement für die Professionalisierung204 und schließlich in der Organisation wichtiger Infrastrukturleistungen für die Sozialwissenschaften205. Trotz der heterogenen Orientierung und der Unterschiede in den Trägerkonstruktionen stellten sich den Instituten typische Organisationsprobleme: Die Forschungsinstitute verfügten in unterschiedlichen Maße über eine Grundfinanzierung, die aber nur mehr oder weniger große Teile des Finanzbedarfs deckte; folglich war die Sicherung der finanziellen Basis ein zentrales Probleme. »Alle Institute waren in beträchtlichem Umfang von Projektfinanzierung abhängig, ein Umstand, der mit erheblichen Problemen und Gefahren verbunden sein mußte: starker Effizienz- und Abschlußdruck (...); unsichere Anschlußfinanzierung, dadurch hohe Fluktuation und schlechte Möglichkeiten einen Stamm qualifizierten Personals aufzubauen; starke Abhängigkeit von marktgängigen >Produkten< (...); möglicherweise sogar alternativloses Angewiesensein auf einzelne Finanziers« (Kern 1982:235). Die Übersicht über die Finanzierungsquellen der Sozialforschungsstelle oder der Kölner Wahlstudie ermöglicht einen Einblick in die mit dem Akquirierungsgeschäft verbundenen Aufwendungen. Die existenzsichernde Politik konnte sich neben der Absicherung über den Forschungsmarkt auch auf die Gewährleistung bzw. Ausweitung einer finanziellen Grundsicherung (in den meisten Fällen durch staatliche Stellen) richten. Diesen Strategien kam vor allem in der nächsten Entwicklungsphase eine große Bedeutung zu. Das bereits bei Kern angesprochene Problem der Kontinuität stellte sich auf verschiedener Ebene, als Sicherung einer kontinuierlichen Finanzierung, als Sicherung eines Potentials an qualifizierten Arbeitskräften und als Kontinuität im Außenbild, im Profil der jeweiligen Einrichtung. Bei der Sozialforschungsstelle ist deutlich geworden, daß die Sicherung einer personellen Kontinuität von qualifizierten Arbeitskräften und damit die Akkumulierung von Forschungserfahrungen angesichts der Unwägbarkeiten des Forschungsmarktes und angesichts der >Verlockungen< der expandierenden akademischen Soziologie nicht möglich war. Die Attraktivität der hochschulnahen Forschungseinrichtungen, neben der Forschungsarbeit eine akademische Karriere offenzuhalten wurde so zu ihrem Dilemma206.

krieg« (20f):

-

-

-

Ab 1949 gab die Arbeitsgemeinschaft die »Soziale Welt< heraus, die sich gegenüber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie mit einem stärker praxis- und verwendungsorientierten Selbstverständnis profilieren konnte. Neuloh hatte bereits 1950 Entwürfe für einen Diplomstudiengang vorgelegt. Die ASI wurde später Träger des Informationszentrums Sozialwissenschaften. Kern ging davon aus, daß durch diese Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus den Forschungsinstituten, die empirische Sozialforschung in den frühen sechziger Jahren »in die Gefahr geriet, das Qualitätsniveau zu unterschreiten, das innovative Forschung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre gesetzt hatte« (1982:238).

II. Institutionen der

empirischen Sozialforschung

97

Spezifische Probleme stellten sich für einzelne Institutstypen: so waren die verbandsgebundenen Institute sowie die Institute, die von einzelnen Finanziers und Auftraggebern abhängig waren, nicht vor einer direkten oder indirekten Einflußnahme auf den Forschungsprozeß gefeit. Die hochschulnahen Einrichtungen mußten sich mit der wachsenden Lehr- und Ausbildungsbelastung der späteren sechziger und der siebziger Jahre vor einer Indienstnahme durch den Hochschulbetrieb schützen. Die zentrale Rolle, die die Forschungsinstitute in der >Gründungsphase< der Sozialforschung spielten, war jedoch keinesfalls unumstritten: In der einflußreichen >Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft wurde (wieder) eine stärkere Orientierung der Forschung auf die Hochschulen gefordert: »Trotz der zunehmend auch außerhalb der Hochschulen betriebenen Sozialforschung bleibt die Entfaltung der Soziologie auf die Forschung an den Hochschulen angewiesen« (Lepsius 1961:49). Entsprechend wurde für den Ausbau der Soziologie gefordert, es sollten die Vörraussetzungen für eine Belebung der Forschung, »insbesondere der empirischen Grundlagenforschung an Seminaren und Instituten der Hochschulen« geschaffen werden.

-

2. Die

Etablierung von Soziologie und Sozialforschung an

den wissenschaftlichen Hochschulen

Entwicklung der empirischen Sozialforschung im universitären Kontext eng an die Entwicklung der soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Disziplin gebunden, hingen doch vom Grad ihrer Institutionalisierung die Möglichkeiten ab, personelle und materielle Ressourcen für die empirische Forschung freizustellen, im Rahmen der universitären Ausbildung Methoden der empirischen Forschung zu vermitteln, Befunde empirischer ForschungsDie

war

thematisieren und so auf die fachliche Sozialisation und das Qualifikationsprofil der nachwachsenden Sozialwissenschaftler und Sozialforscher bzw. der Rezipienten Einfluß zu nehmen. Das Bild, das von der Nachkriegsentwicklung der Soziologie zu zeichnen ist, hängt unmittelbar von der Frage der disziplinären Grenzziehungen ab207. Begreift man Soziologie in einem weiteren Sinne, so bietet sich bereits in der Weimarer Republik ein kaum übersehbares Bild soziologischer Lehre und Forschung an deutschen Universitäten, Hochschulen und berufspädagogischen Ausbildungseinrichtungen. Fornefeld u.a. (1986) führten in ihrer Zusammenstellung der Soziologie an reichsdeutschen Hochschulen immerhin 147 Fachvertreter (verschiedene Gruppen von Professoren sowie Privatdozenten) auf, die im engeren oder weiteren Sinne mit sozialwissenschaftliarbeit

0

zu

Vgl. zu den Auseinandersetzungen Darstellung bei Demirovic (199:266ff).

um

das

disziplinäre

Profil der Sozialwissenschaften die

98

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

chen Fragen befaßt waren208. Ausgehend von diesem weiteren Fach Verständnis ergibt sich auch ein anderes Bild vom >Neuanfang< der Soziologie zu Beginn der fünfziger Jahre: So registrierte Adolf Potthoff (1950) in seiner Erhebung >Sozialwissenschaften an deutschen Universitäten< für Westdeutschland 77 (inkl. Ostdeutschland 106) Lehrstühle bzw. Lehraufträge, die ein breites Feld soziologischer Themen abdecken209. Nicht zuletzt hängt diese thematische Breite, in der soziologische Gegenstände bearbeitet wurden, auch mit der erzwungenen >Maskierung< soziologischer Themen210 in den dreißiger und vierziger Jahren zusammen. Zieht man die Fachgrenzen enger, entsteht ein anderes Bild: Lepsius (1979:63f) verzeichnete in seiner Zusammenstellung der haupt- und nebenamtlichen Fachvertreter 1932/33 nur 55 Personen. Entsprechend gestaltete sich die Situation in den fünfziger Jahren als ein >Neuanfang< mit zunächst nur sechs Lehrstühlen21 '. So betrachtet blieb das soziologische Feld (im engeren Sinne) in den fünfziger Jahren an den Hochschulen noch sehr überschaubar. Die Einrichtung zusätzlicher Lehrstühle erfolgte, verglichen mit der Entwicklung von Forschungseinrichtungen, nur langsam. Erst in den sechziger Jahren beschleunigte sich dieser Prozeß. Mit dem Zuwachs von Professorenstellen ging auch ein Ausbau des akademischen Mittelbaus einher212. Es ist zu beobachten, daß das Interesse an soziologischen Fragestellungen in den fünfziger Jahren deutlich anstieg. Dies läßt sich an den (im weiteren Sinne) soziologischen Lehrveranstaltungen ablesen, die in den unterschiedlichsten Disziplinen angeboten wurden. Obwohl die Soziologie 1955 erst an 13 von 18 Universitäten mit mindestens einem Lehrstuhl verankert war, fanden sich an immerhin 27 Hochschulen soziologische Lehrangebote. Zudem wurde der Bereich der Soziologie bzw. Sozialwissenschaften von einer beständig zu208

Auf dieses breite Fachverständnis stützte sich auch Tenbrucks Stellungnahme zum Professionalisierungsdiskurs: er ging davon aus, »daß die Soziologie an deutschen Hochschulen bis 1933 sehr wohl, und meist besser als im übrigen Europa institutionalisiert war, insofern eine Reihe von

Lehrstühlen existierten und verschiedene andere Fächer das Gebiet mitbearbeiteten und teils auch als Zusatzbezeichnung trugen« (1979:91). So verzeichnete Potthoff Vorlesungen und Übungen (Anzahl in Klammern) zur »Sozialgeschichte (32), Soziologie (27), Gesellschaftslehre (19), Sozialhygiene (14), Sozialpolitik (12), Sozialpsychologie (9), Soziale Gegenwartsprobleme (8), Sozialpädagogik (8), Religionssoziologie (7), Sozialmedizin (6), Sozialversicherung (5), Betriebssoziologie (5), Sozialstatistik (5), Sozialethik (3), Soziologie der Literatur (3), Soziologie der Familie (3), Caritaswissenschaft (2), Religionssoziologie (2), Sozialverwaltung (2)«; hinzu kamen weitere Gebiete, die nur mit einer Veranstaltung vertreten waren: »Wirtschaftssoziologie, Soziologie des Staates und der Politik, Soziologie der Genossenschaft, Sozialplanung, Agrarsoziologie, Soziologie der Leibesübungen, Sozialcharakterologie, Soziologie der Geschichte, Kultursoziologie, Sozialphilosophie« (1950:75). »Soziologische Themen wurden maskiert in der Volkskunde oder in der Raumforschung, in der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialgeschichte oder der Humangeographie, zuweilen sogar in literaturkundlichen Untersuchungen weiter abgehandelt« (Schelsky 1959:38). '" Bei Lepsius (1979:65f) wurden zu den Lehrstühlen für Soziologie folgende Angaben gemacht: 1950: 6, 1955: 14, 1960: 25, 1965: 45, 1970: 69. Hierzu liegt jedoch kein konsistentes Datenmaterial vor. ~

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

99

nehmenden Zahl von Studienanfängern und Studienanfängerinnen gewählt. Sie stieg von weniger als 50 neu eingeschriebenen Studierenden pro Jahr zu Beginn der fünfziger Jahre auf mehr als 700 im Jahre 1964. Die Entwicklung der Sozialwissenschaften an den wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik vollzog sich in verschiedenen nur bedingt voneinander abhängigen Prozessen: über eine disziplinübergreifende Ausweitung soziologischer Lehrangebote, über eine wachsende Nachfrage nach eigenständigen soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Studiengängen und über die dadurch motivierte Einrichtung von einschlägigen Lehrstühlen. Daraus erwuchs der akademischen Soziologie ein Strukturproblem, das ihre Gestalt und insbesondere die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in den folgenden Jahrzehnten prägte: »Die Soziologie wurde nach dem Muster der Geisteswissenschaften in den Hochschulen institutionalisiert und hatte ihren Ausbau stets über Lehraufgaben zu rechtfertigen. Als diese dann Ende der sechziger Jahre rasch anstiegen, wurde die mangelnde Forschungskapazität an den Hochschulen zu einem ernsten Strukturproblem der akademischen Soziologie« (Lepsius 1979:35). In der 1961 erstellten Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft war dieses Problem benannt worden, und es wurde neben einer hinreichenden personellen Ausstattung der Lehrstühle auch eine Ausstattung mit technischen Hilfsmitteln und etatisierten frei verfügbaren Forschungsmitteln gefordert (Lepsius 1961:52). Während der personelle Ausbau der Hochschulen über weite Strecken den Vorschlägen der Denkschrift folgte, blieb diese Forderung nach einer Forschungsausstattung, wie sie im naturwissenschaftlichen Bereich selbstverständlich ist, unerfüllt. In der Gegenüberstellung der verschiedenen Entwicklungstrends [B2-3] zeigen sich die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten. Der take q/Tzeichnete sich zu Beginn der sechziger Jahre ab. Die Zuwachsraten, bezogen auf das Basisjahr 1955, lagen bei den Studienanfängern mit Abstand am höchsten (1960: 73%; 1965: 490%; 1970: 1080%) ; die wachsende Zahl der Lehrstühle konnte dieser Entwicklung nicht folgen (1960: 78%; 1965: 220%; 1970: 390%), so daß sich das Verhältnis von Lehrstühlen zu Studienanfängern und zu Studierenden ständig verschlechterte. Dieser Trend spitzte sich in der folgenden Entwicklungsphase (1965-1980) noch weiter zu. Für die Entwicklung der Soziologie und der empirischen Sozialforschung war die Etablierung der Soziologie als einem Fach der Lehrerbildung von erheblicher Bedeutung; angesichts des untergeordneten Status von Lehramts Studiengängen in den akademischen Hierarchien wurde diese Entwick-

lung

in

soziologiegeschichtlichen Darstellungen häufig vernachlässigt. Zugedacht, den Lehrenden aller Schulgattungen eine soziologische Grundbildung zu vermitteln. Als Lehrfach sollte die Soziologie nur in berufsbildenden und in Wohlfahrtsschulen vertreten sein; an Gymnasien und Oberschulen hielt man die Lehrpläne für zu belastet (von Wiese nächst war daran

100

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< ( 1949-1965)

es im Rahmen der Sozialkunde auch im Bereich zur Verankerung der Soziologie. So hat die in den gymnasialen einsetzende Jahren Involvierung der Soziologie in die Lehramtssechziger auch die Wissenschaftsgestalt der Disziplin beeinflußt213. studiengänge

1952:396, 1953:146). Später kam

Auch der Fakultätskontext spielte für die Entwicklung der Sozialforschung eine wichtige Rolle. Die neuen Lehrstühle bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen wurden schwerpunktmäßig an wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, daneben aber auch an philosophischen und rechts- bzw. staatswissenschaftlichen Fakultäten eingerichtet214; an einzelnen Hochschulen (Berlin und Frankfurt) kam es auch zu einer Parallelstruktur. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive erscheinen diese Auseinandersetzungen um den Ort der Soziologie im Raum der Fakultäten unausweichlich. Die zunehmende Autonomie der Soziologie war ein »Abspaltprodukt der Fachentwicklung der Philosophie einerseits, der Ökonomie andererseits« (Schelsky 1959:14). Während die Soziologie im Kontext der Nationalökonomie eine Art »Theorieträger« gewesen sei, habe sie im Kontext der Philosophie eher die Funktion eines »Erfahrungsträgers« erfüllt. In dem Maße wie die Nationalökonomie nicht länger für sich beanspruchte, eine Theorie und Analyse der ganzen Gesellschaft zu liefern, sie sich also ökonomisierte, und in dem Maße wie die philosophischen Auseinandersetzungen mit den konkreten sozialen und politischen Verhältnissen nicht länger unbedingt als Aufgabe der Philosophie begriffen wurden, entstand eine wissenschaftliche Sphäre, in der sich die Soziologie entfalten konnte 15. Vor diesem Hintergrund sind auch die seit Mitte der fünfziger Jahre zu beobachtenden Auseinandersetzungen um den Status des soziologischen Studiums zu begreifen; so ging es um die Zuordnung zu Fakultäten, um Fragen der Professionalisierung und der Eigenständigkeit (Haupt- oder Nebenfach) des sozialwissenschaftlichen Studiums und damit verbunden um die Gestaltung von Studienabschlüssen. Implizit hatten all diese Auseinandersetzungen auch für die Stellung der empirischen Sozialforschung an den Hochschulen Konsequenzen.

2U Lepsius und auch Schelsky (1980a:440) kamen zu der Einschätzung, daß dieser Einfluß stärker gewesen sei als die Einrichtung der Hauptfachstudiengänge: »Hier erst ergaben sich die großen Studentenzahlen und damit eine Lehrlast für trivialisiertes Grundwissen, das auch auf die Wissenschaftsgestalt zurückwirkte« (Lepsius 1979:49). Im Verzeichnis wissenschaftlicher Einrichtungen der Sozialwissenschaften (an den Universitäten) finden sich im Bereich der Soziologie 1963/64 etwa zur Hälfte Einrichtungen an Wirtschaftsund sozialwissenschaftlichen Fakultäten; jeweils ein Viertel machten die Einrichtungen an philosophischen und an rechts- bzw. staatswissenschaftlichen Fakultäten aus (Bornemann/ Nave-Herz 1966:17ff). Eine Auswertung der Hochschullehrerstellen (1969) kam zu einem vergleichbaren Er-

gebnis (Hochschulverband 1969:600ff, 170ff). Schelsky drückte dies weniger voluntaristisch aus: will oder nicht, als autonomes Fach aufnehmen« (16).

»Die

Soziologie muß diese Aufgabe, ob sie

II. Institutionen der empirischen Sozialforschung

101

a) Auseinandersetzungen um die Professionalisierung der Soziologie der amerikanischen Militärregierung unterzur Förderung der Sozialwissenschaften an deutschen Hochschulen< über Zukunftsforderungen für die Organisation des Faches debattiert worden; hier hatten zunächst die Einrichtung von Lehrstühlen, die Einrichtung (mindestens) einer rein sozialwissenschaftlichen Fakultät und die Einrichtung eines sozialwissenschaftlichen Zentralinstituts im Vordergrund gestanden. In dem Maße, wie es bereits recht früh gelang, mehrere sozialwissenschaftliche Lehrstühle an einzelnen Hochschulen einzurichten, so z.B. in Frankfürt, Berlin, Hamburg und später in Nürnberg wurde die bereits in der Weimarer Zeit begonnene Debatte über sozialwissenschaftliche Diplom- und später Magisterstudiengänge wieder intensiviert216. Diese zunehmende akademische Institutionalisierung der Sozialwissenschaften vollzog sich jedoch nicht im Selbstlauf, wie dies in der Hausgeschichtsschreibung einer erfolgreich akademisierten Sozialwissenschaft oft erscheint. Sie wurde gegen vielfältige Widerstände innerhalb der eigenen Disziplin und insbesondere der konkurrierenden universitären Disziplinen durchgesetzt217; Soziologie sollte zu einem möglichen Hauptfach in akademischen Disziplinen z.B. im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Diplomprüfungen werden. Erste Initiativen nach dem Kriege gingen neben den Frankfurter Soziologen auf Alexander Rüstow und Otto Stammer zurück. Bereits Ende 1952 entstanden am Frankfurter Institut erste Konzeptionen für eine Prüfungsordnung218; man versuchte den Diplomstudiengang zum offiziellen verbandspolitischen Ziel der DGS zu machen (Demirovic 1988b:47). Zur Verabschiedung der ersten Diplomprüfüngsordnungen kam es ab 1955 in Frankfurt und Berlin, später auch in Hamburg, Mannheim, München und Münster (Kluth 1966:677). Der Ausschuß für Hochschullehrer und Studienfragen in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie219 favorisierte 1955 zunächst einen Diplomabschluß in Modifikation des Diplomvolkswirts. Diese Option stieß jedoch mit wenigen Ausnahmen auf den Widerstand der Hochschullehrer in den Wirtschaftswissenschaften, so daß im nächsten Schritt 1957 die Einrichtung selbständiger Soziologie-DiplomBereits 1948

war

auf einer

von

stützten >Konferenz

216

Ein eingehende Darstellung der Debatten findet sich bei Demirovic (1999:388ff). Bereits auf der Konferenz von 1948 hatten die Vertreter der Nationalökonomen und der Juristen den Plänen zur Einrichtung von sozialwissenschaftlichen Fakultäten widersprochen (von Wiese 1948b:101). Vgl. dazu auch Demirovii (1999:273ft) und Rammstedt (1998:262). Das Phänomen, daß Adorno und Horkheimer, die ja »viele Vorbehalte gegen Staat und Verwaltung« hatten, zu den Vorreitern der Diplomsoziologie zählten, erklärt Demirovic damit, daß sie dieser Frage eine hohe wissenschafts- und gesellschaftspolitische Bedeutung zumaßen (1999:282). Erste Pläne zu einem Studium der Sozialverwaltung im Rahmen der Ausbildung der Diplomvolkswirte waren bereits 1940 entstanden (vgl. dazu Klingemann 1996:114ÍT). Scheuch bemerkte zur Einrichtung dieses Ausschusses: »Unter Helmut Plessner wurde dann ab 1955 die Gesellschaft geöffnet für Nicht-Habilitierte. Ein interne Differenzierung war die Folge: Es entwickelte sich ein »Ausschuß für Hochschullehrer und StudienfragenGründungsphase< ( 1949-1965)

Studiengänge favorisiert wurde220. Aufgrund der Erfahrungen mit den ersten Diplomstudiengängen wurde später (1969) die Einrichtung sozialwissenschaftlicher Studiengänge empfohlen. Die Einbindung der neu entstehenden abgespaltenen (Schelsky) aber doch nicht hinreichend autonomen (Matthes) Soziologie in unterschiedliche Fakultäten hatte Konsequenzen für die Entwicklung von akademischen Abschlüssen und für die Zusammensetzung und Gewichtung von Lehrinhalten. So entstanden im Kontext der philosophischen Fakultäten durchgängig eher Magisterstudiengänge, während im -

-

Kontext der rechts- und staatswissenschaftlichen bzw. wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten eher Diplomstudiengänge entstanden. Die Auseinandersetzungen, die an der Frage der akademischen Institutionalisierung der Soziologie aufbrachen, reichten über die Frage der Fakultäts-

zurechnung hinaus. Die Gegenpositionen zu einer Institutionalisierung der Soziologie bzw. Sozialwissenschaft als einem eigenständigen Studiengang

recht differenziert: So wurde z.B. in Köln die Auffassung vertreten, »daß Soziologie das ideale Nebenfach für andere Sozialwissenschaften sei und ein Hauptfach nur für die wissenschaftliche Ausbildung mit dem Abschluß Promotion« (Scheuch 1990a:44). Dahinter stand die Auffassung, daß das Studium der Soziologie nicht berufsqualifizierend sein könne, sondern der Ergänzung durch weitere »gewichtige Fächern« (Scheuch 1998:248), z.B. durch die Volkswirtschaftslehre, aber auch durch Geschichte und andere Fächer, bedürfe. Diese Einschätzung, aus der dann der Diplomvolkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung bzw. der Diplomsozialwirt an den ehemaligen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Hochschulen221 hervorging, fand jedoch keine breitere Unterstützung. Zu einer ähnlichen Option wie die Kölner Soziologen kam auch Dahrendorf, als er die Soziologie in ihrem damaligen Entwicklungsstadium als »Nebenfach par exellence« (1959:153) bezeichnete. Sein Argumentationsgang war jedoch ein anderer: er sah die größte Gefahr darin, daß eine noch ungenügend ausgebildete Disziplin, die ihren Weg noch nicht kennt222, in den »gefährlichen Sog der Professionalisierung« (152) gerät223 und daß so waren

-

-

Eine Zusammenstellung wichtiger Dokumente zur Akademisierung der Soziologie von 1914 bis 1972 findet sich bei Matthes (1973a:215ff). Die zunächst eigenständigen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Hochschulen in Nürnberg und Wilhelmshaven sind später in die WiSo-Fakultäten der Universitäten Nürnberg-Erlangen und Göttingen aufgegangen. Diese Zweifel am Entwicklungsstand der Soziologie waren recht verbreitet. Kluth (1966:679) berichtete, »daß es nicht wenige Vertreter unseres Faches gibt, die sich zumindest noch nicht sicher sind, ob die theoretischen, methodologischen und materiellen Grundlagen der Soziologie schon für ein Hauptfach ausreichen«. »Die deutsche Soziologie der Zukunft wird nicht durch Diplome, Karrieren und Generationen (Dahrendorf bezieht sich hier auf Bemerkungen Königs zum Generationswechsel in der deutschen Soziologie, C.W.), sondern von einfallsreichen, experimentierfreudigen und kritischen Einzelnen geschaffen werden« (153). Er griff aber auch das >Kölner< Argument auf, wenn er mit Bezug auf

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

103

die vorhandenen Kapazitäten z.B. der Forschung entzogen werden. Matthes konstatierte später, daß »das Institut des Diplom-Soziologen nach außen einen Grad von >Professionalisierung< ausdrückte, der tatsächlich nicht erreicht war, andererseits aber nach innen eine Festlegung von Soziologie auf bestimmte Lehrinhalte erfolgen mußte, die nicht durch einen Konsens im Wissenschaftsverständnis der Soziologie getragen war« (1973a:47). Alternativ wurde an philosophischen Fakultäten der Magister Artium angeboten, ein akademischer Grad ohne berufspezifizierenden Titel. Alfred Weber begriff im Kontext seiner geschichts- und kultursoziologisch orientierten Gesellschaftswissenschaft die Soziologie in engem Zusammenhang mit der Geschichte, der Nationalökonomie und der Politischen Wissenschaft. Er wendete sich gegen die derzeitige »Zusammenhanglosigkeit der einstmals verbunden gesehenen Disziplinen« und gegen die »Annahme, man könne spezialistisch in einer von diesen tragfähige Ergebnisse zutage fördern, ohne die anderen in Betracht zu ziehen« (Hund 1955:470)224. Auch Sauermann wollte die Sozialwissenschaften nicht als eigene Disziplin von den anderen Fakultäten isolieren, sondern es zu einem allgemeinen Bildungsfach im Rahmen wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Fakultäten machen (Demirovic 1988a:60f). Während diese Muster der Kritik an der Professionalisierung und Institutionalisierung der Soziologie durchaus im akademischen Rahmen verblieben, gab es aber noch eine weit grundsätzlichere Ebene der Kritik. In den Stellungnahmen Pirkers wurde eine gesellschaftspolitisch motivierte Kritik an den Debatten um die soziologischen Diplome deutlich: »Also, es war über eine relativ kurze Zeit unser Ziel, die Industriesoziologie zu institutionalisieren, und zwar nicht so sehr an den Universitäten. Die Gruppe der Industriesoziologen war in ihrer Majorität auch dann ganz entsetzt, als Adorno den Diplom-Soziologen erfand. Es ist eine Erfindung der älteren Generation eben auch der Emigranten« (Jander 1988:58)225. Auch bei Lutz findet sich ausgehend von einer dezidierten Kritik an soziologischen Hauptfachstudiengängen ein Plädoyer für eine forschungsorientierte Konsolidierung und Institutionalisierung der Soziologie (Lutz 1998:76f). In dieser Debatte um die Professionalisierung der Soziologie wurden auch unterschiedliche Vorstellungen von den beruflichen Feldern deutlich, für die -

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»reine Soziologie< vor dem Schreckbild eines Soziologen warnte, »der nichts als Soziolo(153). 124 Konsequenterweise hatte Weber bereits zu Beginn der fünfziger Jahre die Zurücknahme der sozialwissenschaftlichen Fakultät in die philosophische Fakultät betrieben, um eine geisteswissenschaftlich universale und eine nicht-pragmatische Gesellschaftswissenschaft zu sichern (Stem1950:2). berger 125 Es sei dieser Generation vor allem um die Anerkennung des Faches im Wissenschaftsbetrieb gegangen. Demgegenüber habe die jüngere Gruppe ganz andere Vorstellungen einer »Institutionalisierung< entwickelt: »Wir drängten auf Institutionalisierung in den Gewerkschaften, in den Betrieben et cetera Wir wollten Empirie viel näher an der Praxis organisieren« (Jander 1988:59).

Königs

ge ist«

...

104

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

die neu einzurichtenden Studiengänge qualifizieren sollen. Von Wiese ging bei seinen Überlegungen zu einer Sozialwissenschaftlichen Fakultät davon aus, >Sozialbeamte< zu qualifizieren, die eine Soziallaufbahn einschlagen sollten226. Neuloh (1950b) prognostizierte, daß es sich bei den neu zu erschließenden sozialwissenschaftlichen Berufen um >Kampfberufe< handeln werde: angesichts der Unbestimmtheit von Berufsfeldern und Berufslaufbahnen gelte es, sich durch persönliche Initiative, Beweglichkeit, Überlegung und persönliche Haltung Wirkungsbereiche zu schaffen, die bislang von anderen Professionen besetzt seien. In ähnlicher Weise wurde in der >Denkschrift zur Lage der Soziologie und der politischen Wissenschaft gefordert, daß das Berufsfeld aus dem »Wissenschaftscharakter der Soziologie« zu entwickeln sei: »Nicht die Berufe schaffen den Soziologen, sondern

schafft sich seine Berufe« (Lepsius 1961:61). Adorno der amerikanischen Entwicklung und hoffte, daß der Einrichtung von Studiengängen entsprechende Veränderungen auf den Arbeitsmärkten folgen würden. Rückblickend beschrieb Matthes die Entwicklung als »einen Prozeß formaler Konstituierung eines Wissenschaftsfeldes über einen Qualifikationsanspruch, der weder berufspraktisch noch wissenschaftssystematisch voll legitimiert war« (1973a:47). Die Auseinandersetzungen um die Akademisierung und Professionalisierung der Soziologie waren in den folgenden Jahrzehnten ein Dauerthema der Soziologie; sie wurden zu einem beliebten Passepartout zur Artikulierung grundsätzlicher Kritiken an der Disziplin. Schelskys (1981) Bekenntnis zum >AntisoziologenUnbewältigten SozialwissenschaftenDenkschrift zur Lage

der Soziologie und der politischen Wissenschaft (Lepsius 1961:61ff) wurden drei Ausbildungsziele und damit verknüpft spezifische Tätigkeitsfelder beschrieben: Die Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Analyse wird als notwendig erachtet für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Forschung und Lehre, für Mitarbeiter in der Markt- und Meinungsforschung, für Experten in statistischen Ämtern und allgemeiner in Behörden, Organi-

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B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

sationen, Verbänden und Betrieben und für freiberuflich tätige Soziologen bzw. Sozialforscher. Die Verfügung über umfangreiche soziologische Fachkenntnisse zeichnet die Berufsfelder aus, die mit der »Gestaltung und Verwaltung des sozialen Lebens und seiner politischen und pädagogischen Veränderung« (61) befaßt sind. Diese Gruppe wurde in Gegenüberstellung zur ersten nicht als >SozialforscherSozialsachbearbeiter< charakterisiert, die Beamten-, Referenten- und Managerfunktionen ausüben. Beide Gruppen sollten sich aus Diplom-Soziologen bzw. Sozialwirten rekrutieren. Demgegenüber stand für Studierende, die Soziologie als Nebenfach betreiben, die Weckung soziologischen Verständnisses im Vordergrund, das das jeweilige Fachwissen ergänzte. In den Diplomausbildungen wurden typischerweise drei Prüfungsfächer gefordert: allgemeine Soziologie, spezielle Soziologie in Verbindung mit empirischer Sozialforschung und Volkswirtschaftslehre. »Auf jeden Fall gehört aber ein >Statistikschein< und ein Nachweis über die erfolgreiche Teilnahme an einer Übung über >Methoden der empirischen Sozialforschung< dazu« (Kluth 1966:677).

b) Entwicklung der Lehre

>Gründungsphase< der westdeutschen Soziologie wurde das soziologische Lehrangebot stetig ausgebaut. 1965 hatte sich das Angebot gegenüber dem Beginn der fünfziger Jahre verdreifacht; der exponentielle Ausbau, der ab den siebziger Jahren einsetzte, deutete sich an230. Die Ausweitung des soziologischen Angebots ging zunächst auf zusätzliche Lehrveranstaltungen an bereits etablierten Hochschulstandorten zurück; ab 1965 kamen eine Reihe von Hochschulneugründungen bzw. neu eingerichteten Studiengängen (z.B. Bielefeld, Bochum, Regensburg) hinzu. Lepsius (1979:48) charakterisierte den Einfluß der frühen Diplomstudiengänge auf das Lehrprofil: Es sei zu einer Mindestkodifizierung von Lehrfeldern gekommen; die Einbeziehung der Volkswirtschaftslehre wurde als obligatorisch erachtet und das Studium sei eher wissenschafts- als berufsfeldbezogen angelegt worden. Dennoch sei die sozialwissenschaftliche Lehre nicht gänzlich in einer wissenschafts- und professionsbezogenen Strategie aufgegangen; sie sei auch vom >Zeitgeist< und von >sozialmoralischen Orientierungen < geprägt gewesen231. In der

Bei Klima (1979:230) werden zu den soziologische Lehrveranstaltungen folgende Angaben 1950: 148, 1955: 253, 1960: 302, 1965: 468 (459), 1970: 997 (868). Bei den Angaben in Klammern sind die neugegründeten Universitäten nicht berücksichtigt. »Der konservative >Zeitgeist< Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre (...) bot eine stimulierende Kontrastfolie. Fast jedes soziologische Lehrstück enthielt eine >aufklärerische< Komponente, mit der man das Interesse der Studierenden wecken konnte. Soziologie stand in Opposition zum herrschenden Historismus, zur verbreiteten Ontologisierung von Begriffen, deflationierte traditionelle deutsche Ordnungsvorstellungen, betonte Konflikt gegenüber Integration, sozialen Wandel und Pluralität der Sozialstruktur. Das Lehren von Soziologie war mit einer zeit- und kul-

gemacht:

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

107

Wie aus den Angaben von Klima (1979:236ff) hervorgeht [B4-5], spielen Veranstaltungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung (im weiteren Sinne) in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre mit 3% keine Rolle. Sie erführen im folgenden Jahrfünft einen erheblichen Bedeutungszuwachs, der u.a. mit der Einrichtung der Diplomstudiengänge zusammenhängt (ca. 11%). Zu einem weiteren Zuwachs auf 16% (einschließl. Wissenschaftstheorie: 20%) kam es dann in den siebziger Jahren232. Auch die Veranstal-

wissenschaftstheoretischen Themen erfuhren in diesem Zeitraum Bedeutungszuwachs. Der bis in die sechziger Jahre relativ wenig veränderte Anteil von Veranstaltungen zur soziologischen Theorie verdeutlicht, daß der Ausbau des Lehrangebots im methodischen Bereich keinesfalls >zu Lastern der Theorie ging. Während die Ausbildung im Bereich der Erhebungsmethoden als originär soziologische Aufgabe begriffen wurde, wurde die Statistik als >Nachbarwissenschaft< mit obligatorischem Charakter angesehen: »Statistik, als Voraussetzung für die Beherrschung der Methoden der empirischen Sozialforschung, muß Pflichtfach sein für alle Soziologen« (69); »sie stellt wesentliche Werkzeuge zur Beschreibung und Analyse empirischer Daten zur Verfügung« (35). Die Statistik wurde, wahrscheinlich induziert durch das Label der >HilfswissenschaftDenkschrift< (Lepsius 1961), die neben Lepsius auch von anderen Fachvertretern getragen wurde, wurde für die Fachsoziologen »die Beherrschung des empirischen Forschungsinstrumentariums als selbstverständlich vorausgesetzt« (66). Im Rahmen der soziologischen Ausbildung sei daher in die »Methoden der empirischen Sozialforschung« (68) einzuführen; gemeint waren damit »Einführung in die Techniken und Methoden, Forschungsmethoden für Fortgeschrittene, Praktikum mit selbständigen Arbeiten«. Dabei sollten Praktika unter persönlicher Anleitung im Vordergrund stehen. Schelsky äußerte sich, auf seine Lehr- und Forschungstätigkeit an der Akademie für Gemeinwirtschaft zurückblickend, in ähnlicher Weise; es sollten in der empirischen Ausbildung sowohl fachliche wie soziale Kompetenzen erworben werden. Die Ausbildung in den Methoden der empirischen Forschung sollte

tungen

zu

einen

turkritischen Prämie verbunden. Das änderte sich im Laufe der 60er Jahre. Der

Zeitgeist wurde soziologisiert« (1998:214). Da an einigen Hochschulen die Ausbildung in Statistik an andere Fakultäten bzw. Fachbereiche delegiert wurde, ist der Anteil von Veranstaltungen zu den Methoden der empirischen Forschung in dieser Auswertung noch unterschätzt. Diese Position wurde von Oskar Anderson in »Probleme der statistischen Methodenlehre in den Sozialwissenschaften< (1954) eingehend kritisiert.

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B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

neben ihrer wissenschaftsstrategischen Funktion, die Soziologie als >moderne< an naturwissenschaftlichen Maßstäben orientierte Wissenschaft auszuweisen, auch fachsozialisatorische Aufgaben übernehmen: sie sollte einen engen Gegenstandsbezug herstellen; sie sollte zur Selbsterziehung in wissenschaftlicher Arbeit beitragen; sie sollte die Verknüpfung wissenschaftlicher und politisch sozialer Tätigkeit aufweisen und schließlich sollte sie Qualifikationen im Bereich der sozialen Kompetenz fördern. Matthes wies darauf hin, daß sich die Ausbildung in den Methoden der empirischen Sozialforschung recht unterschiedlich gestaltete, je nachdem, ob die Soziologie an einer philosophischen oder im Rahmen einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät verankert war. So sei durch die Bindung an die Ökonomie zwar eine fundierte statistische und ökonometrische Ausbildung gewährleistet worden, die Methoden der empirischen Forschung würden hier aber nur in sehr begrenztem Umfang vermittelt. An den philosophischen Fakultäten sei die Gewährleistung einer fundierten Methoden- und Statistikausbildung in hohem Maße »dem jeweiligen Lehrpersonal und seinen spezifischen Fachinteressen überantwortet« (1973a:46). Mannheim hatte in seinen Überlegungen zu den >Gegenwartsaufgaben der Soziologie< die Bedeutung der Lehre für die Konturen der Disziplin betont: »Wir wissen nur allzugut, daß die Ausgangskonstellation einer Wissenschaft deren spätere Gestalt prägt, daß besonders die Lehrgestalt auf die Wissenschaftsgestalt zurückzuwirken pflegt« (1932:33). Beide Thesen treffen die Entwicklung der Soziologie und Sozialforschung in dieser Gründungsphase recht gut. Die von Mannheim vermutete Prägung der Wissenschaftsgestalt durch die Lehrgestalt verstärkt sich insbesondere in der folgenden Entwicklungsphase, als die hohen Zahlen von Studierenden an den Hochschulen die Lehr- gegenüber den Forschungsanstrengungen in den Mittelpunkt rückten und zu einer starken Kanonisierung des Wissens im Bereich der Soziologie

und Sozialforschung beitrugen. Die Ausbildung von Soziologen und empirischen Sozialforschern diente in dieser Entwicklungsphase der Disziplin vorrangig der Reproduktion und der Expansion der akademisierten Sozialwissenschaft: bis zum Ende der sechziger Jahre verblieben nach einer Schätzung von Matthes (1973a:51) ca. 40% der Absolventen im Hochschulbereich.

c) >Schulen< in der Nachkriegssoziologie Das Feld der akademischen Soziologie trug in den fünfziger und frühen sechziger Jahren noch Spuren einer scientific community in engeren Sinne234; man kannte sich, nahm aufeinander Bezug sei es auch nur abgrenzend und man unternahm den Versuch, auch fundamentale Konflikte zu bearbeiten, wie die Tagung zur Positivismusfrage zeigte. Verglichen mit der späteren Ent-

Vgl. Dahrendorf (1959:148).

-

II. Institutionen der

empirischen Sozialforschung

109

wicklung war der Differenzierungsgrad soziologischer Forschung und Lehre noch vergleichsweise gering. Arbeitsschwerpunkte entwickelten sich vor allem in der Industriesoziologie, der Jugend- und Familiensoziologie, in der Gemeindesoziologie sowie in der politischen Soziologie (vgl. Lepsius 1961:36). Verglichen mit der Vorkriegssituation hatte sich das Feld jedoch verändert: »Die verhältnismäßige Gemeinsamkeit der deutschen soziologischen Forschung und ihrer Träger, wie sie in den Jahren vor und nach dem ersten Weltkrieg zu beobachten war, ist verloren« (Hund 1955:470)235. Die Geschichte als »umgreifender Horizont des soziologischen Fragens« (ebd.) hatte ihren universell orientierenden Einfluß verloren. Andere integrierende Paradigmen, wie das Programm einer empirischen Soziologie oder ein spezifischer wissenschaftstheoretischer Konsens, konnten nicht jene hegemoniale Funktion einnehmen, die dem Historismus zu eigen war. Wissenschaftsgeschichtliche Darstellungen zur westdeutschen Nachkriegssoziologie greifen im wesentlichen auf zwei Strukturmomente zurück, um die Konstellation und die Entwicklungslinien dieser Phase darzustellen: sie

rekonstruieren das Wirken verschiedener >Schulen< und verschiedener >GenerationenSchulenstruktur< der westdeutschen Soziologie findet sich in Schelskys >Ortsbestimmung< (1959:19f). Dort wurden zwei divergierende Richtungen238 der Soziologie charakterisiert: Soziologie als fünktionsanalytisch orientierte Erfahrungswissenschaft mit einer ausgeprägten empirischen Orientierung und Soziologie als Kultursoziologie bzw. Sozialphilosophie. Als dritte Position wurde in Auseinandersetzung mit diesen Richtungen Schelskys Versuch eines Arrangements zwischen eher philosophischen und eher ökonomischen Wissensbeständen und !35

Zu den Faktoren, die diese Gemeinsamkeit ermöglichten, rechnete Hund: die Sozialisation in der historistisch orientierten Geisteswelt des 19. Jahrhunderts, die gemeinsame Erfahrung von Industrialisierung und sozialem Konflikt, die Herausforderung durch Marx und seine Schüler. 236 Zur Generationenstruktur vgl. die Darstellungen zu den frühen Sozialforschern. In Ergänzung zu einer rein theoriebezogenen Einordnung arbeitete Kern das »Theorie-Empirie-Verhältnis in der Soziologie und das damit zusammenhängende Verständnis von soziologischer Theorie und Methode« als zentrale Konfliktlinie zwischen den »stilprägenden Ströin der Soziologie« (1982:220) heraus. mungen 238 Angesichts der Variationen innerhalb dieser Richtungen hielt Schelsky den Schulenbegriff für unangemessen (24).

110

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

-kulturen deutlich. Diese Strukturierung wurde in der populären Einführung von Matthes wieder aufgenommen und kodifiziert239. Unter Berufung auf einen common sense des soziologischen Diskurses240 skizzierte er drei Schulen (Köln, Frankfurt und Hamburg/ Münster), sowie die Berliner Soziologie mit einer stärker politisch sozialphilosophischen Orientierung. Diese Schulenstruktur trage dazu bei, daß der wissenschaftliche Markt von Trennungslinien durchzogen sei: »man produzierte und tauschte innerhalb des jeweiligen schuleigenen Marktes und begegnete Arbeitsergebnissen, die von einer der anderen Schulen vorgelegt wurden, mit Immunisierungsstrategien vielerlei Gestalt« (49). Dieses Grundmuster wurde von anderen Autoren übernommen241 bzw. erweitert242. Kern betont den stilisierenden Charakter einer solchen Strukturierung und erinnert an die Ansätze, die aus dem Schema herausfallen: z.B. die Positionen von Plessner, Mackenroth, Nell-Breuning und Weisser sowie der Einfluß Geigers. >Gegenmodelle< zu einer solchen schul-orientierten Darstellung der Struktur der Nachkriegssoziologie finden sich eher in den zeitgenössischen Stellungnahmen. So hoben sowohl Schelsky als auch Dahrendorf die eher individualisierte und atomisierte Struktur des wissenschaftlichen Feldes hervor243. Auch in den autobiographischen Darstellungen der Nachkriegssoziologen wurde auf solche Schulen-Bilder Bezug genommen; dabei finden sich aber auch Stellungnahmen, die die Konsistenz einzelner >Schulen< in Zweifel ziehen244. Vermutlich spielte hier auch das Phänomen eine Rolle, daß mit dem Schulen-Konzept oft negative Konnotationen verknüpft waren245. Matthes (1973a) beschrieb eine Struktur der >Verschulung< bzw. der >Abkapselung< und verwies auf die großen Unterschiede der wissenschaftlichen und soziokulturellen Herkunft sowie auf die unterschiedlichen Lebenswege der Hochschullehrer. Er leitete seine Darstellung mit den Worten ein: »Man pflegt als die ersten drei >Schulen< der deutschen Nachkriegssoziologie die Kölner Schule (...), die Frankfurter Schule (...) und die

Schelsky-Schule (...) zu nennen« (48). 241 Vgl. Atteslander (1998:136ff). 42 So skizzierte Lepsius (1979) in seiner Darstellung der Wissenschaftsentwicklung vier »Zentren« der Nachkriegssoziologie (Berlin, Frankfurt, Hamburg/ Münster, Köln) und verwies auf weitere Schwerpunkte in Freiburg und Göttingen; er verzichtete aber auf den Schulen-Begriff. Schelsky merkte an, daß »heute in Deutschland bald jeder Soziologe jeden anderen Soziologen für »keinen richtigen Soziologen< hält« (1959:24f). Dahrendorf schloß an diese Darstellung an (1959:140).

Goldschmidt hob für Göttingen hervor: »Plessner hat, wie wiederholt festgestellt wurde, (...) keine Schule gebildet« (1998:11). Ciaessens merkte zu Schelsky bzw. zur Situation an der Sozialforschungsstelle an: »Allerdings war dies Klima auch nicht geeignet, zu einer >Schule< innerhalb der Soziologie (...) zu führen (...). Und in Berlin hatte sich sowieso keine >Schule< entwickelt. Damit war die SFSt Dortmund auch in gewisser Weise isoliert« (1998:47, vgl. auch 43). Mackensen geht in Abgrenzung zu den soziologischen Schulen in Köln und Frankfurt davon aus, daß »Dortmund/Münster demgegenüber im Diskurs der Soziologie in Westdeutschland kaum eine Rolle« (1998a:174) spielte. Atteslander merkt zur Situation in Köln an: »Oft wird von einer Kölner Schule gesprochen, deren Vater König sei. Der >Fremde< ist ungeeignet zur Bildung von Schulen, so ist der Begriff Schule für das, was König bewirkt hat, in meinen Augen falsch« (1998:138).

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

111

Ausgehend von der hier verfolgten wissenschaftsgeschichtlich analytischen Perspektive läßt sich kein klarer Trennstrich zwischen zeitgenössischer und analytischer Perspektive ziehen. Die zeitgenössischen Diskurse der Zurechnung und Abgrenzung von Personen und Gruppen schlugen sich auch in den

materiellen Strukturen des Feldes nieder. Bei der Konstruktion von Differenzierungslinien, Gruppen und Lagern, von >Freunden< und >Gegnernnormalen< Wissenschaftskultur zu solche verzwischen verschiedenen Positionen bzw. den sie Auseinandersetzungen tretenden Gruppen können ein wesentliche Ressource wissenschaftlicher Entwicklung sein. Für eine Analyse der Entwicklung der empirischen Sozialforschung erscheint die Stilisierung von Schulen der westdeutschen Nachkriegssozioloist festzugie nur bedingt geeignet; ausgehend von Szackis halten: Auf institutioneller Ebene ist mit dem Bild von den drei großen Schulen der Nachkriegssoziologie ein mehrstufiger Ausgrenzungseffekt verknüpft. Der Blick fokussiert sich auf das engere Feld der akademischen Soziologie; die Produktion und Verwendung soziologischen Wissens in benachbarten Wissenschaftsfeldern und in den Forschungsinstituten wird zu wenig berücksichtigt. Schließlich werden innerhalb der akademischen Soziologie jene Ansätze ausgrenzt, die sich z.B. einer historischen Soziologie (Alfred Weber) einer formalen Soziologie (von Wiese) oder einer phänomenologisch orientierten Soziologie (Plessner) zurechneten. Die allmählich entstehenden Sektionen der DGS, als Keimzellen einer problem- und politikfeldorientierten Selbstverständigung von Soziologen (Industrie, Familie, Jugend etc.) und die dort ausgebildeten eher >schulübergreifenden< Diskussionszusammenhänge bleiben unberücksichtigt.

begreifen246;

Schulkonzept247

-

Scheuch teilt diese Einschätzung: »Eine richtige Schule war das nicht, wohl aber ein Kreis mit eiübereinstimmenden Vorverständnis von Gesellschaft und Methoden, mit denen über diese Informationen beschafft werden können« (1998:241). Szacki ([1973] 1981) wies daraufhin, daß mit der Existenz von Schulen oft die Vorstellung des »Zurückhinkens hinter der Entwicklung der Naturwissenschaften« oder gar die »Ähnlichkeiten mit einer Sekte« (26) verknüpft waren. Diese Vorstellungen, die am Wissenschaftsleitbild der Naturwissenschaften orientiert waren, begannen sich jedoch mit der Rezeption der Kuhnschen Wissenschaftstheorie zu verändern. Vgl. dazuTiryakin ([1979] 1981:31). 146 In diesem Sinne sind auch die verschiedenen Bekundungen (vgl. z.B. Bolte 1996:152), man habe sich eigentlich in der Gruppe der Jüngeren quer über alle >Schulen< recht gut verstanden, eher als Ausdruck einer Solidarität der Noch-Nicht-Machtvollen zu begreifen; ein anderes Bild vom Verhältnis der Assistenten der frühen Jahre wird bei Rammstedt (1998:279f) gezeichnet. nem

247

Vgl. Szacki ([1973] 1981:18ff).

B.

112

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< ( 1949-1965)

Auf der psychologischen Ebene, d.h. auf der Ebene der zeitgenössischen Selbstverständigung der Soziologen stützen einige der untersuchten autobiographischen Darstellungen dieses schulorientierte Bild; es finden sich andererseits, wie oben angeführt, aber auch Darstellungen, die den Schulcharakter gerade des eigenen institutionellen Zusammenhangs negieren. Auf der typologischen Ebene ist einzuwenden, daß die theoretischen Programme, die mit den einzelnen Schulen verknüpft werden, in sich recht heterogen sind. So steht z.B. René König mit seinen kultur-anthropologischen Forschungen bzw. mit der Rezeption der französischen Soziologie für ein recht breites soziologisches Programm, das nur unzureichend mit dem Etikett einer empirischen Soziologie versehen werden kann. Ähnliches gilt aber auch für Schelsky und die Frankfurter Soziologie. Die Situation an den einzelnen Hochschulstandorten erweist sich, bedingt durch ver-

-

-

schiedene Lehrstühle, verschiedene Institutionen oder auch durch Diffezwischen >Schulgründern< und >GefolgschaftUnterzentren< ausmachen; die an vielen Orten betriebene empirische Sozialforschung trifft so aufrecht unterschiedliche theoretische und philosophische Deutungsrahmen. Mit dem hier verfolgten weiter gefaßten Verständnis des soziologischen Feldes relativiert sich auch die Bedeutung einer möglichen Schulenstruktur der Nachkriegssoziologie, kann sie doch allenfalls den Bereich der akademischen Soziologie beschreiben. Die Schulenstruktur scheint wirksam zu sein, wenn es um die Besetzung bestimmter Schlüsselstellung in der akademischen Soziologie ging: die Besetzung von Lehrstühlen, den Vorsitz in der deutschen Gesellschaft für Soziologie etc. Aber auch hier ist zu fragen, ob dabei der Einfluß einzelner Schulen zu Tage trat, oder ob es eher um Wirkungen von sozialen Netzwerken ging, die nur bedingt mit einer solchen Schulenstruktur zusammenfielen. Vielleicht kann man ausgehend von dem bei Lepsius gewählten Bild sagen, daß es bestimmte Zentren soziologischen Arbeitens gab, von denen einzelne zeitweilig auch den Charakter von Schurenzen

len

tren

(Köln und Frankfurt) annahmen, daß es daneben aber auch andere Zengab, die gleichermaßen und sei es nur als Orte einer speziellen fachli-

chen Sozialisation von späteren Soziologengenerationen Bedeutung hatten. Daraus würde sich eine weitaus amorphere Struktur ergeben, als es in vielen wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen erscheint. 248

Wie oben deutlich wurde, war der Standort Köln neben König auch durch die Beziehungslehre Wieses und das sozialpolitisch orientierte aber auch wissenschaftstheoretisch profilierte Programm Weissers geprägt. Neben dem Kölner Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften waren auch das eher vom Chicagoer Wissenschaftsprogramm inspirierte UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften, das von Weisser geprägte Institut für Selbsthilfe, das Institut für vergleichende Sozialwissenschaft unter der Regie Scheuchs und das Institut für Mittelstandsforschung bedeutsam und haben den Standort geprägt. Für die Frankfurter Konstellation wurde von den »mindestens zwei Sozialwissenschaften« (Steinert 1990) gesprochen, die das örtliche Feld prägten. von

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

113

Die sicherlich vorhandenen Differenzen in der Einschätzung und im wissenschaftlich praktischen Engagement in der empirischen Sozialforschung wurden überlagert von vielfach motivierten Stilisierungen; insbesondere die in den späten fünfziger und den sechziger Jahren beginnenden Auseinandersetzungen um die wissenschaftstheoretischen Begründungen der Sozialforschung und um das Verhältnis von Empirie und soziologischer Theoriebildung haben hier eine wichtige Rolle gespielt. Folgt man jedoch dem Dahrendorfschen Statement auf der Tagung zum sogenannten >PositivismusstreitMeinungsforschung< nur in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre von Interesse. Auch die Themen der Jahrestagungen der Deutschen Statistischen Gesellschaft spiegelten diese Entwicklung [B15]: sozialstatistische Themen spielten nur noch eine geringe Rolle; es dominierten die Wirtschafts- und Betriebsstatistik402 sowie der Bereich der statistischen Methoden bzw. die Fragen der Ausbildung an Hochschulen und Universitäten403. Auch die Zahl und Struktur der veröffentlichten Monographien und Lehrbücher [B16] zu statistischen Themen kann als Indikator für die Produktivität Artikel zum Themenbereich »Methoden und Techniken« hatten im Allgemeinen Statistischen Archiv folgende Anteile: 1920-1929 (14,8%); 1930-1939 (12,9%); 1940-1943 (9,5%); 1949-1959 (22,7%); 1960-1969 (22%); 1970-1979 (36,2%); 1980-1989 (43,1%). Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der Rohdaten des Allgemeinen Statistischen Archivs. 402 Probleme eines statistischen Gesamtbildes von Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsablauf, die statistischen Probleme der sozial-ökonomischen Topographie, Statistik und Betrieb, integrative Tendenzen in der Wirtschafts- und Sozialforschung und ihre Bedeutung für die Statistik, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen als Instrument der Wirtschaftspolitik, Wechselbeziehungen zwischen Bevölkerung und Wirtschaft, zur Methode des internationalen Preis- und Kaufkraftvergleichs, Probleme des internationalen Vergleichs der Lebensniveaus, das Unternehmen als Objekt der Statistik, statistische Begriffe (...), das Zusammenführen volks- und betriebswirtschaftlicher Aspekte in der Wirtschaftsstatistik, neue Methoden und Ziele der Verbrauchsforschung, Grenzen zwischen Statistik und Ökonometrie, Einkommensstatistik, Betrieb und Statistik. Neue Wege der Volkszählung, Werdegang und Stand des statistischen Hochschulunterrichts, neuere Stichprobenverfahren in der amtlichen Statistik, akademische Statistik und Methodenfragen, Statistisches Messen, Maschinenverwendung und Automatisierung in der Statistik, Aus- und Weiterbildung von Statistikern.

II. Institutionen der empirischen

Sozialforschung

161

Orientierung des statistischen Diskurses dienen Die Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen hatte sich vor dem zweiten Weltkrieg zwischen 18 und 25 im Jahrfünft eingependelt405. Nach dem kriegsbedingten Einbruch in den vierziger Jahren wurde in der zweiten Hälfte der vierziger

und

.

Jahre die Publikationstätigkeit auf ähnlichem Niveau wieder aufgenommen. In der ersten Hälfte der fünfziger und insbesondere in sechziger Jahren kam es dann zu einem Boom von Buchveröffentlichungen zu statistischen Themen. Bei der thematischen Aufschlüsselung dieser Publikationen zeigen sich ähnliche Trends, wie sie bereits bei den Beiträgen zum allgemeinen Statistischen Archiv< deutlich wurden [B17]. Die Beschäftigung mit statistischen Methoden, mit Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematischer Statistik spielte bis zu den sechziger Jahren keine herausgehobene Rolle bei der statistischen Buchproduktion. Ein Zuwachs findet sich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre (19 Titel); ein deutlicher Sprung dann in der zweiten Hälfte (68 Titel). In den fünfziger Jahren, vor allem in der zweiten Hälfte der Dekade, standen eher betriebs- und wirtschaftsstatistische Anwendungen der Statistik im Vordergrund. Die neuen Entwicklungen im Bereich der Marktforschung und der empirischen Sozialforschung spielten im Vergleich zu den übrigen statistischen Publikationen nur eine randständige Rolle. Insgesamt zeigt sich in den Diskursen der > Statistiken hinsichtlich der methodischen Orientierung in dieser Phase eine beharrende Tendenz. Trotz der Abwendung von den Verdikten von Mayrs spielten Fachvertreter mit einer stark substanzwissenschaftlichen Orientierung im Bereich der Sozialstatistik bzw. der Wirtschafts- und Sozialstatistik eine wichtige Rolle. Ihre Publikationen und Lehrbücher (s. S. 184) prägten das Lehrgeschehen in den fünfziger und sechziger zum Teil auch noch in den siebziger Jahren. Erst mit der Ausweitung der Studierendenzahlen in den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächern in den sechziger und siebziger Jahren, mit der Entstehung von Lehrbüchern, die den >neueren< Entwicklungen Rechnung trugen, und mit dem Abtreten der substanzwissenschaftlich orientierten Fachvertreter entwickelte sich eine >moderne< Statistik mit formalwissenschaftlichem Anspruch. Trotz dieser eher bewahrenden Haltung spielten einzelne Statistiker bei der Adaption der >neuen amerikanischen Methoden< eine durchaus wichtige Rolle für die sich entwickelnde empirische Soziologie.

c) Die Sorge um die statistische Ausbildung In den Veröffentlichungen der Deutschen Statistischen Gesellschaft finden sich seit ihrer Gründung mehr oder weniger regelmäßig Berichte und ErörAusgewertet wurden die Angaben über Lehrbücher und Monographien in der Bibliographie (1969); nicht aufgenommen wurden nach Angaben Kellerers Veröffentlichungen zur Unternehmensforschung, Datenverarbeitung, Netzplantechnik, Kybernetik usw. 405 Im einzelnen: 1925-1929: 22; 1930-1934: 25; 1935-1939: 18; 1940-1944: 8; 1945-1949: 22; 1950-1954: 46; 1955-1959: 29; 1960-1964: 59; 1965-1969: 164. Kellerers

162

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

terungen über den Stand der statistischen Ausbildung

an deutschen Hochschulen und Universitäten. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde regelmäßig eine Übersicht über alle statistischen Lehrveranstaltungen erstellt. Bereits bei der ersten Nachkriegstagung der Deutschen Statistischen Gesellschaft 1948 befaßte man sich intensiv mit den Fragen des statistischen Unterrichts an deutschen Universitäten und Hochschulen406. Gegenüber der Lage am Ende der Weimarer Republik war die Zahl der Dozenten, die 1948 an deutschen Universitäten Statistik lehrten, von 41 auf 32 zurückgegangen (Lorenz 1949:66). Zugleich hatte sich eine erhebliche personelle Umschichtung vollzogen: 16 Lehrkräfte waren neu hinzugekommen407. Insgesamt wurden an den Universitäten der späteren Bundesrepublik im Studienjahr 1947/48 statistische Lehrveranstaltungen und Übungen im Umfang von nur 88 Semesterwochenstunden angeboten (Anderson 1949:77ff). Dieses Angebot hatte sich in den folgenden Jahren fortlaufend erhöht; im Studienjahr 1963/64 waren es immerhin 759 Semesterwochenstunden. Mehr als die Hälfte dieser Veranstaltungen entfielen auf die allgemeine Methodenlehre der Statistik. Bei der anwendungsbezogenen Statistik dominierte der naturwissenschaftlich-medizinische Bereich. Mit etwa 60% der angebotenen Semesterwochenstunden machten die Studierenden der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften noch immer das bevorzugte Publikum der statistischen Ausbildung aus. Dieses Lehrangebot wurde von 35 Professoren und Professorinnen (davon 23 aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften) und weiteren 8 planmäßigen Dozenten erbracht (Esenwein-Rothe 1965a: 12). In den Debatten um die Inhalte der statistischen Ausbildung dominierten vielfach noch sozialstatistische und substanzwissenschaftliche Vorstellungen408. So seien viele Nachwuchskräfte ausgezeichnete Volkswirte, hätten aber von Verwaltungsbelangen, von der Berufsstruktur und von den Betrieben kaum Kenntnisse. Zudem wurde gefordert, daß sich die Statistiker auch stärker um die Auswertung der erhobenen Daten und um den statistischen Journalismus bemühen sollten. Charlotte Lorenz mahnte: »Wir müssen den

Anderson führte den niedrigen Stand statistischen Wissens bei den volkswirtschaftlichen Studenten darauf zurück, daß die Anzahl der »nicht nur volkswirtschaftlich sondern auch mathematisch auf der Höhe stehenden Dozenten, die die neue Entwicklung in der statistischen Methodenlehre verfolgen« (1949:76), immer weiter zurückgegangen sei. Der Unterricht sei immer stärker an Praktiker aus der amtlichen Statistik delegiert worden. Lorenz bemerkte dazu: »Wenn auch nicht verkannt werden soll, daß der Nachwuchs an jüngeren, z.T. aus der Fachverwaltung hervorgegangenen Lehrkräften einen frischen Zug in den statistischen Unterricht hineingetragen hat, so bedeutet doch andererseits die Fernhaltung älterer namhafter Fachkräfte, die den verschiedenen Richtungen der theoretischen, der mathematischen und der praktischen Statistik angehören, eine sehr fühlbare Beeinträchtigung der statistischen Fachbil-

dung« (66). »Ich glaube, daß es auch für die Regierung und Verwaltung, für die Wirksamkeit an der Gestaltung der öffentlichen Dinge, von großer Bedeutung ist, wenn sich die Statistiker bewußt sind, daß sie eben eine Sozialwissenschaft betreiben und daß sie infolgedessen die Verpflichtung haben, die angrenzenden Gebiete der Sozialwissenschaften zu beherrschen« (Verhandlungen 1949:149).

II. Institutionen der empirischen Sozialforschung

163

Studenten immer wieder klarmachen, daß sie die Statistik nicht nur als technische Kunstfertigkeit zu erlernen, sondern als Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung zu betreiben haben« (Verhandlungen 1949:155). Wie die Schriften der Deutschen Statistischen Gesellschaft zeigen, wollte man sich auch der >Erziehung zur Statistik< widmen. So befaßte sich Krieger vom Bayrischen Statistischen Landesamt in zwei Beiträgen mit dem Verhältnis der Deutschen zur Statistik. Er begriff die »Beklemmungen gegenüber der Statistik in Deutschland« in geistesgeschichtlicher Perspektive als eine Abwehr »des Deutschen gegen den Eingriff der Zahl in seine Welt des Irrationalen« (1953:196); Statistik werde als »Wegbereiter der Vermassung des europäischen Menschen« (198) betrachtet. An anderer Stelle interpretierte er die Vorbehalte gegenüber der Statistik als einen »Mangel an Interesse für Gemeinschaftsfragen« (1954:111). Zudem sei die »latente Neigung zur Negation der statistischen Erhebung« durch die »Inquisition des Dritten Reiches und durch die politischen Fragebögen der Besatzung« (Krieger 1953:197) weiter gesteigert worden. Die Überlegungen Kriegers waren vom Impetus einer >technisch< geprägten Aufklärung getragen. Die Statistik müsse sich gegen die Verunglimpfung wehren: »Statistik ist die Wissenschaft von den sozialen Massen und für die sozialen Massen; sie läßt sich

nicht nur in stillen Gelehrtenstuben treiben. Der Statistiker bedarf (...) des Zusammenhangs mit dem alltäglichen Leben (...). Er bedarf vor allem des Vertrauens der einzelnen Konsumenten in die Geradheit und Objektivität seiner Arbeit« (196). Seine Überlegungen gipfelten in der Spekulation, was dem deutschen Volk erspart geblieben wäre, »wenn es vor 1933, wie andere Völker, dazu erzogen gewesen wäre, Tatsachen zu sehen und nach Wirklichkeiten zu urteilen« (1954:112)409.

In diesem Sinne habe die

Statistik« bereits auf der Elementarschule zu beginnen, Erwachsenenbildung und der werden. Jedoch habe auch der Statistiker seinen Beitrag Presse fortgesetzt er der der indem bei zu liefern, Erhebung, Aufbereitung und der Darstellung von Daten nie den Laien vergißt. Auch mit ihrer Schriftenreihe versuchte die Deutsche Statistische Gesellschaft, zur Verbreitung und Popularisierung der Statistik beizutragen; so erschienen ein Statistisches Wörterbuch (Englisch-Deutsch), Kellerers Theorie und Technik des Stichprobenverfahren sowie zwei Bibliographien zur amtlichen Statistik und zu deutschsprachigen Veröffentlichungen zur theoretischen Statistik.

»Erziehung

zur

müsse von der

d)

Das Selbstverständnis der >Statistiker
amtliche Tatsachenfeststellungen< hinaus auf subjektive Daten zugreifen; schließlich war der Zugriff auf Individualdaten statt auf Aggregate eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung komplexer statistischer Zusammenhangsanalysen. Eine andere Aufgabe, die die amtliche Statistik für die wissenschaftliche Sozialforschung erfüllen konnte, war die Bereitstellung von Basisdaten für die Ziehung von Stichproben. Aber auch hier stellte sich das Problem, daß die von der amtlichen Statistik definierten Grundgesamtheiten den Forschungsfragen der sozialwissenschaftlich orientierten Sozialforschung nur bedingt entsprachen, wenn es z.B. um die Untersuchung der >Ränder< der bundesdeutschen Gesellschaft ging. Einen besonderen Akzent gewann die Distinktion der universitär etablierten Soziologie gegenüber der Sozialstatistik durch den Vorwurf der Theorielosigkeit. König bezeichnete in seiner Darlegung zum Begriff der empirischen Soziologie (Handbuch der empirischen Sozialforschung) die Sozialstatistik als ein besonderes Beispiel für einen Forschungstypus, der »nicht einmal die Stufe der ad-hoc-Theorien« erreicht, sondern »auf der Stufe der bloßen deskriptiven Feststellung von gewissen Regelmäßigkeiten« steckenbleibe ([1967] 1973:4). In seiner Rangordnung der Abstraktion nehme dieser Typus die unterste Stufe ein423. Damit wird deutlich, daß das Verhältnis von Soziologie und amtlicher Statistik bzw. Sozialstatistik auch von wissenschaftsstrategischen Momenten geprägt war. »Die Methodologie der Sozialforschung ist nach Pirker424 durch einen, aus der Geschichte der Etablierung der Soziologie als akademisches Fach verständlichen, akademischen Ethnozentrismus gekennzeichnet, der die Forschungsverfahren und -organisaKönig differierte zwischen: »Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten, Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite, Theorien höherer Komplexität« (4). ad-hoc-Theorien, 424 Litz beruft sich hier auf ein Papier Theo Pirkers aus dem Jahr 1974; leider ist dieses Papier nicht zugänglich.

172

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

tionen der privatwirtschaftlich oder öffentlich verfaßten empirischen Sozialforschung als unbedeutend oder der Vorgeschichte des Faches zugehörig erscheinen läßt« (Litz/ Lipowatz 1986:53). Umgekehrt verlor aber auch die Soziologie für die amtliche Statistik an Interesse. Oben war bereits die stärkere Hinwendung zu wirtschaftsstatistischen Fragen konstatiert worden; die Integrations- und Systematisierungsleistungen, die die Wirtschaftswissenschaften z.B. über das System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung anbieten konnten, konnte die Soziologie nicht erbringen, allenfalls fanden sich einzelne Vorschläge zu den Kategorien der amtlichen Statistik425. Darüber hinaus gab es gewachsene Vorbehalte der an Objektivität und Neutralität orientierten Statistik gegenüber sozialwissenschaftlichen Theorien. Für die Vertreter einer theoretischen Statistik wiederum war die Soziologie nur von untergeordnetem Interesse. In Kellerers Darstellung rangierte die Soziologie unter den sonstigen Wissenschaftern, die neben eigenen Erhebungen auch auf die Ergebnisse der amtlichen Statistik zurückgreife (1960:214). Nachdem sich die Statistik mühsam von ihren universitätsstatistischen, staatswissenschaftlichen und substanzwissenschaftlichen Traditionen befreit hatte und zur universellen Methode des modernen Wissenschaftsbetriebs geworden war, mußte ein stärkerer Bezug auf die empirische Soziologie als ein Rückschritt in dieser >Erfolgsgeschichte< erscheinen. Das Feld der empirischen Sozialforschung426 sah Kellerer vor allem über den gemeinsamen methodischen Zugang bestimmt: Umfragen, insbesondere Repräsentativumfragen, Beobachtung und Experiment. Diese Methoden »werden zur Datengewinnung angewendet und sollen die Quantifizierung von gewissen objektiven Sachverhalten, bewußten Meinungen, Einstellungen und realen Verhaltensweisen ermöglichen« (225). Ergänzend führte er an, daß gelegentlich auch mit nichtstatistischen Methoden gearbeitet werde, mit Methoden der Motivforschung und Gruppendiskussion. Scheuch und Rüschemeyer konstatierten eine zunehmende Abwendung der theoretischen Statistiker von den Sozialwissenschaften: »Mögen auch die statistischen Probleme in der Soziologie theoretisch reizvoll sein, so sind doch aus einer Reihe von Gründen nicht zuletzt auch der besseren ökonomischen Chancen wegen verschiedene andere Arbeitsfelder weit anziehender; so vor allem die Industriestatistik und die naturwissenschaftliche Forschung« (1956:358). So befasse man sich mit Problemen der Stichprobenziehung, die eher für Fragen der Fertigungskontrolle interessieren, oder -

-

mit verfeinerten Fragen des Experiments, ohne daß dies die eher grundsätzlichen Probleme der Soziologie bei diesem Forschungstypus berührte. 425

Vgl. z.B. Croner (1959). Kellerer griff zur Bestimmung der empinschen Sozialforschung auf einen längeren Auszug aus dem entsprechenden Artikel im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften zurück. Er schloß sich der dort vom Frankfurter Institut für Sozialforschung entwickelten Sichtweise an.

III. Methoden und Methodendiskurse

173

Auch in den unterschiedlichen fachlich-wissenschaftlichen Selbstverständnismustern von Soziologen und Statistikern, so ist zu vermuten, lagen einige der Differenzen zwischen Soziologie und Statistik begründet. Das Vorherr-

schen verwaltungspragmatischer Orientierungsmuster, die Selbstverpflichtung auf unbedingte Objektivität und Neutralität verknüpft mit einem eher subalternen Selbstverständnis bei den universitären Wirtschafts- und Sozialstatistikern stand im Gegensatz zu den Selbstverständnismustern der noch jungen empirischen wissenschafts- und theorieorientierten Soziologie. Auch die Verstrickung der amtlichen Statistiker in den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, ihr mitunter unkritisches Selbstverständnis als Staatsdiener stand im Gegensatz zu der vorwiegend demokratischen und emanzipativen Orien-

tierung der ersten Soziologengenerationen. Vor diesem Hintergrund waren die Beziehungen zwischen der Soziologie und dem oben umrissenen Kreis der Statistiker sehr eingeschränkt. Die amt-

liche Statistik ließ sich nicht in eine Verwissenschaftlichungsstrategie einpassen, die auf dem Ausweis eines originären und theoriegeleiteten Zugangs zu den Phänomenen des Sozialen gründete. Sie entsprach zwar dem Gebot einer grundsätzlich empirisch orientierten Soziologie, war in ihrem Vorgehen aber eher von politischen und verwaltungspragmatischen Gesichtspunkten geprägt und konnte dem Datenbedarf der sich differenzierenden soziologischen Fragestellungen nicht länger nachkommen.

III. Methoden und Methodendiskurse in der

Sozialforschung Bislang ist für die verschiedenen Produktionskontexte empirischer Sozialforschung dargestellt worden, wie dort empirische Forschungsprozesse mit je unterschiedlichen Zielsetzungen und unter Einsatz unterschiedlicher Methoden abliefen. Bereits zu Beginn dieser Entwicklungsphase empirischer Forschung stand wissenschaftsgeschichtlich betrachtet eine breite Palette von Methoden zur Verfügung, die sich im Laufe dieser Phase noch erweiterte. Das heißt jedoch nicht, daß alle, die Sozialforschung betrieben, im Sinne einer >freienMethoden< vorwiegend im Kontext einer allgemeinen wissenschaftlichen Ausbildung, als Schüler eines Gelehrten, durch das Studium der Schriften anderer Forscher, oft aber auch durch Eigenstudium und eigene praktische Untersuchungsarbeit428. Soweit solche Forschungen im universitären Kontext stattfanden, wie z.B. bei den deutschen Universitätsstatistikern, wurde auch der akademische Lehrbetrieb bzw. die damit verknüpfte Herausbildung von Lehrer-Schüler-Beziehungen, persönlichen Kontakten und die Entstehung von mehr oder weniger engen >Schulzusammenhängen< zu einem wichtigen Vermittlungsmedium. Auch Aufenthalte an auswärtigen Universitäten spielten für die Verbreitung und Multiplikation des Wissens um empirische Methoden eine wichtige Rolle. Das Wissen um diese >Methoden< war oft kaum von den allgemeinen Methoden (geistigen) Arbeitens geschieden; eine Differenzierung nach Methofassen, wie auch die Methoden, mit denen diese Informationen aufbereitet, verdichtet und analysiert wurden: von statistischen Auswertungsverfahren bis zu hermeneutischen Analysen; er soll aber auch die Fragen des Forschungsdesigns umfassen. Für die Verfahren der Auslegung und Interpretation hatte dies Dilthey trefflich dargelegt: »Ihre Übertragung von einem Geschlecht der Philologen und Historiker auf das andere ruht vorwiegend auf der persönlichen Berührung der großen Virtuosen und der Tradition ihrer Leistungen. Nichts im Umkreis der Wissenschaften scheint so persönlich bedingt und an die Berührung der Personen gebunden als diese philologische Kunst« ([1970] 1990:268).

III. Methoden und Methodendiskurse

175

den, die der Erhebung von Daten, und Methoden, die der Analyse und Auswertung dienten, erfolgte erst weit später. Im Bereich der statistischen Methoden, die über lange Zeit in enger Beziehung zu sozialwissenschaftlichen Anwendungsfeldern gestanden hatten, fand ein solcher Ausdifferenzierungsprozeß als erstes statt, im Bereich der Methoden zur Erhebung empirischer Daten oder bei der Auswertung qualitativer Daten erst weit später. Diese wenig ausgebildeten Transfer- und Multiplikationstechniken führten immer wieder dazu, daß einzelne Methoden in Vergessenheit gerieten, daß man verschiedenenorts mit ähnlichen Methoden arbeitete, ohne voneinander zu wissen und daß gewisse Innovationen mehrfach hervorgebracht wurden. Auf der anderen Seite war damit eher gewährleistet, daß der Einsatz von Erhebungs- und Auswertungsmethoden problem- und anwendungsbezogen spezifiziert erfolgte. Eine Veränderung dieser Praktiken wurde zum einen durch die Institutionalisierung empirischer Forschung im Kontext der amtlichen Statistik angestoßen. Es war erforderlich, mehr als nur einige wenige Schüler in das Wis-

Durchführung empirischer Forschungsarbeiten einzuführen. Mit Institutionalisierung empirischer Forschung wurden diese Methoden der Erhebung und Auswertung empirischer Daten auch zum Zweck der Lehre und Ausbildung mündlich oder schriftlich dargelegt. Es entstanden erste einführende Darstellungen und mit dem statistischen Seminar ein regulärer Lehrbetrieb. Hier galt es, Vorgehensweisen zu explizieren, Experten und Expertinnen der amtlichen Statistik zu qualifizieren, vormals eher diskontinuierlich verlaufende Erhebungsprozesse zu verstetigen und akkumuliertes Wissen weiterzugeben. Zum anderen kam es im Bereich der statistischen Methoden zu einem erheblichen Wissenszuwachs, der eine Spezialisierung erforderte. Gegenstandsunabhängige Darlegungen zur Erhebung empirischer Daten und den Möglichkeiten ihrer Auswertung finden sich am ehesten in den Darstellungen zur Statistik4 wie z.B. Meitzens ([1886] 1903) >Geschichte, Theorie und Technik der Statistik< oder von Mayrs ([1895] 1914) >Statistik als GesellschaftslehreGründungsphase< ( 1949-1965) gresse sowie wissenschaftliche und andere Fachorganisationen hinzu, z.B. 176

B.

Weltkongresse der Statistiker oder der Austausch im Verein für Socialpolitik bzw. in der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Daneben spielte aber das Lernen in praktischen Forschungsarbeiten als training on the job nach wie vor eine wichtige Rolle. In den USA war es seit den dreißiger Jahren zu einer Ausweitung und Differenzierung des Wissens um empirische Forschungsprozesse gekommen; zugleich waren neue Anwendungsfelder empirischer Forschung erschlossen worden. Zur Kommunizierung und Verbreitung dieses sich differenzierenden Wissens entstanden nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend spezialisierte Fachorganisationen mit Fachzeitschriften, Weiterbildungsangeboten und fachbezogenen Öffentlichkeiten. Die fortschreitende Verankerung sozialwissenschaftlicher Ausbildungsgänge an den Hochschulen führte zu einem starken Zuwachs und zu einer Differenzierung von Lehrveranstaltungen, die sich mit Fragen der Statistik und empirischen Sozialforschung im weiteren Sinne befaßten; parallel entstanden einführende Darstellungen, Lehrbücher, Handbücher und Lexika zur empirischen Sozialforschung oder speziellen Teilgebieten. Die Entwicklung der empirischen Sozialforschung befand sich in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in einem Übergangsstadium; es vollzog sich eine allmähliche Loslösung des Methodendiskurses von den fachlichen, sach- und problembezogenen Diskursen der Disziplin. In den sechziger und siebziger kam es dann zu weiteren Differenzierungsprozessen als sich aus die

dem Bereich der Literatur zu den empirischen Methoden wissenschaftstheoretische und methodenkritische Darstellungen sowie Darstellungen zu spezifischen Erhebungsmethoden herauskristallisierten. Auch in der Literatur zu den statistischen Analyseverfahren fand mit Darstellungen zu einzelnen statistischen Verfahren bzw. zur multivariaten Statistik eine weitere Differen-

zierung statt. Im folgenden sollen diese Medien für die Aufbereitung und institutionalisierte Verbreitung von Methoden der empirischen Sozialforschung einge-

hender untersucht werden. Neben dem Genre der Lehr- und Handbücher soll die Rolle universitärer Lehrveranstaltungen und die Rolle wichtiger wissenschaftlicher Zeitschriften beleuchtet werden. Es soll der Frage nachgegangen werden, welche empirischen Methoden dort vermittelt und welche Leitbilder empirischer Forschung favorisiert werden. Die Untersuchung beschränkt sich auf deutschsprachige Darstellungen431. Zwar spielten mit der Westintegration der Bundesrepublik und der starken Orientierung an der amerikanischen Sozialforschung internationale Einflüsse eine weit größere Rolle als noch vor dem zweiten Weltkrieg; dennoch ist davon auszugehen, daß sich in weiten Bereichen ein spezifischer nationaler Diskurs erhalten hat: vermittelt über die Geschichte und die Segmentierungen des wissenschaftlichen und des universitären Feldes, über politische, ökonomische und soziale Spezifika etc. Die empirische Sozialforschung im engeren Sinne war durch eine Vielzahl nationaler Besonderheiten geprägt: spezifische Institutionen, Verwendungsbezüge, Finanzierungen etc. Auch

III. Methoden und Methodendiskurse

1.

177

Darstellungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung

Handbücher, Lexika und andere Überblicksdarstellungen haben für die disziplinäre Entwicklung der Soziologie eine wichtige Funktion gehabt. 1931 hatte Adolf Vierkandt mit dem von ihm herausgegebenen Handwörterbuch der Soziologie eine solche Darstellung vorgelegt, noch 1959 erfolgte ein Neudruck dieser Ausgabe. Er beabsichtigte eine Verbreitung soziologischer Einsichten, wollte aber auch nach innen wirken und »den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen soziologischen Bewegung in Deutschland in großen Zügen gleichsam durch einen Akt der Kodifikation festlegen« ([1931] 1982:XIX)432. In dem Vierkandtschen Handwörterbuch spielt die empirische Sozialforschung als explizites Thema nur eine marginale Rolle; einzig der Artikel Rudolf Heberies befaßt sich mit der > Soziographie«: als Synonym für >empirische Soziologien In den fünfziger und sechziger Jahren erschienen verschiedene einführende Darstellungen, Handbücher und Lexika zu der sich akademisch etablierenden Disziplin der Soziologie bzw. Sozialwissenschaft. Der Stellenwert, der dabei der empirischen Forschung zugemessen wird, und die Weise, in der diese dargestellt wird, ist sehr unterschiedlich. So finden sich auf der einen Seite Arbeiten, wie Alfred Webers Einführung (1955) oder Ziegenfuß' Handbuch (1956), in denen die neueren Entwicklungen der empirischen Forschung keine erkennbare Rolle spielen; auf der anderen Seite die Einführung von Francis (1957) oder Königs Lexikon zur Soziologie433 (1958), die Soziologie durchgängig als Erfahrungswissenschaft begreifen und darstellen434. Im Lehrbuch von Gehlen und Schelsky (1955) wird der Stellenwert der empirischen Forschung zwar in ähnlicher Weise herausgestrichen, sie bekommt jedoch einen separaten Ort, die methodologische Abhandlung, zugewiesen und wird nicht als integrativer Bestandteil soziologischen Arbeitens und soziologischer Theoriebildung begriffen. Darüber hinaus differieren die Darstellungen zur empirischen Sozialforschung danach, welche die für die wissenschaftliche

Ausbildung herangezogene Literatur war in hohem Maße deutschsprachig. 432 Zur Darstellung und Kritik dieses Unternehmens vgl. Königs Darstellung zur Berliner Soziologie um 1930 (König [1981] 1987:261fr). 4 3 Im Rahmen des Lexikons war die empirische Sozialforschung mit zwei Hauptartikeln vertreten: ein von Erwin K. Scheuch verfaßter Beitrag über »Methoden« und Königs Beitrag »Soziale Morphologie«. Der Beitrag Scheuchs umfaßte längere Ausführungen zur Wissenschaftslehre, eine Darstellung zur Geschichte und jüngeren Entwicklung der Sozialforschung und eine Einführung in Erhebungsmethoden (Interview, Beobachtung, Experiment, Inhaltsanalyse, Soziometrie, Einzelfallstudie, ergänzend: Gruppenexperiment und Aktionsforschung); auf Strategien der Analyse und Auswertung solcher Daten wurde nur im Ausblick verwiesen. Zu verweisen ist darüber hinaus auf das 1955 erschienene Wörterbuch der Soziologie von Bemsdorf und Bülow. Unter dem Stichwort »Sozialforschung, empirische« finden sich lediglich Verweise; darüber hinaus gibt es Artikel zur Soziographie (Utermann) und zu Statistik und Sozio-

logie (Lorenz).

178

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Forschungsansätzen dargelegt wird: orientiert man sich vorranquantifizierenden Forschung, wie es bei Scheuch gig aber auch in dem Artikel des Frankfurter Instituts für Sozialforschung geBreite

von

am

mainstream der

schieht, oder stellt man, wie bei Francis, auch Positionen dar, die sich

stär-

ker historischen und verstehenden Ansätzen verpflichtet fühlen.

a) Handbücher, Einführungen und Lehrbücher Im Nachkriegsdeutschland entstand ein Bedarf an frei verfügbarem Wissen um die Durchführung empirischer Forschungsarbeiten zunächst im Kontext der Markt- und Meinungsforschungsinstitute sowie der hochschulfreien und hochschulnahen Forschungsinstitute, die für die Sozialforschung der fünfziger Jahre eine zentrale Rolle spielten. Aus den vormals zusammenhängenden Darlegungen der deutschen Statistiker bildeten sich in den fünfziger und

frühen sechziger Jahren vier eigenständige Genres heraus: Darstellung zu den Methoden der empirischen Sozialforschung, die sich mit Fragen der Erhebung und Aufbereitung von Daten, mit Fragen des Forschungsdesigns und der Stichprobenziehung befaßten; Darstellungen, die sich auf die Materie der deskriptiven Statistik beschränkten; >Moderne< Statistiklehrbücher, die insbesondere die Fragen der induktiven Statistik behandelten; Darstellungen zur Sozial- und Wirtschaftsstatistik, auf Basis der Daten der amtlichen Statistik. Diese Differenzierung erfolgte jedoch nur allmählich; insbesondere in den fünfziger Jahren dominierten noch zusammenhängende Darstellungen mit einem forschungspraktischen Impetus. Bereits 1948 waren unter dem Titel >Aus der Werkstatt des Sozialforschers«: die Beiträge einer von Solms organisierten Vorlesungsreihe erschienen435. 1952 wurden die Beiträge der eingangs untersuchten Tagung >Empirische SozialforschungBoom< zeichnete sich dann in den neunziger Jahren ab436. Vergleicht man diese Daten mit der amerikaniNeben einer Darstellung von Ralis zur Meinungsforschung in den USA findet sich dort ein eher breites Verständnis von Sozialforschung, bis hin zur Sozialarbeit: psychologisch orientierte Jugendforschung, gruppentherapeutische Ansätze in der Jugendarbeit. Ein großer Teil der Beiträge (z.B. die von Wieses und von Solms') schienen den Sozialforscher eher mit einem theoretisch arbeitenden Soziologen zu identifizieren und waren weit von dem später etablierten Verständnis von Sozialforschung entfernt. An Einführungen, Überblicksdarstellungen, Lehrbücher zur empirischen Sozialforschung erschienen: 1950-1954: 4 (6); 1955-1959: 3 (7); 1960-1964: 3 (8); 1965-1969: 8 (23); 1970-1974:

III. Methoden und Methodendiskurse

179

sehen Entwicklung, wie sie von Platt (1996) analysiert wurde, wird deutlich, daß die deutsche Entwicklung hinsichtlich der Quantität von einführenden Veröffentlichungen zur empirischen Sozialforschung der amerikanischen mit einem zeitlichen >Verzug«: von etwa 15 Jahren folgte [B18-19].

Darstellung zu den Methoden der empirischen Forschung Die bis 1965 angebotene Literatur setzte sich zum einen aus Titeln zur Markt- und Meinungsforschung, zum anderen aus den im Kölner Kontext entstandenen Veröffentlichungen Praktische Sozialforschung< bzw. dem >Handbuch für empirische Sozialforschung< zusammen [B20]. Die Darstellungen zur Marktforschung437 zeichneten sich, bedingt durch ihre Orientierung an den wirtschaftswissenschaftlichen Diskursen, bereits früh durch methodisch elaborierte Darstellungen aus43 Die methodischen Darlegungen zur Meinungsforschung439 widmeten sich stärker den forschungspraktischen Problemen440. Eine Zwischenstellung nahm Noelle-Neumanns >Umfragen in der Massengesellschaft< ein441; neben der Abhandlung von praktischen Problemen der Umfrageforschung sollten eine Reihe von >Vörurteilen< gegenüber der Meinungsforschung entkräftet werden, und schließlich galt es, die Demoskopie als Teil einer wissenschaftlichen Sozialforschung auszuweisen. Im wissenschaftlichen Selbstverständnis scheint ein Aufklärungsimpetus naturwissenschaftlicher Provenienz durch: »Die Sozialforschung gewinnt bei der Einengung des Blicks auf Variable die Fähigkeit zu zählen, zu messen, und das bedeutet: wie die Naturwissenschaftler können auch die Sozialwissenschaftler mit statistischen Methoden ihre .

16 (34); 1975-1979: 3 (15); 1980-1984: 2 (11); 1985-1989: 2 (6); 1990-1994: 1 (13); 1995-1999: 2 (14). Die Angaben beziehen sich auf Erstauflagen, in Klammern wird zusätzlich die Zahl der Neuauflagen und Nachdrucke berücksichtigt. Diese und die folgenden bibliographischen Daten wurden den Katalogen der Deutschen Bibliothek bzw. einzelner Bibliotheksverbünde entnommen. 437 Vgl. z.B. Schäfer ([1933] 1953): Grundlagen der Marktforschung, Hobart ([1949] 1952): Praxis der Marktforschung, Behrens (1959): Marktforschung. 438 Schäfers »Grundlagen der Marktforschung« befaßte sich bereits in der Ausgabe von 1940 mit den Möglichkeiten von Repräsentativerhebungen, mit verschiedenen Erhebungsverfahren (mündliche bzw. schriftliche Befragung, Beobachtung) und mit Verfahren zur Auswertung der so gewonnen Daten (Verfahren zur Beschreibung und Analyse uni- und bivariater Verteilungen, Verfah-

Analyse von Zeitreihen). Vgl. z.B. Weisker (1953):

ren zur 439

Praktikum der Meinungsforschung, Wickert (1953): Moderne Markt- und Meinungsforschung, Noëlle (1963): Umfragen in der Massengesellschaft. Zum einen mußten haupt- und ehrenamtliche Interviewer qualifiziert und motiviert werden, zum anderen galt es, Kräfte für die Konzeptionierung von Untersuchungen, die Entwicklung von Instrumenten und die Auswertung von Daten heranzubilden. Aber auch die Kunden, die Auftraggeber und Rezipienten von Untersuchungen, mußten in die Handhabung und Interpretation dieser neuen Formen empirisch fundierten Wissens eingeführt werden. Die Darstellung Noelle-Neumanns erschien in der Taschenbuchreihe »Rowohlts deutsche Enzyklopädie«; angesichts der hohen und über einen langen Zeitraum wiederholten Auflagen wie auch angesichts der eingängigen an Beispielen reichen Darstellungsform ist davon auszugehen, daß diese Darstellung das öffentliche Bild der »Umfrageforschung« aber auch allgemeiner der Sozialforschung geprägt hat.

180

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Theorien einer empirischen schen Beobachtungsmitteln

Prüfung unterziehen,

sie können mit statisti-

Entdeckungen machen, wiederholbare und überprüfbare Experimente durchführen, Nachweise vorlegen und in der Arbeit von Generationen ein gesichertes, im Auffinden der Zusammenhänge immer umfassenderes Wissen über die Menschen zusammentragen« (31). Im Rahmen dieses Konzepts entstanden auch die Jahrbücher der öffentlichen Meinung (später Aliensbacher Jahrbücher für Demoskopie), in denen ausgewählte Forschungsergebnisse publiziert und kommentiert wurden. Mit der Reihe Praktische Sozialforschung« haben René König und seine Mitarbeiter die ersten einführenden deutschsprachigen Veröffentlichungen zur empirischen Sozialforschung herausgegeben. Die Reihe bestand aus den Bänden >Das Interview. Formen, Technik Auswertung«442 und Beobachtung und Experiment in der SozialforschungTesten und Messern erschien nicht mehr. Bei den Beiträgen handelte es sich durchgehend um veröffentlichte und unveröffentlichte Texte aus dem amerikanischen Methodendiskurs. Der erste Band443 umfaßte Beiträge zur Befragung (Formulierung von Fragen, Aufbau von Fragebogen, Interviewführung, qualitative Interviews,

schriftliche Befragung), zu Auswahlverfahren (Grundformen des Samples, Theorie der Wahrscheinlichkeit, Panelbefragung) und zur Auswertung (Techniken der Auswertung; Analyse und Interpretation, qualitative Auswertung von dokumentarischem Material) [B21]. Im Vergleich zu vielen späteren Einführungen in die empirische Sozialforschung wurden die beiden Bände dem Reihentitel > Praktische Sozialforschung< auch im engeren Wortsinne gerecht. Zum einen waren viele Beiträge mit praktischen Beispielen aus Forschungsprozessen durchsetzt; zum anderen waren auch die Beiträge, in denen verschiedene Typen und Variationen einer Erhebungsmethode vorgestellt wurden, durch ein eher pragmatisches, problembezogenes Herangehen gekennzeichnet, so daß die Gesamtdarstellung eher den Charakter eines >Kochbuchs< erhielt und sich von den späteren stärker wissenschaftsorientierten einführenden Darstellungen abhob. Der zweite Band444 behandelte Verfahren der Beobachtung (Überblick, teilnehmende Beobachtung, Rolle des Forschers, Beobachtung kleiner Gruppen, Interaktionsanalyse) und das Experiment (Experiment in der soziologiDer erste Band der Reihe war zunächst als eigenständige Veröffentlichung geplant; es war eine Art »Gemeinschaftsprojekt« der wichtigen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute in Köln, Dortmund und Frankfurt. Brepohl und Ralis waren für die Sozialforschungsstelle tätig; das Frankfurter Institut für Sozialforschung steuerte einen Glossar zu den englischen Fachtermini bei. Die Publikation war auf die Anregung und Förderung durch das »Human Resources Research Institute« der Air University zurückgegangen. Herausgegeben von René König unter Mitarbeit von Dietrich Rüschemeyer und Erwin K. Scheuch, 1957. Herausgegeben von René König unter Mitarbeit von Peter R. Heintz und Erwin K. Scheuch.

III. Methoden und Methodendiskurse

181

sehen Forschung, Feldexperimente, Laboratoriumsexperimente, sozialpsychologische Forschung, Einzelfallstudien) [B22]; daneben enthielt der Band eine im bundesdeutschen Nachkriegsdiskurs frühe Darstellung zu den wissenschaftstheoretischen Grundlagen empirischer Forschung. Das Bild, das in den zwei Bänden von der empirischen Sozialforschung gezeichnet wurde, entsprach am ehesten dem eines Werkzeugkastens. Empirische Sozialforschung wurde als ein methodisch reflektiertes und wissenschaftsorientiertes aber doch auch handwerklich zu fundierendes Unternehmen geschildert. Das Bild vom handwerklichen Charakter des Unternehmens wurde dadurch unterstützt, daß im Vordergrund der Darstellung verschiedene Verfahren zur Gewinnung von Daten in empirischen Forschungsprozessen standen. Die Fragen der Aufbereitung und Analyse solcher Daten spielten nur eine untergeordnete Rolle. Diese starke forschungspragmatische Orientierung war sicherlich auch der Provenienz der Beiträge aus der amerikanischen Wissenschaftskultur geschuldet. Die Grenzverläufe, die später die Debatten um die empirische Sozialforschung in der Bundesrepublik geprägt haben: die wissenschaftstheoretische Kontroverse, die Kontroverse um erklärende und verstehende Wissenschaft, um die Frage der Kausalität etc., sind in diesen Bänden bereits erkennbar; sie hatten jedoch noch nicht den herausgehobenen Charakter, der ihnen später zukam. Es findet sich auch keine klare Abgrenzung gegenüber den Forschungspraktiken der sogenannten qualitativen Sozialforschung; sie wurde durchgängig als ein integrativer Bestandteil der empirischen Sozialforschung begriffen; die Abgrenzung erfolgte allenfalls gegenüber verschiedenen >HintergrundtheorienHandbuch der Empirischen Sozialforschung< erschien 1962 und 1969 [B23]; ein Band war den Methoden der empirischen Forschung, der andere den Erträgen einer so begründeten empirischen Soziologie gewidmet445. Gegenüber den Bänden zur Praktischen Sozialforschung«: stammte das Gros der Autoren aus dem deutschen Sprachraum bzw. aus Europa; nur noch einzelne Beiträge kamen von amerikanischen Autoren. Im Vorwort zur dritten Auflage wies König (1973, VII) daraufhin, daß alle Beiträge auf Veranlassung des Herausgebers entstanden und nach einheitlichen Direktiven verfaßt worden seien. Ein Drittel der Beiträge zu methodischen Aspekten der empirischen Sozialforschung stammte von Autoren, deren fachliche Sozialisation im Kontext der Kölner Soziologie stattfand; mit In den folgenden beiden Auflagen der 14-bändigen Ausgabe verschoben sich diese Gewichte: noch vier bzw. fünf Bände (Band 3 besteht aus zwei Teilbänden) der gesamten Ausgabe standen für die Grundlagen und die methodischen Aspekte der empirischen Sozialforschung zur Ver-

nur

fügung.

182

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

vier Beiträgen wurden die Texte

zu den Methoden der quantifizierenden SoScheuch geprägt. zialforschung Der erste Band befaßte sich mit Geschichte und Grundproblemen (Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung, Wissenschaftslehre, Theorie,

von

Forschung und Praxis, Entwicklungen der Datenanalyse), mit grundlegenden Methoden (Beobachtung, Interview, Panel-Befragungen, Gruppendiskussionen, Soziometrie, Grundbegriffe der Statistik, Auswahlverfahren, Skalierungsverfahren, Faktorenanalyse, Experiment) und mit komplexen

Forschungsansätzen (Démographie, Sozialökologie, Gemeindeforschung, Soziographie, Volkskunde, biographische Methode, Inhaltsanalyse, historische und interkulturelle Forschung). Im Vergleich zur Praktischen Sozialforschung« wurde der Geschichte und den >Grundproblemen< der empirischen Sozialforschung ein wichtiger Raum zugewiesen. Neben dem historischen Abriß von Heinz Maus finden sich immerhin zwei Beiträge, die sich mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der empirischen Sozialforschung befaßten; Scheuch (1998:244) merkt an, daß diese Schwerpunktsetzung in Deutschland zur damaligen Zeit unerläßlich gewesen sei. Daneben wurde auch der Auswertung quantifizierter Daten ein breiterer Raum gewährt. Mit dem Handbuch der empirischen Sozialforschung war das Projekt einer empirischen Soziologie trefflich begründet. Es verfügte über eine Fortschrittsgeschichte, die erzählte, wie sich die Soziologie und die soziologischen Forschungsbemühungen im Laufe verschiedener präwissenschaftlicher Stadien herausgebildet haben: sie verfügte über eine wissenschaftstheoretische Begründung und über wissenschaftstheoretisch begründete Ausschlußkriterien, die die Distinktion gegenüber konkurrierenden Wissenschaftsverständnissen ermöglichten; sie verfugte über einen ausgewiesenen methodischen Apparat, der sich an den Standards wissenschaftlicher Arbeit z.B. im naturwissenschaftlichen Feld orientierte, und sie verfügte über ein theoretisches Gerüst, zumindest >mittlerer Reichweite^ das sich gegenüber der Beobachtung von Regelmäßigkeiten und den ad-hoc-Theorien abhob. Nicht zuletzt war es vor diesem Hintergrund gelungen, die Soziologie als ein universitäres Fach zu etablieren und die empirische Sozialforschung in den Ausbildungsgängen hinreichend zu verankern.

Im Handbuch der Sozialforschung wurden verschiedene Grenzlinien gegenüber der zeitgenössischen Forschung formuliert: wissenschaftstheoretisch fundierte Forschung vs. naiver Empirismus und Deskription; statistisch bzw. mathematisch orientierte Sozialforschung vs. geisteswissenschaftlich orientierte Sozialforschung; Theorien der mittleren Reichweite und hypothesentestende Forschung vs. kritische Gesellschaftstheorie, Sozialkritik etc.; wis-

senschaftsorientierte vs. anwendungsorientierte Forschung. Das Handbuch und seine verschiedenen Neuauflagen läuteten den > Kalten

Krieg

in der

Sozialforschung« ein,

der die

folgende Entwicklungsphase

der

III. Methoden und Methodendiskurse

183

Soziologie und empirischen Sozialforschung prägte.

Insbesondere die BeiScheuch und Hofstätter markierten eine neue sowie die Alberts von träge wurde eine klare Es wissenschaftsstrategische Linie erEntwicklungsphase: kennbar: von einer eher geisteswissenschaftlich eingebetteten zu einer stärker wissenschaftlich-mathematisch orientierten Sozialforschung. Neben dieser Leitfigur enthielt das Handbuch empirische Sozialforschung als enzyklopädisches Werk durchaus verschiedene Programme von Sozialwissenschaft und Sozialforschung. Dies hing mit unterschiedlichen Akzentsetzungen z.B. von König und Scheuch, aber auch mit der Breite der vertretenen Autoren und Forschungsansätze bzw. Forschungskontexte zusammen. Mit der Reihe Praktische Sozialforschung< und mit dem >Handbuch der Empirischen Sozialforschung< wurde Köln, das soziologische Seminar René Königs und die assoziierten Forschungsinstitute, zu einem Zentrum des methodischen Diskurses der deutschen empirischen Sozialforschung446.

Einführungen in die deskriptive Statistik Die Statistikeinführungen, die sich auf eine Darstellungen der deskriptiven Statistik beschränkten, ähnelten den Statistikabhandlungen die in den Statistik-Lehrbüchern der zwanziger Jahre zu finden waren. Neben der deskriptiven Statistik enthielten sie einen Überblick über die Arbeit der amtlichen Statistik. Verfahren der Stichprobenziehung und insbesondere der daran anknüpfende Bereich der induktiven Statistik spielten, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Solche Einführungen in die deskriptive Statistik erschienen zunächst in den vierziger und fünfziger Jahren; dann erst wieder mit der Differenzierung der methodischen Ausbildung ab der Mitte der siebziger Jahre447 [B24]. Diese Lehrbücher befaßten sich, hier am Beispiel Wagenführs illustriert, mit der Sammlung und Tabellierung statistischer Daten, mit ein- und mehrdimensionalen Häufigkeitsverteilungen (inkl. Regressionsrechnung, Korrelationsrechnung) und mit Zeitreihen, abschließend wurde kurz auf die induktive Statistik verwiesen [B25]. Neben diesem Typus von Lehrbuch finden sich Übersetzungen aus dem Englischen bzw. Amerikanischen sowie Lehrbücher, die sich an Psychologen, Mediziner oder Wirtschaftswissenschaftler wenden. >Moderne< Statistiklehrbücher Die Entwicklung der theoretischen Statistik hatte im 20. Jahrhundert beträchtliche Fortschritte gemacht; diese Entwicklungen wurden, nimmt man die Lehrbücher als Indikator, in Deutschland erst mit erheblichem zeitlichen In der Liste der Mitarbeiter an der Reihe praktische Sozialforschung finden sich verschiedene, die später mit eigenen Darstellungen, Lehrbüchern oder Lehrbuchreihen die Entwicklung der empirischen Sozialforschung beeinflußt haben: Renate Mayntz, Peter Atteslander, Erwin K. Scheuch, Friedrich Fürstenberg. 447 Zu den frühen Darstellungen zählen: Wagenführ ([1933] 1952): Statistik leicht gemacht (Bd. 1), Mackenroth (1949): Methodenlehre der Statistik, Kellerer (1960): Statistik im modernen Wirtschafts- und Sozialleben.

184

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« ( 1949-1965)

Verzug rezipiert; die um mehr als dreißig Jahre spätere Übersetzung von Fi-

shers erster Arbeit mag als ein Indikator dienen. Erste Veröffentlichungen erschienen in den vierziger Jahren; erreichten aber nur eine Auflage. Erst in den fünfziger Jahren fanden statistische Lehrbücher eine größere Verbreitung [B26-27]. Der >Boom< der statistischen Literatur setzte in den siebziger Jahren ein: zwischen 1970 und 1974 erschienen 12 neue Titel, weitere 24 erfuhren eine wiederholte Auflage44 Exemplarisch kann das Konzept dieser Lehrbücher an der von Fröhlich 1959 veröffentlichten >Forschungsstatistik< illustriert werden; die Einführung befaßte sich mit der deskriptiven Statistik, mit Verteilungen und Wahrscheinlichkeiten, mit der der Prüfung von Unterschieden bei quantitativen und qualitativen Stichprobendaten, mit der Darstellung und Prüfung des Zusammenhanges bei quantitativen und qualitativen Merkmale, sowie mit verteilungsfreien Verfahren [B28-29]. Die verschiedenen einführenden Darstellungen zur Statistik unterschieden sich tendenziell danach, wie weit die statistischen Methoden als bloßes Hilfsmittel einer davon unabhängig arbeitenden Fachwissenschaft begriffen wurden oder ob diese selbst als ein Instrumentarium begriffen wurden, wissenschaftliches Arbeiten anzuleiten, indem sie mit dem Hypothesentest oder mit einem faktoranalytischen Verfahren Strukturen und Modelle bereitstellen, an denen sich die fachwissenschaftlichen Arbeitsvollzüge orientieren können. Im letzteren Sinne bemühte man sich, dem verbreiteten Bild der bloßen Zählerei, der Quantifizierung entgegenzuarbeiten: »Die Statistik erschöpft sich auch keineswegs in einer quantitativen Beschreibung komplexer Vorgänge und Sachverhalte. Neuerdings tritt die operative Bedeutung der Statistik in den Vordergrund. Sie will Entscheidungen zahlenmäßig unterbauen, um sie wirksamer und sicherer zu machen« (Kellerer 1960:7). .

Darstellungen zur Wirtschafts- und Sozialstatistik Mit den Lehrbüchern zur Sozial- bzw. zur Wirtschaftsstatistik449 wurde die Tradition substanzwissenschaftlicher statistischer Darstellungen fortgeführt [B30]. Die Beiträge stammten in dieser Phase ausschließlich von den sogenannten Sozialstatistikern (s. S. 166). Die Struktur dieser Darstellungen orientierte sich durchgängig am Datenmaterial und der Datenorganisation der amtlichen Statistik450 [B31]. Die Darstellungen der Wirtschafts- und Sozial448

Im Einzelnen: 1945-1949: 3 (3); 1950-1954: 3 (3); 1955-1959: 3 (4); 1960-1964: 4 (14); 1965-1969: 4 (16); 1970-1974: 12 (36); 1975-1979: 24 (46); 1980-1984: 11 (31); 1985-1989: 12 (50); 1990-1994: 6 (48); 1995-1999: 4 (40). Die Angaben beziehen sich auf Erstauflagen, in Klammern wird zusätzlich die Zahl der Neuauflagen und Nachdrucke berücksichtigt. 449 Vgl. z.B. Flaskämper (1944): Allgemeine Statistik, Nothaas (1948): Einführung in die Sozialstatistik, Lorenz (1951) Forschungslehre der Sozialstatistik (1), Quante (1961): Lehrbuch der praktischen Statistik, Esenwein-Rothe (1962): Wirtschaftsstatistik. Quante (1961) behandelte z.B.: den Menschen als Lebewesen und als Staatsbürger, den Menschen in Wirtschaft und Beruf, landwirtschaftliche Unternehmen und Betriebe, nichtlandwirtschaftliche Arbeitsstätten, die landwirtschaftliche Erzeugung, die gewerbliche Produktion, den

III. Methoden und Methodendiskurse

185

Statistiker drangen weit in die Wissensmaterie ein, die von den Soziologen und ihren neuen Forschungsinstrumenten als originäres Terrain beansprucht wurde. Zur zentralen Aufgabe der Sozialstatistik wurde die kausale Analyse aller zahlenmäßig faßbaren Phänomene des Sozialen gerechnet. Ein wesentlicher Unterschied zum soziologischen Programm lag jedoch darin, daß die Sozialstatistiker in hohem Maße auf die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens im Rahmen staatlichen Handelns setzten.

b) Zeitschriften und Buchveröffentlichungen der Beginn fünfziger Jahre spielte das Organ der Deutschen Statistischen Gesellschaft, das >Allgemeine Statistische Archiv« für den Methodendiskurs im Bereich der empirischen Sozialforschung eine zentrale Rolle451. Die Gesellschaft hatte, nach einer nur kurzen Unterbrechung ab 1943, 1948 ihre Arbeit wieder aufgenommen. Trotz der zunehmenden Differenzierung der fachspezifischen Diskurse kam dem Statistischen Archiv angesichts seines Verbreitungsgrades in den verschiedenen Produktionssphären der empirischen Sozialforschung eine wichtige Rolle zu. Bis zum Ende der sechziger Jahre erschienen 114 Beiträge zu methodischen Fragen [B32], die sich mit Erhebungsverfahren, Stichproben, Versuchsplanung (31); Aufbereitung, Genauigkeitskontrolle, Fehlerrechnung (17); deskriptiver Statistik (19); Indices, Zeitreihen, Prognoseverfahren (29); Zusammenhangsanalysen (11) und Test-/ Schätzverfahren, Wahrscheinlichkeitsverteilungen (6) befaßten452. Der Schwerpunkt lag bei der Datenerhebung und Aufbereitung; Verfahren der bi- und multivariaten Analyse von Daten wurde demgegenüber in den fünfziger und sechziger Jahren nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies änderte sich erst in den folgenden Jahrzehnten. Auch die Beschäftigung mit der Wahrscheinlichkeitstheorie und mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen sowie die darauf aufbauenden Verfahren der induktiven Statistik wurden erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zum Thema fachwissenschaftlicher Abhandlungen in der Zeitschrift. Das sich differenzierende und ausweitende Angebot sozialwissenschaftlicher Fachzeitschriften stellte ein Novum dieser Entwicklungsphase dar. Es stand für die sich institutionalisierenden Sozialwissenschaften und die AusZu

Markt (Außenhandel, Binnenhandel), den Verkehr, den Verbrauch, die Preise und Preisindices, Löhne und Einkommen, Indexziffern der Produktion, die Finanzstatistik, Kulturstatistik und politische Statistik, volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Angesichts der noch wenig ausgebildeten Strukturen der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik begriff sich die Deutsche Statistische Gesellschaft als »Pflegestätte der amtlichen, akademischen und privaten Statistik« (Verhandlungen 1949:118). Neben dem »Allgemeinen Statistischen Archiv« wurde auch ein »Mitteilungsblatt für mathematische Statistik« publiziert. Daneben gab es eine Reihe von Ausschüssen und Unterausschüssen, die sich mit Stichprobenverfahren, neuen statistischen Methoden und speziellen Anwendungsfeldern statistischer Verfahren (Industrie, Marktforschung, Qualitätskontrolle, Regionalstatistik) befaßten. Quelle: Eigene Berechnungen nach Angaben des Allgemeinen Statistischen Archivs.

186

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Strahlung sozialwissenschaftlicher Diskurse in verschiedenste gesellschaftliche Praxisfelder. Für den engeren Bereich der Soziologie kam der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie sowie der Sozialen Welt eine zentrale Rolle zu; hinzu kam 1972 die Zeitschrift für Soziologie. Die

Kölner Zeitschrift und die Soziale Welt wiesen recht unterschiedliche, im Laufe der Zeit sich verändernde Profile auf. Zudem erfuhren die Zeitschriften über die Veränderungen in der Herausgeberschaft eine Neuakzentuierung ihrer thematischen Orientierung453. Dennoch lassen sich in der Gegenüberstellung der drei Entwicklungsphasen der empirischen Sozialforschung deutliche Unterschiede erkennen [B33-34], In der >Gründungsphase< der empirischen Sozialforschung spielten Artikel, die sich im weiteren Sinne mit den Methoden der empirischen Sozialforschung befaßten, in den von den Fachzeitschriften organisierten Diskursen noch eine recht geringe Rolle. In der folgenden >großen Zeit< der empirischen Sozialforschung wuchs der Anteil methodischer Beiträge auf 8,5%; zudem gewannen auch wissenschaftstheoretische Themen an Bedeutung. In den achtziger Jahren stabilisierte sich der Anteil methodischer Beiträge, während die Bedeutung wissenschaftstheoretischer Fragen zurückging. Eine differenziertere Auswertung der Beiträge zu methodischen Fragen zeigt, daß sich die verschiedenen Entwicklungsphasen der empirischen Sozialforschung neben dem wachsenden Anteil methodischer bzw. wissenschaftstheoretischer Beiträge auch durch veränderte Gewichtungen der methodischen Themen (z.B. quantitative und qualitative Verfahren) unterschieden [B35-36]454. Die methodischen Beiträge waren in dieser Phase über eine breite Palette von Themen gestreut; im Vordergrund standen eher allgemeinere Abhandlungen über >die Sozialforschung< oder >die Meinungsforschung^ daneben gab es Länderberichte, die die Entwicklung der empirischen Forschung in einzelnen Ländern darstellten. Es finden sich sowohl Beiträge zu qualitativen wie quantitativen Praktiken der empirischen Sozialforschung, letztere überwogen jedoch455. Ein spezielleres Interesse richtete sich auf die SozioSahner (1990:13) hat dies am Beispiel der Sozialen Welt rekonstruiert. Er konnte zeigen, wie die verschiedenen Herausgeberphasen, eine je spezifische Themenstruktur aufweisen: unter Brepohl/ Neuloh/ Specht eine Dominanz wirtschaftspolitischer Themen, unter Schelsky herrschten Fragen der allgemeinen soziologischen Theorie und der Wissenschaftstheorie vor, unter der Herausgeberschaft von Hartmann bzw. von Hartmann und Beck (1982-1988) kam es wieder zu einer

stärkeren wirtschaftssoziologischen Orientierung. Andere Auswertungen, wie die von Sahner (1982a:144), Krekel-Eiben (1990:221) und Luschen (1979b: 179), kommen mit Ausnahme der Frühphase bis 1950 zu vergleichbaren Befunden. Bei der Kategorisierung Sahners wird zudem ersichtlich, daß sich neben dem Bedeutungszuwachs der Methodenfragen auch eine Verschiebung von einer stärker theoretischen Orientierung der Beiträge zu einem höheren Anteil von Veröffentlichungen, die sich mit empirischer Forschung und ihren Ergebnissen befaßten, vollzieht. Die Zahl der Beiträge zu qualitativen Forschungsmethoden war in dieser Phase zunächst rückläufig, stieg dann in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre aber an; auch die Beiträge zu den Me454

III. Methoden und Methodendiskurse

187

metrie, die in dieser Phase in immerhin neun Artikeln behandelt wurde; sie

auch in dem Handbuch der Empirischen Sozialforschung mit einem eigenen Beitrag berücksichtigt worden. Von Geiger und anderen wurde der Begriff der Soziometrie als Synonym für empirische Sozialforschung verstanden456. Das besondere Interesse für die auf den Psychotherapeuten Moauch einflußreiche amerikanische Sozireno zurückgehende Soziometrie alwissenschaftler wie z.B. Lundberg, Dodd und Znaniecki hatten sich damit befaßt im deutschen Methodendiskurs ging vermutlich auf eine Reihe von sehr spezifischen Koinzidenzen zurück457. Nach dieser frühen Konjunktur vor allem in den fünfziger Jahren ist das Thema Soziometrie aus den soziologischen Fachzeitschriften weitgehend verschwunden. Stärker noch als bei den soziologischen Fachzeitschriften ist bei den Buchpublikationen zu sozialwissenschaftlichen Themen davon auszugehen, daß sich diese angesichts eines noch zahlenmäßig kleinen >Expertenpublikums< (Matthes) und angesichts geringer Studierendenzahlen eher an ein Laienpublikum richteten. Daher fiel die Zahl der Publikationen zu Themen der empirischen Sozialforschung mit durchschnittlich 1,4% recht gering aus458. Deutlich läßt sich im Laufe der sechziger Jahre der >Boom< wissenschaftstheoretischer Themen (1963-1968: 4,4%) ablesen [B37].

war

-

-

c) Lehrveranstaltungen an Hochschulen Mit dem Ausbau der Sozialwissenschaften an den bundesdeutschen Hochschulen wurde die Lehre zu einem wichtigen Moment für die Verbreitung der Methoden der empirischen Sozialforschung. Hier wurden angehende Produzenten und Verwender empirischer Sozialforschung fachlich sozialisiert; hier entstanden Bilder von den Sozialwissenschaften und der Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, allgemeiner Bilder des Sozialen, Bilder von Wissenschaft und Forschung. Auf einer internationalen Tagung, die sich 1962 mit der Lehre der Soziologie an Universitäten und Hochschulen befaßte, hatte man sich auf Empfehlungen für die Lehre von Forschungstechniken und Methoden verstänthoden der sogenannten quantitativen Sozialforschung bewegten sich noch auf einem recht niedrigen Level. Er verstand unter »Soziometrik« »alle mit Messung, Wägung und Zählung arbeitende Soziolo-

gie« (Geiger 1949:292).

Für von Wiese bot die Soziometrik eine Möglichkeit, eine Brücke zwischen »seiner« Beziehungslehre und den »modernen amerikanischen Forschungsmethoden« zu knüpfen (vgl. von Wiese 1949c); aber auch für die an mikrosoziologischen Fragestellungen orientierten Kölner Soziologen bot die Soziometrie ein brauchbares Instrument. In sozialtechnologischer Perspektive waren Morenos Vorstellungen, die soziometrischen Befunde im therapeutischen oder im planerischen Sinne

nutzen, von Interesse. Schließlich war sie aber auch in verschiedenen Praxisfeldern wie z.B. der Sozialarbeit von Interesse, da sie mit geringem Aufwand einsetzbar war und praktische Erträge versprach (vgl. Nehnevajsa 1955:139). Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Angaben bei Luschen (1979b:181). Bei Luschen wurden durchschnittlich für jeden Titel 1,6 Zuordnungen vergeben. zu

188

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< ( 1949-1965)

digt459. In der von der DGS 1967 vorgeschlagenen Rahmenprüfungsordnung

für das Soziologie-Diplom war die empirische Sozialforschung vor allem im Grundstudium verankert: zur Zwischenprüfung wurden neben Klausuren in Soziologie und Volks- bzw. Betriebswirtschaftslehre jeweils vierstündige Klausuren in Empirie und Statistik empfohlen. Die Zulassung zur Diplomprüfung sollte ein empirisches Praktikum voraussetzen. In den vorgeschlagenen fünf Fächern der Diplomprüfung selbst, waren die Verfahren der empirischen Sozialforschung nicht mehr explizit verankert, lediglich bei der zu wählenden speziellen Soziologie findet sich der Zusatz »in Verbindung mit

Empirie« (Siefer 1995:265). Veranstaltungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung im weiteren Sinne hatten im Programm einer wissenschaftlichen, aber auch einer verwendungsbezogenen Soziologie einen hohen Stellenwert [B38]: ihr Anteil machte 1950 nur 3% aus, erreichte 1955 bereits 12% und stieg bis 1970 auf 16%460. Eine genauere Aufschlüsselung der Veranstaltungsthemen zeigt einen hohen Anteil von Veranstaltungen zur empirischen Sozialforschung; statistische Themen scheinen demgegenüber eine geringere Rolle zu spielen461. Es wird deutlich, daß die Empfehlung einer engen forschungspraktischen Anbindung der Methodenausbildung nur zeitweilig umgesetzt werden konnte: 1965 konnte beinahe ein Viertel der Veranstaltungen als Praktikum angeboten werden; mit der Ausweitung der Studierendenzahlen und der Lehrkapazitäten in der folgenden Phase wird diese Forderung jedoch nur noch schwer umsetzbar. Die wachsende Lehrbelastung und die -

-

wachsende Größe der Lehrveranstaltungen zwangen retischem Orientierung in der Ausbildung.

4

zu

einer stärker theo-

»1. Jeder Einführungskurs in Statistik sollte behandeln: (...) statistische Theorie (...), verschiedene statistische Erhebungsmethoden, (...) Verwendbarkeit und Interpretationsmöglichkeiten statistischer Materialien. 2. Die statistische Ausbildung sollte in einem möglichst frühen Stadium betrieben werden (...). Aktive Teilnahme an Forschung oder Beobachtung zu einem relativ frühen Zeitpunkt des Studiums würde für den Studenten von Nutzen sein. 3. Bevor mit der Lehre und der Praktizierung mehr spezifischer und hochentwickelter Forschungstechniken begonnen wird, sollte eine angemessene Kenntnis der Gesellschaft, der sozialen Prozesse und der soziologischen Theorie vorhanden sein. 4. Vorlesungen über allgemeiner Methodologie (Wissenschaftstheorie) sollten zu einem späteren Zeitpunkt des Studiums unter besonderer Berücksichtigung der Soziologie gehalten werden. 5. Es wurde allgemein anerkannt und auch offensichtlich durch die Erfahrung der Teilnehmer bestätigt, daß bloße Lehre ohne praktische Anwendung der gelehrten Forschungstechniken eher schädlich als nützlich sein könnte (...) 6. Die Ausbildung fortgeschrittener Studenten sollte nach Möglichkeit in enger Verbindung mit oder sogar innerhalb der Forschungsinstitute durchgeführt werden« (Stendenbach 1962:806). Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Klima (1979:236ff). Bei der Interpretation der Struktur des Lehrangebots ist jedoch auf mögliche Fehlerquellen hinzuweisen: zum einen finden sich in der Rubrik »Empirische Sozialforschung« auch Veranstalsich im Sinne mit die der Statistik engeren tungen, Fragen beschäftigen, umgekehrt finden sich in ausgewiesenen Statistikveranstaltungen unter Umständen auch Teile, die sich mit Erhebungsmethoden befassen; zum anderen werden an vielen Hochschulstandorten statistische Lehrangebote nicht im Rahmen des soziologischen Lehrangebots verzeichnet und somit in den Daten Klimas nicht erfaßt.

III. Methoden und Methodendiskurse

189

Einen Einblick in das bei Klima nicht unbedingt erfaßte statistische Veranstaltungsangebot für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler liefert die Zusammenstellung von Esenwein-Rothe (1965a:16). Daraus wird ersichtlich, wie eng die Statistik trotz ihrer Verwendung in verschiedensten anderen Wissenschaftsfeldern noch mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verknüpft war. Mehr als die Hälfte aller Lehrveranstaltungen, im grundlegenden Bereich sogar zwei Drittel bezogen sich auf Studierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften [B39]. Der >Erfolg< dieser Ausbildungsanstrengungen im Bereich der empirischen Sozialforschung und der Statistik ist kaum abzuschätzen. Mackensen gab 1964 im Rahmen einer Rezension von Wagenführs >Statistik leicht gemacht< zu bedenken, daß nach wie vor viele Soziologen beim Abschluß des Studiums nicht über ein ausreichendes Wissen in den Hilfswissenschaften, wie der Statistik, verfügen würden: »Die vorgeschriebenen Vorlesungen und Übungen werden oft nicht mit dem erhofften Erfolg absolviert, weil sie zu allgemein, der Problematik der Soziologen zu fern dargeboten werden. Ebenso steht es mit der statistischen Fachliteratur. Eine >Statistik für Soziologen gibt es im deutschen Schrifttum nicht« (174). Die Rolle der wissenschaftlichen Gesellschaften Die Deutsche Statistische Gesellschaft bot neben ihrem Organ dem Allgemeinen Statistischen Archiv auch über seine Jahresversammlung ein Forum zur Diskussion und Auseinandersetzung um die Methoden der empirischen Forschung; hier finden sich Veranstaltungen zu Fragen der Stichprobentechnik und des statistischen Messens; zudem boten einzelne Ausschüsse der Gesellschaft die Möglichkeit, sich mit spezifischen Fragen der empirischen

d)

Forschung zu befassen.

Für die sich etablierende Soziologie wurden die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und ihre Gremien im Laufe dieser Gründungsphase zu einem Forum, das den fachlichen Austausch organisierte und die Vertretung fachlicher Interessen z.B. auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Hochschulentwicklung übernahm. Die DGS hatte in den fünfziger Jahren noch sehr stark den Charakter einer Gelehrtengesellschaft; der Öffnungsprozeß verlief in verschiedenen Etappen; zunächst die Öffnung für Nicht-Habilitierte und schließlich der Soziologentag 1959, der von Lepsius (1979:43) als Signal für den Übergang in eine neue Entwicklungsphase, als der erste Fachkongreß hervorgehoben wurde. Mit diesem Öffnungsprozeß war die Vorstellung verbunden, daß sich die Arbeit der Gesellschaft stärker den »Fragen der Gegenwart« zuwenden und »mehr Kontakt mit der empirischen Forschung suchen« (Bardey 1957:351) solle. Nachdem bereits zuvor Fachausschüsse für Industriesoziologie, ethnologische Soziologie, für Kultur- und Schulpolitik entstanden waren, war die Konstituierung eines Ausschusses für »empirische Methodenfragen« zunächst zurückgestellt worden (351). 1959 fand ei-

190

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

erste interne Arbeitssitzung des Fachausschusses für Methodenfragen statt. Für die breitere Fachöffentlichkeit trat der Ausschuß erstmals auf dem

ne

Soziologentag 1964 in Heidelberg in Erscheinung, als eine Veranstaltung über >Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Methodologie Max Webers< angeboten wurde462. Die empirische Sozialforschung und ihre Entwicklung, oft als das prägendste Moment der Soziologie der fünfziger und sechziger Jahre bezeichnet, hat in den Soziologentagen der DGS in diesem Zeitraum (außerhalb der Fachausschüsse) keinen Niederschlag gefunden. Diese Nicht-Thematisierung hat neben anderen Motiven dazu beigetragen, daß zunächst 1960 im Jagdschloß Niederwald in kleinem Kreis »eine erste gründliche Aussprache über das Verhältnis von Theorie und Empirie in den Sozialwissenschaften« (Stammer 1962:230) stattfand, dem dann 1961 die interne Arbeitstagung in Tübingen folgte, wo es im ersten Teil um die >Logik der Sozialwissenschaften« ging463. Mit dieser Veranstaltung, so Stammer, sollte ein Beitrag zur »Selbstbesinnung« und »Selbstverständigung der deutschen Soziologie« (230) geleistet werden, »nach Jahren des Experimentierens in der Rückbesinnung auf die eigene Wissenschaftsgeschichte und der Rezeption insbesondere der amerikanischen Sozialwissenschaft« (230). 2. Die

Etablierung des Methodendiskurses und die Auseinandersetzungen um die >legitime< Methode der Sozialforschung

Im Rahmen der geschilderten methodischen Innovationen hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Ensemble von Praktiken herausgebildet, das heute unter dem Begriff empirische Sozialforschung zusammengefaßt wird. Die

standardisierte Befragung, die >Meinungsumfrageamerikanischen Methoden< statt; die Forschungsarbeiten der fünfziger Jahre zeichneten sich vielmehr durch einen vielfältigen Mix von Methoden aus. Scheuch ([1967] 1973:163f) sah das Zentrum der empirischen Forschung in den fünfziger Jahren im Bereich der Erhebung und der deskriptiven Information. Viele Untersuchungen der fünfziger Jahre vermitteln den Eindruck, daß ein Schwergewicht auf dem >zu-Tage-fördern< bestimmter Phänomene oder sozialer Mißstände lag; demgegenüber hat sich dann in den sechziger Jahren der Schwerpunkt stärker der Analyse von Daten zugeDie

wandt. Die methodischen Innovationen in der empirischen Sozialforschung und ihr damit veränderter Status in der Produktion empirisch fundierten Wissens über die soziale Welt vollzogen sich in den unterschiedlichen Feldern, die mit dem Sozialen befaßt waren, in je eigener Geschwindigkeit. Wichtige Impulse gingen in dieser Entwicklungsphase von der Markt- und Meinungsforschung und den größeren Forschungsinstituten aus. Der oftmals dominierende enge Verwendungsbezug der Forschungen und der Produktionsdruck mancher Forschungseinrichtungen ließen keine Freiräume zur Reflexion und Verfeinerung der Instrumente zur Erhebung und Analyse empirischer Daten. Zudem folgten die methodischen Qualitätsstandards in den verschiedenen Produktionskontexten unterschiedlichen Logiken.

192

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« ( 1949-1965)

Empirische Forschungen waren vor allem im Hochschulbereich in hohem Maße projektformig organisiert und nur wenig programmatisch gesteuert. Es handelte sich eher um low budget Forschung, die durch ein außerordentliches Engagement aller Beteiligten und die Mobilisierung verschiedenster Hilfskräfte ermöglicht wurde. Es kam angesichts der projekttormigen Organisation vieler Forschungsprozesse und angesichts der prekären beruflichen

Zukunft von Sozialforschern im Hochschulbereich kaum zu einer Kumulierung von Forschungserfahrungen. Im Rahmen der wissenschaftsorientierten Sozialforschung setzte mit den Anfangen des >Positivismusstreits< und der damit verknüpften wissenschaftstheoretischen Debatte eine Entwicklung ein, die die spätere Entwicklungsphase der Sozialforschung zumindest ihr wissenschaftliches Segment entscheidend geprägt hat. Das >Methoden-Schisma< zeichnete sich in seinen Anfängen zwar ab, aber es beherrschte noch nicht das Geschehen. Die Beiträge Alberts und Scheuchs im 1962 erschienenen Handbuch der empirischen Sozialforschung waren schon so etwas wie eine >KriegserklärungStil< vorzuherrschen. Es entspricht der Tradition der empirischen Sozialforschung in Deutschland, daß sie als Themen sozialpolitisch wichtige Tagesfragen wählt, wobei das sozialpädagogische Anliegen ebenfalls unverkennbar ist. Für empirische Überprüfungen zusammenhängender theoretischer Sätze scheint nur ein geringes Interesse zu bestehen. Dies mag auch darin begründet sein, daß ein großer Teil der empirischen Untersuchungen als Auftragsforschung durchgeführt wird. Angesichts des Engagements am Thema wird methodischen Fragen nur relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt« -

-

-

(Scheuch 1957a:350f).

In diesem

Restrukturierungsprozeß der empirischen Forschung kam es zu Loslösung des methodischen vom theoretischen und inhaltsbezogenen Wissen; die Methoden wurden unabhängiger von ihren typischen Produktions- und Anwendungszusammenhängen. Bourdieu meint, diese Scheidung dem dominanten amerikanischen Einfluß zurechnen zu kön: Diese auch von anderen vertretene nen Einschätzung465 vernachlässigt jedoch die Logik des wissenschaftlichen Feldes, die diese Differenzierung von theoretischen und methodischen Diskursen gefördert hat. Die Effekte einer stärkeren

»Das Paar Parsons-Lazarsfeld (mit Merton und seinen Theorien mittlerer Reichweite dazwihat sozial so etwas wie ein mächtige, dreißig Jahre lang weltweit die Soziologie beherrschende Holding dargestellt. Die Trennung von »Theorie« und »Methodologie« macht aus einem Gegensatz, der zu einem gegebenen Zeitpunkt für die gesellschaftliche Teilung der wissenschaftlichen Arbeit konstitutiv war (wie der Gegensatz zwischen Universitätsprofessoren und Wissenschaftlern in kommerziellen Forschungseinrichtungen), einen theoretischen Gegensatz« ([1992]

schen)

1996:258f). Vgl. Bryant (1995:3ff) oder Pollak (1981:169ff).

465

III. Methoden und Methodendiskurse

193

dieser Scheidung von Theorie und Methode waren zweischneidig: auf der einen Seite hatte die Verselbständigung der Methoden bzw. des Methodendiskurses nicht unwesentlich zu ihrer Klärung, Präzisierung und Reflexion beigetragen und so die Grundlagen für die breite Streuung dieses Wissens vor allem im Zusammenhang wissenschaftlicher Ausbildungsgänge geschaffen. Auf der anderen Seite führte die Scheidung des Methodendiskurses von den inhaltlichen und problembezogenen Diskursen der Disziplin zu einer Verselbständigung des Methodendiskurses, der insbesondere den Problemen der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht angemessen war. Abschließend soll zwei spezifischen Aspekten der methodischen Entwicklung nachgegangen werden: Welche Rolle spielte die sogenannte qualitative Sozialforschung< im Methodendiskurs und wie erfolgte eigentlich die >Wahl< der Forschungsmethoden?

>Quantitative< und qualitative Sozialforschung< im Methodendiskurs

Ähnlich wie der Begriff der >empirischen Sozialforschung< wurde auch der

Begriff der qualitativen Sozialforschung< und noch viel weniger der der >quantitativen Sozialforschung< in der Gründungsphase systematisch verwandt. Während der Begriff der quantitativen Sozialforschung über das Moment des Zählens oder des Zählbaren noch relativ klar bestimmt werden konnte, eröffnete der Begriff des Qualitativen einen weiten Raum von Anknüpfungen: von theoretischen und kulturellen Bezügen bis zu alltagsweltlichen Assoziationen. Qualitative Sozialforschung begriff sich in erster Linie in Abgrenzung zur Quantifizierung von Phänomenen, zur Verwendung ma-

thematischer Verfahren und Modelle, zum Positivismus und zum Gesetzesbegriff, also zu Konzepten, die für die Naturwissenschaften und ihre Erfolgsgeschichte eine zentrale Rolle spielten. Wie die Rede von den >Tabellenknechten< zeigt, reichten die Wurzeln solcher Schreckensbilder von der Quantifizierung weit zurück. Fokussiert wurden diese methodischen Kontroversen z.B. im Streit um den Historismus, um Diltheys Konzept der Geisteswissenschaften oder um die Phänomenologie. Mit der Hermeneutik, als einer allgemeinen Methode geisteswissenschaftlichen Arbeitens, und mit der phänomenologischen Methode stand einer Sozialforschung, die sich auf ein qualitatives Paradigma beruft, ein rudimentäres Instrumentarium zur Verfügung. Daneben finden sich mit der Völkerpsychologie Wilhelm Wundts, den volkskundlichen Forschungen Riehls, den Verfahren der Beobachtung und Feldforschung in der Ethnologie466 oder mit den

len

Enqueten des Vereins für Socialpolitik aber auch andere Quel-

qualitativer Forschungsarbeit.

In den USA

war bereits relativ früh ein breiteres Spektrum an Monographien und Lehrbüchern zur empirischen Sozialforschung entstanden (Platt 1996). Zumindest in der Vorkriegszeit fanden sich hier auch verschiedene

Später in der Arbeiten Kluckhohns systematischer ausgeführt; vgl. z.B. Kluckhohn (1940).

194

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Darstellungen zu einzelnen Methoden der qualitativen Sozialforschung die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung war bereits seit den zwanziger Jahren in den Darstellungen zur Sozialforschung gebräuchlich467. In der Nachkriegsperiode (bis 1960) verschwanden die Einführungen zu qualitativen Forschungsansätzen in den USA jedoch weitgehend; demgegenüber wurden Umfrageforschung, Experiment und Meßprobleme zu den dominanten Topoi. Verglichen mit der amerikanischen Entwicklung waren die methodischen Darlegungen zu den Praktiken der qualitativen Sozialforschung in Deutschland wenig entwickelt. Gegenüber der Entwicklung und Darstellung der standardisierenden Erhebungs- und Auswertungsverfahren blieb die qualitative Sozialforschung weit zurück. Es wurden zwar in der Reihe Praktische Sozialforschung< auch qualitative Erhebungspraktiken vorgestellt; wie die Auswertung solcher Daten jedoch zu erfolgen habe, blieb im Dunkeln. Im Prinzip lagen mit den hermeneutischen Verfahren oder der phänomenologischen Methode einige solcher Instrumentarien vor; sie waren jedoch kaum vom geisteswissenschaftlichen Kontext geschieden und den Erfordernissen einer modernen Sozialforschung angepaßt. Dieser Entwicklungsverzug gegenüber den quantifizierenden Verfahren wurde in den folgenden Jahren eher größer, da die Darlegungen und Systematisierungen zu den standardisierten Methoden auch eine Methodenforschung, eine kritische Reflexion und eine wissenschaftstheoretische Hinterfragung der Instrumente, mit sich -

brachten. König hatte in der Reihe Praktische

Sozialforschung< eine Entgegensetzung qualitativer Orientierung in der Forschung kritisiert; in der Auswahl der zu übersetzenden Beiträge spiegelte sich diese Haltung wider. Im >Handbuch der empirischen Sozialforschung< tauchten qualitative Forschungsansätze unter dem Etikett >komplexe Forschungsmethoden< auf; in dem Teil grundlegende Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung< wurden sie nicht erwähnt. Auch in der amerikanischen Sozialforschung findet sich trotz der Dominanz des quantifizierenden Paradigmas von

und quantitativer

eine Reihe von einflußreichen Fachvertretern, wie z.B. Lazarsfeld, die qualitativen Ansätzen einen festen Platz im Methodenspektrum einräumten. In der praktischen Forschungsarbeit der fünfziger und sechziger Jahre zeigte sich ein recht differenziertes Bild. Im Bereich der wissenschaftlichen Sozialforschung an Hochschulen und wissenschaftlichen Forschungsinstituten herrschten Untersuchungsansätze vor, die mit einem breiten methodischen Zugriff auf die untersuchten Phänomene arbeiteten und dabei häufig nebenPlatt hatte aber an anderer Stelle unter Bezug auf Interviews mit Lehrbuchautoren bereits daraufhingewiesen, daß solche Polaritäten oft ein Effekt der Verschriftlichung seien. Diese führe zur Dramatisierung von Differenzen, was wiederum die Konstruktion von »Schulen« befördere. Nach Angaben Howard Beckers habe die Chicagoer Fakultät zudem unter dem Druck gestanden, sich klar gegenüber anderen Fakultäten abzugrenzen; dies habe den Ausweis einer kollektiven Identität befördert (Platt 1995:104 Fn.8). -

-

III. Methoden und Methodendiskurse

195

einander Instrumente der qualitativen wie der quantifizierenden Sozialforschung einsetzten. Im Bereich der Markt- und Meinungsforschung dominierten standardisierte Befragungen; daneben wurden bei der sogenannten Motivforschung auch qualitative Befragungs- und Auswertungstechniken eingesetzt. Im Bereich der amtlichen Statistik wurden qualitative Forschungsansätze weder im wirtschafts- noch im sozialstatistischen Bereich verwandt, dennoch finden sich selbst hier Plädoyers für eine qualitative EinstellungGründungsphase< bereits eine Entwicklung an, die in der folgenden Phase zu einer fortschreitenden Marginalisierung der qualitativen Sozialforschung führte. Diese Entwicklung ging auf ganzes Bündel von Faktoren zurück: Die quantifizierenden Methoden in der empirischen Sozialforschung und ihre starke Verankerung in den Ausbildungsgängen haben für den Professionalisierungsprozeß der Disziplin eine nicht unwichtige Rolle gespielt. Die neuen Methoden der empirischen Forschung wurden als die Methoden der >modernen Bedürfnis < nach .

wissenschaftlicher Exaktheit befriedigen472. Der Grad der methodischen und methodologischen Explikation der qualitativen Sozialforschung war recht gering. Über das Bekenntnis hinaus, daß für vielerlei Fragestellung auch qualitative Forschungsansätze zu erwägen seien, findet sich selten eine genauere Bestimmung, wie ein solches Verhältnis auszusehen habe, wie die Stärken und Schwächen der verschiedenen Ansätze einsetzbar sind. Eine Ausnahme bildete Geiger473, dessen Bedeutung vor allem von König hervorgehoben wurde. Innovative Ansätze, die heute dem Bereich der qualitativen Sozialforschung zuzurechnen wären474, fanden im Methodendiskurs keine breitere Beachtung. Neben die Konnotierung der qualitativen Sozialforschung als vorwissenschaftlich und historistisch trat der Verdacht, die Soziographie bzw. qualitative Ansätze der Sozialforschung seien Methoden, die insbesondere von nationalsozialistisch kompromittierten Soziologen favorisiert worden seien. Scheuch (1990a:42) bezeichnete die in der Sozialforschungsstelle vertretenen soziographischen Ansätze als Anknüpfung an die »deutsche Soziographie zur Zeit des Nationalismus«475. René König bemerkte in einem Ge-

-

471

An dieser Stelle war er sich auch mit seinem zeitweiligen und ansonsten wenig gelittenen Kolvon Wiese einig: auch dieser favorisiert eine Quantifizierung seiner Beziehungslehre; ist doch der »Kern aller Wissenschaften Mathematik«; zudem kann er sich so gegenüber den »Aposteln der nur »verstehenden« Schauweise« (1949c:26) profilieren. 472 Mackensen führt aus, wie er nach der Erfahrung des Zusammenbruchs und der Kriegsgefangenschaft eine traumatische Phase der Verunsicherung durchlebte: »Ich wollte Sicherheit. Die konnte ich mir nur von »exakten wissenschaftlichen Methoden«, von nachweisbaren, belegbaren Befunden erhoffen« (Mackensen 1998c:221). Dieses Bekenntnis zur Empirie halte ihn bis heute fest: »Erst langsam habe ich mich wieder qualitativen und phänomenologischen Interpretationen

legen

geöffnet« (222). 473

In seinem 1949 erschienenen Beitrag in der KZfSS »Über Soziometrik und ihre Grenzen« Soziometrik stand hier für quantifizierende Sozialforschung machte er die grundsätzlichen Grenzen dieser Methodik am »Wesen des sozialen Lebens selbst« (295) fest. So habe es Soziologie mit Gefühlen, ideologischen Auffassungen, Bekenntnissen etc. zu tun, und diese Phänomene könnten nicht einfach als »Unwirklichkeiten« aus der Forschung ausgegrenzt werden, da sie nunmal zu den »objektiven Tatsachen« gehörten, angesichts derer Menschen handelten. Er schlug vor, auch hier Methoden zur Erfassung der subjektiven Handlungsbestandteile zu entwickeln. quantifizierende 4 Moore und Kleining haben in ihrem 1959 in der KZfSS veröffentlichten Beitrag versucht, dem »Bild der sozialen Wirklichkeit« nachzugehen, daß in verschiedenen sozialen Schichten entwickelt wird. Sie wollten zeigen, daß dieses Bild »stabil, innerlich konsistent und in erheblichem Maße »real« ist, das heißt, daß es die soziale Einstellung und das soziale Verhalten weitgehend bestimmt« (354). Sie arbeiteten bei der Analyse dieser Bilder mit Gesprächsprotokollen und mit standardisierten Befragungen. Scheuch differenzierte dabei zwischen der deutschen Soziographie und der amerikanischen Tradition der community studies. Dabei vernachlässigte er jedoch die Tatsache, daß die Soziographie durchaus im Sinne einer amerikanischen empirisch orientierten Soziologie begriffen wurde; -

-

III. Methoden und Methodendiskurse

197

»Seien Sie vorsichtig mit dem Ausdruck Empirie. Da gibt's dann auch die nationalsozialistische Soziologie, die einfach facts zusammenbringt, ohne Theorie. Ich nenne das empirizistisch. Das ist keine Empirie, das ist orientierungslose Sammelei« (1990:228). Man kann die soziographische Methode nicht umstandslos als eine unter den Nationalsozialisten dominante Methode bezeichnen. Die These von der Affinität zwischen Nationalsozialisten und Soziographie konnte sich aber auf ganze eine Reihe von Indizien stützen: Andreas Walther, der sich bereits früh zu den Nationalsozialisten geschlagen hatte, hat die Propagierung dieser Methode zum Ende der Weimarer Republik gefördert476. Richard Thurnwald, ein Lehrer Königs und ein wichtiger Förderer der empirischen Soziologie »kippte« zum Nationalsozialismus um (König 1990:227)477. Verschiedene Forscher, die sich methodisch an der Soziographie orientierten, hatten größere Affinitäten zu den Nationalsozialisten als andere. Auch die amerikanische pragmatische Philosophie, die für die qualitativen Forschungsansätze eine besondere Bedeutung besaß, wurde von ihren Rezipienten mit nationalsozialistischer

sprach:

Ideologie verknüpft478. Folgt man Mannheims Untersuchung

zum Konservatismus (1984) so wird deutlich, daß gewisse Affinitäten zwischen der dort beschriebenen Genese und Morphologie konservativen Denkens und bestimmten Grundbestimmungen der klassischen Ansätze der qualitativen Sozialforschung vorliegen. In seiner Darstellung der »denkmethodischen Eigenart« der konservativen Argumentation konstruierte er diese in ihrer Abgrenzung zum naturrechtlichen Denken: so werde die »Fundierung von der Vernunft aus abgelehnt und der Vernunft gegenüber (...) die Geschichte, das Leben, das Volk als Gegenspieler ausgespielt« (133); der Deduktion aus einem Prinzip werde im konservativen Denken das Problem der »vielseitigen Irrationalität der Wirklichkeit« (133) gegenübergestellt; dem Gedanken der generellen An-

Heberle (Tönnies 1931:225) und Busse (Tönnies 1931:217). Soweit an der Sozialforschungsstelle mit eher soziographischen Verfahren gearbeitet wurde, ist sicherlich ein Einfluß der unter den Nationalsozialismus gefertigten Studien nachzuzeichnen; so z.B. über die Einbeziehung der Brehpohlschen volkskundlichen Forschung in die Sozialforschungsstelle. Daneben sind aber gleichermaßen Einflüsse der amerikanischen qualitativen Forschung (u.a. auch der community studies, der Chicagoer Tradition etc.) erkennbar. Zu den stadtsoziologischen Forschungsarbeiten Walthers vgl. Waßner (1988b). Thurnwald war bereits 1905 an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene beteiligt (vom Brocke 1998:60). Joas resümiert zum Verhältnis von Pragmatismus und Nationalsozialismus: »Der Pragmatismus als Philosophie der Handlung geriet in die Begeisterung für Entscheidung, Tat und Macht, die die nationalsozialistischen Intellektuellen charakterisierte« (1992:133). Übersetzer der Jamesschen Pragmatismusvorlesungen und früher Pragmatismusexperte war Wilhelm Jerusalem (vgl. Klingemann 1990a:239ff); Joas stellt fest, daß der amerikanische Pragmatismus »zur Ideologie einer ganzen Gruppe deutscher Intellektueller wurde, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten« (1992:129); zu den herausragenden Figuren dieser Gruppe rechnet er Arnold Gehlen und Eduard Baumgarten.

vgl.

198

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

wendung einer politischen Neuerung auf beliebige historisch-nationale Einheiten wird der Gedanke des Organismus entgegengehalten« (134); es werde auf das Problem der Individualität verwiesen; auch die »Betonung des Qualitativen, das dieses konservative Denken charakterisiert, wächst aus diesem Denkimpuls heraus« (134); schließlich werde der »Konstruktion der Kollektivgebilde von den Individuen her« ein Denken gegenübergestellt, »das von der Totalität ausgeht (...). Nicht als die Summe der Einzelnen ist das Ganze (der Staat, die Nation) zu verstehen, sondern der Einzelne ist als Teil der Totalität (...) erfahrbar« (134). Vor diesem Hintergrund konnte er

zeigen, daß der Historismus im wesentlichen konservativen Ursprungs war (156); er sah aber auch Affinitäten zur lebensphilosophischen bzw. zur phänomenologischen Schule479. Auch die Ablehnung der Quantifizierung480 und eines darauf aufbauenden Wissenschaftsmodells nach dem Ideal der exakten war mit konservativem Gedankengut verknüpft. In besonderem Maße offenbarte sich diese Nähe von lebensweltlicher Forschung und Konservatismus bei Riehl482. Die qualitative Sozialforschung entsprach keinem der Leitbilder, die mit dem Unternehmen Empirische Sozialforschung verknüpft waren: Wissenschaftsorientierung, Sozial- bzw. Gesellschaftsreform, Sozialtechnologie. Für das Projekt einer akademischen Soziologie mit einzelwissenschaftlicher Orientierung konnte die qualitative Forschung keine hinreichenden Profilierungs- und Distinktionsleistungen erbringen, wie sie z.B. von der standardi-

Naturwissenschaft481

-

479

»Der Bergsonsche Impuls vereinigte sich in Deutschland einerseits mit Strömungen, die in der phänomenologischen Schule sich sammelten, und ist andererseits mit dem neubelebten Historismus Diltheys ein Bündnis eingegangen. (...) So verschieden auch die Richtungen in der Lebensphilosophie untereinander sein mögen, so verraten sie dennoch alle ihren gegenrevolutionär-romantischen Ursprung durch ihre gemeinsame Opposition sowohl gegen den Kantianismus wie auch gegen den Positivismus, gegen die beiden Spielarten des bürgerlich-rationalisierenden Denkens, die den Allgemeinbegriff und die naturwissenschaftlich generalisierende Denkweise (...) aufrechtzuerhalten und zum alleinigen Vorbilde des Denkens zu machen bestrebt sind« (182). Mannheim wies dies in der Analyse der Argumentationen Mosers auf, dessen Denkfiguren er exemplarisch untersuchte: »Das Bürgerlich-Kalkulatorische ist immer abstrakt. Die Dinge und die Menschen kommen nur als Faktoren in einem konstruktiven Zusammenhange vor. Mosers Berechnung ist stets anschaulich und konkret; er rechnet mit den Dingen, nicht indem er sie abzählt

oder als Funktionen in einem vorauszuberechnenden Prozeß einstellt, sondern indem er sie als Bestandteile eines bestimmten Lebenszusammenhanges in ihrer Konkretheit als verpflichtend ansieht. Hieraus erwächst auch der Begriff dessen, was er Praxis nennt das immer wiederkehrende Lob der Praxis gegenüber der Theorie« (160). »Der liberal-aufklärerische Rationalismus hat die Tendenz, ein reines und homogenes Feld des Rationalen zu schaffen, in das kein irrationales Moment hineinreicht (...). Deshalb favorisieren sie jene Typen des Erkennens, die ihre Problematik so abstrakt anlegen, daß eine solche Ablösbarkeit von der Konkretion möglich wird. (...) Sie schaffen sich dadurch gleichsam einen neuen »wissenschaftlichen Gegenstand« (ein Körper ist nur res extensa, der Mensch nur homo oeconomicus usw.). (...) Demgegenüber ist es ein Grundzug der in diesem Zeitalter aufstrebenden konservativen Denkrichtungen, daß sie aus dem Irrationalen nicht einen Grenzbegriff machen; der Konservative sieht und erlebt die Welt durchsetzt von Irrationalismen« (198f). 482 Zum Verhältnis Riehls zum Konservatismus vgl. Lövenich (1986). -

III. Methoden und Methodendiskurse

199

sierren Umfrageforschung ermöglicht wurden; im Bereich der Sozialreform und -politik hatten sich eher wirtschaftswissenschaftliche Orientierungen durchgesetzt; auch die Kritische Theorie hatte sich gegen phänomenologische und pragmatische Forschungsansätze ausgesprochen; bei den sozial-

technologischen Anwendungen soziologischen Wissens in Betrieben und Verwaltungen vermochte die klassisch geisteswissenschaftlich orientierte qualitative Sozialforschung nicht mit jenen Wissensbeständen zu konkurrieren, die sich mit den Insignien naturwissenschaftlicher Exaktheit schmückten und die Analyse und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse versprachen. Vor diesem Hintergrund fand in den fünfziger und sechziger Jahren eine Kanonisierung der Methoden der empirischen Sozialforschung statt. Während in der praktischen Forschungsarbeit mit einem durchaus breiten Spektrum von Methoden gearbeitet wurde, sind über die sozialwissenschaftlichen Ausbildungsgänge, über die ersten Handbücher und später die Lehrbücher eher die standardisierten Verfahren in den Kanon aufgenommen worden. Das Erfahrungswissen aus den empirischen Forschungsprozessen floß nur sehr selektiv in den methodischen Fundus der Disziplin zurück. So finden sich z.B. keine Darstellungen, in denen die im industriesoziologischen Bereich vorherrschenden qualitativen Forschungspraktiken systematisch niedergelegt wurden. Auch für den in den Diplomstudiengängen zu organisierenden Lehrbetrieb stellten qualitative Forschungsansätze ein spezifisches Problem dar: die standardisierten Forschungspraktiken und Auswertungsverfahren waren weitaus einfacher zu systematisieren und konnten auch über die Lektüre von Texten vermittelt werden; demgegenüber waren die qualitativen Methoden weitaus kontextgebundener (Platt 1996:64). Der Zugriff der Sozialforschung auf die Methoden heutiger Sicht ist bei vielen Studien aus der Gründungsphase zu konstatieren, daß der Grad der methodischen Reflexion noch recht wenig ausgebildet war. Die erkennbaren Defizite gingen vermutlich auf verschiedene Faktoren zurück: Der Ausbildungsstand der in der Forschung Tätigen war für die methodisch oft recht ambitionierten Projekte unzureichend; sofern überhaupt entsprechende Ausbildungen vorlagen, waren diese eher sozialstatistischer Art. Es herrschte eher die Improvisation vor; die Dinge wurden eher pragmatisch gelöst (Bahrdt 1985:155). Das ist nicht verwunderlich, wenn man den Entwicklungsstand der Fachdiskurse, vorhandene Lehr- und Handbücher sowie Ausbildungsgänge betrachtet. Ein (kritischer) Methodendiskurs begann sich erst allmählich herauszubilden und dann allenfalls für die stärker standardisierten Verfahren. Schließlich hingen die >Qualität< der erhobenen Daten wie auch der Auswertung von den eingesetzten personellen und materiellen Ressourcen ab: Repräsentativerhebungen durch ein anerkanntes Umfrageinstitut waren, verglichen mit einer Erhebung durch Aus

200

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

studentische Hilfskräfte, ein ausgesprochen teures Unterfangen483. Insbesondere für die Forschungsinstitute ist zu vermerken, daß es bei den >Qualitätsfragen< um ein komplexes Arrangement von Forschungsinstitut, Auftraggeber und Adressat ging, bei dem wissenschaftliche Standards< nur eine Größe unter anderen darstellten. In der bisherigen Darstellung dürfte deutlich geworden sein, daß dieses Modell einer nationalen Methodenwahl« wenn überhaupt nur für einzelne Segmente der Forschung angemessen ist. Weite Teile der Sozialforschung folgten einer anderen Logik: Im Bereich amtliche Statistik bildete eine eingespielte, in routinierte Praktiken und Abläufe gefaßte >Erhebungsmaschinerie< den Ausgangspunkt. Diese Maschinerie vorausgesetzt, konnten dann Entscheidungen getroffen werden, welche Phänomene des wirtschaftlichen und sozialen Lebens untersucht werden sollten. Auch die Markt- und Meinungsforschungsinstitute unterhielten eine solche >Erhebungsmaschineriefalsche< Vorhersage des Gallup-Instituts zur amerikanischen Präsidentschaftswahl 1948485. Ein anderer Kondensationspunkt, an dem sich der öffentliche aber auch der wissenschaftliche Diskurs um die Meinungsfor-

nazifizierungsuntersuchungen484

Anderson berichtete in der Einführung seiner statistischen Methodenlehre von einem Wortspiel, das in der Nachkriegszeit populär gewesen sei: »Es gebe, sagte man, die Romanik mit dem Rundbogen, die Gotik mit dem Spitzbogen und die Amerikanik mit dem Fragebogen« ([1954] 1963:1). König sprach in seiner Einleitung zur »Praktischen Sozialforschung« von einem »verhängnisvollen Obereintreffen (...) daß eine nachhaltige Begegnung des breiteren Publikums mit den Methoden der amerikanische Sozialforschung ausgerechnet im Jahr 1948 stattfand« (1952:20).

202

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Kinsey-Reporte486

und einer daran schung formierte, war die Rezeption der orientierten Befragung des Allensbacher Instituts487. Die ganze Palette von Vorbehalten gegenüber der Markt- und Meinungsforschung wurde in dem 1969 erschienenen Bestseller >Das große Verhör< (Gayer 1969) zusammengetragen488. Ein spezifisches Unbehagen an der Markt- und Meinungsforschung machte sich auch an der Form fest, in der mehrheitlich die Ergebnisse gefaßt wurden: »Die Abneigung gegen die Präzision der quantitativen Betritt meist in stimmung Begleitung mit der Bedenklichkeit auf, daß sie die Entfaltung des Individuums gefährde, einem undeutschen Schematismus Tür und Tor öffne« (Neumann [1952] 1962:49). Das Unbehagen ging darauf zurück, daß das über die Methoden der Marktund Meinungsforschung erschlossene Wissen über die soziale Welt und der damit legitimierte Deutungsanspruch in Widerstreit geriet mit anderen Produzenten gesellschaftlichen Wissens, anderen Deutern der sozialen Welt und schließlich mit dem > gesunden Menschen verstand^ Im Bereich des öffentlichen Lebens waren das die Vertreter der Medien, die Akteure des politischen Feldes und die Repräsentanten der weltanschaulichen geprägten Gruppen. Das spezifische Verhältnis von Journalismus und Meinungsforschung rührte aus gewissen Ähnlichkeiten in der Perspektive auf die soziale Welt. So hatte es in der Entwicklung der empirischen Sozialforschung immer wieder enge Bezüge zu einem bestimmten Typus des Journalismus gegeben: dem Sozial-Journalismus Henry Mayhews in Groß-

Der Kinsey-Report zum männlichen Sexualverhalten war in den USA 1948, der zum weiblichen 1953 erschienen. Die Auseinandersetzung setzte in Deutschland in den fünfziger Jahren ein. Zunächst waren deutsche Fassungen nur in (kommentierten) Auszügen zugänglich; autorisierte deutsche Übersetzungen erschienen erst 1954 bzw. 1955. Das Novum der Kinsey-Reporte lag darin, daß sie eine empirische Sexualwissenschaft begründeten, die sich nicht länger auf die der ärztlichen bzw. psychoanalytischen Praxis zugänglichen Fälle gründete, sondern auf Daten eines repräsentativen Querschnitts der Bevölkerung basierte. Zudem wurde beabsichtigt, »mit Hilfe des neu hervorgebrachten Wissens, Eltern Informationen für die kindliche Sexualerziehung an die Hand zu geben, zur Lösung der Sexualprobleme lediger Erwachsener beizutragen und vor allem heterosexuelle Paare über diejenigen Techniken aufzuklären, die ihnen zu einem befriedigenden Sexualleben verhelfen können« (Bührmann 1995:94f). Vgl. dazu von Friedeburgs (1953) Dissertation »Die Umfrage in der Intimsphäre« sowie von Wieses (1954) Rezension in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und eine Replik von Noelle-Neumann (1954). Dort wurde auf folgende Argumentationen Bezug genommen: Legitimation von politischen Entscheidungen mit demoskopischen Befunden, Meinungsmache mit Umfragen, unzutreffende Wahlprognosen, Manipulation durch die Marktforschung, Unscharfen in der Stichprobenziehung, Geschäftemacherei, Interviewereinflüsse, Probleme der Interviewsituation, Einbruch in die Privatsphäre, das Problem der »Meinungslosigkeit«, Versagen als Frühwarnsystem, die »Herrschaft der 2000«. Die Auseinandersetzung mit diesen Vorbehalten gegenüber der Markt- und Meinungserforschung erfolgte recht differenziert und führte zu einer Abwägung von »positiven Leistungen der Sozialforschung« (191) gegenüber den Gefahren einer »Demoskopiehörigkeit« (192).

IV. Bilder und Leitbilder der empirischen

britannien, dem muckraking-journalism portagen Siegfried Kracauers.

Sozialforschung

203

in den USA oder den Sozialre-

Mit den Möglichkeiten der repräsentativen Umfrageforschung konnten die Meinungsforscher mit einem neuen Selbstbewußtsein auftreten; man begriff die Umfrageforschung als ein »wesentliches Informationsmittel der entscheidenden Instanzen« (Politiker, Wirtschaftler, Verwaltungsbeamte, Führer verschiedenster Organisationen); man sah sich als »Brücke zwischen Bevölkerung und Regierung« (Sittenfeld 1953:17). Man wollte die Entscheidungen dieser Instanzen rationalisieren490. Mit diesem Anspruch wurde die Rolle anderer Mittlerinstanzen zwischen Bevölkerung und Regierung, die Rolle anderer Repräsentanten, die sich zum Fürsprecher ihres spezifischen Klienteis machten, radikal in Frage gestellt. Insbesondere in den Frühzeiten der politischen Meinungsforschung wurde die Rolle der Medien gezielt angegangen; sie sollten sich vergegenwärtigen, »daß öffentliche Meinung etwas anderes ist als das, was sie selber schreiben« (Neumann [1952] 1962:83). Ein besonderer Konflikt erwuchs aus dem (unterstellten) Anspruch der politischen Meinungsforschung, über die Befragungen die öffentliche Meinung< wiedergeben zu wollen. Auch der Anspruch, die Meinungsforschung könne »ein politisches Erziehungsmittel zur Demokratie« (Lenz 1950:19) sein, forderte diejenigen heraus, die sich mit unterschiedlichsten Legitimationen als politische Erzieher der Nachkriegsdeutschen begriffen. Exemplarisch wurde diese politisch wissenschaftlich fundierte Kritik in Wilhelm Hennis' Meinungsforschung und politische Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen< formuliert. Im eher politischen Teil seiner Argumentation wendete er sich ausgehend von einem normativen Verständnis politischer Wissenschaften gegen die Vorstellung, man könne mit Mitteln der Meinungsforschung Aussagen über die öffentliche Meinung< machen491: »Was die Meinungsforschung mit ihrem komplizierten Instrumentarium in den Griff bekommt, ist mithin nichts anderes als die gemeine Meinung, das >vage Meinen und Raunen< der älteren Theorie« (1957:35). Den Argumentationen der Meinungsforschung unterliege das (falsche) Verständnis, man könne »gegenüber dem angeblich >formalen< Bild der nur in ihrer Verfassungsform existenten Demokratie, das pathetische Bild jener wahrem, >echteren< De-

Zu den Bezügen zwischen Sozialjournalismus und der Chicagoer Stadtsoziologie vgl. Lindner (1990:151fr). »Was die Meinungen und Einstellungen, Wünsche und Absichten, Hoffnungen und Befürchtungen ihrer Mitmenschen angeht, sind sie dabei weitgehend auf Mutmaßungen und Schätzungen angewiesen, die sich später nur zu oft als frommer Irrglaube erweisen. Wir versuchen mit unseren Untersuchungen objektive Daten zu ermitteln, damit die Entscheidungen auf eine gesunde Basis gestellt werden können« (16). So kritisierte Hennis die Anonymität und Privatheit der gemachten Aussagen, die jeden Bekennermut, der nun einmal für die öffentliche Meinung konstitutiv sei, vermissen lasse. Zudem sei die öffentliche Meinung mehr als die bloße Addition vieler einzelner Meinungen.

204

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase« (1949-1965)

aus der perpetuierlichen Befragung eines statistisch-repräsentativen Samples« (40) ergibt. Hinter der Argumentation Hennis' verbarg sich eine recht grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Ansatz einer empirisch orientierten Sozialwissenschaft. Im Bereich der Wirtschaft und Administration traten die neuen Wissensbestände in Konkurrenz zum etablierten Erfahrungswissen, mit dem in Betrieben und Verwaltungen Entscheidungen begründet und legitimiert wurden. Sehr verbreitet fand sich die Klage über den mangelnden Einsatz der modernen Marktforschungsmethoden (Lenz 1950:18). Die Kritik richtete sich darauf, daß neben den objektiven Gegebenheiten des Wirtschaftsprozesses die »psychologischen Faktoren Wünsche, Absichten, Geschmack, Hoffnungen, Befürchtungen, Bewertungen« zu wenig berücksichtigt wur-

mokratie (...) zeichnen, die sich

-

-

den. »Unsere übliche volkswirtschaftliche Statistik befaßt sich (...) fast ausschließlich mit den materiellen Gegebenheiten und begnügt sich bei den psychologischen Faktoren im allgemeinen mit subjektiven Erfahrungen, Eindrücken, Vermutungen usw. oder ignoriert sie ganz« (Sittenfeld 1953:22). Analog zur Debatte um die Folgen der politischen Meinungsforschung für die repräsentative Demokratie fand sich im wirtschaftlichen Bereich eine Auseinandersetzung um die Folgen der Marktforschung für eine freie Marktwirtschaft bzw. um die Folgen der >tiefenpsychologischen< Motivforschung für den Kaufakt (Suggestions- und Manipulationsvorwurf)492. Im wissenschaftlichen Feld traten die mit den neuen Methoden der Meinungsforschung produzierten Wissensbestände in Konkurrenz zu geisteswissenschaftlichen, historistischen und normativen Wissenschaftsverständnissen. Das wurde z.B. an der Reaktion von Fachwissenschaftlern auf die Befunde der politischen Meinungsforschung oder der Jugendforschung deutlich. Dabei verwischte bei den Kritikern oft die Grenzlinie zwischen empirischer Sozialwissenschaft und Meinungsforschung. Hennis kritisierte, daß die Umfrageforschung die klassische sozialwissenschaftliche Enquête, wie sie z.B. vom Verein für Socialpolitik durchgeführt worden sei, verdrängt habe; »der Bruch der empirisch-quantifizierenden Arbeitsweise mit der älteren Tradition muß zur Verdunkelung aller wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge führen. Die Folgen sind Schrumpfung der Probleme auf die mit den neuen Instrumenten zu lösenden einerseits, Fehlurteile über die eigene Stellung im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte andrerseits« (15/16). Er wendete sich dementsprechend gegen eine politische Soziologie, die vor lauter >Gesellschaft< die Verfassung nicht mehr sehe (52). Insofern betrachtete er auch das Projekt einer empirischen Soziologie als Gefahr, da es nicht nur die kommerziell arbeitenden Meinungsforschungsinstitute, sondern auch die soziologischen Universitätsinstitute seien, »in denen die Umfragemethoden nicht nur Anerkennung, sondern monopolistische Herrschaft errungen haben« (61/62). -

Zur Auseinandersetzung mit diesen Theoremen

vgl. Berth (1959:232ff).

IV. Bilder und Leitbilder der empirischen

Sozialforschung

205

Ein ähnlicher Effekt wie in den Debatten über die öffentliche Meinung zeigte sich auch in der Jugendforschung. Der größte >Frevel< der Umfrageforscher lag darin, daß sie Jugendliche behandelten, »als würde es sich bei ihnen bereits um vollwertige Bürger der Republik handeln« (Zinnecker 1985:440). Die repräsentative Jugendforschung rief insbesondere die Kritik von stärker normativen und fallorientierten Wissenschaftsansätzen hervor. »Die hauptsächliche Gegnerschaft kam (...) aus Reihen der Pädagogen und Entwicklungspsychologen. Diese verspürten nicht zu Unrecht, daß hier möglicherweise ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel von Jugend sich abzeichnete« (440). Entsprechend versuchte man, sich in den ersten Jugendstudien auf diese Kritikmuster einzustellen. Man gestand die Begrenzung einer Repräsentativbefragung gegenüber einer fallorientierten Perspektive zu und sah sich unter einem starken Beweiszwang493. Seitens der Markt- und Meinungsforschungsinstitute wurde eine Reihe von Gegenstrategien eingeschlagen, um diesem Negativimage, das sich auch auf die Vermarktung der erbrachten Forschungsdienstleistungen negativ aus-

wirkte, entgegenzutreten. Man versuchte, über eine ausführliche Kommentierung der vorgelegten Befunde, durch Interpretationshilfen, durch Verwei-

se auf die Grenzen des Datenmaterials und seiner Interpretation dem >Mißbrauch< vorzubeugen. Zinnecker vermutet auch eine erzieherische Absicht: »Die künftigen Rezipienten von Umfrageforschung sollten in den rechten Gebrauch des Verfahrens eingewiesen werden, um sie zu qualifizierten Mitträgern der neuen Idee heranzubilden« (442). Auch die in Aliensbach periodisch494 herausgegebenen >Jahrbücher der öffentlichen Meinung< gehörten zur Imagepflege der Meinungsforschungsinstitute; sie nahmen dabei einen gewissen Aufklärungseffekt in Anspruch495. Sie enthielten neben einer Vieles zahl von thematisch zusammengestellten Befragungsergebnissen scheint dabei eine gewisse Analogie zur Berichterstattung der Statistischen Jahrbücher durch auch eine kurze Einführung in einzelne Verfahrenswei-

-

493

»Das Entree des Neulings Repräsentativbefragung im Bereich der Jugendforschung ist mit wiederholten Demutsgebärden an die Adresse der Etablierten verbunden Demutsgebärden, die in späteren Berichten über repräsentative Jugendstudien übrigens fehlen« (441). Zwischen 1947 und 1964 waren drei Jahrbücher erschienen. Später wurden sie in »Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie« unbenannt. 1956 proklamierten die Herausgeber: »Umfragen sind ein Informationsmittel. So besteht das hauptsächliche Anliegen der Publikation auch darin, eine interessierte Öffentlichkeit mit einem auf neuartige Weise gewonnen Gruppenbild des deutschen Volkes vertraut zu machen« (Noëlle/ Neumann 1956:V). »In diesem Sinne ist es das geistig erregende Element der Umfrageforschung, überkommene, stereotype Formeln, die niemals auf Wirklichkeitsgehalt hin kontrolliert worden waren, umzuwerfen und durch haltbare, begründete Einsichten zu ersetzen« (VI). Angesichts der Skepsis, mit der der Umfrageforschung oftmals begegnet wurde, wird ihre Exaktheit herausgestrichen: »Die Prozentzahl ist ein messerscharfes Instrument, Mehrheiten und Minderheiten anschaulich zu machen, und wer in ihr Wesen eindringt, erhält von ihr bald ein sicheres Gefühl für Größenordnungen. So liegt es auf der Hand, daß sie dort auf Feindschaft stößt, wo man das Unscharfe der Präzision, den Farbfilter der harten Linse vorzieht« (V). -

206

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Umfrageforschung496.

Man pflegte seitens der Befragungsinstitute der enge Beziehungen zur Wissenschaft497, man versuchte, der eigenen Forschungsarbeit einen wissenschaftlichen Hintergrund zu geben498 und bemühte sich um eine Qualitätssicherung in der Markt- und Meinungsforschung499; zudem wurde auch die wissenschaftliche Verwendung der Ergebnisse hervorgehoben500. sen

2. Der Amerikanisierungsdiskurs Für die Etablierung der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland spielen die amerikanischen Entwicklungen (s.o.) eine wichtige Rolle eine Abschätzung dieses Einflusses folgt am Ende des Kapitels. Um den Charakter und den Stellenwert dieses Wissens- und Erfahrungstransfers entspannte sich bereits in den fünfziger und sechziger Jahren, teilweise auch noch in den siebziger Jahren, ein Diskurs, der in verschiedener Hinsicht als >aufgeladen< zu bezeichnen ist. Dabei ging es um die Frage, ob man von einer Amerikanisierung der deutschen Soziologie und Sozialforschung sprechen könne, und ob eine solche Entwicklung erstrebenswert sei. Diese Diskurse waren mit wissenschaftlichen aber auch kulturellen und gesellschaftlichen Amerika- bzw. Amerikanisierungsdiskursen verwoben, die eine lange Vorgeschichte hatten; der Begriff der Amerikanisierung geht auf den Beginn dieses Jahrhunderts zurück5 Diesem Diskurs ist auch die Suche nach Er-

.

496

So enthielt das erste Jahrbuch 1947-1955 einen umfangreichen Erläuterungsteil, in dem Auswahlverfahren, Befragungstechniken, Auswertungsverfahren und Darstellungsformen vorgestellt

werden.

Lenz hob in seiner frühen Darstellung zur »Meinungsforschung in Deutschland« hervor, daß die der angewandten Soziologie sei und verwies auf die breite Verankerung dieser Wissenschaft an den amerikanischen Hochschulen (1950). Auch auf der Weinheimer Tagung wurde deutlich, wie die Meinungsforschung die »Hilfe« der akademischen Welt sucht (Sittenfeld [1952] 1962a:16). Noch heute wird diese bemühte Pflege eines wissenschaftlichen Images erkennbar: vgl. z.B. das Symposium »Demoskopie und Aufklärung« zum 40-jährigen Bestehen des Aliensbacher Instituts (Institut fur Demoskopie 1988), oder die Nachfolgetagung zur Weinheimer

Meinungsforschung Teil

Tagung (Jaufmann u.a. 1992). Insbesondere

Sozialforschung

von Noelle-Neumann wurde gezielt versucht, die Geschichte der empirischen als eine Geschichte der Demoskopie und Umfrageforschung zu reinterpretieren

(Noelle-Neumann 1963:314fif).

Der Wunsch nach Berufsnormen der Markt- und Meinungsforschung war bereits als ausgewieAnliegen bei der Tagung von 1952 deutlich geworden. Eine wichtige Funktion der verschiedenen Vereinigungen und Berufsverbände der Markt- und Meinungsforscher war die Fixierung solcher Normen. Ein erster Kodex war bereits 1948 von der ESOMAR vorgelegt worden, von den nationalen Verbänden wurden in den folgenden Jahren ähnliche Kodizes entwickelt. 1977 wurde dann von der ESOMAR und der ICC ein »Internationaler Kodex für die Praxis der Markt- und Sozialforschung« verabschiedet (Kapferer 1994:173). 500 Vgl. z.B. Weisker/ Löchner (1953:27f). 501 Nach Maase geht der Begriff auf eine ins Deutsche übersetzte Schrift des britischen Journalisten William T. Stead (1902) zurück. »Er bezeichnete damit den Versuch, aus dem Völkergemisch senes

IV. Bilder und Leitbilder der empirischen Sozialforschung

207

klärungen für die Spezifik des amerikanischen bzw. deutschen und europäischen Weges zuzurechnen502. Adorno, der davon ausging, daß die Etablierung der empirischen Sozialforschung das dominante Entwicklungsmoment der Nachkriegsphase gewesen sei, resümierte 1959: »Zunächst also hat man nach dem Krieg die Türen weit aufgemacht und so viel von dem zwölf Jahre lang Versäumten hereingelassen wie möglich, vor allem aus Amerika« (258). Ihn ähnlicher Weise schilderte Schelsky (1960:1) die Anfangsphase der Sozialforschung: »Von solch notwendigen Aufgaben und Überzeugungen getrieben, setzten wir zunächst die Segel der empirischen Sozialforschung, recht unbekümmert um die genaue Kompaßzahl; die allgemeine Richtung war bekannt: Westward Höh! Irgendwo im gelobten Land würden wir schon ankommen« (zitiert nach Schellhase 1982:326).

Beiden Darstellungen ist ein vorsichtig distanzierender Unterton eigen. Eine ähnliche Sicht der Dinge findet sich in vielen zeitgenössischen Darstellungen. Dem standen jedoch auch andere Zeitdiagnosen gegenüber, die eher die Wirkungen dieses amerikanischen Einflusses in Frage stellten; Historismus und geisteswissenschaftliche Soziologie seien noch allseits präsent. 1955 bezweifelte König, ob die deutsche Soziologie von der Entwicklung »Kenntnis genommen hat, die (...) die Lage der Weltsoziologie von heute völlig unvergleichlich machen« (1955b:2). Goode kam 1959 nach einem Gastaufenthalt an der FU Berlin zu einer ähnlichen Schlußfolgerung: »Im Gegensatz zu der Meinung sowohl deutscher als auch amerikanischer Soziologen hat die Soziologie der Vereinigten Staaten nur wenig Einfluß auf die deutsche Soziologie gehabt« (Goode 1959:166). Auch Dahrendorf setzte sich in seiner Situationsbestimmung von 1959 eingehender mit der Frage der Amerikanisierung auseinander. Er bezeichnete mit Blick auf Adorno und andere das Bild von der vorwiegenden Orientierung an der amerikanischen Forschung und von der Übernahme des »handwerklichen Geschicks« auf der Einwanderer eine homogene Nation unter dem Werthimmel amerikanischer Ideale zu formen« (1992:21). Die Amerikanisierung der Welt sollte zur Marschroute für das 20. Jahrhundert werden. Die Originalausgabe war 1901 in New York (H. Markley) unter dem Titel »The Americanization of the world or The trend of the twentieth century« erschienen. Maase weist darauf hin, daß die weitere Verwendung des Begriffs vornehmlich in kulturkritischen und weniger in wissenschaftlichen Kontexten erfolgte. Interessanterweise wurde der Begriff der Amerikanisierung auch von den in die USA emigrierten Soziologen gebraucht; so schalt Horkheimer andere Flüchtlinge für ihre eilige »Amerikanisierung« (Jay [1973] 1985:144). Aus der breiten Palette der dargebotenen Erklärungen schälten sich einzelne Muster heraus: In vielen Darstellungen dominierte ein historisch orientierter Erklärungsansatz, in dem die Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung in engem Zusammenhang mit der Besiedelungserfahrung (z.B. Hinkle/ Hinkle [1954] 1960:11, Krieger 1953:194), mit Problemen der sozialen Integration in der Einwanderungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts begriffen wurde (z.B. Bouman 1951:141). Andere stellten die Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus und den damit erforderlichen politischen Reformen in den Vordergrund (z.B. Kern 1982:180); kontrastierend finden sich auch ideen- und mentalitätsgeschichtliche Überlegungen (z.B. Hinkle/ Hinkle [1954] 1960:13, Pié 1990:115ff Krieger 1953:194). In vielen Darstellungen wurden auch die Differenzen im Wissenschafts- und Hochschulsystem (Scheuch 1989) hervorgehoben.

208

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Kosten des >Nachdenkens und Überlegens« als falsch, da es auf einem nicht zutreffenden Bild von der amerikanischen Soziologie und der dortigen empirischen Forschung beruhe (1959:138). Im Bereich der Sozialforschung konstatierte er ein nach wie vor erhebliches Gefalle im Entwicklungs-

stand503. Frage der Bewertung einer solchen Amerikanisierung (oder ihres Ausbleibens) waren die Standpunkte gleichermaßen divergierend. Während bei Dahrendorf (1959) und König (1955) klar eine stärkere Internationalisierung und Amerikanisierung befürwortet wurde, fielen diese Stellungnahmen bei Schelsky und Adorno ambivalenter aus. Die wesentliche Differenz scheint in der Stellung zu der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition bzw. im Bezug zur Philosophie zu liegen. Mit Blick auf Dahrendorf wendete Schelsky ein, es sei zwar notwendig, sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen der amerikanischen Soziologie und Sozialforschung zu befassen; man könne aber nicht »das spezifisch amerikanische System einer funktional-strukturellen Analyse als allgemeine Soziologie und die immense und detaillistische empirische Forschung als eigenen Standard unseres Faches« (1959:27) übernehmen504. Bei Adorno vermischte sich der wissenschaftlich reflektierende mit dem kulturkritischen Diskurs. Fürstenberg sah die Attraktivität des »gegenwartsorientierten Empirismus der Amerikaner« gegenüber der stärker sozialgeschichtlichen Orientierung der britischen Soziologie vor dem Hintergrund des Zeitgeistes der Nachkriegssituation505. Zur

Hinweise zum Verständnis dieser Stellungnahmen zur Amerikanisierung können aus der Analyse ihrer strategischen Bedeutung in dem sich entwikkelnden sozialwissenschaftlichen Feld gewonnen werden. Zieht man Habermas' Einschätzung des Amerikanisierungsdiskurses als der großen mentalitätsprägenden Kontroverse der BRD hinzu, bekommen diese Stellungnahmen in der wissenschaftlichen Landschaft ein besonderes Gewicht. Bereits bei der Analyse der typischen Karrierewege von Nachkriegssoziologen war deutlich geworden, daß der Kenntnis in den neuen amerikanischen Methoden und den Studien-, Lehr- und Forschungsaufenthalten in den USA eine wichtige Funktion zu kam. Man versuchte dann, dieses spezifische Kapi»Weder in der Technik der Erhebung noch vor allem in den Techniken der Auswertung verträgt die Mehrzahl deutscher Untersuchungen der Gegenwart den Vergleich mit außerdeutschen vor allem amerikanischen Arbeiten. (...) An technischem Raffinement hat die deutsche Sozialforschung den Stand der 20er Jahre kaum überschritten« (138). Er sah demgegenüber in der in Deutschland beobachtbaren Vielfalt theoretischer Ansätze eine Chance (31). Unter Bezug auf die »Interessen des Publikums an der Soziologie« forderte er eine »Versöhnung von Tatsachenerfahrung (...) mit einer universalen Sinndeutung und denkerischen Bewältigung unserer ganzen sozialen Umwelt« (31). »In der Bundesrepublik Deutschland bestand zwar ein großes Bedürfnis nach Wirklichkeitsanalysen, aber es gab verständlicherweise keine umfangreichen Auseinandersetzungen mit den historischen Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaft. So war auch schon in den 50er Jahren die Tendenz deutlich, auf allgemeine theoretische und methodologische Erörterungen auszuweichen«

(Fürstenberg 1998:389).

IV. Bilder und Leitbilder der

empirischen Sozialforschung

209

tal im weiteren beruflichen Werdegang strategisch einzusetzen; entsprechend diente der Amerikanisierungsdiskurs dazu, diese Kapitalien auf- oder

abzuwerten506.

»Sozialhistorisch sind diese amerikanischen Einflüsse zugleich auch [als] Teil jener kollektiven Prozesse zu interpretieren, mit denen die neuentstehenden Berufsgruppen sozialwissenschaftlicher Experten ihre eigene Berufsrolle fixieren, ihre Stellung im sozialen Raum erobern. Die technischen Aspekte der amerikanischen Einflüsse waren insbesondere wichtig, um sich gegen ältere Entwürfe intellektueller Berufsexistenz (den Gelehrten, Publizisten oder Lehrer) durchzusetzen und aufzuwer-

(Raphael 1995:8). Der spezifische Charakter des Amerikanisierungsdiskurses wird deutlich, wenn man der Frage nachgeht, was im sozialwissenschaftlichen Kontext unter >Amerikanisierung< verstanden wurde: Zunächst wurde der Prozeß der Amerikanisierung auf den Import von neuen Methoden der empirischen Sozialforschung bezogen. Im weitesten Sinne umfaßte dieser Methodenimport die verschiedenen quantifizierenden und qualitativen Verfahren, die im amerikanischen Kontext entstanden waren, die entwickelten Praktiken der Einstellungsforschung und der Stichprobenziehung sowie verschiedene Verfahren zur Auswertung standardisierter Daten. Oft wurde der Begriff aber selektiver gehandhabt und nur auf standardisierte Erhebungs- und Auswertungsverfahren angewandt, oder er wurde nur auf die Praktiken der Markt- und Meinungsforschung bezogen. Später ging es im Kontext der Methodenfragen auch um die wissenschaftstheoretischen Begründungen hypothesentestender Forschung; damit war auch ein bestimmtes Theoriemodell (die Akkumulierung von Gesetzesaussagen zu komplexeren gesellschaftlichen Theorien) und Politikmodell (Poppers >Offene Gesellschaft) verknüpft. Häufig wurde neben dem Methodenimport im engeren Sinne unter Amerikanisierung auch das damit verknüpfte wissenschaftliche Selbstverständnis einer empirischen Soziologie begriffen, das sich gegen eine geisteswissenschaftliche (historistische und sozialphilosophische) Soziologietradition wandte (Schelsky 1979:454f); entsprechend wurde auch das Königsche Programm einer reinen Soziologie als Amerikanisierungsstrategie (Tenbruck 1979:72) verstanden. In engem Zusammenhang damit stand das Verständnis vom Prozeß der Amerikanisierung als einem Prozeß der Implementierung einer anwendungsbezogenen und spezialisierten Soziologie (Francis [1957] 1965T3)507. In einem spezifischen Sinne wurde unter Anwendungsbezug auch die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für Zwecke der Marktforschung begriffen: Jay hob die Indienstnahme der Forschung für kommerzielle Interessen als Charakteristikum der amerikanischen Entwicklung hervor ([1973] 1985:146). ten«

Ob die Einschätzung von Horkheimer und Adorno mit diesem Modell gefaßt werden kann, muß offen bleiben. Lazarsfelds Einschätzung des Adomoschen Perspektivwandels (vgl. Fußnote 184) könnte auch den strategischen Charakter dieser Haltung erklären. 507 S.Fußnote 315.

210

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

sechziger Jahren bezog sich die Rede von der Amerikanisierung der Sozialwissenschaften stärker auf das Phänomen des Theorieimports. Noch zum Ende der fünfziger Jahre kam Goode zu dem Resümee, »daß nicht die amerikanischen Methoden, sondern die amerikanische soziologische TheoIn den

rie in Deutschland am heftigsten abgelehnt wird« (1959:166). Die strukturfunktionale Theorie, »die in den USA als der langersehnte Durchbruch der Soziologie zu ihrer endgültigen Wissenschaftlichkeit erlebt wurde, gelangte nur mit Verzögerung und stückweise in die Bundesrepublik« (Tenbruck 1979:85). Nach der Auswertung der Beiträge in Fachzeitschriften kam Sahner (1982a) zu dem Ergebnis, daß der Strukturfunktionalismus zwischen 1961 und 1965 das leitende theoretische Modell darstellte, nachdem er zwischen 1951 und 1955 noch völlig bedeutungslos war (141)508. Auch die Soziologisierung des Zeitgeistes nach >1968< versuchte man, mit Bezug auf amerikanische Entwicklungen zu interpretieren. Lepsius verwies in einer Ansprache zur Eröffnung des Soziologentages darauf, daß auch die Modethemen vieler soziologischer »Pamphlete und Traktate« dem »Takt einer internationalen, insbesondere amerikanischen Entwicklung« (1976:8) folgten. Die Frage, wann solche Amerikanisierungsprozesse zu diagnostizieren sind, wird unterschiedlich beantwortet. Folgt man den Einschätzungen von Dahrendorf und König, für die sich in der Wissenschaftsgeschichte viele Anhaltspunkte bieten, so scheint der >Amerikanisierungsprozeß< zwar in den fünfziger Jahren eingesetzt zu haben; seine ganze Tragweite ist jedoch erst in den sechziger Jahren deutlich geworden, als z.B. die im Sinne der amerikanischen Soziologie sozialisierten Wissenschaftler in zunehmendem Maße Lehrstühle übernahmen und die Lehr- und Forschungslandschaft prägten509; aber auch hier würde die Amerikanisierungsthese zu groben Vereinfachungen fuhren, da die amerikanischen Erfahrungen und ihre Verarbeitung sehr unterschiedlich waren ' Eine etwas andere Lesart zur zeitlichen Verortung des Amerikanisierungsprozesses entfaltete Tenbruck, als er die These vertrat, »die Hinwendung zum amerikanischen Gesellschaftsverständnis [habe] in der Bundesrepublik viel früher begonnen. Mit der amerikanischen Soziologie gewann insoweit die jüngere deutsche Intelligenz nur die geistige Legitimation und Artikulation für bereits eingeschliffene Neuorientierungen« (1979:90). Die Vielschichtigkeit der zeitgenössischen Amerikanisierungsdiagnosen und der Bezug auf ganz unterschiedliche Phänomenbereiche legt es nahe, derar.

Es ist jedoch

zu berücksichtigen, daß diese beiden Zeitschriften nur ein spezifisches Segment soziologischen Diskurses abbilden. Sowohl die Kölner Zeitschrift unter der Herausgeberschaft Königs (ab 1955) als auch die Soziale Welt unter der Herausgeberschaft der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute bzw. der Sozialforschungsstelle Dortmund sind eher einer amerikanisch orientierten Soziologie zuordnen. 509 Vgl. dazu Hartmann (1998:369), Tenbruck (1979:93). Vgl. dazu z.B. die Schilderung von Atteslander (1996:174f), in der er als zentrale Erfahrung die Verknüpfung von qualitativen und quantifizierenden Methoden hervorhebt.

des

IV. Bilder und Leitbilder der

empirischen Sozialforschung

211

tige Zeitdiagnosen eher in der Logik der jeweiligen Felder zu begreifen, aus denen sie hervorgingen. 3. Leitbilder empirischer

Sozialforschung

Schlüsselfrage der Nachkriegssoziologie, der dann auch für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung eine wichtige Bedeutung zukam, war die nach der Verortung des soziologischen Projekts bzw. der empirischen Sozialforschung im wissenschaftlichen, aber auch im politischen Raum der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Stellungnahmen zu dieser Frage können, wie oben gezeigt, nur bedingt durch die DifferenzieEine

rung nach Schulen erklärt werden. Eine zentrale Differenzierungslinie eröffnete sich entlang der Frage, ob die Sozialwissenschaften eher als ein wissenschaftlich/ universitäres oder eher als ein anwendungsbezogenes und (im weiteren Sinne) politisches Projekt begriffen wurden. Innerhalb der wissenschaftlichen Orientierung differenzierten sich dann die Selbstverständigungsdiskurse nach der Anlehnung an

unterschiedliche Wissenschaftstraditionen:

(Sozial)Philosophie, Nationalökonomie, Anthropologie, Statistik, angelsächsische oder französische Soziologie. Damit in Zusammenhang stand auch die Frage, in welchem Zuschnitt man eine Wissenschaft von der Gesellschaft begriff: eher als Soziologie oder eher als Sozialwissenschaft. Auch das Projekt einer verwendungsbezogenen Sozialwissenschaft konnte vielerlei Gestalt haben: Pragmatische Auftragsforschung, klassische Sozialpolitik, Politikberatung, Einbindung in Entwürfe der Sozial- oder der Gesellschaftsreform. In den autobiographischen Darstellungen und anderen Selbstverständnisbekundungen erkennt man viele Brückenkonstruktionen zwischen diesen Optionen;

es werden sich kaum Fachvertreter finden lassen, die sich klar zu eidieser Optionen bekannten. Ein gemeinsamer Nenner läßt sich vielleicht als das Projekt einer wissenschaftlich orientierten, empirischen Soziologie bzw. Sozialforschung in humanistischer, aufklärender Absicht benennen. Mit dem Begriff >Aufklärung< wurde jedoch ganz Unterschiedliches assoziiert: Demokratisierung, Gesellschaftskritik, Antifaschismus, Sozialreform, Emanzipation, Gesellschaftstransformation. In den biographischen Verläufen lassen sich dann Schwerpunktsetzungen erkennen, indem der eine oder andere Pol der skizzierten Selbstverständniskonstrukte stärker akzentuiert wurde. Einend war vermutlich die »Überzeugung und Entschlossenheit, daß die Soziologie bei dem Neubau einer humanen, freien und demokratischen Gesellschaft besondere Aufgaben zu erfüllen habe, wozu sie, teils wegen ihrer Ächtung im Dritten Reich, vor allem wegen ihres Gegenstandes vorzüglich berufen zu sein schien« (Tenbruck ner

1979:80).

212

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

In vielen Darstellungen wurde die Bedeutung der empirischen Sozialforschung in unmittelbarem Bezug zu den exzeptionellen Problemen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gesehen. Häufig wird dabei die Aufgabe, zur Lösung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Probleme beizutragen, mit einer orientierenden Funktion von Soziologie und Sozialforschung verknüpft. Exemplarisch sei hier Sauermann (1949) angeführt, der eine dringende Notwendigkeit empirischer Sozialforschung sah, »einmal um den Mechanismus des sozialen Geschehensablaufs wieder funktionsfähig zu machen, zum anderen aber auch, um den einzelnen Menschen die Möglichkeit der Orientierung zu geben« (10). Ähnliche Aufgabenformulierungen finden sich bei vielen Sozialwissenschaftlern jener Zeit511. Auch ein explizit wissenschaftsorientiert.es Programm, wie Königs >reine Soziologie< wurde eng an dessen Fähigkeit zur Diagnose von Gegenwartsproblemen gebunden. Es zeigte sich, daß »die Legitimierungswerte der Soziologie (...) mit der komplexen Zeitkultur« (Lepsius 1990:293f) eng verflochten waren. Schelsky (1950) erklärte eine »sozialwissenschaftliche Tatbestandsaufnahme unseres sozialen Zustandes auf allen Gebieten« (11) für dringend notwendig; er merkte jedoch an, daß »bei so viel Gerede und Betriebsamkeit um soziale, um politische und wirtschaftliche Planung und Großplanung in Deutschland« (12), dennoch nur selten die Instrumentarien einer angewandten Sozialforschung für eine weitergehende Klärung der Probleme genutzt wurden. Schelskys Bemerkungen verweisen darauf, daß es eben nicht nur um die Hervorbringung neuen empirischen Wissens über das Soziale ging, sondern daß die Verwendung dieses empirisch fundierten Wissens auch an eine Veränderung der Diskurse um die Planung und Begründung von Politik in öffentlichen und betrieblichen Verwaltungen, wie in politischen Organisationen gebunden war512. Damit war das Einverständnis verknüpft, daß empirische Sozialforschung einen Beitrag zum Prozeß gesellschaftlicher Demokratisierung leisten könne. Insbesondere in den neuen Verfahren der Meinungsforschung, im Prinzip der gleichberechtigten Befragung eines Bevölkerungsquerschnitts, sah man Möglichkeiten, zu mehr Transparenz und Beteiligung im Prozeß der politischen Willensbildung zu gelangen. Die Sozialforschung sollte so auch einen Beitrag zur Erfüllung des Bildungsan-

Bei König findet sich die Orientierung an den Gegenwartsproblemen sehr eng mit dem Programm einer wissenschaftlichen Soziologie verknüpft (s.u.). Adorno führte »das administrative Bedürfnis nach einer Kenntnis der Verhältnisse« in einem zerstörten und ökonomisch desorganisierten Land ([1952] 1962:28), als wichtiges Motiv der Sozialforschung an. Exemplarisch wurden diese Schwierigkeiten z.B. von Hans Paul Bahrdt bei der Kooperation und Kommunikation zwischen Sozialforschem und Architekten bzw. Stadt- und Landesplanem benannt. »Der Soziologe wird versuchen, seinen Partner zu überzeugen, daß der gesunde Menschenverstand, mit dem sich der Bauschaffende im sozialen Bereich orientieren muß, nicht ausreicht, daß er gerade hier häufiger versagt als auf allen anderen Gebieten« (1954:74).

IV. Bilder und Leitbilder der

empirischen Sozialforschung

213

spruchs leisten, der mit dem Ausbau der Soziologie und Politischen Wissenschaft verbunden wurde513. Jenseits eines solchen Konsenses über mögliche Funktionen empirischer Sozialforschung unterschieden sich die programmatischen Überlegungen zu den Aufgaben der Sozialforschung angesichts der Probleme der Zeit jedoch recht deutlich; es lassen sich grundsätzlich drei Typen von Leitbildern ausmachen, mit denen ein solches Unternehmen Empirische Sozialforschung verknüpft wurde: Es wurde als ein zentraler Baustein für das Projekt einer wissenschaftlichen und akademisch institutionalisierten Soziologie begriffen (Leitbild: Wissenschaftsorientierte Soziologie). Es wurde als Schlüssel für das Projekt einer wissenschaftlich fundierten Sozialreform und/ oder Gesellschaftsveränderung verstanden (Leitbild: Sozialreform, Gesellschaftskritik). Es wurde als zweckbezogenes Instrument begriffen, das quasi technologisches Wissen für gesellschaftliche oder betriebliche Steuerungsprozesse verfügbar macht (Leitbild: Sozialtechnologie, betriebliche und gesellschaftliche Sozialverwaltung). -

-

-

a) Empirische Sozialforschung als Fundament einer wissenschaftlichen und

akademisch institutionalisierten Soziologie Das Projekt einer wissenschaftsorientierten Soziologie folgte implizit einem Wissenschaftsbild, wie es z.B. in dem Clarkschen Stadienmodell514 wissenschaftlicher Institutionalisierungsprozesse dargelegt wurde. Man wollte in der Nachkriegsphase die Vorstadien der akademischen Entwicklung (emerging academic science) hinter sich lassen und den reiferen Stadien der established science bzw. der big science entgegenstreben. Dazu gehörte neben dem Ausbau wissenschaftlicher Lehrstühle die Einrichtung von Studiengängen und -abschlüssen an Universitäten und Hochschulen. Aus einer nur unzureichend ausgebildeten scientific community geschart um wenige Lehrstühle, mit ausgeprägten Gefolgschaftsstrukturen und mit nur semi-professionellen Organisationsformen sollte sich eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern herausbilden, mit einem hohen Grad von Arbeitsteilung und Spe-

-

zialisierung, organisiert

in

großen professionellen Organisationen.

Dabei

In der Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft wurde dieser Bildungsanspruch explizit formuliert und begründet: »In der Aufrechterhaltung des humanistischen Bildungsideals einerseits und in der Ausbreitung des exakten naturwissenschaftlichen Denkens andererseits spaltet sich das gesamte Bildungswesen in zwei Lager, zwischen denen bisher kein Brückenschlag gelungen ist. Mit der Einführung von Soziologie und Politischer Wissenschaft ist immer das Streben verbunden gewesen, neben diesen Bildungsvorstellungen, und sie ergänzend, ein neues Bildungsziel in der Idee von der Erziehung zum Staatsbürger zu institutionalisieren« (Lepsius 1961:20f). Clark unterschied fünf Entwicklungsstadien in der Institutionalisierung einer Wissenschaft, die er mit einer Reihe von Indikatoren charakterisiert (1972:662).

214

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

sollten sich auch universelle Arbeitsnormen entwickeln, die dazu beitragen, daß wissenschaftliche Standards gesichert und wissenschaftliche Innovationen (kraft ihrer eigenen Leistungen) zum Durchbruch gelangen. Dieses Projekt einer wissenschaftlichen und universitär verankerten Soziologie, in der die empirische Sozialforschung eine Schlüsselrolle spielte, wurde für die Bundesrepublik recht gut durch die von Lepsius (1961) im Auftrag der DFG verfaßte, aber auch von anderen Sozialwissenschaftlern515 beratene und verantwortete, >Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft umrissen. Dort findet sich nach einer Darlegung zum Vergesellschaftungsprozeß als dem spezifischen Erkenntnisobjekt der Soziologie folgende Fassung des Projekts einer empirisch orientierten Soziologie: »International wird die Soziologie heute als eine generalisierende empirische Wissenschaft verstanden, die nicht nur spekulativ ein Seinsollen postuliert, sondern durch die Aufstellung von Hypothesen die durch empirische Forschung verifiziert oder falsifiziert werden Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge im Ablauf des sozialen Lebens erstrebt und zu generellen Aussagen verbindet. Schrittweise hat sich die Soziologie von geschichtsphilosophischen Deutungsversuchen und sozialen und politischen Reformprogrammen abgesetzt und die soziologische Analyse unter Ausschluß biologischer, geographischer und psychologischer Analogien als empirische Forschung entwickelt. Diese Bestimmung der Soziologie als empirische Wissenschaft schließt die Selbstreflektion ihrer philosophischen und anthropologischen Voraussetzungen keineswegs aus. Dies gehört vielmehr als »Metasoziologie« unmittelbar zur Wissenschaft der Soziologie« (31). Das akademische Projekt einer wissenschaftlich und empirisch arbeitenden Soziologie wurde damit zunächst als ein Projekt der Distinktion gefaßt: Distinktion von »Sozial- und Geschichtsphilosophie«, von »impressionistischer Kultur- und Zeitkritik« (5), von normativ orientierter Wissenschaft, von sozialen und politischen Programmen sowie von den erkenntnistheoretischen Programmen benachbarter Disziplinen (Biologie, Geographie, Psychologie). Angestrebt wurden Aussagen über Wirkungszusammenhänge, die auf dem Wege hypothesentestender Forschung zu gewinnen waren. Der empirischen Sozialforschung wurde so eine zentrale Stellung eingeräumt. Grundlage dieser empirischen Forschung war die Statistik: »Sie stellt wesentliche Werkzeuge zur Beschreibung und Analyse empirischer Daten zur Verfügung. (...) Im Zusammenhang mit Bestrebungen zur mathematischen Formalisierung sozialwissenschaftlicher Aussagen gewinnt darüber hinaus auch die Mathematik an Bedeutung« (35). Ohne explizit von Gesetzen zu sprechen, wurden überkulturelle und zeitlose »allgemeine Sätze« (8) als Ziel soziologischer Erkenntnis formuliert. »Praktisch-politischer Gestaltungswillen« (8) konnte allenfalls ein Motiv der wissenschaftlichen Arbeit sein. Soziologie und die politischen Wissenschaften sollen einen Beitrag zur Entideologisierung und Aufklärung gesellschaftlicher Diskurse leiten. Unter Bezug auf Plessners Formel von der nnstitutio-

-

Neben einzelnen Vertretern der Psychologie (Peter R. Hofstätter), der Rechtswissenschaften (Werner Maihofer), der Nationalökonomie (Elisabeth Liefmann-Keil) und der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Friedrich Lütge), finden sich insbesondere Vertreter der Politikwissenschaften (Arnold Bergsträsser, Theodor Eschenburg, Otto von der Gablentz) und der Soziologie (Helmuth Plessner, Helmut Schelsky, Otto Stammer).

IV. Bilder und Leitbilder der

empirischen Sozialforschung

215

nalisierten Dauerkontrollebeengt< sind oder aber der Vörstellungswelt einer vergangenen Gesellschaftsgeneration entsprechen« z.B. von Croner (1959:398) formuliert. Er warf seinen Kollegen vor, »nicht die Geduld zu haben, die Realität, die sie erforschen wollen, wirklich zu durchdringen«; die Soziologie müsse den Mut haben, »sich im stürmischen Meer der gesellschaftlichen Beobachtung freizuschwimmen ohne die Korkgürtel, die wir von unseren Großvätern geerbt haben« (399). Seine Vision einer radikal empirischen Soziologie wurde zur Verheißung: -

»Hat man nur die Kraft und die Geduld, mit seinen Schlußfolgerungen zu warten, und ist man auf nichts anderes aus, als auf klar dokumentierte Fragestellungen einfache Tatsachenantworten zu erhalten, dann geschieht eines Tages das Wunder, das für alle exakten Wissenschaften kennzeichnend sl6

Diese Wendung entstammt Plessners Rede zur Eröffnung des Soziologentages 1959. Sie wurde in dem Gutachten jedoch falsch wiedergegeben. Plessner hatte gesagt: »Eine institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und in wissenschaftlicher Form und nur das ist Soziologie als Fach -, rechtfertigt sich allein gegenüber einer Wirklichkeit, die überlieferten Normen immer wieder davonläuft, weil Richtung und Geschwindigkeit von ihnen nicht mehr eingefangen werden« (1959:15). Der bei Plessner wichtige Zusatz »in kritischer Absicht« wird im Gutachten unterschlagen. -

517

Vgl. Lepsius (1961:69).

216

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

ist: eines Tages fangen die Tatsachen an »zu sprechen«, weil sie nämlich richtig und problemgemäß befragt worden sind« (399). Das Programm einer wissenschaftlich orientierten empirisch fundierten Soziologie entwickelte seine eigene Dynamik, auch als das Programm einer Generation. Scheuch beschrieb das Selbstverständnis der Exponenten dieses Unternehmens Soziologie rückblickend: »In der Prägephase der Neuentwicklung des Faches in Deutschland teilte sich das überschäumende Selbstvertrauen einer sich in der raschen Entwicklung befindlichen Disziplin von zentraler Bedeu-

tung für alle Sozialwissenschaften mit. Diese Gewißheit wurde in erster Linie übermittelt durch die »Jungtürken«, vorrangig der Jahrgänge 1926 bis 1930, die im Zuge des Studienaustausches in den

Vereinigten Staaten eine Ausbildung als Sozialwissenschaftler erhielten« (1990a:42). Diese Dominanz einer vorrangig empirisch orientierten Soziologie, hypostasiert in dem >Alleinvertretungsanspruch< einzelner Sozialforscher oder in der Etikettierung von Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit, hat im sozialwissenschaftlichen Feld dezidierte Gegenreaktionen hervorgebracht.

b) Sozialforschung als Schlüssel zu einem wissenschaftlich fundierten Projekt der Sozialreform, Gesellschaftskritik und -Veränderung Die Ursprünge der Soziologie waren eng mit dem Anliegen der (gesellschaftlichen) Kritik und Reform sowie mit Vorstellungen der gesellschaftlichen Emanzipation verknüpft. Über ein allgemeines Verständnis von der Rolle wissenschaftlichen Wissens im Prozeß der Aufklärung hinaus waren diese Vorstellungen mehr oder weniger eng an die großen weltanschaulichen Lagerungen gebunden, die die deutsche Gesellschaft geprägt haben. Die >Erfahrungen< des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit der Novemberrevolution, haben jedoch zu einer schrittweisen Veränderung der Diskurse über Politik und Gesellschaft in den weltanschaulich gebundenen Lagern und deren Organisationen geführt, verbunden mit einer fortwährenden Erosion ihrer Bindungskräfte. Es läßt sich beobachten, wie beginnend mit den Arbeiten des Vereins für Socialpolitik und auf breiterer Basis in der Weimarer Republik empirisch

fundiertes Wissen über das Soziale neben und zunehmend auch an die Stelle einer weltanschaulichen Legitimation der Optionen politischen Handels trat. Im Laufe dieses Prozesses hat sich eine Differenzierung sozialreformerischer, gesellschaftskritischer und -verändernder Optionen mit wissenschaftlichem Anspruch eingestellt. Sie sollen hier durch drei Ansätze repräsentiert werden: durch die im Kontext der Frankfurter Schule entwickelten Ansätze einer Sozialforschung in kritischer Absicht, durch Ansätze zur wissenschaftlichen Fundierung von Sozialreform und Sozialpolitik, wie sie z.B. von Gerhard Weisser entwickelt wurden, und durch Ansätze einer wissenschaftlich orientierten Gesellschaftskritik und -Veränderung, wie z.B. im Kontext der Gewerkschaften formuliert wurden. In seiner Antrittsvorlesung hatte Horkheimer 1931 die Polemiken der zeitgenössischen Sozialphilosophie gegen den Positivismus kritisiert. Demge-

IV. Bilder und Leitbilder der

empirischen Sozialforschung

217

genüber

forderte er, daß Philosophen mit Soziologen, Nationalökonomen, Historikern und Psychologen gemeinsam das tun sollten, »was alle echten Forscher immer getan haben: nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen anhand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren« ([1931] 1972:41). Dieses Programm und insbesondere das darin erkennbare Verhältnis zum Positivismus wurde von Adorno und Horkheimer bereits in der Dialektik der Aufklärung ([1944] 1984:18) entscheidend modifiziert518; das spielte für die Kritik der dominanten Ansätze der empirischen Forschung in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle. Dessen ungeachtet blieb jedoch der Wunsch nach einer Versöhnung von Sozialphilosophie bzw. Gesellschaftskritik und Tatsachenforschung virulent. In verschiedensten Beiträgen wurden die Schwierigkeiten bzw. das Scheitern dieser Verknüpfung beklagt (Brandt 1981, Bonß 1982:7, Brunkhorst 1986). Es zeichnete den Frankfurter Ansatz aus, daß die dort formulierte Gesellschaftskritik nicht als weltanschaulich sondern als sozialphilosophisch begründet verstanden wurde. Trotz des gesellschaftskritischen Impetus hatte dieser Ansatz durchaus Nähen zum Projekt einer wissenschaftlichen Soziologie und Sozialforschung. Steinert machte darauf aufmerksam, daß mit dem Projekt der Kritischen Theorie eine neue Form der »Praxisabstinenz«

verknüpft war,

»die sich ihrerseits gesellschaftstheoretisch legitimiert, nicht abstrakt als »Wertfreiheit«, sondern aus der Einschätzung, in der gegebenen historischen Situation bedeute der Zwang zur Praxis, daß die Wissenschaft mißbraucht wird. Kritik der Gesellschaft und die Erhaltung der Kritikfähigkeit des Sozialwissenschaftlers und Intellektuellen setzen voraus, daß die Zumutungen der politischen Praxis zunächst abgewiesen werden« (1990b:25).

50 hat die Kritische Theorie

implizit einen nicht unwichtigen Beitrag zur Akademisierung von Soziologie und Sozialforschung geleistet. Das sozialpolitische Leitbild empirischer Sozialforschung hing aufs engste

mit dem Entstehungskontext und der Arbeit des Vereins für Socialpolitik zusammen. Es galt, den liberalistischen Dogmen der klassischen politischen Ökonomie entgegenzutreten; man wollte mit Mitteln der Tatsachenforschung und der Ursachenanalyse gesellschaftliche Mißstände in den Arbeitsbeziehungen, im Wirtschafts- und Sozialleben deutlich machen und den Weg für politische Interventionen vorbereiten. Damit war auch eine Frontstellungen gegen konkurrierende Wirklichkeitsdeutungen, wie dem Gegensatz von Kapital und Arbeit, verknüpft. Von Zwiedineck-Südenhorst, Nestor der Sozialpolitik, sah diese sozialpolitische Orientierung mit einer For51

Demirovic relativiert jedoch auf Basis der von ihm ausgewerteten Protokolle die landläufige Lesart der »Dialektik der Aufklärung« als Ausdruck einer pessimistisch-resignativen Einstellung. Aus den Protokollen entstehe der Eindruck, »daß beide Autoren, zumindest aber Adorno, die apodiktischen Aussagen der »Dialektik der Aufklärung« umkehrten und als Steinbruch für theoretische und empirische Fragestellungen benutzten« (1990:161f).

218

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

schungsarbeit verknüpft, »die der Aufhellung der vom Klassenhaß und imnoch wirksamen Klassengegensatz im tiefsten Dunkel gehaltenen soziologischen Voraussetzungen einer menschlichen Annäherung zwischen den an der produktiven Arbeit Beteiligten dienen soll« (1952:340). Für eine spezifische Position der Verknüpfung einer >normativen< mit einer >explikativen< Sozialwissenschaft stand der Ansatz Gerhard Weissers. Er ging von der Vorstellung aus, daß eine zunehmend komplexere Gesellschaft mer

einen wachsenden Bedarf an Wissen entwickle, »daß die Kunst der Gesellschaftsgestaltung heute auf eine Höhe der Schöpferkraft gebracht werden muß, die sie in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte nicht zu erreichen brauchte« (1956:2). Auch wenn dieses Wissen durch die Anwendung quantifizierender Verfahren präziser geworden sei, konstatierte Weisser, daß es nie hinreichen könne, die Abläufe des Lebens vollständig zu bestimmen; so bleibe den >Gesellschaftsgestaltern< den Politikern und Sozialpädagogen immer ein Wagnis, »aber die Wissenschaft kann ihm helfen, mit Bedacht zu wagen« (5). Weisser begriff die Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Beratung als eine der »Synthese von geschichtlichem und auch systematisch >soziotechnischem< sowie sozialpädagogischem Denken« (8). Die Sozialwissenschaften müßten über den empirischen Befund hinaus, Systeme begründeter Ratschläge und Warnungen entwickeln unter Offenlegung der darin implizierten Grundannahmen; so habe die wissenschaftliche Analyse zunächst auch die Grundanliegen der Handelnden zu interpretieren519. Gegenüber dieser Orientierung am Gedanken einer >bürgerlichen Soziaire form< nahm die frühe industriesoziologische Forschung einen stärker gesellschaftskritischen Impetus für sich in Anspruch. Mit der an der Industriesoziologischen Forschungsstelle des WWI erstellten Studie >Arbeiter, Management, Mitbestimmung< verbanden die Autoren (Pirker, Braun, Lutz, Hammelrath) ein spezifisches Selbstverständnis eines anwendungsbezogenen aber zugleich an wissenschaftlichen Standards orientierten Forschungsansatzes; Forschungsarbeit wurde als politische Arbeit begriffen, aber man wollte sich nicht in die Logik der politischen Organisation Gewerkschaft einbinden lassen. Man wollte über die industriesoziologische Forschungsarbeit »einen unmittelbaren Beitrag zur Rationalisierung der sozialen Vorgänge in der Industrie leisten, ohne durch diesen Beitrag die Anforderungen der Wissenschaftlichkeit zu vernachlässigen« (Pirker u.a. 1955:11). Sie wollten sich nicht der Stellungnahme enthalten, auf Beratung bzw. das Aufzeigen möglicher Lösungen verzichten; aber die Sozialwissenschaft sollte von politischer Theorie, Forschung von Aktion getrennt werden. Man wollte qua wissenschaftlicher Expertise einen Beitrag zur »Entideologisierung der Debatte um die Mitbestimmung und um die soziale -

-

»Es wird

interpretiert,

was

gewollt wird oder gewollt werden würde, wenn der völlig klar wäre. Eine Aussage darüber, ob er dies wollen

tatsächlich

Handelnde sich über seine Anliegen sollte, wird nicht gemacht« (7).

IV. Bilder und Leitbilder der empirischen

Sozialforschung

219

Ordnung des industriellen Großbetriebs« leisten, »einen Versuch der Klärung und Aufklärung« unternehmen« (11). Später hat Pirker diesen Ansatz als »intentionale Sozialforschung« bezeichnet; er begriff Forschung als Politik, grenzte sich aber explizit von dem in den siebziger Jahren propagierten

der >arbeitnehmerorientierten Wissenschaft ab und distanzierte sich von Vorstellungen der Parteilichkeit520. »Weder Wissenschaft noch Gewerkschaft« liebten so Pirkers Einschätzung »diese Form des selbstbewußten Auftretens von Sozialforschern« (68). Damit geriet er in eine prekäre Zwischenlage: das politische Feld der fünfziger Jahre war nicht unerhebim wissenschaftlilich durch das Paradigma des kalten Krieges weder >Kölner< noch mit der Feld ließ sich dieses mit der chen Konzept >Frankfurter< Position vereinbaren.

Konzept

-

-

geprägt521;

c) Sozialforschung als Sozialtechnologie Die sozialtechnologisch orientierten Leitbilder zeichneten sich dadurch aus, daß Sozialforschung weit stärker als Dienstleistung für einen bestimmten Politikbereich oder für bestimmte Institutionen (des Staates, der privaten Wirtschaft etc.) begriffen und auf einen weltanschaulichen bzw. gesellschaftskritischen Rahmen verzichtet wurde. Die Grenzen zwischen dem Projekt einer sozialtechnologisch orientierten Sozialforschung und dem zuvor analysierten Leitbild einer Sozialforschung im Dienste gesellschaftlicher Reform waren sicherlich fließend. Die empirische Forschung sollte einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Rationalisierungsprozeß leisten. In einer Stellungnahme der Gesellschaft für soziale Betriebspraxis522 wurde die Vorstellung entwickelt, daß es ähnlich wie im technischen und betriebswirtschaftlichen Bereich auch im sozialen Bereich zu einer stärkeren Förderung wissenschaftlicher Forschung kommen

müsse:

»Die deutsche Forschung hat auf diesem Gebiet einen großen Rückstand aufzuholen (...). Der große Vorsprung der amerikanischen Industrie dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, daß die einzelnen

»Unsere Gruppe hatte kein Vorbild an dem wir uns orientierten. (...) Wir nahmen die Soziologie erst einmal dazu, unsere Kenntnisse und Erfahrungen mit der Gesellschaft, in der wir lebten, anzureichern. Wir wollen nicht gleich hinausgreifen zu theoretischen Entwürfen und Utopien. Aus dieser Erfahrung heraus wollten wir dann erste Entwürfe reflektorisch entwickeln« (Jander 1988:75). Pirker berichtete, man habe ihn in der Gewerkschaft zum »trotzkistischen Syndikalisten« ge(74). stempelt ,22 Die Gesellschaft und der damit verknüpfte Verein für soziale Betriebspraxis waren 1952 u.a.

Arbeitsdirektoren aus der Eisen- und Stahlindustrie, Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Vertretern des WWI gegründet worden, um »die betriebliche Sozialwirtschaft in den der Mitbestimmung unterliegenden Unternehmen wissenschaftlich und praktisch zu entwickeln und zu koordinieren« (Hemmer/ Quast 1979:57). Im Rahmen dieser Arbeit hatte die Gesellschaft auch die Publikation der Studie > Arbeiter, Management, Mitbestimmung < übernommen. Aus dem Verein ging später die Hans-Böckler-Gesellschaft, eine Vorläuferorganisation der Hans-Böckler-Stiftung, hervor. von

220

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

Werke hohe Summen auch für soziale Soziale Betriebspraxis 1955:9).

Forschungsaufgaben zur Verfügung stellen« (Gesellschaft für

In der redaktionellen Vorbemerkung zu einem thematischen Schwerpunkt >Sozialforschung und Gesellschaftsgestaltung< hieß es in der Sozialen Welt: »Die »Soziale Welt« hat ihre soziologischen Analysen stets in den Dienst des gesellschaftlichen Lebens gestellt und damit der Praxis der Gesellschaftsgestaltung dienen wollen. Dabei kam es ihr nicht nur auf die öffentliche Sozialpolitik, sondern vor allem auch auf die soziale Praxis »vor Ort« in Betrieb und Gemeinde an. Die Zeitschrift ist hierbei bemüht, der Praxis besonders auch Ergebnisse modemer messender Soziologie zur Verfugung zu stellen, die ein hohes Maß an Zuverlässigkeit beanspruchen können. Selbstverständlich sind diese Messungen nicht Selbstzweck. Stets wurden in den Abhandlungen der Zeitschrift Folgerungen fur den Gebrauch der Praxis gezogen, also Empfehlungen und Warnungen ausgesprochen« (1956:1). Ein besonderer Akzent der sozialtechnologischen Optionen in Soziologie und Sozialforschung lag in der Hoffnung auf eine >Entideologisierung< und >Entleidenschaftlichung< (s.u.) sozialer Konflikte. In diesem Sinne sah Jantke eine Möglichkeit der Versachlichung der Debatten um die Sozialreform, »seitdem die Soziologie im Rahmen ihrer Analyse sozialer Gebilde und Prozesse auch den Industriebetrieb in seiner spezifischen Gestalt zu durchleuchten vermag« (1952:138). Die Entwicklung einer solchen »wirklichkeitsnahen Sozialforschung« (133) verknüpfte Jantke nicht mit den Arbeiten des Vereins für Socialpolitik, sondern erst mit der soziographischen Methode (Steinmetz) und der modernen Sozialforschung amerikanischen Ursprungs, die aus einer spezifischen Anwendungsorientierung der amerikanischen Soziologie hervorgegangen sei. Die Rolle des Sozialforschers verglich Jantke mit der des Richters, den er mit einem Wort Eugen Rosenstocks als >»Spezialist für Entleidenschaftlichung« (139) beschrieb. Während bei Jantke noch recht stark der gestaltende Aspekt betont wurde, wurde Sozialforschung bei Neuloh und Hoffmann stärker in instrumenteller Perspektive begriffen; man lehnte sich an populäre Vorstellungen von den Aufgaben eines Arztes oder Technikers an. Neuloh (1950a) postulierte, Sozialforschung solle »die Ordnungsgesetze des Sozialen erkennen, Störungen bzw. ihre Ursachen benennen und Mittel zu ihrer Beseitigung bereitstellen«. Für die Erforschung möglicher Interventionen vor allem aber für die Erforschung von Störungen und ihren Ursachen kam der angewandten Sozialforschung523 in Neulohs Konzept eine besondere Bedeutung zu. »Sie muß den Mut zum Experiment haben und somit der empirischen Methode den absoluten Vorrang geben. Sie muß damit auf die Idee (...) einer systematischen Theorie vorläufig Verzicht leisten und einem Pragmatismus huldigen, der in weiten Bereichen der Forschung als unwissenschaftlich

bezeichnet wird. Dazu muß der Sozialforscher mitten im Betrieb, in der Familie, im Haushalt, in der Gemeinde, in der Schule seine Untersuchungen durchführen« (11).

Als ein »Problem der typisch deutschen Situation« bezeichnete Neuloh, daß der Gründlichkeit der reinen Forschung kein entsprechender »Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis«

gegenübersteht (1950a:ll).

IV. Bilder und Leitbilder der empirischen

Sozialforschung

221

Neuloh betonte den interdisziplinären Charakter einer solchen angewandten Forschungsarbeit und begriff die so zu qualifizierenden Sozialforscher als »Ärzte des sozialen Lebens« (13)524. Von besonderer Bedeutung waren die sozialtechnologischen Leitbilder im Bereich der Marktforschung. Auch in der amtlichen Statistik, insbesondere soweit sie sich an der sozialstatistischen Tradition von Mayrs orientierte, oder in der >Bevölkerungsforschung< dominierte die Vorstellung einer wertneutralen Forschung, die auf empirischem Wege Wissen über soziale Problemlagen gewinnt und die Wirkung verschiedener Interventionen abschätzt. Auch die in den sechziger Jahren in Deutschland verstärkt angewandte Evaluations- und Wirkungsforschung, die in den USA bereits eine weit längere Tradition hatte, war stark von einem sozialtechnologischen Im-

petus geprägt.

Zwischen den hier beschriebenen Leitbildern lassen sich keine harten Abgrenzungen ziehen: es waren eher drei Pole eines Feldes, auf dem sich verschiedene Konzepte der Sozialforschung und die Selbstverständnisbekundungen von Sozialforschern verorten lassen. So standen insbesondere das wissenschaftsorientierte und das gesellschaftskritische/ sozialreformerische Projekt sowie das sozialreformerische und sozialtechnologische Projekt in einem engen Bezug. Die Differenzierung nach den Schulen der Nachkriegssoziologie verstellt den Blick auf die Gemeinsamkeiten der frankfurter« und >Kölner Soziologie^ die sich trotz des beobachtbaren Dissens über die gemeinsame Orientierung an dem Projekt einer wissenschaftsorientierten Soziologie einstellte. Vermutlich lag in diesen Allianzen auch ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg des Projektes empirische Sozialforschung. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wird deutlich, daß die Leitbilder empirischer Sozialforschung, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren beobachten lassen, im engen Zusammenhang mit der Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts standen. In ihnen spiegelten sich Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse der Sozialwissenschaften im allgemeinen und der Sozialforschung im besonderen. Bereits in den Anfangen der Soziologie hatten sich mit der Herausbildung einer stärker ordnungspolitischen und einer stärker emanzipatorischen Orientierung erste Strukturen eingestellt, die später die soziologische Landschaft prägen sollten. Mit den Auseinandersetzungen um die Werturteilsfrage und der Differenzierung zwischen einer an Kathedersozialismus und Sozialreform orientierten Sozialpolitik und einer akademisch orientierten stärker formalen und wertfrei orientierten Soziologie kam eine neue Dimension der Differenzierung hinzu, die nur bedingt mit der Dichotomie von Ordnungs- und Befreiungsdenken so die Frankfurter Diktion zusammenfiel. Aus dem Kontext der Nationalökonomie und des Vereins für Socialpolitik -

524

Vgl. auch Hoffmann (1952:335) und Bahrdt (1954:73).

-

222

B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

spezifische Vorstellung schung hervorgegangen:

war

eine

von

Sozialwissenschaft und Sozialfor-

»Eine praxisorientierte, an »sozialen Problemen«, an Gesellschaftsreform und am Ausgleich von sozialen Benachteiligungen, zugleich am wohlverstandenen Interesse der Wirtschaft, an den Bestrebungen eines aufgeklärten und menschenfreundlichen Unternehmertums, am Wohl und an den Eingriffsmöglichkeiten des Staats ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialwissenschaft« (Steinert

1990b:23).

Demgegenüber hatte sich die Vorstellung von einer professionellen Soziologie etabliert, »die nach akademischer Respektabilität und nach der Abgrenzung eines eigenen und exklusiven Gegenstands strebte (...), womit auch die Trennung der Soziologie von der Nationalökonomie eingeleitet wird« (23). Hinter dieser Option für eine wissenschaftsorientierte akademische Soziologie verbarg sich jedoch ein durchaus breiteres Spektrum theoretischer Orientierungen und methodischer Zugänge, das sich zum einen durch den Bezug auf eher nationalökonomische bzw. eher philosophische Wissensbestände und zum anderen durch den Bezug auf eher erklärende, naturwissenschaftlich orientierte, bzw. eher verstehende, phänomenologisch und

hermeneutisch orientierte, Wissenschaftsverständnisse charakterisieren läßt. Schließlich kam der Ausdifferenzierung des sozialwissenschaftlichen Expertentums mit spezifischer empirischer Kompetenz aber ohne fachwissenschaftliche Einbindung eine besondere Bedeutung zu. Diese Ausdifferenzierung begann mit der Etablierung der amtlichen Statistik und hat sich mit der Einrichtung von hochschulfreien und marktorientierten Forschungsein-

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richtungen fortgesetzt525. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß das Spektrum der zeitgenössischen Stellungnahmen zur empirischen Sozialforschung und die Sinnkon-

verortet wird, in hohem Maße den überlieferten < Strukturen des wissenschaftlichen Feldes geschuldet waren. Das Novum einer

texte, in denen sie

sich rapide ausweitenden und professionalisierenden Sozialforschung und der akademischen Institutionalisierung der Soziologie führten in dieser Entwicklungsphase allenfalls dazu, daß sich die Diskurse neu gliedern, das Repertoire verändert sich nur sehr langsam.

V.

V.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase«

223

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase
reinen < Empiristen benennen« (1989:30). Es ist jedoch zu fragen, ob die Ausbildung dieser professionalisierten Experten nicht weit früher anzusetzen ist.

224

B.

Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase< (1949-1965)

beitung; zum anderen Diskurse um die Verwendung des so gewonnenen empirischen Wissens, die im Kontext eines längerfristigen Veränderungsprozesses der Diskurse um die soziale Welt standen. Mit Mitteln der empirischen Sozialforschung >erzeugte< und legitimierte Wissensbestände erlangten für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eine zunehmende Bedeutung und führten in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu einer Veränderung der Diskurse um die soziale Welt und ihre politische Planung, Gestaltung bzw. Steuerung. Damit ging eine veränderte Sicht auf die Probleme des Sozialen, auf die Strategien der Intervention in diese Prozesse und ihre argumentative Legitimierung einher; d.h. die vermeintlich schnelle Durchsetzung der neuen Forschungsmethoden ruhte auf einem längerwährenden Transformationsprozeß der Diskurse über das Soziale auf. Das >Vordringen< der empirischen Sozialforschung in verschiedenste Anwendungsfelder, ging mit einer Veränderung der dort etablierten Wirklichkeitsperspektiven, Sprachregelungen etc. einher. Das Unternehmen Empirische Sozialforschung hatte als das Projekt, als das es auf der Tagung 1952 erschienen war, in dieser Form keinen Bestand. Dennoch kam es in den folgenden Jahren zu einer Etablierung der empirischen Sozialforschung, in dem Sinne, daß sich die Produktion und Verwendung empirisch fundierten Wissen über die soziale Welt in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern und in verschiedenen Formen institutionalisierte. In dieser Phase stellte sich nach und nach die >kritische Masse< (Lazarsfeld) ein, deren Fehlen bislang dem Ausbau der empirischen Sozialforschung im Wege stand. Diese Entwicklungen markieren den sich abzeichnenden Erfolg des verschiedene Produktionskontexte überspannenden Unternehmens empirische Sozialforschung«; innerhalb der einzelnen institutionellen Kontexte verliefen diese Veränderungen jedoch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Entwicklungslogiken. Der Erfolg des Unternehmens läßt sich nur über das Zusammenspiel der verschiedenen Produktionskontexte begreifen. Dementsprechend muß eine Analyse der empirischen Sozialforschung die ganze Breite der Produktionskontexte empirischen Wissens über die soziale Welt beachten; damit wird auch eine Kritik an den ausschließenden Konstruktionen einer Entwicklungsgeschichte der akademischen Soziologie auf-

gegriffen526. 526

Schelsky monierte in seiner Stellungnahme zu Lepsius (1979) eine »lehrstuhlhaft vereinsbezogene Darstellung der Soziologie der Bundesrepublik« (1980a:446), die sich an den Strukturen des konsolidierten Fachs orientiere, damit aber wesentliche Entwicklungsmomente vernachlässige. So werde die Rolle der von der Nationalökonomie und Sozialpolitik herkommenden Soziologen heruntergespielt. Er kritisierte auch die unzureichende Berücksichtigung der Fachvertreter jenseits des mainstream (z.B. Neundörfer, Neuloh, Weißer), der konfessionell geprägten Forschungsinstitute, der Gewerkschaften (447) und der Meinungsforschungsinstitute (448). Scheuch konstatierte, daß »die wichtigste Entwicklung einer Infrastruktur professioneller Sozialforschung« (1990a:43) über die Markt- und Meinungsforschung verlief. Auch jüngere Darstellungen zur Geschichte der empirischen Sozialforschung (Hopf/ Müller 1994) oder die autobiographischen Sammlungen von Fleck (1996) und Bolte/ Neidhardt (1998) werden dieser erweiterten Perspektive nicht gerecht.

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Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase«

225

Die Produktion empirischen Wissens Von der Seite der Produktion empirischen Wissens aus betrachtet, erscheint dieser Prozeß als ein durchaus konsistentes Projekt: man arbeitete bei der Erforschung des Sozialen mit einem überschaubaren Fundus von Erhebungs- und Auswertungstechniken, der, was die statistischen Verfahren betrifft, prinzipiell auch in anderen wissenschaftlichen Feldern eingesetzt wurde; man arbeitete mit wissenschaftlich exakten Methoden. Das war der Kern des Unternehmens Empirische Sozialforschung, und damit grenzte man sich von anderen wissenschaftlichen und politischen Diskursen über das Soziale ab. Diese Entwicklung stand im Kontext eines allgemeinen Technisierungsund Verwissenschaftlichungsprozesses, dessen Spuren über die Militär- und Weltraumtechniken, den wachsenden Technikeinsatz in Betrieben und Verwaltungen, aber auch im Alltagsleben für alle wahrnehmbar waren: in der Vernichtungsmaschinerie des Krieges, später auch in einer spürbaren Verbesserung des Lebensstandards für breite Bevölkerungsgruppen. Vor diesem Hintergrund sollte mit wissenschaftlichem Mitteln auch ein Beitrag zur >Rationalisierung< des wirtschaftlichen527, politischen und sozialen Lebens erbracht werden, ein Beitrag zur gesellschaftlichen Demokratisierung nach der Katastrophe der totalitären Herrschaft. Empirisches Wissen sollte aufklärend wirken und zum Ausgangspunkt eines >wissenschaftlich< und nanicht länger ideologisch tional« begründeten Veränderungsprozesses werden. Damit waren spezifische Formen der gemeinsamen Selbstverständigung der dort wirkenden Akteure verknüpft; man rekurrierte implizit oder explizit auf die Erfolgsgeschichte der amerikanischen Sozialforschung, man erschloß neue Arbeitsfelder und lieferte einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt. Mit dem neuen Zugriff auf die Phänomene des Sozialen konnten diese Phänomene auch in einer neuen Weise als >soziale Probleme< definiert werden. Man war in mehrfacher Hinsicht Pionier. Soweit läßt sich der common sense des Unternehmens Empirische Sozialforschung beschreiben. Was genau unter einem solchen Rationalisierungsprozeß verstanden wurde, in welcher Richtung und Reichweite man gesellschaftliche Reformen begriff, welche Rolle der Staat dabei spielte und welche Rolle einer Wissenschaft vom Sozialen zukam, das war jedoch durchaus kontrovers. Auch in den Forschungspraktiken und im methodischen Bereich war dieses Unternehmen Empirische Sozialforschung keinesfalls konsistent; die Anforderungen und Probleme, die sich in den einzelnen Produktionskontexten empirischen Wissens in der Markt- und Meinungsforschung, der amtlichen Statistik und in der wissenschaftlichen Sozialforschung stellten, waren recht unterschiedlich: so wurden entsprechend den Anforderungsstrukturen der einzelnen Bereiche verschiedene Forschungsdesigns -

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Analog zur scheinbar erfolgreichen Etablierung gesamtwirtschaftlicher Steuerungsinstrumente nach der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise sollte auch der Bereich des Sozialen einer verstärkten Steuerung unterworfen werden.

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B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

und sehr verschiedene Verfahren der Datengewinnung eingesetzt; auch die typischen Techniken der Datenaufbereitung und Analyse unterschieden sich vermittelt über unterschiedliche Forschungsfragen und Erkenntnisinteressen erheblich. Dennoch war eine erste Infrastruktur dieser neuen Disziplin entstanden: neuen Foren und Medien des Diskurses (Zeitschriften, Kongresse, Fach- und Berufsorganisationen), die über ihre Selektionskriterien auch neue Regeln des Diskurses etablierten und die Abgrenzung zu anderen Disziplinen vorantrieben. In den soziologischen Fachzeitschriften wurde ab Mitte der fünfziger Jahre eine wachsende Beschäftigung mit methodischen Fragen und mit den Befunden empirischer Forschung erkennbar52 Die einzelnen Produktionskontexte empirischen Wissens waren in unterschiedliche gesellschaftliche Praxisfelder eingebunden, sie bezogen sich auf unterschiedliche Wissenschaftskulmren; sie waren mit unterschiedlichen Leitbildern von Wissenschaftlichkeit, ökonomischer Effizienz und politischer Rationalität verknüpft. Die Markt- und Meinungsforschungsinstitute waren mehrheitlich für Auftraggeber aus der Privatwirtschaft, für öffentliche Verwaltungen sowie für Parteien und Verbände tätig. Es ging um die Produktion anwendungsbezogenen Wissens zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich, das mit gewissen Insignien der Objektivität und Wissenschaftlichkeit ausgestattet sein mußte; Entscheidungen sollten nach rationalen Gesichtspunkten getroffen werden und begründbar sein. Daher ging mit der Anwendung wissenschaftlichem Wissens in diesen Bereichen auch eine Veränderung der Diskurse und eine Veränderung der Legitimationsmuster von Entscheidungen einher. Die eingesetzten Methoden der empirischen Forschung, insbesondere die Erhebungsverfahren, sollten möglichst kostengünstig sein, ohne jedoch den Wissenschaftlichkeits- und Objektivitätsanspruch zu gefährden. Es entwickelte sich ein Forschungsmarkt bzw. in größeren Unternehmen wurden eigene Forschungen unternommen. Am Forschungsmarkt spielte neben dem Kostenaspekt auch die >Seriosität< der Forschungsinstitute eine wichtige Rolle; man mußte sich dementsprechend auch um eine Qualitätssicherung bemühen. Die amtliche Statistik arbeitete demgegenüber eher marktunabhängig; sie erbrachte nach politischen und administrativen Vorgaben Dienstleistungen für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, indem sie systematisch bestimmte Rahmendaten des wirtschaftlichen und sozialen Lebens erhob und für verschiedene Anwendungen aufbereitete. Die neuen Möglichkeiten der repräsentativen Umfrageforschung stellten eine Herausforderung der amtlichen .

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Vgl. dazu die von Sahner durchgeführte Analyse der Beiträge in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften (1982a:143f). Nach der Auswertung von Krekel-Eiben (1990:225) stieg der Anteil der empirisch orientierten Beiträge (im Unterschied zu theoretisch orientierten Beiträgen) von 10,8% (1946-1950) über 16,0% (1951-1955) auf 25,7% (1956-1960). Für das folgende Jahrfünft ging er auf 20,1% zurück.

V.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase«

227

Statistik dar. Mit der Einrichtung des Mikrozensus versuchte man, dem Bedarf nach kurzfristiger erhobenen Daten über Démographie und Erwerbsleben nachzukommen. Der sich im Kontext des Planungsdiskurses allmählich entwickelnde >Bedarf< von öffentlichen Verwaltungen nach einer fortlaufenden Berichterstattung über ihr Arbeitsfeld wurde jedoch weniger von der amtlichen Statistik sondern vielmehr von privatwirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen gedeckt, die die neuen Instrumentarien der empirischen Sozialforschung flexibel einsetzen konnten und die in der Regel auch eine Auswertung der erhobenen Daten vorlegten. Dennoch erfuhr die amtliche Statistik eine erhebliche Ausweitung, und es kamen stärker wissenschaftlich qualifizierte Kräfte zum Einsatz. Die hochschulnahen und hochschulfreien wissenschaftlich orientierten Forschungsinstitute bildeten sich zunächst aus spezifischen örtlichen Institutions- und Interessenkonstellationen heraus; erst allmählich kam es zu einem Forschungsmarkt für wissenschaftliche Sozialforschung mit Konkurrenzstrukturen. Es ging in der Regel um anwendungsbezogene Forschungen, die unmittelbar von Auftraggebern z.B. aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltungen bzw. von verschiedenen Einrichtungen der Forschungsforderung finanziert wurden. Zunächst haben die methodischen Innovationen der empirischen Sozialforschung neben den Markt- und Meinungsforschungsinstituten vornehmlich im Bereich der wissenschaftlichen Forschungsinstitute Einzug gehalten; in ihrem Rahmen konnten personelle Ressourcen vergleichsweise kurzfristig mobilisiert und qualifiziert werden. Zudem waren sie für eine anwendungsbezogene und pragmatische Forschungsarbeit vergleichsweise offener als die Hochschulen, die doch zunächst noch recht stark von geisteswissenschaftlichen Grundhaltungen geprägt waren. Die Entwicklung der empirischen Sozialforschung an den Hochschulen verlief verglichen mit den Forschungsinstituten eher in kleineren Schritten; es war ein Nebeneinander von Innovation und Beharrung charakteristisch: die größeren >Zentren< der Nachkriegssoziologie standen der empirischen Sozialforschung eher ambivalent gegenüber. Dennoch gab es einen gewissen Konsens über die Förderung der empirischen Sozialforschung, da ihr wichtige wissenschaftsstrategische Funktionen zukamen. Die Methoden der -

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empirischen Sozialforschung halfen, die Position einer empirischen Soziologie in Auseinandersetzung mit anderen Soziologieverständnissen und mit konkurrierenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu stärken; sie waren

ein Garant der Wissenschaftlichkeit und forderten so die Konsolidierung und Selbstverständigung der jungen soziologischen Disziplin an den Hochschulen. Zudem übernahmen empirische Sozialforschung und Statistik eine wichtige Rolle für die Fachsozialisation, als Initiationsritus und als Übergangsrimal im Kampf gegen Spontansoziologie und soziologisches Alltagswissen. Mit dem Import der >neuen amerikanischen Methoden« und mit der einsetzenden wissenschaftstheoretischen Debatte wurden die Kräftever-

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B.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

hältnisse zwischen den verschiedenen soziologischen >Strömungen< neu definiert und ein verändertes Wissenschaftsverständnis durchgesetzt. Die später auf breiter Basis einsetzende Nachfrage nach soziologischem Wissen wurde zu einem zentralen Argument für den Ausbau der Sozialwissenschaften an den Hochschulen. Mit der Einrichtung von Studiengängen, mit der

einer spezialisierten Methodenausbildung, mit der Publikation Lehr- und Handbüchern kam es zu einer ersten Kanonisierung von Soziologie und empirischer Sozialforschung der Begriff >empirische Sozialforschung< setzte sich in diesem Zeitraum erst allmählich fest529 und zu einem disziplinspezifischen Zugriff auf die soziale Welt. Mit berufsqualifizierenden Studienabschlüssen entstand eine neue Gruppe von disziplinär gebundenen professionell orientierten Akteuren, die ihr spezifisches Qualifikationsprofil zu verwerten suchten. Sie wurden zu Protagonisten für die Aufwertung empirisch fundierten Wissens in den verschiedensten gesellschaftlichen Praxisfeldern. So hat die empirische Sozialforschung für die Etablierung der Soziologie als akademischer Disziplin eine Schlüsselrolle gespielt; umgekehrt hat aber diese akademische Etablierung auch zu einer Konsolidierung und Kanonisierung der empirischen Sozialforschung beigetragen. Die Hochschulen boten einen hinreichend autonomen Raum, so daß sich neben der auftragsgebundenen Markt- und Meinungsforschung, neben der staatsorientierten amtlichen Statistik und neben der pragmatisch orientierten Sozialforschung an vielen Forschungsinstituten eine wissenschaftlich orientierte Sozialforschung etablieren konnte, die sich in Abgrenzung zu anderen Disziplinen durch einen spezifisch soziologischen Zugriff auf die soziale Welt auswies. Die Forschung wurde in den fünfziger und sechziger Jahren vorwiegend aus hochschuleigenen Ressourcen bestritten. Eine durch Drittmittel finanzierte Forschung entwickelte sich nur langsam. Einmal etabliert führte die Binnenentwicklung der empirischen Sozialforschung, der Zuwachs, die Differenzierung und Spezialisierung des Wissens

Einrichtung von

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529

Er war bereits 1952 für die eingangs dargestellte Tagung benutzt worden; parallel sind aber eiReihe weiterer Bezeichnungen in Gebrauch. König sprach gleichfalls 1952 von »praktischer Sozialforschung« und benutzte diesen Begriff noch 1955 und 1956 für eine Reihe von Lehrbüchern. Auf Seiten der Sozialstatistiker wurde von statistischer Sozialforschung gesprochen. In manchen öffentlichen Debatten wurde die empirische Sozialforschung ausgehend von ihrer erfahrbaren Seite als »Umfrageforschung« begriffen. In der Darstellung Sternbergers (1950) zum Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung in Deutschland findet sich ein Abschnitt »Statistik und Soziographie«: der Ausdruck empirische Sozialforschung tauchte in der Darstellung, soweit zu ersehen, nicht auf. Daneben gab es auch einen Abschnitt »Analyse der öffentlichen Meinung«. Lazarsfeld diskutierte noch 1970 (1972:19) die Implikationen verschiedener Begriffe. In Deutschland hat sich der Begriff spätestens mit dem von König 1962 herausgegebenen Handbuch der empirischen Sozialforschung schulübergreifend durchgesetzt, nachdem die Vertreter des Frankfurter Instituts ihn bereits 1956 als Titel ihres Artikels für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften verwandt hatten. Auch Schelsky sprach in seiner Ortsbestimmung (1959) durchgängig von empirischer Sozialforschung. ne

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Empirische Sozialforschung in der >Gründungsphase
konstruierte< und den gesellschaftlichen Diskurs veränderte. um

Verwendung empirischen Wissens Aus der Perspektive der Verwendung empirischen Wissens war das Unternehmen Empirische Sozialforschung von Beginn an recht heterogen. Dieses vergleichsweise neue Wissen wurde im Kontext, in den Modellen und Begrifflichkeiten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen dienstbar gemacht und interpretiert. Es drang nach und nach in viele gesellschaftliche Felder ein und veränderte die Diskurse in Betrieben und Verwaltungen530, in politischen Organisationen, in den Medien wie im Alltagsleben. Diese Transformationsprozesse verliefen jedoch recht langsam; so findet sich z.B. die Klage über das »Fehlen einer soziologischen Öffentlichkeit« (Dahrendorf 1959:149) oder über die Vorherrschaft eines »soziologischen Laienpublikums« (Matthes)531. In all diesen Feldern stieß dieses mit Mitteln der empirischen Forschung generierte Wissen auf etablierte Muster der Realitätsdeutung, der Begründung und Legitimierung von Handlungen und Entscheidungen. Die Verwendung empirischen Wissens setzte einen veränderten Blick auf das Soziale voraus und trug ihrerseits zur Veränderung dieses Blicks bei. Die später konstatierte >Soziologisierung< verschiedenster gesellschaftlicher Praxisfelder nahm hier ihren Anfang. Diese Entwicklung und Veränderung des empirischen Blicks waren Teil der langwährenden Transformationsprozesse, die das Projekt der Moderne ausmachten. Hier spielte vermutlich auch die Erfahrung mit der Anwendung der Evaluationsforschung durch die amerikanischen Besatzungsbehörden eine initiative Rolle. Matthes kam zu der Einschätzung, daß die Soziologie angesichts eines nicht funktionierenden »innerwissenschaftlichen Marktes« sich eher an ein »»Laienpublikum«« gewandt habe. »Sozialund Bildungspolitik, Literatur und Kunst, Publizistik und vielerlei Unternehmen der Zeitgeistdeutung sind für viele Soziologen wichtigere Bezugsgruppen gewesen als die nur sehr fragmentarisch vorhandene Öffentlichkeit der ^scientific communityBedarfs< nach genau diesem Wissen und mit der Entwertung etablierter Wissensbestände einher. Weissers Argumentation lieferte ein gutes Beispiel für die Konstruktion von Wissensbedürfhissen und Steuerungserfordernissen, zu deren Befriedigung sich dann die Sozialwissenschaften anboten: »Die Aufgaben des Verwaltungsmannes, des Politikers, des Sozialpädagogen, überhaupt des Gesellschaftsgestalters, werden immer größer und schwieriger. (...) Immer mehr gesellschaftliches Geschehen muß organisiert werden. (...) Immer weniger Bereiche des sozialen Lebens können sich selbst und ihrem spontanen Wachstum überlassen bleiben« (3). Nach der so geleisteten Konstruktionsarbeit, für die auch kulturkritische Argumentationsmuster dienstbar gemacht wurden532, wurde das Mittel für die Kunst der Gesellschaftsgestaltung gewiesen: »Der Sozialwissenschaftler wird immer mehr zu einer Arbeitskraft, nach deren Leistung regste Nachfrage besteht. Gehirntrusts haben sich an den obersten Stellen der Gestaltung heutigen Gesellschaftslebens gebildet, und bis herab zu den Gemeinden greift die öffentliche Verwaltung immer mehr und immer planmäßiger auf die Empfehlungen der Wissenschaft zurück. Auch die außerstaatlichen Mächte statten sich überall mit Stäben von Sozialwissenschaftlern aus. Dieser Prozeß stellt überdies seinerseits für die Politik der verantwortlichen öffentlichen Gewalten die Nötigung dar, ihre eigene Ausstattung mit wissenschaftlichen Beratern zu vervollkommnen« (3) Staatliche Verwaltungen begannen in höherem Maße, auf empirisch fundiertes Wissen zurückzugreifen, bzw. sie gaben Forschungen in Auftrag, die solche Wissensbestände hervorbringen. Die Produktion empirischen Wissens im Sinne der späteren Sozialberichterstattung ging bis in die fünfziger Jahre zurück. Mit der Etablierung der Soziologie an den westdeutschen Hochschulen fand auch eine zunehmende Zahl von Absolventen soziologischer Haupt- und Nebenfachstudiengänge den Weg in die öffentlichen Ver-

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.

waltungen.

Auch die Unternehmen der privaten Wirtschaft insbesondere im Bereich der Konsumgüterproduktion gehörten zu den Vörreitern beim Einsatz empirisch fundierten Wissens. Die Marktforschung stellte in den Unternehmen ein relativ neues Arbeitsfeld dar, das mit der Verfügung über die neuen Methoden repräsentativer Erhebungen überhaupt erst erschlossen werden konnte. Ganz anders sah es im politischen Feld aus; das Beispiel des WWI/WSI zeigte, daß die Gewerkschaften angesichts der noch starken Bedeutung So sah er unter dem »Druck dieses Gesetzes immer zunehmender Organisationsbedürftigkeit des sozialen Lebens« (2) die Gefahr einer Verflachung der Kultur und eine Bedrohung der individuellen Freiheit. Weisser verwies in diesem Zusammenhang vor allem auf die Rolle der Kirchen und insbesondere auf die Arbeit der Evangelischen Akademien, die bereits Einflüsse auf die Programmatik politischer Parteien genommen habe.

V.

Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase«

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weltanschaulicher Muster der Argumentation und Politikbegründung zunächst wenig Bedarf an den neuen Praktiken der Sozialforschung hatten. Auch an den wissenschaftlichen Hochschulen erschienen angesichts der noch dominierenden geisteswissenschaftlichen und historistischen Traditionen diese neuen Formen empirisch fundierten Wissens über das Soziale zunächst eher befremdend. Schelsky, König sowie Adorno leisteten hier je auf ihre Weise wichtige Übersetzungsarbeiten. Atteslander beschreibt, daß in Köln (in den fünfziger Jahren) »die empirische Forschung als amerikanischer Import ebenso mit Mißtrauen beäugt wie gleichzeitig mit hoher Erwartung, ein Instrument wohlfeiler gesellschaftlicher Analyse zu sein, belegt« (1998:140) wurde. Die Konstellation veränderte sich erst mit der breiten akademischen Etablierung und damit der Neuformierung der Soziologie. Nun trat das neue empirisch fundierte Wissen in eine scharfe Konkurrenz mit den etablierten Mustern geisteswissenschaftlicher Weltdeutung. Das neue empirisch fundierte Wissen über die Phänomene des Sozialen verlangte aber auch eine Qualifizierung der >Konsumenten< dieses Wissens: die Kunden der Markt- und Meinungsforschungsinstitute mußten in die Einsatzmöglichkeiten und die Handhabung der empirischen Befunde eingeführt werden. Die Mitarbeiter und Führungskräfte in öffentlichen und betrieblichen Verwaltungen mußten mit der Handhabung von Instrumenten und vor allem mit den Befunden empirischer Forschung vertraut gemacht werden. Auch im wissenschaftlichen Feld galt es, das für den wissenschaftlichen Diskurs erforderliche qualifizierte Publikums herauszubilden534. Nicht zuletzt mußte auch über populärwissenschaftliche Arbeiten die öffentliche Akzeptanz für die neuen Methoden der Sozialforschung und die veränderten Argumentations- und Begründungsmodi sichergestellt werden. Schelsky (1980a) vertrat die These, daß die Soziologie bzw. empirische Sozialforschung in den Jahren zwischen 1948 und 1968 »in hohem Maße auf die Sozialpolitik und darüber hinaus auf die gesellschaftliche und staatliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland eingewirkt hat« (439). Eine solche Antwort auf die später vielfach gestellte Frage nach der Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens sollte aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive vorsichtiger formuliert werden. Beobachtbar ist eine Veränderung und auch >Soziologisierung< der Diskurse in verschiedensten gesellschaftlichen Praxisfeldern. Ob diese Entwicklungen jedoch einem »Einwirken« der Soziologie und Sozialforschung geschuldet sind, oder ob nicht die >Soziologisierung< nur Ausdruck anderer Transformationsprozesse ist, muß an dieser Stelle offen bleiben. Die auf der Tagung >Empirische Sozialforschung< beobachtbare Interessenkonvergenz von Akteuren aus unterschiedlichen Praxisfeldern trat im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre in den Hintergrund; die Akademisierung Vgl. Fn 531.

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der

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Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Soziologie trug zum Auseinanderbrechen des Projekts >empirische Sozi-

alforschung< bei.

Entwicklungskräfte

Frage nach den >KräftenAmerkaniserungsthese< diskutiert. Habermas (1987:177) ging davon aus, daß diese Auseinandersetzungen um die Frage der Westorientierung zu den großen »mentalitätsprägenden Kontroversen« der bundesdeutschen Geschichte gehörten535. Die Beziehungen der deutschen Soziologie und Sozialforschung zur angelsächsischen und insbesondere zur amerikanischen Soziologie waren für die Nachkriegsentwicklung ohne Zweifel sehr bedeutDie

Es gab verschiedene Versuche der Militärregierung, auf die Entwickder Sozialwissenschaften Einfluß zu nehmen; ihre Effekte können jedoch kaum mit einfachen Ursache-Wirkungsmodellen gefaßt werden536. Gegenüber der These von einer (rapiden) Amerikanisierung der westdeutschen Nachkriegssoziologie ist aber einzuwenden, daß die Situation der fünfziger und sechziger Jahre eher durch ein paradigmatisches Nebeneinander gekennzeichnet war: auf der einen Seite vollzog sich die Abkehr vom historistischen Paradigma nur allmählich, auf der anderen Seite setzte sich aber auch das Konzept einer empirisch orientierten Soziologie nur langsam durch537. Im methodischen Bereich wurde neben der Rezeption der amerikanischen Entwicklungen im Bereich der quantifizierenden Sozialforschung gleichermaßen an die Tradition soziographischer Forschung angeknüpft, die sam.

lung

Lüdtke u.a. schildern, daß die USA selbst während des Zweiten Weltkrieges »ein umstritteLeitbild der Moderne« blieben. »Erst danach konnte vor allem die junge Generation, für die bürgerliche Wohlanständigkeit durch die Erfahrungen im Dritten Reich und bei Kriegsende tiefgreifend, wenn nicht für immer in Frage gestellt waren, den vormals angeprangerten Pragmatismus westlicher, vor allem angelsächsischer Prägung akzeptieren. Daraus entwickelten sich Verhaltensvorbilder und -muster, die in den 1950er und 1960er Jahren allmählich prägend wurden. Die Vertreter der alten Eliten beharrten demgegenüber, trotz aller politischen Bejahung der Westintegration, auf den Besonderheiten des »deutschen Geistes«. (...) Nicht nur in der Weimarer Republik, sondern bis weit in die 1950er Jahre war Kritik an der amerikanischen Zivilisation nicht selten rassistisch aufgeladen. (...) Im deutschen Diskurs glichen die antiamerikanischen Stereotypen von der pragmatischen, ausschließlich am Gewinn orientierten Weltanschauung den Stereotypen des Antisemitismus« (1996:25). Doering-Manteuffel macht darauf aufmerksam, daß die Maßnahmen der Militärregierung sowohl in ihren geplanten wie ihren nicht-geplanten Effekten zu begreifen sind (1999:8). Er geht von einer Verschränkung der »Auswirkungen des deutschen Wiederaufbaus und der amerikanischen Besatzung« (79) aus; zudem verweist er auf die Vorgeschichte dieser Amerikanisierungstendenzen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich (20ff). Entgegen dieser Einschätzung vertrat Sahner die Ansicht, die deutsche Nachkriegssoziologie habe sich »schon gleich zu Beginn ihrer institutionellen Absicherung (...) von einer geisteswissenschaftlichen zu einer mehr naturwissenschaftlichen und »amerikanisch« geprägten Soziologie entwickelt« (1982a:138). nes

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Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase«

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in der Weimarer Zeit entwickelt worden war538. Die eher amorphe Struktur der akademischen Soziologie erschwert es, Aussagen über die Dominanz einzelner Paradigmen zu machen539. Auch die These der finanziellen Einflußnahme ist zu relativieren540. Umgekehrt erweist sich, angesichts der Vielfalt dessen, was als spezifisch amerikanische Soziologie und Sozialforschung und was unter der Amerikanisierung der deutschen Sozialforschung und Soziologie verstanden werden kann, die These von der Amerikanisierung der bundesdeutschen Sozialwissenschaften als ein Passepartout: sie ist schlechterdings nicht widerlegbar; für soziologiegeschichtliche Analysen ist sie als strukturierendes und erklärendes Moment wenig hilfreich. Man sollte um die amerikanische Entwicklung im methodischen und methodologischen Bereich wissen, um die europäischen Entwicklungen zu begreifen541, nur kann man daraus keinen Amerikanisierungseffekt ableiten. Der Prozeß wäre auf einer globaleren Ebene ansetzen; er steht im Kontext einer umfassenden Verwestlichung der bundesdeutschen (und anderer europäischer) Gesellschaften, ihrer Sozialstruktur, Politik und Kultur. Die Entfaltung der Soziologie und die Verwendung empirischen Wissens gingen mit einem veränderten Verständnis von Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft, mit neuen Praktiken und Begründungen von Herrschaft und Politik im öffentlichen wie im privatwirtschaftlichen Bereich einher. Inwieweit diese Entwicklungen zu einer fordistischen Kultur und Gesellschaft sinnvoll mit dem Begriff der >Amerikanisierung< bzw. mit Vorstellungen einer >Einflußnahme< gefaßt werden können, ist fraglich. Plausibler wäre ein Bild korrespondierender Entwicklungen, die auf Gemeinsamkeiten ökonomischer, politischer und kultureller Natur zurückgehen. 38

Wurzbacher (1987:224) wendete sich explizit gegen Weyers Amerikanisierungsthesen. Die Hamburger Familienstudien »knüpften bei aller selbstverständlichen Diskussion amerikanischer Literatur an bisherigen deutschen Arbeiten und an Le Play an (...) Sie wurden auch in organisato-

risch-finanzieller Hinsicht nicht von amerikanischen Stellen angeregt oder unterstützt«. Die Entwicklung in der Industriesoziologie, wo amerikanische Einflüsse nur eine begrenzte Rolle spielten, ist anders als in der Schichtungs- und Sozialstrukturforschung verlaufen. Sinnvollerweise wäre in manchen Bereichen besser von einer Internationalisierung unter amerikanischer Dominanz zu sprechen. Die phasenweise Vorherrschaft des strukturfunktionaler Theorieansätze währte in den sechziger Jahren nur wenige Jahre; auch das hypothetisch-deduktive Paradigma und damit verknüpft die standardisierenden bzw. quantifizierenden Verfahren der empirischen Forschung waren niemals unumstritten. Wagner kommt zu der Einschätzung, daß der Effekt der finanziellen Förderung »auf die akademischen Institutionen und die dort herrschenden Diskurse« (1990:378) eher gering gewesen sei; der größere Effekt hätte demgegenüber in der Schaffung von Projekten und Arbeitsstätten und damit in der Prägung einer Generation junger Sozialwissenschaftler gelegen. Platt kommt angesichts ihrer Untersuchung der amerikanischen Sozialforschung der zwanziger bis fünfziger Jahre zu der Einschätzung: »It was a period during which American sociology became dominant quantitatively and qualitatively; since then other national sociologies have grown, but the directions in which they have moved cannot be understood without understanding what happened in America, even if they have often reacted strongly against American influence in general, as well as particular American tendencies« (1996:2).

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Empirische Sozialforschung in der »Gründungsphase« (1949-1965)

Während die Amerikanisierungsthese eher kognitive Einflüsse anführt, wurde mit dem Verweis auf die materielle und soziale Not im Nachkriegsdeutschland und die drängenden (sozialen) Probleme eher ein stofflicher Einfluß ausgemacht. Das verkennt jedoch, daß der Formulierung eines solchen >Forschungsbedarfs< ein langwieriger Transformationsprozeß in den Praktiken der Entwicklung und Begründung des (politischen) Handelns vorausging. Eine solche Investition in die Soziologie, in Soziologen, die dieses Wissen produzierten und in verschiedenste Gesellschaftsbereiche trugen, mußte gesellschaftlich bzw. politisch legitimierbar sein. Die einfache Relation Problem-Problemlösung verkennt den (im weiteren Sinne) politischen Charakter dieser wissenschaftlichen Unternehmungen542. Die hier vertretene Argumentation zielt, wie deutlich geworden ist, zum einen auf eine Weiterung der Perspektive, zum anderen möchte sie aber auch auf die je feldspezifischen Logiken der Implementation empirischer Sozialforschung in verschiedenen Wissenschafts- und Praxiskontexten verweisen. Der im nachhinein oft konstatierte >Siegeszug< der empirischen Sozialforschung, ihre erfolgreiche Etablierung kam erst über korrespondierende Veränderungsprozesse im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben in Gang. So war die Entwicklung der empirischen Sozialforschung untrennbar mit einer veränderten Wertschätzung ihrer spezifischen Befunde im wissenschaftlichen und im politischen Feld, im öffentlichen Diskurs, bei Planungsentscheidungen in Unternehmen, Verbänden und öffentlichen Verwaltungen verknüpft; sie hing mit der Veränderung von Bildern zusammen und trug zur Veränderung der Bilder bei, die man sich in diesen

Sphären vom Konsumenten, Beschäftigten, mündigen Staatsbürger, Jugendlichen, Klienten bzw. vom rationalen und begründeten EntScheidungsprozeß machte543. Die empirisch fundierten bzw. wissenschaftlich legitimierten Befunde der Sozialforschung traten als Argumente in Konkurrenz zu anderen Mustern der Argumentation und der Vorbereitung und Begründung von Entscheidungen. In diesen Auseinandersetzungen spielten die Leitbilder, mit denen die empirische Sozialforschung verknüpft wurde, eine wesentliche Rolle.

Hierin hatte auch ein wesentlicher Vorwurf bestanden, den Schelsky gegenüber Lepsius' Darzur Soziologiegeschichte vorbrachte: »Damit entkleiden sie jene Soziologie ihres politischen Gehalts, ihrer gesamtgesellschaftlichen und staatlichen Bedeutung und machen sie zu einer großbürgerlich-liberalen unpolitischen Literatur- und Fachwissenschaft« (Schelsky 1980a:439). Es liegt auf der Hand, daß diese Prozesse wechselseitiger Natur sind; es erscheint jedoch geraten, den Anteil der kleinen soziologischen Fachgemeinde in diesen Veränderungsprozessen nicht zu überschätzen.

stellung

empirischen Sozialforschung (1965-1980)

C. Die >Große Zeit< der

Nach einer Phase der Grenzbestimmung und Konsolidierung folgte die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung. Die zuvor beschriebenen Entwicklungslogiken wirkten fort, sie erlangten über die veränderten politischen und kulturellen Rahmenbedingungen jener Jahre jedoch eine andere Qualität; es kam zu einer spezifischen Verknüpfung von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Projekt. Charakteristisch war ein ausgeprägter Glaube an die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Durchdringung und Klärung gesellschaftlicher Belange, der sich mit der Vorstellung einer hochgradigen politischen (rational begründeten) Gestaltbarkeit des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses traf. Das Projekt empirische SozialforschungBildungsboom< von einer sprunghaft gewachsenen Nachfrage nach sozialwissenschaftlichen Lehrinhalten getragen. Die Zahl der Fachvertreter und die Zahl derjenigen, die die Belange der empirischen Forschung an den Hochschulen vertraten, stieg exponentiell. Die erweiterten Kapazitäten und die Erfordernisse strukturierter und handhabbarer Ausbildungsgänge führten im Hochschulbereich zu einer Kanonisierung der Lehrgestalt, zu einer Verwissenschaftlichung (Systematisierung, Differenzierung, wissenschaftstheoretische und methodenkritische Reflexion) und einer Verselbständigung der empirischen Sozialforschung (Scheidung des Methodendiskurses von den inhaltlichen Diskursen). Parallel dazu kam es zu einem Grundsatzstreit um die empirische Sozialforschung, zu scharfen Auseinandersetzungen um ihre legitimen Methoden und ihre Begründung; insbesondere in den Lehrbüchern und in der Hochschulausbildung dominierten die quantifizierenden Methoden der Erhebung und Analyse empirischer Daten. Die empirische Sozialforschung konnte sich in der Hochschulausbildung gegen den Zeitgeist der von der kritischen Theorie beherrschten Diskurse, die eher methodenkritisch orientiert waren, etablieren.

C. Die >Große Zeit« der empirischen

236

Sozialforschung (1965-1980)

Die inhaltlichen Bezüge der Sozialwissenschaften zu den begleitenden gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozessen schlugen sich in einer noch genauer zu beschreibenden >Politisierung< der Sozialwissenschaften und Sozialforschung und in einer Politisierung der Erwartungen an die Erträge sozialwissenschaftlicher Theorie und Forschung nieder. Es kam zu einer hohen Wertschätzung sozialwissenschaftlichen und empirisch begründeten Wissens; in verschiedenen Praxisfeldern wurden die Diskurse >soziologisiertVerwendungserwartungen zu erfassen. Die Verwendungserwartungen schufen eine große Nachfrage nach sozialwissenschaftlicher Forschung; ein Schwerpunkt lag bei Forschungsfragen, die sich mit den Möglichkeiten gesellschaftlicher Planung und Steuerung in verschiedenen Praxisfeldern staatlicher Politik befaßten (Bildung, Stadtund Regionalentwicklung, Sozialwesen, Sozialpolitik, Jugend und Familien etc.); ein anderer Schwerpunkt befaßte sich mit den industriellen Beziehungen und ihrer antizipierenden Regulierung (Humanisierung der Arbeit, Technikfolgenabschätzung, Tarifpolitik, Mitbestimmung etc.). Während die Sozialwissenschaftler an den Hochschulen durch die hohen Lehr- und Prüfungsanforderungen in ihren Forschungsmöglichkeiten recht eingeschränkt waren, wurden diese Forschungsleistungen vor allem an (bestehenden und

neugegründeten) sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen

er-

bracht. Die zeitliche

Abgrenzung dieser Entwicklungsphase fällt angesichts der mehrdimensionalen Bestimmung der Charakteristika schwer. Der Vorschlag, diese Große Zeit ab dem Jahr 1965 zu datieren, trägt dem Verlauf überlappender Entwicklungstrends Rechnung'. Die Expansion der Sozialwissenschaften an den Hochschulen hatte als ein eher kontinuierlicher Prozeß bereits früher eingesetzt. Die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen von Sozialforschung setzte mit der Großen Koalition 1966 und vor allem mit der sozialliberalen Koalition ab 1969 ein. Die wissenschaftstheoretische Kontroverse ging auf eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahre 1961 zurück; die Aufladung dieser Kontroverse zum >Positivismusstreit< in der deutschen Soziologie erfolgte aber erst in den folgenden Jahren der Tagungsband erschien schließlich 1969. Die Kanoni-

Die

vorgeschlagene Phasenstruktur korrespondiert wenn man einen gewissen zeitlichen Vermit der Strukturierung, die Bell ([1982] 1986) für die (amerikanischen) Sozialwissenschaften vorschlägt. Er unterscheidet zwischen einer Phase zwischen 1945 und 1970 und einer Folgephase, die 1970 einsetzt. Die erste Phase sieht Bell durch die Entwicklung der Sozialwissenschaften (inklusive der Ökonomie) zu einer >harten< Wissenschaft (Dominanz quantifiziezug

zugesteht

-

-

render Techniken, Einsatz datenverarbeitender Maschinen etc.), durch den Einsatz sozialwissenschaftlicher Forschungspotentiale (im Zweiten Weltkrieg und später im >Kalten Krieg«), durch den Ausbau der amerikanischen Universitäten, durch die Indienstnahme sozialwissenschaftlicher Expertise im Kampf gegen die sozialen Probleme der sechziger Jahre charakterisiert.

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung

237

der Ausbildungsinhalte in der empirischen Sozialforschung vollzog eher sich in den siebziger Jahren. Demgegenüber setzte der Prozeß der Soziologisierung der Diskurse im öffentlichen Raum bzw. in verschiedenen Praxisfeldern weit früher ein schon 1959 konstatierte Dahrendorf eine (zu)

sierung

große Anerkennung soziologischer Themen2. Das Ende der großen Zeit vollzog sich eher im Stillen: die öffentliche Aufmerksamkeit für soziologische Analysen und ihre Befunde trat zurück; die Planungseuphorie, die dem sozialwissenschaftlichen Wissen eine Schlüssel-

rolle zukommen ließ, wich einem >InkrementalismusSoziologie und Praxis«:, über die >Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissensunbewältigten Sozialwissenschaften«:; es wurde eine stärkere Reprofessionalisierung der Soziologie angestrebt, der Sicherung empirischer Forschungsstandards wurde eine stärkere Bedeutung zugemessen4. Die Vorherrschaft des quantifizierenden Paradigmas im methodischen Diskurs wich einer methodischen Vielfalt; an die Stelle der wissenschaftstheoretisch armierten Zuspitzung trat ein eher pragmatischer Umgang mit den Problemen der empirischen Sozialforschung; Verfahren der qualitativen Sozialforschung erfuhren mit der Veröffentlichung von Lehrbüchern und Methodenhandbüchern eine Renaissance.

2

In Abgrenzung zu seinen Kollegen, die national wie international ein zu geringes Interesse an soziologischen Perspektiven beklagten, konstatierte Dahrendorf: »Die öffentliche Anerkennung der Soziologie in Deutschland ist nicht nur groß, sie ist zu groß. Der Tag scheint nicht mehr fern, an dem kein Taubenzüchterverband und keine Seifenfabrik bei ihren Jahrestagungen mehr auf einen soziologischen Festredner verzichten könne« (1959:152). 3 Bleek skizzierte die Rolle der interministeriellen Projektgruppe Regierongs- und Verwaltungsreform beim Bundesminister des Inneren in den gesellschaftlichen Planungs- und Reformprozessen und kam zu dem Schluß: »Die Planungseuphorie der 60er Jahre hat seitdem einem politischen Krisenmanagement und einer Verwaltungspolitik des Inkrementalismus (Sich-Durchwursteln) Platz gemacht« (1983:73). 4

Klages (1979:346) sah in dem Soziologentag von

1974 einen Markstein dieses Trends.

238

C. Die >Große Zeit« der empirischen

I.

Sozialforschung (1965-1980)

Sozialwissenschaften im >Boom
großen Zeit< der empirischen Sozialforschung gingen auf die spezifische Einbettung von soziologischer Wissenschaft (im weiteren Sinne) in umfassendere gesellschaftliche Transformationsprozesse zurück, die sich in den sechziger und siebziger Jahre (zum Teil auch schon früher) vollzogen. Soziologie und empirische Forschung haben die ökonomischen, politischen und sozialen Prozesse und Strukturen, unter denen sie betrieben wurden, niemals als bloßen >Gegenstand< der Forschung, als Bezugspunkt soziologischer Theoriebildung begriffen. Soziologisches Wissen sollte oftmals (gesellschaftliche) Verhältnisse kritisieren, Ursachen für Mißstände erkennen, politische Interventionen vorbereiten und ihre Wirkungen abschätzen. Die Art und Weise, wie die Soziologie Gesellschaft thematisierte, korrespondierte dabei mit den Diskursen und Leitvorstellungen, in denen verschiedene Gruppen sich und die Gesellschaft thematisierten. Bevor die Rolle soziologischen Wissens und die Rolle der empirischen Sozialforschung in diesen Transformationsprozessen geklärt wird, sollen kurz diese Prozesse selbst skizziert werden5, fn der Produktionsstruktur der Bundesrepublik Deutschland vollzogen sich in Fortsetzung eines säkularen Transformationsprozesses gravierende Verschiebungen: während der Anteil von Beschäftigten im warenproduzierenden Gewerbe weitgehend konstant blieb, verlor der Bereich der Land- und Forstwirtschaft rapide an Bedeutung. Dem stand ein Bedeutungsgewinn des Dienstleistungssektors gegenüber, am Ende dieser Entwicklungsphase konnte der Dienstleistungssektor sogar die Zahl der Beschäftigten im warenproduzierenden Gewerbe überflügeln. Arbeitslosigkeit wurde in dieser Phase über weite Strecken zu einem marginalen Problem. Es kam bei fortbestehenden sozialen Ungleichheiten zu einem ungekannten Niveau gesellschaftlicher Prosperität Burkart Lutz (1984) sprach später vom »kurzen Traum immerwährender Prosperität«. Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen waren durch technologische Veränderungen und durch veränderte Modi der politischen Regulation der industriellen Beziehungen befördert durch die Verhandlungsmacht der bundesdeutschen Gewerkschaften einem schnellen Wandel unterworfen. Die sogenannte Bildungsexpansion, die u.a. auf den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zurückging, setzte bereits in den fünfziger Jahren ein; ihre Spuren zeigten sich dann in den sechziger Jahren in einer deutlichen Zunahme der Studierendenzahlen und in einem daraus resultierenden Veränderungsdruck an den Hochschulen. Diese Prozesse, die von den Veränderungen der produktiven Basis der Gesellschaft ausgingen, korrespondierten eng -

-

-

Vgl. dazu die zusammenfassenden Darstellungen bei Abelshauser Mooser (1984) und Geißler ([1991] 1996).

(1983),

Thränhardt

(1986),

I. Sozialwissenschañen im >Boom
materiellen< oder materialisierten«: Veränderungen modifizierten sich auch die Diskurse, die Wirklichkeitsdeutungen, in denen diese Gesellschaft von den verschiedenen Akteuren im politischen Feld thematisiert wurde und in denen diese sich selbst thematisierten; die Bedeutung der großen weltanschaulichen Lager, die die Politik und Kultur der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit geprägt hatten, trat zurück. Die skizzierten Veränderungsprozesse verliefen vor allem im ökonomischen und technologischen Bereich eher kontinuierlich; die Entwicklungen im politischen und im kulturellen Bereich waren eher durch einzelne Entwicklungsschübe, die sich an spezifischen Ereignissen festmachen lassen, geprägt: die große bzw. die sozialliberale Koalition, die Studentenbewegung, die Bürgerinitiativbewegung etc. Durch die Bindung der kulturellen Transformationen an Generationsstrukturen erlangten manche in langer Sicht eher kontinuierlichen Veränderungsprozesse den Charakter von Umbrüchen6.

a) Sozialwissenschaftliche Expertise zur Planung und Steuerung Die

Nachkriegsentwicklung

der

Bundesrepublik

Deutschland

war

im öko-

nomischen, wie im politischen und sozialen Sinne eine Geschichte des wirt-

schaftlichen Wachstums. Wachstum und vermehrter individueller Wohlstand wurden zur Moderationsinstanz, die Verteilungskonflikte entschärfte, die sozialen Folgen der Transformationen der Branchenstruktur abfederte und schließlich auch das politische System stabilisierte. Die Vervielfachung des Sozialprodukts hatte »Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt radikaler verändert als der Krieg und die vorangegangene Wirtschaftskrise zusammen« (Abelshauser 1983:85). Abelshauser skizzierte das Selbstverständnis dieser Republik als eine »Gemeinschaft zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums und zur Mehrung des materiellen Wohlstands« (85). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche >Bedrohung< von der 1967 erstmals spürbaren wirtschaftlichen Rezession, von den Krisen der siebziger Jahre und vom damit verknüpften Ende der Vollbeschäftigung ausging; so baute das Sozialsystem auf den Erfahrungen der Wachstumsdynamik auf. Auch im politischen Bereich hatte der ungeahnte Erfolg des bundesrepublikanischen Modells Spuren hinterlassen: aus den eher weltanschaulich gebundenen Parteien waren Volksparteien entstanden, die ein breiteres Spektrum politischer Optionen integrierten; in weiten Teilen der Gewerkschaften So wurde die Rede von >1968< bzw. von den >Achtundsechzigem< zu einem Etikett, unter dem jeweils einzelne Facetten dieser Transformationsprozesse, insbesondere die politisch kulturellen Aspekte, gebündelt wurden; für ein Verständnis dieser Prozesse ist diese Etikettierung jedoch nicht immer hilfreich.

240

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

dominierten kooperative gegenüber konfliktorischen Politikmustern. »Die 50er Jahre waren für die Verwaltung und den öffentlichen Dienst wie für die gesamte Bundesrepublik eine Zeit des inneren Aufbaus auf der Grundlage der vorangegangenen Nachkriegsentscheidungen, es im wesentlichen bei den tradierten Strukturen zu belassen. Erst mit Beginn der 60er Jahre tauchten Zweifel auf« (Bleek 1983:72). Ciaessens sah die Stagnation der fünfziger Jahre zudem in einem »Eliten-Vakuum« (1992:272) begründet7. Die >Bruchstellen< dieses Entwicklungsmodells zeigten sich nicht nur in den wieder erfahrbaren ökonomischen Krisen. Zunehmend waren auch die sozialen Kosten dieses Wachstumsmodells sichtbar geworden8. Die technologischen Veränderungen, die auf die datenverarbeitenden Maschinen der ersten und zweiten Generation zurückgingen, aber auch neue Planungsverfahren führten zu einer ersten Rationalisierungswelle im Verwaltungsbereich; es wurde gefordert, »daß Automatisierung, Datenverarbeitung und KostenNutzen-Kalkül auch in den westdeutschen Amtsstuben einziehen sollten. (...) Nach Jahren tiefsitzender Abneigung gegen alle Planungs- und Prognoseverfahren entdeckte man in der Mitte der 60er Jahre die Notwendigkeit einer auf perspektivischen Überlegungen beruhenden Politik und Verwal-

tung« (Bleek 1983:73). Wichtiger Referenzpunkt dieses Planungsoptimis-

die mit dem Keynesianischen Instrumentarium verknüpften Hoffnungen der Krisenregulierung Diese neuen Instrumentarien gesellschaftlicher Harmonisierung und Modernisierung erforderten eine Anpassung des Regierungs- und Verwaltungsapparats an »einen erweiterten und anspruchsvolleren Begriff politischer Intervention und Planung« (Wagner 1990:375); zudem führte eine solche Interventionsorientierung zur »Ausweitung der Zahl der Politikfelder, für die jeweils spezialisierte Regierungsinstitutionen zuständig sein sollten« (376). Im Bildungsbereich wurde mit Erreichen der Vollbeschäftigung und dem Versiegen des Zustroms von qualifizierten Arbeitskräften aus der DDR ein großer Bedarf an allgemein- und berufsbildender Qualifizierung sichtbar. Die eher restaurativ orientierte Bildungspolitik konnte dem nicht nachkommen; so entstand die Klage über die deutsche >BildungskatastropheBändigung< des Kapitalismus zu setzen.

I. Sozialwissenschaften im >Boom
LegitimationskriseSoziologie< auf empirisch-rationaler Grundlage« (1959:119) sich auch deren Verhältnis zur sozialen Praxis veränderte. 10

Habermas wollte mit diesem Begriff ein sozialwissenschaftliches Krisenverständnis akzentuiehabe man es im Spätkapitalismus« nicht nur mit ökonomischen Krisen, sondern gleichermaßen mit Rationalitäts-, Legitimations- und Motivationskrisen zu tun (1973:73). 1' Lenk interpretierte den Boom der Soziologie auch mit der Krise der Philosophie als Universalwissenschaft; die Soziologie habe davon profitiert, »indem sie in die Lücke sprang, den Bedarf an umfassender philosophischer Orientierung zu erfüllen versprach und die transformierten Erwartungen auf ihre Mühlen lenkte. Sie hatte zudem den Vorteil, daß sie sich als Wissenschaft darstellen konnte, vom Prestige der wissenschaftlichen Absicherung und Seriosität profitierte und somit anscheinend normative Bedürfnisse durch wissenschaftliche Analysen und Ergebnisse zu befriedigen vermochte« (1986:7). Tenbrock interpretierte diesen Prozeß als einen Prozeß der Amerikanisierung, der auf die Rezeption der Methoden der empirischen Sozialforschung bzw. auf die Rezeption des Strukturfunktionalismus und der Wissenschaftstheorie zurückgehe. Auch wenn die bei Tenbrock vorherrschenden grundsätzlich soziologiekritischen Implikationen nicht geteilt werden, bleibt die vorgelegte Analyse bedenkenswert. Rehberg hat dazu treffend angemerkt: »Der Realismus eines mitleidlosen Blicks auf die gesellschaftlichen, die seelischen und geistigen Zustände, den Konservative für sich oftmals zu Recht beanspruchen können, hat etwas Bestechendes, zumal sie viele Aspekte der Intellektuellenkultur scharfsinnig analysiert haben. Übersehen werden soll darüber aber nicht, daß die aus diesem Blickwinkel kritisierte Soziologie zu großen Teilen ein Konstrukt ihrer Kritiker ist, in seinen wesentlichsten Bestandteilen zusammengesetzt aus Wertungen und Stereotypen, die (...) nicht neuesten Datums sind« (1986:47). ren: so

C. Die >Große Zeit« der empirischen

242

Sozialforschung (1965-1980)

Soziologie sieht ihr angemessenes Verhältnis zur sozialen Praxis also in einer planvollen Anwendung empirischer Funktionseinsichten. An die Stelle des ideologischen Programms der Weltveränderung im ganzen, der Konstruktion von Gesamtordnungen tritt der empirischfunktionswissenschaftlich gestützte Plan sozialer Einzelhandlungen, schrittweisen Umbaus jeweiliger Teilgebiete des sozialen Lebens« (120). Schelsky verwies auf die vielfaltigen Begriffe, über die diese Vorstellungen bereits popularisiert seien13. Er begriff das Verständnis der Soziologie als Planungswissenschaft im Wechselspiel von binnenwissenschaftlicher Entwicklung mit den Vorstellungen und Erwartungen, die von >Praktikern< an die Soziologie herangetragen wurden14. Die von Schelsky beschriebene Entwicklung hing nicht unwesentlich mit der in der Bundesrepublik bedeutsamen Orientierung an amerikanischen Entwicklungsmustern zusammen15. Vor allem in den sechziger Jahren kam es in den USA zu einer Verdichtung dieser Wechselbeziehungen von Sozialwissenschaft und politischem Feld16. Damals, so schilderte Lazarsfeld die»Diese

ses

>Überschäumen des Planungsgedankensrationalen Politik« zu vereinen möglich machte: die Einschaltung der wissenschaftlichen Planung in die institutionelle Politik auf allen Ebenen«

(1973:94).

Hintergrund dieser Entwicklungen stand eine hohe Wertschätzung wissenschaftlichen und technologischen Wissens, die sich mit der Erwartung einer Planbarkeit von wissenschaftlicher Entwicklung traf. Die Erfahrung eines durch Naturwissenschaften und Technologie beförderten Forschritts, der sich spürbar auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen relativ breiter gesellschaftlicher Schichten auswirkte, sollte auch für den Bereich der sozialen Entwicklung nutzbar gemacht werden; die Keynesianischen Instrumente zur Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung verhießen einen krisenfreien Kapitalismus. Im

13

»Wissenschaftlich gestützte >Sozialpläne< auf allen Gebieten; die >sanfte< Lenkung und Manipulierung des Menschen in allen Verhaltensbereichen mit dem guten Gewissen der angewandten Wissenschaften; Hypertrophie des >Gestaltungswillens< als Freizeitgestaltung, >Gestaltung« des Ehe- und Familienlebens, der >Human Relations« usw.« (1959:121f). 14 In den Planungsvorstellungen gab es durchaus gewisse Nähen zwischen Schelsky und dem Frankfurter Institut: »die Differenz ergibt sich aus dem Ziel und Zweck der Planung. Ist sie dem Verständnis des Instituts nach demokratisch, also an der offenen Austragung von Interessenkonflikten nach verfassungsmäßigen Regeln orientiert, soll sie bei Schelsky vor allem dem Abbau sozialer Spannung dienen« (Demirovic 1999:286). 1 Bereits in der Politik des New Deal hatten dort die Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle gespielt. Diese »Rechtfertigung der Soziologie durch ihre praktische Verwertbarkeit« (Hinkle/ Hinkle [1954] 1960:84) setzte sich auch in den folgenden Jahrzehnten fort. Auch auf theoretischem Gebiet wurde dieses Selbstverständnis begründet; so finden sich bei Popper Vorstellungen des ^piecemeal engineerings und eine Rehabilitation des ^muddling throughBoom
Die organisierte Forschung«: ausgegangen war. »Durch Wissenschaftspolitik organisierte Forschung wird somit zu einem gesellschaftlichen Einflüssen unterliegenden Zweckentwurf zur Produktion neuen Wissens und Könnens« (von Alemann 198la:50). Organisierte Forschung hieß zum einen wissenschafts- und gesellschaftspolitisch gesteuerte Forschung, zum anderen organisierte, planmäßige Forschung z.B. im Kontext von

größeren Forschungseinrichtungen.

Daraus resultierte dann eine Reihe von Grundüberzeugungen, die für den Ausbau der Sozialwissenschaften leitend waren. Beck und Bonß (1989) haben im Rückblick vier Eckpunkte dieses Wissenschafts- und Praxisver-

ständnisses herausgearbeitet: Die Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens gegenüber anderen Wissensformen: Dahinter stand die Vorstellung, daß mit wissenschaftlichen Mitteln erzeugtes Wissen für jedes gesellschaftliche Problem langfristige und rationalere Lösungen anbieten könne, daß Politik am Reißbrett entstehen könne. Bemerkenswerterweise wurde diese Maxime von Anhängern der Kritischen Theorie wie von Anhängern der >Positivisten< geteilt. »Je mehr sozialwissenschaftliches Wissen vorliegt, desto mehr Rationalisierungspotentiale können genutzt werden« (13): Sozialwissenschaft wurde als eine (noch unterentwickelte) Disziplin begriffen, die sich bei entsprechender Förderung zu einer Reformwissenschaft entwickeln könne und die in verschiedenen Bereichen Frühwarnsysteme ausbilden könne. Sozialwissenschaften als »wissenschaftliche Zweitsicherheit« in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft: »Mit der Autorität der Wissenschaft hoffte man, jenen Unsicherheitserfahrungen begegnen zu können, die unter Rekurs auf traditionelle Deutungsmuster und Erfahrungsweisen nicht mehr angemessen bewältigt werden können« (14). Sozialwissenschaftliche Experten sollten durch >systematische Sozialbeobachtung< jene Sicherheiten hervorbringen, die zur Analyse und Bewältigung komplexer gesellschaftlicher Problemlagen erforderlich schienen. Verwissenschaftlichung=Versachlichung von Konflikten: Die handlungsentlasteten Analysen durch wissenschaftliche Experten basierten auf >harten Fakten« und waren tendenziell unabhängig von partikularen Interessen. Beck und Bonß begriffen diese »Glaubensbekenntnisse« als Charakteristikum einer Wissenschaft im Aufbruch, als Nachahmung des naturwissenschaftlichen Modells; sie sprachen von der »Magna Charta der einfachen Verwissenschaftlichung«« (15). Klages beschrieb diese Phase als »von einem grundsätzlichen >Meliorismus< getragen, der bei einer Reihe seiner Vertreter die Qualität eines massiven Fortschrittsglaubens oder -bedürfhisses einnahm. Es gab damals viele Sozialwissenschaftler (...), die in einer gänzlich unpolitischen Weise davon ausgingen, daß sich auf dem nunmehr erreichten Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung vielfältige bisher ungenutzte Möglichkeiten der gesellschaftlichen Höherentwicklung angehäuft hätten, die im Interesse der menschlichen Selbstverwirklichung erschlossen und genutzt werden müßten« (1979:344).

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244

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

Das von vielen konstatierte baldige Ende der Planungseuphorie vollzog sich eher graduell; die hochgesteckten Planungserwartungen mußten zurückgenommen werden, die kurzfristig erwarteten Effekte planerischer und wissenschaftsgeleiteter Intervention stellten sich nicht ein. Auch wenn die vielbeachtete Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform nur kurze Zeit bestand, hatten die in der Phase der Planungseuphorie angestoßenen Prozesse der Nutzung sozialwissenschaftlicher Expertise zur Lösung von Problemen z.B. im Bereich der industriellen Beziehungen oder in der Bildungspolitik durchaus längeren Bestand17. Im Kontext der weiteren Planungsdebatten wurde versucht, dem Scheitern der naiven Planungsvorstellungen Rechnung zu tragen. So wurden, wie Klages zeigte, zum einen stärker die internen Restriktionen^ beleuchtet, was eine Renaissance der Organisations- und Verwaltungssoziologie hervorbrachte; zum anderen habe man sich stärker den externen Restriktionen zugewandt; er verwies auf das stärkere Interesse an Theorieansätzen, die sich auf die Gesamtgesellschaft bezogen, so z.B. die Politische Ökonomie.

b) Die >Soziologisierung< der Diskurse Die Phase der Planungseuphorie stand im Zusammenhang einer veränderten Selbstthematisierung von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen und einer mehr oder weniger angemessenen Übernahme sozialwissenschaftlichen Jargons bzw. der inhärenten Perspektiven und Deutungsangebote. Es ist eine eigentümliche Ausstrahlung auf die Sprache der Medien, auf die Sprache im politischen Feld und schließlich auch auf die Alltagssprache zu beobachten1 Alltagspraktisch Vertrautes wurde unter soziologischer Perspektive neu >entdecktBoom
Soziologie< erschien in 400.000 Exemplaren. Dahrendorfs 1959 erschienener >Homo Sociologicus< erfuhr in den sechziger Jahren acht Auflagen20. Diese Popularisierung soziologischer Perspektiven hatte bereits in den fünfziger Jahren eingesetzt21. Die analytische Durchdringung von Gesellschaft und die Durchdringung der eigenen Person bzw. des persönlichen Nahbereichs, fanden sich zu einem komplexen Konglomerat zusammen. Ausgehend von der Analyse sich verändernder gesellschaftlicher Selbstthematisierungen diagnostiziert Bude eine >Revolution der Interpretationsverhältnisseunbewältigten Sozialwissenschaften< von einer »KulturrevoDie

lution«, die die Sozialwissenschaften außerhalb der Mauern der Wissenschaft bewirkt hatten; sie seien zu einer »neuen Lebensmacht» geworden,

die in alle Lebensbereiche hineindränge22. Damit trat sozial- oder humanwissenschaftliches Wissen in Konkurrenz zu anderen etablierten Mustern der Selbstthematisierung: »Der Angriff auf den undurchsichtigen Kult der Gelehrsamkeit wurde mit den neuen Humanwissenschaften geführt, die eine Sorte des Wissens jenseits des Bildungsprivilegs behaupteten. Der Erkenntnisgewinn von Linguistik, Psychoanalyse oder Soziologie beruhte auf einem Entlarvungseffekt, der genau gegen die >legitime< Kultur gerichtet war, die das Bildungsbürgertum mit allen Mitteln 20

Tenbrock merkte an, daß der Verleger »trotz immer neuer Auflagen nicht Schritt zu halten vermochte« (1979:107 Fn. 45). 21 Die einst der Zeit- und Kulturkritik vorbehaltene Sorge um die Jugend wurde zum Thema der Soziologie; Schelskys >Soziologie der deutschen Jugend« (>Die skeptische Generation«) erreichte in den ersten vier Jahren nach seinem Erscheinen 1957 vier Auflagen. Wurzbachers (1951) Leitbilder des Familienlebens) erschien 1958 bereits in einer dritten Auflage. Der Einzug der soziologischen Perspektive bezog sich jedoch nicht nur auf die Ebene der Gesellschaft« und ihrer Institutionen; mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht noch bedeutsamer, war die Soziologisierong und Psychologisierang des Blicks auf >das Individuum«. Mit den Kinsey-Reports zog die Umfrageforschung bereits seit den frühen fünfziger Jahren große Aufmerksamkeit auf sich; Schelskys 1955 erschienene soziologisch geadelte Auseinandersetzung mit dem Thema >Sexualität< erlangte in den folgenden dreißig Jahren eine Auflage von annähernd 200.000 Exemplaren; davon wurde etwa die Hälfte bereits in den fünfziger Jahren produziert. 22 »Im Lehrplan der Schulen, in den Programmen des Fernsehens und der Massenmedien, im Kulturbetrieb und in der öffentlichen Meinung, in der Welt der Politik und der Arbeit, zwischen Eltern

und Kindern, zwischen den geistigen, religiösen, kulturellen und politischen Gruppen steht, vielbewundert und vielgescholten, unbewältigt das Wissen, welches diese Fächer repräsentieren«

(1981:369).

246

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

verteidigte« (Bude 1994:250)23. Giddens betrachtete diese >»Einspeisung< soziologischer Begriffe oder Wissensansprüche in die soziale Welt« ([1990] 1995:27) als einen Vorgang von epochaler Bedeutung: »Soziologische Begriffe und Ergebnisse bilden konstitutive Elemente des eigentlichen Wesens

der Moderne« (27). Die von Tenbruck diagnostizierte »von einer Expertokratie abhängige bürokratisierte Betreuungsgesellschaft« (1981:367) nahm in dieser Phase Gestalt an: »Unter Modemitätsbedingungen dringt das Expertentum auch in den Bereich des Intimen ein« (Giddens [1990] 1995:179). In zunehmendem Maße wurde in Medien, Bildungs- und Beratungseinrichtungen in verschiedenen Schattierungen ein soziologisiertes Bild der sozialen Welt gezeichnet. In der Zwischenlage von soziologischer Wissenschaft, politischem Feld und Feuilleton entstand eine neue schnellebige Gattung von Literatur, die zur Popularisierung sozialwissenschaftlichen Wissens für Zwecke der >Weltrevolution< wie der >Alltagsbewältigung< im wesentlichen aber der Orientierung und Selbstverständigung einer Generation diente. An dieser Popularisierung soziologischen Wissens war die empirische Sozialforschung nicht unmittelbar beteiligt, sie >verlieh< jedoch dem soziologischen Wissen die spezifische wissenschaftliche Dignität, die es z.B. von geisteswissenschaftlichen oder von weltanschaulich geprägten bzw. kulturkritischen Deutungsangeboten abhob. Der hier beschriebene >Boom der Soziaiwissenschaftem ging auf die Überlagerung unterschiedlicher Effekte zurück, zudem bezog er sich auf unterschiedliche Formen soziologischen Wissens. Die Vorherrschaft soziologischen Jargons und soziologischer Sichtweisen im Feuilleton ging eher auf die sozialphilosophischen und sozialkritischen Traditionen der Soziologie zurück; die Verwendung soziologischen Wissens in verschiedenen gesellschaftlichen Praxisfeldem war der Entwicklung der sich zunehmend differenzierenden >Bindestrich-Soziologien< geschuldet; die Anerkennung in betrieblichen und gesellschaftlichen Planungsprozessen ging insbesondere auf die (erwarteten) Leistungen der empirischen Sozialforschung zurück. Vor allem an dem letzten Aspekt wird deutlich, daß es oftmals mehr um Erwartungen an die Sozialwissenschaften ging als um bereits vorliegende Leistungen der jungen Wissenschaft: Ordnungs- und Sinngebungserwartungen, Erwartungen an das Diagnose- und >TherapieSchwäche< der Geisteswissenschaften, mal eher als Verdrängung geisteswissenschaftlicher Perspektiven und Argumentationsfiguren.

II. Die Entwicklung

Diese

von

Soziologie und Sozialforschung

Erwartungen entstanden nicht ohne Grund; sie gingen auch auf

247

Ver-

Vorstellungen, die die Sozialwissenschaftler von ihren Potentialen hatten24. Die >große Zeit« der Soziologie bzw. der empirischen Forschung ist so als ein Zusammentreffen eines bestimmten Wissenschafts- bzw. Praxisversprechens seitens der Soziologie mit bestimmten Hoffnungen auf die möglichen Leistungen soziologischer Wissenschaft im politischen Feld und auf die Konstruktion eines soziologischen Wissensgebäudes zu begreifen. Die Soziologie knüpfte an die großen Erzählungen der

sprechungen zurück,

Zeit

an:

auf

auf Wissenschaft und Technik gestützte und somit rationalisierte

gesellschaftliche Erneuerung orientiert z.B. an den in Sozialdemokratie und Gewerkschaften (re)formulierten politischen Optionen. -

Die

II.

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung an

1. Die

den Hochschulen

Entwicklung der Soziologie

Der Ausbau der Sozialwissenschaften an bundesdeutschen Hochschulen und der exponentielle Ausbau des gesamten Hochschulwesens haben im Zeitraum zwischen 1960 und 1975 etwa zu einer Verzehnfachung der Lehrstühle, des2 Lehrangebots und der Studierendenzahlen in der Soziologie geführt [Cl] Das Wachstum der Studienanfángerzahlen eilte dem Ausbau der Lehrkapazitäten voran ; in den siebziger Jahren trat dann eine Stabilisierung der Studierendenzahlen und zeitlich versetzt auch des Lehrkörpers auf hohem Niveau ein. Diese Ausweitung des Lehrkörpers führte zu einer ungeahnten institutionellen Stabilisierung der Soziologie, implizit wurde damit auch die wissenschaftliche Konsolidierung gefördert: »Die organisatorische Voraussetzung für die Kodifizierung und Abschließung des disziplinären Wissens und der methodischen Ansätze in den Disziplinen war die Verbindung von Forschung und Lehre in der Person von Lehrstuhlinhabern, von denen erwartet wurde, daß sie ihr Fach als Ganzes vertreten würden. Sie waren daher auf der einen Seite gehalten, einen umfassenden Entwurf ihres Gegenstandsbereichs zu entwickeln, der auf der anderen Seite >Iehrbar< gehalten werden mußte, um ihn .

24

Wagner merkt dazu an: »Der Diskurs der Gesellschaftswissenschaften war optimistisch und selbstversichernd. Das methodische Instrumentarium schien soweit entwickelt, daß sogar langfristige Prognosen möglich schienen, in deren Stabilität wiederum sich das Vertrauen auf einen gleichharmonischen Gang der Geschichte ausdrückte« (1990:401). mäßig 25 Die so bezeichneten Tabellen und Abbildungen sind über das Internet (http://homepage.ruhruni-bochum.de/Christoph.Weischer/ oder http://www.oldenbourg.de/) zugänglich. Die zeitweise starke Belastung der Fachvertreter durch Lehrverpflichtungen, die auf die Ungleichzeitigkeiten in diesem Expansionsprozeß zurückgeht, drückte sich in der Relation von Anfängerzahlen und wissenschaftlichem Personal aus: diese stieg von 1:6,8 (1960) auf 1:9,1 (1966) und ging dann in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder auf 1:3 (1978) zurück.

248

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

wechselnden Studentengenerationen in standardisierter Form zu präsentieren. Diese Konstellation lud zur kognitiven Organisierung des wissenschaftlichen Feldes und zur Standardisierung der Wissensgebiete mit ihren Abgrenzungen ein« (Wagner 1990:485).

soziologische Disziplin überproportional; der Anteil der in der Soziologie stieg von 0,7% (1960) auf 2,0% (1966) und erreichte 1972 ein Maximum von 3,0%27. In den folgenden Jahren pendelte sich dieser Anteil um 2,5% ein28. Die bedingenden Faktoren dieser Entwicklung sind bislang wenig untersucht; man ist auf Mutmaßungen und zeitgenössische Deutungen verwiesen; auch können die eingangs geschilderten Veränderungen gesellschaftlicher Diskurse als wesentliche Rahmenbedingungen dieser Entwicklung begriffen werden vielleicht ist ein Modell der wechselseitigen Verstärkung dem Phänomen am angemessensten. In seiner Einführung zum Studium der Soziologie hob Matthes hervor, daß Studierende ihre Entscheidung »in aller Regel auf einer unzureichenden, bruchstückhaften oder gar in sich verzerrten Informationsgrundlage« (1973a:9) treffen mußten. Er führte dies auf die sehr unscharfen Vorstellungen von Soziologie in der veröffentlichten Meinung, an höheren Schulen und in der Literatur zurück. Man greife auf wenig realitätshaltige Typisierungen zurück: so erscheine die Soziologie als »diffuse Kraft der Weltveränderung«, als »modisch aufgeblähte Halbwelt« oder als »eine zusätzliche Möglichkeit der Selbstdarstellung, Selbstbegründung und Perfektion bestehender Praxis und Ideologie« (10). Demirovic vermutete, daß der »Appell an das Verantwortungsbewußtsein der Studenten und die Akzentuierung der Soziologie als einer gesellschaftlich wenig erwünschten und nicht funktionalisierten Wissenschaftsdisziplin zwei der Hauptgründe für ihre Attraktivität in den 60er Jahren bildeten« (1988b:51). Ähnlich liegt auch die Einschätzung Bourdieus, der die Soziologie als spezifisches Refugium begreift, »das all denen, die die großen Ansprüche der Theorie, Politik und politischen Theorie geltend machen wollen, bei niedrigstem Eintrittspreis in Form von Bildung höchsten symbolischen Gewinn anbietet« ([1984] 1992:271f). Die Studienfachwahl als strategische Entscheidung im Kontext der Reproduktionsstrategien gesellschaftlicher Gruppen im sozialen Raum ist für die deutschen Hochschulen bislang nicht untersucht worden29; Bude

Zunächst wuchs die

Studienanfänger

-

27 28

Berechnungen auf Basis von Viehoff 1984:266ff.

In ähnlicher Weise entwickelte sich der Studierendenanteil. Er wuchs von 0,5% (1960) auf 2,1% (1972); in den siebziger Jahren verlangsamte sich der Anstieg und pendelte sich gleichfalls

auf ca. 2,5% ein. Bourdieu hat im Rahmen seiner Untersuchungen zum Homo academicus diese Strategien eingehender analysiert: »Die neuen Disziplinen der philosophischen Fakultät (insbesondere die Soziologie C.W.) mit ihrem niedrigen Status und der Unbestimmtheit ihrer Ausbildungsziele waren dafür prädestiniert, vor allem jene Studenten aus Kreisen der herrschenden Klassen aufzunehmen, die nur mäßigen Schulerfolg gehabt hatten (...); zweitens, Studenten aus den Mittelklassen, die aus den nobleren Bildungsgängen verbannt worden waren« ([1984] 1992:269f). Darüber hinaus weist Bourdieu für die französischen Hochschulen auf die »strukturelle Affinität zwischen den Studenten und Lehrpersonen der unteren Ränge in den neuen Disziplinen« hin (272).

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

249

weist nur pauschal auf einen solchen Zusammenhang hin: »die Studentenbewegung war eine Bewegung sozialer Aufsteiger, und die Sozialwissenschaften waren das Vehikel ihres kulturellen Klassenkampfes« (1994:249f). Die Bedeutung der Sozialwissenschaften als Nebenfach für eine breite Palette von Fächern und Studiengängen korrespondierte mit der >Versozialwissenschaftlichung< vieler benachbarter Fächer: Parallel zum Ausbau der Sozialwissenschaften sind »sozialwissenschaftliche Wissensbestände in andere Studiengänge von der Philologie über die Jurisprudenz bis hin zur Medizin

integriert worden3 Die Interpretation dieser Wachstumsraten scheint eine Frage von wissenschaftspolitischer Bedeutung zu sein. Sowohl Scheuch als auch Lepsius bemühten sich, das Wachstum der Soziologie als ein von der Studentenbewegung unabhängiges Phänomen herauszustellen31. Mit diesem >Normalisierungsversuch< werden jedoch wesentliche Merkmale, die die Entwicklung der Sozialwissenschaften ab den sechziger Jahren ausmachten, nur unzureichend beachtet. Es hatte aus der Perspektive der Studierenden den Charakter eines >Kult-Fachessozialwissenschaftliche Milieus< herausbilden konnten [C2], die sich durch spezifische thematische Profile auszeichneten32. So waren 1979 in Berlin 59 Lehrstühle, in Frankfurt 39 zu verzeichnen; in Bielefeld, Bremen und Hamburg jeweils ca. 25; die Lehrstühle der zehn größten Standorte33 machten etwa die Hälfte der Gesamtkapazität aus (Sahner 1982:79). Lepsius vermutet rückblickend, daß auch diese »örtlichen Milieus« (1998:222) zum Differenzierungsprozeß der Soziologie beigetragen haben. Von allen Beteiligten wurde der Entwicklungsprozeß der sechziger und siebziger Jahre als ein Prozeß geschildert, in dem sich aus einer überschau.

-

-

Braczyk und Schmidt schildern diese Diffusionsprozesse am Beispiel der Industrie: »Der Soziologe, zunächst verwiesen an die Universitäten und mißtrauisch beäugt als Gesellschaftsveränderer, wurde in den letzten 10 bis 15 Jahren in zunehmendem Maße nachgefragt als Diskussionspartner, als Fachwissenschaftler (...) und schließlich auch häufig genug handfest als Berater« (1982:444). Scheuch (1990a:45) merkt an, daß der Bedeutungszuwachs der Soziologie (bezogen auf die Studierendenzahlen) im wesentlichen vor der >Studentenbewegung« stattgefunden habe. Das trifft bedingt zu; der dann über längere Zeit stabile Anteil von ca. 2,5% der Studierenden wurde erst 1972 erreicht. Lepsius kam zu dem Schluß, daß die Entwicklung der Soziologie keinesfalls den Charakter einer »Sonderentwicklung« habe. »Ihre personale Expansion entspricht durchaus dem Wachstum des tertiären Bildungswesens«; die »relative Stellung (...) im Wissenschaftssystem« (1976a: 12) habe sich kaum verändert. Klima zeigte in seiner Analyse der soziologischen Lehre, daß sich »>links-politisch< relevante Lehrthemen« (1979:247) recht unterschiedlich auf die einzelnen Standorte verteilten; ihr Anteil am Lehrangebot der elf größten Einrichtungen schwankte zwischen 4% und 30%. Zu den bereits genannten kamen Kassel, Hannover, München, Münster und Köln hinzu. nur

250

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

baren Gemeinschaft von Fachvertretern als letzter dieser Generation verabschiedete sich Schelsky aus dem Geschehen eine hoch differenzierte Wissenschaftslandschaft herausbildete, »die sich spätestens seit dem zweiten Berliner Soziologentag 1978 einer vereinheitlichenden Abbildung sperrt« (von Ferber 1998:112). Sahner (1982a:73ff) hat untersucht, in welchem Maße sich die Hochschullehrerschaft der siebziger Jahre aus den >großen< Schulen der westdeutschen Nachkriegssoziologie34 rekrutierte [C3]; nähere Auskunft über die Struktur und Kohärenz einzelner >Schulen< der Nachkriegssoziologie gibt eine Auswertung von Dissertationen der späteren Lehrstuhlinhaber35. Sahner (1982a:88ff) konnte für 1974 drei Cluster identifizieren: das Cluster dogischer Empirismus< in dem sich vorwiegend Schüler von König fanden, ein Cluster >naiver Positivismuskritische Exegesereine Exegese« erweitert. Hier stand in der ersten Dimension das Merkmal >Kritik und Diskussion anderer Theoretiker und theoretischer Ansätze« im Vordergrund; in der zweiten Dimension das Merkmal >reflexiv< (111). Eine Analyse der Homogenität dieser Cluster zeigt, daß diese in der König-Schule am höchsten war, gefolgt von der Schelsky-Schule; eine hinreichende Kohärenz des Frankfurter Clusters war nur für den ersten Untersuchungszeitpunkt (1974) gegeben.

II. Die Entwicklung von

Soziologie und Sozialforschung

251

Die >Irritationen< durch die

Studentenbewegung und die damit verknüpften paradigmatischen Verschiebungen in der Soziologie wurden von den Fachvertretern der Nachkriegsgeneration wissenschaftsstrategisch durch verschiedene Maßnahmen >beantwortetKarriere
Boom< der kritischen Theorie hatte über eine Dekade Bestand, bis sie in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre von Systemtheorie bzw. Kybernetik in der >Spitzenstellung< abgelöst wurde.

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

252

theoretischen Begründung der Soziologie und der empirischen Forschung befaßten; in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ging dieser Anteil dann deutlich zurück. Während im Zeitschriftendiskurs empirische Themen in der zweiten Hälfte der sechziger und in der ersten Hälfte der siebziger Jahre an Bedeutung verloren, zeichnet sich im Bereich der Lehre an den Hochschulen eher ein Bedeutungszuwachs von Veranstaltungen ab, die sich mit Fragen der empirischen Forschung und mit wissenschaftstheoretischen Themen beschäftigten [C5]. Nach den Themen der speziellen Soziologien gehörte der Methodenbereich zu den Schwerpunkten der Lehre in der Soziologie. Der Anteil der Methodenveranstaltungen stieg von ca. 10% in den sechziger Jahren auf ca. 15% in den siebziger Jahren; Mitte der achtziger Jahre lag er bei 12% Veranstaltungen zu wissenschaftstheoretischen Themen hatten in den sechziger und siebziger Jahren einen Anteil zwischen zwei und vier Prozent des Lehrangebots; dieser ging 1985 auf einen Prozent zurück44. Der Stellenwert von Veranstaltungen zu den Methoden empirischer Forschung in der soziologischen Ausbildung ist Ausdruck der festen Verankerung dieser Themen in den verschiedenen Diplomprüfungsordnungen [C6]. Im Grundstudium machten Veranstaltungen aus dem Methodenbereich ein Drittel der obligatorischen Ausbildung aus; im Hauptstudium geht dieser Anteil zurück45. Es scheint, daß die empirische Sozialforschung nicht nur mach außen als Garant der Wissenschaftlichkeit der Soziologie, sondern auch mach innen als fester Bestandteil verschiedener Konzepte einer soziologischen Wissenschaft fungierte. »Wie verschieden auch im weiteren Verlauf des Studiums die Lehrpläne ausschauen, wie unterschiedlich auch die inhaltlichen Positionen des Personals an verschiedenen Hochschulen sein mögen: Eine Grundausbildung in zumindest Techniken der Sozialforschung gehört zu den verbliebenen Gemeinsamkeiten einer in vielen anderen Fragen tatsächlich uneinigen

3.

Disziplin« (Scheuch 1976:83).

Auseinandersetzungen um die empirische Sozialforschung und ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen

In dem Maße, wie die Gestalt einer empirisch fundierten Soziologie erkennbarer wurde, wie ein bestimmter Typus empirischer Forschung, ein bestimmtes wissenschaftstheoretisches Konzept (das des kritischen Rationalismus) und ein bestimmtes Theoriemodell (Theorien mittlerer Reichweite mit funktionalistischer Orientierung) einen engen Argumentationsverbund 44

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Klima (1979:236ff) und Heitbrede (1986:111). Eigene Auswertung auf Basis der Angaben bei Endruweit (1975:49ff). Da im Hauptstudium Themen der empirischen Sozialforschung häufiger mit anwendungsbezogenen Themen kombiniert wurden, wird die Bedeutung der Sozialforschung hier vermutlich unterschätzt.

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

253

eingingen, formierte sich die Kritik an der empirischen Sozialforschung, ihren Grundlagen und Implikationen. Einen Kristallisationspunkt dieser Kritiken lieferte der sogenannte Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Dieser >Streit< durchlief verschiedene Entwicklungsphasen: Ausgangspunkt waren in den späten fünfziger Jahren Konflikte unter den Fachvertretern der Soziologie. Zuvorderst standen das Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung und

damit das wissenschaftliche Selbstverständnis zur Debatte. Eine zweite Phase wird durch die Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie markiert, wo durch eine Auseinandersetzung über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen empirischer Forschung zu einer Klärung der Fronten beigetragen werden sollte; die auf der Tagung vorgestellten Beiträge von Adorno und Popper fügten sich jedoch nur bedingt in das Muster eines Grundsatzstreits. In einer dritten Phase erführ der Konflikt insbesondere durch die Auseinandersetzung zwischen Habermas und Albert eine Aufladung, die mit dem 1969 erschienen Tagungsband manifestiert wird. Dem folgte schließlich eine nicht weiter faßbare vierte Phase, als der Streit reinterpretiert und als Lehrgegenstand >weiterverarbeitet< wurde; er diente nunmehr als Sozialisationsmedium, als exemplar, und lieferte eine ordnungs- und orientierungsstiftende Dichotomie im wissenschaftlichen Feld. »Und weil eine solche Kontroverse, wie jedes historische Ereignis, ständig neu interpretiert wird, wird im gleichen Maße unklarer, worin die Kontroverse eigentlich bestand« (Wohlrapp 1979:125). An dieser Stelle soll keine Rekonstruktion der Phasen des >Positivismusstreits< erfolgen hier kann insbesondere auf die Darstellungen von Dahms (1994) und Demirovic (1999:799ff) verwiesen werden. Vielmehr soll den verschiedenen Argumentationsebenen nachgegangen werden, auf denen Kritiken an >der empirischen Sozialforschung< entwickelt wurden. Während sich die Beiträge Adornos und Poppers auf der Tübinger Tagung durch eine disziplinierte Beschränkung auf die wissenschaftstheoretische Argumentation auszeichneten, wurde in der Vorgeschichte des Streits wie in seiner späteren Verarbeitung eine weit größere Palette von Argumenten erörtert. Nur darüber war es möglich, daß diese Auseinandersetzungen um die empirische Sozialforschung den Charakter eines Grundsatzstreits, eines Schulenstreits annahmen; sie waren von einer Atmosphäre der Unvereinbarkeit, des Unversöhnlichen geprägt. Im nachhinein stellt sich der Eindruck ein, daß auch der zeitgeschichtliche Kontext, das Klima von Kaltem Krieg und Systemkonkurrenz, die wenig verarbeitete nationalsozialistische Vergangenheit und schließlich die kulturellen Umbrüche jener Zeit für die Inszenierung, die Austragungsmodi und die Stilmittel des Streits eine große Rolle spiel-

ten46.

Hartmann schildert diesen Zusammenhang so: »Am Anfang stand die Hoffnung auf absolute Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Diese Erwartung wirkt heutzutage nur noch na-

254

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der empirischen Forschung Die Auseinandersetzungen um den adäquaten wissenschaftstheoretischen Rahmen der Sozialforschung reichen weit in die Geschichte der Sozialwissenschaft als einer zutiefst »philosophie- und methodologiegeprägten Disziplin« (Lenk 1986:8) zurück.

a)

Logischer Empirismus, Szientismus und kritischer Rationalismus Mit den Arbeiten der logischen Positivisten Wiener Prägung und später mit der analytischen Philosophie entstand ab den dreißiger Jahren eine moderne Wissenschaftstheorie. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich diese neue Disziplin, »die vordem als ein bloßer Annex der Logik-Lehrbücher in Erscheinung getreten war« (Haller 1993:3). Den Maximen der positivistischen Philosophie eine durchgängig antimetaphysische Orientierung, Erfahrung als Erkenntnisquelle, das Konzept der Einheitswissenschaft, die Eliminierung wurden im Neopositivismus neue Asvon nicht-beschreibenden Aussagen pekte hinzugefügt: man bezog die mathematische Logik als Ordnungsprinzip ein, man befaßte sich mit Sprachanalyse und -kritik, Sollsätze und Wertfragen wurden als wissenschaftliche Fragen ausgeschlossen. Als wichtigste Verfahrensweise der empirischen Arbeit wurde die induktive Ableitung von Erkenntnissen aus der Untersuchungsarbeit angesehen. Die Grundgedanken des Wiener Kreises waren vor allem von Wittgenstein beeinflußt. Neurath entwarf 1931 die Umrisse einer empirischen Soziologie47 im Sinne einer Einheitswissenschaft, die auf physikalistischer Basis (sinnleere) Aussagen über »Kausalitäten der unbelebten, der belebten, der sozialen Vorgänge« ([1931] 1979:148) macht. Gegenstand der Soziologie sind räumlichzeitliche Vorgänge«:, gesprochene und geschriebene Worte. »Die Soziologie kann nur die Gewohnheiten der Menschen und das Verhalten ihrer Umgebung in einem Zeitpunkt feststellen, um daraus ihr Verhalten und ihre Umgebung im nächsten abzuleiten« (154f). Auch in historischer Perspektive sollte das >Gewebe von Gewohnheiten aufgezeigt werden, das Menschengruppen (untereinander und miteinander) verband. Neurath vertrat an dieser Stelle einen Sozialbehaviorismus: »Die Soziologie hat es also mit durch Reize verbundenen biologischen Gruppen zu tun (...). Sie hat bestimmte Gesetzmäßigkeiten festzustellen« (156). Durch das Interesse an dem Schicksal ganzer Gruppen, durch die Beobachtung von Streuungserscheinungen und Wahrscheinlichkeiten, könne man gegenüber Einzelbeobachtungen wesentliche Fortschritte erzielen (222). Gesetzmäßigkeiten vermutete er weniger als allgemeine soziologische Gesetze, sondern als Gesetze des individuellen Verhaltens (165). Die wissenschaftliche Verwendbarkeit der Soziologie müsse sich insbesondere über erfolgreiche Prognosen beweisen. Diese und -

-

iv, wurde seinerzeit aber vielfach geteilt und ist wohl nicht nur in meinem Fall paradoxerweise ableitbar aus dem absolutistischen Charakter des Nationalsozialismus« (1998:354). Neuraths Denken war bis dahin weitgehend von sozialistischen Vorstellungen geprägt.

II. Die Entwicklung von

Soziologie und Sozialforschung

255

andere Arbeiten Neuraths haben, nach Hallers Einschätzung48, die Umrisse des logischen Empirismus nachhaltig geprägt. Die Arbeiten der logischen Positivisten wurden in den Sozialwissenschaften zunächst wenig zur Kenntnis genommen; die Auseinandersetzung des Frankfurter Instituts mit diesem Ansatz setzte erst 1936 ein49; 1937 wurde dann Horkheimers >Abrechnung< mit dem logischen Empirismus (>Der neueste Angriff auf die MetaphysikGanze der Erkenntnis< betont. Mit Horkheimers recht unversöhnlich vorgetragener Kritik waren bereits wesentliche Argumentationsfiguren des späteren Streits entwickelt. Über die Vertreter der Frankfurter Schule hinaus blieb die Rezeption der Arbeiten des Wiener Kreises begrenzt; dies änderte sich erst mit der Migration wichtiger Vertreter in die USA und der wachsenden Zahl eng-

lischsprachiger Beiträge50. Die Position, die der logische Empirismus in den Auseinandersetzungen um die angemessene Analyse der sozialen Welt innehatte, wurde in den Nachkriegsjahren zunehmend von der Wissenschaftsphilosophie Karl Poppers und seinem Konzept des Kritischen Rationalismus eingenommen. Popper kritisierte insbesondere das Verifikationsprinzip und damit verknüpft die induktive Orientierung des Neopositivismus; demgegenüber erhob er die Falsiflzierbarkeit von Aussagen zum entscheidenden Kriterium wissenschaftlichen Vorgehens. An die Stelle absoluter Wahrheiten trat die Vorstellung der Wahrheitsannäherung über die zunehmende Bewährung von Sätzen; Wis-

senschaft wurde »als ein kollektives Unternehmen, als eine Institutionalisierung kritischer Vernunft« (Giddens [1976] 1984:165) begriffen. Der kritische Rationalismus erfuhr im Laufe der Zeit manche Transformationen51. Die Rezeption Poppers in der Bundesrepublik setzte mit der deutschen Übersetzung von >Open Society«: (1957) ein. Eine wichtige Rolle spielte vor allem Hans Albert, der später im Positivismusstreit den Part des >Positivisten< einnahm. Er hatte sich nach seiner Promotion bei von Wiese Assi-

»Weil Carnap so oft seinen (Neuraths C.W.) Auffassungen gefolgt ist, sie ausgebaut und zu präzisieren versucht hat, nahm man das Werk Camaps als die reine und vollendete Form und ging gar nicht der Frage nach, woher ihr Inhalt stammt« (Haller 1993:6). 49 Vgl. die Darstellung der Kontakte der frankfurter« zu den >Wienern< bei Dahms (1994:43ff). 50 Vgl. dazu Platt (1996:70f). 51 Lenk charakterisierte diese als »pragmatische Relativierung des >harten< Programms« (1986:69). So habe er z.B. die Anerkennung von Basissätzen als einen konventionalistischen Entschluß interpretieren müssen. In seinem Referat auf der Tübinger Positivismus-Tagung der DGS skizziert Popper sogar die Umrisse einer »oe/'etóv-verstehenden Methode« ([1969] 1980:120f).

256

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Weisser52 zunächst mit dem logischen Positivismus befaßt und dann auf die Arbeiten Poppers gestoßen. Soweit ersichtlich, ging die Rezeption von Poppers Theorien in der deutschen Soziologie in besonderem Maße auf den Kölner Kreis zurück53. 1962 erschien im Handbuch der empirischen Sozialforschung ein Beitrag Alberts, indem er vor allem die geisteswissenschaftlich und historistisch orientierten Ansätze der deutschen Soziologie fundamental kritisierte. Für die Entwicklung der wissenschaftstheoretischen Debatte in der Bundesrepublik Deutschland spielte auch der Verlauf der amerikanischen Debatten um Wissenschaftstheorie, Positivismus und Szientismus eine Rolle54; dabei wurden George Lundberg und Stuart Dodd zu wichtigen Figuren; nach einem ersten Lehrbuch zur Sozialforschung (1929) hatte Dodd bereits 1939 mit den Foundations ofSociology eine soziologische Metatheorie vorgelegt, die in einer Vielzahl von Zeitschriftenbeiträgen weiterentwickelt wurde. Gegenüber dem Ideal eines strikt hypothesentestenden Vorgehens maß er der Induktion eine stärkere Bedeutung zu. Dodd entwickelte in den vierziger Jahren eine Symbolsprache zur Beschreibung sozialer Phänomene. Lazarsfeld hatte zwar engen Kontakt zu einigen Mitgliedern des Wiener Kreises, kritisierte aber verschiedentlich, daß die Wissenschaftstheoretiker den praktischen Forschungs- und Theorieproblemen der Sozialwissenschaften zuwenig Aufmerksamkeit schenken55. Das führte dazu, daß er die wissenschaftstheoretischen Entwürfe nur sehr selektiv in seine Konzeption integrierte56. Hinweise auf den weiteren Verlauf der deutschen Debatte um die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaften können auch aus der Publikationsgeschichte wichtiger wissenschaftstheoretischer Veröffentlichungen gezogen werden [C7]. Parallel zu der Veröffentlichung des ersten Bandes des Handbuchs der empirischen Sozialforschung 1962 (mit den wissenschaftstheoretischen Beiträgen von Zetterberg und Albert) gab König 1961 Durkheims >Regeln der soziologischen Methode«: heraus57. In seiner umfangreichen Einleitung findet sich jedoch kein Bezug auf die derzeitigen stent bei

-

war

52

Weisser war aus der philosophischen Schule Leonard Nelsons hervorgegangen. Scheuch (1996:215) beschreibt einen von 1959 bis 1961 tätigen Arbeitskreis: »Der geistige Kopf war in den meisten Fragen Hans Albert, der uns die Gedanken von Karl Popper näherbrachte. Das wurde ergänzt durch eigene Studien der Schriften des Wiener Kreises (...) Unter uns entwickelte sich eine Aufbruchstimmung, und wir schwärmten aus in die Seminare der verschiedenen Fächer der WiSo-Fakultät, um die Kunde von der richtigen Wissenschaftslehre als Philoof Science« zu verbreiten«. sophy 54 Vgl. Platt (1996:70f). 55 Vgl. Lazarsfeld ([1962] 1993:37). 56 Platt kam zu der Einschätzung, daß trotz einer verbreiteten szientistischen Orientierung der Einfluß des Kreises um Lundberg und Dodd begrenzt blieb: die theoretischen Überlegungen seien schwer verständlich gewesen und hätten wenig Anknüpfungspunkte für praktische Forschungsfragen geboten; die praktische Forschungsarbeit der Gruppe sei demgegenüber entweder als trivial oder angesichts des hohen Abstraktionsgrades für uninteressant befunden worden (1996:100). 57 In Frankreich war das Werk, nach der Erstausgabe 1895, 1950 in zweiter Auflage erschienen. 53

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

257

wissenschaftstheoretischen Debatten z.B. in den USA. Die in kurzen Abständen erfolgenden weiteren Auflagen der >Regeln< zeugen von der Bedeutung dieser Veröffentlichung für den sozialwissenschaftlichen Diskurs. Ab Mitte der sechziger Jahre intensivierte sich die Publikationstätigkeit zu wissenschaftstheoretischen Themen; neben einer Neuauflage von Poppers bereits 1935 erschienener >Logik der Forschung«: fand insbesondere der von Ernst Topitsch58 1965 herausgegebene Band >Logik der Sozialwissenschaften«: eine größere Verbreitung. Der Band repräsentierte mit den Beiträgen von Schlick, Hempel, Nagel, Popper und Albert sowie mit Beiträgen zu den wissenschaftslogischen Problemen einzelner sozialwissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsfelder eine breite Palette von Ansätzen, die sich im

weiteren am Paradigma eines kritischen Rationalismus orientierten59. In seinem Beitrag >Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften«: faßte Albert wichtige Eckpunkte seines wissenschaftstheoretischen Konzepts zusammen. Wissenschaftliche Theorie sollte Vorgänge erklären und voraussagen; sie sollte aus einem axiomatisch-deduktiven Systems von Sätzen bestehen, »dessen Axiome und Theoreme als generelle, d.h. zeiträumlich unbeschränkte Hypothesen zu interpretieren, dessen Begriffe auf der Basis einiger Grundbegriffe gebildet sind und dessen Axiomensystem den Forderungen der Widerspruchslosigkeit, Unabhängigkeit, Zulänglichkeit und Notwendigkeit genügt« ([1965] 1993:136). Die Überprüfung solcher Aussagensysteme könne nur durch Faktenanalyse und Experimente erfolgen. Gegenwärtig seien die Sozialwissenschaften eher von Quasitheorien mit einer raum-zeitlichen Spezifik geprägt; diese Raum-Zeit-Beschränktheit sollte durch strukturelle Relativierung< eliminiert werden60. Der Beitrag Lazarsfelds möchte die Spezifik der Forschungsprobleme der Sozialwissenschaften in den Vordergrund wissenschaftstheoretischen Interesses rücken, ohne auf den einheitswissenschaftlichen Anspruch verzichten zu wollen: er verwies z.B. auf die noch wenig geklärten Meßprobleme in den Sozialwissenschaften. Eine Abgrenzung wurde gegenüber der Weberschen idealtypischen Arbeitsweise und gegenüber ganzheitlichen Argumentationen vollzogen. Das Sozialforschungsprojekt, das er exemplarisch darstellte, war eher durch ein induktives Vorgehen ausgewiesen. In dem Beitrag Lazarsfelds wurde nur in groben Umrissen ein dezidiertes wissenschafts-

-

-

Zur Person und zur Rolle Topitsch' in der österreichischen Soziologie und Sozialphilosophie vgl. Acham (1998: insbesondere 692ff). Die Erstauflage von 1965 hatte darüber hinaus noch Beiträge z.B. von von Ferber und Habermas enthalten; zudem gab es einen eigenen Teil zur Verwendung formalwissenschaftlicher Tech-

niken in den Sozialwissenschaften. Eine Abgrenzung erfolgte gegenüber historisierenden Argumentationen und metaphysischen bzw. ideologischen Systemen, gegenüber dialektischem Vorgehen und Gedankenexperimenten. Vor diesem Hintergrund wurde eine gesellschaftliche« Analyse und Prognose ausgeschlossen, da »die Gesellschaft als Ganzes kein isoliertes, stationäres und rekurrentes System ist« (137).

258

C. Die >Große Zeit« der empirischen

theoretisches

Sozialforschung (1965-1980)

Programm erkennbar; es war eher das Programm einer konse-

quent empirisch orientierten Soziologie.

Topitsch analysierte den Prozeß der Wissenschaftsentwicklung als einen Differenzierungsprozeß der darstellend-informativen und der normativ-

-

emotionalen Funktionen von wissenschaftlicher Arbeit. Die Gesellschaftswissenschaften seien durch sozialphilosophische Ansätze gekennzeichnet, die letztlich auf die Scholastik zurückgingen. So sei es ein Problem, daß die »Motivationskraft von Werturteilen oft gesteigert wird, wenn sie nicht unter ihrer echten logischen Flagge, sondern in der Verkleidung als Tatsachenaussagen auftreten« ([1965] 1993:21). Die Argumentation Topitschs richtete sich gegen die Psychoanalyse, gegen Doktrinen der matürhchen Ordnung«:, gegen die Dialektik und schließlich gegen essentialistische Aussagen über das Wesen von sozialen Gegebenheiten. Damit hatte Topitsch einen gewissen common sense formuliert, der die in wissenschaftstheoretischer Perspektive recht unterschiedlichen Argumentationen zusammenhielt. Es war weniger ein positives Wissenschaftsprogramm, sondern vielmehr eine grundsätzliche Kritik an jenen human- und sozialwissenschaftlichen Theorien, die sich im Sinne politischer Ideologien verschiedener Couleur funktionalisieren ließen: Auf der einen Seite sah Topitsch eine »Tradition dialektisch-organischer Machtstaatsideologie von Hegel« bis zur Vorbereitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, auf der anderen Seite die Verwendung des dialektischen Materialismus im Sinne einer sowjetischen Staatsscholastik. Damit wurde das Projekt einer wissenschaftstheoretischen Klärung der Grundlagen der Sozialwissenschaften zu einem Projekt der politischen >Aufklärung< überhöht. Mit diesem Verschnitt von Argumentationsebenen, der vermutlich gar nicht einmal von allen Beitragenden geteilt wurde, potenzierte sich das Konfliktpotential.

Frankfurter Positionen Die für die wissenschaftstheoretische Kontroverse bedeutsamen Eckpunkte von Adornos Referat lassen sich so umreißen: Die Daten, mit denen es die Sozialwissenschaft zu tun hat, sind durch den Zusammenhang gesellschaftlicher Totalität strukturiert; dieser kann nicht über Einzelbeobachtungen eingeholt werden ([1969] 1980:127). An Stelle des Primats der Beobachtung sollte ein Primat der Kritik treten (132). Theorie kann nicht durchgängig in Hypothesen aufgelöst werden, sie ist das »Telos der Soziologie« (133). Die Dichotomien von wertend und wertfrei bzw. von Sein und Sollen müssen überwunden werden (139). Mit einem erstmals 1963 veröffentlichten Beitrag >Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik< schaltete sich Jürgen Habermas in die Debatte ein, um Adornos Position mit »besseren Argumenten« (Habermas nach Dahms 1994:362) zu verteidigen und um seine Theorie der >erkenntnisleitenden Interessen in die Diskussion zu bringen. Dahms macht deutlich, daß

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

259

Auseinandersetzung um den kritischen Rationalismus erst mit dem Einstieg von Habermas zu einem Positivismusstreit wurde. Habermas verdeutlichte seine Position61 an der Gegenüberstellung des dialektischen Begriffs der Totalität mit einem fimktionalistischen Begriff von System. Er faßte das Wertfreiheitsgebot als Forderung nach einem Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen und diskutierte die daraus resultierenden Folgen: so führe der Rückzug auf die Erfahrungswissenschaft dazu, daß der Positivismus gewissermaßen durch eine Mythologie ergänzt werden müsse; ausführlich

die

er sich mit Poppers konventionalistischer Lösung des Basissatzproblems. Abschließend setzte er sich mit der Vorstellung auseinander, daß

befaßte

mit wertfreien Verfahrensweisen ein sozialtechnisches Instrumentarium konstruiert werden könne, das im Sinne einer Zweck-Mittel-Logik fungiere. Während die Beiträge zum Positivismusstreit von der Logik der Auseinandersetzung geprägt sind und die Habermassche Argumentation nur rudimentär erkennen lassen, findet sich in dem 1967 von ihm vorgelegten Literaturbericht >Zur Logik der Sozialwissenschaften< eine fundierte Auseinandersetzung mit verschiedenen methodologischen Schlüsselfragen62. Das vor diesem Hintergrund formulierte Programm versuchte sich an einer Balance von verstehender Soziologie und der Analyse gesellschaftlicher Totalität63. Vor allem im Beitrag von Habermas wird deutlich, daß mit den Beiträgen zum >Positivismusstreit in der deutschen Soziologie< aber auch zu der von Topitsch herausgegebenen >Logik der Sozialwissenschaften«: nur ein begrenztes Spektrum wissenschaftstheoretischer Positionen abgedeckt wurde. Verstehende Soziologie, symbolische Interaktion, Ethnomethodologie Mit dem auf Weber und Simmel zurückgehenden Ansatz einer verstehenden Soziologie und ihrer Weiterentwicklung durch Schütz, mit der phänomenologischen Tradition Husserls, dem amerikanischen Pragmatismus, den Theorien der symbolischen Interaktion und schließlich mit der Ethnomethodologie lagen für die Sozialwissenschaften eine Reihe von Gegenentwürfen zum wissenschaftstheoretischen Programm des logischen Positivismus bzw. des kritischen Rationalismus vor. Sie waren aber auch mit dem Frankfurter Programm einer totalitätsbezogenen Empirie nur bedingt vereinbar. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Diskussionsbeiträge von Habermas, die im Tagungsband veröffentlicht wurden. Eine umfassendere Analyse von Habermas' Argumentation vor dem Hintergrund seiner Ausbildung bei Rothacker findet sich bei Dahms (1994:364ff). Zum Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft (Rickert, Cassirer, Weber), zum Verhältnis

Soziologie und Geschichte (Ritter, Schelsky, Topitsch, Popper, Dray, Danto), zur Methodologie von Handlungstheorien, zur Problematik sinnverstehender Sozialwissenschaft (Kaplan, Cicourel, Coombs, Schütz, Garfinkel, Goffman, Wittgenstein, Winch, Fodor/ Katz, Gadamer) und zum gegenwartsanalytischen Potential der Soziologie (Strauss, Mead, Ayer, Maclntyre). »Der objektive Zusammenhang, aus dem soziale Handlungen allein begriffen werden können, konstituiert sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft zumal. An Systemen der Arbeit wie der Herrschaft relativiert sich das Überlieferungsgeschehen, das nur einer verselbständigten Hermeneutik als die absolute Macht entgegentritt. Die Soziologie darf sich auf eine verstehende deshalb nicht reduzieren lassen« (Habermas [1967] 1970:289). von

C. Die >Große Zeit« der empirischen

260

Sozialforschung (1965-1980)

Weber hatte sich in seinen Beiträgen zur Wissenschaftslehre64 dagegen ausgesprochen, die Suche nach Gesetzmäßigkeiten des Sozialen zur leitenden Orientierung zur erheben. Er begründete dies nicht mit der mangelnden Gesetzmäßigkeit geistiger Vorgänge; vielmehr sei dies sinnlos »weil 1) Erkenntnis von sozialen Gesetzen keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist (...) und weil 2) keine Erkenntnis von Ä^w/iwrvorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat. In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, (...) entscheidet sich nach den Wertideen« ([1904] 1973a: 180). Einen adäquaten empirischen Zugang sah Weber in der Analyse von Idealtypen, ohne daß er jedoch einen gangbaren Weg zur Konstruktion solcher Idealtypen anbieten konnte und >wollte< (Helle [1977] 1991:30). Wie Weber an späterer Stelle schrieb, sollte das >Verstehen< von Zusammenhängen stets mit »gewöhnlichen Methoden kausaler Zurechnung, soweit möglich, kontrolliert werden« (Weber [1913] 1973b:428). Er setzte sich mit seinem Modell der >Wirklichkeitswissenschaft< bewußt von dem einer >Gesetzeswissenschaft< ab. Die >Wirklichkeitswissenschaft< gehe stets von einem, sorgfältig zu reflektierenden, >fnteresse< aus; es reiche daher nicht aus, Webers Werk »als >verstehende< oder historische Soziologie zu qualifizieren« (Tenbruck 1986:27) und von seinem Wertstandpunkt zu abstrahieren. Schütz, der seine Arbeiten

Weiterentwicklung von Webers Konzepten einer verstehenden Soziologie begriff, trat in eine Auseinandersetzung mit den Vertretern des logischen Empirismus (Nagel und Hempel) ein; er ging davon aus, daß die Methode des Verstehens durchaus mit den grundlegenden Prämissen des logischen Empirismus vereinbar war (vgl. dazu Bodenstedt 1966:90). In Alfred Webers Einführung in die Soziologie wurde kurz auf das Konzept der Idealtypik eingegangen (1955:24ff und 166f), Max Webers Ansatz einer verstehenden Soziologie fand jedoch keine Erwähnung. Auch der 15. deutsche Soziologentag, dessen Rahmenthema >Max Weber und die Soziologie heute< war, hatte kaum zu einer stärkeren Rezeption von Webers Konzept einer verstehenden Soziologie beigetragen65. Neben den auf Weber und Simmel zurückgehenden Konzepten boten der amerikanische Pragmatismus (Peirce, James, Dewey, Mead), das Konzept als eine

Tenbruck rekonstruierte den Stellenwert von Webers Überlegungen: jahrzehntelang habe »man die >Wissenschaftslehre< mit der Brille der eben herrschenden Wissenschaftstheorie des Neopositivismus gelesen« (1986:19). Er arbeitete demgegenüber heraus, daß Weber diese wissenschaftstheoretischen Fragen eigentlich wenig interessiert hätten. Erst eine Verschiebung der Gesichtspunkte« er verwies auf Droysen, Dilthey, Windelband und Rickert machte es erforderlich, sich der Sozialwissenschaft als >Wirklichkeitswissenschaft< zu versichern (21). Selbst die Kölner Fachvertreter resümierten ihre Einschätzung des Kongresses mit den Worten eines amerikanischen Soziologen, der fragte, ob es sich eher um ein Jubiläum oder eher um ein Begräbnis gehandelt habe (Aich et al. 1964:424). -

-

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

261

der symbolvermittelten Interaktion66 (Mead, Cooley, Thomas) und schließlich die daran anknüpfende Forschungspraxis der Chicagoer Schule ein breites empirisch-theoretisches Programm einer interpretad ven Soziologie und Sozialforschung. Blumer (1973:81) hat drei Grundsätze des symbolischen Interaktionismus herausgearbeitet: Menschen handeln gegenüber >Dingen< auf der Grundlage von Bedeutungen, die diese >Dinge< für sie besitzen; diese Bedeutungen erwachsen aus der Interaktion, und sie werden in einem interpretativen Prozeß gehandhabt und abgeändert. Das Programm, wie es z.B. von Mead formuliert wurde, grenzte sich auf der einen Seite gegen einen Positivismus ab, »der die Qualitäten der Objekte als unabhängig vom Erkenntnisprozeß gegeben annimmt«, andererseits gegen einen spekulativen Idealismus, »der eine Erkenntnisgewinnung unabhängig von der Bezugnahme auf die empirische Wirklichkeit zulassen würde« (Helle [1977] 1991:83). Blumer differenzierte dieses Konzept: er bekannte sich zu einer empirischen Sozialwissenschaft, betonte aber, daß diese empirische Welt nur in Form der Bilder und Vorstellungen bestehe, die sich die Menschen von ihr machen; daraus erwachse ihr >eigensinniger Charakten. Damit wendete sich Blumer gegen die vom kritischen Rationalismus postulierte Begrenzung der wissenschaftstheoretischen Reflexion auf den Begründungszusammenhang wissenschaftlicher Forschung; vielmehr müsse die methodische Reflexion mit der Formulierung von Problemstellungen begonnen werden und ende mit der Interpretation der Ergebnisse. Er kritisierte die vorherrschende Praxis, nur noch solche Forschung anzuerkennen, die mit quantifizierbaren Variablen, mit hochentwickelten statistischen bzw. mathematischen Verfahren und mit eleganten logischen Modellen arbeitet67. Ein wesentlicher Unterschied zum Ansatz des kritischen Rationalismus bzw. zur Kritischen Theorie lag in der Bestimmung dessen, was Aufgabe empirischer Forschung zu sein habe; es gehe weder um eine Theorie, die der empirischen Arbeit vorausgesetzt sei, noch um eine inkrementalistische Kumulation von empirisch bewährten Theoriebausteinen: Blumer entwarf demgegenüber das Bild einer empirischen Wissenschaft als ein »gemeinsames Suchen nach Antworten auf Fragen, die an den widerstrebenden Charakter der jeweiligen untersuchten empirischen Welt gerichtet werden« (1973:104). Dieser Forschungsprozeß und die spätere Interpretation der Ergebnisse wer66

Joas schlug diesen auf Habermas zurückgehenden Begriff als den Meadschen Intentionen anvor ([ 1980] 1989:91 Fn.l). gemessener 7 Große Teile der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen und psychologischen Forschung wurden als »unangemessen und fehlgeleitet bezeichnet (...): die Entwicklung und der Gebrauch ausgetüftelter Forschungsmethoden, gewöhnlich von fortgeschrittenem statistischem Charakter; die Konstruktion logischer und mathematischer Modelle, die allzu häufig von dem Kriterium der Eleganz geleitet werden; die Ausarbeitung formaler Schemata, wie Konzepte und Theorien zu entwerfen sind (...); betriebsame Übereinstimmung mit den Richtlinien der Forschungsplanung; und die Befürwortung einer bestimmten Vorgehensweise, wie zum Beispiel der Umfrageforschung, als der Methode wissenschaftlicher Forschung (108)«.

262

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

den von >Konzepten< geleitet, die Wissenschaftler von der sozialen Welt haben. Die Interpretation der Ergebnisse begriff er als einen Akt, in dem diese mit einem äußerlichen TheoriegebäudeSet von Konzeptionen«: in Bezug gesetzt werden (107). Winchs >Idee der Sozialwissenschaft < rekurrierte zum einen auf die Sprachphilosophie Wittgensteins, zum anderen auf Webers Handlungsmodell. Mit Bezug auf Weber begriff er sinnvolles Handeln als symbolisches Handeln ([1966] 1974:66); dieses impliziere einen Regelbezug und damit einen Gesellschaftsbezug. Die Rekonstruktion dieser Regeln setze zunächst ein unreflektiertes Verstehen voraus; auf dieser Basis sei dann auch eine Erklärung denkbar68. Winch sah in der Wissenschaftstheorie nicht etwas der Soziologie äußerliches; vielmehr gehöre »das zentrale Problem der Soziologie, von der Natur sozialer Phänomene im allgemeinen Rechenschaft zu geben« (58) selbst zur Philosophie. Das von Garfinkel, Cicourel und Sacks in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre69 entwickelte Konzept der Ethnomethodologie ging auf ähnliche Wurzeln zurück, wie die oben skizzierten Ansätze; es wurde nach den Methoden gefragt, mit denen soziale Realität, mit denen Alltäglichkeit konstituiert werde, fm Vergleich zu anderen Vertretern des interpretativen Paradigmas (etwa Blumer) war Garfinkel noch radikaler in der Zerstörung eines >ontologisierenden WirklichkeitsverständnissesParadigmagruppe< zu einem Spezialgebiet findet sich bei Mullins (1981). »Soziale Realität hat keine eigene Objektivität, vielmehr wird Wiederholbarkeit, Stabilität, Regelmäßigkeit, Kontinuität über Raum und Zeit, Zweck-Mittel-Relationen durch die noch näher zu bestimmenden Methoden der Alltagshandelnden hervorgebracht« (Koeck 1976:262). Hartmann konstatierte 1970 angesichts neuerer Beiträge von Garfinkel, Cicourel u.a.: »Inzwischen schien die Debatte um das Verstehen als Zugang zur sozialen Wirklichkeit schon einmal retenen

II. Die Entwicklung von

Soziologie und Sozialforschung

263

von materialistischer Seite hatten sich z.B. die Vertreter der phänomenologischen Richtung damit begnügt, >Verstehen< lediglich als Ergänzung der vorherrschenden >positivistischen< Praxis der Sozialforschung anzubieten. Auch das Programm der symbolvermittelten Interaktion, insbesondere seine pragmatistische Hintergrundphilosophie stieß in Deutschland schon in der Zwischenkriegszeit auf erhebliche Widerstände. Joas (1992:8) konstatierte noch zu Beginn der neunziger Jahre, daß es der Pragmatismus in Deutschland schwer habe, als Ausnahmen führte er lediglich die Arbeiten von Habermas, Apel und einigen Spezialisten an72. Eine Wende trat in den siebziger Jahren mit der verstärkten Rezeption von Theorien ein, die dem sogenannten interpretativen Paradigma zugerechnet wurden [C8]. Eine Schlüsselrolle spielte neben der Textsammlung der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen Berger/Luckmanns >Die gesellschaftli-

wie

che Konstruktion der Wirklichkeit«:; das Buch erscheint 1999 in einer sechzehnten Auflage73.

Weitere Positionen der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung Ein fataler Nebeneffekt der Aufladung und der dichotomischen Struktur des Positivismusstreits lag in der Verengung des Horizontes der wissenschaftstheoretischen Ansätze, die im sozialwissenschaftlichen Feld eingehender rezipiert wurden. Wissenschaftstheoretische Positionen, die nicht auf dem Grundmuster des Streits aufbauten oder die einheitswissenschaftliche Maxime nicht zu teilen bereit waren, wurden durch die polarisierende Logik des Positivismusstreits ausgeblendet. Die Erlanger konstruktivistische Schule sah sich in einer klaren Gegenposition zum kritischen Rationalismus bzw. logischen Empirismus. Wie die Frankfurter Schule maß sie der Hermeneutik eine wichtige Rolle in den Humanwissenschaften zu; an verschiedenen Stellen hob sie sich aber auch deutlich von der kritischen Theorie ab, wenn sie z.B. eine konstruktive Logik und eine formalisierte Wissenschaftssprache favorisierte. In Abgrenzung sowohl zum Fallibilismus des kritischen Rationalismus wie zur Zirkularität hermeneutischen Vorgehens wurde ein »neuer Fundamentalismus« vertreten, der davon ausging, daß »wir nur das mit Sicherheit wissen, was wir selbst konstruiert haben« (Wenturis u.a. 1992:309). Man wollte einen Beitrag zur Aufklärung des Verhältnisses zwischen den empiristisch dominierten Sozialwissenschaften und einer »wesentlich auf nicht-empirische, konzeptionelle Elemente abstellenden Gesellschaftstheorie« liefern, indem man

-

sultatlos abgeschlossen« (1970:33). Auch die Husserlsche Phänomenologie finde, so die Einschätzung Hartmanns, »heute keine rechten Parteigänger« (33). Joas zeigt sich jedoch überrascht, wie wenig Habermas, »der doch seine Orientierung an den Pragmatisten Peirce und Mead immer wieder dokumentiert hatte, (...) in seiner ganzen Theorie vom Pragmatismus übernommen hatte« (1992:17). Auch die Position Winchs wurde von Habermas und Wellmer grundlegend kritisiert; vgl. Wellmer (1969:30). 73 1997 hatte die gedruckte Auflage die Marke von 40.000 Exemplaren überschritten. 72

264

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

soziale Wirkungszusammenhänge analysierte und »begründete Systeme von Zielen und Handlungsregeln« (Mittelstraß 1979:7) ausarbeitete. Mit den Kuhnschen Analysen zur >Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ([1962] 1967) kam es zu einer stärkeren Verknüpfung von wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Perspektiven: diese Verknüpfung unterlief die im kritischen Rationalismus bedeutsame Differenzierung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang, der Forschungsprozeß rückte auch als sozialer Prozeß in den Blick; mit dem Kuhnschen Theorem von einander ablösenden (forschungsleitenden) Paradigmen wurde das dem logischen Positivismus und dem kritischen Rationalismus

-

zugrunde liegende akkumulierende Fortschrittsmodell wissenschaftlicher Entwicklung in Frage gestellt; wissenschaftliche Rationalität ließ sich nur noch relativ zu einzelnen Paradigmen begreifen; Falsifikation war nur im Kontext von Paradigmenwechseln möglich. Ausgehend von Kuhns Programm versuchte Lakatos, mit seinem raffinierten Falsifikationismus< die wissenschaftstheoretische Bezugsebene zu verschieben, indem er sich nicht einzelnen Theorien sondern ganzen Forschungsprogrammen zuwendete74. Die historisch orientierte Soziologie hatte in den fünfziger Jahren noch einen möglichen Gegenpol zu dem Projekt der empirischen Soziologie gebildet. Vertreten wurde sie insbesondere durch Fachvertreter, die in der Weimarer Republik ausgebildet wurden75. Als Eckpunkte des Wissenschaftsprogramms der historischen Soziologie in der Nachkriegszeit benennt Kruse (1994:47f) neben ihrer historischen Orientierung, ein eher geisteswissenschaftliches Grundverständnis, ein weniger einzelwissenschaftliches und eher interdisziplinäres (insbesondere die Ökonomie und die Geschichte einbeziehendes) Wissenschaftsverständnis, einen stärker subjektiven und wertbezogenen Ansatz und schließlich eine stärker makroanalytische Orientierung. Dahrendorf hatte noch 1959 festgestellt, daß implizit der »Streit zwischen der sogenannten positivistischen und der sogenannten geisteswissenschaftlichen Auffassung der Soziologie einer der beherrschenden Gegenstände der gegenwärtigen deutschen Soziologie« (141) sei. Im folgenden Positivismusstreit hatten sich dann jedoch beide Parteien auf eine Gegnerschaft zu einer geisteswissenschaftlichen Orientierung verständigen können76. -

Wissenschaftlicher Fortschritt war damit zum einen durch die Falsifikation von Theorien im Rahmen eines Programms, zum anderen durch die Konkurrenz verschiedener Programme denkbar. Zudem verzichtete Lakatos im Gegensatz zu Kuhn nicht auf eine normative Theorie rationalen Verhaltens, die jedoch nicht auf logischem Wege sondern aus wissenschaftsgeschichtlicher

Analyse zu gewinnen war.

Alfred Weber, Alexander Rüstow, Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer u.a. Implizit wies jedoch die Position der kritischen Theorie zur empirischen Sozialforschung mit ihrem holistischen Ansatz, mit ihrer Betonung hermeneutischer Verfahrensweisen und mit der Kritik an der Ahistorizität der dominierenden Sozialforschung durchaus Affinitäten zur historistischen Argumentation auf. Weitgehend unbeachtet blieben auch Ansätze einer Reformulierung historistischer Positionen; vgl. das Programm eines kognitiven Historismus (Scholtz 1991:190f). 76

II. Die

265

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

Neben den großen wissenschaftstheoretischen Programmen finden sich viele Ansätze, die methodologischen Probleme, die aus dem sozialwissenschaftlichen Forschungsalltag erwuchsen, mit einem stärker pragmatischen«: Impetus zu klären: z.B. bei Myrdal und Lazarsfeld77 oder in den achtziger Jahren bei Lenk78. Diese Ansätze waren für die Diskurse um die empirische Sozialforschung augenscheinlich nur von geringem Interesse: Sie nahmen keine Stellung zu den aufgeladenen Fragen der Wertfreiheit und des Szientismus; sie versprachen keine >logische< Anleitung des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses (wie z.B. das Konzept des Hypothesentests) und keine Abgrenzung gegenüber vermeintlichen >nicht-wissenschaftlichen< (z.B. nichtstandardisierten oder nicht-quantifizierenden Methoden). Deutlich wird dies auch an der Rezeption von Feyerabends ([1975] 1976) relativistischer Position: sie erscheint beiden Parteien im Positivismusstreit >bedrohlich< Es ging demnach bei der soziologischen Beschäftigung mit Fragen der Wissenschaftstheorie oftmals weniger um eine Klärung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen soziologischer Forschung und Theoriebildung; es war eher eine Auseinandersetzung um verschiedene Modelle der disziplinären Verortung der Sozialwissenschaften, um verschiedene Programme einer soziologischen Wissenschaft und um die Leitbilder empirischer Forschung.

-

.

Die Kritik an der Erhebungs- und Auswertungsmethodik In den Schriften von Adorno und Habermas zur Soziologie und empirischen Sozialforschung finden sich verschiedentlich Hinweise auf die Passungen zwischen den Ordnungsleistungen empirischer Forschung und den Steuerungsproblemen einer bürgerlichen Gesellschaft. So verwies Habermas auf die sozialtechnologischen Verwendungsmöglichkeiten empirischer Forschung °. Die Soziologie werde auf diesem Wege »zur Hilfswissenschaft im Dienste der Verwaltung« (Habermas [1963] 1974:299). Analoges findet sich in Adornos Überlegungen zur Angemessenheit der standardisierten Methoden für Belange der Markt- und Meinungsforschung. Diese Zusammenhänge von Sozialforschung und gesellschaftlichem Kontext wurden insbesondere in den >politisch< ambitionierten Diskursen der frühen siebziger Jahre zu einer Fundamentalkritik der empirischen Sozialforschung hypostasiert und popularisiert. Dabei wurde auf drei Argumenta-

b)

tionstypen zurückgegriffen: 77

Vgl. Myrdal ([1969] 1971), Lazarsfeld ([1962] 1993) bzw. ([1959] 1993). Vgl. z.B. Lenks Überlegungen zu einer pragmatischen Methodologie der angewandten Wissenschaften« (Lenk 1986:34fï). 79 Vgl. z.B. Sahner (1978b), Greiff(1980). 80 »Die Soziologie hat nun nicht nur treffliche Methoden entwickelt, um solchen institutionellen Verkehrsströmungen einer bürokratisierten Gesellschaft empirisch beizukommen. Einige ihrer bedeutendsten Vertreter haben ein pragmatistisches Wissenschaftsideal entwickelt, das dieser Bearbeitung praktischer Einzelprobleme genau entspricht« (Habermas [1963] 1974:299).

266

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Man bediente sich aus dem Repertoire der geisteswissenschaftlichen bzw. historistischen aber auch der populärwissenschaftlichen Kritik an der standardisierten Umfrageforschung oder am Experiment; hinzu kamen Argumente aus dem Spektrum der kritischen Theorie. Man griff auf die Befunde der (zunächst vornehmlich amerikanischen) Methodenforschung zur Befragungssituation zurück. Man bezog sich auf die von symbolischem fnteraktionismus und Ethnomethodologie formulierte Kritik. Eine wichtige Rolle spielten hier die Arbeiten von Cicourel. -

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-

Die Kritik der Verwendungsformen empirischer Forschung Die Kritik an der empirischen Sozialforschung wurde dadurch aufgeladen, daß man die vorherrschende Praxis in engem Zusammenhang mit den ökonomischen und politischen Strukturen der >spätkapitalistischen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates< begriff. Bei der Markt- und Meinungsforschung und der amtlichen Statistik gelang das am leichtesten, aber auch für die wissenschaftliche Sozialforschung wurde dieser Zusammenhang hergestellt81. Die Vorstellung, daß die ökonomische Basis der warenproduzierenden Gesellschaft ihren Niederschlag auch in der Praxis der Sozialforschung hatte, fand sich bei vielen Autoren82. Im Zusammenhang der Kritik an einer Sozialforschung im Interesse des bürgerlichen Staates oder als Ausdruck kapitalistischer Warenproduktion fand sich auch ein bürokratiekritisches Moment. Cicourel merkte an, daß die Meßverfahren der empirischen Forschung dort am verbreitetsten seien, »wo sie auf die von den modernen Bürokratien geschaffenen Daten angewandt werden« ([1970] 1974:59). Neben dem politökonomischen Argumentationsrahmen wurde auch der zweite in dieser Zeit bedeutsame Argumentationsfundus, die Psychoanalyse, für eine Kritik der empirischen Sozialforschung nutzbar gemacht. Devereux's Klassiker >Angst und Methode< erfuhr zwischen 1967 und 1992 sechs Auflagen bzw. Nachdrucke. Eine andere typische Argumentationsfigur findet sich in Bergers Analyse des industriesoziologischen Klassikers >Management and the Worken; er unterstellte eine Verschleierung und ideologische Legitimation der gesellschaftlichen und betrieblichen Machtverhältnisse83. Üblicherweise erfolgte 1

Die Sozialwissenschaften bewegten sich, so argumentierte Dick, »seit der Herrschaft der bürin dem Widerspruch, die Gesellschaft und das Gesellschaftliche zu erforschen, aber das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft und ihre nicht schon beendete Geschichtlichkeit nicht an den Tag bringen zu dürfen. In der kapitalistischen Gesellschaft ist es nicht Aufgabe der Sozialwissenschaften, die Wahrheit zu finden, sondern die Wahrheit nicht zu finden« (1974:9). 82 Ritsert nahm an, daß die Vorherrschaft der Tauschwerte in der Sozialwissenschaft den »Rückauf elaborierte Meßtechniken, den Primat der strikten Quantifizierung« (1971:62) verlange. griff 83 »Der Untersuchungsansatz des Projekts ist daher sozialtechnisch und ideologisch zugleich eine verallgemeinerbare Doppelfunktion spätkapitalistischer Sozialforschung. Einerseits erfaßt sie vordergründige Interessen der Arbeiter, an die gezielte Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung

gerlichen Klasse

-

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

267

Argumentationen dabei eine Gleichsetzung von empirischer Sozialforschung mit quantifizierender und standardisierender Sozialforschung; andere Ansätze, die sich in der frühen Geschichte der Sozialforschung, aber auch in den fünfziger und sechziger Jahren finden, wurden ausgeblendet. Kritik an der Methodik der standardisierenden Sozialforschung Hartwig Berger konzentrierte sich in seiner Methodenkritik auf die Einstellungsmessung in Forschungsinterviews84. Er vertrat die These, »daß die Techniken des Forschungsinterviews, der standardisierten Erhebung und der Einstellungsmessung vorrangig das an Herrschaftsverhältnisse angepaßte Sozialverhalten und Bewußtsein erfaßbar machen sollen« (1974:9). Das Programm, über die Einhaltung der Kriterien Reproduzierbarkeit, Standardisierung und Meßbarkeit zu einer angemessenen Erfassung sozialer Wirkin vielen

lichkeit zu kommen, müsse scheitern; vielmehr führe die normierte Datenermittlung eher zur Destruktion des Objektivitätsanspruchs, zu »beschränkten, falschen und nicht verallgemeinerbaren Erkenntnissen« (27). Die Argumentation springt häufig von einer Binnenkritik der Interviewsituation, die von den Gütekriterien standardisierter Interviews ausging, zu einer Globalkritik empirischer Forschung, z.B. einer Kritik an der »eindeutigen gesellschaftspolitischen Parteilichkeit der vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Methodologie« (43). Der Objektivitätsanspruch empirischer Forschung wurde verabsolutiert; d.h. die Forschungen zu beeinflussenden Faktoren in der Interviewsituation wurden keiner weiteren Gewichtung unterzogen, um z.B. die Folgen für das Datenmaterial abzuschätzen; jede denkbare Beeinflussung wurde zugleich als Verzerrung, als Verfälschung des Befundes interpretiert. Im Gegensatz zu Berger, der ein für die Zeit typisches Amalgam von wissenschaftlicher Argumentation und politischer Grundsatzkritik vorlegte, bewegte sich die Argumentation Cicourels auf der Ebene des etablierten fachwissenschaftlichen Diskurses85. Zunächst setzte er sich mit den grundsätzlichen Meßproblemen in der Soziologie auseinander, um dann die Probleme einzelner Erhebungsverfahren zu erörtern: Feldforschung, Interview, geschlossener Fragebogen, Auswertung demographischer Daten, historische Materialien und Inhaltsanalyse. Als theoretische Bezugspunkte seiner Arbeit

wies Cicourel vor allem die Arbeiten von Garfinkel und Schütz sowie Husserls Phänomenologie aus. Cicourel sah drei Faktoren, die die Meßprobleme der Sozialwissenschaften bedingen: Die Sprache sei nicht nur ein Instrument, um Ideen zu formulieren oder Beobachtungen festzuhalten; sie forme anknüpfen

können andererseits interpretiert sie die Interessenlage der Arbeiter so um, daß die >Humanität< betrieblicher Arbeitsbedingungen und ihrer Neuorganisation garantiert scheint« -

(1974:140). 84

Das Buch erschien erstmals 1974 und wurde zuletzt 1985 in einer dritten Auflage vorgelegt. Cicourel hatte seine Überlegungen zu >Methode und Messung in der Soziologie« nach seiner Zusammenarbeit mit Garfinkel verfaßt. 85

268

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

zugleich die Vorstellung dessen, was als umgebende Welt betrachtet werde:

»sie funktioniert als Filter oder Gitter für das, was als Wissen in einer gegebenen Epoche angenommen werden wird« ([1970] 1974:58). Auch die Daten, die in den Arbeitsvollzügen bürokratischer Organisationen hervorgebracht werden, seien Produkt eines Deutungsprozesses86. Schließlich harre die Welt der Beobachtungsobjekte nicht einfach der Beschreibung; vielmehr werde diese Welt, ihre Wahrnehmung, Beurteilung und Messung, erst über den Gang historischer Ereignisse und die fdeologien einer gegebenen Epoche konstituiert. Auf dieser Basis kam Cicourel dann zu einer Auseinandersetzung mit der Interviewpraxis; viele der oben bei Berger angeführten Überlegungen gehen auf Cicourels Analyse zurück. Sie erhielten hier jedoch eine etwas andere Wendung87. >Vörfixierte Fragebogen« wurden von Cicourel recht grundsätzlich kritisiert; er versuchte jedoch auch hier, zumindest programmatisch zu bestimmen, wie eine Untersuchung konstruiert werden müßte, die versucht, die »Struktur der Erfahrung und des Verhaltens im alltäglichen Leben« zu erfassen88. Cicourel richtete seine sprachlogisch und interaktionistisch orientierte Skepsis nicht nur auf die stark standardisierten Erhebungsmethoden; gleichermaßen kritisch argumentierte er gegenüber den Praktiken der Feldforschung oder der Analyse qualitativer Materialien. Er diskutierte dabei auch die Möglichkeit von hypothesentestenden Forschungsdesigns in der Feldforschung, die an die Stelle »primär aposteriorischer Berichterstattung« (102) treten könnten. Als Haupthindemisse erschienen ihm das Fehlen präziser Theorie und eine unzureichende Bereitschaft zur Explikation impliziter theoretischer Annahmen. Vor diesem Hintergrund stand auch seine abwägende Einschätzung mathematischer Systeme und Messungstechniken89. Cicourels Programm setzte also auf einen wissenschaftlichen Fortschritt in der Analyse der Grundbedingungen sozialen Handelns, der eine Elaborierung verschiedenster Erhebungsmethoden ermöglichen sollte. »Die Tatsache, daß selbst faktische Daten Perzeptionen und Interpretationen unterworfen sind, die variieren können (...), bedeutet, daß dies Variable sind, die bei der Einschätzung der Relevanz und Bedeutung solcher Daten in Betracht gezogen werden müssen« (60). So schlug er z.B. vor, »daß experimentelle Anordnungen die allgemeinen Probleme des Interviews präziser bestimmen und die Elimination vermeidbarer Verzerrungen und Fehler erleichtern könnten, indem sie einen Rahmen liefern, um den Einfluß von Verzerrung und Fehler zu messen, die dem Interview innewohnende Merkmale sind« (150). 8 »Wir müssen in der Lage sein, eine Übereinstimmung zu demonstrieren zwischen der Struktur sozialen Handelns (kulturelle Bedeutungen, ihre Übertragung im situationalen Kontext, der Rollenübernahme-Prozeß) und den Einzelelementen, die als operationale Definitionen davon dienen

sollen« (173). »Ich möchte nicht behaupten, daß sozio-kulturelle Ereignisse nicht mit vorhandenen mathematischen Methoden gemessen werden können, doch sollten die Grundphänomene sozialen Handelns aufgeklärt werden, bevor man ihnen Messungspostulate auferlegt, die ihnen möglicherweise nicht gemäß sind« (12).

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

269

Während Berger und andere die vorherrschende Praxis der Sozialforschung eher als einen Ausfluß ökonomischer und politischer Strukturen begriffen, formulierte Devereux eine radikale Gegenthese, indem er die Beobachtenden als Personen in das Wissenschaftsspiel einführte. So enthielten die Daten der Verhaltenswissenschaft nicht nur Aussagen über das Objekt, sondern man müsse auch den >Störungen< nachgehen, die auf die Beobachtungsarbeit zurückgingen soweit deckte sich die Argumentation noch mit der Cicourels -, schließlich müsse man für die Analyse der Daten aber auch das Verhalten des Beobachtenden, »seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine >Entscheidungen< (d.h. die Bedeutung die er seinen Beobachtungen zuschreibt)« ([1967] 1984:20) einbeziehen. Der Wissenschaftler wisse, so Devereux, um die Inhumanität seines distanzierenden Verhaltens; dieses Schuldgefühl und die damit verknüpften Ängste hinterließen ihre Spuren im Feldkontakt und in der Analyse des hier gewonnenen Materials. Diese Dekonstruktion des außenstehenden Beobachtenden exemplifizierte Devereux an einer Vielzahl von Beispielen, vorwiegend aus der psychoanalytischen Arbeit, aber auch aus anthropologischer, wissenschaftsgeschichtlicher und soziologischer Forschung. Neben der psychischen Konstitution der Forschenden lenkte er den kritischen Blick auch auf die ethnisch-kulturellen und die sozialen Prägungen der Forschenden und ihre Selbst-Modelle. Im Unterschied zu Cicourels Argumentation, die auf ein Mehr an theoretischer Durchdringung der Phänomene des Sozialen drängte, visierte Devereux eher den psychoanalytischen Weg der Eigenanalyse an. -

Artefaktforschung

Die sogenannte Artefaktforschung bündelte viele der in der Entwicklung der empirischen Sozialforschung formulierten Kritikaspekte; darüber hinaus ging sie auf die Befunde der systematischen Methodenforschung insbesondere zum standardisierten Interview zurück. Diese Verdichtung der Kritik korrespondierte mit dem Versuch einer wissenschaftstheoretischen Fundierung empirischer Forschung. Die Rezeption der amerikanischen Artefaktforschung setzte in der Bundesrepublik ab den siebziger Jahren ein90. Zunächst richtete die Artefaktforschung den Blick auf die am Prozeß Beteiligten wie die eingesetzten Methoden: Interviewerverhalten, Antwortmuster der Befragten, Einflüsse des Befragungsinstruments etc.; in der weiteren Forschung kam aber auch der Forschungsprozeß als Ganzes in den Blick: die Probleme des Messens, die Laborsituation etc. Darüber erlangte der Artefaktbegriff unterschiedliche Reichweiten: zum einen zielte die Artefaktforschung auf eine Optimierung der Instrumente bzw. auf eine Bestimmung und Eingrenzung der Fehlerquellen; zum anderen wurde aus der Kritik an Vgl. für die soziologische Forschung etwa Bungard/ Lück (1974); nig/ Scheuch (1973); Kreutz (1971, 1972); Ziegler (1973).

Esser

(1974, 1975a, b);

Kö-

270

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

den Artefakten auch eine grundsätzliche Kritik insbesondere an der standardisierten Befragung und dem Experiment abgeleitet. In seiner >Methodenkritik der empirischen Sozialforschung«: gab Kriz (1981:65ff) einen strukturierten Überblick über die damalige Artefaktforschung; er unterschied Artefakte bei der Datenerhebung" und Artefakte bei der Datenauswertung92 [C9]. Er betonte, daß Artefakte nicht nur als ein technisches Problem verstanden werden sollten; vielmehr handele es sich beim Prozeß der Sozialforschung um eine Folge von Entscheidungen von der Erhebung über die Auswertung bis zur Abfassung der Ergebnisse. Diese Entscheidungen wären dann mit der Präsentation der Befunde darzulegen: »Statt dessen werden Ergebnisse in sozialwissenschaftlichen Publikationen in der Regel so dargestellt, als ob sie stringent aus der Forschungsfrage bei Verwendung >richtiger Methoden folgen würden« (1981:142). Daraus wurden die Forderungen abgeleitet, möglichst den gesamten Prozeß

offenzulegen, Entscheidungen explizit auszuweisen, Alternativen bei der Operationalisierung bzw. bei der Informationsreduktion darzulegen. Verschiedentlich machte Kriz deutlich, daß die Objektivität eines Befundes nicht auf diesen selbst zurückgehe, sondern auf den diskursiven Prozeß der Forschenden; d.h. die von Kriz diagnostizierten Mängel lassen auch auf Defizite in der Funktionsfähigkeit der scientific community schließen. Vor diesem Hintergrund beklagte er die zunehmende Trennung sozialwissenschaft-

licher Theorie bzw. sozialwissenschaftlicher Inhalte von den >MethodenMethoden< beginnen« (5). Binnenkritik an der hypothesentestenden Forschung Auch unter den Vertretern der empirisch-analytischen Sozialwissenschaft herrschte keineswegs ein Konsens um den hypothesentestenden Ansatz und den kritischen Rationalismus als wissenschaftstheoretischem Fundament. Es entwickelten sich Positionen, die an einzelnen Eckpunkten des Konzepts festhielten, ohne es jedoch als ein geschlossenes Konstrukt, wie es zeitweilig im Positivismusstreit vertreten wurde, zu verteidigen. 91

Dazu rechneten: Aspekte des Materials (Fragebogen, experimentelle Anordnung, Test: HaloEffekt, Response sets, Social desirability), Aspekte der Versuchsperson (Erreichbarkeit, Antwort..) und Aspekte des Versuchsleiters (unbewußte und bewußte Einflußnahme). verweigerung 92 Dazu rechneten: Unvollständige Information (Selektion von Informationen), Signifikanztests (Unterlassen, fehlerhafte Interpretation), Variablenanzahl (unberücksichtigte Drittvariablen), Korrelationsinterpretation (Kausalinterpretation, falsche Schlüsse), unzutreffende Unabhängigkeits-

annahmen. »Die Trennung von Theorie und >Methode< wird allerdings auch von manchen Methodikern vorangetrieben, die ihre phantastischen Modelle im obersten Stockwerk des Elfenbeinturms basteln und dort vom hehren Licht der Wissenschaft so geblendet sind, daß sie die Probleme der Forscher auf dem Erdboden nicht mehr wahrzunehmen vermögen« (5f).

II. Die Entwicklung von

Soziologie und Sozialforschung

271

Hartmann rückte stärker die Bedeutung soziologischer Theorie in den es sei »falsch, in der empirischen Sozialforschung den harten Kern der Sozialwissenschaften zu sehen« (1970:9). Sozialforschung lasse sich nicht nach einem festen Regelwerk organisieren; die Methoden seien verfeinert worden, ihre Handhabung sei aber auch voraussetzungsvoller geworden; die Hoffnung auf eine grundsätzliche wissenschaftstheoretische Klärung teilte er nicht, vielmehr orientierte er auf eine stärkere Verknüpfung von Sozialforschung und materialer Theorie, Sozialforschung müsse durch und durch theoretisiert werden (15). Ungeachtet des Erfolgs der Sozialforschung sah er wichtige Probleme in dem Auseinanderfallen von Wissenschaftstheorie und Forschungspraktiken und in dem wachsenden Abstand von Praktikern und Statistikern bzw. Mathematikern (18). In seiner Argumentation folgte er an wichtigen Stellen Lazarsfeld. Hartmann skizzierte einen methodologischen InduktivismusPositivisten< gering gewesen und die Bedeutung des Falsifikationsprinzips für den Forschungsprozeß stets fraglich gewesen sei (83); dennoch bleibt unzweifelhaft, wo er die >Gewinner< des Streits sieht. Im Rückblick finden sich dann jedoch einige wichtige Revisionen des Programms94. Das Wissenschaftsleitbild bleiben die Naturwissenschaften, aber auch hier verändert sich der Ori-

Vordergrund;

-

-

entierungspunkt95

.

Den Kritiken

an der Produktion und Verwendung empirisch fundierten Wisunterlagen recht unterschiedliche Argumentationsmuster: auf der einen Seite eine eher politische Kritik an der Einbindung der empirischen Forsens

um vorauszusagen«, hieß einmal der optimistische Leitsatz der positivistischen SoAber mit der Voraussagbarkeit steht es bei dem Gegenstand mit den erwähnten Eigenschaften nicht so gut« (Scheuch 1998:265). Auch der Stellenwert des Hypothesentests wird relativiert: »Demgegenüber kommt in der empirischen Soziologie der Deskription eine zentrale Rolle zu, insbesondere wenn sie als Beobachtung unter kontrastierenden Bedingungen möglich wird. Nicht das Experiment ist die Methode der Wahl sondern der Vergleich. So stehe ich heute der Wissenschaftsphilosophie Imre Lakatos näher als Popper« (ebd.). 95 »Heute bin ich gewiß, daß die Probleme der Soziologie denen der Biologie viel ähnlicher sind. Nur selten haben wir es mit wenigen starken Faktoren zu tun, die einen Vorgang determinieren, und durchweg beeinflussen sich diese Faktoren auch noch untereinander. (...) All dies kann man mit einem Leitsatz wie >gleiche Ursache gleiche Wirkungen, verschiedene Ursachen verschiedene Wirkungen« nicht vernünftigerweise angehen« (Scheuch 1998:265).

>»Erklären,

ziologie.

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272

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

schung in gesellschaftliche Praktiken und Machtverhältnisse;

auf der andeeinzelnen Methoden, die sich am Ideal wissenschaftsbezogener Sozialforschung orientierte. Diese Argumentationslinien standen oft wenig vermittelt nebeneinander; das daraus erwachsende Problem läßt sich am Beispiel der Artefaktforschung verdeutlichen. Ausgangspunkt der Kritik an den Artefakten empirischer Forschung war der (positivistische) Gedanke einer (exakt) abbildbaren sozialen Welt. Indem so die spezifischen Verwendungszusammenhänge empirischer Forschung ausgeblendet wurden, blieb die Artefaktkritik ihrerseits jedoch >artifiziellDefizite< in verschiedenen Praxisfeldem gute Dienste leistete, blieb so unverstanden. D.h. die notwendige Kritik an den Artefakten empirischer Sozialforschung läßt sich nur bezogen auf bestimmte Fragestellungen und Erkenntnisinteressen und bezogen auf die dem Erhebungs- und Auswertungsprozeß zugrundeliegenden Modellvorstellungen von der sozialen Welt leisten. Diese Unscharfen in der Kritik der empirischen Sozialforschung strahlten auch auf die verschiedenen Ansätze aus, alternative Forschungsansätze zu formulieren. ren

Seite eine detaillierte Kritik

an

c) Kritische Sozialforschung Alternative Forschungsansätze Vielfach fand sich im Verlauf des Positivismusstreits die Forderung nach einem Gegenmodell zur >etablierten Sozialforschungetablierten< Sozialforschung definierten. Sie rekurrierten neben dem Pragmatismus auf verschiedene Ansätze einer interpretativen oder verstehenden Soziologie. Einzelne alternative Ansätze zeichneten sich auch durch den Bezug auf bestimmte Akteure aus (Ansätze einer feministischen Methodologie oder das Konzept einer arbeitnehmerorientierten Wissenschaft). -

Anforderungen an eine kritische Sozialforschung Wolfgang Bonß postulierte, kritische Sozialforschung müsse mehr sein als die »unkonventionelle Anwendung konventioneller Methoden«. Sie »konsti-

tuiert ihre Gegenstände vielmehr in einer hierin nicht aufgehenden Form und verfügt über einen eigenständigen Blick auf die soziale Wirklichkeit. Gerade deshalb ist das Verhältnis von Kritischer Theorie und Empirischer Sozialforschung auch kein äußerliches, sondern beruht auf einer Form der Wirklichkeitsaneignung, die in Abgrenzung zum Methoden- und Praxisverständnis der etablierten Sozialforschung zu begreifen ist« (Bonß 1982:7).

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

273

Ob eine solche Abgrenzung jedoch eine eigenständige Methodik der Sozialforschung erfordern würde oder ob es möglich sei, die vorliegenden Methoden in anderer Weise einzusetzen, blieb umstritten; mehrheitlich setzte sich jedoch die Vorstellung einer Vereinbarkeit durch96.

Jürgen Ritsert faßte das Konzept einer kritischen Sozialforschung stärker unter Bezug auf die Marxsche Ideologiekritik. An die Stelle einer Kulturkritik solle eine »empirische Ideologiekritik« (1972:100) treten, die mit inhaltsanalytischen Konzepten arbeitet und »gestützt auf wissenschaftstheore-

begründete Regeln, Verfahrensweisen und Prüfkriterien und interpretationsleitende Gesellschaftstheorie« (ebd.) eine Rekonstruktion ideologischer Syndrome und ideologischer Deutungssysteme ermögliche. Darüber hinaus entwarf er mit Verweis auf Fuchs' >Sozialforschung als politische Aktion< das Konzept eines Forschungsprozesses, der für Forscher und Adressaten zu tisch

Lernprozeß wird, indem sie sich über »Standards, Strategien und Situationseinschätzungen« verständigen. Ursula Müller formulierte für »eine kritische Sozialforschung, die zur >Emanzipation< ihrer >Adressaten< beitragen will« folgendes Programm: Die Folgenlosigkeit des Positivismusstreits solle überwunden und die Kluft »zwischen >kritischen Theoretikern, die kaum Kenntnisse der empirischen Sozialforschung haben, und empirischen Sozialforschern, die mit ihrer Tätigkeit kein gesellschaftskritisches Interesse verbinden, überbrückt werden«. Die gesellschaftlichen Handlungsbezüge von Forschung sollten emanzipativ gewendet, »die politische Dimension der Forschungssituation selbst begriffen und praktisch genutzt werden« (1975:218f). Sie räumte jedoch ein, daß bislang weder ein einheitlicher theoretischer Rahmen für eine kritische Sozialforschung vorliege, noch eine »gemeinsame kritische Perspektive zur Auseinandersetzung mit den Forschungstechniken« (195). Ulrich Oevermann hat auf die immanenten Probleme in dem Subjektkonzept einer sich als kritisch und emanzipativ verstehenden Sozialforschung hingewiesen. »Die Sphäre von >Wertbezügen< und >subjektiv gemeintem einem

Sinn< konnte für sie konstitutionstheoretisch im Sinne ihrer materialistischen Option nicht zentral sein, sie wurde dem >Überbau< zugerechnet. Wertorientierungen, Bewußtseinsformationen, Selbstbilder und andere Weisen subjektiver Dispositionen wurden als Derivate sogenannter objektiver Lebensbedingungen und der objektiven Strukturlogik von Produktionsweisen betrachtet« (1993:108). Dennoch werde eine Analyse von »Bewußt-

Fuchs erläuterte: »Nachdem die Wortführer der kritischen Theorie im Positivismusstreit zuerst

offengelassen hatten, ob sie die Methodenlehre der empirischen Sozialforschung ganz zurückweisen würden (...), scheint jetzt festzustehen, daß die Methodenlehre der empirischen Sozialforschung (...) in der kritischen Sozialwissenschaft einen Platz behalten soll« ( [1970] 1976:148). Auch Bonß nahm seinen weitergehenden Anspruch zurück, wenn er z.B. qualitative und quantitative Analysen als je eigenständige Muster der Untersuchung empirischer Sachverhalte begriff: »Es gibt nicht eine nichtige« Empirie, sondern verschiedene Empirietypen, die nach unterschiedlichen Regeln produziert werden und nicht aufeinander reduziert werden können« (1982:10).

274

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

seinsveränderungen, von Emanzipation und der Sozialpsychologie von Protestpotentialen« (ebd.) betrieben. Einen Weg aus dem so angelegten Dilemma sollte mit einem spezifischen Verständnis der sich emanzipierenden Subjekte gewiesen werden Oevermann ging davon aus, daß dieses Verständnis von Subjektivität einer unvoreingenommenen Analyse im Weg stand und zu einem selektiven Zugriff auf die empirische Wirklichkeit geführt habe .

(111).

Ethnomethodologie als kritische Sozialforschung Ethnomethodologie als einem Musterbeispiel kritischer Sozialforschung lag vor allem in ihrer Frontstellung gegenüber den dominanten amerikanischen Theoriekonzepten. Sie konnte sich dadurch ausDie Attraktion der

zeichnen, daß sie »die Brücken zu den deterministischen Modellen behavio-

ristischer und strukturell-funktionaler Theoretiker in den Sozialwissenschafabgebrochen und, durch die philosophische Tradition der Phänomenologie angeleitet, Wege aufgezeigt hat, das zielgerichtet handelnde Individuum bei der Herstellung der gesellschaftlichen Realität zu beobachten« (Weingarten/ Sack 1976b:20f). Zugleich funktionierte die Ethnomethodologie als ein Fokus, in dem sich verschiedene Kritikmuster an der traditionellen Sozialforschung bündelten; da über die Kritik hinaus auch ein handhabbares alternatives Forschungskonzept vorlag, konnte die Ethnomethodologie trefflich als ein Gegenprogramm zur >traditionellen Sozialforschung< fungieren. ten

Handlungsforschung/Aktionsforschung

mit den eher wissenschaftsorientierten Gegenprogrammen zur >etablierten Sozialforschung< hat sich unter dem Banner der Handlungsbzw. Aktionsforschung ein eher politisches oder praxisbezogenes Gegenprogramm entwickelt. Das Novum lag darin, daß die Vorstellung von politischer Veränderung nicht länger auf den Staat oder große kollektive Akteure zentriert war und daß damit verknüpft die Rolle wissenschaftlicher Expertise eine andere war. Während beispielsweise die Enqueten des Vereins für Socialpolitik auf die wissenschaftlich fundierte Analyse von sozialen Problemen zielten, die dann vor allem zum Gegenstand staatlichen Handelns werden sollten, wurde mit dem Konzept der Aktionsforschung dieser Weg gewissermaßen abgekürzt. Sozialforschung sollte die Subjekte selbst befähigen, ihre >Lage zu erkennen und für >ihre Interessen einzutreten. Ausgangspunkt von Fuchs' >Sozialforschung als politische Aktion war eine Kritik an der hochgradig standardisierten Erhebungssituation, die die Be-

Verglichen

»Den Weg dazu soll die Vorstellung von einem Subjekt ebnen, das gewissermaßen als Ergebnis einer gelungenen psychoanalytischen Therapie, damals in sich das Ideal der 68er Generation seine unangemessenen Abwehrformationen und Verdrängungen aufgelöst und sich rational verfügbar gemacht hat, so daß es gegen die gesellschaftlichen, krank machenden Zwänge sich emanzipieren und Widerstand leisten kann« (1993:109).

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II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

275

fragten zu Objekten mache und mögliche Veränderungen ausschließe98. Demgegenüber sollte der Ansatz der Handlungs- oder Aktionsforschung zugleich für die Erforschung und die Veränderung eines Forschungsfeldes stehen. Sozialforschung solle zu einem strategischen Moment im Prozeß ge-

sellschaftlicher Veränderung werden; sie solle nicht nur Meinungen erheben, sondern >Einbruchstellen< für verändertes Handeln aufzeigen und so-

ziale Phantasie< entwickeln helfen. Der künftige Sozialforscher müsse sich fragen lassen, was er denn zur Emanzipation seiner Untersuchungsobjekte

beitrage.

Neben dieser positiven Bestimmung wurde die Aktionsforschung vor allem über abgrenzende Momente definiert; ihre Protagonisten wendeten sich gegen eine Sozialforschung, die eine klare Scheidung von Forschung und Forschungsobjekt favorisierte und vielfältige Strategien der Distanznahme ausgebildet hatte; sie wendeten sich gegen den damit verknüpften objektivierenden Anspruch, der Forschung ausschließlich als analytischen oder prognostischen Prozeß begreift, ohne die Möglichkeit einer verändernden Intervention in Betracht zu ziehen; sie wendeten sich gegen eine Sozialforschung aus der Zentralperspektive, die Monopolisierung von Wissensbeständen in einem kleinen Expertenkreis und plädierten umgekehrt für eine Beteiligung der Betroffenen und begriffen deren Einbeziehung in den Prozeß als Teil der Subjektwerdung; sie wendeten sich gegen ein technologisches Verständnis der Prozesse der Datenerhebung und -analyse; die Datengewinnung wurde eher als ein offener Prozeß mit medialem Charakter verstanden; sie wendeten sich gegen die Atomisierung der Untersuchten in standardisierten Prozessen der Sozialforschung, wo soziale Zusammenhänge und historische Bezüge getilgt werden und sie wendeten sich gegen eine wissenschaftliche Problemwahl, die sich nicht um Belange gesellschaftlicher Benachteiligung und Unterdrückung, nicht um >konkrete Bedürfhisse< kümmerte. Ansatzpunkte für eine empirische Sozialforschung im Dienste gesellschaftlicher Emanzipation sah Fuchs in offenen Interviews, im Gruppendiskussionsverfahren, in der Soziometrie, in den Forschungsmethoden der HumanRelations-Bewegung, in community-self-surveys und in aktivierenden Methoden der Sozialarbeit; vorausgesetzt es gelinge, diese Methoden aus einem rein sozialtechnischen Verwendungszusammenhang zu lösen.

9

»Durch die Methoden der empirischen Sozialforschung wird die Versuchsperson in einem Stagehalten, der ihr Lernmöglichkeiten versperrt und der ihr die Möglichkeit nimmt, auf die angebotenen Stimuli subjekthaft (...) einzugehen« (Fuchs [1970] 1976:157). Gegenüber einem statischen Modell von Interaktion wurde die Vorstellung entwickelt, die Versuchsperson könne in der Erhebungssituation eine neue Erfahrung machen, die dann als Lernprozeß zu einer Veränderung der Versuchsperson führen könne. tus

276

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

Methodische Überlegungen zu einer feministischen Forschung Die sich in den siebziger Jahren neu formierende Frauenbewegung und die in diesem Zusammenhang entstehende Frauenforschung bildete auch ein (mehr oder weniger) eigenständiges Verständnis von empirischer Sozialforschung, ihren Methoden, ihren Forschungsdesigns, ihren Praxisbezügen und ihrem (wissenschaftlichen) Selbstverständnis aus. Ursula Müller versteht die empirischen Forschungen zum Geschlechterverhältnis rückblickend vor allem als Niederschlag eines gesellschaftlichen Veränderungsdrucksc »Gesellschaftliche Veränderungen, die sich im Verhalten und in den Orientierungen der Frauen anzeigen, haben Selbstverständlichkeiten im Geschlechterverhältnis in Frage gestellt und zu innovativen Anforderungen an das Instrumentarium der empirischen Sozialforschung sowie an deren Me-

thodologie geführt« (1996:227). 1978 hatte Maria Mies vor diesem

Hintergrund methodologische Postulate einer engagierten Frauenforschung formuliert. Wenngleich diese Forderungen niemals unumstritten waren99, vermögen sie doch recht gut, den metho-

dologischen Diskurs der frühen bundesrepublikanischen Frauenforschung abzubilden. Mies hob hervor, daß ihre kritische Auseinandersetzung mit den anerkannten quantitativen Forschungsmethodem zum einen auf ihre Erfahrungen in der Frauenbewegung und zum anderen auf Lehr- und Forschungserfahrungen in Ländern der Dritten Welt zurückgingen. Sie setzte sich gegen die etablierte Sozialforschung aber auch gegen die Aktionsforschung ab100. Sie faßte ihren Ansatz in sieben Postulate: Dem in der >etablierten Sozialforschung< vertretenen Postulat der Wertfreiheit wurde das der Parteilichkeit gegenübergestellt: Die Untersuchten sollten als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhangs und als Subjekte verstanden werden; diese Grundhaltung wurde jedoch gegenüber einem bloßem »Subjektivismus« oder »bloßer Einfühlung« abgegrenzt. An die Stelle einer von den Forschenden eingenommen > Sicht von oben sollte eine >Sicht von unten treten, um zu authentischeren und valideren Ergebnissen zu kommen und um der ethisch-politischen Verantwortung gerecht zu werden101.

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Vgl. dazu Mies' Darstellung zur Rezeptionsgeschichte der Postulate (1994) und die Beiträge in dem Heft >Frauenforschung oder feministische Forschung« der Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis (Heft 11, 1983). Der von Lewin entwickelte Aktionsforschungsansatz wurde als sozialtechnologisch etikettiert; aber auch der jüngere Diskurs um die Aktionsforschung wurde sehr skeptisch beurteilt: »Mir scheint, hier hat sich der Kreis wieder geschlossen: Das hoffnungsvoll propagierte neue wissenschaftliche Paradigma der Aktionsforschung ist in gut idealistischer Tradition wieder auf das sichere, den deutschen Universitäten seit dem 19. Jahrhundert zugestandene Terrain der bloßen Theorie zurückgeführt worden« (9). »Nur wenn die Frauenforschung bewußt in den Dienst der Aufhebung von Unterdrückung und Ausbeutung gestellt wird, können engagierte Forscherinnen verhindern, daß ihre methodischen Innovationen zur Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen und zum Krisenmanagement mißbraucht werden« (13).

II. Die Entwicklung von

Soziologie und Sozialforschung

277

An die Stelle »kontemplativer, uninvolvierter >Zuschauerforschung< (Maslow)« müsse die »aktive Teilnahme an emanzipatorischen Aktionen« treten; den an der Aktion Beteiligten solle geholfen werden, »ihr eigenes theoretisches Potential zu entwickeln« (13); darüber sollte die Praxis wie die Theoriebildung verbessert werden. Die Veränderung des Status Quo sollte zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit werden; dabei stünden wissenschaftliche Arbeit und politische Bewegung in einem engen Zusammenhang. Entsprechend sollte die Wahl der Forschungsgegenstände nicht der Eigenlogik wissenschaftlicher Arbeit überlassen bleiben, sondern von den »allgemeinen Zielen und den strategischen und taktischen Erfordernissen der sozialen Bewegung zur Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen« (14) abhängig sein. Der Forschungsprozeß wurde als ein Bewußtwerdungsprozeß für Forschende und Beforschte begriffen. In diesem Zusammenhang solle Forschung auch dazu beitragen, daß sich Frauen ihre eigene Geschichte aneignen; die Ergebnisse der Forschung sollten nicht länger als Privatbesitz betrachtet, sondern vergesellschaftet werden. Die einzelnen Überlegungen kulminierten in dem Postulat, »daß die Entwicklung einer feministischen Gesellschaftstheorie nicht in Forschungsinstituten entstehen kann, sondern in der Teilnahme an den Aktionen und Kämpfen der Bewegung und in der theoretischen Auseinandersetzung über Ziele und Strategien dieser Bewegung« (16). Trotz der formulierten Abgrenzung bestanden viele Parallelen zu Konzepten der Aktionsforschung. Auch das Verhältnis zu anderen Ansätzen einer kritischen Sozialforschung blieb unscharf: wenngleich die Postulate in ihren Argumentationsmustern von der zeitgenössischen Rezeption der kritischen Theorie und des Marxismus geprägt waren, kritisierte Mies insbesondere den verengten wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen Bezug dieser Ansätze.

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Arbeitnehmerorientierte Wissenschaft der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft weitete den Horizont einer kritischen Forschung über die sozialwissenschaftliche Disziplin hinaus; es war im Kontext der Forschungsarbeiten und Diskurse zur Humanisierung der Arbeit entstanden. Neben den sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern im Bereich der Industrie- und Betriebssoziologie, der Techniksoziologie sowie der Bildungssoziologie ging es um das Feld angewandter Forschung z.B. in den Arbeits- und Technikwissenschaften aber auch um Fragen der Grundlagenforschung. Es sollte ein Gegengewicht zu den Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen der Arbeitgeberseite bilden. Dabei wurde auch gefragt, mit welchen Zielsetzungen und Prioritäten öffentliche und private Forschungsmittel eingesetzt werden. Gegenüber den Das

Konzept

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278

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

wissenschaftstheoretischen Analysen, die ihren Blick auf die Begründungszusammenhänge fokussierten, bezogen die Konzepte einer arbeitnehmerorientierten Wissenschaft auch die Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge wissenschaftlicher Praxis ein. Ähnlich wie die Debatten um die Planung wurde bei der Diskussion um die Möglichkeiten einer >arbeitnehmerorientierten Wissenschaft von einer wachsenden Bedeutung wissenschaftlicher Befunde für betriebliches und gesellschaftliches Handeln ausgegangen: »durch den Einsatz von Wissenschaft werden Unternehmens- und Verwaltungsentscheidungen langfristiger geplant und wissenschaftliche Erkenntnis steht zunehmend am Anfang vom Handeln« (Bosch 1980:109). Arbeitnehmerorientierte Wissenschaft zeichnete sich konzeptionell durch eine Reihe von Charakteristika aus102: Sie wurde in einem prozeßhaften Sinne als interessenbezogene Wissenschaft begriffen, fnteressen sollten ein »bewußtes, d.h. zwecksetzendes praktisches Verhältnis zur Umwelt« (Bosch 1980:105) kennzeichnen; sie seien »nicht einfach vorfindbar oder abfragbar, sondern müssen erst erarbeitet werden« (ebd.) und sie seien an historische Situationen gebunden. Sie sollte dazu beitragen, die durch Gewerkschaften formulierten Arbeitnehmerinteressen weiterzuentwickeln. Die Erwartungen an die Erträge wissenschaftlicher Analyse waren dabei recht weitgehend103. Prognostisches Wissen sollte bessere Diagnosen liefern, Prozesse gewerkschaftlicher Strategiebildung unterstützen durch Analyse von erwünschten und nicht erwünschten Wirkungen einzelner Strategien oder durch die Formulierung alternativer Konzepte. Das interessengeleitete Vorgehen sollte aber nicht in Widerspruch zu den etablierten Qualitätskriterien wissenschaftlichen Arbeitens geraten. Aus diesem Programm ergaben sich zwei Grundprobleme, die eng mit der sogenannten >Interessenorientierung< des Konzepts verknüpft waren. Zum einen stellte sich die Frage, wie sich eine arbeitnehmerorientierte Wissenschaft zum dominanten Postulat wissenschaftlicher Autonomie verhält. Bosch betonte, daß durch den Bezug auf Arbeitnehmerinteressen »Qualität und Wissenschaftlichkeit von Forschung nicht in Frage gestellt« (115) werde. Zum anderen wurde mit der Interessenorientierung das Verhältnis von Wissenschaft und Gewerkschaft zum Problem. Wissenschaft sollte Impulse -

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Die Darstellung folgt einem programmatischen Beitrag von Gerhard Bosch, der im Zusammenhang eines Projekts >Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmer als Gegenstand der Hochschulforschung« an der Universität Bielefeld entstand. Vgl. dazu Katterle/ Krahn (1980 und 1981). »Durch die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse können die Wahrnehmung von Problemen verbessert und gewerkschaftliche Ziele und Handlungsmöglichkeiten präzisiert werden. Wissenschaft vermag, Zusammenhänge, Strukturen und Entwicklungen aufzudecken. Sie ermöglicht

es, Eingriffsstellen für praktisches Handeln zu analysieren und die Folgen des Handelns genauer einzuschätzen. Besser geprüftes Wissen über natürliche und gesellschaftliche Zusammenhänge vergrößert die Chance, realisierbare Ziele und Strategien zu entwickeln. (...) Damit kann Wissenschaft Grundlagen für eine langfristige Orientierung des Handelns geben« (108f).

II. Die

Entwicklung von Soziologie und Sozialforschung

279

die zur Veränderung gewerkschaftlicher Politik beitragen. Auch betont wurde, daß »Beratungsfunktion und Entscheidungsprozeß« (110) streng voneinander zu trennen seien, wurde doch erkennbar, daß das Konzept auf eine veränderte gewerkschaftliche Politik zielte.

geben, wenn

Probleme kritischer Sozialforschung Bonß konstatierte 1982, daß die Debatte um eine in der kritischen Theorie begründeten Sozialforschung an Brisanz verloren habe und >zerredet< worden sei. Es fehle »eine Reflexion der methodologischen und forschungspraktischen Umsetzung >kritischer SozialforschungGroße Zeit« der empirischen

290

Sozialforschung (1965-1980)

gehend die Schwierigkeiten und Probleme sozialwissenschaftlicher Forschung in den verschiedenen Typen von Einrichtungen wider. Die >Erhebung über die Organisation sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitut^ entstand am Institut für angewandte Sozialwissenschaften im Rahmen eines international vergleichenden Projekts. In einer schriftlichen Befragung wurden 1275 Forschungseinrichtungen angeschrieben139. Von 843 Rückläufen konnten 423 vollständig ausgefüllte Bogen in die Auswertung einbezogen werden. Nach einem Vergleich bestimmter Struktur-

merkmale

antwortenden und nicht- bzw. nur teilweise antwortenden wurde davon ausgegangen, daß keine »ausgeprägten systematischen Auswahlfehler« (von Alemann 1981:98) vorliegen. »Die Erhebung stützt sich damit vor allem auf Institute, in denen projektorientierte Sozialforschung in einem kontinuierlichen Rahmen betrieben wird« (78f)140. Im Vergleich mit der DGS-Enquète weist die Erhebung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft mit ca. 70% einen deutlich höheren Anteil von

Einrichtungen

von

hochschulgebundenen Forschungseinrichtungen aus.

Das 1960 gegründete Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (ZA) führte im Jahre 1962 erstmals eine Befragung von Hochschulinstituten, Behörden, Markt- und Meinungsforschungsinstituten, Werbeagenturen, Verlagen sowie von potentiellen Auftraggebern sozialwissenschaftlicher Erhebungen durch. Diese jährlichen, in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführten Erhebungen wurden zunächst nur den Befragungsteilnehmern zugänglich gemacht. Ab 1968 wurde die Erhebung von der Koordinierungsstelle für die Dokumentation sozialwissenschaftlicher Forschung bzw. vom Informationszentrum für sozialwissenschaftliche -

Forschung getragen141.

Im Zentrum des Interesses standen bei der Forschungsdokumentation »quantitativ empirische Projekte aus dem Bereich der Sozialwissenschaften« (ZA 198LXI)142. Die Zahl der angeschriebenen Einrichtungen (1968: 1645 1980: 4235) und die Zahl der gemeldeten Projekte (351 1611) ist zunächst rasch angestiegen, [C10]; seit Mitte der siebziger Jahre scheint eine gewisse > Sättigung«: erreicht. Nur eine kleine Zahl von Einrichtungen meldete, daß keine Forschung durchgeführt wurde; eine zunehmende Zahl der angeschriebenen Einrichtungen antwortete nicht; diese Quote lag in den sechziger Jahren zwischen 30% und 40%; in den späten siebziger Jahren immerhin zwi-

-

Das Adreßmaterial wurde den Daten des Informationszentrums für sozialwissenschaftliche

Forschung sowie einem einschlägigen Anschriftenregister entnommen.

Von Alemann merkte zu dem Material an: »Es werden hier vor allem solche Institute erfaßt, die eine gewisse Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Bestimmte Bereiche des privatwirtschaftlichen Sektors (Beratungsinstitute, die allerdings überwiegend keine Primärforschung betreiben) und des staatlichen Bereichs bleiben ausgeblendet« (von Alemann 198I:78f). 141 Vgl. dazu Herz/ Stegemann (1976:131). Neben den Instituten mit dem Schwerpunkt Soziologie wurden auch solche der Psychologie und Pädagogik erfaßt; daneben fand sich eine Reihe von Sammelkategorien. "

III. Ausbau der

empirischen Sozialforschung

291

sehen 50% und 60%. Der Anteil der im Sinne der Erhebung quantitativem Projekte (an allen gemeldeten Projekten) ging von ca. 45% in den sechziger Jahren auf 25% bis 30% am Ende der siebziger Jahre zurück. Inwieweit dieser Trend eher Veränderungen der Forschungspraxis oder eher Veränderungen im Antwortverhalten abbildet, läßt sich nicht abschätzen. Erst ab 1978 wurde die Gesamtzahl der gemeldeten sozialwissenschaftlichen Projekte, nicht nur die der quantitativen, in einzelne Auswertung einbezogen. Ende der siebziger Jahre zeigte sich ein stärkerer Anteil von >nicht-quantitativen< Forschungsprojekten: Von den erfaßten empirischen Vorhaben sind 1980 nur 47% der quantitativen« Kategorie zugeordnet; 1978 waren es noch 66%. Auch hier können neben einer Veränderung in der Forschungspraxis auch erhebungsbedingte Faktoren eine Rolle spielen. Abgesehen von der wissenschaftsstrategischen Engführung der Erhebung auf >quantitative< Sozialforschung gilt es, bei der Interpretation der Daten den erfaßten Ausschnitt der Forschungslandschaft abzuschätzen. Die Quote der (aus verschiedenen Gründen) nicht antwortenden Einrichtungen liegt zwischen 1968 und 1980 im Mittel bei 47%143. Besondere Schwierigkeiten scheinen im Bereich der Markt- und Meinungsforschung zu liegen144. Zudem haben die Organisatoren mit einem wachsenden Anteil nachlässig ausgefüllter Fragebogen zu kämpfen (ZA 1981 :XII), die wichtige Einordnungen unmöglich machen. Neben den Forschungsenqueten, die versuchten, das ganze Feld der empirischen Sozialforschung abzubilden, kann auf verschiedene bereichsspezifische Untersuchungen zurückgegriffen werden145. Die folgende Darstellung zur Finanzierung der empirischen Sozialforschung verbleibt auf der Ebene eines patch-works: die verschiedenen Forschungsstatistiken zielten vorrangig darauf, die Leistungen der jeweiligen Förderinstanzen darzustellen und deren Arbeit zu legitimieren; die viel beschworene Interdisziplinarität und die gerade im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich unterschiedlichen und sich wandelnden fachlichen Zuschreibungen Zur Bestimmung des so erfaßten Forschungssegments findet sich folgende Einschätzung: »Bezüglich der Ausschöpfung externer Forschungsprojekte kann davon ausgegangen werden, daß im akademischen Bereich wahrscheinlich die meisten Projekte, die nicht ausschließlich einem akademischen Abschluß dienen, gemeldet werden« (ZA 1979:XIII).

»Privatwirtschaftliche Institute und Markt- und Meinungsforschungsinstitute sind in der Gesamtzahl aller gemeldeten Projekte unterrepräsentiert und bei den als empirisch zu klassifizierenden so gut wie nicht vorhanden« (ZA 198LXVI). Dabei wurde das Forschungssegment der Markt- und Meinungsforschung auf jährlich mehr als 3000 Untersuchungen geschätzt (ZA 1978:XIII). Z.B. zur Entwicklung der Bildungsforschung (Goldschmidt u.a. 1979) und der industriesoziologischen Forschung (Bergmann, 1979). Wittenberg (1981) hat eine Befragung zu den Forschungsarbeiten von Hochschullehrern und ihren Doktoranden vorgelegt: Im Rahmen einer schriftlichen Befragung wurden Daten von 133 Hochschullehrern mit Promotionsrecht (Rücklaufquote 59%) aus dem Bereich der Soziologie erhoben. Diese machten Angaben über 729 Doktoranden, von denen sich 487 an der Doktoranden-Befragung beteiligten.

292

C. Die >Große Zeit« der empirischen

führen dazu, daß diese Daten für eine struktion nur bedingt tauglich sind. 1.

Sozialforschung (1965-1980)

wissenschaftsgeschichtliche

Rekon-

Finanzierung der empirischen Sozialforschung

Förderung der empirischen Sozialforschung erfolgte in hohem Maße öffentlichen Mitteln: Mittel der allgemeinen Wissenschaftsförderung sowie Mittel aus der ressortbezogenen Forschung von Bund und Ländern. Neben den unmittelbaren Zuweisungen des Bundes und der Länder floß die Forschungsförderung u.a. über die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Institute oder seit 1975 über die Einrichtungen der Blauen Liste. Die privatwirtschaftliche Finanzierung von Sozialforschung spielte mit Ausnahme der Markt- und Meinungsforschung keine große Rolle. Auch Stiftungen, die als >dritter Sekton zwischen Verwaltung und Markt eine ausgleichende Funktion einnehmen könnten146, kam mit Ausnahme der Stiftung Volkswagenwerk bei der Förderung der sozialwissenschaftlichen Forschung keine große Bedeutung zu, sieht man von der Förderung von wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeiten ab. Die

aus

a)

Instanzen der Forschungsförderung

Forschungsförderung des Bundes und der Länder Die Forschungsmittel, die in den frühen sechziger Jahren in die sozialwissenschaftliche Forschung flössen, finden sich neben der allgemeinen Forschungsförderung vor allem in der Rubrik > Soziale Fragen und Gesundheitswesen, einschließlich Arbeit und Wohnungsbau^ wo die ressortbezogenen Forschungen der Bundesministerien für Gesundheit, Arbeit und Sozialordnung, Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung sowie Familie und Jugend subsumiert sind. In diesem Rahmen machte die empirische Sozialforschung sicherlich nur einen Teil der verausgabten Mittel aus147 [Cl 1]. Das Gesamtvolumen der vom Bund verausgabten Mittel für die Wissenschaft (Forschung und Entwicklung, wissenschaftliche Lehre und andere forschungsverwandte Tätigkeiten) ist bis zum Jahr 1967 erheblich angestiegen; nach einer Preisbereinigung bleibt eine Wachstumsrate von immerhin 76%. In diesem Wachstumsprozeß ist der Anteil der Ausgaben für das >Sozial- und Gesundheitswesen«: leicht zurückgegangen (1962: 2,2% 1967: 1,8%).

-

In den

folgenden Jahren kann die Entwicklung der empirischen Sozialforschung an den Angaben zu den Ausgaben von Bund und Ländern für For146

Vgl. dazu Neuhoff(1978). Quelle: Forschungsbericht (1967:160f). Hinzu kamen Mittel, schungsförderung den Sozialwissenschaften zuflössen.

die über die

allgemeine

For-

III. Ausbau der

empirischen Sozialforschung

293

schung und Entwicklung, im folgenden FuE, abgeschätzt werden [C12]. Das Wachstum des Forschungsbudgets, hier der FuE-Ausgaben, hielt weiter an; 1974 lagen die preisbereinigten FuE-Ausgaben von Bund und Ländern um ein Drittel über denen im Jahre 1969. Die Ausgaben für FuE im Bereich der Sozial- und Humanwissenschaften lagen (preisbereinigt) sogar um zwei Drittel höher. Damit korrespondierte ein Anstieg des Anteils der Sozial- und Humanwissenschaften an den FuE-Ausgaben von 6,4 auf über 8%. Ab 1975 erfolgte die Differenzierung der FuE-Ausgaben nach der neuen Nomenklatur der EG (NABS)149; die sozialwissenschaftlichen Forschungs-

anteile wurden vor allem unter der Rubrik >Probleme des Zusammenlebens in der Gesellschaft bzw. Gesellschaftliche Strukturen und Beziehungen geführt; die Mittel, die über die allgemeine Forschungsförderung im Hochschulbereich an die Sozialwissenschaften flössen, sind hier jedoch nicht enthalten, so daß die Anteile gegenüber 1975 niedriger ausfielen [C13]. Nach der Preisbereinigung wird deutlich, daß sich das Budget, nach dem Maximum 1975, zunächst bis 1981 auf hohem Niveau halten konnte; danach vollzog sich ein Einbruch: ab Mitte der achtziger und in den neunziger Jahren lag das Budget bei der Hälfte der 1975 verfügbaren Mittel. Die Ausweitung der Förderung der sozialwissenschaftlichen Forschung war seitens des Bundes mit einer spezifischen Problemanalyse und einer daraus resultierenden Erwartungshaltung verknüpft150. Mit einem Förderungsbereich Sozialforschung sollten bessere Bedingungen für eine »anwendungsbezogene, den gesellschaftlichen Problemen entsprechende Grundlagenforschung« (Bundesbericht Forschung 1975:41) geschaffen werden. Mit dieser Förderung war die Erwartung verknüpft, daß die sozialwissenschaftliche Forschung Aussagen über gesellschaftliche Entwicklungen liefert und Möglichkeiten der Problemlösung und -Vermeidung aufzeigt; so sollten insbesondere Voraussetzungen und Folgen der technologischen Entwicklung abgeschätzt werden. Schließlich sollten sich die Sozialwissenschaften selbst aus dem Sumpf ziehen, indem sie neue »Kooperationsformen der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Überwindung ihrer strukturellen Schwächen« (41) entwickeln.

Bildungs- und Berufsbildungsforschung: Der 1965 eingesetzte Deutsche Bildungsrat bzw. seine Bildungskommission haben für die Entwicklung der Quelle: Forschungsbericht (1975:80f). Soll-Zahlen in der Nomenklatur der Europäischen Gemeinschaft. 149 Nomenclature pour lAnalyse et la Comparaison des Budgets et Programmes Scientifiques. »Die wachsenden Forderungen der Bevölkerung nach öffentlichen Dienstleistungen und die gesellschaftspolitischen Probleme erzeugen einen zunehmenden Bedarf an sozialwissenschaftlichem Grundlagenwissen (Daten, Problemanalyse, Prognosen). Aufweiten Gebieten ist die gesellschaftswissenschaftliche Forschung in der Bundesrepublik noch nicht in der Lage, diesem Bedarf zu entsprechen. (...) Ursachen dafür sind die stark theoretische Ausrichtung und die mangelnde empirische Fundierung vieler Aussagen sozialwissenschaftlicher Forschung« (Bundesbericht For-

schung 1975:41).

294

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

bundesdeutschen Bildungsforschung eine zentrale Rolle gespielt151. Becker schilderte die Lage Mitte der sechziger Jahre: »Bei Beginn der Arbeit des Bildungsrates gab es noch keine staatlichen Bildungsforschungsinstitute und die Bildungsplanung der Ministerien steckte in den Anfangen. Infolgedessen hat der Bildungsrat zu Anfang auch Tätigkeiten übernehmen müssen, die eigentlich Bestandteil aufgeklärter Verwaltung sein sollen. In diesem Zusammenhang gehören das Gutachten über die Projektion der öffentlichen Ausgaben von 1965-70 oder die Projektion bis 1975 über Sozialprodukt, öffentliche Haushalte und Bildungsausgaben. Je mehr sich Verwaltung auf die wissenschaftliche Tradition besinnt, die sie im frühen 19. Jahrhundert hatte, je mehr sie daran erinnert, daß Verwaltung ursprünglich nicht nur Ordnung, sondern auch Aufklärung zum Inhalt hatte, desto mehr wird sie diese Survey-Forschung selbst durchführen oder in Auftrag nehmen können«

(1977:113).

1967 wurden im zweiten Bundesbericht Forschung im sozialwissenschaftlichen Bereich die Bildungsforschung, die Friedens- und Konfliktforschung, die Raumforschung/ Raumordnung und die Ökonometrie (als Hilfsmittel der Wirtschaftspolitik) zu den >Zukunftsaufgaben< der Forschung und Entwicklung erhoben. Zur Bildungsforschung wurde erklärt: »Zu den Zukunftsaufgaben der Forschung gehört die Untersuchung und Erklärung der inneren Abläufe und Gesetzmäßigkeiten des Bildungssystems und der Entwicklung einzelner Berufsfelder. Die zukünftige Nachfrage der Gesellschaft nach Arbeitskräften sehr unterschiedlicher Qualifikation, die Möglichkeiten der Rationalisierung des Unterrichts oder des Schulbaues gehören ebenso zur Bildungsforschung wie internationale Vergleiche und die Klärung der sozialen Voraussetzungen für die Bildungsplanung« (Bundesbericht Forschung 1967:34). 1969 wurde der Aspekt der »gerechten Verteilung der Bil-

dungschancen« (Bundesbericht Forschung 1969:43) hinzugefügt. Bildungsplanung sollte ein wichtiges Scharnier zwischen politisch-sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung darstellen. Mit einem historischen Bezug wurde die Bildungspolitik schließlich als originär sozialdemokratisches Thema markiert: »Versäumnisse im Bildungswesen entwickeln heute die gleiche Dynamik wie im vergangenen Jahrhundert Versäumnisse bei der sozialen Frage« (59). Die Bildungsforschung sollte die zu erwartenden hohen Personal- und Sachinvestitionen absichern152. Mit den Bildungsberichten wollte man ein Forum schaffen, um Entwicklungsprobleme und Entwicklungsfortschritte im Bildungsbereich zu dokumentieren. Vgl. zum Einfluß des Deutschen Bildungsrates auf die Entwicklung von Bildungsforschung und -politik die Beiträge von Becker (1977) und Schoene (1977). »Eine gezielte Verstärkung der wissenschaftlichen Arbeit auf diesem Gebiet ist notwendig und dringlich: Bildungspolitischen Entscheidungen müssen Analysen und Prognosen vorausgehen; Fehlentscheidungen sind lange nicht zu erkennen und später schwer zu korrigieren« (60).

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

295

Analog zum Bereich der allgemeinen Bildung sollte auch die Berufsbildung zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeit werden. Von dem neu geschaffenen Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung erwartete man, »die Grundlagen der beruflichen Bildung zu klären, Inhalte und Zie-

zu ermitteln sowie die Anpassung an die technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung vorzubereiten« (60). Die Ausgaben für die Bildungsforschung, die erst seit den siebziger Jahren getrennt ausgewiesen wurden, sind zunächst bis 1975 stark angewachsen153 [C14]. In den folgenden Jahren sind sie in mehreren Schüben zurückgegangen154, machten jedoch noch immer einen gewichtigen Teil der sozialwissenschaftlichen Förderungsmittel aus.

le

Technischer Wandel und Humanisierung des Arbeitslebens: Die fünfziger Jahre waren durch die in Betrieben und Verwaltungen zu leistende >Wiederaufbauarbeit< geprägt. Fragen der Arbeitsbedingungen oder der Arbeitssicherheit spielten oft nur eine nachgeordnete Rolle: Die Arbeitsunfälle erreichten 1961 einen Höchststand. Mit Erreichen der Vollbeschäftigung wurde die Arbeitskraft kostbarer, man wandte sich stärker den Fragen des Arbeitsschutzes zu (Radkau 1989:358); so wurde z.B. 1957 das Bundesinstitut für Arbeitsschutz gegründet. Ein weiterer Anstoß entsprang den technischen Veränderungen im Bereich industrieller Produktion, in Verwaltung und Dienstleistung. Angesichts einer 1962 vom Ifo-Institut vorgelegten Studie >Soziale Auswirkungen des technischen Fortschritts< entspann sich eine breitere Debatte um die sozialen und ökonomischen Folgen des technischen Wandels. Aus einer Initiative der Automationsabteilung der fG Metall entstand ein umfangreiches Forschungsvorhaben des Rationalisierungskuratoriums der Deutschen Wirtschaft155: Wirtschaftliche und soziale Aspekte des technischen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland«/56. Die Untersuchung gliederte sich in einen wirtschaftswissenschaftlichen157, einen arbeitswissenschaftlichen158 und schließlich einen soziologischen Untersu-

chungsteil159. 153

Quelle: Forschungsberichte der Bundesregierung. Für 1985 lagen im Rahmen dieser Systematik keine Angaben vor. 154 1975:100; 1977: 72,0; 1981: 61,0; 1983: 45,9; 1987: 35,8 (preisbereinigt). Zur Gründung des Reichskuratoriums für gewerbliche Wirtschaft, so der ursprüngliche Name, Schuster (1987:2361). vgl. 156 Der Projektbeirat war, der Struktur des RKW entsprechend, mit Vertretern der Tarifparteien, der Bundesministerien für Wirtschaft bzw. für Arbeit und Sozialordnung sowie der Bundesanstalt für Arbeit besetzt. Bearbeitet durch: Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert

Stiftung. 58

Bearbeitet durch: Forschungsinstitut für Rationalisierung Arbeitswissenschaft an der TH Darmstadt. Bearbeitet

die

an

der TH Aachen, Institut für

am soziologischen Seminar der Universität Göttingen. Hieraus entstanden die für Entwicklung der westdeutschen Industriesoziologie wichtigen Studien von Kern und Schu-

296

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Auf Initiative Otto Brenners war 1967 der bei den Bundesministerien für Wirtschaft bzw. für Arbeit und Sozialordnung angesiedelte Arbeitskreis Automation«: konstituiert worden. Man wollte den technischen Fortschritt fördern und die Folgen des technischen Wandels analysieren und bewältigen; damit kam dem Arbeitskreis auch die Aufgabe zu, die Forschung zu den »sozialwirtschaftlichen Fragen des technischen Fortschritts« (Bundesbericht Forschung 1969:92) zu koordinieren. Der Arbeitskreis vergab insgesamt 45 Forschungsaufträge. Nach seiner Auflösung wurde die Mehrzahl der Mitglieder in die von 1971 bis 1977 tätige >Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel«: berufen160. Die Kommission gab insgesamt 144 Forschungsprojekte in Auftrag und erstellte einen umfangreichen Bericht zu den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der Bundesrepublik die Schriftenreihe der Kommission umfaßte 140 Bände; auf Basis einer Problemanalyse sollten immer auch die Möglichkeiten der politischen Gestaltung aufgezeigt werden161. Thematische Schwerpunkte lagen neben wirtschaftspolitischen Fragen im Bereich des Bildungssystems, der Technologieentwicklung, der Arbeitsbedingungen, der Sozialpolitik, der Raumordnungspolitik, der Umweltbelastung sowie von Freizeit und Konsum; weitere Schwerpunkte bildeten Fragen der politischen Planung und Beteiligung sowie wirtschaftspolitische Fragen. Zu dem wirtschaftlich technisch induzierten >Reformdruck< kam der Reformbedarf, der sich in dem Slogan von der >Qualität des Lebens«: ausdrückte. So wurden im Forschungsbericht von 1975 drei Ziele formuliert: »Modernisierung der Wirtschaft«, »Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen« und »Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit« (25). Die Veränderung der Prioritätenstruktur war mit der Hoffnung verknüpft, daß Forschung und neue Technologien die Zukunft der Gesellschaft entscheidend mitgestalten und helfen, gesellschaftliche Probleme zu lösen (10). In diesem Kontext wurde von der Bundesregierung 1974 ein Aktionsprogramm >Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens« aufgelegt. Es sollte dazu beitragen, Richtwerte und Mindestanforderungen festzulegen, neue menschengerechte Arbeitstechnologien zu entwickeln, Modelle für die Arbeitsorganisation und -gestaltung zu erarbeiten und die Umsetzung (arbeits)wissenschaftlicher Kenntnisse zu fördern. Diese Forschungen sollten, soweit es um wichtige Modellvorhaben ging, durch eine sozial- und arbeitswissenschaftliche Begleitforschung ergänzt werden; bis 1979 wurden -

mann:

dndustriearbeit und Arbeiterbewußtsein« sowie >Der soziale Prozeß bei technischen Um-

stellungen«. Vgl. dazu Rationalisierungskuratorium (1970). Der »>Arbeitskreis Automation« wurde Ende 1970 aufgelöst. Es war deutlich geworden, daß Probleme des technologischen Wandels nicht unabhängig von der politischen Steuerung des wirtschaftlichen und sonstigen gesellschaftlichen Geschehens gesehen werden können« (Bolte 1978:252). 161 Vgl. dazu auch Bolte (1998:102), Bolte (1978) und Kohn (1976).

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

297

hieraus 27 industriesoziologische Projekte gefördert162 [C15]. Daneben wurden auch Mittel für eine (sozialwissenschaftliche) Grundlagenforschung zu Humanisierungsfragen bereitgestellt; hier wurden neun Forschungsvorhaben unterstützt. Im Programm erhielten Gewerkschafts- und Unternehmensvertreter weitgehende Mitsprachemöglichkeiten; der zu erwartende Zielkonflikt zwischen Humanisierung der Arbeit und Produktionssteigerung wurde im Bericht von 1975 bereits deutlich benannt (34). Im Forschungsbericht von 1979 wurden insbesondere die Mitbestimmungsund Mitwirkungsrechte von betrieblichen Interessenvertretern im Rahmen der Humanisierungsforschung hervorgehoben; die FuE-Ergebnisse sollten für diese praxisnah aufbereitet werden; Umsetzungshindernisse sollten wissenschaftlich erforscht werden (61). 1983 kam es zu einer Neuorientierung des Programms, die eine »Effizienzsteigerung« und eine »Konzentration der Förderung« bewirken sollte. Die Umsetzung und Nutzung der bisherigen Ergebnisse wurde verstärkt, der Gesundheitsschutz bzw. Belastungsabbau fortgeführt; »der Förderung der >menschengerechten Anwendung neuer Technologie< wird in Zukunft verstärkt Beachtung geschenkt« (Bundesbericht Forschung 1984:151). Elsenau und Jäger beschrieben diese Entwicklung als eine »Verdrängung der Sozialwissenschaften aus der Humanisierungs- und Technologieforschung« (1982:419). In der Reorientierung der Humanisierungsforschung deutete sich eine Akzentverschiebung zur sozialwissenschaftlichen Technikforschung an, die sich in den folgenden Jahren, im Kontext der >mikroelektronischen Revolution vollzog. Deutsche Forschungsgemeinschaft Nach der unmittelbaren Forschungsförderung durch Bund und Länder spielte die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine wichtige Rolle für die FinanDie Forschungsförderung zierung sozialwissenschaftlicher durch die DFG nahm im internationalen Vergleich eine Sonderstellung insofern ein, »als sie in Westeuropa wohl über den weitestgehenden Grad an Unabhängigkeit von der Politik, bei gleichzeitiger Integration der Politik in die Entscheidungsprozesse (...) verfugt« (Kaase 1997:15f). Das Budget der DFG erfuhr in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre eine erste Ausweitung, nach einer Phase der Stagnation folgte dann in der zweiten Hälfte der sech-

Forschung163.

Das Programm Forschung zur Humanisierung der Arbeit verfügte über folgende Budgets (in Mio. DM): 1975: 26,9; 1977: 45,1; 1979: 80,1; 1981: 33,6; 1983: 4,1. Die gesamten Ausgaben für den Bereich Humanisierung der Arbeit stiegen bis 1979 auf etwa 120 Mio. DM und sind bis zu Beginn der neunziger Jahre weitgehend konstant geblieben. Quelle: Forschungsberichte der Bun-

desregierung, Projektträger (1981:47). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Arbeit zunächst ein; 1949 wurde sie unter ihrem alten, bis 1937 geführten Namen, >Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft« wiedergegründet; ab 1951 übernahm sie nach der Eingliederung des Deutschen Forschungsrates wieder die Bezeichnung >Deutsche Forschungsgemeinschaft«. Zur Geschichte der DFG und ihrer Entwicklung im Nationalsozialismus vgl. Zierold (1968), Nipperdey et al. (1970) und Hammerstein (1999).

298

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

ziger Jahre eine zweite Ausbauphase; in der ersten Hälfte der siebziger Jahre wurde schließlich ein Sockel erreicht, der für die siebziger und achtziger Jahre relativ stabil blieb. Gegenüber dem Niveau zur Mitte der sechziger Jahre lag dieser Sockel (preisbereinigt) mehr als doppelt so hoch. Die Sozialwissenschaften wurden in der Zuordnung der DFG dem Wissenschaftsbereich Geisteswissenschaften zugerechnet; erst Ende der siebziger Jahre sprach man von Geistes- und Sozialwissenschaften. Neben den Geisteswissenschaften bestanden die Wissenschaftsbereiche Naturwissenschaften, Biowissenschaften und Ingenieurwissenschaften. Der Proporz zwischen diesen Wissenschaftsbereichen blieb auch in längerer Sicht relativ stabil; insbesondere der Anteil der Geisteswissenschaften lag relativ konstant bei etwa 16% des gesamten Förderungsvolumens. Innerhalb der Geisteswissenschaften wurde seit den siebziger Jahren zwischen den Gesellschaftswissenschaften (Rechtswissenschaft, Politologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Geographie), den Bereichen Erziehungswissenschaft/ Psychologie/ Philosophie, Geschichts- und Kunstwissenschaften bzw. Sprach- und Literaturwissenschaften unterschieden. Die empirische Sozialforschung fand sich vorrangig im Bereich der Gesellschaftswissenschaften wieder, das wichtige Segment der Bildungsforschung erschien aber z.B. unter dem Bereich Erziehungswissenschaft. Der Anteil der Gesellschaftswissenschaften am gesamten Fördervolumen der DFG schwankte in den siebziger und achtziger Jahren zwischen 4,5 und 6 %; erst in den neunziger Jahren lag der Anteil eher unter 5%164 [C16]. Die Mittel, die in die Geisteswissenschaften flössen, verteilten sich seit dem Ende der sechziger Jahre vorrangig auf drei Typen der Forschungsförderung: das Normalverfahren (in den siebziger Jahren etwa 60%), die Schwerpunktprogramme (etwa 15%) und die Sonderforschungsbereiche (etwa 25%); hinzu kommen die Forschergruppen, die nicht nach Wissenschaftsbereichen differenziert ausgewiesen wurden. Hinweise auf die thematischen Schwerpunkte der von der DFG geförderten empirischen Sozialforschung lassen sich den geförderten Schwerpunktprogrammen165 und Sonderforschungsbereichen166 entnehmen; eine klare diszi-

Quelle: Verschiedene Jahresberichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Schwerpunktprogramme in den Sozialwissenschaften (1968-1980): Soziale Umverteilung (1961-1966); Unternehmensforschung (1962-1968); Empirische Kriminologie, einschließlich Kriminalsoziologie (1968-1978); Démographie (1968-1972); Regionalforschung- und Regionalpolitik (1970-1979); Industrie-, Betriebs- und Organisationssoziologie (1971-1980); Wissenschaftstheorie (1971-1978); Sozialisationsprozeß Jugendlicher (1974-1978); Theorie und Empirie von Transformationsprozessen in der internationalen Politik (1975-1979); Integration der Frau in die Berufswelt (1974-1978). Quelle: Jahresberichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 66 Sonderforschungsbereiche in den Sozialwissenschaften (1968-1980): SFB 24: Sozial- und wirtschaftspsychologische Entscheidungsforschung, Mannheim (1968-1982); SFB 23: Bildungsforschung, Konstanz (1969-1985); SFB 20: Entwicklungspolitik und Entwicklungsforschung, Bochum (1969-1975); SFB 26: Raumordnung und Raumwirtschaft, Münster (1969-1981); SFB 21 Ökonomische Prognose, Entscheidungs- und Gleichgewichtsmodelle, Bonn (1970-1984); SFB 22:

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

299

plinäre Abgrenzung ist auf dieser Ebene jedoch genausowenig möglich, wie eine Abschätzung der empirischen Anteile in den Forschungsarbeiten. Mit den Sonderforschungsbereichen war das Ziel verknüpft, die Forschungskapazität an den wissenschaftlichen Hochschulen »quantitativ, qualitativ und strukturell zu verbessern«, damit ein Hauptmotiv für den Aufbau außeruniversitärer Forschungseinrichtungen entfalle (Bundesbericht Forschung 1969:61). Stiftung Volkswagenwerk und weitere Instanzen der Forschungsförderung Im Rahmen der 1962 gegründeten Stiftung Volkswagenwerk wurden die Sozialwissenschaften zunächst

zusammen

mit den Wirtschaftswissenschaf-

ten ausgewiesen; ab 1966 wurde ein eigenes Fachgebiet Sozialwissenschaften eingerichtet. Der Anteil der sozialwissenschaftlichen Fördermittel machte bis zur Mitte der siebziger Jahre durchschnittlich etwa 3% der vergebenen Mittel aus. In der zweiten Hälfte der siebziger und in der ersten Hälfte der

achtziger Jahre wuchs dieser Anteil auf durchschnittlich 13% bzw. 17% an und geht dann auf ca. 11% zurück167 [C17]. Neben der im engeren Sinne sozialwissenschaftlichen Forschung spielte in den sechziger und frühen siebziger Jahren die der Pädagogik zugerechnete Forschung zum Bildungswesen eine wichtige Rolle; hier profilierte sich die Stiftung durch die Finanzierung von Projekten im Bereich der Bildungsforschung: so wurde 1966/67 die Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung in Heidelberg unterstützt, die ein quantitatives Modell des Bildungswesens entwickelte; seit dem Ende der sechziger Jahre wurde der Aufbau des Hochschulinformationssystems (HIS) gefördert (Kerscher 1972:36). Ein wichtiges instrument der Förderpolitik waren die Förderungsschwerpunkte, die sich mit verschiedensten sozialwissenschaftliche Themen befaßten168. Neben den hier angeführten fnstanzen der Forschungsförderung gab es eine Vielzahl weiterer Quellen, aus denen Forschungsmittel in die empirische Sozialforschung flössen, die jedoch auf Grund der geringeren Finanzierungsvolumina kaum als Instanzen einer systematischen Forschungsförderung begriffen werden können; die Finanzierung erfolgte vielmehr zweckund projektbezogen. Hierzu rechneten kommunale Einrichtungen, ausländiSozialisationsforschung, Nürnberg (1970-1980); SFB 86: Weltwirtschaft, Hamburg/ Kiel (19711985); SFB 101: Berufs- und Arbeitskräfteforschung, München (1972-1986); SFB 3: Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik, Frankfurt/ Mannheim (1979-1990); SFB 5: Staatliche Allokationspolitik, Mannheim (1979-1987).

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Berichte der Stiftung Volkswagenwerk. Bildungs-/Ausbildungsforschung/ -förderung: (1963-1975: 185,2 Mio. DM); Bildungsplanung und -Ökonomie (1969-1975: 57,2 Mio. DM); Verwaltungswissenschaft (1971-1975: 6,9 Mio. DM); internationale Beziehungen (1971-1978: 15,0 Mio. DM); Alternsforschung (1974-1980: 11,3 Mio. DM); Wissenschaft und Technik (1975-1983: 38,7 Mio. DM); Wanderbewegungen von Arbeitnehmern in Europa/ Gastarbeiterforschung (1975-1981: 15,3 Mio. DM); demokratische Industriegesellschaften im Wandel (1977-1988: 55,2 Mio. DM); historisch-sozialwissenschaftliche Stadtforschung (1982-1988: 13,8 Mio. DM); Management von Forschung und Entwicklung (1984-1987: 3,7 Mio. DM). 168

300

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

sehe Institutionen (insbesondere der EG), sonstige Stiftungen, gemeinnützige Institutionen, öffentlich-rechtliche Anstalten, Verbände, Gewerkschaften, kirchliche Institutionen und schließlich auch die private Wirtschaft.

b) Finanzierung der empirischen Forschung aus Verwenderperspektive In der Forschungsenquete der DGS wurde das Gesamtvolumen an verfügbaren Forschungsmitteln für das Jahr 1973 auf ca. 100 Mio. DM ; davon entfielen ca. 20 Mio. DM auf die Hochschulinstitute170, ca. 30 Mio. auf die hochschulfreien wissenschaftlichen Institute und ca. 50 Mio. DM auf

geschätzt16

die nutzungsorientierten Institute171[C18]. Die Untersuchung von Goldschmidt u.a. (1979) wies allein für Bildungsforschung des Jahres 1973 einen Betrag von ca. 110 Mio. DM aus; Bildungsforschung wurde hier jedoch recht weit gefaßt und schloß neben der Berufsbildungsforschung auch Teile der Jugendforschung und der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ein. Die Mittel für die sozialwissenschaftliche Forschung scheinen demnach eher höher zu liegen als in der DGS-Enquête angenommen. Letztlich kann diese Frage kaum geklärt werden, hängt sie doch in hohem Maße von den gezogenen Grenzlinien zur Bestimmung der soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Forschung ab. Eine Gegenüberstellung der Befunde der verschiedenen Erhebungen zur Forschungssituation ermöglicht eine grobe Abschätzung der Struktur der Finanzierung172: Die fremdfinanzierten Forschungsarbeiten wurden in hohem Maße aus öffentlichen Aufträgen (5060%) und aus Mitteln der allgemeinen Forschungsförderung (ca. 30%) getragen; andere Finanzierungsquellen (Privatwirtschaft, Verbände etc.) spielten nur eine nachgeordnete Rolle (10-20%) [C19]. Eine differenziertere Aufschlüsselung der verschiedenen Quellen der Forschungsfinanzierung ist auf Basis der Forschungserhebung des Zentralarchivs möglich173 [C20]. Bei den >Geldgebern< der öffentlichen Hand dominierten die Bundes- und Landeseinrichtungen. Die allgemeinen Forschungsmittel wurden vor allem von der (fast ausschließlich öffentlich finanzierten) Deutschen Forschungsgemeinschaft erbracht. Die Finanzierung empirischer Sozialforschung durch die private Wirtschaft spielte mit Ausnahme der hier 169

Eingeschlossen sind auch Mittel für Planungsaufgaben, z.B. Stadt- oder Bildungsplanung. Einschließlich der Mittel der Zentralinstitute, Sonderforschungsbereiche, Forschergruppen etc. Die Schätzung für die nutzungsorientierten Institute liegt nach Einschätzung des Autors vermutlich zu niedrig, da dieser Bereich von den Berichterstattern nur unzureichend erfaßt wurde. Während in der DGS-Enquête Finanzvolumina erfaßt wurden, wurde in der Untersuchung des Instituts für angewandte Sozialforschung lediglich nach der Hauptfinanzierongsquelle gefragt. Auch in der Erhebung des Informationszentrums, wurde nicht nach Summen gefragt, sondern nach Finanzierungsquellen. Der Datenbestand des Informationszentrums umfaßt nur quantitative Projekte«. Die größten Differenzen liegen bei der Abschätzung des Forschungsanteils, der aus Eigenmitteln bestritten wird; hier schlagen vermutlich die Stärken bzw. Schwächen der jeweiligen Erhebungspraktiken durch. Rechnet man diesen Anteil der eigenfinanzierten Projekte heraus, kommt man zu einem höheren Deckungsgrad der Befunde Quelle: ZA-Erhebung (verschiedene Jahre). Angaben in Spaltenprozent.

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

301

unzureichend erfaßten Markt- und Meinungsforschung eine marginale Rolle. Auch die institutionellen Eigenmittel entstammten in hohem Maße den Haushalten von Bund und Ländern. Im zeitlichen Verlauf zeigen sich in dieser Entwicklungsphase der empirischen Sozialforschung keine klar kon-

nur

turierbaren Verschiebungen, vermutlich geht ein erheblicher Teil der beobachtbaren Schwankungen auf Ausfalle im Erhebungsprozeß zurück. Ein etwas genauerer Einblick in die Finanzierung einzelner Forschungsfelder kann am Beispiel der beiden bedeutsamsten Forschungsfelder, der Bildungsforschung und der industriesoziologischen Forschung gewonnen werden: In den Jahren zwischen 1963 und 1977 waren nahezu eine Milliarde DM in die außeruniversitäre Bildungsforschung und benachbarte Forschungsfelder (Berufsbildungsforschung, Jugendforschung, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, pädagogische Forschung) investiert worden. Zunächst wurden die investierten Budgets rasch ausgeweitet174 [C21]. Die preisbereinigten Daten zeigen, daß die Phase der starken Expansion der Bildungsforschung, mit Zuwachsraten bis 40%, mit dem Jahr 1973 zu Ende ging; in den Folgejahren ist sogar ein leichter Rückgang der für die Bildungsforschung verausgabten Mittel zu erkennen. Das Gros der Mittel ging als unmittelbare Förderung von Bundes- und Landesministerien ein (ca. 85%); nur ein kleinerer Teil floß über Instanzen der allgemeinen Forschungsförderung (vor allem die Stiftung Völkswagenwerk) und andere Instanzen. Verglichen mit der Bildungsforschung und benachbarten Bereichen nimmt sich die industriesoziologische Forschung bescheiden aus175 [C22]. Mit einer geschätzten Gesamtsumme von 55 Mio. für die Dekade der siebziger Jahre machte sie nur einen kleinen Teil der für die Bildungsforschung ausgewiesenen Mittel aus176. Mehr als die Hälfte der Fördermittel für die industriesoziologische Forschung floß in den sechziger und siebziger Jahren aus den sozialwissenschaftlichen Anteilen des Programms zur Humanisierung des Arbeitslebens, ein weiteres Drittel entstammte den verschiedenen Förderprogrammen der DFG, insbesondere den Schwerpunktprogrammen; auf sonstige Mittel der Bundesministerien bzw. auf das Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft entfielen etwa zehn bzw. fünf Prozent. Damit unterschied sich die Finanzierung der industriesoziologischen Forschung von der der Bildungsforschung, wo die unmittelbaren Zuwendungen von Bundesministerien und Ländern dominierten. -

-

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Angaben in Goldschmidt/ Schöfthaler/ Hofmann (1979:315). Die Autoren bezogen sich bis 1971 auf Edding/ Hüfner (1975), für die folgenden Jahre auf eigene Erhebungen. Zur Einschätzung der Daten ist zu beachten, daß die Autoren von einem recht weit gefaßten Verständnis von Bildungsforschung ausgehen; das wird z.B. an den Trägem der Bildungsforschung deutlich. Quelle: Bergmann (1979, Tab. 5). Einzelne Posten wurden zusammengefaßt und gerundet. Auch wenn man die Zuordnung einzelner großer Institute zur Bildungsforschung korrigiert; bleibt eine deutliche Differenz zwischen beiden Forschungsfeldern.

302

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Forschungserhebungen machen deutlich, daß das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< soweit ersichtlich in hohem Maße ein Staatsunternehmen war; für die private Wirtschaft scheinen die möglichen Erträge empirischer Sozialforschung (ökonomisch) irrelevant oder zu unwägbar, bzw. es gelang den Unternehmen, ihre Forschungsanliegen weitgehend mit öffentlichen Forschungsmitteln zu realisieren. Die Daten der

2.

Entwicklung der institutionellen Struktur

Die in der Gründungsphase ausgebildeten institutionellen Strukturen prägauch die Landschaft, in der sich in der >großen Zeit< die rapide Expansion der empirischen Sozialforschung vollzog: neben der amtlichen Statistik und den privatwirtschaftlichen Instituten der Markt- und Meinungsforschung waren dies die Forschungseinrichtungen an den Hochschulen sowie die (mehr oder weniger) hochschulfreien Forschungsinstitute. Damit ist der Rahmen, in dem empirisch fundiertes Wissen über die soziale Welt hervorgebracht wurde, sicherlich nicht vollständig erfaßt; hinzuweisen ist insbesondere auf Forschungsaktivitäten, die von Unternehmen und anderen großen Institutionen mehr oder weniger in Eigenregie erbracht wurden; z.B. im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen oder Projektgruppen, die sich auch mit soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Fragen befaßten177. Seine Bedeutung sollte nicht unterschätzt werden: wenngleich nicht unbedingt ein ausgewiesener Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs geliefert wurde, trugen doch solche Forschungs- bzw. forschungsähnlichen Praktiken vermutlich nicht unerheblich zur Diffusion empirischer Forschungspraktiken und empirisch fundierten Wissens bei. In diesem Sinne ist davon auszugehen, daß die Bedeutung dieses >Segments< in einer Phase der Soziologisierung der Diskurse wuchs. Aus der Zusammenschau der Befunde der DGS-Enquête178 [C23] und der Untersuchung des Institut für angewandte Sozialforschung179 [C24] ergibt ten

Die

systematische Erfassung eines solchen >Segments< ist nicht möglich, da solche Aktivitäten von anderen Organisationsaktivitäten abgrenzbar sind; eine Erkönnte nur über einzelne Fallanalysen erfolgen. schließung 178 Nach der DGS-Enquête machten die Hochschuleinrichtungen ca. 60% der Forschungseinrichtungen aus; die übrigen 40% verteilten sich zu etwa gleichen Teilen auf wissenschaftlich verfaßte und nutzungsorientierte Einrichtungen außerhalb der Hochschulen. Unter den nutzungsorientierten Instituten, finden sich zur Hälfte privatwirtschaftliche Einrichtungen, z.B. Institute der Marktund Meinungsforschung, und jeweils zu einem Viertel verbandsgebundene oder verwaltungseigene Institute. Eigene Berechnung auf Basis der Angaben bei Lutz (1976:13f). Nach der Untersuchung des Instituts fur angewandte Sozialforschung lag der Anteil der universitären Einrichtungen (inklusive der An-Institute und der Sonderforschungsbereiche) sogar bei nahezu 70%; die außeruniversitären Einrichtungen verschiedener Rechtsform machten ca. 20% aus auf die Differenzierung von Wissenschafts- und Nutzungsorientierung wurde ausdrücklich verzichtet; privatwirtschaftlich verfaßte Institute machten die restlichen 10% aus. Quelle: von fachlich und inhaltlich kaum

-

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

303

sich ein durchaus konsistentes Bild. Der Anteil der Institute in universitärer

Trägerschaft lag bei etwa 60%; etwa 30% waren den außeruniversitären und etwa 10% den privaten Instituten zuzurechen [C25]180. Ein anderes Bild der Forschungslandschaft ergibt sich, wenn man die Finanzvolumina beachtet, die den einzelnen Forschungsbereichen zur Verfügung standen leider wurden diese nur in der DGS-Enquête erfaßt181 [C26]: Von den dort erfaßten 84,2 Mio. DM gingen 18% an Hochschuleinrichtungen; 57% an hochschulfreie und 25% an privatwirtschaftliche institute. Die Angaben über die Zahl der Wissenschaftler, die im Bereich der empirischen Sozialforschung tätig waren, hängen stark von den jeweiligen Grenzziehungen ab. in der Forschungsenquete wurde die Gesamtzahl der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf etwa 2000 geschätzt; davon waren -

40% an den Hochschulinstituten, 20% an den hochschulfreien wissenschaftlichen Einrichtungen und weitere 40% an den nutzungsorientierten fnstituten beschäftigt. Bei von Alemann wurde für den engeren Bereich der Sozialwissenschaften von ca. 4400 wissenschaftlichen Beschäftigten ausgegangen, wovon 60% im universitären Bereich und die übrigen 40% im außeruniversitären Bereich tätig waren.

a) Amtliche Statistik der amtlichen Statistik wurde durch die bisher dargestellEntwicklung ten Untersuchungen so gut wie nicht erfaßt. Gemeinhin wurden die statistischen Ämter dem Feld der empirischen Sozialforschung nicht zugeschrieben: in der Forschungsenquete der DGS blieben sie gänzlich unberücksichtigt; in der Untersuchung des instituts für angewandte Sozialforschung wurde zumindest auf die dort geleistete Forschungsarbeit und die bestehenden Kommunikations- und Kooperationsprobleme hingewiesen182. Die >große Zeit< der empirischen Sozialforschung schlug sich auch im Segment der amtlichen Statistik nieder. Nimmt man die personelle Ausstattung als Indikator der Entwicklung der amtlichen Statistik, so wird deutlich, daß Die

Alemann (198la: 112). Aus den Daten des Instituts für angewandte Sozialforschung wurden diejenigen Institute aufgenommen, die im engeren Sinne den Sozialwissenschaften zuzurechnen sind.

Ein Vergleich mit den Befunden der Forschungserhebung des Informationszentrums Sozialwissenschaften zeigt die noch ausgeprägtere Hochschulorientierung dieser Befragung sowie deren Schwächen im Bereich der privatwirtschaftlich verfaßten Einrichtungen. 181 Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Lutz (1975:92ff), DGS-Forschungsenquête 1974. »In allen diesen statistischen Ämtern wird zu einem großen Teil auch Sozialforschung betrieben, allerdings nach eigenen Kriterien, (...). Man ist in der Bundesrepublik Deutschland allerdings leicht geneigt, die statistischen Ämter aus dem Bereich der Sozialwissenschaften auszuklammern. Dies ist für beide Bereiche im Grunde wenig fruchtbar: die statistischen Ämter verlegen sich auf die gesetzesgemäße Erledigung von Datenerhebung und Berichterstattung, ohne die Datenanalyse mit zu berücksichtigen und stehen damit oft in der Gefahr, die neueren Entwicklungen der Datenverarbeitung und der Datenanalyse zu verpassen. Die Forschungsinstitute in und außerhalb der Universitäten stehen umgekehrt in der Gefahr, den Kontakt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verlieren, zu sehr die Probleme der Datenanalyse und der Dateninterpretation in den Vordergrund zu schieben und insgesamt zu theorielastig zu werden« (von Alemann 1981a:116f).

304

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

rapide Ausbau bereits in der ersten Dekade der Bundesrepublik vollzog; von 1950 bis 1960 stieg der Personalbestand auf Bundesebene um mehr als 50%. Aber auch in den sechziger Jahren setzte sich diese Expansion fort, der Zuwachs lag bei ca. 30%; erst in den achtziger Jahren ging die sich der

Zuwachsrate auf 10% (in der Dekade) zurück. Auf Landesebene zeigen die Zuwachsraten dieselbe Struktur, fallen aber etwas geringer aus. Im Bereich des wissenschaftlich qualifizierten Personals wirkte sich dieser Zuwachs noch stärker aus: so verdoppelte sich zwischen 1960 und 1970 auf Bundesebene die Zahl der Beschäftigen im höheren Dienst. Die Anforderung an die amtliche Statistik hatten sich unter der Regierung der großen und später der sozialliberalen Koalition erweitert: so erwuchsen z.B. aus der Politik der Globalsteuerung neue Anforderungen an die Wirtschaftsstatistik; aber auch das Projekt eines geplanten gesellschaftlichen Fortschritts und das damit verbundene erweiterte Verständnis von den Zuständigkeiten des Staates im Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung brachte einen neuen Bedarf an empirisch-statistischem Wissen hervor, das als Grundlage politischer Planungsprozesse sowie zu ihrer Evaluierung und Korrektur dienen sollte. Charakteristische Bereiche waren hier z.B. die Bildungs-183 und die Wissenschaftsstatistik184, später die Umweltstatistik, oder die Gewinnung sozialer Indikatoren. Im Prozeß der europäischen Integration sowie mit dem Bedeutungsgewinn der Vereinten Nationen und der OECD entstanden neue Anforderungen an die internationale Vergleichbarkeit des kategorialen Apparats der amtlichen Statistik. Die Veränderungen in der Abteilungsstruktur und im Personal indizieren die Anstrengungen, den neuen Anforderungen gerecht zu werden: so entstand eine Abteilung, die sich mit dem Bildungs- und Gesundheitswesen, den Sozialleistungen und der Bevölkerungsentwicklung befaßte; der Beschäftigtenanteil, in diesem Bereich verdoppelte sich zwischen 1958 und 1971. Auch in der Volkszählung von 1970 fand diese Entwicklung ihren Niederschlag; neben den klassischen Schwerpunkten (demographische Daten und In der Bildungsstatistik sollten amtliche Daten dazu beitragen, die enormen bildungspolitischen Investitionen, z.B. in den Hochschulbau, zu lenken. Diesen Ansprüchen konnte die bisherige Statistik jedoch kaum nachkommen; es war eine reine Bestandsstatistik und die Ergebnisse lagen oft erst sehr spät vor. (...) Um genauere Informationen über Studienverläufe zu erhalten, wurde die Große Hochschulstatistik ab 1966/67 als Verlaufsstatistik geführt. Zur Verbesserung der Kapazitätsberechnungen der Hochschulen soll ein von der Stiftung Volkswagenwerk gefördertes Projekt ein quantitatives Modell des Bildungswesens entwickeln« (Forschungsbericht 1969:180). Im Bundesbericht Forschung von 1969 hieß es dazu: »Eine aktuelle und genügend aufgegliederte statistische Darstellung der Wissenschaftsaufgaben und des auf diesem Gebiet tätigen Personals ist eine der Voraussetzungen für forschungspolitische Entscheidungen« (Forschungsbericht 1969:177). Der damalige Stand wurde dann jedoch als noch nicht ausreichend befunden. Als leitendes Erhebungsmodell galten nach wie vor Vollerhebungen der statistischen Ämter; entsprechend wurde gefordert: »Eine einheitliche Erfassung der Aufwendungen für die Wissenschaft und für den Teilbereich Forschung und Entwicklung sowie des auf diesem Gebiet tätigen Personals ist letzthin nur durch eine amtliche Statistik gewährleistet« (179).

III. Ausbau der

empirischen Sozialforschung

305

Erwerbstätigkeit) erwuchs ein dritter Schwerpunkt »die Fragen nach der Ausbildung und damit nach der Bildung von Humankapital« (Rinne 1996:65); so wurde 1970 erstmalig die schulische und betriebliche Ausbildung beleuchtet; auch die Erwerbstätigkeit wurde differenzierter erhoben. Das

Erhebungsprogramm des Mikrozensus wurde um Zusatzprogramme er-

weitert, die durch einfache Rechtsverordnungen angeordnet werden konn-

Befragungen unterlagen die Teilnehmer einer Auskunftspflicht. Gegenstand dieser etwa 40 Zusatzbefragungen waren z.B. »die berufliche und soziale Umschichtung der Bevölkerung, (...) Sonntagsund Nachtarbeit sowie (...) die Ausbildungsabsichten der Eltern für ihre Kinder« (Esser et al. 1989:57). Zudem wurde ein Panelprinzip eingeführt, die ausgewählten Haushalte verblieben für vier Jahre in der Stichprobe. Die in dieser Phase wachsenden Möglichkeiten der Datenverarbeitung wurden zunehmend auch für die wissenschaftliche Weiterverarbeitung der Daten; auch bei diesen

genutzt. In dem Bericht des wissenschaftlichen Beirats für Mikrozensus und Volkszählung wurde auf »Analysen über demographische Prozesse, ten

Umschichtungen, über Einkommensumverteilungsvorgänge« verwiesen; vorübergehend sei es »zu einer Blütezeit sozioökonomischer Forschung auf der Grundlage bevölkerungs- und erwerbsstatistischer Daten der amtlichen Statistik gekommen« (Esser et al. 1989:58). Die Autoren weisen auf die sozialpolitische Relevanz dieser Befunde hin. Mit den erweiterten Datenverarbeitungsmöglichkeiten und ihrem Einsatz z.B. bei der Terrorismusfahndung wuchs auch die Sensibilität gegenüber der (mißbräuchlichen) Nutzung z.B. von Mikrozensusdaten185, so daß die Datenweitergabe und damit auch die Analysemöglichkeiten eingeschränkt wurden. Mit den Debatten um eine Verbesserung der Sozialberichterstattung (s. S. 325) stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von amtlicher Statistik, wissenschaftlich orientierter Sozialforschung und anwendungsbezogener Meinungsforschung neu. Auf der einen Seite sollte die Sozialberichterstattung als eine Ergänzung der wirtschaftlichen Gesamtrechnungen fungieren; das würde sie als originäres Feld der amtlichen Statistik ausweisen. Auf der anderen Seite ging es darum, den >objektiven< Daten der Gesamtrechnung das subjektive Befinden, die Lebensqualität zur Seite zu stellen; das wäre die Domäne der >Meinungsforschunganderen< ausgebildet wurden186. über soziale

185

Seinen Niederschlag fand dieses wachsende Bewußtsein um die Probleme des Datenschutzes schließlich in den Auseinandersetzungen um Mikrozensus und Volkszählungen, die auch zum Gegenstand der Verfassungsgerichtsbarkeit wurden. Peters und Zeugin haben diese Konstellation sehr treffend beschrieben: »Die Meinungsforschung wird von der wissenschaftlichen, universitären Sozialforschung auch heute noch oft als problematisches Kind« gemieden und hat auch in der Öffentlichkeit um ihren Ruf als ernsthafte, seriöse Methode zu kämpfen. Die Sozialindikatorenbewegung, teilweise aus einer Unzufrieden-

306

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

programmatischen Überlegungen zu einer Sozialberichterwurde der amtlichen Statistik gefordert, »sie sollte die erweivon stattung terte Rolle aktiv ergreifen, die ihr gegenwärtig von Sozialwissenschaftlern, Planern, aufgeschlossenen Politikern und Verwaltungsfachleuten (...) angesonnen wird« (Zapf 1976:158). Zapf forderte eine umfassende Bestandsaufnahme der Leistungen der amtlichen Statistik unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftspolitischen Funktion; eine Organisationsreform, um der Sozialstatistik stärkeres Gewicht innerhalb der statistischen Ämter zu geben; eine Neubestimmung des Verhältnisses von Entstehungs- und Auswertungskosten, um der Auswertung und Analyse mehr Gewicht zu verleihen und die Entwicklung eines Programms für soziale Indikatoren. Noch 1972 hatte ein Vertreter der amtlichen Statistik dargelegt, daß soziale Indikatoren eine wesentliche Voraussetzung für politische Entscheidungen seien (Bretz 1972:266) und daß sich die Bundesregierung nunmehr entschlossen habe, eine zusammenfassende Darstellung gesellschaftlicher Daten (vergleichbar mit den ökonomischen Indikatoren und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) anzugehen187. Zapfs Einschätzung, daß die amtliche Statistik eine Bürokratie mit allen bekannten Innovationshemmungen (1976:155) sei, scheint auch für die folgenden Jahre Bestand zu haben. Litz und Lipowatz schildern eine eher »abwartende Position« (1986:98). Während sich im Bereich der wirtschaftsstatistischen Daten eine gewisse Arbeitsteilung zwischen amtlicher Statistik und unabhängigen Wirtschaftsforschungseinrichtungen eingestellt hatte, haben sich im sozialstatistischen Bereich kaum Veränderungen vollzogen. Es waren jedoch in den sechziger und siebziger Jahren einige Einrichtungen entstanden, die einzelne Zulieferund Auswertungsarbeiten für die amtliche Statistik erledigten188. Im Rahmen der

b) Markt- und Meinungsforschung Im Bereich der Markt- und Meinungsforschung haben sich

gegenüber der vergangenen Phase keine strukturellen Veränderungen vollzogen. Wie aus den Daten der Forschungserhebungen zu ersehen ist, bildeten die Institute heit mit der Arbeit der amtlichen Statistik heraus entstanden, stieß bei den Statistikern zunächst auf Skepsis. Dies lag nicht zuletzt daran, daß von der Sozialmdikatorenbewegung hohe Erwartungen und Forderungen an die amtliche Statistik gerichtet wurden. Die amtliche Statistik mit ihrer traditionellen Ausrichtung auf harte, objektive Daten konnte sich aber auch mit der Arbeit der Meinungsforschung wenig befreunden. Die Verbindung zwischen Sozialindikatoren- und Meinungsforschung dagegen kam rasch zustande, da unter dem Einfluß der Idee der Lebensqualität individuelle Einschätzungen der Lebenslage (...) an Bedeutung gewannen« (1979:131). Im ersten Schritt wolle man auf vorhandene Daten zurückgreifen, im zweiten Schritt sollen Indikatoren aggregiert werden, in der dritten Stufe sollen die Befunde der amtlichen Statistik um Meinungsumfragen ergänzt werden, um schließlich in der vierten Stufe daran werde zur Zeit noch nicht gedacht ein sogenanntes Brutto- oder Nettowohlstandsprodukt berechnen zu können. Bereits 1963 war das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin eingerichtet worden; 1968 entstand das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg; 1970 wurde das Bundesinstitut für Berufsbildung in Berlin gegründet worden; 1973 entstand das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt. -

-

III. Ausbau der empirischen

der Markt- und

Sozialforschung

Meinungsforschung einen wichtigen

und

307

expandierenden

Bereich, in dem empirische Forschung geleistet wurde. Nach der

For-

schungsenquete der DGS flössen immerhin 25% der verfügbaren Finanzmittel in die Forschungsarbeit der privatwirtschaftlich verfaßten institute der Markt- und Meinungsforschung. 81% dieser Mittel entstammten öffentlichen Aufträgen; d.h. nahezu 60% dieser Aufträge gingen an die privatwirtschaftlichen Institute. Hier wurden verwendungsbezogene und verwaltungsnahe Dienstleistungen erbracht, oft ohne daß sie der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich waren. Auch die Tatsache, daß die Interpretations- und Deutungshoheit über das Material bei der auftraggebenverblieb, hatte vermutlich die Zusammenarbeit mit den privatwirtschaftlichen Einrichtungen befördert. Das führte umgekehrt dazu, den Behörde

daß der Bereich der Markt- und Meinungsforschung bei den verschiedenen Forschungserhebungen als weißer Fleck auf der Landkarte verblieb. Vor allem in den sechziger Jahren erfuhr die Marketingforschung einen »im-

Zuwachs« (Ernst 1983:73). man Marketing ganz generell als das Umwelt-Management einer Organisation unter Wettbewerbsbedingungen, so haben Unternehmen, Parteien und Verbände Marketing nicht nur in ihrem Absatzmarkt« zu betreiben, sondern gleichermaßen auch in ihren anderen Umwelten (...). Jedes dieser Aufgabengebiete erfordert seine eigene Marketingforschung und bedient sich dabei in großem Umfang der Sozialforschung« (73t). Als wichtige Arbeitsfelder stellte Ernst neben der politischen Umfrageforschung die PR-Forschung189, die Personalforschung (als externe Personalmarkt-Untersuchung und als interne Mitarbeiter-Befragung), die Beschaffungsmarktforschung und schließlich die Programmforschung190 der Staatsund Selbstverwaltungsorgane heraus. Institutionell führte die Entwicklung der Marketingforschung zum Aufbau neuer Forschungseinrichtungen; zudem versuchten Institute aus anderen Arbeitsfeldern191, in den Markt der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Auftragsforschung zu stoßen. mensen

»Betrachtet

Ursächlich verweist Ernst auf die »die massive Kritik, die Unternehmen in den letzten zehn Jahren aus ihren Gemeinden (Bürgerproteste) ebenso wie aus der Gesellschaft (KapitalismusKritik, Multi-Kritik) entgegengeschlagen ist« und die die »Öffentlichkeitsarbeit zahlreicher Großfirmen sensibilisiert« habe (74). »Der Bedarf der staatlichen Verwaltung der Exekutive an Repräsentativforschung entstand erst in den sechziger Jahren mit dem verstärkten Einsatz eines neuen Gesetzestypus: dem Maßnahme-Gesetz, das umfassende Planungs- und Kontroll-Informationen erfordert. (...) Zu den wichtigsten Maßnahmegesetzen, die von Programmforschung begleitet werden, zählen z.B. das Stabilitätsgesetz, Arbeitsförderungsgesetz, Bundessozialhilfegesetz und das Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz« (74). Die Aufgaben der Forschungsinstitute umfassen dabei die Bereiche Programmgestaltung (Planung), den Verwaltungsvollzug (Implementation) und die Er-

folgskontrolle (Evaluation).

-

Ernst nennt drei verschiedene Richtungen, aus denen diese in das Forschungsfeld kamen: »aus der naturwissenschaftlichen, technik- und technologieorientierten Forschung (weil sich zahlreiche technische Aufgaben zu wirtschafts- und sozialtechnischen Aufgaben erweitert haben, augenfällig im Bereich von Umwelt, Energie und Technologiefolgen); aus der makroökonomisch orientierten

308

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

»Noch zögernd, aber in Umrissen bereits deutlich erkennbar, entwickeln sich einige private Großinstitute so verschiedener Herkunft zu dem neuen Typus der staatsunabhängigen, multidisziplinären Forschungsgesellschaft, die konzeptionell und methodisch das gesamte Feld der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung für Auftraggeber aus Regierung und Verwaltung, aus Unternehmen und Verbänden abdeckt« (75).

Bedeutung der privaten Institute innerhalb der »drei bedeuForschungsgruppen (der akademischen Grundlagenforschung, der auftraggeber-eigenen Forschung darunter die zahlreichen Institute des Staates und der Verbände und der privaten Auftragsforschung« (ebd.) hervor: da die Umffageforschung in nennenswertem Umfang nur von privaten Einrichtungen betrieben werde, komme diesen eine Schlüsselrolle zu192. Engel

hob die

tenden

-

-

c) Hochschulforschung Die Situation der Hochschulforschung zeichnete sich einerseits durch eine große Anzahl von Einrichtungen (ca. 60% aller Einrichtungen) und Forschungsarbeiten aus; andererseits gingen nur 18% der Forschungsmittel in diesen Bereich. Die Hochschulinstitute verfügten in den siebziger Jahren über ein Forschungsbudget von durchschnittlich ca. 200.000 DM nicht berücksichtigt sind Mittel, die über Planstellen, Räume, Rechenkapazitäten etc. in die Forschung fließen und lagen damit deutlich unter der Ausstattung der hochschulfreien (ca. 1 Mio. DM) und der nutzungsorientierten Institute (ca. 2 Mio. DM). Die Forschungsmittel wurden etwa zur Hälfte aus der allgemeinen Forschungsförderung bezogen; ein weiteres Drittel ging auf öffentliche Aufträge zurück; Eigenmittel machten etwa 10% aus193 [C27]. Diese finanzielle Situation schlug sich in der personellen Ausstattung der Hochschulinstitute nieder. Nach der Erhebung des Instituts für angewandte Sozialforschung wurden an den universitären Forschungsinstituten durchschnittlich 13,5 Wissenschaftler beschäftigt, im außeruniversitären Bereich sind es mehr als 20 (von Alemann 1975:122). Zwar waren nach den Daten der Forschungsenquete ca. 800 Personen in der empirischen Forschung tätig, jedoch weniger als ein Drittel konnte mehr als die Hälfte der Arbeitszeit in die Forschung investieren; von diesen Personen war wiederum die Mehrheit auf Projektstellen angestellt194 [C28]. Etwa 80% der in der Forschung Tätigen waren auf Hl- und H2- bzw. vergleichbaren Stellen beschäftigt; diese Zahlen decken sich auch mit der Erhebung des Instituts für angewand-

-

Wirtschaftsforschung und aus der mikroökonomisch orientierten Absatzforschung bzw. der generellen Umfrageforschung« (75). »Sowohl die akademische als auch die Staats- und verbandseigene Forschung bezieht den größten Teil ihrer empirischen Rohdaten als auch einen wesentlichen Teil ihrer Ergebnisse und Analysen von der privaten Umfrageforschung. Von daher bezieht diese einen hohen know-how-Zufluß. Aber zugleich steht die private Umfrageforschung doch unter strenger kompetitiver Beobachtung und Kritik ihrer Forschungskollegen aus der Grundlagenforschung und der anwender-

eigenen Forschung« (ebd.). 193 Quelle: Forschungsenquete der DGS (Lutz 1975:94). ""Quelle: Forschungsenquete der DGS (Lutz 1975:92).

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

309

te Sozialforschung195. Im engeren Forschungsbereich (mehr als 50% der Arbeitszeit) machten sie sogar mehr als 90% aus; die Inhaber- und Inhaberinnen von H3- und H4-Stellen spielten hier mit 7% nur noch eine marginale

Rolle. Der Anteil

von

Frauen

am

wissenschaftlichen Personal aller For-

schungseinrichtungen lag bei 19% (von Alemann 1981a:247). Empirische Sozialforschung an den Hochschulen der siebziger Jahre war eine Sache des oftmals projektabhängigen männlichen akademischen Mittelbaus. Im >Organigramm< einer durchschnittlichen universitären Forschungseinrichtung werden einige strukturelle Probleme erkennbar. Im Vergleich zu außeruniversitären Einrichtungen lag die Zahl der Forschenden bzw. Assistenten nicht weit auseinander (6,3 bzw. 8,5); die wesentlichen Unterschiede lagen in den Kapazitäten, Forschungsarbeit anzuleiten und zu organisieren sowie in der Möglichkeit, auf Hilfskräfte und nicht-wissenschaftliches Personal (Sekretariat und technisches Personal) zurückzugreifen196 [C29]. Empirische Forschung an den Hochschulen war oftmals mit akademischen Qualifizierungsprozessen verknüpft. Im Mittel der siebziger Jahre standen von den Meldungen ^quantitative Projektetheoretisch< arbeiten; das übrige Drittel präferierte ein gemischtes Vorgehen. Folgt man diesen Angaben, so wurden drei von vier Forschungsarbeiten, »unter Verwendung von Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung« (677) bearbeitet. Diese recht starke empirische Orientierung schlug sich auch in den Promotionsvorhaben nieder. Nach Angaben der Doktoranden wurden in ca. 60% der Forschungsarbeiten Methoden der empirischen Sozialforschung eingesetzt198.

-

-

d) Hochschulfreie Forschungsinstitute Neben der Markt- und Meinungsforschung haben die hochschulfreien Forschungsinstitute199 am meisten vom Ausbau der empirischen SozialforAus dem Tableau zum Personal an den Forschungsinstituten (von Alemann 1981a:255) wurden Disziplinen ausgewählt, die im engeren Sinne den Sozialwissenschaften zuzurechnen sind; volksund betriebswirtschaftliche Einrichtungen sowie die der Psychologie wurden ausgeklammert. Quelle: von Alemann 1981a:144; die Zahlen geben den Mittelwert der jeweiligen Gruppe an. Zur Erhebung vgl. Fußnote 145. Darüber hinaus zeigen die Befunde eine hohe Konvergenz zwischen den Forschungsthemen von Doktoranden und Hochschullehrern; in etwa zwei Drittel der Fälle deckt sich der Forschungs-

bereich des Promotionsvorhabens mit einem der Bereiche der Doktorväter bzw. -mütter. Zu den hochschulfreien Forschungsinstituten sollen im Unterschied zur DGS-Enquête auch die verbandsabhängigen und die verwaltungseigenen Forschungs- und Planungsinstitute gerechnet werden. Die in der Enquête vollzogene Differenzierung nach Forschungen, die einem wissen-

310

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

schung profitiert. Die außeruniversitären Institute machten ca. 25-30% aller Einrichtungen in der empirischen Sozialforschung aus; sie konnten nahezu 60% der Finanzmittel, die in die Sozialforschung flössen, akquirieren200. Mit dem Anwachsen der Fördermittel für die empirische Sozialforschung entstand ein mehr oder weniger freier Forschungsmarkt, der die Entstehung neuer Forschungseinrichtungen begünstigte; daneben verstärkte sich aber auch das Segment der verwaltungs- bzw. verbandsabhängigen Einrichtungen. Ein Blick auf die Gründungsjahre größerer Forschungseinrichtungen im Bereich der Bildungsforschung oder der Industriesoziologie zeigt den Gründungsboom, der Mitte der sechziger Jahre einsetzte und etwa bis zur Mitte der siebziger Jahre anhielt. Das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< erwies sich als ein recht junges Unternehmen: mehr als 50% der Einrichtungen (Hochschuleinrichtungen eingeschlossen) sind 1962 und später gegründet worden (von Alemann 1975:98). Das Budget dieser Institute entstammte zu etwa 40% den eigenen Haushaltsmitteln dieser Einrichtungen201 [C30]. Ein weiteres Drittel wurde aus den Aufträgen öffentlicher Stellen und ein Sechstel aus der allgemeinen Forschungsförderung gewonnen; andere Formen der Finanzierung z.B. durch Aufträge privatwirtschaftlicher Natur spielten nur eine geringe Rolle. Bei der Zusammensetzung der Finanzierungsquellen gibt es jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Einrichtungen; der hohe Anteil der Finanzierung aus Haushaltsmitteln der Institute geht vor allem auf die verwaltungs- und verbandseigenen Einrichtungen bzw. auf die Serviceinstitute zurück. Im Durchschnitt verfügten die außeruniversitären Institute über ein Finanzvolumen von ca. 1,4 Mio. DM, nur die Planungsinstitute wiesen ein deutlich höheres Budget aus. Die durchschnittliche außeruniversitäre Forschungseinrichtung konnte au: ca. 20 Beschäftigte mit wissenschaftlicher Qualifikation zurückgreifen202 [C31]. Auch hier war die Verteilung jedoch recht heterogen; bei den >nutzungsorientierten Instituten«: waren es im

Durchschnitt ca. 30 wissenschaftliche Fachkräfte, bei den hochschulfreien wissenschaftsorientierten Einrichtungen nur etwa 15 Wissenschaftler, die sich mit einem hohen Teil ihrer Arbeitszeit der Forschung zuwenden konnten. Zudem lag bei den letzteren Einrichtungen der Anteil der projektgebundenen Wissenschaftler deutlich höher. Die außeruniversitären Institute waren im Vergleich mit den Hochschuleinrichtungen ungleich besser mit schaftlichen Selbstverständnis verpflichtet sind, und solchen, die in einem engen Nutzenzusammenhang stehen, erscheint sinnvoll; fraglich ist nur, wie eine solche Unterscheidung auf der Ebene von Forschungseinrichtungen vollzogen werden kann; gehört es doch gerade zum erfolgreichen Forschungsmanagement in einem Mix beiden Anspruchssphären gerecht zu werden. Diese und die folgenden Angaben wurden aus den Kategorien der Forschungsenquete durch Zusammenfassung der Kategorien >hochschulfreie Forschungsinstitute«, >verbandsabhängige Forund Planungsinstitute« und >verwaltungseigene Institute« gewonnen. schungs201 Quelle: Forschungsenquete der DGS (Lutz 1975:94). 202 DGS-Forschungsenquête (Lutz 1975:92). Vgl. auch Lutz (1975:16), von Alemann (1981a:152).

III. Ausbau der

empirischen Sozialforschung

311

Dienstleistungen durch nicht-wissenschaftliches Personal im Bereich von Verwaltung und technischer Unterstützung ausgestattet203 [C32]. Aber auch im wissenschaftlichen Bereich zeigt sich ein deutlich ausgeprägterer >Überbau< der Forschungsebene als im Hochschulbereich. im Rahmen von Institutionalisierungsstrategien wurde verschiedentlich versucht, den projektgebundenen Anteil des wissenschaftlichen Personals zu reduzieren und eine Etatisierung der Stellen zu erreichen; hierbei waren die einzelnen institute mehr oder weniger erfolgreich204; die Institutsgrößen der Forschungseinrichtungen im Bereich der Industriesoziologie und die zum Teil hohe Projektabhängigkeit dieser Einrichtungen ließen solche Institutionalisierungsstrategien kaum zu. Institute der Bildungsforschung und angrenzende Bereiche In der Bildungsforschung haben sich angesichts der hohen öffentlichen Investitionen weitreichende institutionelle Veränderungen vollzogen. Die Einrichtungen waren mit sehr wenigen Ausnahmen erst in den sechziger Jahren aufgebaut worden, die Gründungen konzentrierten sich zwischen 1963 und 1975; zum Teil gab es jedoch Vorläufer-Einrichtungen. Die von Goldschmidt u.a. vorgelegte institutionelle Aufschlüsselung läßt erkennen, daß mehr als siebzig Prozent der Förderungsmittel auf die zehn größten Forschungseinrichtungen entfielen205 [C33]. Diese Konzentration der Förderung auf größere Einrichtungen war Teil einer wissenschaftspolitischen Strategie, die, auch mit Blick auf die Entwicklung der Naturwissenschaften, auf die Konzentration in Einrichtungen der Großforschung, oft außerhalb der Hochschulen, setzte. Diese Großforschungseinrichtungen wurden als fortgeschrittenstes Stadium der Wissenschaftsentwicklung begriffen. Bei den beiden größten hier aufgeführten Einrichtungen war über die institutionelle Struktur eine enge Verknüpfung mit bundespolitischen Interessenlagen gesichert; aber auch die anderen Einrichtungen standen auf Grund der Zusammensetzung ihrer finanziellen Zuwendungen in großer Abhängigkeit von spezifischen bundes- oder landespolitischen Interessen206. 203

Quelle: von Alemann (1981a:144). Exempel einer erfolgreichen Institutionalisierungsstrategie kann das Deutsche Jugendinstitut gelten: nachdem die Zahl der befristet Beschäftigen in den siebziger Jahren erheblich gewachsen ist, zeitweilig sind es mehr als 100 befristet Beschäftigte, kann sie gegen Ende der siebziger Jahre zugunsten unbefristeter Stellen zurückgefahren werden (vgl. Marbach 1990:348). Bundesinstitut für Berufsbildung, Berlin (1975); Institut für Arbeitsmarkt- u. Berufsforschung der BA für Arbeit, Nürnberg (1967); Deutsches Institut für Femstudien an der Universität Tübingen (1966/67); Hochschul-lnformations-System (HIS) GmbH, Hannover (1968); Pädagogisches Zentrum, Berlin (1964); Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin (1963/64); Deutsches Jugendinstitut, München (1963); Landesstelle für Erziehung und Unterricht, Stuttgart (1977); Zentrum für Bildungsforschung, München (1973); Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt (1964). Quelle: Goldschmidt u.a. (1979). So zeigen z.B. die Darlegungen zu den Finanzen des Deutschen Jugendinstituts die hochgradige Abhängigkeit von den Zuwendungen zweier Bundesministerien; demgegenüber spielten die Mittel der allgemeinen Forschungsförderung nur eine kleine Rolle (Marbach 1990:349f). Als

312

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

Institute der industriesoziologischen Forschung industriesoziologischen Forschung finden sich verglichen mit der Bildungsforschung auch einige ältere Forschungseinrichtungen207; ab Mitte der sechziger Jahre setzte ein deutlicher Zuwachs industriesoziologischer Forschung und damit verknüpft der Aufbau neuer Forschungseinrichtungen ein208 [C34]; daneben bestanden einige industriesoziologisch orientierte Forschungsgruppen209. Beckenbach wies daraufhin, daß die Konstituierung dieser verschiedenen Einrichtungen nicht unwesentlich durch die SPD-regierten Bundesländer bzw. die Gewerkschaften unterstützt wurde (1991:90). Mit dieser Entwicklung verlagerte sich der Fokus der industriesoziologischen Forschung von den Hochschulen in die mehr oder weniger hochschulfreien Forschungsinstitute210. Der Boom der industriesoziologischen Forschung ging auf eine Reihe von Forschungsprogrammen zurück, beginnend mit den Analysen des Rationalisierungskuratoriums der Deutschen Wirtschaft, den Aufträgen des Arbeitskreises Automation und der Kommission In der

für wirtschaftlichen und sozialen Wandel und schließlich mit der Grundlagen- und Begleitforschung durch das Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens. In allen Programmen ging es darum, ausgehend von einer Analyse ökonomisch-technischer Veränderungen und ihrer sozialen Folgen anti-

zipierend politische Interventionsmöglichkeiten abzuschätzen2". Verglichen mit den Einrichtungen im weiteren Umfeld der Bildungsforschung war jedoch die Lage der industriesoziologischen Einrichtungen prekärer. »Strukturproblem aller Institute ist die (...) unzureichende (...) Grundfinanzierung (Ausnahme:

ISO

Köln, das weitgehend etatisiert ist). Zwei der fünf Institute müssen die überwiegende Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiter, drei alle Mitarbeiter durch Projekte finanzieren; sie sind daher von den

politischen« wie auch >wirtschaftlichen Konjunkturen« stark abhängig« (Bergmann 1979:12).

An der Sozialforschungsstelle Dortmund waren bereits in den fünfziger und sechziger Jahren industriesoziologische Forschung durchgeführt worden; 1971 wurde sie als Landesinstitut wiederbegründet, das sich erneut der industriesoziologischen Forschung zuwandte. Auch am Institut für Sozialforschung in Frankfurt war der industriesoziologische Schwerpunkt zeitweilig in den Hintergrund getreten; das änderte sich zum Ende der sechziger Jahre. Institut für Sozialforschung, Frankfurt (1951); Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF), München (1965); Soziologisches Forschungsinstitut (SOFI), Göttingen (1968); Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (ISO), Saarbrücken (1969); Sozialforschungsstelle Dortmund, Landesinstitut (1971/1946); Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO), Köln (1971). So z.B. am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, am Max-Planck Institut für Bildungsforschung und am Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert Stiftung. Lutz und Schmidt erwähnten zudem industriesoziologische Forschungszusammenhänge in Berlin, Bremen, Erlangen, Freiburg, Hamburg, Hannover, Kassel, München und Münster ([1969] 1977:218). Damit vollzog sich die Institutionalisierung im außerindustriellen Bereich, »also dort, wo die

Gefahr einer direkten Einflußnahme auf das industrielle Geschehen zunächst einmal ziemlich geund wo man unbelastet von den Nöten der industriellen Praxis in Ruhe Wissenschaft betreiben kann« (Springer 1999:95). »Gestützt wurde dieses präventive sozialpolitische Interesse von den Gewerkschaften; erleichtert wurde die Verbindung zwischen Gewerkschaften und sozialliberaler Koalition überdies dadurch, daß von den drei für die Sozialwissenschaften relevanten Ministerien (BMA, BMBW, BMFT) stets zwei, zeitweise alle drei, von früheren Gewerkschaftern besetzt waren« 03ergmann 1979:3).

ring ist,

III. Ausbau der

empirischen Sozialforschung

313

Weitere Forschungseinrichtungen Die auf die Kaiser-Wilhelm Gesellschaft zurückgehenden Institute der MaxPlanck Gesellschaft waren als Ergänzung der Hochschulforschung vorrangig mit Fragen der Grundlagenforschung in den Natur- und Geisteswissenschaften befaßt, fm Bereich der Sozialwissenschaften konnte 1963 als erste Einrichtung das Max-Planck-lnstitut für Bildungsforschung in Berlin eingerichtet werden. 1971 entstand das bereits länger geplante Max-Planck-lnstitut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Stamberg, das von Jürgen Habermas und Carl-Friedrich von Weizsäcker geleitet wurde; von 1980 bis 1982 wurde es als Max-Planck-lnstitut für Sozialwissenschaften in München weitergeführt. Erst 1985 entstand dann ein weiteres Institut im sozialwissenschaftlichen Bereich, das Kölner MaxPlanck-fnstitut für Gesellschaftsforschung. Eine weitere wichtige Instanz der dauerhaften Forschungsförderung wurde ab 1970 die Förderung nach der von Bund und Ländern finanzierten Blauen Liste, die ab den neunziger Jahren ein mit der Max-Planck-Gesellschaft vergleichbares Förderungsvolumen erreichte. Aber auch hier gelang es im sozialwissenschaftlichen Bereich, im Unterschied zu wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten, nur zwei Einrichtung abzusichern: die Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen GESIS (s.u.) und das Wissenschaftszentrum Berlin WZB212.

e) Sozialwissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen

Infrastruktureinrichtungen der empirischen Sozialforschung zählt die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute (ASI), die als loser Zusammenhang bereits seit 1948 bestand213 und die Herausgabe der >Sozialen Welt< organisierte. Im Rahmen der ASI kam es zu einer Zusammenarbeit von Hochschuleinrichtungen und Forschungsinstituten. Insbesondere in der Anfangszeit sei die ASI »als ein Ort der Kommunikation über alle Schulgrenzen hinweg betrachtet worden« (Mnich/ Sahner 1990:6). Die Zahl der korporativen Mitglieder stieg kontinuierlich von ca. 20 in den fünfziger Jahren auf ca. 60 in den achtziger Jahren. Die Jahresversammlungen der ASI boten bereits in den fünfziger Jahren ein Forum, um inhaltliche, organisatorische und vereinzelt auch methodische Fragen der Sozialforschung zu erörtern [C35]. Nachdem Mitte der sechziger Jahre über eine Auflösung debattiert worden war, wurde in den Folgejahren eine kontinuierliche thematische Arbeit aufgenommen. 1969 wurde das dnformationszenZu den ältesten

212

Das 1969 gegründete Wissenschaftszentrum Berlin 1985 enthielt es den Namenszusatz >für Sozialforschung« bildete das Dach für drei Forschungsinstitute: das Internationale Institut für Management und Verwaltung (IIMV), gegründet 1970, das Internationale Institut für vergleichende Gesellschaftsforschung (IIVG), gegründet 1975 und das Internationale Institut für Umwelt und Gesellschaft (IIUG) gegründet 1976. In diesen drei Instituten waren 1978 86 Wissenschaftlern (zzgl. 9 Gastwissenschaftler) beschäftigt (WZB 1994:31). Inklusive der eingeworbenen Drittmittel lag das Budget des Wissenschaftszentrums in diesem Jahr bei 11,3 Mio. DM. 213 Vgl. zum Folgenden Mnich/Sahner (1990) und Demirovic (1999:321ff). -

-

314

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

ForschungForschungsinformationssystem Sozialwissenschaften< (FORIS). Seit dem Ende der siebziger Jahre wurde die systematische Erfassung sozialwissenschaftlicher Literatur begonnen; ihre Aufbereitung und Publikation erfolgte im Rahmen des > Sozialwissenschaftlichen Literaturinformationssystem< (SOLIS). Auch mit diesem Unternehmen waren hochgespannte Erwartungen verknüpft: »Es steht insbesondere den Organen der Gesetzgebung und Verwaltung sowie den Institutionen der Wissenschaft und Wirtschaft für Informationen über die in den zahlreichen Forschungsinstituten der Bundesrepublik Deutschland vorliegenden Materialien und Erfahrungen zur Verfügung. (...) Die Evidenz-Kartei des Informationszentrums wird es in der Zukunft ermöglichen, den Prozeß des Suchens in der Literatur durch unmittelbares Befragen der jeweils sachkundigen Personen abzukürzen und auch schon auf noch nicht veröffentlichte Ergebnisse zurückzugreifen« (71). Der Umzug nach Bonn sollte die Nähe zu den Bundesministerien sichern. 1974 wurde in Mannheim das Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) aufgebaut. Als Hilfseinrichtung für die sozialwissenschaftliche Forschung wurden drei Schwerpunkte gesetzt: »die Unterstützung von Forschungsvorhaben, die im öffentlich-rechtlichen, insbesondere universitären Bereich angesiedelt sind (...), die Neu- und Weiterentwicklung sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden im Sinne von Grundlagenforschung, die wissenschaftliche Weiterbildung« (Kaase 1985:13). Der ursprünglich vorgesehene Arbeitsschwerpunkt gesellschaftliche Dauerbeobachtung konnte im ersten Jahrzehnt der Arbeit angesichts der knappen personellen Ressourcen nicht ausgefüllt werden. Erst später konnten die Abteilungen für Soziale fndikatoren und für Mikrodaten aufgebaut werden. Neben der Methodenberatung lag die Bedeutung der ZUMA im Bereich der

zugewiesen214.

214

»Seit dem Beginn der sechziger Jahre hat sich durch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung und die Revolutionierung der Informationssysteme in Teilbereichen der Politik- und Sozialwissenschaften ein Wandel vollzogen, der zu einer neuen Hinwendung zur politischen Praxis führte. Gewiß sind die sozialen und politischen Probleme in ihrer Gesamtheit nicht auf wissenschaftlichobjektive Sachverhalte reduzierbar; vor allem durch den Einsatz modemer technischer Hilfsmittel lassen sich aber Entscheidungsaltemativen ausarbeiten und modellartige Konzepte als Entscheiausbauen« (Bundesbericht Forschung 1969:71). dungshilfen 21 Bis 1978: >Informationszentrum für sozialwissenschaftliche Forschung«.

C. Die >Große Zeit« der empirischen

316

Sozialforschung (1965-1980)

Entwicklung und Distribution sozialwissenschaftlicher Methoden.

Die ZUMA-Nachrichten boten zusammen mit der Zeitschrift des Zentralarchivs eines der wenigen deutschsprachigen Foren, in denen gezielt Fragen der Methodik empirischer Sozialforschung behandelt wurden. 3.

Organisationsprobleme der empirischen Sozialforschung

Die Rahmenbedingungen für empirische Forschungsarbeit waren in den hier skizzierten institutionellen Kontexten recht unterschiedlich. Am problematischsten scheint die Situation in der Hochschulforschung. Legt man die Befunde der Forschungsenquete der DGS zugrunde, waren es insbesondere die äußeren Rahmenbedingungen, die eine intensive und qualitativ hochwertige Forschungsarbeit behinderten216. Die Forschungsarbeit in der Hochschulforschung wurde in hohem Maße von Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen betrieben; knapp 70% der Forschenden standen am Anfang ihrer beruflichen Die oft diskontinuierliche Forschungsarbeit im Projektzusammenhang, die meist kurzen Bewilligungszeiträume führten dazu, daß die hier investierte Qualifizierungsarbeit nicht gewinnbringend genutzt werden konnte. Forschungswissen konnte kaum akkumuliert werden, da die Fluktuationsrate recht hoch war und für viele die empirische Forschungsarbeit >nur< eine Durchgangsstation darstellte218. Zu der Diskontinuität der Forschungsarbeit an den Hochschulen trugen auch die i.d.R. geringen Betriebsgrößen bei, die den projektgebundenen Forschern >Anschlußmöglichkeiten< erschwerten. Das durchschnittliche Hochschulinstitut verfügte über keine festen Stellen für die wissenschaftliche Forschungsarbeit. Zu den institutionellen Problemen kamen bei den wissenschaftsorientierten Einrichtungen der siebziger Jahre noch eine Reihe wissenschaftsimmanenter Schwierigkeiten219. Gegenüber den Hochschuleinrichtungen waren die Forschungsbedingungen in den hochschulfreien wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen weitaus besser; die Einrichtungen waren größer als im Hochschulbereich, -

Tätigkeit217.

-

Durchgängig wurde die hohe Belastung der Wissenschaftler durch Lehrverpflichtungen, Prüfungen und Verwaltungsarbeiten benannt; das betraf insbesondere die beamteten Hochschullehrer. Im Rahmen der Projekte mußte daher oftmals eine Einarbeitung erfolgen, wobei die >Betreuungskapazität« der Hochschullehrer oft recht begrenzt war. In einer regionalen Stellungnahme hieß es gar, daß es gegenwärtig eine »Karrierenotwendigkeit in der Soziologie« sei, die »Forschung nach kurzer Zeit wieder zu verlassen« (Lutzl975:51). So wurde insbesondere der »hoher Ideologisierungsgrad von Soziologie«, die unzureichende Auseinandersetzung mit der Komplexität, mit der historischen bzw. ökonomischen und sozialen Eingebundenheit gesellschaftlicher Phänomene und schließlich die »tendenzielle Abwertung empirischer Forschung im Bereich der Soziologie« beklagt (37). D.h. die Probleme schienen nicht nur der materiellen Ausstattung der Hochschuleinrichtungen geschuldet zu sein: »Auch unter an sich günstigen Bedingungen (...) sind im Hochschulbereich nur selten kontinuierliche, langfristig geplante Forschungsaktivitäten anzutreffen« (54f).

III. Ausbau der empirischen

Sozialforschung

317

das dort längerfristig tätige, in der Regel höher qualifizierte und erfahrenere Personal konnte sich in hohem Maße auf den Forschungsprozeß konzentrieren. Das ermöglichte die individuelle und kollektive Akkumulierung von Wissen und Erfahrung220. Schwierigkeiten erwuchsen jedoch aus dem Zu-

sammenspiel mit den Hochschuleinrichtungen2 '. Die Rahmenbedingungen scheinen in den nutzungsorientierten Einrichtungen, insbesondere bei den etatmäßig finanzierten Einrichtungen, durchgängig gut gewesen zu sein. Dennoch wurde in der Forschungsenquete auf eine Reihe von Schwierigkeiten verwiesen: Im Rahmen der oft multidisziplinären Arbeit dieser Einrichtungen gab es Probleme, soziologische Forschungsansätze zu legitimieren. Zunächst primär wissenschaftlich orientierte Einrichtungen waren einem »zunehmenden >Nutzungsdruck< durch die finanzierenden öffentlichen Stellen« (70) ausgesetzt. In den verschiedenen Forschungsenqueten ist deutlich geworden, daß die Bedeutung der Hochschulforschung (bezogen auf die Forschungsmittel) für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland recht gering war; nur 20% der Mittel flössen in diesen Bereich222. Nach den Befunden der DGS-Enquête kann von einer Verschiebung der Gewichte zugunsten der nicht-akademischen Forschung gespro-

chen werden; so werde der »aktuell thematisierte Bedarf von sozialwissenschaftlicher Forschung« (Lutz 1975:85) vornehmlich über die nutzungsorientierten Forschungseinheiten abgedeckt. Diese orientierten sich aber nicht immer an wissenschaftlichen sondern eher an gesellschaftspraktischen Maßstäben; sie verfolgten »ausgeprägte Strategien der Innovationsminimierung« (87) sowohl im methodischen wie im inhaltlichen Bereich. Lepsius (1976b:412) konstatierte, daß die Masse der Ressortforschung bereits von 120

In einzelnen Regionalberichten wurde eine sehr positives Bild dieses Forschungsbereichs gezeichnet: »Soziologische Forschungsinstitute außerhalb der Hochschule repräsentieren die kontinuierliche, institutionell abgesicherte soziologische Forschung im fachspezifischen Sinn. Sie stellen dauerhafte Forschungskapazitäten dar und erfüllen damit im Bereich der soziologischen Grundlagenforschung eine bisher von den Hochschulen nur unzureichend wahrgenommene Aufgabe; sie sichern institutionell den Erwerb und den Transfer des forschungspraktischen >Knowhow«, ohne das größere empirische Projekte nicht realisiert werden können« (62). 1 So erschwere die »forschungsfremde« teilweise sogar »forschungsfeindliche« Ausbildung der Hochschulen die Rekrutierung eines forschungsmotivierten und -qualifizierten Nachwuchses; zudem könnten die außeruniversitären wissenschaftlichen Forschungsinstitute keine Karrierewege anbieten, die mit einer Hochschullehrerlaufbahn konkurrieren können; schließlich belaste der »unzureichende allgemeine Stand einer primär akademischen soziologischen Theorie« (65) die außerhalb der Hochschulen. Forschung !22 »Die Masse der zumeist auf Umfrageforschung beruhenden öffentlichen Nachfrage nach Sozialforschung wird hingegen von kommerziellen Instituten abgedeckt. Deren Wachstum repräsentiert in einem viel stärkeren Ausmaß die gegenwärtige Bedeutung sozialwissenschaftlicher Forschung, wie sie von Verwaltung, Verbänden und Wirtschaft nachgefragt wird, als das Wachstum der wissenschaftlich verfaßten Forschungsinstitute. So sehr sich die Soziologie auch im Hochschulwesen ausgebreitet hat, ihre wissenschaftlich verfaßte Forschungskapazität ist nach Ausstattung und Dauerhaftigkeit der Forschungsteams sehr gering. Die Soziologie ist insofern ein Lehrfach ohne >Laboratorien< geblieben« (Lepsius 1976b:409).

318

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

direkten Klientenbeziehungen zwischen kommerziellen Instituten und öffentlichen Auftraggebern bestimmt sei, ohne daß die Ergebnisse einer öffentlichen Kontrolle zugänglich seien. Die Entwicklungen in den Sozialwissenschaften korrespondierten mit einer Problemlage, die für weitere Teile des wissenschaftlichen Feldes typisch war. Lieb (1981:38) ging in disziplinübergreifender Perspektive davon aus, daß eine > strukturelle Inadäquanz zwischen den organisatorischen Erfordernissen moderner Forschung (kooperative Zusammenfassung des Fachwis-

fachübergreifende Integration, arbeitsteilige Erfassung einer kompleRealität) und der Verfaßtheit der Hochschulorganisation (eng geschnittene Kompetenzabgrenzung, orientiert an disziplin- und fachbezogenen Fragen) bestehe223. Auch Schmidt verwies am Beispiel der Industriesoziologie auf das Problem, daß mit der Expansion der empirischen Forschungsarbeit sens,

xen

eine nennenswerte Anzahl von Studien »außerhalb des Netzwerkes professioneller Kontrolle« (1981:221) durchgeführt wurde. 1974 wurden vom Vorstand der DGS »Empfehlungen zur Förderung der sozialwissenschaftlichen Forschung< vorgelegt (Lepsius 1974a,b); sie zielten auf eine Verbesserung der Infrastruktur der Sozialforschung224, auf den Ausbau dauerhafter Forschungseinrichtungen225, auf die Förderung innovativer und kooperativer Forschung. Im selben Jahr wurde von der DFG eines Senatskommission für empirische Sozialforschung eingerichtet (vgl. dazu Mayntz 1976). Nur am Rande wurde in den Stellungnahmen zur Lage der empirischen Sozialforschung deutlich, unter welchem Erwartungs- und Erfolgsdruck das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< stand. Forschungseinrichtungen sollten, gerade erst aufgebaut und materiell gut ausgestattet, anwendungsbezogenes Wissen zur Begründung, Konzeptionierung und Begleitung gesellschaftlicher Reformvorhaben liefern226. Wissenschaftlicher Expertise wurde ein hoher Stellenwert eingeräumt; zugleich waren aber die Grundmuster der Reform durch die dominanten Akteure im politischen Feld, zu jener Zeit die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, gesetzt. Wesentliche Probleme, die später in den Debatten um die Verwendungstauglichkeit sozialwissenschaftlichen Wissens erörtert wurden, waren mit den Rahmenbedingungen, unter denen der Ausbau der Sozialforschung erfolgte, bereits angelegt.

In dieser strukturellen Inadäquanz sah er einen der wichtigsten Gründe für die »Tendenz der Herausverlagerong und für die Ergänzung der universitären Forschung in und durch sog. hochschulfreie Forschungseinrichtungen und die staatlich initiierte und subventionierte Forschung im Bereich der gewerblichen Wirtschaft; dies sogar in der Domäne der Hochschulforschung, der Grundlagenforschung« (39).

Dokumentation durch das Zentralarchiv und das Informationszentrum

Sozialwissenschaften;

Qualitätsverbesserung der Umfrageforschung durch methodische Beratung (ZUMA); Aggregatdatenbank, die eine Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels ermöglichte. Institute zur gesellschaftlichen Dauerbeobachtung (nach dem Vorbild der Wirtschaftsberichterstattung); Förderung von großen hochschulfreien Instituten der empirischen Sozialforschung.

IV.

IV.

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

319

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit 1. Inhaltliche

Schwerpunkte

Mit den verschiedenen Untersuchungen zur empirischen Sozialforschung liegen unterschiedliche Ansätze vor, die inhaltlichen Schwerpunkte der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland zu erfassen 27. In der Forschungsenquete der DGS zeichnen sich Mitte der siebziger Jahre drei Schwerpunkte empirischer Forschung ab: Industrie, Betrieb, ArbeitAusbildungs- und Bildungspolitik« sowie >Stadt-, Regional- und Verkehrsplanung«228 [C36]. Diese Schwerpunkte wurden in ähnlicher Weise an den verschiedenen Institutstypen bearbeitet; auffallend ist, daß die industrie- und betriebssoziologischen Themen keine Verankerung in verwaltungseigenen Instituten gefunden haben. Themen, die über diese drei Schwerpunkte hinausgehen, fanden sich insbesondere in der Hochschulforschung, in der Untersuchung des Instituts für angewandte Sozialforschung229 [C37] wurde der Bereich der Industrie- und Betriebssoziologie nicht in die Themenvorgaben aufgenommen, so daß sich die Angaben auf andere Forschungsgebiete verlagern, im Mittelpunkt standen nach dieser Klassifizierung die Forschungsbereiche Erziehungswissenschaft, Pädagogik, BildungsforschungSoziologieStadt-/ Gemeindeforschung, Stadt-/ Landesplanung«^ sowie die >Arbeitsmarkt- und BerufsforschungSozialpsychologieDemographie, StatistikMassenkommunikation, Medienforschung« sowie Sozialpolitik, Sozialarbeitx. Kaase, Scheuch und Ott sprachen von einer »in Mode gekommenen Denkfigur der >Praxisrele»In dem Maße nämlich, in dem (...) Bio- und Naturwissenschaften immer neue Anwen-

vanz«.

dungserfolge melden (...), erhöht sich die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Empirischen Sozialforschung und schwächt deren Legitimitätsgrundlage. Diese Forschung sah sich nämlich insbesondere einem auf wohlfahrtsstaatlichen Hintergrund von sozialdemokratisch oder sozialistisch geführten Regierungen ausgehenden Erwartungsdruck ausgesetzt, Kochbuchrezepte für sozialstaatliche Interventionsprogramme anzubieten, mit denen die seriösen Sozialwissenschaften theoretisch, methodologisch und forschungspraktisch überfordert waren« (1983:19). 12 Es zeigt sich, daß die verschiedenen Forschungsenqueten oft auch strategische Absichten verfolgten: dies war bereits bei der Auswertungsstrategie der Erhebung des Informationszentrums

Sozialwissenschaften deutlich geworden, man beschränkte sich dort auf quantitative Projekte«; bei der thematischen Aufschlüsselung >verschwindet< im Themenkatalog des Instituts für angewandte Sozialforschung der Bereich der Industrie- und Betriebssoziologie. 228 Quelle: Lutz (1975). 229 Quelle: von Alemann (1981a:Tab. 4.1). 2 ° Untersucht man die Hierarchie der Nennungen, akzentuiert dies die Dominanz der im weiteren Sinne bildungssoziologischen wie der Stadt- und regionalbezogenen Forschung. Demgegenüber wird die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eher in zweiter Instanz angegeben.

C. Die >Große Zeit« der empirischen

320

Sozialforschung (1965-1980)

Forschungserhebung des Informationszentrums Sozialwiswurden senschaften nur Angaben über quantitative Projekte gemacht231 [C38]: an erster Stelle rangierten Themen aus der Bildungsforschung; es folgen die Themenkreise Arbeit, Betrieb, Beruf und Sozialpsychologie bzw. In der jährlichen

Familiensoziologie. Zieht man Vergleichsdaten aus den siebziger Jahren hinzu, wird deutlich, daß diese thematischen Schwerpunkte ausgesprochen stabil waren; die Rangfolge der Bereiche veränderte sich kaum. Ein anderes Bild der thematischen Schwerpunkte empirischer Forschung ergibt sich, wenn man den Fokus nur auf die Soziologie an den Hochschulen richtet und auch die Qualifizierungsarbeiten einbezieht: die thematische Streuung erscheint weitaus größer232 [C39]. Es dominierten Themen aus den Bereichen >WirtschaftssoziologieTheorieSozialpsychologieFamilie, Jugend, Alter, FrauAnwendungsdruckFamilie, Jugend, Alter, Frauen«, >Soziale Probleme«, in der regionalsoziologischen, der erziehungssoziologischen und der medizinsoziologischen Forschung. Eher im Mittelfeld lagen Arbeiten zur politischen und zur Kultur-Soziologie. Auf der anderen Seite finden sich (qua Definition) die Forschungsarbeiten zu theoretischen Themen.

IV.

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

2.

321

Anwendungsbezogene Sozialforschung im Dienste gesellschaftlicher Reform

Die Soziologie und die empirische Sozialforschung der siebziger Jahre sah sich nach ihrer erfolgreichen akademischen Institutionalisierung unter einem »wachsenden Druck (...), sich als nützlich zu erweisen. (...) Der Profession sind respektable Bestände an Stellen, Projekten und Studiengängen konzediert. Nun muß sie zeigen, daß sie die Steuergelder auch verdient; sie selber wird zur Kasse gebeten« (Neidhardt 1979:324). Die Konstruktion eines solchen Anwendungsdrucks scheint eine häufig anzutreffende Situationsdeutung zu sein, auf die Sozialwissenschaftler der siebziger Jahre am Ende der Expansionsphase zurückgriffen. Ein solcher Anwendungsdruck wurde jedoch ganz verschieden interpretiert. Eine einfache Differenzierung dieser Leitvorstellungen kann entlang ihrer Situierung gegenüber bestimmten staatlichen Ordnungsleistungen erfolgen: So sah Nowotny die Wissenschaft zweigeteilt »in eine etablierte, mit den staatlichen Ordnungsmächten koalierende Forschungsrichtung und eine reformatorisch-progressive, auf Veränderung abzielende engagierte Richtung« (1981:167). In die Sichtweise der Sozialforscher übersetzt, könnte man von den Leitbildern >Improvement< und >Emanzipation< sprechen. Der enge Bezug dieser Leitvorstellungen zu denen der Gründungsphase (>Sozialforschung als Sozialtechnologie< bzw. >Sozialforschung als Schlüssel zu einem wissenschaftlich fundierten Projekt der Sozialreform, Gesellschaftskritik und -veränderungSozialforschung als Fundament einer wissenschaftlichen und akademisch institutionalisierten SoziologiePolitisierung< der Diskurse etwas zurück, spielte aber weiterhin eine wichtige Rolle.

a) Leitbild: Improvement Ähnlich wie in den USA entwickelte sich »auch in der Bundesrepublik

vor

allem ab 1969 ein Bündnis (...), in dem sich die sozialreformerisch motivierten Teile der Sozialwissenschaftler erkennbar und teilweise demonstrativ mit den Zielen der sozialliberalen >Politik der inneren Reformern identifizierten« (Hellstern/Wollmann 1984:73). Von diesem >Bündnis< gingen für den Ausbau der empirischen Sozialforschung in den siebziger Jahren entscheidende Impulse aus. Als ein Kristallisationskern fungierte die ab 1968 arbeitende Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform (s. S.244). Im folgenden sollen zwei Forschungstypen vorgestellt werden, die das Feld der verwendungs- und politiknahen Sozialforschung geprägt haben: die Planungs- und Evaluationsforschung und die Sozialberichterstattung bzw. die

Sozialindikatorenforschung.

322

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Planungs- und Evaluationsforschung Mit Verfahren der Planung und Evaluation sollten die Prozesse des Politikund Verwaltungshandelns >rationalisiert< werden. Sozialwissenschaftliche Forschung sollte diesen Rationalisierungsprozeß unterstützen. Man versprach sich, so Hellstern und Wollmann, eine Optimierung der Handlungsund Problemlösungsfähigkeit des politisch-administrativen Systems. Damit waren eine »Hochbewertung von Informationsbeschaflung und -Verarbeitung« und eine Forderung nach »evaluativen Rückmeldeschleifen indem Planungs- und Handlungszyklus« verbunden. Die Autoren begriffen die Debatten um Planung und Evaluation auch als Ausdruck veränderter Rahmenbedingungen politischen Handelns. Damals entstand die bezeichnende Metapher von den Sozialwissenschaften als einem >sozialen FrühwarnsystemPlanungsepoche< der Weltgeschichte angebrochen sei, gründen sich technisch auf die Anwendung der elektronischen Computer oder Rechenmaschinen, die als Daten- und Informationssammler und -verarbeiter Wissensbestände zur Verfügung stellen und durchrechnen können, die der Mensch früher nicht zu bewältigen vermochte; so

scheint nach der Epoche der >Kraftmaschinen< ein Zeitalter der >Denkmaschinen< anzubrechen. Methodisch gründen sich diese Hoffnungen auf die neue Wissenschaft der Kybernetik, die als Informationstheorie die Selbststeuerung komplizierter Systeme der Technik, Natur und Gesellschaft untersucht; mit ihr verbunden sind Wissenszweige wie die Entscheidungstheorien, Operation research, Modell- und Simulationstheorien usw. aufgeblüht und stellen sich dem praktischen Handeln in Wirtschaft, Politik, Staats- und Kriegsführung zur Verfügung« (1966:161).

Schelsky

sah die

>Soziologie

als

PlanungswissenschaftThe Problem of Controlled Social Change« sah Schelsky den zentralen Unterschied zwischen den Ordnungskonstruktionen im Kontext des New Deal und den älteren Ordnungskonstroktionen universalsoziologischer Systeme darin, daß hier auf Grund empirischer

Soziologie

IV.

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

323

umfangreichen Forschungsarbeiten der amerikanischen Besatzungsbehörden in der Bundesrepublik. Die sich allmählich entwickelnde Planungs- und Evaluierungsforschung konnte an vorhandene Praktiken der Planung, Rechenschaftslegung und Kontrolle staatlichen Handelns anknüpfen; insofern stellte die Planungsorientierung der sechziger Jahre keineswegs ein Novum dar. Dennoch dominierte in der Bundesrepublik lange Zeit eine »marktwirtschaftliche Planungsphobie«, die dann wenig vermittelt in eine »Planungsbegeisterung« umschlug (Scharpf [1971] 1973:171). Die Grenzlinien zwischen den Planungspraktiken in Politik und Verwaltung, den verwaltungs- bzw. politikwissenschaftlichen Diskursen und schließlich einer empirisch orientierten Planungs- und Evaluationsforschung sind kaum zu bestimmen. Genau diese Unscharfen scheinen aber für die Entwicklung der Evaluationsforschung charakteristisch zu sein. D.h. diejenigen, die den raschen gesellschaftlichen Wandel und seine weitreichenden Auswirkungen diagnostizierten, die auf die Komplexität von Entscheidungssituationen und die Risiken nichtintendierter Handlungsfolgen verwiesen, gehörten derselben wissenschaftlichen Zunft an wie diejenigen, die angesichts dieser Probleme die Leistungen der Planungs- und Evaluationsforschung anboten. Die Evaluationsforschung hat die Chancen, die sich aus dem wachsenden Informations-, Beratungs- und Steuerungsbedarf im politischen Feld und im Bereich der öffentlichen Verwaltung ergaben, genutzt. Der Ausbau der empirischen Sozialforschung in den siebziger Jahren ging in nicht unerheblichem Maße auf diesen Forschungstypus zurück [C40]. Der Anteil von Forschungen zu Fragen der Evaluation stieg bis zum Ende der siebziger Jahre auf beinahe ein Drittel aller gemeldeten Projekte237. Die Institutionalisierung von Evaluation und Evaluationsforschung erfolgte auf drei Ebenen: durch eigene Evaluationsabteilungen oder -referate innerhalb der Verwaltung bzw. durch die Einbeziehung evaluativer Elemente in einzelne Verwaltungsprozeduren; durch den Aufbau eigener Forschungseinrichtungen in enger Anbindung an die Ressorts238 oder als privatrechtliche Einrichtungen (z.B. das Deutsche Jugendinstitut) und durch die Vergabe von Forschungsaufträgen (u.a. an die Sozialwissenschaften). Dangschat (1994) schildert am Beispiel der Stadt- und regionalsoziologischen Forschung, wie die in den städtischen Ämtern tätigen Soziologen einzelnen Ressorts zugeordnet wurden, so daß ein übergreifender Austausch oder Prozesse der Professionalisierung im Rahmen der Evaluationsfor-

reits in den

schung

ausblieben. Hellstern/ Wollmann

konstatierten, daß seit den späten

Befunde vorrangig soziale Techniken entwickelt werden, ohne daß jedoch Ordnungsvorstellungen dekretiert werden (1959:120). 237 Auswertung des Zentralarchivs, zit. nach Hellstern/ Wollmann (1984:35). Hellstern/ Wollmann (1984:69f) führten hier die Bundesanstalt für Straßenwesen, das Bundesgesundheitsamt, das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, die Bundesanstalt für Landeskunde und Raumordnung, das Umweltbundesamt, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung oder die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung an.

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980) sechziger Jahren sowohl im »politischen System (...) als auch in der Forschung (...) eine beachtliche >Evaluierungsorientierungpraktischen< Beiträge der Soziologie veränderten: »Im Verlauf dieser Institutionalisierung wurde >die< Soziologie möglicherweise aus der Rolle des beachteten, >attraktiven«, letztlich aber folgenlosen Beratens und Theoretisierens hinausgedrängt, hat aber in konkreter, projektbezogener empirischer Forschung neue Fragestellungen und Arbeitsgebiete -

mit erschließen helfen (1976:74f)240.

239 140

Vgl. dazu auch Rudioff (2002).

Schäfers hatte diesen Trend bereits 1970 recht klar diagnostiziert, als er feststellte, »daß der Städtebau einerseits mehr denn je auf sozialwissenschaftliche Absicherung seiner Planungen angewiesen ist, und daß andererseits die neuere Soziologie keine Hilfestellungen mehr bietet, die einem Rezept oder einer Anweisung gleichkommt« (1970:244).

IV.

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

325

Sozialberichterstattung/Sozialindikatorenforschung

Mit dem Bedeutungsverlust der sozialstatistischen Ansätze und mit der Dominanz wirtschaftsstatistischer Perspektiven war das Interesse der Soziologie an der amtlichen Statistik zurückgegangen. Das änderte sich, als in zunehmendem Maße Fragen einer institutionalisierten Sozialberichterstattung diskutiert wurden. Auf diesem Wege sollte das Projekt einer gesellschaftlichen Dauerbeobachtung< realisiert werden. Dieses Projekt entsprang einem Diskurs- und Praxiszusammenhang, der sich zunächst wiederum in den USA herausbildete. Hier wurde bereits seit den dreißiger Jahren, z.B. durch das vom Präsidenten ernannte Research Committee on Social Trends, an einem Ausbau des sozialstatistischen fnstrumentariums gearbeitet. Einen weiteren Anstoß gab die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die in den fünfziger Jahren in den USA implementiert wurde. So entwickelte sich die Frage, ob es nicht möglich sei, »ein ähnliches System von sozialen Indikatoren zu erstellen und ob sich die fndikatoren vielleicht sogar ähnlich wie in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu sozialen Konten zusammenstellen ließen« (Bell 1986:86). In diesem Diskurs spielten die Konzepte >Lebensqualität< und qualitatives Wachstumaktiven Gesellschaft eine zentrale Rolle. »Das klassische Vorbild ist der amerikanische Regierungsbericht Toward a Social Report (1969), der von Mancur Olson organisiert worden ist« (Zapf 1999:27). Zu Beginn der siebziger Jahren wurde die Sozialindikatorenforschung auch außerhalb der USA populärer; eigentümlicherweise zu einem Zeitpunkt, als in den USA die Hoffnungen auf ihre problemlösenden Potentiale ihren Zenit längst überschritten hatten241. Zapf forderte 1976, daß Gesellschaftspolitik in ihrer Wahrnehmung des Handlungsbedarfs über einen Problemmodenzyklus hinausgelangen müsse. »Wenn man bereit ist, die Verbesserung der Lebensqualität als Zielbestimmung einer aktiven Gesellschaftspolitik anzuerkennen, dann wird die Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Information, die Etablierung einer qualitativ neuen, d.h. einschneidend verbesserten gesellschaftlichen Dauerbeobachtung und Sozialberichterstattung zu einer notwendigen Voraussetzung dieser Politik. (...) Gesellschaftliche Dauerbeobachtung ist ein Modell des Regierens, in dem deutlicher als in anderen Modellen nach den politischen Rückkoppelungen und Erfolgskontrollen gefragt wird« (19). Die Gefahr, daß die Bedeutung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse unterschätzt und Informationen als Machtmittel mißbraucht werden, räumt er ein. Im Auftrag der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel erstellte Zapf eine Studie über Probleme und Möglichkeiten der Sozialberichterstattung242 [C41]. Dabei wird ein Profil typischer Zielbereiche er241

Vgl. Mies (1986:73). Hier wurden folgende Aufgabenfelder einer Dauerbeobachtung umrissen: Ausbau der sozialstatistischen Infrastruktur, Ausbau der Umfrageforschung, Sozialberichte, Sozialbilanzen, Nationale ZieU/Kosten-Analyse, Soziale Gesamtrechnung, Programmanalyse, Testserien, Sozialprognose, Simulation (Zapf 1976:38). 142

326

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

kennbar

(Zapf 1976:571): Gesundheit, öffentliche Sicherheit, Bildung, Beschäftigung, Einkommen, Wohnung Freizeit und Bevölkerung; geringer vertreten sind die Bereiche: natürliche/ städtische Umwelt, Familie, soziale Sicherung, Arbeitskräftepotential, Schichtung/ Mobilität, Diskriminierung243. Diese Zielbereiche sollten hinsichtlich verschiedener (Wohlfahrts-Komponenten untersucht werden: (objektive) Lebensbedingungen, Standards (Ziele und Werte), Einstellungen (Zufriedenheiten, Hoffnungen, Ängste). Dabei wurden verschiedene Analyseebenen (Individuen/ Haushalte, Gruppen, Institutionen, Staat/ Gesellschaft) unterschieden. Schlüsselbegriffe im Konzept der Sozialberichterstattung waren >soziale Indikatoren< und >SozialberichteMoralstatistik< sollte die amtliche Statistik eingebunden werden: »Indem sie (...) Informationen (...) mobilisieren hilft, steht auch die moderne Statistik in der Reihe der politisch verantwortlichen Sozialwissenschaften« (Zapf 1977b:246). Die regierungsamtliche Sozialberichterstattung sollte an die bereits etablierte interne und externe Berichterstattung anknüpfen. Diese sollte systematisiert und verstetigt werden; ein Querschnitt aus diesen Berichten sollte zu einem Sozialreport zusammengefügt werden. Der Auftrag des >Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung< sollte um soziale Komponenten ergänzt werden (vgl. Zapf 1976:163 f). Der Bereich der nicht-amtlichen Sozialforschung sollte als mögliches Korrektiv der eher zentralisierten Berichterstattung amtlicher Stellen fungieren: »Vielfalt der Information, Konkurrenz von amtlichen und privaten Analysen, wissenschaftliche Kritik der Datenproduktion und Datenverwen-

-

-

Andere Zielbereiche aus den Subsystemen Wirtschaft, Politik, demgegenüber deutlich weniger untersucht worden.

Kultur und Gesellschaft sind

IV

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

327

dung« (166). Bei Peters/ Zeugin (1979) wurde der Meinungsforschung eher die Analyse der >subjektiven< Wahrnehmung angetragen, während die objektivem Sachverhalte Gegenstand der amtlichen Statistik sein sollten. Der Entwurf für eine umfassende Sozialberichterstattung ist so auch als Erneuerung des Unternehmens Empirische Sozialforschung zu begreifen, indem eingespielte Formen der Arbeitsteilung überwunden wurden. Die verschiedenen Produktionskontexte sollten integriert und als gleichwertige Instrumente der gesellschaftlichen Dauerbeobachtung begriffen werden (vgl. Peters/ Zeugin 1979:128ff) [C42]. Insbesondere das Verhältnis der Sozialwissenschaften zur amtlichen Statistik wurde neu bestimmt244. Mit der Entwicklung sozialer Indikatoren sollte es zu einer Verknüpfung von >harten< und >weichen< Daten (Umfragedaten zu Einstellungen etc.) kommen. Die Umsetzung dieser konzeptionellen Überlegungen zur Sozialberichterstattung vollzog sich entsprechend den Logiken der einzelnen Produktionskontexte von Sozialforschung mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das regierungsamtliche Sozialberichtswesen hatte sich zunächst relativ unabhängig von den Debatten um die Sozialberichterstattung entwickelt. Es folgte eher den Logiken der Präsentation und Legitimation von Politik; mit der Planungsorientierung der sechziger Jahre hatte es einen starken Aufschwung erfahren. Am Beispiel der Berichterstattung über die Lage von Jugendlichen wird deutlich, aus welch unterschiedlichen Kontexten und fnteressenlagen diese entspringt. Schon die amerikanischen Besatzungsbehörden hatten sich für >Jugendfragen< interessiert (Braun 1979, Braun/ Articus -

1984).

In den fünfziger Jahren war mit den EMNfD-/ Shell-Jugendbefragungen und den Erhebungen anderer Institute eine zunächst noch wenig systematische Form der Berichterstattung entstanden245. Diese Studien spielten eine wichtige Vorreiterrolle für die Akzeptanz der späteren Jugendstudien. Es zeigte sich jedoch, daß es anfangs ausgesprochen schwer war, Ministerien oder Verbände als Finanziers zu gewinnen (Zinnecker 1985:425)246. Nach der Einrichtung des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen 1957 war ab 1960 im Zusammenhang der Jugendwohlfahrtsgesetzgebung auch die Erstellung von Lageberichten erörtert worden, die der Jugendhilfe neue Auftriebe geben sollten (Lüders 1989:812). Die frühen Über244

Vgl. Zapf (1974:8). Zinnecker (1985:428f) verwies auf eine breite Palette jugendsoziologischer Forschungen in den fünfziger Jahren, die von den verschiedensten Trägem betrieben wurden. 46 Wurzbacher sah in dieser Institutionalisierung auch eine Wirkung der frühen Familien- und Sozialisationsforschung: »So kann man durchaus von einer Beeinflussung der relevanten öffentlichen Meinungsträger durch die Sozialwissenschaft in jenen Nachkriegsjahren über die sozialpolitisch aktuellen Aufgaben- und Problembereiche der Familie und des Sozialisationsgeschehens der jungen Generation sprechen« (1987:230) Er verwies auf die Einrichtung des Bundesjugendplanes, des Studienbüros für Jugendfragen und die Berufung eines wissenschaftlichen Beirats beim neu gegründeten Bundesministerium für Familienfragen.

328

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

legungen zur Jugendberichterstattung offenbarten eine doppelte Zielsetzung: zum einen sollte die Lage der Jugend analysiert werden; zum anderen ging es um die staatlichen Leistungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe. In dem dann erst 1965 erschienenen ersten Jugendbericht stützte man sich auf Befunde einer repräsentativen EMNID-Studie, auf Daten des Statistischen Bundesamtes und anderer Ministerien; darüber hinaus griff man auf Abhandlungen zurück, die im Auftrag der Kommission erstellt worden waren. In den folgenden Jahren setzte sich dieses Nebeneinander von >amtlicher< Jugendberichterstattung und >nicht-amtlichen< SHELL-Jugendstudien fort. Die Berichte des Bundesministeriums hatten jeweils einzelne Aspekte der Jugendpolitik zum Gegenstand, oder es waren Gesamtberichte, die allgemeiner versuchten, die Lage der Jugend zu bestimmen. In der Entwicklung der Berichterstattung zeichnete sich eine Tendenz >vom Ministeriumsbericht zum Sachverständigenbericht«: ab (Hornstein/ Lüders (1997:35)); mit dem dritten Jugendbericht wurde die Erarbeitung von einer unabhängigen Sachverständigenkommission vorgenommen. Diese Form der Berichterstattung verbreitete sich in den sechziger und siebziger Jahren zusehends. [C43-44] Ab 1968 wurden Familienberichte erstellt; daneben gab es Sozialberichte, Berufsbildungsberichte etc. Auch jenseits

der ministeriellen Ebene wurde in den Berichten zur Lage der Nation oder mit dem Taschenbuch Gesellschaftliche Daten< versucht, eine Gesamtdarstellung gesellschaftlicher Entwicklungstrends zu geben. Neben die Berichterstattung auf Bundesebene trat in zunehmendem Maße auch ein mehr oder weniger systematisches Berichtswesen auf der Ebene von Ländern und Kommunen. Viele dieser regierungsamtlichen Darstellungen bewegten sich zwischen Sozialberichterstattung und Legitimationsnachweis; Naschold sah in den vorliegenden Einzelberichten das Bemühen, den jeweiligen Aufgabenbereich möglichst weitgehend informationeil abzudecken. Dabei seien jedoch »riesige >ZahlenfriedhöfeImpactSozialstatistische TrendsDatenreports< und der Aufbereitung der Mikrozensusdaten für die empirische Forschung. Die wissenschaftlich orientierte Indikatorenforschung gewann in den frühen siebziger Jahren schnell an Bedeutung. Wichtige impulse gingen von der ab 1972 arbeitenden Sektion >Soziale Indikatoren< der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und dem von der DFG geförderten SPES-Projekt (Sozialpolitisches Entscheidungs- und Indikatorensystem) aus249 [C45]. Mit den aus dem SPES-Zusammenhang stammenden Darstellungen von Zapf (Lebensbedingungen in der Bundesrepublik) und Ballerstedt u.a. (Soziologischer Almanach) entstanden erste Arbeiten, die die Leistung sozialer indikatoren für die Darstellung und Analyse sozialer Strukturen deutlich machten. In den siebziger und insbesondere in den achtziger Jahren erwies sich die wissenschaftliche Indikatorenforschung als ein ausgesprochen produktives Forschungsfeld250; danach stagnierte die Entwicklung zunächst (Zapf 1999:28). Noll konstatiert 1997, daß zwar beachtliche Erfolge erzielt worden seien, daß aber der Grad der Institutionalisierung der Sozialberichterstattung in Deutschland noch vergleichsweise niedrig sei. Das Erscheinungsbild sei »durch eine Pluralität von Akteuren, Beiträgen, Konzepten, und Formen der Berichterstattung geprägt. Neben Einrichtungen der amtlichen Statistik (...), sind (...) auch Ministerien, wissenschaftliche Institute und Verbände tätig« .

(9). Einige Arbeitsbereiche,

die in den frühen Programmen zur Sozialberichteravisiert worden waren, sind nicht weiter bearbeitet worden251; auch stattung 248

Zu dieser geringen Innovationsbereitschaft der amtlichen Statistik hat vermutlich eine Vielzahl Faktoren beigetragen. Neben den typischen Innovationshemmnissen einer öffentlichen Verwaltung wird auch die unübersichtliche Gemengelage und der niedrige Formalisierungsgrad sozialwissenschaftlicher Paradigmen eine wichtige Rolle gespielt haben. Nicht zuletzt ist auch auf die geringe Zahl von sozialwissenschaftlich ausgebildeten Statistikern in den statistischen Ämtern von

(Litz/ Lipowatzl986:128) zu verweisen. Als Zielbereiche wurden benannt: Bevölkerung,

Sozialer Status und soziale Mobilität, Arbeitsmarkt und Beschäftigungsbedingungen, Einkommen und seine Verteilung, Einkommensverwendung und Versorgung, Verkehr, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Partizipation (Zapf 1977b: 425ff). Das Tableau differenziert diese Zielrichtungen weiter; 1976 waren dies 196 Indikatoren. In der Schriftenreihe der Sektion Soziale Indikatoren erschienen: Soziale Indikatoren. Konzepte und Forschungsansätze I-III (1974, 1975); Gesellschaftspolitische Zielsysteme (1976); Politisches Klima und Planung (1977); Messung sozialer Disparitäten (1978); Soziale Indikatoren im internationalen Vergleich (1980); Sozialbilanzierung (1981); Unbeabsichtigte Folgen sozialen Handelns (1982); Gesellschaftliche Berichterstattung zwischen Theorie und politischer Praxis (1983); Ansprüche an die Arbeit (1984); Von der Anspruchs- zur Verzichtgesellschaft? (1985); Arbeitsmoral und Technikfeindlichkeit (1986); Neue Informations- und Kommunikationstechnologien (1987); Entwicklungstendenzen der Sozialstruktur (1992); Lebensverhältnisse in Deutschland (1992); Einstellungen und Lebensbedingungen in Europa (1993); Getrennt vereint (1995); Lebensverhältnisse in Osteuropa (1996); Sozialberichterstattung und Sozialstaatsbeobachtung (1999). So vermerkt Zapf, es sei schon »zu Beginn der 1970er Jahre bezweifelt worden, daß zwei andere Ziele mit der Sozialberichterstattung erreicht werden könnten, nämlich die wissenschaftliche

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Sozialforschung (1965-1980)

die Vision einer Aggregation der entwickelten Indikatoren zu einer sozialen Gesamtrechnung ist bislang nicht weiter verfolgt worden. Die Sozialberichterstattung war immer ein umstrittenes Unternehmen; es lassen sich zwei grundsätzliche Ebenen der Kritik unterscheiden, eine eher 5 methodologisch-theoretische und eine eher politisch-praktische : Oftmals wurde die Validität der jeweiligen sozialen Indikatoren in Frage gestellt: messen sie das, was sie zu messen vorgeben? Dahinter stand der weitergehende Zweifel, ob sich die Vielfalt von interdependenten Faktoren, die ein soziales Phänomen in der Regel bedingen, auf einzelne oder sehr wenige Indikatoren reduzieren läßt. Dieses methodologische Defizit wurde oft im Zusammenhang einer >manifesten Theorielosigkeit< der Indikatorenforschung gesehen. Besondere Zweifel wurden gegenüber Indikatoren der subjektiven Zufriedenheit vorgebracht. Mit der Indikatorenforschung war ein bestimmter >Aufklärungsvorbeugendes Krisenmanagement«, also nicht Manipulation und auch nicht Technokratie, bedeutet, sondern Probleminformation (>Aufklärongpraktisch< Ermittlung gesamtgesellschaftlicher Prioritäten und die überzeugende Evaluierung sozialpolitischer Interventionsprogramme« (1999:27). 252 Die folgende Darstellung bezieht sich auf kritische Beiträge aus den ersten Arbeitskonferenzen zu Sozialen Indikatoren; sie wurden in einem Anhang zu Zapf (1974) dokumentiert.

IV

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

331

werden. So sollte z.B. mit der

industriesoziologisch motivierten >Bewußtseinsforschung< »gesellschaftliche Totalität (...) im Direktverfahren eingeholt werden« (Braczyk/ Knesebeck/ Schmidt 1982:34). Viele Protagonisten begriffen diese Forschungsarbeiten auch als anwendungsbezogen, nur wurde der Begriff anders gefüllt als z.B. in der Bildungsplanung. Wenngleich auch in anderen Feldern dem Selbstverständnis nach kritische, auf gesellschaftliche Emanzipation bezogene Forschung betrieben wurde, bildete die industriesoziologische Forschung wegen ihrer Nähe zum betrieblichen >Kampffeld< ein Zentrum kritischer Sozialforschung. Industriearbeit, Arbeiterbewußtsein und kritische Gewerkschaftsforschung Seit dem Ende der sechziger Jahre ist ein wiederauflebendes Interesse an industriesoziologischer Forschung zu verzeichnen. »Neben Sozialberatung und Bildungsexpansion und -reform entwickelt sich der gesellschaftliche Problembereich >Industriearbeit< zu einem politischen Handlungsfeld mit erheblichem Einsatz sozialwissenschaftlicher Kompetenz« (Schmidt 1980a:271). Die Industriesoziologie war stärker theoretisch orientiert254, sie bezog sich insbesondere auf die Kritische Theorie und die Marxsche Theorie; dabei spielten die lokalen Wissenschaftskulturen verschiedener Hochschulstandorte eine wichtige Rolle255. Man versuchte über diese Theorien zu einer Klärung wesentlicher Begriffe und Konzepte industriesoziologischer Forschung zu kommen. So entspannten sich komplexe, in ihrer Logik heute kaum zu rekonstruierende Debatten, um die Frage der >reellen SubsumtionVermittlungsproblem< blieb ungelöst257. -

Kontrastierend verwiesen Lutz und Schmidt auf das 1957 von Popitz diagnostizierte Theoriedefizit der Industriesoziologie ([1969] 1977:220). 55 Beckenbach beschreibt die Differenzen zwischen der Frankfurter, Berliner und Marburger Marx-Rezeption in der Industriesoziologie (1991:92f). 256 Vgl. dazu auch Weischer (1988). »Der Weg von einer allgemeinen politökonomischen Theorie kapitalistischer Gesellschaften zu empirischer Erfassung und begrifflicher Analyse zentraler Bestimmungsmomente des industriellen Betriebs und der industriellen Arbeit, des sozialen Bewußtseins und des Handlungspotentials der Beschäftigten wie der Artikulation sozialer Interessen und Konflikte erfordert das wird heute weithin erkannt und anerkannt mehr als nur eine Aneinanderreihung von jeweils konkreteren, auseinander abgeleiteten Deduktionen, an deren Ende dann ein theoretisch abgesichertes empirisches Forschungsinstrumentarium stehen könnte« (Lutz/ Schmidt [1969] 1977:221). Die Autoren stellten es als offene Frage hin, ob es in Zukunft gelingen könne, dieses Vermittlungsproblem zu lösen. -

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332

Die den

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Sozialforschung (1965-1980)

Rezeption Marxscher Theorie hat die Wahl von Forschungsgegenstänvor allem in der ersten Hälfte der siebziger Jahren nachhaltig geprägt:

eine leitende Funktion hatte die Studie > Industriearbeit und Arbeiterbewußtseim von Kern und Schumann, die den Zusammenhang von technologischer Entwicklung und Qualifikation beleuchtete; andere Schwerpunkte bildeten sich um die Frage der Automation, um die Entwicklung von Arbeitsmärkten, um die Fragen des Arbeiter- und Klassenbewußtseins. Die theoretische Orientierung der Industriesoziologie hat dann auch auf die Debatten in benachbarten Feldern ausgestrahlt. Für ein Verständnis der Themen industriesoziologischer Forschung in den sechziger und frühen siebziger Jahren muß auch die »sozusagen unakademische Dimension der Industriesoziologie« (Wittemann 1985:324), ihre Verankerung in den zeitgenössischen politischen Diskursen beleuchtet werden; exemplarisch soll dies am Beispiel von > Industriearbeit und Arbeiterbewußtseim geschehen, einer Studie, die schnell zu einem exemplar industriesoziologischer Forschung geworden ist. Kern und Schumann sahen ihre Studie in einem politischen Zusammenhang: im Kontext Marxscher Theorie sollte die Rolle der Arbeiterschaft für gesellschaftliche Veränderungsprozesse bestimmt werden. In einleitenden Bemerkungen aus dem Jahre 1970 legten sie ihre Einschätzung dar258. Diese Deutung wurde durch die sogenannten Septemberstreiks irritiert, als sich Beschäftigte in >wilden< Streiks gegen die Lohnpolitik >ihrer< Gewerkschaften wandten. Im Zusammenhang mit Streikbewegungen in Frankreich und Italien wurden die Streiks als Indikatoren einer >Rekonstruktion der Arbeiterklasse< interpretiert259. Vor diesem Hintergrund sah man sich 1977 in einem neuen Vorwort zu einer Selbstkritik an >Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein< veranlaßt260. Die Untersuchungen zu den Septemberstreiks bildeten auch den Ausgangspunkt von empirischen Forschungen, die sich kritisch mit der Entwicklung, !58 »Unsere Studie wendet sich nicht gegen die Klassentheorie als den Versuch, die objektive Herrschafts- und Interessenkonstellation in der kapitalistischen Gesellschaft zu erklären. Ihr Ansatz orientiert sich aber an der Annahme, daß eine Reihe intervenierender Faktoren eine Entwicklung ausgelöst haben, die den Arbeitern den Herrschaftscharakter der Gesellschaft weniger offenbart als verdeckt und die damit Zweifel daran aufkommen läßt, ob die Arbeiterschaft noch als das historische Subjekt gesellschaftlichen Wandels zu fungieren vermag« (Kern/Schumann [1970] 1985:18). In der Studie >Am Beispiel der Septemberstreiks. Anfang der Rekonstruktionsperiode der Arbeiterklasse« kamen Schumann u.a. zu dem Befund, daß die Ansprüche der Arbeiter »systemimmanent«, ihre Kritik »dem Bestehenden weitgehend verhaftet« (Schumann u.a. 1971:162) blieben; es wurde aber resümiert, daß nicht die Tatsache der Streiks selbst, vielmehr aber das »Potential, welches durch die Arbeitskämpfe geschaffen wurde, (...) die Frage nach der Rekonstruktion der Arbeiterklasse berechtigt erscheinen läßt« (163). »Wir konzentrierten uns zu sehr auf die eher defensive Fragestellung, inwieweit sich die Arbeiterklasse gegenüber den Integrationsbemühungen als résistent erwiesen hat, und weniger auf den im Rahmen einer kritischen Industriesoziologie entscheidenderen Ansatz, latente und manifeste Konfliktzonen in der Lage der Arbeiter und im Arbeiterbewußtsein zu identifizieren und nach den Bedingungen zu suchen, unter denen Unlust, Unzufriedenheit und Kritik die Mechanismen der Anpassung durchbrechen« ([1977] 1985:10).

IV.

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

333

der Politik und Organisation der westdeutschen Gewerkschaften, mit dem System betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung und allgemeiner mit der Regulation der industriellen Beziehungen befaßten. Viele dieser empirischen Forschungsarbeiten lieferten neben der Arbeit an einer dezidiert wissenschaftlichen Fragestellung auch einen Beitrag zu den zeitgenössischen politischen Diskursen. So entstand ein Forschungstypus, der sich kritisch mit der Organisation und Politik von Gewerkschaften und anderen Organisationen der Arbeiterbewegung befaßte. Einen institutionellen Niederschlag fanden die Bemühungen um eine stärkere Zusammenarbeit von (Sozial-)Wissenschaft und Gewerkschaft auch in den sogenannten Kooperationsstellen Hochschule-Gewerkschaft261; daß der stärkere Bezug der Sozialwissenschaften auf die Gewerkschaften und die daraus entstandenen Kooperationsbeziehungen nicht spannungsfrei verliefen, liegt auf der Hand. Wiesenthal hat später von einer emphatischen Gewerkschaftstheorie262 gesprochen. Der Einschätzung ist in der Tendenz zuzustimmen; nur unterschätzt sie den wissenschaftlichen Ertrag nicht weniger Forschungsarbeiten, die auch über die zeitgenössischen Diskurse hinaus Bestand haben263. Die kritische Industrie- und Betriebssoziologie konnte sich recht gut in die politische Landschaft einpassen, und es gab hinreichende Freiräume, auch Themen jenseits unmittelbarer Verwendungsbezüge zu verfolgen264. Diese Konstellation änderte sich seit Mitte der siebziger Jahre. Das Ende des politischen Reformprozesses, die sich verengenden ökonomischen Spielräume, erste Erfahrungen mit der Massenarbeitslosigkeit verstärkten den Druck, Reformvorhaben mit Prozessen der Modernisierung der produktiven Basis der Gesellschaft zu verknüpfen. Die Interpretationsspielräume, welche Forschungen als Beitrag zu gesellschaftlichen Reformvorhaben zu begreifen seien, verengten sich damit. Vor allem seit dem Beginn des HdA-Programms bildete sich eine unverkennbare »Tendenz zur anwendungsbezogenen,

praxisnahen Forschung« aus (Bergmann 1979:13).

261

Z.B. in Bremen, Oldenburg, Bochum, Saarbrücken und Marburg. Wiesenthal sah sich 1989 zu einem eher despektierlichen Rückblick auf die emphatischen Gewerkschaftstheorie veranlaßt: »Wissenssoziologisch betrachtet ist die emphatische Gewerkschaftstheorie der vielleicht letzte, sicherlich der letzte abgeschlossene Versuch, ein politisches Enttäuschungserlebnis mit den Mitteln professioneller sozialwissenschaftlicher Forschung zu bewältigen. Dem verspäteten Leser erscheint sie als qualifizierte Anstrengung der Erklärungssuche nicht für existente Phänomene, sondern für die Abwesenheit, das Nicht-Auftreten erwarteter Erscheinungen: kumulativ wachsendes Klassenbewußtsein, dynamisches Konflikthandeln und intentionale Gesellschaftstransformation« (125). Zu einer Einschätzung der gewerkschaftssoziologischen Debatten vgl. Weischer (1993). »Das Verhältnis der sozialwissenschaftlichen Forschung zu den Praxisanforderungen, wie sie von politischen Instanzen formuliert wurden, erwies sich bislang als weniger konfliktuell, als es vermutet werden könnte (...). Es konnten daher auch Fragestellungen verfolgt werden, die keineswegs den technokratischen Vorstellungen der Administration entsprachen. Mehr noch: da die sozialliberale Reformpolitik 1969-73 auch gesellschaftskritischen Positionen Spielräume gewährte, konnte die Industriesoziologie (...) sich als Element der Reformpolitik begreifen« (Bergmann 1979:13). 162

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C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Grundlagen- und Begleitforschung im Rahmen des HdA-Programms Nachkriegsentwicklung wurden die Risiken von lohnabhängig Beschäftigten und Nicht-Beschäftigten vorrangig durch monetäre Kompensationen aufgefangen; der Arbeitsschutz wurde nur partiell ausgebaut (vgl. Bohle 1977:293). Angesichts weitreichender wirtschaftlicher Strukturveränderungen und Rationalisierungsmaßnahmen blieb die Sozialpolitik eher deIn der

fensiv. »Zwar werden insbesondere in den von den Gewerkschaften in den 60er Jahren initiierten Automationsdebatten zahlreiche negative Auswirkungen registriert (...); sie werden aber letztlich als unabwendbare Begleiterscheinungen der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung hingenommen« (293f). Der monetäre Risikoausgleich wurde zunehmend auch durch >qualitative< Maßnahmen (Arbeits- und Ausbildungsförderung, Berufsbildung, Rehabilitation etc.) ergänzt. Mit der in den siebziger Jahren einsetzenden Diskussion um eine Humanisierung der Arbeit trat eine Wende ein; man ging über den Schutzgedanken hinaus und richtete den Blick auf den gesamten Arbeitsprozeß und mögliche Gestaltungsspielräume. Seit der IG Metall-Tagung >Qualität des Lebens< im Jahr 1972 vollzog sich in den Gewerkschaften eine »Umorientierung von quantitativen zu qualitativen Wachstumszielen der Wirtschaft« (WSI 1980:29). Das Programm >Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens< war von der sozialliberalen Bundesregierung unter Regie der Minister Ehmke und Arendt bzw. Matthöfer entwickelt worden. Ein Spezifikum des Programms war die Verknüpfung von Maßnahmen der Investitionsförderung mit Maßnahmen der Forschungsförderung; zumindest ansatzweise wurde auch versucht, mit der Technologiepolitik Einfluß auf deren soziale Gestaltung zu nehmen. Ein Novum lag auch in der Einbeziehung von Gewerkschaften und betrieblichen Interessenvertretungen. Für die industriesoziologische Forschung boten sich mit dem Programm bisher nicht gekannte Förderungsmöglichkeiten und ein neuartiger Praxiskontext [C46]. Schwerpunkte der Förderung lagen beim Abbau von Über- und Unterbeanspruchungen, bei der Erhöhung der Arbeitssicherheit, der Verbesserung der Arbeitsinhalte und -beziehungen und bei der Verminderung negativer Wechselbeziehungen zwischen Arbeitswelt und anderen Lebensbereichen. Der wissenschaftlichen Fundierung und Begleitung des Programms wurde ein hoher Stellenwert beigemessen; dabei wurde auch sozialwissenschaftliche Expertise eingefordert. Die Kompetenz der Natur- und Ingenieurwissenschaften zur Lösung wirtschaftlicher und technischer Probleme sollte durch eine stärkere Berücksichtigung »sozialer und gesellschaftlicher Probleme« gestärkt werden. »Die Sozialwissenschaften haben insbesondere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu analysieren und Alternativen -

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aufzuzeigen« (Bundesbericht Forschung 1975:10). Im HdA-Programm machten Projekte zu industriesoziologischen Themen etwa 12% der gesamten Fördermittel aus. Forschungsfelder der Grundlagen-

IV

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

335

forschung waren die Entwicklung der Arbeitsbedingungen, der Zusammen-

hang von Arbeitswelt und anderen Lebensbereichen sowie theoretische und methodische Probleme der Humanisierung(sforschung). Während die Vorstellungen zur Grundlagenforschung recht klar benannt wurden, ist eine »offizielle inhaltliche Definition der Aufgabenstellung sozialwissenschaftlicher Begleitforschung« ausgeblieben (Weltz 1982:294). Sozialwissenschaftliche, arbeitswissenschaftliche und ingenieurwissenschaftliche

Begleitforschung

sollte »wissenschaftliche Methodik nach dem einbringen«, sollte »aus betrieblichen Lösungsansätzen allgemein verwertbare Ergebnisse« herausfiltern und damit die Übertragbarkeit der Ergebnisse sichern (Projektträger 1981:60). Durch den Umfang des Programms wurden zeitweise erhebliche Teile der industriesoziologischen Forschungskapazität gebunden. Die spezifischen Anforderungen der Begleitforschung stellten die Industriesoziologie vor eine große Herausforderung; nicht wenige konstatieren eine Überforderung265. Eine eingehende Problemanalyse der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung haben Braczyk/ Schmidt (1982) vorgenommen. Sie begriffen die >Begleitforschung< als einen dritten Typ industriesoziologischer Forschung neben >Grundlagenforschung< und angewandter Forschungverdanken«, läßt sich Begleitforschung sehr viel stärker auf interessenbezogene oder normativ ausgewiesene außerwissenschaftliche Problemthematisierungen ein« (463). Die Begleitforschung müsse sich mit dem gestellten Problem identifizieren: Wissenschaftliche Aspekte spielten allenfalls als intervenierende Größen eine Rolle; die Wissenschaftler wurden vorrangig auf Nützlichkeit verpflichtet. Damit stellte sich nach Braczyk und Schmidt das Problem, daß die Industriesoziologen in der Humanisierungsforschung zwischen den Programmzielen und den betrieblichen Interessenlagen tendenziell zerrieben wurden. Die Erwartungen an die Generalisierung von Ergebnissen und an die modellhafte Übertragung konnten kaum erfüllt werden. Mit der Aufgabe der Beratung von Betriebsleitung und Betriebsrat waren Sozialwissenschaftler aufgrund ihrer bisherigen Ausbildung und fachlichen Orientierung überfordert; sie konnten den Beratungspotentialen anderer Wissenschaften wenig entgegensetzen. Diese Probleme stellten die Industriesoziologie, die sich einem wissenschaftlichen aber auch einem gesellschaftskritischen Selbstverständnis verpflichtet fühlte, vor eine große Herausforderung266. neuesten Stand der Erkenntnisse

»Einschätzung und Messung langfristiger Folgen spezifischer Arbeitsbedingungen, Entwicklung von Modellen der Arbeitsgestaltung, praktizierbare Vorschläge von Formen der Arbeitsorganisation, die Qualifikationschancen offenhalten, Lernfähigkeiten stimulieren etc. Daß diese Aufgaben nur unzulänglich erfüllt werden können, ist offensichtlich; ebenso auch das Risiko, daß praktische Empfehlungen der Wissenschaftler sich als unwirksam erweisen oder aber von den Unternehmen in Rationalisierungsmaßnahmen umgebogen werden« (Bergmann 1979:14f). »Wie prekär diese Problemlage eingeschätzt wird, erhellt sich schon daraus, daß die großen industriesoziologischen Institute nur einige wenige 4 von 27 Begleitforschungsprojekte über-

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336

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

In der Praxis wurde auf die Herausforderungen durch die Begleitforschung reagiert: In einigen Projekten wurde versucht, die Interven-

unterschiedlich

tionsansprüche abzuwenden und sich eher an den wissenschaftlichen Standards zu orientieren. Häufiger scheint es aber zu einer Abwendung von den »überlieferten professionellen Standards« (471) gekommen zu sein. Das von Braczyk und Schmidt gezeichnete Schwarz-Weiß-Bild trifft das Spektrum der Stellungnahmen nur bedingt. Exemplarisch für andere Zwischenlagern soll hier auf einige Überlegungen von Bollinger und Weltz aufmerksam gemacht werden. Eine spezifische Chance der betriebsnahen Forschungsarbeit sah Weltz in der Möglichkeit, Einblick in die »Prozeßhaftigkeit und Offenheit betrieblicher Entscheidungsprozesses zu erlangen« (1989:267); dies könne zur Weiterentwicklung des industriesoziologischen Diskurses beitragen, in dem eher die Vorstellung von deterministischen Vermittlungszusammenhängen in der betrieblichen Struktur vorherrsche. Fricke und Fricke (1977) kritisierten, daß ein analytisches Forschungsinteresse dominiere und es an Handlungsorientierung mangele, um Alternativen z.B. im Bereich der Arbeitsorganisation zu eruieren. So hätte die Analyse in kritischer Absicht letztlich konservative Wirkungen267. Daraus erwachse nicht nur ein Anspruch an die theoretischen Perspektiven der Industriesoziologie, sondern auch an ihre Forschungsmethodik (handlungsorientierte Sozialforschung). In ähnlicher Weise verwiesen auch Elsenau und Jäger (1982:430) auf das Konzept einer kooperativen Sozialforschung< (s.u.). Wenngleich Bergmanns Einschätzung, daß sich die Repräsentanten der Industriesoziologie mehrheitlich einer kritischen Theorie der Gesellschaft verpflichtet sahen268, zutrifft, werden in diesem Rahmen recht unterschiedliche Orientierungsmuster deutlich: auf der einen Seite eine eher wissenschaftsorientierte Sozialforschung, die sogar bereit war, auf höchst lukrative Forschungsressourcen zu verzichten. Auf der anderen Seite ein Forschungstypus, der den kritischen Theorieanspruch auch als Mandat für eine politische Stellungnahme und Intervention begriff, wobei diese Stellungnahmen noch einmal durch sehr spezifische, zu jener Zeit aber durchaus bedeutsame, politische Akzente voneinander geschieden waren. Zwischen diesen Polen fand sich ein stärker pragmatischer Forschungsansatz, der eine anwendungsund problembezogene Forschungsweise präferierte, ohne auf wesentliche Eckpunkte wissenschaftlicher Autonomie verzichten zu wollen. haben« (Bergmann 1979:14f). Die stärkere Vertretung der Hochschulforschung ging aber auch auf förderpolitische Überlegungen des Projektträgers bzw. des Forschungsministeriums zurück, die Privatisierungstendenzen durch eine stärkere Förderung der öffentlich-rechtlichen Lehr- und Forschungseinrichtungen entgegenwirken wollten (Braczyk/ Schmidt 1982:465). Die vorherrschenden Ansätze begriffen z.B. die technisch-organisatorische Entwicklung entweder als gesellschaftlich bestimmte (Kern/ Schumann) oder als Ergebnis unternehmerischen Handelns (Altmann/ Bechtle). Eine Gestaltung nach den Bedürfnissen und unter Mitwirkung der Betroffenen sei damit ausgeschlossen (99). 268 Dies wurde nicht zuletzt auch durch die Außenwahmehmung dieser Sektion stabilisiert. nommen

IV

Schwerpunkte der empirischen Forschungsarbeit

337

Partizipative und aktivierende Forschung

In den siebziger Jahren entstand eine breite Palette von Forschungsansätzen, die sich gegen die klassische Forschungssituation wandten; man sprach neben Aktionsforschung von Handlungsforschung, von partizipativer, kooperativer oder beteiligungsorientierter Sozialforschung. Ansätze der aktivierenden und partizipierenden Forschung erwiesen sich insbesondere geeignet, wenn es um »überschaubare Personengruppen und Institutionen mit gemeinsamer Interessenlage und relativ unmittelbarer Entscheidungskompetenz«

(Prim 1979:17) ging269:

Ein Schwerpunkt lag im weiteren Bereich der erziehungswissenschaftlichen Forschung (insbesondere in der Bildungsforschung) und im Bereich der sozialen Arbeit (vgl. Kern 1982:264). Prim ging davon aus, daß in diesen Bereichen die Bedingungen für den Einsatz der Aktionsforschung in besonderem Maße gegeben waren; im Bereich der amerikanischen Bildungsforschung war der Lewinsche Ansatz bereits sehr früh eingesetzt worden270. Bei Planungsprozessen wurde >Bürgerbeteiligung< zu einem Schlüsselwort. Sozialforschung sollte dazu beitragen, Bedürfhisse und Interessenlagen von sozial benachteiligten oder ausgegrenzten Gruppen an den Tag zu bringen. Mit dem Konzept der Planungszelle wurde versucht, den zunächst wenig kalkulierbaren Aktionsforschungsprozeß für Planungsverläufe kalkulierbarer zu machen und auf handhabbare Ergebnisse zu verpflichten271. Im Bereich der industriesoziologischen Forschung wurde die Aktionsforschung z.B. genutzt, um das Konzept einer autonomieorientierten Gestaltung von Arbeitssystemen zu implementieren272. Kern kritisierte den Ansatz zwar, sein Konzept stand jedoch dem Selbstverständnis der Aktionsforscher weit näher als dem main stream der standardisierenden Forschung273. Auch im Bereich der Frauenforschung und der entwicklungspolitischen Forschung wurden Designs der Aktionsforschung eingesetzt274.

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Prim sprach in diesem Zusammenhang von einem »Wissenschaftsparadigma mittlerer Reichweite« (17), das bei Fragen auf der gesellschaftlichen Makroebene an seine Grenzen gelange. 270 Vgl. dazu Altrichter/ Lobenwein/ Weite (1997:655). 1 Das Konzept der Planungszelle sah vor, daß eine nach verschiedenen Interessenlagen zusammengesetzte Gruppe von Betroffenen für einen gemeinsamen Planungsprozeß (unter Hinzuziehung von Experten) von Arbeits- und anderen Verpflichtungen freigestellt wurde. Das Konzept wurde erstmals von Dienel 1978 dargelegt; eine vierte Auflage erschien 1997. Sie trägt weiterhin den Untertitel >Eine Alternative zur Establishment-Demokratie«. Eine Forschungsgruppe der Friedrich-Ebert-Stiftung führte dazu aus: »die Innovationen werden von den Arbeitenden nach ihren Bedürfnissen und Interessen bestimmt« (Fricke 1977:326). Eine wichtige Rolle im Beteiligungsprozeß spielten einwöchige Bildungsveranstaltungen, wo die Arbeitssituation analysiert und Lösungsvorschläge entwickelt werden (Fricke/ Fricke 1977:101). Kern plädierte für einen breit angelegten Erfahrungsbegriff und favorisierte Erhebungsverfahren wie qualitative (thematisch strukturierte) Interviews und Gruppendiskussionen. Ähnlich wie die Aktionsforschung forderte er eine Dynamisierung des Bezugs von Forschern und Untersuchten sowie eine Transparenz und Prozessualität in der Untersuchungsanlage (vgl. 1982:272ff). 274 Vgl. dazu exemplarisch Werlhof (1985).

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C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Wohlrapp hatte vermutet, daß der Ansatz gemeinsam »mit den sozialen Bewegungen, auf die er sich bezog« (1979:431) verfalle; in den frühen achtziger Jahren läßt sich jedoch eine zweite Welle in der Debatte um die Aktionsforschung ausmachen (vgl. Hopf 1984). c) Die Bedeutung der unterschiedlichen Leitbilder Die vorgeschlagene Differenzierung nach den Leitbildern Improvement und Emanzipation vermag wichtige Konturen der Forschungslandschaft abzubilden; am Beispiel der Evaluationsforschung wurde aber auch deutlich, daß die leitenden Vorstellungen innerhalb der verschiedenen Forschungsfelder keineswegs so einheitlich waren, wie es die obige Zuordnungen zu den

Leitbildern vermuten läßt. Insbesondere die unterschiedliche institutionelle Einbindung der Forschenden scheint bedeutsam zu sein. Dangschat (1994:2331) analysierte für die Entwicklung der Stadt- und regionalsoziologischen Forschung, wie sich das Verhältnis von verwaltungsnah praktisch forschenden und akademisch institutionalisierten Forschern entwickelte. Nowotny (1982:171) konnte am Beispiel der Entwicklungen innerhalb der Armutsforschung zeigen, wie sich mit verschiedenen Generationen von Sozialforschern auch die damit verknüpften Leitvorstellungen verändern. Gerade das Leitbild einer verwendungsorientierten Forschung stand in Kontinuität zu den Ideen der Gründungsphase; die Rahmenbedingungen haben sich jedoch verändert: Die Differenzierung der Sozialwissenschaften und der empirischen Forschung, die zunehmende Institutionalisierung der Forschungslandschaft und der Bedeutungsverlust der Hochschulforschung haben dazu geführt, daß sich der Gegenstandsbezug veränderte: War es in früheren Phasen durchaus möglich, daß Forschende ihre sozialwissenschaftliche und methodische Kompetenz in verschiedenen Feldern einbrachten, hat sich in dieser Phase ein Typus von Spezialisten herausgebildet, der in hohem Maße an bestimmte Praxisfelder gebunden war. Insbesondere galt dies für die jüngeren Generationen von Sozialforschern, die sich nach Abschluß der akademischen Expansionsphase in verwendungsnahen Arbeitsbereichen behaupten mußten. Die kumulierten Erfahrungen mit der Produktion und Verwendung empirisch fundierten Wissens haben dazu geführt, daß die weitreichenden Vorstellungen von den Möglichkeiten empirischer Sozialforschung, die im Kontext der wissenschaftsbezogenen, der sozialtechnologischen und gesellschaftskritischen Leitbilder entwickelt worden waren, relativiert wurden. Die Leitbilder >Improvement< und >Emanzipation«, die ja benachbarten politischen Kontexten entstammten, dienten als Muster wissenschaftlicher Selbstverständigung und maskierten eine vermutlich durchaus ähnliche For-

-

schungspraxis. Die Differenzierung war möglicherweise weniger den Praktiken sondern unterschiedlichen politischen Optionen und Erfahrungen, unterschiedlichen Generationslagen und institutionellen Rahmen geschuldet.

V. Methoden und Methodendiskurse

V.

339

Die Entwicklung von Methoden und Methodendiskursen

In den

sechziger und siebziger Jahren konnte die empirische Sozialforschung trotz aller Kontroversen einen festen Platz in den Sozialwissenschaften einnehmen. In der universitären Lehre stellte sie einen kleinsten gemeinsamen

Nenner in der ansonsten

von

recht verschiedenen Wissenschaftskon-

zepten geprägten Ausbildungslandschaft dar; in der universitären und vor al-

lem der außeruniversitären Forschung erfuhr sie einen erheblichen Bedeutungszuwachs. In dieser Phase schritt die sich bereits abzeichnende Scheidung der methodischen von den inhaltlichen Diskursen voran. Die frühe Sozialforschung, aber auch viele Forschungsarbeiten in den fünfziger Jahren lebten davon, daß bis dahin wenig bekannte soziale Phänomene >entdeckt< und beschrieben wurden. Im Vordergrund stand dabei die Erhebung, die Daten zu einem sozialen Problem zu Tage förderte oder unter neuer Perspektive beleuchtete. In den folgenden Jahren vollzog sich allmählich eine Akzentverlagerung zur Analyse sozialwissenschaftlicher Daten (Scheuch 1976:89). Befördert wurde dieser Prozeß durch die Entwicklungsfortschritte im technischen Bereich und in der Auswertungsmethodik. Diese Verschiebung zur Datenanalyse war auch mit dem Wissenschaftsprogramm der akademischen Sozialwissenschaft verknüpft; Befunde der Forschung sollten dem Test von Hypothesen dienen oder Hypothesen hervorbringen. Damit verbunden war die Hoffnung, daß mit einem Fortschritt in der Erhebungs- und Auswertungsmethodik zwangsläufig auch ein Fortschritt im wissenschaftlichen Erkenntnisstand verknüpft sei. Im einzelnen waren die Erträge der methodischen und methodologischen Investitionen jedoch unwägbar. Damit kam den Leitbildern, die z.B. mit dem Einsatz von modernsten datenverarbeitenden Maschinen oder mit dem Zugriff auf mathematische Modelle verknüpft waren, eine wichtige Rolle zu. 1. Die

Entwicklung der EDV

Die Fortschritte der empirischen Sozialforschung waren in den letzten hundert Jahren eng mit der Entwicklung von datenverarbeitenden Maschinen verknüpft. Während der Verarbeitungsprozeß über einen langen Zeitraum auf zählende und sortierende Funktionen beschränkt war, erweiterte sich das Spektrum möglicher verarbeitender Prozesse mit der Entwicklung elektronischer Datenverarbeitung erheblich. Zwar waren auch zuvor bereits Volkszählungsdaten mit Hollerithmaschinen bewältigt worden; auch die Berechnung einer Faktoranalyse war mit diesen Mitteln durchaus möglich; nur war

340

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

der Einsatz an know how und Arbeitszeit ungleich höher. Zum anderen eröffneten die elektronisch gesteuerten datenverarbeitenden Maschinen völlig neue Möglichkeiten im Bereich der Analyse, z.B. durch die Programmierung approximativer Prozesse, die Simulation oder die fnhaltsanalyse275. Die Computer der zweiten und dritten Generation waren mehr und mehr auch an Universitäten verfügbar. Neben der Zugänglichkeit veränderte sich auch das für ihre Handhabung erforderliche Spezialwissen: die anfangs maschinennahe und damit sehr aufwendige Programmierung vereinfachte sich mit der Verbreitung höherer Programmiersprachen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre erheblich276. Ein weiterer Entwicklungsschritt folgte in den siebziger Jahren mit der Entwicklung von spezifischen Programmpaketen für die Datenaufbereitung und -analyse. Mit diesen Veränderungen wurden neue Qualifikationen erforderlich, alte wurden entwertet, so z.B. das Wissen um vereinfachte Berechnungsweisen; später wurden auch die Programmierkenntnisse zumindest für Standardanwendungen obsolet. Scheuch schilderte dies als ein befreiendes Moment: »Gerade die Weiterentwicklung der Elektronik befreit den Sozialforscher weitgehend von Zwängen der Technik und läßt ihn so frei werden von den Technikern, die sich als Mittler zwischen den Forscher und dessen Datenmaterial schoben; in der Analyse vermag man sich zunehmend auf die Logik der Operationen und die Beurteilung ihrer Aussagekraft zu konzentrieren. (...) Dafür wird allerdings die Forschung abhängiger von dem Zugang zu dieser technischen Ausrüstung« (1973:200).

Bis in die achtziger Jahre erfolgte der Zugang ausschließlich über die Rechenzentren der Hochschulen und anderer Einrichtungen. Der Einsatz der neuen datenverarbeitenden Maschinen brachte die sozialwissenschaftliche Forschung auch in ihrem Handwerkszeug den naturwissenschaftlich technischen Leitvorstellungen deutlich näher; nutzte man doch dieselben Handwerkszeuge und war in Problemfallen auf denselben technischen Sachverstand verwiesen. War schon in den fünfziger Jahren der >Aufstand der Handwerken als Bedrohung für die Gelehrtenwelt erschienen, wie mochte nun ein Sozialforscher als >Experte in modernen datenverarbeitenden Technologien < erscheinen? Scheuch berichtete mit Verweis auf amerikanische Erfahrungen von der anfänglichen Skepsis vieler Sozialforscher gegenüber den neuen Entwicklungen (1973:200). Daneben fand sich auch sehr verbreitet die Sorge, um die gedankenlose Anwendung< der neuen Auswertungstechniken; allerorten findet sich die Warnung vor der Versuchung, alle Variablen mit allen zu korrelieren277.

Vgl. dazu die Darstellung zur >Computerforschung< (Scheuch 1960:110f und 1973:195ff). Ein typisches Beispiel für die Datenanalyse in dieser Phase liefert die sechsbändige von Holm herausgegebene Reihe >Die Befragung«. In vielen Beiträgen, von der Dateneingabe bis zu den verschiedenen Analyseverfahren, wurden neben der Beschreibung einzelner Verfahren die entsprechenden Computerprogrammen, vor allem in FORTRAN und in ALGOL, dargelegt. In einem amerikanischen Text hieß es dazu: »Manchmal läuft ein Forscher >Amok< mit einer IBM-Maschine und bezieht jede Variable auf jede andere Variable« (Selltiz u.a. [1951] 1972:227).

V. Methoden und Methodendiskurse

341

Ein spezifisches Arbeitsfeld, das sich mit der fortschreitenden Computertechnologie eröffnete, war die Modellbildung und Simulation. In der amerikanischen Literatur der frühen sechziger Jahre wurde der Computersimula-

tion zeitweise eine revolutionäre Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt zugemessen (Harbordt 1970:4941). Die Konstruktion von Modellen setzte voraus, daß sozialwissenschaftliches Wissen in hohem Maße formalisiert wird. Diese Formalisierung wurde jedoch von den damaligen Protagonisten der Modellbildung durchaus als Chance begriffen278. Praktische Erfahrungen im sozialwissenschaftlichen Bereich wurden in der Bundesrepublik z.B. im Rahmen von Simulationsstudien zum Bildungssystem gemacht279. Harbordt berichtete, daß, wie auch bei Mayntz angesprochen, der Zwang zur Explikation und Präzisierung von Zusammenhängen durchaus heilsam sei; dabei wurden sowohl im Bereich der Daten (der empirischen Sozialforschung wie der amtlichen Statistik) als auch in der Theorie erhebliche Lücken sichtbar. Insbesondere sei der Stand der soziologischen Makrotheorie ernüchternd. Anders wird die Situation im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung oder der Entscheidungsforschung eingeschätzt, da dort die Datenlage und der theoretische Stand entwickelter seien. Im weiteren Verlauf der methodischen Diskurse verloren die Verfahren der Modellbildung und Simulation in der (im engeren Sinne) sozialwissenschaftlichen Forschung zunächst an Bedeutung; erst in den achtziger und neunziger Jahren zeichnete sich, auch im Zusammenhang des RationalOo/ce-Ansatzes, eine neue Konjunktur dieser Forschungsansätze in den Sozialwissenschaften ab280.

2.

Entwicklungstrends der Erhebungs- und Auswertungsmethodik

Mit der zunehmenden Verwendungsorientierung empirischer Forschung entwickelten sich auch spezifische Forschungsdesigns, wie z.B. die Evaluations- und Wirkungsforschung, die Begleitforschung, die Implementationsforschung oder auf der anderen Seite die Aktionsforschung. Sie zeichneten sich alle dadurch aus, daß der Forschungsprozeß nicht länger ausschließlich einer wissenschaftlichen Rationalität folgte, sondern zugleich ein Arrangement mit den feldspezifischen Kräfteverhältnissen, Handlungslogiken und Legitimationsmustern eingehen mußte. Während die Aktionsforschung in Sie »zwingt dazu, ausdrückliche Annahmen zu machen über die Zahl und Art der entscheidenden Faktoren, über die Art der Abhängigkeit unter ihnen (z. B. auch über deren Linearität oder Nicht-Linearität), über die Konstanz von Koeffizienten usw.« (Mayntz 1967:27). Dennoch blieb Mayntz gegenüber dem Problem, ob die formale Sprache der Modelle dem soziologischen Gegenstand angemessen sei, eher indifferent. Unter der Leitung von Klages arbeitete an der TU Berlin eine Arbeitsgruppe Computersimulation«. Nach Klages (1998:376) waren in diesem Projekt etwa ein Dutzend Personen tätig. 280Vgl. dazu z.B. Esser/Troitzsch(1991)undEsser(1993:119ff). -

342

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

ihrer Radikalität noch ein gewisses Ansehen im sozialwissenschaftlichen Feld erlangte, blieb dies der Evaluationsforschung eher versagt; eine systematische Beschäftigung mit den Grundlagen und Problemen der Evaluationsforschung erfolgte ungeachtet ihrer praktischen Bedeutung eher an den Rändern oder in benachbarten Disziplinen wie der Psychologie, den Erziehungswissenschaften oder in der Verwaltungswissenschaft. Detaillierte Angaben über Forschungsdesigns wurden in der Forschungserhebung des Zentralarchivs erst ab Ende der achtziger Jahre erfaßt. Eine grobe Abschätzung läßt sich jedoch aus der Kategorisierung der eingegangenen Projekte ersehen. So lag Ende der siebziger Jahre (1978, 1979, 1980) der Anteil der empirisch arbeitenden Projekte an der Gesamtzahl der gemeldeten Projekte zwischen 52% und 56%. Der Anteil der >quantitativen< Projekte (nach der Bestimmung des ZA) an allen gemeldeten Forschungsarbeiten ging zwischen 1978 und 1980 von 35% auf 26% zurück und pendelt sich in den achtziger Jahren auf etwa 25% ein; zu Beginn der siebziger Jahre hatte dieser Anteil noch bei knapp 50% gelegen. inwieweit diese Entwicklungen einer Veränderung im Antwortverhalten der befragten Einrichtungen und Personen geschuldet ist, oder ob damit Veränderungen in der Forschungspraxis abgebildet werden können, ist nur schwer zu entscheiden. Die relative Stabilität der Zahl der gemeldeten Projekte ab den siebziger Jahren könnte als ein Hinweis auf tatsächliche Veränderungen in der Forschungstätigkeit verstanden werden. Die These von einer Renaissance der qualitativen Sozialforschung, die in den späten siebziger Jahren einsetzt, wäre insofern belegt; dennoch bleiben Zweifel281.

a) Erhebungsmethoden René

Königs Diktum vom Interview als dem >Königsweg< der Sozialforschung scheint weiterhin Bestand zu haben. Das (standardisierte oder nichtstandardisierte) persönliche Interview machte Ende der siebziger Jahre etwas weniger als die Hälfte aller Methodenangaben der gemeldeten Projekte aus. Aber auch der Anteil schriftlicher Befragungen, deren Rücklaufquoten im Laufe der Zeit deutlich verbessert werden konnten, hatte in dem betrachteten Zeitraum zugenommen, im Vordergrund standen dabei eher die quantifizierenden Forschungsvorhaben. Andere Verfahren der Befragung, wie das Experteninterview und das Gruppeninterview spielten mit 24 bzw. 15% eine zu beachten, daß auch unter den nach der ZA-Klassifizierung nicht->quantitativen< Produrchaus Projekte vertreten sein können, die mit einem standardisierenden Erhebungsinstrumentarium und entsprechenden Auswertungsverfahren arbeiten; inwieweit die übrigen nicht quantitativen Projekte mit einem elaborierten (methodisch reflektierten) qualitativen Instrumentarium arbeiteten, muß dahingestellt bleiben; darüber hinaus ist auch in diesem Zusammenhang nichts über die Größe und die fachliche Bedeutung der Projekte gesagt. Vermutlich haben wir es auch, weit stärker als es in einer solchen Dichotomie erscheint, mit einem Mix von Forschungsmethoden zu tun. Die der DGS-Forschungsenquête entnommenen Angaben zu den Erhebungsmethoden deuten auf einen solchen Mix hin.

So ist

jekten

V. Methoden und Methodendiskurse

343

deutlich geringere Rolle. Das Experteninterview wurde dabei stärker im Rahmen nicht-standardisierender Erhebungen eingesetzt; bei der Gruppendiskussion sind überraschenderweise keine nennenswerten Unterschiede erkennbar282 [C47]. Erhebungsverfahren wie Beobachtung und Inhaltsanalyse wurden jeweils in etwa einem Viertel der gemeldeten empirischen Projekte eingesetzt. Einen hohen Anteil hatten darüber hinaus Verfahren der Aktenund Dokumentenanalyse, auch hier scheint die nicht-standardisierte Form zu überwiegen. Experimente und Tests spielten in der Forschungserhebung des Zentralarchivs nur eine untergeordnete Rolle. Auch in der 1974 durchgeführten Forschungsenquete der DGS, die auf die Angaben örtlicher Berichterstatter zurückging, wurden Angaben zu vorherrschenden Forschungsmethoden gemacht. Als erstes springen die recht großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Forschungseinrichtungen ins Auge283 [C48]. Zwar dominierte bei allen Einrichtungen das Interview als Erhebungstechnik; während der Schwerpunkt bei den Hochschuleinrichtungen jedoch stärker auf den standardisierten Varianten lag, standen bei den hochschulfreien Instituten eher die weniger standardisierten Interviewverfahren im Vordergrund. Insgesamt zeigte sich nach diesen Daten im Hochschulbereich ein deutlich schmaleres Methodenspektrum als im übrigen Forschungsfeld284; die Hochschulen vermochten hier kaum den ihnen gestellten Aufgaben nachzukommen285. Nicht nur die institutionelle Struktur der Forschungseinrichtungen, sondern auch die unterschiedlichen Teilbereiche der Soziologie scheinen in dieser Phase spezifische Methodenkulturen ausgebildet zu haben286.

Methodenforschung

Mit der Entwicklung der Umfrageforschung zum dominanten Erhebungsverfahren entstand auch das Interesse, diese Forschungspraxis eingehender

282ZA(1979:XXI). 283

Lutz (1975:31). In einem Lokalbericht aus der DGS-Forschungsenquête hieß es dazu mit polemischem Unterton: »Die Soziologen selbst fassen ihre Arbeit immer noch weniger als organisierte, großteils auch handwerkliche Arbeit auf, sondern betrachten sie primär unter dem Gesichtspunkt von Kreativität mit durchaus intellektuell-journalistischem Gepräge« (zit. nach Lutz 1975:32). !85 In der von der DGS verantworteten Enquête hieß es: »Die geringe Fähigkeit gerade der Hochschulinstitute zur methodischen Innovation läßt den Anspruch der Hochschulforschung auf Schaffung von Grundlagen für anderswo zu leistende angewandte Forschung fragwürdig erscheinen« (Lutz 1975:33). Es ist jedoch zu beachten, daß diese Einschätzung aus dem lahre 1974 stammt; sie kann nicht umstandslos auf die Entwicklungen der folgenden Jahre extrapoliert werden. 286 In dem Artikel > Industriesoziologie« von Lutz und Schmidt für das Handbuch Empirische Sozialforschung wurde auf »weit ausgreifende Methodeninnovationen« ([1969] 1977:229) verwiesen: Bei der Entwicklung qualitativer Interviewtechniken (inkl. Gruppeninterviews und Expertenbefragungen), bei der Verfeinerung und Systematisierung von Betriebsfallstudien, bei der Systematisierong der Prozeß- und Arbeitsplatzbeobachtung und bei der Nutzung stärker formalisierter Verfahren der Organisations- und Entscheidungsforschung. Ansätze zu einer stärker mikrosoziologischen Fundierong der industrie- und betriebssoziologischen Forschung (König 1956c) konnten sich nicht durchsetzen.

344

C. Die >Große Zeit« der empirischen Sozialforschung (1965-1980)

erkunden. Wie die 1952 durchgeführte Tagung empirische Sozialforschung zeigte, ging diese Fragestellung zunächst von den Meinungsforschungsinstituten aus. Mit der Etablierung der Sozialwissenschaften und der empirischen Sozialforschung an den Hochschulen erhielt das Interesse am

zu

Interview und der Interviewsituation einen anderen Akzent: die Hochschulforschung grenzte sich gegen die nicht-wissenschaftlichen Vettern ab Seit den sechziger Jahren entstanden insbesondere im Kölner Forschungskontext viele Untersuchungen, die verschiedenen Aspekten des Interviews nachgingen: das instrument287, das Verhalten der Interviewer288, die Interviewsituation (verbale Interaktion), das Befragtenverhalten289. Viele dieser Forschungen bewegten sich eher auf der Ebene einer Binnenkritik; seltener wurde den grundsätzlichen Problemen des Aussagewerts der Angaben im Interview oder den Problemen der Einstellungsforschung nachgegangen290. Diese Forschungen haben dazu beigetragen, das Wissen um den Forschungsprozeß bei der standardisierten mündlichen Befragung zu erweitem, mögliche Quellen für Artefakte zu erkennen; allgemein ist darüber ein kritisches Methodenbewußtsein entstanden. Inwieweit dieses Wissen aber zu einer Veränderung der Forschungspraxis beigetragen hat, ist nicht abzusehen; hier traten eine Reihe weiterer Faktoren hinzu: Die Forschungspraxis der Markt- und Meinungsforschungsinstitute stand unter einem hohen Kosten- bzw. Effizienzdruck; d.h. Innovationen waren insoweit von intéresse, wie sie weitgehend kostenneutral und effizienzsteigernd waren, oder wie sie neue Dienstleistungen und Märkte erschlossen. Ob Verbesserungen im Erhebungsprozeß hierzu dienen konnten, ist fraglich; die Hartnäckigkeit, mit der an der Quotenstichprobe festgehalten wurde, spricht für sich. Auch die stärker dem wissenschaftlichen Feld verpflichteten Forschungsarbeiten an Forschungsinstituten und Hochschuleinrichtungen haben dieses erweiterte Wissen um die Probleme der standardisierten Befragung nicht in dem Maße genutzt, wie es möglich gewesen wäre. fm Zuge der Methodenforschung war deutlich geworden, daß es sich beim standardisierten Interview, wenn die damit hervorgebrachten Befunde einem wissenschaftlichem Anspruch genügen sollen, keineswegs um ein einfach zu handhabendes, universell einsetzbares und relativ voraussetzungsloses instrument handelte. Eine konsequente Umsetzung der Befunde der Methodenforschung hätte genau jene Vorteile der Interviewforschung, die auch zu ihrer weiten Verbreitung beigetragen hatten, konterkariert. -

-

Die Konstruktion von Fragebögen (Kreutz/ Titscher 1974), die Theorie der Frage bzw. der Fragebatterie (Holm 1974a und b), Probleme des Frageaufbaus (Noelle-Neumann 1974), die Instruder Befunde (Blinken 1978), das Konstrukt der Zufriedenheit (Ipsen 1978). mentenabhängigkeit 288 Die Interviewer (Erbslöh/ Wiendieck 1974), die unkontrollierte Einflußnahme (Erbslöh 1973). Meinungslosigkeit (Leverkus-Brüning [1964] 1966, Laga/Lauffer 1980), soziale Regelmäßigkeiten (Esser 1975a), response-sets (Nunner-Winkler 1970, Esser 1977). 290 Vgl. Weltz (1963) oder Berger (1974).

V. Methoden und Methodendiskurse

345

Manche der von der Methodenforschung zu Tage geförderten Probleme ließen sich nicht grundsätzlich lösen; allenfalls konnte versucht werden, bestimmte Effekte zu minimieren oder ihren Einfluß genauer abzuschätzen291. Zu einer Umsetzung der Befunde der Methodenforschung trug auch der Aufbau der sozialwissenschaftlichen Infrastruktureinrichtungen, insbesondere des ZUMA, bei; hier wurden Beratungsmöglichkeiten angeboten, man entwickelte Standarddemographien und gab Skalen-Handbücher heraus.

-

b) Auswertungsmethoden Im Bereich der Auswertungsmethodik für standardisierte Daten sind im untersuchten Zeitraum wesentliche >Innovationen< vor allem im Bereich der multivariaten Analyse zu verzeichnen292. Das Zentrum dieser Innovationen lag in den USA; hier hatte sich in den sechziger und siebziger Jahren die quantifizierende Sozialforschung als vorherrschender Typus durchgesetzt293 [C49]. Zudem machten hier neue datenverarbeitende Technologien den Einsatz mancher multivariater Verfahren überhaupt erst praktikabel. Das Bemühen um einen Transfer der amerikanischen Entwicklung läßt sich an den Methodenberichten Scheuchs294 ablesen. In seinem Bericht von 1973 beschrieb er den Übergang von der vormals hauptsächlich bivariaten Analyse von Korrelationsbeziehungen zur multivariaten Analyse, die insbesondere von Lazarsfeld und seinen Schülern angestoßen wurde. Als eine methodische Innovation, die in Zusammenhang mit der Nutzung von Computern an Stelle von Fachzählsortierern stand, stellte er die Kontrastgruppenanalyse (tree-analysis) vor; darüber hinaus ging er auf die Pfadanalyse und die Faktorenanalyse ein; ausführlich wurde auch die Mehrebenenanalyse dargestellt. Im Rahmen der sogenannten >Computerforschung< stellte Scheuch Verfahren der Modellbildung und Simulation vor und erläuterte die Möglichkeiten einer systematischen Inhaltsanalyse. Auch in dem Bericht von 1976 standen die Pfadanalyse und die Analyse von Korrelationsbeziehungen im Vordergrund. Besonders hervorgehoben wurden auch die Arbeiten Goodmans, seine Beiträge zur Tabellenanalyse und das General Model. Hieraus wurden unterschiedliche Konsequenzen gezogen: auf der einen Seite bemühte man sich um eine Verbesserung der Instrumente und ihrer Handhabung; auf der anderen Seite verzichtete man im Kontext der qualitativen Sozialforschung auf den Anspruch einer standardisierten Erhebung sozialer Phänomene. Die Methodenforschung hatte so einen zweischneidigen Effekt: die Befunde der mit dem Ziel der Qualitätssteigerung betriebenen Forschung wurden von Skeptikern um ihre Zweifel an diesem Königsweg zu fundieren. genutzt, 192 Wenn von Innovation gesprochen wurde, so bezog sich das auf die Nutzung dieser Techniken für die sozialwissenschaftliche Forschung; an der langen Vorgeschichte der Faktorenanalyse oder der Varianzanalyse ist abzulesen, daß die Entwicklung eines Analyseverfahrens und seine breitere Nutzung in der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse weit auseinanderfallen. Die meisten der in den sechziger und siebziger Jahren in den Sozialwissenschaften eingesetzten multivariaten Verfahren gingen auf methodische Arbeiten insbesondere der dreißiger und vierziger Jahre zurück. 293 Vgl. Borgatta/ Bohrnstedt (1988:3). 294 Vgl. Scheuch (1960, 1973 und 1976).

346

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Neben den Prozessen der transnationalen Diffusion spielten Prozesse der fachlichen Diffusion bei der Verbreitung der statistischen Verfahren eine zentrale Rolle. Sie vollzog sich meist von den Natur- und Technikwissenschaften, die in weitaus stärker mit metrischen Daten arbeiteten, zu den Sozialwissenschaften. Sie fand aber auch innerhalb der Sozialwissenschaften (im weiteren Sinne) statt, dort kam der Ökonomie und der Psychologie eine >Vorreiterrolle< beim Umgang mit metrischen Daten zu. Wie diese Innovationen im Bereich der statistischen Verfahren im deutschsprachigen Methodendiskurs rezipiert wurden, läßt sich einer Analyse der Publikationen entnehmen [C50]. Zahlenmäßig am bedeutsamsten waren die Publikationen zur Korrelations- und Regressionsanalyse und zu multivariaten Analyseverfahren295. Sie verzeichneten zwischen 1965 und 1970 und in den folgenden Fünfjahresintervallen bis Anfang der neunziger Jahre starke Zuwächse. In den achtziger Jahren erschienen ca. 350 Titel zu Verfahren der Korrelations- und Regressionsanalyse und mehr als 200 Titel, die sich allgemein mit Fragen der multivariaten Analyse befaßten. Demgegenüber spielten andere statistische Verfahren eine deutlich nachgeordnete Rolle. Zum Prototyp eines multivariaten Analyseverfahrens ist die Faktorenanalyse zu rechnen; erste Publikationen finden sich bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in der Bildungs- und >IntelligenzKonjunkturkurve< der Logit- bzw. der loglinearen Modelle. Vergleicht man nun die Rolle, die einzelne Verfahren im allgemeinen wissenschaftlich-statistischen Diskurs spielten, mit ihrer Bedeutung in den Sozialwissenschaften, werden gewisse fachspezifische Akzentuierungen erkennbar296. Der Rekurs auf statistische Verfahren in soziologischen Zeitschriften zeigt in der Grobstruktur ähnliche Muster, wie sie bei der Analyse der deutschsprachigen Publikationen insgesamt ersichtlich werden297 [C51]: multivariate Verfahren waren von wachsender Bedeutung; bei den einzelnen 295

Eigene Recherchen auf Basis der Angaben der Deutschen Bibliothek. Als Indikator wurde die Nennung dieser Verfahren in allgemeinen soziologischen Zeitschriften gewählt; spezifische Methodenzeitschriften wurden nicht einbezogen, so daß die Befunde eher etwas darüber aussagen, wie stark die einzelnen Verfahren in einen allgemeinen Diskurs um sozialwissenschaftliche Forschung eingegangen sind. Eine Auswertung über alle in der Datenbank verzeichneten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften ergibt nur bei einzelnen Verfahren, wie der Varianz- und der Clusteranalyse eine Verschiebung der Befunde. Eigene Recherchen auf Basis der Angaben der SOLIS-Datenbank des Informationszentrums Sozialwissenschaften. Ausgewertet wurden die KZfSS, SW, ZfS sowie die Österreichische und Schweizerische Zeitschrift für Soziologie.

V Methoden und Methodendiskurse

347

Verfahren kam der Regressions- und Korrelationsanalyse eine vorherrschende Stellung zu. Verfahren wie die Faktorenanalyse scheinen ausgeprägten Konjunktur unterworfen: sie wurde bereits relativ früh für sozialwissenschaftliche Analysen eingesetzt; ihre >Blütezeit< lag zwischen 1975 und 1980; nach einem Bedeutungsverlust wurde sie jedoch in den neunziger Jahren wieder stärker erwähnt. Auch die übrigen multivariaten Verfahren zeigen ähnliche Verläufe; nur unterschied sich der Stellenwert, den sie im sozialwissenschaftlichen Diskurs innehatten: im sozialwissenschaftlichen Bereich spielten die Pfadanalyse und die Mehrebenenanalyse eine vergleichsweise stärkere Rolle; demgegenüber kam der Cluster- und vor allem der Diskriminanzanalyse eine eher untergeordnete Rolle zu. Der Diskurs um die Methoden der empirischen Sozialforschung spielte in den deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften nicht unbedingt eine Hauptrolle; das hing neben der redaktionellen Orientierung auch damit zusammen, daß die Schwerpunkte der methodischen Innovation und Implementation nach wie vor in den USA lagen.298 In den Erhebungen des Zentralarchivs wurde im Klartext auch nach den für die Auswertung eingesetzten statistischen Verfahren gefragt2" [C52]. Danach dominierten, ähnlich wie in den Fachzeitschriften, verschiedene multivariate Verfahren die Analyse des quantitativen Datenmaterials (Pfadanalyse, Faktorenanalyse etc.). An zweiter Stelle rangierten mit etwa gleichem Stellenwert >Korrelationsverfahren< und Verfahren der >Tabellenanalysereale< Forschungspraxis; auch die Berichterstatter des Zentralarchivs zeigten sich vom hohen Anteil multivariater Analysetechniken überrascht (ZA 1982:XXVIII).

348

C. Die >Große Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

Zwischen 1960 und 1985 hat sie sich verzwanzigfacht301 [C53]. Die Verteilung dieser Ausbildungsanstrengungen auf einzelne Bereiche der Sozialforschung kann näherungsweise an den Veranstaltungstiteln abgelesen werden302. Etwa 60% der Veranstaltungen sind dem Bereich empirische Sozialforschung zuzurechnen; ein weiteres Viertel bezog sich auf ausgewiesene Statistikveranstaltungen. Dieser Anteil ist vermutlich unterschätzt, da verschiedenenorts auf die Statistikausbildung anderer Fachbereiche zurückgegriffen wird. Empirische Praktika haben in der Anfangsphase der Methodenausbildung eine wichtige Rolle gespielt; in den siebziger und achtziger Jahren lag ihr Anteil bei etwa 15%. Als ein Novum finden sich seit den siebziger Jahren spezielle Einführungen in die Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung für die sozialwissenschaftliche Datenanalyse. Die Anteile der empirischen Ausbildung am gesamten Lehrangebot der Sozialwissenschaften er wird in den Analysen der Vorlesungsverzeichnisse eher unterschätzt -, indizieren den hohen Stellenwert, der diesem Bereich zugemessen wurde. Scheuch kam 1976 zu der Einschätzung, daß das Lehrangebot durchaus dem amerikanischen Stand entspreche (1976:85). -

b) Lehrbücher Jahren insbesondere mit den in >Köln< entstandenen war fünfziger erste eine der Veröffentlichungen Grundlage Methodik der empirischen Sozialforschung gelegt worden; dennoch blieb die Situation auch angesichts der oft noch wenig geregelten sozialwissenschaftlichen Ausbildung prekär303. Diese Situation veränderte sich durch die mit den steigenden Studierendenzahlen wachsende Nachfrage nach einführenden Darstellungen. Die Produktion von Lehrbüchern hatte für die Entwicklung der empirischen Sozialforschung eine wichtige Funktionen; das gilt sowohl für die Binnenwie für die Außenperspektive. Sie hatte zunächst einen eher pragmatischen Hintergrund, als es galt, eine ständig steigende Zahl von Studierenden in Haupt- und Nebenfachstudiengängen in die Theorien und Praktiken von Statistik und empirischer Forschung einzuführen, sie auf Prüfungen vorzubereiten etc. Die in den fünfziger Jahren praktizierte Ausbildung, bei der Studierende neben einer weniger geregelten theoretischen Ausbildung als Hilfskräfte in laufende Untersuchungen einbezogen wurden, war unter den veränderten Rahmenbedingungen nicht aufrecht zu erhalten. Die methodische In den

301

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Klima (1979:236ft) und Heitbrede (1986:111). Deren begriffliche Fassung kann jedoch örtlich recht unterschiedlich sein. Unter dem Etikett >empirische Sozialforschung« wurden oft integrierte Einführungsveranstaltungen in die Erhebungs- und Auswertungsmethodik empirischer Forschung angeboten; teilweise wurden damit aber 102

auch

spezielle Veranstaltungen zu Forschungsdesigns und Erhebungsmethoden bezeichnet. Lepsius charakterisierte die fünfziger Jahre mit den Worten: »Nicht zufällig wurden kaum Lehrbücher oder Einführungen veröffentlicht. Die lebhafte Entwicklung hatte Merkmale eines positiven Dilletantismus und eines bewußten Eklektizismus; weder methodologisch noch theoretisch kam es zu kodifizierten Prägungen der soziologischen Forschung« (1976a:3).

V Methoden und Methodendiskurse

349

Ausbildung wurde zunehmend von der >inhaltlichen< Ausbildung geschieden; es bildeten sich formell oder informell Experten der empirischen Sozialforschung heraus, denen diese Ausbildung nunmehr oblag. Das hohe Maß an Korrespondenz zwischen den verschiedenen Lehrbuchdarstellungen brachte zudem einen Kanonisierungseffekt hervor; hier wurde dargelegt, was legitimerweise der empirischen Sozialforschung zuzurechnen ist und was nicht. Die zukünftigen Produzenten und Rezipienten von empirischer Forschung wurden in diesen Ordnungsrahmen eingewiesen.

Daneben bekamen die Lehrbücher in dem sich konstituierenden Feld der universitären Sozialwissenschaften auch eine strategische Funktion: mit einer ausweisbaren Methodik konnte der Nachweis geführt werden, daß es sich bei den Sozialwissenschaften um eine Disziplin handelte, die sich wissenschaftlich von ihrer Vorgeschichte abzugrenzen wußte: das hochformalisierte Handwerkszeug wies die eigenen Praktiken als wissenschaftlich aus. Auch in den innerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen, im Kampf um die Durchsetzung des legitimen (Selbst)Verständnisses von empirischer Sozialforschung innerhalb der Sozialwissenschaften spielten solche Veröffentlichungen eine Rolle. In den Lehrbüchern dominierte ein Wissenschaftsund Forschungskonzept, das legt man die großen Linien sozialwissenschaftlicher Selbstverständigung zu Grunde sich eher am Verständnis der >Kölner< Fachvertreter orientierte. Die diesen Darstellungen eigene Abgrenzung gegenüber geisteswissenschaftlichen Orientierungs- und Arbeitsweisen wurde zu einer Distinktion gegenüber der Sozialphilosophie erweitert. -

-

Lehrbücher zur empirischen Sozialforschung Nur einige der einführenden Veröffentlichungen aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren fanden auch in den siebziger Jahren noch Verbreitung. Hierzu gehörten, neben dem Handbuch der empirischen Sozialforschung, das in einer Taschenbuchausgabe verfügbar war, die beiden Bände aus der Reihe praktische Sozialforschung der Interviewband erschien 1976 zuletzt in der zehnten Auflage und die Einführung von Noelle-Neumann (1963), die bis 1976 verlegt wurde, dann aber noch einmal Ende der neunziger Jahre überarbeitet wurde. In den späten sechziger Jahren entstanden die ersten klassischen Lehrbücher zu den Methoden der empirischen Sozialforschung. Zunächst Mangolds (1967) >Empirische Sozialforschung. Grundlagen und Methoden< bzw. Mayntz, Holm und Hübners (1971) >Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie«. Sie erreichten drei bzw. fünf Auflagen. Es folgten dann die beiden longseller, Atteslanders (1969) >Methoden der empirischen Sozi-

-

alforschung« und Friedrichs (1973) >Methoden empirischer SozialforschungGroße Zeit« der empirischen

Sozialforschung (1965-1980)

60.000

gedruckten Exemplaren erreicht. Später folgten weitere Einführungen (von Alemann 1977, Kromrey [C54]. Daneben findet sich eine Reihe weiterer einführender Darstellungen mit durchaus ähnlicher von

1980)304

Konzeption.

Ambitionierter war die Übersetzung des von Selltiz, Jahoda, Deutsch und Cook (1972) verfaßten amerikanischen Lehrbuchs Research Methods in Social Relations305, in dem eingehend Fragen der Forschungsplanung behandelt und ein breites Spektrum von Verfahren der Datensammlung offeriert wurde. Der Text von Hartmann richtete sich eher an fortgeschrittene Studierende; mehr als viele andere Autoren ging Hartmann 1970 davon aus, daß in jener Zeit ein Überblick über die empirische Sozialforschung »nicht als Bestandsaufnahme geltender Regeln« erfolgen könne, sondern nur »als Bericht über Probleme und Entwicklungen« (9), so der Untertitel. Der Aufbau der oben genannten >populären< Lehrbücher wies große Ähnlichkeiten auf: der Schwerpunkt lag auf der Anlage von Forschungsarbeiten und beim Erhebungsprozeß; demgegenüber wurde die Auswertung (standardisierter) Daten in der Regel nur in einer kurzen Überblicksdarstellung skizziert. Unterschiede306 zeigten sich in den Bildern, die vom Prozeß der Sozialforschung vermittelt wurden (eher wissenschaftstheoretisch bzw. eher pragmatisch orientiert), in der Akzentuierung der einzelnen Themenbereiche (Dominanz der standardisierten Befragung bzw. breite Palette von Erhebungsverfahren) und in der Aufbereitung des >StoffesNormalbetrieb< (seit 1980)

lisieren und für rein legitimatorische Zwecke einzusetzen. Schneider beschreibt, wie sich der Administration mit der Verwendung wissenschaftlich beglaubigten Wissens eine Möglichkeit bietet, politische Funktionen wahrzunehmen, ohne dafür legitimiert zu sein: durch den Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse »können politische Entscheidungen in sachliche Erfordernisse konvertiert werden und als solche gegenüber der politischen Leitung, anderen Ressorts oder der Öffentlichkeit vertreten werden« (326). Weymann und Wingens kommen angesichts ihrer Analyse zur Wissensverwendung in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zu dem Schluß, daß »die gegenüber Wissenschaft kompetenten, professionell orientierten und zugleich überlegenen Verwender zum >dîner à la carte< gegenüber wissenschaftlichem Wissen in der Lage sind, je nach eigenem aktuellen und potentiellen Handlungsbedarf« (1989:294).

b) Sozialwissenschaftliches Wissen im Feld der industriellen Beziehungen Verglichen mit der Wissenschaft-Praxis-Konstellation im Bereich der öffentlichen Verwaltung war die Distanz zwischen Unternehmen und Industriesoziologie weitaus größer. Naschold (1984:92f) beschreibt Betrieb und Wissenschaft als selbständige Systeme mit je eigener Identität und Logik (Handlungsdruck, Grad des Konsensualität, Zeitstruktur, Zielsetzungen, Innovationsdynamik etc). Daraus erwuchsen Erwartungshaltungen, die auch

innerhalb eines Betriebes umstritten und im zeitlichen Verlauf veränderbar erhoffte sich legitimatorische Leistungen der Wissenschaft; die Befunde sollten auf ähnlichem Meßniveau wie die der Ingenieurwissenschaften liegen; man erwartete unmittelbar umsetzbare Rezepte. Diese Erwartungen lassen industriesoziologische Forschung als wenig effizient erscheinen. Naschold schlägt demgegenüber vor, die Probleme zwischen Wissenschaft und Betrieb als Interaktionsprobleme zu begreifen und demnach die Qualität industriesoziologischer Forschung vor dem Hintergrund der Entwicklung dieses Verhältnisses zu begreifen. Forschung habe dazu beitragen können, die in Betrieb und Administration vorherrschenden Vorstellungen eines technologischen Determinismus zu erschüttern; auch konnte gezeigt werden, daß die gewerkschaftlicher- und politischerseits verbreitete Annahme eines engen Zusammenhangs von technologischem und sozialem Fortschritt für die heutige Zeit immer weniger adäquat sei. Ein weiteres Problem der Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens in betrieblichen Kontexten lag in der Akzentuierung der Wissensbestände der Industrie- und Betriebssoziologie. In dem Maße, wie sich die Marxsche Theorie als dominantes Paradigma etabliert hatte, geriet die betriebssoziologische Forschungstradition ins Hintertreffen, der Betrieb verschwand in der Logik eines ökonomischen oder technologischen Objektivismus56. waren: man

56

Vgl. dazu Brandt (1984), Minssen (1993:192), Geck (1951) und Ortmann(1995:31).

II.

Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis

389

Die Probleme einer verwendungsorientierten Forschung sollen am Beispiel der Begleitforschung und der Beratung analysiert werden. Die im Rahmen des Programms zur Humanisierung des Arbeitslebens eingerichtete sozialwissenschaftliche Begleitforschung brachte für die Industriesoziologie einen neuen Anwendungstypus hervor: »Traditionelle Forschungstätigkeit, begleitende Beratung der Betriebsparteien und die Vorbereitung von Gestaltungsmaßnahmen sind ihre Aufgaben. Dabei ist der Industriesoziologe eingespannt in Kooperations- und Abstimmungsprozesse mit den betrieblichen Parteien, der staatlichen Förderinstanz, besonderen Gutachtergremien und den Vertretern der anderen beteiligten Fachdisziplinen, Arbeitswissenschaftlern, Technikern usw.« (Hilbig 1984:167). Das klassische Forschungsprogramm wurde um die Komponenten sozialwissenschaftliche Beratung und Evaluation erweitert. Was unter Begleitforschung verstanden wurde, blieb diffus57. Braczyk (1984) skizzierte unterschiedliche Konstellationen der Beziehungen von Soziologen und industriellen Praktikern und resümiert die Erfahrungen der Begleitforschung in einem Konzept der realistischen Kooperation«^ Die Zusammenarbeit sei sowohl am Sinnsystem Forschung/Wissenschaft als auch am Sinnsystem industrielle Praxis orientiert. Weltz sah die Schwierigkeiten der Begleitforschung in dem überzogenen Ansatz des Programms und in der Unbestimmtheit des Beitrags der Sozialwissenschaftler. Darüber hinaus verwies er auf eine Reihe von spezifischen Defiziten der Begleitforschung im Humanisierungsprogramm: es habe fachliche und theoretische Defizite gegeben, und das methodische Instrumentarium war wenig geeignet, »im Durchsetzungszusammenhang eines Begleitforschungsprojektes eine Arbeitsbasis zu konstituieren« (1982:300). Den industriesoziologischen Forschern sei es nicht gelungen, in der Konkurrenz zu anderen Disziplinen ihren Standpunkt zu verkaufen. Vom Anspruch der Beratung hatte sich die industriesoziologische Forschung lange Zeit distanziert. Minssen (1993:188f) schildert typische Argumentationen der Skeptiker: die These, daß soziologisches Wissen generell handlungsirrelevant sei, daß es der Industriesoziologie an beratungsrelevantem Wissen mangele; schließlich würden auch politisch-ideologische Einwände vorgebracht. Insbesondere das letzte Argument ist eng mit dem kritischen Anspruch der westdeutschen Nachkriegsgenerationen der Soziologie verknüpft. Auch diejenigen, die sich nicht mit dem Label der >arbeitnehmerorientierten Wissenschaft identifizierten, standen einer sozialwissen-

-

Kromrey schlägt unabhängig vom industriesoziologischen Verwendungszusammenhang folgende Bestimmung vor: »Dieser Begriff besagt, daß der Sozialwissenschaftler zeitgleich mit der Durchführung eines Maßnahmenprogramms tätig wird (...). Das Untersuchungsdesign ist wo immer möglich an der Experimental-Logik orientiert. Die Begleitung kann bereits in der Planungs- und Entwicklungsphase beginnen (Systementwicklung); sie kann neben der Erprobungsphase des noch vorläufigen Systems oder Angebots (Pilotprojekte) auch die ggf. sich anschließende endgültige Einführung (Implementation) umfassen« (1988:2). -

-

-

-

390

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

schaftlichen Beratung distanziert gegenüber. Auch seitens der Unternehmen bestanden große Vorbehalte gegenüber der Industriesoziologie. Entgegen dieser Vorbehalte begriffen Bollinger und Weltz den Einstieg der Industriesoziologie in die Beratung als eine Chance. Über den Beratungsprozeß und die zugrunde liegende teilnehmende Beobachtung erschlössen sich der Industriesoziologie Einsichten, die »mit orthodoxen Methoden kaum erreichbar sind« (1989:249); damit sei eine Weiterentwicklung des in-

dustriesoziologischen Forschungsstandes möglich. Zur methodischen Fundierung der sozialwissenschaftlichen Beratung setzten Bollinger und Weltz auf Verfahren der beobachtenden Teilnahme^ darunter verstanden sie sowohl die beratende Tätigkeit und den Entwurf von Gestaltungsvorschlägen wie auch die Teilnahme an den Durchsetzungsprozessen. Als ein spezifisches Kapital begriffen sie ihren Status als Außenstehende, die nicht ohne weiteres mit einzelnen betrieblichen Partikularinteres-

sen identifizierbar waren; in diesem Sinne wandten sie sich auch gegen eine arbeitnehmerorientierte Wissenschaft, die allzu schnell in interessenpolitische Debatten einsteigt. Trotz der Kritik am (damaligen) industriesoziologischen mainstream war der von Bollinger und Weltz vorgebrachte Beratungsansatz noch recht stark mit dessen leitenden Vorstellungen verknüpft. Damit unterschied sich der von ihnen vertretene Beratungsansatz von den später in den neunziger Jahren vertretenen Konzepten einer sozialwissenschaftlichen Beratung (s. S.

39613).

c) Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens: der Mikrozensus Über die Verwendung von Daten aus der amtlichen Statistik lagen bislang

keine verläßlichen Angaben vor; das hängt auch damit zusammen, daß es zum Wesen der amtlichen Statistik gehört, »daß die Daten nach ihrer Aufbereitung für die verschiedensten, nicht von vomeherein bestimmbaren Aufgaben verwendet werden sollen« (Volkszählungsurteil des BVerfGE, zitiert nach Esser et al. 1989:66). Zur Fundierung der Empfehlungen zur Gestaltung des Mikrozensus hat der Wissenschaftliche Beirat verschiedene Untersuchungen58 angestellt, um die Nutzung der Mikrozensusdaten nachzuzeichnen. Die Nutzungen wurden fünf verschiedenen Funktionen des Mikrozensus zugeordnet: die permanente Bereitstellung sozioökonomischer Grunddaten: Zu den Nutzem zählen dabei »nicht nur Regierung und öffentliche Verwaltung, sondern praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen, öffentliche und private -

Dazu wurde eine standardisierte Befragung bei Verwaltungen und Forschungseinrichtungen, eiUmfrage bei den Bundesministerien, eine Befragung ausgewählter Großunternehmen und Verbände und schließlich eine Konferenz zur Nutzung des Mikrozensus durchgeführt. Die Ergebnisse der standardisierten Erhebung sind eingehend in der Drucksache 11/1756, S. 29-36 des Deutschen ne

Bundestags dargelegt.

II.

Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis

391

Forschungsinstitute, Medien und letztlich auch der einzelne Bürger« (Esser

etal. 1989:66)59. die Arbeitsmarktbeobachtung: Hier wird der Mikrozensus in Kombination mit anderen Quellen (Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Arbeitslosenstatistik) eingesetzt. »Die wichtigsten Nutzer sind neben der amtlichen Statistik (...) und (...) dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vor allem die Ministerien für Arbeit und Soziales in Bund und Ländern, die Sozialversicherungsträger, die Deutsche Bundesbank, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die Wirtschaftsforschungsinstitute sowie weitere universitäre und sonstige Forschungseinrichtungen, (...) die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften« (69)60. Bereitstellung von vertiefenden Informationen zu einzelnen Praxisfeldern, wie Bildung, Wohnung, Gesundheit etc.: Als Nutzer treten »Regierung und Verwaltung, Wirtschafts- und Sozialforschungsinstitute, daneben universitäre sowie andere öffentliche oder private Forschungseinrichtungen, aber auch Verbände und einzelne Unternehmen« (70) auf; die Bearbeitung erfolgt jedoch durch spezialisierte Abteilungen oder Projektgruppen61. die Nutzung des Mikrozensus für die Analyse von Verlaufsdaten: Hiervon wurde, so der Bericht des Beirats, bislang außerhalb der amtlichen Statistik kaum Gebrauch gemacht. der Mikrozensus als Grundlage für die »Auswahl, Adjustierung oder Qualitätsprüfung anderer Erhebungen« (73): Neben der amtlichen Statistik selbst werden diese Möglichkeiten vor allem von Sozial-, Markt- und Mei-

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Exemplarisch wurden folgende Projektthemen benannt: nichteheliche Lebensgemeinschaften; ältere Menschen in der Familie; regionale Unterschiede im generativen Verhalten; Sozialstruktur und Geburtenzahl; generatives Verhalten von Ausländern; Belastung der Erwerbsbevölkerung bei sich ändernder Altersstraktur; regionales Prognosesystem für Bevölkerung, Haushalte, Wohnungs-, Arbeits-, Bodenmarkt; Projektion des Erwerbspersonenpotentials; Bildungsbeteiligung und soziale Herkunft; Erwerbsverhalten von Frauen; Einkommenslage der Familien; Aufteilung monetärer Transferleistungen des Staates (67). 60 Exemplarisch wurden folgende Projektthemen benannt: Erwerbsbeteiligung im Haushaltszusammenhang; Erwerbstätigkeit und Veränderungen der Arbeitszeiten; regionale Strukturen der Frauenerwerbstätigkeit; technischer Fortschritt und Arbeitsmarkt; Teilzeitbeschäftigung; Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen; Arbeitslosigkeitsdauer; Art und Dauer der Arbeitssuche; Frauenarbeitslosigkeit; Beschäftigungsaussichten nach Ausbildung und Beruf; berufliche Mobilität (69f). Exemplarisch werden folgende Projektthemen benannt: Bildungsbeteiligung; Hochschulabsolventen und Absolventen der beruflichen Bildung im Beschäftigungssystem; Schulprobleme der Ausländerkinder; Weiterbildung; Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes; Entwicklungstrends in der Krankenversicherung; Rentenbestandsvorausschätzungen; Kosten alternativer Rentenreformmodelle; Struktur und Entwicklung der Wohnungswirtschaft; regionale Wohnungsversorgung; Wohnungsnachfrageprognose; energiesparende Investitionen im Mietwohnungsbereich; Urlaubs- und Erholungsreisen; Verkehrsverhalten im touristischen Bereich; Abschätzung der Reiseausgaben; sozialräumlicher Disparitäten; Wirtschaftsförderang in den Großstädten; Abgrenzung von Agglomerationsräumen; soziale und geographische Mobilität (71).

392

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

nungsforschungsinstituten genutzt; mittelbar können die Befunde jedoch allen Rezipienten von Befragungsdaten bei der Qualitätsprüfung dienen. Nach den Untersuchungen des Beirats zeichnet sich eher das Bild eines Produktions- und Verwendungsnetzwerkes ab, als daß man klar Produktion und Verwendung differenzieren könnte.

Probleme der verwendungsbezogenen Sozialforschung Zunächst sei auf einige konzeptionelle Probleme der Diskurse um die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens hingewiesen. Ihnen lag eine spezifische Konstruktion zu Grunde: Man ging davon aus, daß die Sozialwissenschaften »erst seit den siebziger Jahren tatsächlich praktisch geworden sind« (Beck/ Bonß 1989b:8). Mit diesem sehr spezifischen Praxisverständnis wurden die Erfahrungen vergangener Generationen von Soziologen und Soziologinnen gewissermaßen ausgeblendet. Schließlich wird oftmals nicht beachtet, daß es im Verwendungsprozeß nicht um die Konkurrenz verschiedener Wissensbestände geht, sondern um die Konkurrenz von Akteuren, in verschiedenen Praxisfeldem, die wissenschaftliches Wissen als eine Ressource unter anderen zu nutzen suchen. Das Modell der Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissen erscheint wenig geeignet, eine Situation zu analysieren, in der das Monopol der Hervorbringung und Transformation sozialwissenschaftlichen Wissens nicht länger im wissenschaftlichen Feld

d)

liegt.

Trotz dieser konzeptionellen Probleme haben die Forschungen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens wesentliches zur >Sefbstaufklärung< und zur >Ent-Täuschung< des Unternehmens Empirische Sozialforschung beigetragen. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet wurde mit der Verwendungsdebatte der Praxisbezug in die Sozialwissenschaften zurückgeholt, der zuvor im Bemühen um Systematisierung, Verwissenschaftlichung und akademische Reputation in den Hintergrund getreten war. Ein wesentliches Problem der Produktion sozialwissenschaftlichen Wissens scheint in der Austarierung des Verhältnisses von wissenschaftlicher Autonomie und praktischer Einbindung in das Forschungsfeld zu liegen. In der Autonomie der Sozialforschung, in der Möglichkeit einer handlungsentlasteten und den Machtspielen des Feldes enthobenen Analyse, liegt ein Spezifikum der von ihr hervorgebrachten Befunde. Die regelgeleitete Handhabung des methodischen Instrumentariums der empirischen Sozialforschung bietet gewisse Sicherheiten gegen den Autonomieverlust im Forschungsprozeß. Die Einbindung in das Forschungsfeld befördert, daß die Forschenden sich eingehend mit den Strukturen und Praktiken in diesem Feld, den dort vorherrschenden Deutungs- und Symbolsystemen auseinandersetzen. Weymann und Wingens sprechen von einer Paradoxie der Forschung: »sie muß, ausgehend vom Relevanzrahmen des Verwenders, über Problemdefinition und Konzeptualisierung dessen institutionelle Interna und -

II.

Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis

393

dessen öffentliche Commitments beachten und doch zugleich Innovation durch Unabhängigkeit in dem Sinne erlauben, daß das Spektrum politischer Handlungsspielräume (...) erweitert wird« (1989:292). Mit der Etablierung der Soziologie an den Hochschulen, mit der Einrichtung von Diplomstudiengängen und mit der Entwicklung eines Kanons von Lehrinhalten ist die fachliche Identität gestärkt worden; eine wichtige Rolle hatte dabei auch die empirische Sozialforschung als ein fester und weitgehend akzeptierter Bezugsrahmen gespielt. Dennoch stellen sich der Soziologie auch angesichts ihrer Herausbildung aus recht unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in ihren gesellschaftspraktischen Bezügen gewisse >IdentitätsproblemeNormalbetrieb< (seit 1980)

Problem der Sozialforschung erscheinen, hängt es doch eher mit den Wissenschaftsbildern zusammen, die in verschiedenen Praxisfeldem entwickelt wurden; es ist aber auch ein Problem der Sozialforscher, soweit sie diese weitreichenden Verwendungs- und Praxisversprechen geteilt, zumindest aber geduldet haben. Der scheinbar enge Nexus von wissenschaftlich fundierter Diagnose eines Problems und seiner politisch planerischen Bearbeitung hat sich als illusion erwiesen. Diese Befunde des Verwendungsdiskurses haben dazu beigetragen, daß das Unternehmen >Empirische Sozialforschung« in seiner spezifischen Verknüpfung von wissenschaftlichem und praktischem Anspruch an Überzeugungskraft verliert. Der Verwendungsdiskurs hatte keineswegs nur einen retrospektiven Charakter; viele der Sozialwissenschaftler, die mit eigenen Forschungen oder mit konzeptionellen Überlegungen am Verwendungsdiskurs teilhatten, haben in ihren Analysen auch programmatische Überlegungen zur Zukunft der Sozialwissenschaften und Sozialforschung erkennen lassen. Exemplarisch kann die Spannweite der Debatte mit den drei folgenden Positionen umrissen werden: Bollinger und Weltz favorisierten eine »problemorientierte und nicht methodenorientierte Soziologie« (248); sie wollten die Soziologie als Anbieterin von Beratungsdienstleistungen stark machen, anstatt dieses Feld anderen Wissenschaften zu überlassen. One sah die Sozialwissenschaften zwischen Auftragsforschung und sozialer Bewegung und gab ihnen den Rat, sich nicht länger als Problemlösungswissenschaften mißzuverstehen, sondern sich wieder als Krisenwissenschaften zu begreifen, die »mehr Probleme aufwerfen und beim Namen nennen, als die herrschenden Eliten in Politik und Verwaltung zu verkraften, geschweige denn zu >lösen< imstande sind« (1982:112). Schließlich lieferte die Verwendungsforschung auch jenen geeignete Argumente, die dem Projekt der empirisch orientierten Soziologie schon immer skeptisch gegenüberstanden. Die Methodendiskurse und die Lehrgestalt der Disziplin zeigten sich von den Irritationen der Verwendungsforschung wenig beeindruckt. In den Lehrbüchern wurde am Leitbild einer wissenschaftsorientierten Sozialforschung, insbesondere am kritisch rationalen Paradigma, festgehalten. Die Abkoppelung der Lehr- von der Forschungswirklichkeit prägte sich weiter aus. In der methodischen Entwicklung der Sozialforschung spielten die Fragen der Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens und die Befunde der Verwendungsforschung nur eine geringe Rolle. Die leitenden Orientierungen bezogen sich auf die Logik des wissenschaftlichen Feldes; man imple-

mentierte neue methodische Ansätze, strebte nach methodischer Verfeinerung (s.u.). Auch die Renaissance der qualitativen Sozialforschung verblieb in vielen Fällen in dieser Logik.

II.

Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis

395

2. Neue Formen des Wissenschaft-Praxis-Bezugs Der Diffusionsprozeß sozialwissenschaftlichen Wissens, die Erfahrungen mit den Problemen der Wissensverwendung und die professionellen Interessen von Sozialwissenschaftlern außerhalb der Hochschulen haben zu neuen Konstellationen des Wissenschafts-Praxis-Bezugs geführt; es entwickelten sich neue Praktiken und institutionelle Kontexte der Produktion sozialwissenschaftlichen Wissens. Exemplarisch kann dies am Beispiel neuerer Ansätze der Evaluationsforschung und an der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Beratungsdienstleistungen gezeigt werden.

a) Entwicklungen der Evaluationsforschung Die Evaluationsforschung hat in den USA in den siebziger und achtziger Jahren eine rapide methodische, methodologische und professionspolitische Entwicklung durchlaufen. Beywl (1991:265) verweist auf die Entstehung spezialisierter Institute an amerikanischen Hochschulen, die Entstehung von Fachverbänden, die Etablierung von professionellen Standards, die Heraus-

gabe von Zeitschriften und Lehrbüchern und nicht zuletzt auf einen auch in Krisenzeiten stabilisierten Auftragssockel. Parallel entwickelten sich auch die Ansätze der Evaluationsforschung weiter: Guba (1989) spricht Ende der achtziger Jahre von verhandlungsorientierten Konzepten als Evaluationskonzepten der vierten Generation. Er grenzte diese von früheren Generationen von Evaluationskonzepten ab, die er als messungs-, beschreibungs- und entscheidungsorientiert bezeichnet. Sie sollten nicht länger herausfinden, wie die Dinge >wirklich< ablaufen, vielmehr sollten unter Einbeziehung der Akteure bedeutungsvolle Konstruktionen entwickelt werden, die den Akteuren für die Deutung ihrer Handlungssituationen sinnvoll erscheinen. Diese Konstruktionen sollten auf die (möglicherweise divergenten) Wertvorstellungen aller Beteiligten bezogen sein; sie sollten sich an den physischen, psychischen, sozialen und kulturellen Kontexten orientieren; Evaluation sollte handlungsorientiert und partizipativ ablaufen. Auch in der Bundesrepublik wurde versucht, an diese Entwicklung Anschluß zu finden: »Die Chance der Evaluation liegt darin, ihre enge Bindung an wissenschaftsimmanente Ziele und Normen aufzugeben und sich als eigenständige, praxiszentrierte sozialwissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Die Nachfrage nach gebrauchstüchtigen sozialwissenschaftlichen Leistungsangeboten ist hoch« (Beywl 1991:265).

Hintergrund des von ihm formulierten Konzepts der >Praxisforschung« visierte Moser über das bei Guba/Lincoln favorisierte Verhandlungskonzept hinaus, auch »eine weitergehende >objektivierende< Funktion von Evaluationen« an. So seien auch »die (sozialen) Tiefenstrukturen zu entschlüsseln, die hinter den subjektiven Äußerungen verborgen sind. Damit verbunden müßte es zudem möglich sein, aufzuzeigen, wie solche StandVor dem

396

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

punkte auf unterschiedlichen Systemperspektiven auffuhen bzw. was die bestimmenden Differenzen sind« (1995:207). Praxisreflexion könne generell »durchaus auch Anschlüsse zum Wissenschaftssystem eröffnen (...) etwa wenn es um die Objektivierung von Systemperspektiven geht« (ebd.)62. Moser zeigt aber auch die Probleme einer stärker auftraggeberabhängigen Evaluationsforschung auf. Neben einer solchen praxiszentrierten Evaluation findet sich eine stärker wissenschaftsorientierte Evaluationsforschung; diese ist jedoch oft mehr in der Psychologie als in der Soziologie angesiedelt Die Grenzziehungen zwischen einer wissenschaftlichen Standards verpflichteten und einer auftraggeberorientierten Evaluationsforschung sind umstritten64. .

b) Sozialwissenschaftliche Beratung Insbesondere in den neunziger Jahren kam es bedingt durch die Veränderungen im Bereich der Produktion und ihrer Regulierung zu weitreichenden Umbrüchen: in diesem Zusammenhang ist eine >Verunsicherung< des Managements aber auch der anderen Akteure im Feld der industriellen Beziehun-

festzustellen, die sich in einem Bedarf nach Beratung und Expertise niederschlug. Howaldt spricht von einer »tiefgreifenden Krise der tradierten Leitbilder der Organisationsgestaltung« (1998:32). Welche Rolle sozialwissenschaftliches Wissen in der Konkurrenz zu anderen Disziplinen dabei spielen kann, muß zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbestimmt bleiben65. Soziologen erscheinen angesichts der Problemlage der Unternehmen für Beratungsdienstleistungen prädestiniert; sie verfügen jedoch angesichts der Diffusion sozialwissenschaftlichen Wissens keineswegs exklusiv über ein spezifisches Beratungswissen. Nach Minssen könne der Vorteil der Industriesoziologie darin bestehen, daß sie durch betriebsübergreifendes Wissen und ein Erfahrungswissen mit den Problemen organisatorischer Veränderung einen gewissen Informationsvorsprung hat, daß sie Moderations- und gen

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-

Mediationsfunktionen übernehmen kann und daß sie über Instrumente zur Evaluation verfügt (1993:198)66. Thinnes hebt hervor, daß »eine gewisse Praxisfeme sogar bestimmte Beratungsqualitäten hervorbringen könnte«

(1999:39).

Moser verfolgt dabei in seinen neueren Arbeiten das Ziel, den durch handlungsorientierte Theoreme zu ergänzen (1995:199). 63

systemtheoretischen

Ansatz

Vgl. Klages (1998:381). Vgl. Bortz/ Döhring (1995:96). Die bei Bosch (1999) und Kraetsch (1999) vorgestellten ersten Befunde aus einem Forschungsvorhaben zu sozialwissenschaftlichen Anwendungsbezügen stimmen eher skeptisch. Insbesondere die letzteren Leistungen können auch von Beratungsansätzen erbracht werden, die stärker dem Bereich der Psychologie entstammen. Eine interessante Verschränkung von soziologischen, systemtheoretischen und psychologischen Wissensbeständen findet sich bei Giesecke und Rappe-Giesecke (1997). Sie entwerfen ein Beratungskonzept (645 ff), das auf die Grundlagen der kommunikativen Sozialforschung zurückgreift und die Supervision im Rahmen der Forschung wie als Medium der Beratung nutzt (658). 64

II.

Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis

397

Ähnlich wie bei Bollinger und Weltz wird das Spezifikum der sozialwissen-

schaftlichen Beratung in einer Kombination aus problembezogener Forschung und Beratung gesehen. Soziologische Organisationsberatung solle sich in einer Doppelrolle als forschende Beratung und als Beratungsforschung verstehen; verantwortlich einem Auftraggeber wie einer scientific community, von deren sachlicher und sozialer Anerkennung sie abhängt (Thinnes 1999:48). In ähnlicher Weise fordert auch Ronge, daß eine Verselbständigung der Beratung gegenüber der empirischen Sozialforschung vermieden werden müsse (1996a:63). Der Boom der Beratungsbranche scheint nicht zuletzt auch auf die >Erfolge< der vergangenen Beratungsarbeit zurückzugehen: »Ob sich in der betrieblichen Leistungsbilanz die erhofften Erfolge zeigen oder nicht; die intendierten wie die nicht-intendierten Reorganisationseffekte entwickeln sich in jedem Fall zu Goldgruben für die Beraterzunft. Gerade der standardisierte von Besonderheiten eines Unternehmens abstrahierende Transfer von Erfolgsrezepturen erzeugt >Anschlußprobleme< und generiert damit den nächsten Be-

ratungsbedarf« (Thinnes 1999).

Einen Überblick über das Feld soziologischer Beratung vermittelt eine Tagung des Berufsverbandes der deutschen Soziologen; sie befaßte sich mit den Arbeitsfeldern: Unternehmensberatung, Politikberatung, Umweltberatung, Organisations- und Personalberatung, Bildungs- und Berufsberatung, Beratung im Sozialbereich und in der Medizin (von Alemann/ Vogel 1996). Zu den methodischen Anforderungen, die aus einer sozialwissenschaftlichen Beratung erwachsen, bemerkt Thinnes, daß das klassische industriesoziologische Repertoire in der Phase der Analyse bzw. für Zwecke der Evaluation hinreiche; überfordert sei es, wenn es um Fragen der Präsentation und Moderation, um coaching und Konfliktmanagement geht (1999:42). An verschiedenen Stellen wurde deutlich, daß das wachsende Angebot an sozialwissenschaftlicher Beratung auch generationsspezifische Strukturen aufweist: es engagierte sich die Generation von Sozialwissenschaftlern, die nicht mehr von den Hochschulen und den wissenschaftsorientierten Forschungseinrichtungen absorbiert werden konnte; es ist zugleich eine Generation, die nicht länger in die teilweise euphorischen Leitbilder der Soziologie und Sozialforschung eingebunden ist; die oftmals >systemische< Orientierung der Beratung tut das ihre zur Distanzierung gegenüber der »naiven Vorstellung von Beratung« der Humanisierungsgeneration. So wurde der Industriesoziologie vorgeworfen, sie habe die in der HdA-Phase vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten und Ansätze für interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht genutzt und die zunehmende Nachfrage nach politischer und Organisationsberatung nicht als Chance der Neubestimmung gesehen67. Howaldt sieht bei aller Heterogenität der industriesoziologischen Bera67 Vgl. Fehr (1999:67). Auch Bollinger (1998:14) geht davon aus, daß das industriesoziologische Milieu die Ansätze einer Profilierang als gestaltungswillige Disziplin behindert habe.

398

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

tungsansätze eine Gemeinsamkeit in ihrer kritischen Distanz der Begleitforschung im Rahmen des HdA-Programms Einschätzung ist jedoch nicht unumstritten68.

Konzept (1998:30); diese zum

c) Vom Datenlieferanten zum Management- und Politikberater Marktforschung wird davon ausgegangen, daß die »Zeiten, in denen es ausreichte, Daten zu liefern und den Kunden bei der Umsetzung alleine zu lassen«, lange vorbei sind. »Marktforschung muß sich und vor allem ihren Auftraggebern Rechenschaft darüber ablegen, welchen Wertschöpfüngsbeitrag sie einem Unternehmen bringt« (Grande 1999:37). Entsprechend seien auch neue Anforderungen an die Markt-, Meinungs- und Sozialforschung gestellt. Neben der Kompetenz zur Handhabung des gängigen methodischen Instrumentariums, gehe es dämm, »die Vielfalt der als Bausteine vorliegenden Informationen zusammenfassend zu bewerten und entsprechend zu interpretieren« (Haupt 1999:63); demnach müssen sich die Forschenden von »reinen Datenlieferanten hin zu wissenschaftlichen Management- und Politikberatem« (67) entwickeln. Die Markt- und Meinungsforschung gerät zunehmend in Konkurrenz zu neuen Informationsanbietern im gewinnträchtigen Bereich der Beratung. In der

»Dazu gehören insbesondere auch alle anderen Informationsanbieter und -verarbeiter und als bereits aktive und tatsächliche Informationsmanager immer zahlreicher werdende sehr professionelle Consultingunternehmen. (...) Die Kompetenz dieser Beratungsunternehmen liegt in der Analyse und Zusammenschau aller für die jeweilige Aufgabenstellung relevanten Informationsbausteine. Dies bildet das Fundament für die individuelle Beratung der Auftraggeber. Damit wird ein Bereich mit Kompetenz besetzt, den Markt-, Meinungs- und Sozialforscher ob öffentlich-rechtlich oder privatwirtschaftlich verfaßt nie wirklich für sich besetzt haben« (Haupt 1999:64). -

-

Nach Haupt lag der Umsatz der Beratungsunternehmen bei ca. 16 Milliarden DM, während die Marktforschung nur etwa 1,6 Milliarden umsetzt. Aus dieser Konkurrenzsituation erwachsen auch neue Anforderungen an die Struktur der empirischen Sozialforschung. Scharioth beschreibt für die Marktforschung einen Wandlungsprozeß vom Produkt- über das Prozeß- zum Stakeholdermanagement. Entsprechend habe sich der Zugriff auf verschiedene Typen von Expertenwissen und die Formen der Marktforschung verändert. Während die Vorstände großer Unternehmen zunächst eher von Technikern und Naturwissenschaftlern dominiert waren, seien im Rahmen des Prozeßmanagements Kaufleute hinzugestoßen. Demgegenüber werden in jüngerer Zeit Vorstandspositionen »zunehmend von Sozialwissenschaftlem besetzt, denn sie repräsentieren die Wissenschaft, die am besten für dieses Beziehungsgefüge zwischen Unternehmen und seinen Stakeholdem, d.h. Kunden, Mitarbeiter, Geschäftspartner, Finanzierungsinstitutionen, sensibilisiert sind. (...) Soziologisches Fachwissen sowie (...) das gesamte sozialwissenschaftliche Methodeninstrumentarium wird zu den Faust will dem Scheitern der HdA-Optionen nicht widersprechen; er möchte jedoch daraus nicht den Schluß ziehen, daß es der Politik grundsätzlich unmöglich sei, auf Innovationen im wirtschaftlichen Bereich Einfluß zu nehmen (1998:91).

III.

Methodenentwicklung

399

zentralen Hilfsmitteln der Untemehmensfiihrung. Die Betriebswirtschaft verliert ihre Dominanz und wird durch die Sozialwissenschaften ergänzt« (1999:15f).

Scharioth geht davon aus, daß die skizzierte Entwicklung, in andere sprachliche Wendungen gekleidet, auch im Bereich der öffentlichen Institutionen und Verbände zu beobachten ist. Wenngleich diese Einschätzung die Rolle der Sozialwissenschaft vermutlich überschätzt, indiziert sie doch eine Veränderung in den Beziehungen der Soziologie zur gesellschaftlichen Praxis. Welche Rolle empirische Sozialforschung in diesen neuen Praxisbeziehungen der praxiszentrierten Evaluation oder der sozialwissenschaftlichen Beratung spielen wird und wie das mit Mitteln der empirischen Forschung produzierte Wissen >aussehen< wird, welchen Verallgemeinerungsanspruch es

erheben kann, ist bislang nicht abzusehen. Kuhlmann (1998:110) fordert eine enge institutionelle und kognitive Verbindung zwischen betriebsnahen, praxisorientierten Untersuchungen und der übrigen Forschung. Eine wichtige Rolle kommt dabei den Autonomiespielräumen zu, die im Beratungsprozeß ausgehandelt werden können. Sicher scheint jedoch, daß dieses Segment der Soziologie-Praxis-Beziehungen, das auf die professionellen Interessen der Sozialwissenschaftler und die zahlungskräftige Nachfrage von >ratsuchenden< Institutionen zurückgeht, zu einem expandierenden Praxisfeld wird. Tendenziell wird mit der Beratungsforschung ein anderer Typus soziologischen Wissens hervorgebracht; damit sind auch neue Leitvorstellungen verknüpft. Bollinger verweist auf eine größere Bescheidenheit, die mit der Organisationsberatung einherzugehen habe: »Man erkennt nicht die Welt, und man bewegt nicht die Welt. Man wirkt nur daran mit, in ihrer Reichweite begrenzte und überdies >flüchtige< Strukturen zu schaffen Strukturen allerdings, die gleichermaßen in das Leben von Arbeitenden eingreifen und die Leistungsfähigkeit von Organisationen mitbestimmen. Dies ist einerseits weniger und andererseits mehr, als es das klassische soziologische Programm ermöglicht« (1998:25).

-

III.

Methodenentwicklung und -diskurs

Bei den sozialwissenschaftlichen Forschungstechniken setzten sich in der Phase des >Normalbetriebs< die bereits in den siebziger Jahren beobachtbaren Differenzierungstendenzen weiter fort. Mit der Reformulierung und Kanonisierung von Forschungsansätzen aus der qualitativen Sozialforschung erweiterte sich das >legitime< Methodenspektrum. Aber auch die quantifizierende Forschung machte im Bereich der Analyse kategorialer Daten, bei der Analyse von Netzwerk-, Ereignis- und Paneldaten erhebliche Fortschritte.

400

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

1. Die Renaissance der qualitativen

Sozialforschung

Qualitative Forschungsansätze und -praktiken sind in der empirischen Sozialforschung durchgängig von Bedeutung gewesen. Auch in der Gründungsphase spielten sie neben der Umfrageforschung durchaus eine relevante Rolle; als Forschungsansatz gerieten sie jedoch in der entstehenden kodifi-

zierten Methodenliteratur ins Hintertreffen: in den ersten Handbüchern über die neuen amerikanischen Methoden tauchten sie noch auf; sie fanden aber kaum den Weg in die Ausbildungsgänge und Methodenbücher. In der großen Zeit< der empirischen Forschung setzte sich diese Struktur fort: In der methodischen Literatur und im Bereich der Methodenausbildung spielten qualitative Ansätze der Sozialforschung nur eine marginale Rolle; auch wenn es in der Forschungslandschaft etwas anders aussah. Bereits in den sechziger und siebziger Jahren wurden die Voraussetzungen für eine Erneuerung qualitativer Forschungsansätze geschaffen: Die Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen< (1973, 1976) und die Zusammenstellung Steinerts (1973) machten wichtige Beiträge zur Theorie der symbolischen Interaktion in deutscher Sprache zugänglich; 1976 folgte ein Band von Weingarten, Sack und Schenkein mit Beiträgen zur Ethnomethodologie; 1979 eine Zusammenstellung von Gerdes zur >Natural Sociology< und zur Feldforschung in den USA [Dl]69. Auch die Rezeption der pragmatischen Philosophie7 der verstehenden Soziologie71 und des Sozialkonstruktivismus72 oder die Schriften von Elias und Goffiman lieferten einen wichtigen theoretischen Hintergrund. Eine Popularisierung der >interpretativen Soziologie^3 wurde durch die kritische Einführung von Giddens ([1976] 1984) befördert. Einzelne Beiträge zu den Grundlagen qualitativer Forschung fanden sich auch in westdeutschen Fachzeitschriften74. Darüber hinaus wurden die philosophischen und linguistischen Debatten um die Rolle von Sprache und Diskurs rezipiert75. -

,

Die so bezeichneten Tabellen und Abbildungen sind über das Internet (http://homepage.ruhruni-bochum.de/Christoph.Weischer/ oder http://www.oldenbourg.de/) zugänglich. Die amerikanischen Theoretiker des Pragmatismus (Dewey, Peirce, Mead) wurden in den Arbeiten von Habermas (z.B. 1967) und Gadamer rezipiert; die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Pragmatismus wurde später durch die Arbeiten von Joas intensiviert. 1972 erschien eine von Bühl herausgegebene Textsammlung über Grundzüge und Entwicklungstendenzen der verstehenden Soziologie, die u.a. Beiträge von Simmel, Mead, Schütz, Scheler, Sombart und Ricceur enthält. Schütz Einleitung in die verstehende Soziologie von 1932 wurde

bereits 1960 erneut aufgelegt. Berger und Luckmanns 1966 erschienenes Buch >The Social Construction of Reality« lag 1969 in einer deutschen Übersetzung vor. Zur Rolle des Buches vgl. Soeffner (1992). Die englische Ausgabe trug den programmatischen Titel >New Rules of Sociological Method«. Z.B. zu Alfred Schütz' verstehender Soziologie (Bodenstedt 1966) oder zum Symbolbegriff

(Helle 1968). Man sprach von einem linguistic turn. Der Begriff geht auf den Philosophen Gustav Bergmann zurück, wurde dann von Rorty (1967) und später von Habermas aufgegriffen. Vgl. dazu und zu

III.

Methodenentwicklung

401

Schließlich boten die qualitativen Forschungsansätze angesichts des Positivismusstreits eine programmatische Alternative. Neben der methodologischen Kritik hatte sich in zunehmendem Maße auch eine Praxiskritik an der vorherrschenden standardisierten Umfrageforschung formiert: Cicourel und Devereux formulierten recht grundsätzliche Einwände gegenüber den standardisierten Forschungsansätzen; Berger hatte insbesondere die Einstellungsmessung in Frage gestellt. Dezidierte Kritik war auch an der (standar-

-

disierten) Interviewsituation, an der >Atomisierung< und der Instrumentalisierung der Befragten vorgebracht worden. In diesem Zusammenhang entwickelte sich eine Kritik am androzentri-

schen und ethnozentrischen Charakter der vorherrschenden standardisierten Sozialforschung, die Lebenswelten außerhalb der dominanten Kulturmuster ausblende. So hat die sich entwickelnde Frauen- und Geschlechterforschung deutlich machen können, daß der Blick auf die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von einer androzentrisehen Schieflage geprägt war; zudem ist auch der ethnozentrische Bias vieler Untersuchungen offengelegt worden76. Allmählich stellte sich eine gewisse Enttäuschung über die ausgebliebenen Erträge der >modernen Sozialforschungstechniken< ein. Die Hoffnung auf einen kumulativen Effekt der Forschungsarbeit, die Hoffnung, aus einer Vielzahl getesteter Einzelbefünde Theorien zumindest mittlerer Reichweite entwickeln zu können, wurde enttäuscht77. Neben der Außenkritik entwikkelte sich zunehmend eine immanente Kritik (Mayntz, Esser, Hartmann, Kriz etc.) an den Erträgen der standardisierten empirischen Forschung78. Zudem wurde deutlich, daß die standardisierte Forschungspraxis nur in wenigen Fällen dem hypothetisch-deduktiven Modell entsprach. Nicht zuletzt spielte auch die Entwicklung in den USA eine Rolle. Hier hatte sich in den fünfziger Jahren neben der dominanten standardisierten Sozialforschung eine >zweite Chicagoer Schule«: entwickeln können79. In den sechziger Jahren finden sich zunehmend Beiträge zur qualitativen Sozialforschung80: am bekanntesten wurde >The Discovery of Grounded Theory
zweiten Chicagoer Schule« u.a. Howard S. Becker, Goffman und Strauss (1995:xii). Ob der Begriff der zweiten Chicagoer Schule überhaupt treffend ist, steht in Frage (vgl. die Beiträge in Fine 1995). 80 Vgl. dazu Platt (1996:30), Kohli (1981:2871). Eine deutsche Übersetzung erschien erst 1998.

402

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Die Wiederentdeckung der qualitativen Sozialforschung erfolgte in verschiedenen Schritten. Zunächst finden sich Beiträge zu einzelnen Aspekten der qualitativen Sozialforschung: zur Datengewinnung (z.B. Schütze 1977, Hopf 1978, Hoffmann-Riem 1980), zur Datenanalyse (z.B. Schütze 1976, Oevermann 1979) und zur Methodologie (z.B. Kleining 1982). In diesem Rahmen schälten sich Techniken wie das marrative Interview< (Schütze) oder die >objektive Hermeneutik< (Oevermann) als bevorzugte Praktiken qualitativer Sozialforschung heraus. In einem zweiten Schritt entstanden Publikationen, die Beiträge zur qualitativen Sozialforschung bündelten (Soeffher 1979, Hopf/ Weingarten 1979) und die damit die vormals disparaten Ansätze als ein mehr oder weniger konsistentes Paradigma erscheinen ließen, auf das in den Methodendiskursen Bezug genommen wurde (z.B. Küchler 1980). In dieser Phase fanden zwei einschlägige Tagungen statt, die sich mit Fragen der qualitativen Sozialforschung befaßten82; eine nachhaltige Wirkung scheint der daraus entstandene Beitrag von Wilson (1981 bzw. 1982) hinterlassen zu haben. In einer dritten Phase erschienen am Ende der achtziger Jahre die ersten Lehrbücher zur qualitativen Sozialforschung, die dann zu ihrer Popularisierung beitrugen [D2]. Im Rahmen dieser Lehrbücher kam es auch zu einer stärkeren Systematisierung und Kodifizierung des Wissens um die qualitative

Sozialforschung.

Die Renaissance der qualitativen Sozialforschung zeichnete sich auch durch die Arbeit an identitätsstiftenden Selbstbildern und Traditionen aus. Man wollte die besonderen Eigenschaften der qualitativen Sozialforschung (gegenüber der dominierenden quantifizierenden Forschung) herausstellen. Nicht selten führte das in den frühen Publikationen zu dem Eindruck, »die qualitative Sozialforschung sei eine vollständige Alternative zum mainstream und könne hinsichtlich der Erklärungskraft auf allen Abstraktionsebenen zu diesem in Konkurrenz treten« (Fleck 1992:753). Garz und Kraimer hoben hervor, daß die Abgrenzung die Funktion hatte, »Zugehörigkeiten und NichtZugehörigkeiten« (1991b: 1) zu bestimmen. Eine wichtige Rolle spielte auch der Bezug auf die verschiedenen Hintergrundtheorien der qualitativen Sozialforschung (symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, Phänomenologie etc.), die als Garanten der >Wissenschaftlichkeit< qualitativer Sozialforschung dienten. Darüber hinaus entdeckte man die >Wurzeln< der qualitativen Sozialforschung, indem man sich mit der Geschichte empirischer Forschung befaßte83, die Arbeiten der Chicagoer Schule rezipierte oder auf klassische Studien der Sozialforschung verwies84. 1981 fand die ZUMA-Arbeitstagung zur >Integration von qualitativen und quantitativen Forschungsansätzen« statt; 1982 folgte die ASI-Tagung Qualitative Ansätze in der Forschungspraxis«. Am weitesten greift dabei Mayring zurück, wenn er auf die Teilung der Geistesgeschichte in eine aristotelische und eine galileische Tradition verweist (1990:3). Im Handbuch Qualitative Sozialforschung werden eine Reihe von >klassischen Studien« vorgestellt: The Polish Peasant in Europe and America, Die Arbeitslosen von Marienthal, Untersuchun-

III.

Methodenentwicklung

403

In diesem Zusammenhang wurden Argumentationen entwickelt, die die Renaissance der qualitativen Forschung in den Rahmen gesellschaftlicher und kultureller Transformationsprozesse stellten und zu ihrer Überhöhung beitrugen. Flick bezog sich auf das von Vertretern der Postmoderne erklärte Ende der großen Erzählungen und Theorien; demgegenüber seien nun eher lokale, zeitlich und situativ begrenzte Erzählungen zeitgemäß. Die Fremdheit des qualitativen Forschers im Feld korrespondiere mit einer Situation gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit. »Der rasche soziale Wandel und die resultierende Diversifikation von Lebenswelten konfrontieren Sozialforscher zunehmend mit sozialen Kontexten und Perspektiven, die für sie so neu sind, daß ihre klassischen deduktiven Methodologien (...) an der Differenziertheit der Gegenstände vorbeizielen. Forschung ist dadurch in stärkerem Maß auf induktive Vorgehensweisen verwiesen« (1995:10).

Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei Hitzler und Honer (1997:13) oder bei Mackensen( 1998a: 184). Neben den zeitbezogenen >Begründungsmythen< wurde häufig auch auf die Grenzen der quantitativen Sozialforschung und die Probleme der sozialwissenschaftlichen Wissens-

verwendung verwiesen85.

a) Neuanfang oder Kontinuität Aus der Perspektive der Protagonisten der qualitativen Forschungsansätze erscheint die Entwicklung ab den siebziger und achtziger Jahren als ein Neuanfang; vormals eher disparate Forschungsansätze und -praktiken wurden in neue Ordnungen und Begründungszusammenhänge gebracht. Unter dem Label qualitative Sozialforschung< fand eine Verdichtung von Wissensbeständen, Interaktionen und Kommunikation stattfindet. Man entdeckte bestimmte Klassiker der qualitativen Forschung neu; die verschiedenen Kritiklinien an der standardisierten und quantifizierenden Forschung konnten in diesem Rahmen gebündelt werden. Die Renaissance der qualitativen Forschung ist auch als ein Prozeß der Ablösung von der geisteswissenschaftlich hermeneutischen Orientierung zu begreifen. Diejenigen, die als kritische Industriesoziologen oder im Rahmen der Aktionsforschung mit qualitativen Ansätzen befaßt waren, spielten bei der Renaissance der qualitativen Forschung keine nennenswerte Rolle. Diese erfolgte eher im Rahmen eines wissenschaftsorientierten Projekts; es scheint, als distanziere man sich in dem Bemühen um wissenschaftliche Reputation von diesen Wurzeln. Das geht auch auf den Generationswechsel zurück, der mit der Renaissance der qualitativen Sozialforschung verknüpft war86; man zur autoritären Persönlichkeit«, Management and the Worker, die Motivationsstudien von McClelland, die Studien zum balinesischen Charakter« und die Verhaltensbeobachtungen an

gen

Schimpansen (Jane L. Goodall). 85 Flick (1988:VII). Vgl. 86

Fleck ermittelt, daß die Autoren des Handbuchs Qualitative Sozialforschung zu etwa 20% jünger als vierzig Jahre sind; weitere 50% liegen zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Zudem stammen sie eher aus den unteren und mittleren Positionen in der akademischen Hierarchie: 17% Di-

404

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

ließ die >SchlachtenKöniginnenweg< der Frauenforschung (Dausien 1994, Göttner-Abendroth 1984) entwickelte; sie ermöglichte einen Zugang zur »Subjektivität der am Forschungsprozeß Beteiligten«, sie eröffnete einen Blick auf die »Zeitlichkeit, Prozeßhaftigkeit und Veränderbarkeit sozialer Phänomene«, und sie versprach eine »ganzheitliche Perspektive« auf die Phänomene der sozialen Welt (Dausien 1994:131f)88. Ursula Müller erinnert aber auch daran, daß die Hinwendung zu den qualitativen Forschungsmethoden in einer Zeit stattfand, als Mittel für >feministische Repräsentativerhebungen< unerreichbar schienen89. Inzwischen habe sich in der Frauenforschung ein Trend zur >Normalwissenschaft< durchgesetzt (1994:66f). Qualitative Forschungstechniken haben aber auch in anderen Feldern der Sozialforschung wie z.B. der Markt- und Meinungsforschung, wo sie ja seit den Anfängen der Motivforschung stets eine gewisse Rolle gespielt haben,

Methodologie

an

Bedeutung gewonnen90.

b) Ansätze der qualitativen Forschung In den verschiedenen einführenden Darstellungen wird versucht, die Charakteristika der qualitativen Sozialforschung zu umreißen. Flick (1995), dessen Charakteristik hier stellvertretend auch für andere Autoren (Mayring, Heinze) vorgestellt werden soll, hebt drei Kennzeichen hervor: die »Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien« (13): Es gehe darum, die Methoden den zu untersuchenden Gegenständen anzupas-

-

umgekehrt. So sei es weder möglich, nur einfache UrsacheWirkungs-Beziehungen zu untersuchen, noch gelinge es, mit komplexen multivariaten Verfahren die Vielfalt von Kontextbedingungen statistisch zu erfassen. Es bleibe einzig der Weg, die Methoden offen zu gestalten und die Gegenstände in ihrer »Komplexität und Ganzheit in ihrem alltäglichen Kontext« (14) zu untersuchen. Ziel sei es dabei, Neues zu entdecken und empirisch begründete Theorien zu entwickeln, statt vorab formulierte Theorie zu prüfen. Ein wichtiges Kriterium sei die Angemessenheit der Methode und sen

und nicht

die Relevanz des Gefundenen.

Dausien erinnert daran, daß die Frauenforschung in der Wissenschaftslandschaft der siebziger Jahre mit diesen Perspektiven nicht alleine stand: »In ähnlicher Weise entwickelten sich in Teilen der Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Literatur- und Geschichtswissenschaft kritisch-emanzipatorische Ansätze« (1994:132). »Daß der Anfang feministischer Forschung, nämlich bei der eigenen Alltagserfahrung mit der Forschungsarbeit zu beginnen, Reaktion auf Ausschluß und Wissenschaftskritik zugleich war, zeigt die Verwobenheit von Diskriminierung und alternativer Methodologie« (1994:33). Vgl. zum Stellenwert qualitativer Verfahren in der Marktforschung Stefan Müller (1999:129); vgl. auch Kepper (1994).

406

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

die »Perspektiven der Beteiligten und ihre Vielschichtigkeit« (14): Am Beispiel der Untersuchung psychischer Krankheiten expliziert Flick, qualitative Forschung »verdeutlicht die Unterschiedlichkeit der Perspektiven auf den Gedes Patienten, seiner Angehörigen, der Professionellen genstand und setzt an den subjektiven und sozialen Bedeutungen, die mit ihm verknüpft sind, an. die »Reflexivität des Forschers und der Forschung« (15): Im Unterschied zur standardisierten Forschung, die sich am Ideal der Laborsituation orientiert, werden im qualitativen Forschungsprozeß die Subjektivität von Untersuchten und Untersuchenden in den Prozeß der Materialsammlung (Forschungstagebücher, Kontextprotokolle) und Interpretation einbezogen. Darüber hinaus finden sich in allen Darstellungen folgende Bestimmungen: Gegenstände sollen in ihrer Ganzheit(lichkeit), Komplexität, Historizität und Lebendigkeit untersucht werden, möglichst in natürlichen Kontexten. Die Analyse zielt auf die Vielschichtigkeit von Perspektiven, die Rekonstruktion bzw. das Verstehen von Sinnstrukturen; ein wichtiges Prinzip ist

-

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die Fallrekonstruktion. Die Untersuchung soll dem Gegenstand angemessen, flexibel und methodisch kontrolliert erfolgen. Die Subjektivität der Untersuchenden geht in den Prozeß ein; der Prozeß muß aber einer beständigen Reflexion unterzogen werden. Als Gütekriterien werden die Angemessenheit der Methode, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Interpretation und die Relevanz der Befunde -

-

angegeben.

Offen bleibt die Frage der Verallgemeinerung von Befunden: Flick verweist auf die Entdeckung empirisch begründeter Theorie; Mayring spricht von argumentativ begründeter Verallgemeinerung; Heinze spricht von der Einbettung qualitativer Forschungsbefunde in allgemeine Gesellschaftstheorien. Ein >sparsameres< Modell der Gemeinsamkeiten haben Garz und Kraimer (1991b:13) vorgelegt. Als Merkmale qualitativer Forschung begreifen sie: »Die Auffassung, daß eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt; die Auffassung, daß ein verstehender Zugang zur Wirklichkeit unumgänglich ist; die Auffassung, daß eine fallbezogene Untersuchung mit einer sich daran anschließenden Möglichkeit der Typenbildung zentral ist und die Auffassung, daß der Forscher sich unmittelbar auf die Praxis einlassen muß«. Jenseits dieser Bestimmungen ist auf einige leitende Vorstellungen hinzuweisen, die für viele Ansätze der qualitativen Forschung und ihre Rezeption bedeutsam erscheinen und die vielleicht auch die Hintergründe ihrer Attrak-

tion wie ihrer Zurückweisung erhellen können. Diese Leitvorstellungen hängen im weiteren Sinne mit der Rolle der Forschenden und ihren Beziehungen zum Feld, den untersuchten Personen zusammen: In verschiedenen Bestimmungen zur qualitativen Sozialforschung kommt dem Kriterium der Ganzheitlichkeit ein wichtiger Stellenwert zu. Flick wendet sich gegen die Zerlegung der Gegenstände in Variable und be-

-

III.

Methodenentwicklung

407

schwört demgegenüber deren >Komplexität< und >GanzheitGewalt< gegenüber den Untersuchungspersonen abgelehnt werden« (298). Auch Oevermann macht auf diese Verwechslung von wissenschaftlicher Praxis und Lebenspraxis in den Ganzheitlichkeitsvorstellungen aufmerksam (1993:135 Fn.9). Qualitative Forschung zeichnet sich durch eine große Nähe zum Gegenstand, durch ein sich Hineinversetzen (going native) aus. Die mit dem hypothetisch-deduktiven Forschungsmodell verknüpfte »radikale Entkoppelung von Theorie und Erfahrung« (Bonß 1991:36) soll zurückgenommen werden. Mit der >einfachen< Befragung und Beobachtung der Beteiligten, mit einer >BarfüßsoziologieObjektivität berge92. Honer verweist auf die Bedeutung, die diese >hemdsärmelige PraxisRustikal-Ethnographie< für die Entwicklung der Soziologie hatte. Demgegenüber müsse die interpretative Forschung von einer grundsätzlichen Skepsis ausgehen: »Üblicherweise neigen auch sogenannte qualitative« Forscher dazu, Darstellungen von Erfahrungen nicht zunächst einmal als Darstellungen von Erfahrungen, sondern sogleich und vor allem als Dar-

Vgl. Mannheim (1984). Zu den Themen, mit denen sich Justus Moser in seinen publizistischen Gefechten gegen die Aufklärung befaßte, gehörte »auch der Primat des Systematisch-Rationalen und der theoretischen Abstraktion gegenüber dem Leben in seiner historisch gewordenen konkreten Vielfalt« (Schildt 1998:32). In gewisser Weise kommt die qualitative Sozialforschung der Forschungspraxis der klassischen« naturwissenschaftlichen Forschung weitaus näher; sie hat es mit einem (greifbaren/ begreifbaren) Gegenstand, mit einzelnen Fällen zu tun, die sie vertiefend analysiert.

408

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Stellungen von Erfahrungen zu deuten und sie selber dann wieder wie Erfahrungen (statt wie Darstellungen) darzustellen. Solche Kurzschlüsse aber tragen nicht unwesentlich dazu bei, jene PseudoObjektivität zu perpetuieren, mit der Sozialwissenschaftler so gerne, vermeintlich >positionslos< alles gesellschaftliche Geschehen beobachtend, menschliche Wirklichkeit beschreiben oder gar erklären« zu können glauben« (Honer 1993:246). Schließlich spielen auch der Grad der Formalisierung des Erhebungsund Auswertungsprozesses und damit die Gestalt von Ergebnissen eine wichtige Rolle. Qualitative Sozialforschung vermag nur >weiche Daten< zu produzieren, sie kann dem Gehäuse der Deutungen und ihrer sprachlichen Fixierung nicht entrinnen, ihre Befunde bleiben in hohem Maße kontextgebunden, ihnen bleibt eine gewisse Indifferenz eigen. Von ihnen gehen nicht jene Objektivierungs- und Exaktheitsansprüche aus, wie von den >harten Daten< der quantifizierenden Sozialforschung, die in einem engen Sinne regelgeleitet arbeitet und sich bei der statistischen Auswertung auch in anderen wissenschaftlichen Feldern anerkannter Methoden bedient. Wenn die standardisierte Sozialforschung sich eher an dem Leitbild des (männlichen) > Technikers < orientiert, korrespondieren die qualitativen Forschungsansätze eher mit dem Leitbild von >Ethnographen< (Weiße unter den Wilden), die beobachten, fragen, sich in die Verhältnisse einfinden, gelegentlich auch als Berater fungieren. Von Bedeutung ist auch das Bild des >PsychoanalytikersCharakter< sozialwissenschaftlicher Theorie, von ihrem Verallgemeinerungsanspruch, ihrem Feldbezug und ihrer Verwendungsorientierung. Glaser und Strauss unterschieden z.B. zwischen materia-

ler und formaler Theorie: als materiale Theorie bezeichneten sie Theorien, die sich an einem bestimmten Sachgebiet, einem empirischen Feld (z.B. der Berufsausbildung) orientieren; demgegenüber befassen sich formale Theorien mit soziologischen Konzepten (z.B. Stigmata). In Anlehnung an Merton betrachteten sie beide Ansätze als Theorien mittlerer Reichweite ([1967] 1998:42ff). Viele Untersuchungen, die aus dem Kontext der grounded theory stammen, sind eher den feldbezogenen Theorieansätzen, mit bedingtem Verallgemeinerungsanspruch zuzurechnen. Auch die bei Friedberg entwikkelte Konzeption einer feld- und forschungsbezogenen Theorie ist diesem Pol zuzurechnen. Demgegenüber stehen Ansätze wie die objektive Hermeneutik für ein anderes Theorieverständnis: Oevermann kontrastierte sein Konzept sowohl in Abgrenzung zur Ethnomethodologie als auch zu einer >sinnverstehenden

NachvollzugshermeneutikNormalbetrieb< (seit 1980)

sollen in the long run Strukturgeneralisierungen möglich werden. Ziel ist »die Entdeckung und Beschreibung allgemeiner und einzelfallspezifischer Strukturgesetzlichkeiten zugleich, sogenannter >generativer RegelnNormalbetrieb< (seit 1980)

Validierung im Erhebungs- und Auswertungsprozeß zugewandt; im Vergleich mit stärker standardisierten Untersuchungsdesigns wurde hier eine besondere Stärke der qualitativen Forschung vermutet. Trotz dieser Vorschläge95 bleiben mehr oder weniger grundsätzliche Zweifel an der Angemessenheit der der quantifizierenden Methodologie entlehnten Kriterien Hoffnungen richteten sich auf die Triangulation durch die Kombination verschiedener Methoden im Erhebungsprozeß, den Einsatz verschiedener Feld.

forscher und die Kombination verschiedener theoretischer Konzepte97. Darüber hinaus wurde versucht, Kriterien zu entwickeln, die der Logik der qualitativen Forschung angemessener sind. Glaser und Strauss schlugen vor, »die Beurteilungskriterien auf die einzelnen Elemente der im Rahmen der Theoriegenerierung für die Sammlung, Kodierung, Analyse und Darstellung der Daten jeweils angewandten Strategien zu stützen sowie auf die Art und Weise, in der die Theorie gelesen wird« ([1967] 1998:228); in den Mittelpunkt rücken sie Fragen der Glaubwürdigkeit. Guba und Lincoln favorisierten das Kriterium der Vertrauenswürdigkeit und der Authentizität; zudem verwiesen sie auf den Beitrag des hermeneutischen Prozesses (1989:233). Die Kochbuchdarstellungen bargen das Risiko, daß die im einzelnen doch recht voraussetzungsvollen Verfahren unzulässig routinisiert wurden diese Risiken korrespondierten durchaus mit den Qualitätsproblemen einer popularisierten quantifizierenden Forschung. Der stärkere Formalisierungsgrad z.B. der standardisierten Umfrageforschung bot hier jedoch weit bessere Möglichkeiten der Qualitätssicherung als die qualitativen Forschungstechniken. Während bei der Umfrageforschung wesentliche Entscheidungen (Operationalisierung, Entwicklung des Befragungsinstruments, sampling etc.) vor der eigentlichen Feldphase am grünen Tisch getroffen werden konnten, zeichnen sich qualitative Forschungsprozesse dadurch aus, daß viele Entscheidungen im Prozeß getroffen werden müssen. Eine Kontrolle dieser Entscheidungsketten kann vermutlich einen wesentlichen Beitrag zur Opti-

mierung qualitativer Forschungsprozesse erbringen. Flick schlägt die Entwicklung eines >Qualitätsmanagements für qualitative Forschungsprozesse< vor: das umfaßt »eine möglichst klare Definition der Ziele, die Dokumentation der Vorgehensweisen und Probleme sowie eine regelmäßige gemeinsame Reflexion von Vorgehen und Problemen« (288); dazu soll auch eine gemeinsame Prozeßevaluation gehören »verknüpft mit Beratung, Schulung und Fortbildung« (ebd.). Man könnte dieses von Flick

95

Vgl. Spöhring ([1989] 1995:30ft), Flick (1995:243ff). Vgl. dazu auch Glaser/ Strauss ([1967] 1998:228). Guba und Lincoln (1989:240) wandten gegenüber dem Triangulationskonzept jedoch berechtigterweise ein, daß dabei in einem positivistischen Sinne davon ausgegangen werde, daß es ein unveränderliches Phänomen gebe, das durch Triangulation exakter bestimmt werden könne. Ausführlicher hat sich auch Blaikie (1991) mit den impliziten Annahmen beim Gebrauch der Triangulationsmetapher in der Sozialforschung befaßt. 96

III.

Methodenentwicklung

413

vorgeschlagene Modell noch um weitere reflexive Strategien erweitern: Gruppeninterpretationen, Supervisionstechniken etc. Ein anderes Problem erwächst der qualitativen Forschung, wenn man die ihr zu Grunde liegende konstruktivistische Überlegung auf diese selbst anwendet98. Flick konstatiert, daß die Reflexion der Genese qualitativer Befunde, wie sie in der amerikanischen Debatte ausgehend von der Rolle der Interpreten oder den Problemen der Vertextlichung diskutiert wurde, in der Bundesrepublik bislang noch wenig rezipiert wird. In Deutschland zeige sich »eine zunehmende Konsolidierung, verbunden mit der Konzentration auf Verfahrensfragen in einer sich ausdehnenden Forschungspraxis. In den USA kennzeichnet dagegen eine Tendenz zur weiteren bzw. erneuten Infragestellung von scheinbaren Sicherheiten durch Methoden die jüngere Entwicklung: Durch die Betonung der Rolle der Darstellung im Forschungsprozeß, der Krise der Repräsentation und die Relativität des Dargestellten wird die Ausformulierung und Kanonisierung von Methoden eher sekundär« (Flick 1995:21).

Geertz z.B. hatte bereits früh auf die Probleme ethnographischer Daten hingewiesen99. Mit Atkinsons (1990) >The Ethnographie Imagination«: wurden die Textkonstrukte einer mit qualitativen Forschungsmethoden arbeitenden Soziologie einer kritischen Revision unterzogen100. Kritische Einwände gegenüber diesem rhetorical turn wurden auch von Hammersley (1993) vorgebracht101. Ein Teil dieser insbesondere im anglo-amerikanischen Raum geführten Debatten wurde in Deutschland unter dem Thema >Die Krise der ethnographischen Repräsentation (Berg/ Fuchs 1993a) rezipiert102; im übrigen steht im deutschsprachigen Diskurs eine Auseinandersetzung mit diesen Problemen von Ausnahmen abgesehen103 noch aus. -

-

98

Vgl. dazu auch Habermas (1981:183ff). In seinen Ausführungen zur >dichten Beschreibung« legte er dar: »Dieser Sachverhalt daß nämlich das, was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen tritt in den fertigen Texten der ethnologischen Literatur (...) nicht mehr zutage, weil das meiste dessen, was wir zum Verständnis eines bestimmten Ereignisses, Rituals, Brauchs, Gedankens oder was immer sonst brauchen, sich als Hintergrundinformation einschleicht, bevor die Sache selbst direkt untersucht wird« ([1973] 1983:14). Zur wissenschaftstheoretischen Argumentation von Geertz vgl. auch Horgan ([1996] 1997:248ff). Atkinson wies auf die Gleichgültigkeit hin, die Soziologen Fragen der Sprache und der Bedeutung ihren eigenen Texten entgegenbringen. »The language the texts of the sociologist has not received anything like the attention that the linguistic practices of those sociologists' >subjects< have. (...) Ethnographers are conscious of the cultural conventions that are their subject matter, but have all too often remained blissfully unaware of their own cultural conventions« (177); Hammersley argumentiert, daß mit dem rhetorischen Charakter von Untersuchungsberichten nicht notwendigerweise ein Anti-Realismus einhergehen müsse: »Consequently, it undermines neither validity as a standard for assessing ethnographic accounts nor the intellectual authority of the ethnographer« (1993:25). 102 Berg und Fuchs befassen sich in ihrem Beitrag mit den Problemen ethnographischer Repräsen-

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tation insbesondere am Beispiel der Ansätze von Malinowski und Geertz. Sie heben Geertz' Rolle bei der Initiation eines neuen »literarischen Bewußtseins der Ethnologie« (1993b:59) und für eine Reflexion der ethnographischen Praxis hervor. Sie kritisieren jedoch, daß er den von ihm geweckten Ansprüchen, z.B. an eine dialogische Validierung seiner Befunde nicht gerecht werde (60). Z.B. Reichertz' (1992) Beitrag über das >Verfassen ethnographischer Berichte«.

414

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980) 2.

Entwicklung der quantitativen Sozialforschung

In den siebziger Jahren war der standardisierenden Sozialforschung, insbesondere der Umfrageforschung vorgeworfen worden, daß sie mit der Befragung von Individuen ohne Berücksichtigung ihres zeitlichen (historischen), räumlichen und sozialen Kontextes nichts als Artefakte hervorbringen könne104; zudem wurde ihr die >Fixierung< auf metrische Daten und entsprechende Analyseverfahren und die Orientierung am hypothesentestenden Paradigma vorgehalten. In den achtziger Jahren entwickelte sich eine Binnenkritik an den vormals favorisierten Konzepten einer quantifizierenden nomologisch orientierten Sozialforschung, die über die verschiedenen Artefaktdebatten exemplarisch sollen hier die Überlegungen von und Esser (1979, 1987a,b) vorgestellt werden. Mayntz (1985b) nahm die jüngeren Irritationen analytischer Wissenschaftstheorie Mayntz durch die methodologischen Überlegungen Feyerabends, die Theorien von symbolischer Interaktion und Ethnomethodologie sowie einige organisationssoziologische Befunde zum Ausgangspunkt. Sie kritisierte, daß die Prämissen der analytischen Wissenschaftstheorie sich »höchst selektiv« auf spezifische Untersuchungssituationen konzentrieren und die »Untersuchung komplexer Phänomene auf Meso- oder Makro-Ebene« (1985b:76) kaum unterstützen. »Quantitative Methoden sind der Untersuchung einer großen Zahl von Fällen und der Prüfung von Hypothesen angemessen, die wenige Variablen miteinander verbinden; beides ist für die Forschung auf Aggregatniveau nicht typisch« (74); sie bezog sich dabei z.B. auf die fmplementa-

hinausging105;

tionsforschung.

Esser ging von verschiedenen Kritiken der >Variablensoziologie< bzw. von den Begründungen einer qualitativen Sozialforschung« aus. Diese Argumentationen kumulierten in einer auch von ihm geteilten Kritik an einer zunehmend routinisierten quantifizierenden und an dem Ausbleiben der »Bringschuld der quantitativen Sozialforschung: der systematische und kumulative Erkenntnisfortschritt in der Soziologie durch den Einsatz deduktiver Theorie und systematischer empirischer Kritik« (1987a:88); zudem konstatierte er, daß mit Prozessen der gesellschaftlichen Differenzierung auch die »Einheitlichkeit von Sozialisationsgeschichten wie die Ähnlichkeit von Situationen vorgegebenen Handlungsoptionen«

Sozialforschungspraxis106

Braudel hat diese Kritik auf den Punkt gebracht, als er die Untersuchungen der empirischen Sozialforschung auf ihre Art als eine Wette bezeichnete, »die immer wieder auf den unersetzlichen Wert der Gegenwart abgeschlossen wird, ihre >vulkanische< Glut, ihren wachsenden Reichtum« ([1976] 1984:199). 105 Vgl. Kriz (1988, 2000), Hilgers (1997), die Debatte in der Zeitschrift für Sozialpsychologie (Leiser 1982, Brocke et al. 1983, Kriz 1983) oder Sahner (1979). Er unterscheidet dabei einfache (z.B. Tabellenanalysen), komplexe (z.B. Pfadanalysen), meßtheoretisch verfeinerte (z.B. LISREL) und dynamisierte (z.B. Ereignisanalysen) Routinen der Datenanalyse.

III.

Methodenentwicklung

415

abnimmt. Esser teilte jedoch nicht unbedingt die daraus gezogemethodischen und methodologischen Konsequenzen wenngleich er eine wechselseitige Ergänzung von qualitativen und quantifizierenden Methoden als selbstverständlich erachtete; vielmehr machte er deutlich: daß die verschiedensten Formen der Interpretationen prinzipiell durchaus »deduktiv, analytisch, systematisch und (...) quantitativ erfaßbar« (1987a:98) sind und daß die Frage des >Verstehens< mit einem adäquaten handlungstheoretischen Modell durchaus handhabbar sei; daß die Kritik an der mangelnden Kontextbezogenheit, die sich an der Individualbefragung festmachte, mit der Verwendung komplexerer Erhebungs- und Auswertungsmethoden durchaus aufgenommen wurde; daß Variablenzusammenhänge »nicht mehr das Ergebnis, sondern das Ausgangsmaterial einer handlungstheoretischen Erklärung« (96) sein müßten und daß diese handlungstheoretischen Explikationen an die Stelle strukturtheoretischer Erklärungsmuster treten. Wie bei Esser anklingt, wurde auf die in den sechziger und siebziger Jahren formulierten Kritiken an der standardisierten Sozialforschung im Laufe dieser Entwicklungsphase in verschiedener Weise eingegangen.

(1979:19)

nen

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a) Neue Forschungsdesigns und Untersuchungsperspektiven In vielen Untersuchungsansätzen zeigte sich eine veränderte Perspektive auf die Phänomene der sozialen Welt. Mit der Untersuchung von Haushalten und Netzwerken und mit den spezifischen Verfahren der Netzwerkanalyse, wurde auf die Kritik an der > Atomisierung< von sozialen Beziehungen in der

standardisierten Sozialforschung eingegangen. Durch die Analyse von Objekten im zeitlichen Verlauf wurde dem Vorwurf der >Ahistorizität< und der Vernachlässigung von Kontexten begegnet. Mit der Ereignisanalyse, oder der Lebensverlaufsforschung lagen Forschungsansätze vor, die aus der Analyse von zeitlichen Verläufen in neuer Weise der Frage der Rekonstruktion von kausalen Beziehungen in Handlungszusammenhängen oder von >Veränderungsprozessen unterhalb der Systemebene«107 nachgingen. Diese perspektivischen Erweiterungen setzen jedoch auch spezifische Datensätze voraus (Netzwerkdaten, bzw. Panel- und Ereignisdaten). b) Verfahren der Datengewinnung Nach wie vor gehört das (standardisierte) Interview zu den dominanten Erhebungsverfahren in der empirischen Sozialforschung. Die wachsende Verbreivon Telefonen ermöglichte es, daß bei der Erhebung zunehmend auf Telefoninterviews zurückgegriffen werden konnte; 1990 lag der Anteil telefo-

tung

Mit der Analyse von Paneldaten sollen Veränderungsprozesse untersucht werden, die die Stabilität eines Systems oder seinen Wandel hervorbringen. Vgl. Engel/ Reinecke (1994:2).

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D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

nischer Interviews in der wissenschaftsorientierten Sozialforschung bei 6% in der Markt und Meinungsforschung bei 12% (Bausch 1990:69). Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die Entwicklung von Programmen zur computergestützten telefonischen Befragung; diese ermöglichten die Einbeziehung auch von nicht-registrierten Teilnehmern. Zudem eröffneten sie mehr Kontrollmöglichkeiten bei der Durchführung der interviews; nicht zuletzt entfiel auch die Dateneingabe als ein separater Arbeitsschritt. Auch die Kostenvorteile gegenüber dem persönlich geführten Interview sind erheblich. Die für Telefoninterviews notwendige technische Infrastruktur wurde zunächst im Bereich der kommerziellen Befragungsinstitute bereitgestellt; erst allmählich fand sie sich auch in einigen akademischen Einrichtungen; Scheuch spricht von einer etwa zehnjährigen Verspätung (1999:11). Mit den technischen Entwicklungen der Kommunikationsmedien zeichnet sich bereits der nächste Entwicklungsschritt, Befragungen (aber auch Experimente) unter Nutzung des Internet, ab. Die große Bedeutung der standardisierten interviews hat diese auch ins Zentrum der Methoden- bzw. Artefaktforschung gerückt. Die bereits in den siebziger Jahren entwickelte Forschung zu den Problemen des standardisierten Interviews hat sich in den achtziger und neunziger Jahren weiter differenziert. Zunächst wurde versucht, die Entwicklung der Instrumente durch eine weitere Standardisierung zu verbessern; 1983 wurde von der ZUMA ein mehrbändiges Handbuch zu sozialwissenschaftlichen Skalen vorgelegt. Auch die stärkere Einbeziehung sozialpsychologischer Erkenntnisse109 oder der Versuch einer theoretisch geleiteten Systematisierung der Itemkonstruktion"0 sollte methodisch begründetes Vorgehen an die Stelle des >Kunsthandwerks< setzen. Die Forschung zu Verzerrungen und Artefakten im Interview differenzierte sich nach verschiedenen Perspektiven auf den Erhebungsprozeß: so bildeten sich fragebogenzentrierte (Frageformen und -Inhalte, Abfolge von Fragen, Antwortvorgaben etc.), interviewerzentrierte (Interviewsituation, Beeinflussungen, Fälschungen etc.) und befragtenzentrierte (soziale Erwünschtheit, Zustimmungstendenzen etc.) Ansätze heraus. Die Erkenntnisse aus diesen Forschungen ließen sich jedoch nur bedingt in eine qualitative Verbesserang der Interviewforschung umsetzen; eher lieferten sie einen Beitrag zur Einsicht in die Grenzen der standardisierten Befragung. Diese Angabe entstammt der Befragung des Informationszentrums Sozialwissenschaft; sie bilam ehesten die wissenschaftsorientierte Sozialforschung ab. Dieser Anteil hat sich auch in den neunziger Jahren nicht erhöht. Mayer bezeichnete die beim ZUMA entstandenen Arbeiten zu den kognitiven Grundlagen (Norbert Schwarz u.a.) als »eine Wasserscheide in dem Übergang von der Umfrageforschung als Kunsthandwerk zu einer theoretisch fundierten Methodik, in ähnlicher Weise wie dies schon Jahre vorher für die von Esser und anderen entfaltete rational cAoice-Theorie der Befragung galt« det

(1999:35). Siehe Borgs (1995) Ansatz einer Facettentheorie.

III.

Methodenentwicklung

417

Als ein zentrales Problem der achtziger und neunziger Jahre erweisen sich die sinkenden Ausschöpfungsquoten bei standardisierten Befragungen. Vor diesem Hintergrund wurde verstärkt nach Alternativen gesucht; Mayer verweist auf die »Erprobung alternativer Stichproben und Datenquellen Telephon, und alternativer Internet, Beschäftigungsregister, Mikrozensuszugang Feldverfahren Total-Design-Method -, aber auch (auf) einen veränderten Umgang mit unvollständigen Daten Imputationsverfahren und Korrekturschätzer für Selektivität« (1999:36). Angesichts dieser Probleme der Umfrageforschung gewannen die Daten der amtlichen Statistik wieder an Attraktivität. Auch die Verfahren der Datenanalyse waren mit den sinkenden Ausschöpfungsquoten vor neue Probleme gestellt"1. Die Ausschöpfüngsprobleme stellten sich in besonderem Maße für Panel-Studien aber auch für Netzwerkanalysen; der Versuch einer komplexeren Abbildung sozialer Verhältnisse stellt durchgängig auch höhere Anforderungen an die Verfahren der Datenerhebung. -

-

-

-

Verfahren der Datenanalyse Wichtige Innovationen erfolgten im Bereich der multivariaten Analyse kategorialer Daten. Verfahren wie die loglineare Analyse und die aus der multiplen Regression abgeleiteten Logit- und Probit-Modelle wurden in zunehmendem Maße eingesetzt; es erscheinen einführende Darstellungen zur Analyse kategorialer Daten112; die Verfahren und ihre Probleme wurden in den einschlägigen Zeitschriften besprochen. Auch die zunehmende Implementierung dieser Verfahren in den Programmpaketen zur Datenanalyse trug nicht unerheblich zu ihrer Verbreitung bei. Mayer (1999:36) konstatiert, daß sich diese discrete cAo/ce-Modelle mittlerweile als Standardverfahren durchgesetzt haben. Mit der Korrespondenzanalyse standen auch explorative Modelle für die Analyse kategorialer Daten zur Verfügung. Daneben entwickelte sich auch die Analyse metrischer Daten weiter; während die Pfadanalyse bereits in den siebziger Jahren angewandt wurde, wurden in den achtziger Jahren zunehmend die auf der Analyse linearer Strukturgleichungsmodelle beruhenden >LISREL-Modelle< eingesetzt113. Der mit dem LISREL-Ansatz gelegentlich verknüpfte Anspruch der Kausalanalyse114 ging jedoch über die Möglichkeiten der Analyse der üblicherweise verwandten Querschnittsdaten hinaus.

c)

Schwindende Ausschöpfungsquoten stellen auch »die naive Anwendung der Inferenzstatistik in Frage. Die formale Einsicht in die Folgen von Selektivität als sample selection bias in der Korrelation zwischen Auswahlverzerrang und abhängigen Variablen bedrohen zunehmend auch das Zutrauen in kausale Befunde« (Mayer 1999:40). 112 Z.B. Urban (1993) oder Andreß/ Hagenaars/ Kühnel (1997). Diese LISREL-Modelle werden zu einem Synonym für eine »routinehafte VariablenSoziologie«, die unter >Theorie< ein möglichst kompliziertes (z.B. in der Sprache von LISREL formuliertes) Kausalmodell versteht« (Esser 1987:102). So der Titel des achten Bandes der von Koolwijk und Wieken-Mayser 1986 herausgegebenen >Techniken der empirischen Sozialforschung«.

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D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Die Analyse der verschiedensten

Typen von Längsschnittdaten (Trenddaten,

Kohorten, Paneldaten, Ereignisdaten) war nur sehr bedingt mit dem Instru-

mentarium möglich, das bislang für die Analyse von Querschnittdaten eingesetzt wurde und das seit den siebziger Jahren eine gewisse Verbreitung gefunden hatte. In den achtziger und neunziger Jahren wurden daher spezifische Verfahren, für die Analyse von Paneldaten"5 sowie von Ereignisdaten eingesetzt. Diekmann und Mitter (1990:408) schildern am Beispiel der Ereignisanalyse wie diese, ausgehend von insbesondere biometrischen und demographischen Anwendungen, Mitte der achtziger Jahre auch in der soziologischen Forschung Fuß faßte, indem eine zunehmende Zahl von einschlägigen Zeitschriftenbeiträgen, Aufsatzsammlungen und Lehrbüchern entstanden. Die Verbreitung und Popularisierung der verschiedenen Verfahren zur Längsschnittanalyse setzte jedoch auch den Zugriff auf entsprechende Daten voraus. Soweit nicht auf Sekundärdaten zurückgegriffen werden konnte, war die Produktion derartiger Datensätze in der Regel weitaus aufwendiger als bei >einfachen< Querschnittdaten; hier spielten einzelne Sonderforschungsbereiche eine wichtige Rolle" Sie haben neben dem sozioökonomischen Panel dazu beigetragen, daß die Ereignisanalyse aus dem Erprobungsstadium hinaus in das Stadium >normaler< Anwendungen in der so.

ziologischen Forschung gelangte (Diekmann/ Mitter 1990:408). Neben diesen komplexen analytischen Verfahren ist auch eine Renaissance"7 der deskriptiven und explorativen Forschung zu verzeichnen. Diese war angesichts des dominierenden hypothesentestenden Paradigmas in den Ruf geraten, weniger >wissenschaftlich< zu sein; ihr wurde eher der Charakter von Vorstudien zugewiesen. Demgegenüber kann man in den achtziger und neunziger Jahren von einer breiten Palette an Verfahren sprechen, die sich explizit auf diesen Bereich der Exploration und Deskription bezogen"8; Schnell spricht von Ansätzen der »theoriefreien Beobachtung« (Schnell 1994:8). Zu verweisen ist dabei auf das Konzept der Explorativen Datenanalyse (Tukey), auf clusteranalytische Verfahren, auf die Korrespondenzanalyse und auf Verfahren der graphisch orientierten Datenanalyse. Mayer geht für den Bereich der Datenanalyse davon aus, daß »der Anfang der neunziger Jahre von ihrem Ende Lichtjahre entfernt« (1999:36) sei. Diese Einschätzung täuscht jedoch darüber hinweg, daß nach wie vor die >klassi115

Ein Überblick findet sich bei Engel/ Reinecke (1994:11), eine Einführung bei Blossfeld/ Hamerle/ Mayer (1986). Diekmann und Mitter verweisen 1990 auf eine Reihe von Projekten, die sich in der Bundesrepublik mit der Erhebung und Auswertung von Ereignisdaten befassen: »Dazu zählen die Lebensverlaufsstudie des SFB 3, das >Sozioökonomische Panel«, das in der Erhebungsphase befindliche DJI-Projekt >Dauerbeobachtung von Familien«, das Kölner Gymnasiastenpanel, die Studien über Berufsverläufe und die Lebensdauer von Unternehmen im Münchner SFB 333 und die Arbeiten über >Statuspassagen< im neugegründeten sozialwissenschaftlichen SFB an der Universität um nur einige der größeren Projekte zu nennen« Bremen, (408). 117 (1999:42) verweist auf »eine Renaissance des Wertes deskriptiver Untersuchungen«. Mayer 118 Zusammenfassend zu Modellen der explorativen Datenanalyse: Jambu (1992).

III.

Methodenentwicklung

419

sehen Verfahrene der Korrelations- und Regressionsanalyse [vgl. C50-51] die größte Rolle innerhalb der Verfahren der Datenanalyse spielten. Während Verfahren wie die Faktoren- oder Clusteranalyse im Laufe der Zeit eine geringere Aufmerksamkeit erfuhren, gewannen neben LISREL auch die multivariaten Auswertungsverfahren für kategoriale Daten sowie die Ereignisana-

lyse an Bedeutung.

In dem bei Schnell/ Hill/ Esser (1999) gegebenen Überblick über multivariate Datenanalyseverfahren werden zwei typische Probleme angesprochen, die sich mit diesen Entwicklungen der Datenanalyse einstellten; zum einen wird das Verhältnis von >Aufwand< und >Ertrag< erörtert: so wird zur Netzwerkanalyse wie auch zur Mehrebenenanalyse angemerkt, daß bislang »der hohe formale Aufwand in kaum einem Verhältnis zu den inhaltlichen Ergebnissen steht« (425)119; zum anderen wird die Einschätzung und Interpretation von Befunden problematisiert: so wird zu den Logit- und Probit-Modellen, zur Ereignisanalyse und zu den LISREL-Modellen eingewandt, daß eine Beurteilung der Güte der erhaltenen Befunde recht schwierig sei120; bei der Clusterund der Korrespondenzanalyse wird daraufhingewiesen, daß die Begründung (einzelner Verfahrensentscheidungen) und die Interpretation der Befunde Probleme aufwerfe. Damit wird ein Dilemma erkennbar, das sich mit den Fortschritten in der standardisierten Datenanalyse einstellte; die z.B. bei Schnell/ Hill/ Esser avisierte stärkere Vermittlung von soziologischer Theoriebildung und empirischer Forschung scheint mit den methodischen Fortschritten eher schwieriger als leichter zu werden; das erforderliche Wissen um die komplexen Verfahren der Datenanalyse121, aber auch um Fragen der Stichprobenziehung und Datenerhebung befördert eher eine weitere Verselbständigung der methodischen Diskurse.

Ähnliche Hinweise finden sich auch zu den Verfahren der graphisch gestützten Datenanalyse bei Schnell (1994). 120 Zum Verhältnis von Aufwand und Ertrag vgl. auch Giegler (1984). Kriz mahnte: »Je komplexer die formalen Algorithmen sind, desto schwieriger wird es für die Forscher, deren inhaltliche Entscheidungssequenz nachzuvollziehen, die dafür relevanten Parameter zu dokumentieren und über entsprechende Alternativen nachzudenken« (1985:88).

420

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

d) Veränderte Ressourcen In den achtziger und neunziger Jahren haben sich die technischen und infra-

strukturellen Ressourcen der standardisierten Sozialforschung weiter verbessert. Mit der sich allmählich durchsetzenden Mikrocomputertechnologie122 und entsprechenden Analysepaketen123 standen zunehmend leistungsfähigere technische Ressourcen einem breiten Kreis von Nutzem zur Verfügung. Die sozialwissenschaftlichen Infrastraktureinrichtungen stellten Beratungsangebote für die Forschung bereit und ermöglichten den Zugang zu einer Vielzahl von Datensätzen124 für die Sekundäranalyse; zudem wurden mit der ALLBUS- bzw. der ISSP-Befragung und mit dem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung betreuten sozioökonomischen Panel (SOEP) Datensätze erstellt, die sich primär an Forschungsbelangen orientierten. Zudem fielen im Regelbetrieb von computerisierten Betrieben und Verwaltungen aufbereitete Datenbestände an, die für die Sekundäranalyse eingesetzt werden konnten. Mayer kommt für die neunziger Jahre zu dem Resümee: »Das Geschäft der empirischen Sozialforschung ist schwieriger und teurer geworden und erfordert ein Mehr an Forschungsorganisation« (1999:42). Eine solche Entwicklung untergräbt jedoch möglicherweise die Voraussetzungen, die eine Popularisierung der empirischen Sozialforschung in Form der standardisierten Umfrageforschung begünstigt hatten: diese stellte ein vergleichsweise kostengünstiges Instrument dar, das kurzfristig Ergebnisse hervorbrachte, und scheinbar keine besonders hohen Ansprüche an seine Handhabung stellte.

3. Das Verhältnis

von

qualitativer und quantitativer Sozialforschung

Im Bereich der methodischen

Entwicklung hat sich mit der Renaissance der qualitativen Forschungsverfahren in dieser Phase eine gewisse Normalisierung vollzogen. Als ein Indikator kann die für den Weltkongreß 1994 vorgelegte Darstellung zur Entwicklung der Sozialforschung in Deutschland gelten, wo qualitative wie quantitative Forschungsansätze als >gleichberechtigte< Praktiken der Sozialforschung erschienen (Hopf/ Müller 1994). In der von Hofrnann 1984 durchgeführten Erhebung dominieren in der EDV-Ausbildung noch die Großrechner (1986:47). 123 Nach der Erhebung Hofmanns (1986:46) wurde mehrheitlich (92%) SPSS eingesetzt; andere mehr oder weniger spezialisierte Programmpakete wie LISREL, BMDP, GLIM und CLUSTAN werden in 30-40% der Fälle angegeben. Mayer verweist beispielsweise auf die Wahlstudien, den World Value Survey, die TIMMSStudien und PISA zu Schulleistungsvergleichen, das Eurobarometer, die Familien- und Jugendsurveys, die Wohlfahrtssurveys, die Luxembourg Income Study, den Alterssurvey, die Serie von

Zeitbudget-Studien (1999:39).

III.

Methodenentwicklung

421

a) Forschungspraxis

Erhebung des Informationszentrums Sozialwissenschaften wurden quantifizierende Untersuchungen i.d.R. mit mehr als 100 Fällen ausgewertet. Aus dem Verhältnis von gemeldeten Projekten und nach diesem Kriterium >quantitativen< Projekten lassen sich aber einige Schlüsse auf die Erhebungspraxis ziehen. Zwischen 1978 und 1984 hat sich demnach eine deutliche Verschiebimg hin zur qualitativen Forschung vollzogen; lag die Quote der quantifizierenden Forschung 1978 für die BRD bei 78% (1467 von 1877) sank sie bis 1984 auf 51% (940 von 1846). Diese Tendenz setzte sich auch in den folgenden Jahren fort; die Daten der Forschungserhebung zeigen ein etwa ausgewogenes Verhältnis von quantitativen und qualitativem (besser: nicht-quantitativen) Projektmeldungen. Während die Soziologie in der Verteilung von quantitativen und qualitativen Projekten dem Durchschnitt folgte, zeigt sich eine Dominanz von quantitativen Projekten in der Psychologie (63% der dort gemeldeten Projekte) und der Rechts- und Kriminalforschung (72%); umgekehrt dominierten im Bereich der politikwissenschaftlichen (71%), der erziehungswissenschaftlichen (58%) und der sozialpädagogischen (61%) Forschung qualitative Forschungsansätze. [D3] Bei den eingesetzten Methoden der qualitativen und quantitativen Forschung herrschten (verschiedene Typen) des Einzelinterviews vor. Bei den quantitativen Projekten wurde stärker mit schriftlichen Befragungen und Sekundäranalysen gearbeitet; im Bereich der eher qualitativen Forschungsansätze wurden in ausgeprägterem Maße Expertengespräche, Beobachtungen, Akten- und Dokumentenanalysen sowie Gruppendiskussionen eingesetzt [D4]. Nach der Forschungserhebung des Zentralarchivs für 1993 unterschieden sich >quantitative< und nicht->quantitative< Projekte kaum hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur: Projektleitung, Zahl der Mitarbeiter, männliche und weibliche Mitarbeiter (ZA 1994:XVIIIf); auch bei den Projektlaufzeiten zeigten sich kaum Unterschiede (ZA 1989:XVI). Bei den qualitativen Forschungsarbeiten waren Qualifikationsarbeiten in stärkerem Maße vertreten125. Ab 1990 wurde in den Befragungen des Informationszentrums auch das Forschungsdesign erfragt [D5]. Während der Anteil von Querschnittserhebungen (ca. 50%) weitgehend konstant blieb, zeigen sich bei der Verwendung von Panel- und Trenddaten gewisse Zuwächse (1994: 16% bzw. 24%). Der vielfach geforderte >Methodenmix< läßt sich in der Forschungspraxis In der

nur

durchaus wiederfinden: in den als quantitativ eingeordneten Projekten wird 30% auch mit qualitativen Methoden gearbeitet, in etwa 20% wurden auch Fallanalysen durchgeführt. Neben der Erhebung des Informationszentrums, die eher den Bereich der wissenschaftsorientierten Sozialforschung zu

125

2yo/0 ,jer qualitativen Projekte waren Qualifikationsarbeiten; bei der quantitativen der Anteil bei 25% (ZA 1992:XIII).

Forschung lag

422

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

abdeckt, wurde 1988/89 eine schriftliche Befragung

zur

Forschungspraxis

der Markt- und Meinungsforschungsinstitute durchgeführt126. Wenngleich die Erhebung dieser Daten mit vielerlei Unscharfen verbunden ist, wird doch erkennbar, daß qualitative Untersuchungsansätze in dieser Phase auch in der Forschungspraxis einen beachtlichen Stellenwert erlangt haben.

b)

Der Methodendiskurs

Fachzeitschriften Weitere Rückschlüsse auf die

Forschungstätigkeit, insbesondere der wissenschaftsbezogenen Sozialforschung lassen sich aus den Beiträgen in den soziologischen Fachzeitschriften ziehen [D6]. Gegenüber den vorangegangenen Entwicklungsphasen lag der Anteil von Artikeln, in denen es um Verfahren der quantitativen und qualitativen Sozialforschung ging, in den achtziger Jahren mit 11,4% am höchsten und erfuhr in den neunziger Jahren (8%) einen leichten Rückgang127. Wie diese Angaben zeigen, kam es keineswegs zu einer Verschiebung im methodischen Interesse (von quantitativen zu qualitativen Fragen); vielmehr scheint es eine Konjunktur für die Befassung mit methodischen und methodologischen Fragen zu geben, die beiden Forschungsansätzen eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen ließ; der Anteil von Beiträgen zur quantitativen Forschung lag bei 20% (achtziger Jahre) bzw. 13% (neunziger Jahre). Deutlich erkennbar ist das gewachsene Interesse, das dem Erhebungsinstramentarium (12%) und Fragen des Forschungsdesigns (4%) in den achtziger Jahren zukommt; hier ist in den neunziger Jahren ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Betrachtet man nur die in den Zeitschriftenbeiträgen angeführten empirischen Untersuchungen der Anteil von Artikeln mit empirischer Fundierung lag zu Beginn der neunziger Jahre bei etwa 40% wird deutlich, daß der Anteil qualitativer Erhebungsmethoden im Zeitraum von 1989-1993 bei -

-

Es wurden 137 Markt- und Meinungsforschungsinstitute befragt; der Auswertung lagen 85 Fälle (62%) zu Grunde. Zu den Erhebungsverfahren machten die befragten Institute folgende Angaben: persönliche Befragung 53,1%; schriftliche Befragung 16,7%; telefonische Befragung 11,8%;

computergestützte Befragung 1,4%; sonstige Befragungstechniken 4,0%; Beobachtungsverfahren 7,9%; sonstige Beobachtungen 5,1%. 21% der befragten Institute gaben an, daß sie Panels (Ver-

braucherpanels, Einzelhandelspanels und Produkttestpanels) unterhalten (Bausch 1990:69). Bei den eingesetzten Stichprobenverfahren spielten nach wie vor die Quotenverfahren eine wichtige Rolle (72). Quelle: Eigene Auswertung auf Basis der SOLIS-Datenbank. Die Mehrfachantworten wurden auf die Fallzahl bezogen prozentuiert. In der ersten Phase lag die Zahl der Angaben pro Artikel deutlich unter dem Durchschnitt der späteren Phasen; dadurch ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Phasen möglicherweise eingeschränkt.

III.

immerhin 35% lag128 [D7]; suchten Zeitschriften129.

er

Methodenentwicklung variierte

jedoch stark zwischen

423

den unter-

Lehrbücher Veränderungen im Bereich der qualitativen wie der quantifizierenden Sozialforschung finden sich in den Lehrbüchern zur empirischen Sozialforschung nur bedingt wieder. Mayer kommt zu der ernüchternden Einschätzung: »Wenn man sich neuere Lehrbücher der Methoden der empirischen Sozialforschung also den Kanon durchsieht, so ist man zunächst einmal überrascht, wie wenig sich selbst im Vergleich mit den sechziger Jahren, zumal seit dem Ende der siebziger Jahre verändert hat. Man muß schon fast mit der Lupe suchen, um Unterschiede in der grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Position, im Hinblick auf Forschungsdesign, Skalierung, Stichproben, Datenerhebung und Datenanalyse zu finden« (1999:33). Lehrbücher, die Ende der sechziger oder in den siebziger Jahren entstanden waren, kamen in (mehr oder weniger grundsätzlich) überarbeiteter Form noch in den achtziger und neunziger Jahren zum Einsatz. Dieses retardierende Moment scheint auch ein Ausdruck der Generationsstruktur der Hochschullehrerschaft zu sein. Gegenüber den recht selbstkritischen Debatten um die Rolle der Soziologie und empirischen Sozialforschung, bildete der in der Lehre vermittelte Kanon eher einen Hort der Orthodoxie: weder die neueren methodischen Entwicklungen noch die Irritationen des Verwendungsdiskurses wurden hinreichend berücksichtigt. Mit den Lehrbüchern von Schnell/ Hill/ Esser, Diekmann und Bortz/ Döhring lagen wichtige Neuerscheinung vor. Die Einführung von Schnell/ Hill/ Esser setzte sich zum Ziel, die Probleme der Verbindung von soziologischer Theorie und systematischer empirischer Überprüfung stärker in den Vordergrund zu rücken (1). Daher sei ein Kapitel zur Geschichte der Sozialforschung und zu ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen eingefügt worden. Dieser wissenschaftstheoretische Teil wurde gegenüber dem klassischen Programm«: um Darlegungen zum radikalen Konstruktivismus, zur kritischen Psychologie sowie zu den Ansätzen von Kuhn, Feyerabend und Lakatos erweitert. Im übrigen folgte das Lehrbuch dem Kanon, der mit den Lehrbüchern der siebziger Jahre umrissen worden war. Das Lehrbuch Diekmanns wies im Aufbau große Ähnlichkeiten auf; Unterschiede lagen u.a. darin, daß den »abstrakten Problemen der Wissenschaftsphilosophie« (1995:12) weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Die weitreichenden

-

-

128

Quelle: Diekmann (1995:373). Die Angaben gehen auf eine Auswertung von V. Trivigno zurück. Ausgewertet wurden sämtliche Artikel (KZfSS, SW, ZfS) im Erhebungszeitraum 1989 bis 1993 (N=445). Mehrfachangaben waren möglich. Der Anteil von Beiträgen mit qualitativen Erhebungsverfahren lag bei der >Sozialen Welt« um ein mehrfaches über dem Anteil in der >Kölner Zeitschrift«. Der Bedeutungszuwachs der qualitativen Forschungsmethodik scheint demnach auch von der >Publikationspolitik< der sozialwissenschaftlichen Zeitschriften abzuhängen.

424

D.

Untersucht

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980) Lehrbücher auf die

Darstellung des Verhältnisquantifizierenden qualitativen Forschungsansätzen, so stößt man auf einen nur wenig gebrochenen >Alleinvertretungsanspruch< der quantifizierenden Forschungsansätze. Am stärksten ist dieser Ansprach bei man

die

neueren

ses von

und

Schnell/Hill/Esser ausgeprägt130. Bei Diekmann (1995) wurde ein anderer Weg gewählt; hier wurden im Kapitel Datenerhebung in den Abschnitten zur Befragung, Beobachtung und fnhaltsanalyse jeweils auch die entsprechenden qualitativen Erhebungsverfahren besprochen. Bei der Beschäftigung mit den Grundlagen der Sozialforschung, mit der Untersuchungsplanung und beim Ausblick auf die Datenauswertung spielten qualitative Forschungsansätze jedoch keine Rolle. Die Beschäftigung mit der qualitativen Sozialforschung wurde in den Abschnitt zu den qualitativen Befragungsmethoden verlagert; am Ende wird auf eine zunehmende Lockerung der Frontstellung zwischen >qualitativ< und >quantitativ< verwiesen, und es drückt sich die Hoffnung aus, die qualitative Forschung möge zu den bei Lazarsfeld, Merton und Kendall formulierten Überlegungen zu qualitativen Verfahren zurückkehren (455). Als Pendant zu diesem Lehrbuchtyp finden sich dann eigene Lehrbücher und Einführungen zur qualitativen Sozialforschung. Im deutschsprachigen Bereich gibt es keine Lehr- und Einführangsbücher, die eine übergreifende Perspektive einnehmen und sowohl in quantifizierende wie in qualitative Verfahren einführen131. Wie bei den Lehrbüchern zu den (Erhebungs)-Methoden der empirischen Sozialforschung herrschte auch bei den deutschsprachigen Statistiklehrbüchern eher eine beharrende Tendenz vor; es fehlte an einführenden Darstellungen, die auch auf neuere Entwicklungen Bezug nahmen; in der Regel wurden Querschnittdaten als der >reguläre< Datentyp einer sozialwissenschaftlichen Statistik angesehen (z.B. Bortz [1977] 1993). Ausgesprochene Kochbücher für komplexere statistische Verfahren z.B. Backhaus (1990) sind im engeren sozialwissenschaftlichen Bereich selten; demgegenüber -

-

130 In der sechsten (völlig überarbeiteten und erweiterten) Auflage von 1999 findet sich in dem Abschnitt >Untersuchungsformen< ein Hinweis auf weitere Forschungsstrategien, der mit einer Fußnote wie folgt erläutert wird: »Je nachdem, welche Kriterien man für die Kennzeichnung einer Vorgehensweise als Untersuchungsform anlegt, kann man weitere Strategien charakterisieren und mit Namen benennen: z.B. die qualitative Sozialforschungs, die zumeist auf der Grundlage von Einzelfällen unstandardisierte Interviews verwendet, die >oral historys, die sich auf die Analyse mündlich wiedergegebener Biographien konzentriert, u.a. Diese häufig als Untersuchungsformen gekennzeichneten Vorgehensweisen stellen jedoch kaum eigenständige Forschungsstrategien, wie etwa das Experiment oder das Panel, dar. Es sind vielmehr spezielle Kombinationen von unterschiedlichen Techniken bei der Operationalisierung, Bestimmung der Auswahlelemente oder der

(235, Fn.2). Datenerhebung« 131 Bei Bortz/Döring ([1984] 1995)

deutet sich eine solche Integration an; es stellt sich aber wie bei Diekmann das Problem, daß sich die konzeptionellen Überlegungen zum Forschungsprozeß und seinen Regeln sowie zum Forschungsdesign sehr stark an dem hypothesentestenden Konzept orientieren. Als ein gelungenes Beispiel aus dem angelsächsischen Bereich können Ragin (1994) oder Gilbert (1993) gelten.

III.

Methodenentwicklung

425

vermittelt die deutschsprachige Methodenliteratur zur Statistik eher den Eindruck, »daß ohne ein vollständiges Mathematikstudium die Bewältigung statistischer Probleme kaum möglich sei« (Schnell/ Hill/ Esser 1999:432). Die

Methodenausbildung

Entwicklungen im Bereich der Lehrbücher korrespondierten, soweit zu ersehen, mit den Entwicklungen in der Ausbildung an den Hochschulen. Wie die Befunde von Heitbrede (1986:111) zeigen, stand die Ausbildung in >Methoden< nach wie vor an der Spitze (12% der Veranstaltungen) der soziologischen Lehrgebiete132 die Schwankungen zwischen den einzelnen Hochschulen waren jedoch erheblich. Damit korrespondiert der Befund Hofmanns (1986:44ff), daß ca. 12% der Professoren und auch der wissenschaftlichen Mitarbeiter in diesem Bereich tätig waren (1986:39); rein rech-

nerisch

waren von einem Professor bzw. einer Professorin im Methodenbereich 524 Studierende zu betreuen133. Die von Hoftnann erhobene thematische Orientierung der Lehrveranstaltungen gibt einen groben Überblick über die Schwerpunkte der Methodenausbildung an westdeutschen Hochschulen [D8]134. Ob der Ausbildungsanteil in qualitativen Methoden zu gering ist, wie verschiedentlich beklagt135, kann auf Basis dieser Daten nicht unbedingt entschieden werden, zumal davon auszugehen ist, daß er gegenüber dieser 1984 durchgeführten Erhebung noch zugenommen hat.

c) Das Verhältnis von qualitativen und quantitativen Forschungsansätzen Das verschiedentlich vermittelte Bild der aufgeklärten Koexistenz von qualitativen und quantitativen Forschungsanätzen ist trügerisch; bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß dieses Verhältnis nach wie vor nicht unproblematisch ist.

Methodologische und methodische Aspekte In vielen Darstellungen zur qualitativen Sozialforschung werden Überlegungen angestellt, wie eine >Arbeitsteilung< von qualitativer und quantifi132

Dieser Anteil blieb auch in den folgenden Jahren stabil. Anfang der neunziger Jahre kommt ArAuswertung der zeitweilig betriebenen LEHRE-Datenbank des IZ Sozialwissenschaften auf einen Methodenanteil (ohne Wissenschaftstheorie) von 10,9% (1996:74). auch C53], [Vgl. 133 Angesichts der Zahl der im Methodenbereich tätigen Hochschullehrer und Mitarbeiter und eines angenommenen Lehrdeputats von 6 bzw. 3 Semesterwochenstunden kommt Hofmann zu der Abschätzung, daß etwa die Hälfte der Methodenveranstaltungen von >Nicht-Methodologen< erbracht werde. 134 Das Grundstudium war von zwei Veranstaltungstypen dominiert: Einführungen in die Methoden der empirischen Sozialforschung (44%) und Einführungen in die Statistik (36%); im Hauptstudium schlüsselte sich das Angebot weiter auf. Die Beschäftigung mit qualitativen Forschungsmethoden (14%) scheint eher im Hauptstudium zu erfolgen; es können sich aber auch in den Methodenkursen entsprechende Inhalte verbergen, wenngleich die Struktur der Lehrbücher eher datus auf Basis einer

gegenspricht. 135 Vgl. Hopfund Müller (1994:66).

426

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Forschung aussehen kann oder wie beide Ansätze im Rahmen von Forschungsvorhaben >integriert< werden könnten. Bei Flick (1995:280ff) werden verschiedene Modelle der Kombination von qualitativen und quantifizierenden Methoden vorgestellt: zum einen Modelle, die explizite Präferenzen zu Grunde legen und entweder den quantifizierenden oder den qualitativen Verfahren eine Vorrangstellung einräumen; zum anderen Modelle, die im engeren Sinne um eine Integration bemüht sind. Am populärsten ist zierender

dabei die Variante der Triangulation136; daneben werden unter Bezug auf Miles und Huberman (1984) verschiedene Modelle der Verschränkung im

Untersuchungsprozeß dargestellt. Bei Lamnek werden drei typische Modelle des multimethodischen Vorgehens expliziert (2000:29f): Die Zuweisung von qualitativen und quantitativen Verfahren erfolgt im Explorationsmodell nach dem Muster VorstudieHauptstudie, im Phasenmodell nach dem Muster HypothesengenerierungHypothesentest; das Integrationsmodell folgt demgegenüber dem Triangulierungsmodell. Schließlich finden sich Ansätze, die von einer Methoden-

kombination absehen und den einzelnen methodischen Ansätzen gegenstands- bzw. frageabhängig distinkte Anwendungsfelder zuschreiben. Exemplarisch seien hier die Überlegungen von Dreyfus und Rabinow (1987) angeführt; sie gehen davon aus, daß jede Art von Sozialwissenschaft ihre eigene Teileinsicht entwickele. All diese Vorschläge scheinen von dem >guten Willen«: geleitet, die ausschließenden Debatten der Vergangenheit um die angemessenen Methoden der empirischen Forschung hinter sich zu lassen und einem eher pluralen Modell zu folgen. Bevorzugter Ausdruck einer solchen Pluralität ist das Modell der Triangulation. Die wissenschaftstheoretische Inkompatibilität (Lamnek 2000:25) der verschiedenen Ansätze wird dabei nur allzugern vernachlässigt. Zur Klärung dieser Probleme können auf der methodologischen Ebene zwei Überlegungen beitragen: Unter methodologischen Aspekten erscheint es als eine unabdingbare Voraussetzung der Überlegungen zum Verhältnis von qualitativer und quantitativer Sozialforschung, sich den konstruktiven Charakter aller empirischen Forschungsarbeit zu vergegenwärtigen: Mit den verschiedenen Techniken der empirischen Sozialforschung werden unterschiedliche Konstruktionen der sozialen Welt hervorgebracht; diese stehen zunächst unvermittelbar nebeneinander. Begreift man die Sozialforschung als eine solche >WirklichkeitsmaschineAdäquanz< gewissermaßen gegenstandslos; zugleich wird auch deutlich, daß die Vorstellung von einer Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsmethodik nur

bedingt realisierbar ist. 136

zu

Die Popularität rührt vermutlich von der Korrespondenz mit den Problemen der Triangulierung. Vgl. auch Fn. 97.

alltagspraktischen Vorstellungen;

III.

427

Methodenentwicklung

Die häufig gebrauchte Ordnung und Orientierung stiftende dichotomisierende Darstellung von Verfahren der qualitativen und der quantitativen Sozialforschung beleuchtet nur eine Dimension methodischer Differenzen und zieht Grenzen, für die zwar plausible Argumente sprechen, die aber auch an anderer Stelle denkbar wären. Die diversen Forschungsansätze, die sich hinter diesen Etiketten verbergen, könnten auch in einem Kontinuum begriffen werden. So haben Verfahren der objektiven Hermeneutik, Verfahren, die typologisierend arbeiten, oder Designs, die auf die grounded theory und ihre Kodierverfahren zurückgehen, gar nicht so viel miteinander zu tun, wie das gemeinsame Etikett vermuten läßt. Ähnlich sieht es aber auch unter dem Dach der sogenannten standardisierten und quantifizierenden Forschung aus; zwischen explorativen und hypothesentestenden Forschungsansätzen oder zwischen der Quer- und Längsschnittperspektive auf die Daten liegen Welten, auch wenn in allen Fällen gezählt und auf statistische Modelle zurückgegriffen wird. Schließlich sei auch an Studien erinnert, die mit relativ wenig standardisierten Instrumenten eine große Zahl von Fällen erfaßten137. Mit der dichotomisierenden Struktur des methodischen Feldes stellen sich Zuordnungen ein, die eher auf gewisse forschungspraktische Gepflogenheiten und auf die eingefahrenen Gleise des Methodendiskurses zurückgehen, als daß sie methodologischer Natur sind: Für die Analyse von Sinnstrakturen und Bedeutungen weisen die qualitativen Forschungstechniken sicherlich bestimmte Vorteile auf, aber warum sollten nicht auch mit einem stärker standardisierten Instrumentarium Beiträge zu ihrer Analyse erbracht werden können. Die dahinterstehende Vorstellung, daß es bestimmte Gegenstände (bislang wenig untersuchte Felder), bestimmte Fragen (nach Bedeutungen) oder bestimmte zeitspezifische Merkmale (Individualisierung, Modernisierung) sind, die qualitative Praktiken bevorteilen138 und umgekehrt, erscheint in gewisser Weise plausibel; es lassen sich aber durchaus auch Argumente für einen gegenteiligen Schluß finden. Man sollte zunächst einmal die erste These der methodologischen Differenz akzeptieren, um dann im zweiten Schritt theoretisch und forschungspraktisch zu ermitteln, wie weit sich diese Praktiken in Forschungsdesigns kombinieren lassen und wie weit die unterschiedlichen Perspektiven und Vorgehensweisen sowie die unterschiedlichen methodologischen Konzepte einander befrachten können. Die dichotomisierende Etikettierung bringt es mit sich, daß es an bereichsübergreifenden Debatten mangelt, daß Fortschritte im Bereich der quantitativen bzw. qualitativen Verfahren nicht auf den anderen ausstrahlen139: -

-

Vgl. Popitz/ (1961). 139

Bahrdt/ Jüres/

Kesting (1957a)

oder Habermas/

von

Friedeburg/

Als eines von vielen Beispielen für diese Argumentation vgl. Erzberger/ Kelle Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Erzberger/ Kelle (1998:50f).

Oehler/ Weltz

(1998:48, 51).

428

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Oft stellen sich den qualitativen Forschern, die ihre Fälle zu typologisiebeginnen, ganz ähnliche Fragen der Vergleichbarkeit und Zurechenbarkeit von Fällen wie in der quantifizierenden Forschung. Auch Fragen zur Erhebungssituation und zu den Gütekriterien einzelner Erhebungsinstrumente ließen sich recht gut quer zur Gliederung nach qualitativen und standardisierten Instrumenten debattieren. Ausgehend von der Frage der kontrollierten Informationsreduktion stel-

-

ren

-

len sich viele

gemeinsame Probleme; d.h. Entscheidungen, die im qualitatiForschungsprozeß bei der Auswertung der immensen Datenfülle oder bei der Typologisierung getroffen werden müssen, stellen sich im standardisierten Forschungsprozeß eher bei der Operationalisierung und im Prozeß der Datenerhebung. Unter dem Aspekt des Informationsmanagements (Kromrey 1994) lassen sich diese Strategien recht gut gegenüberstellen. Die qualitative Forschung hat den Blick wieder auf den ganzen Forschungsprozeß gelenkt. Die Frage, wie die vielen im Prozeß der Konzeption, Erhebung und Auswertung zu treffenden Entscheidungen organisiert, kontrolliert und begründet werden können, stellt sich den qualitativen wie den quantifizierenden Ansätzen in durchaus vergleichbarer Weise. Die im Rahmen der grounded theory entwickelten Überlegungen und Techniken könnten für beide Ansätze fruchtbar gemacht werden. -

ven

-

Nicht zuletzt sei auch auf Ansätze verwiesen, die auch auf theoretischem Gebiet Möglichkeiten offenbaren, die Lagerkonstellationen aufzulösen. Esser (1991) verfolgt z.B. in seiner Auseinandersetzung mit den Konzepten von Alfred Schütz den Ansatz, einen wesentlichen Eckpfeiler der sogenannten verstehenden Ansätze die Situationsspezifik von Deutungen, Handlungsmotiven und Rationalitäten ausgehend vom rational-choice-Konzept neu zu bestimmen. Zugleich steht das rational-choice-Konzept in Essers Version für den Versuch, die Gesetzmäßigkeiten des Sozialen stärker auf der Mikroebene zu untersuchen; er zielt auf Rationalitätskalküle und die Rekonstruktion von Handlungslogiken. Er greift damit implizit auch eine These Poppers auf, der in seinem Vortrag auf der >Positivismus-Tagung< ganz im Gegensatz zur späteren Stilisierung das Konzept eines >objektiven Verstehens< skizzierte ([1980] 1969:120f). Auch mit Foucaults >archäologischer< Praxis und seiner > interpretad ven oder mit den bei Bourdieu entwickelten und praktizierten In-

-

-

-

AnalytikInterpretation« des Foucaultschen Werkes auf die verblüffende Parallele zwischen den Problemen einer >objektiven< und einer hermeneutisch orientierten Sozialwissenschaft aufmerksam: »In beiden Fällen finden wir eine oberflächliche« Art von Sozialwissenschaft vor, die Menschen unkritisch, bloß als Subjekte oder Objekte, auffaßt und deren Selbstinterpretationen oder objektive Eigenschaften so studiert, als gäben diese dem Forscher Zugang zum wirklichen Geschehen in der gesellschaftlichen Welt. (...) Kritische Überlegung fuhrt folglich einerseits zu einer Tiefeninterpretation des Subjekts, das die wirkliche, ihm unbekannte Bedeutung seines Verhaltens zu fassen sucht, und andererseits zu dem Bemühen, eine objektive

III.

Methodenentwicklung

429

stramenten141 liegen Ansätze vor, die die dichotomische Konstruktion obsolet erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund kann dann eine reflektierte Auseinandersetzung mit Konzepten, Praktiken und Mythen der hermeneutischen wie der objektivierenden Tradition entstehen. Stellungnahmen und Strategien in der scientific community In der Forschungspraxis der achtziger und auch der neunziger Jahre dominierte die quantitative Forschung: es gab zwar eine Renaissance der qualitativen Ansätze in der Methodenliteratur und der Einsatz qualitativer Forschung nahm zu142, man darf daraus jedoch nicht auf eine allgemeinere Akzeptanz in der scientific community schließen. Lamnek vermutet nach wie eher Strukturen der Ausschließung: »Die jeweils gegenteilige Position wird verurteilt, nicht akzeptiert oder auch nur milde belächelt, während devor

weitergehende Verbreitung jeweils nur positionshomogen erfolgt« (2000:32). Die Frage des >korrekten< Forschungsansatzes wurde auch zum Gegenstand der Verteilungskämpfe im wissenschaftlichen Feld; zu der Frage der Verteilung von Forschungsmitteln trat mit dem sich abzeichnenden Generationswechsel in stärkerem Maße auch wieder die Frage nach der Beren

Stellen hinzu. Symptomatisch für die Kommunikationsproble>qualitativen< und >quantitativen Sozialforschern< ist die 1997 erfolgte Einrichtung einer eigenen Arbeitsgruppe >Methoden der qualitativen Sozialforschung< in der DGS143. Auch die fachinteme Spezialisierung trag zum Fortbestand der Dichotomie bei: fm Bemühen um Distinktion und Profilierang griff man gem auf bereits eingeführte und distinktiv besetzte Differenzierangslinien zurück. Die forschungspraktisch durchaus vorhandenen Erfahrungen mit der Kombination von Methoden fanden im wissenschaftlichen und methodischen Diskurs keinen besonderen Widerhall. Stärker pragmatisch orientierte Forschungsansätze wie die grounded theory versprachen scheinbar keine hinreichenden Spezialisierangsgewinne. Die Spezialisierangstendenz, die kaum durch forschungspraktische Zwänge zur Kooperation und Integration konterkariert wurde, führte dazu, daß die persönlichen Investitionen in die Aneignung und Ausübung sowie in die Weiterentwicklung der einzelnen (qualitativen und quantitativen) Techniken immer höher geworden sind; nach dem Verschwinden des a//row«i/-Soziologen scheint auch der allround-Mcthodiker144 an seine Grenzen gekommen. Der sinkende forschungspraktische Grenznutzen der methodischen Spezialisierung spielte dabei keine Rolle.

setzung

von

me von

Theorie der historischen Hintergrundpraktiken, welche Objektivierung und Theorie ermöglichen, zu entwickeln« ([1982] 1987:2120Zu den wissenschaftstheoretischen und methodischen Grundlagen vgl. Bourdieu ([1968] 1991), zur Forschungspraxis vgl. exemplarisch Bourdieu ([1979] 1987). So gesteht z.B. Scheuch (1996:215) die zu geringe Aufmerksamkeit zu, die er den qualitativen Verfahren entgegenbrachte. 143 Vgl. dazu Lautmann (1998), Hopf (1998) und Engel (1998). 144 Vgl. dazu auch Scheuch (1998:243).

430

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Praktiken der wissenschafts- und verwendungsbezogenen Forschung Mit der Renaissance der qualitativen Sozialforschung im methodischen und methodologischen Diskurs ging eine Ausweitung der qualitativen Forschungsarbeiten in verschiedenen Praxisfeldem einher. Die Entwicklung in den einzelnen Feldern verlief ausgesprochen unterschiedlich: es gab Berei-

che,

wo

quantifizierende Forschungspraktiken ungebrochen dominierten,

wie die Wahl- oder die Arbeitsmarktforschung; umgekehrt gab es Bereiche, wo qualitative Forschungsansätze stets eine führende Rolle spielten, wie die industriesoziologische Forschung oder die Organisationsforschung. Daneben finden sich Felder, wo sich in den letzten Jahrzehnten (wieder) ein Nebeneinander herausgebildet hat, wie z.B. in der Jugendforschung oder in der Milieu- und Sozialstrakturforschung. Lamnek verweist darauf, daß in jüngster Zeit vermehrt mit multimethodischen Designs gearbeitet werde145. Es scheint, als habe sich in der Phase des >Normalbetriebs< eine Situation eingestellt, in der in den einzelnen Feldern Methodenentscheidungen in stärkerem Maße frage- und problemangemessen getroffen werden; zumindest sind in den meisten Bereichen die >Alleinvertretungsansprüche< einzelner methodischer Ansätze zurückgetreten. Insbesondere die Protagonisten der qualitativen Sozialforschung mahnen aber an, daß qualitative Untersuchungsansätze bei der Vergabe von Forschungsmitteln nach wie vor benachteilige seien, da lange Zeit die Majorität der Gutachter quantifizierenden Ansätze verpflichtet gewesen sei. Auch in der universitären Ausbildung wurde verschiedentlich ein Mißverhältnis zwischen den Deputaten im Bereich der qualitativen und der quantifizierenden Forschung konstatiert146. Die qualitativen Forschungsansätze haben im Methodendiskurs und in der wissenschaftsbezogenen Forschung eine gewisse Anerkennung erfahren; wie weit sich diese Entwicklung auch in einzelnen Praxisfeldem oder in der öffentlichen Wahrnehmung der Sozialwissenschaften fortsetzt, ist nicht abzusehen. Es ist zu vermuten, daß die feldspezifischen (Sozial-)Wissenschaftsbilder ein nicht zu unterschätzendes Beharrungsvermögen haben. Geht man davon aus, daß mit den verschiedenen Praktiken der empirischen Sozialforschung verschiedene Modelle der sozialen Welt konstruiert werden, so wird insbesondere in der verwendungsbezogenen Sozialforschung nach der Korrespondenz der Wirklichkeitskonstruktionen in der Sozialforschung und in einzelnen Praxisfeldem zu fragen sein: die Zentralperspektive, die mit einer standardisierten Befragung z.B. zu Fragen der sozialen Sicherung konstruiert wird, korrespondiert mit Wirklichkeitskonstruktionen in einer zentralisierten politischen Administration; umgekehrt korrespondiert Er vermutet jedoch, daß die formulierten Ansprüche oftmals eher Lippenbekenntnisse waren, den Erwartungen von Auftraggebern, Forschungsförderem (und deren Gutachtern) oder der scientific community gerecht zu werden. Zudem bemängelt er, daß oft eine Umsetzung der formulierten methodischen Ansprüche nur sehr begrenzt erfolge (2000:32f). 146 Vgl. z.B. Hopf/Müller (1995:660um

TV. Resümee:

Sozialforschung im >Normalbetrieb
Exaktheit< sozialwissenschaftlicher Befunde hervor. Für den bevorzugten Zugriff auf standardisierte Forschungspraktiken spielt nicht zuletzt auch der hohe Grad ihrer technischen >Zurichtung< im Rahmen der Markt- und Meinungsforschung oder in Ressortforschungseinrichtungen eine Rolle: die Befunde können kurzfristig und relativ kostengünstig erbracht werden; sie sind kalkulierbar und können exakt in weitere Arbeitsprozesse eingepaßt werden; ihre Erkenntnistiefe korrespondiert mit den etablierten Legitimationserfordernissen etc.

IV. Resümee:

Sozialforschung im >Normalbetrieb
Empirische Sozialforschung« in den vergangenen Phasen begleitet hatten, verblassen in der Phase der Normalisierung. Sie spielen zwar weiterhin eine wichtige Rolle in den Ritualen der

432

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

wissenschaftlichen Initiation oder in den Auseinandersetzungen um die empirische Forschung (insbesondere im Streit um die Legitimität der qualitativen Forschungsansätze); sie sind aber ihrerseits auch einem Normalisierungsprozeß unterlegen: die Zeit der >heißen Kämpfe< ist vorbei, die harten Konturen haben sich abgeschliffen; man hat sich in einem Nebeneinander

eingerichtet. Es wird auch deutlich, daß die Formen der Auseinandersetzung um die Methoden der empirischen Sozialforschung an eine bestimmte Generation und an eine bestimmte Zeit gebunden waren. Neue Kontroversen haben sich in den Vordergrund geschoben. Mayer bemerkt dazu: »In der Tat waren die neunziger Jahre sicher keine von jugendlichem und optimistischem Elan charakterisierte Hochzeit der empirischen Sozialforschung. Sie galt als Überbleibsel der vorreflektiven Moderne. Im Auftrieb waren die Kulturwissenschaften, die cultural studies, die europäische Ethnologie, die Autopoiesis der selbst-referentiellen Systeme, die Diskursanalyse, die Medientheorie und die Erinnerungskultur« (1999:34). Es entstanden aber auch neue Leitbilder, im Kontext der Frauenforschung, im Kontext der qualitativen Forschung oder bei der Erschließung neuer Praxisfelder (Beratung). Trotz der institutionell erfolgreichen Entwicklung fand sich in den achtziger und neunziger Jahren ein verbreitetes Unbehagen an dem Projekt der empirischen Sozialforschung und dem damit eng verknüpften Vorhaben einer vorwiegend empirischen und anwendungsorientierten Soziologie. In den sozialwissenschaftlichen Diskursen hatte sich dieses Unbehagen in den Debatten um die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens ausgedrückt; in den neunziger Jahren wurde die recht grundsätzlich anmutende Frage >Wozu noch Soziologie?«: debattiert; darüber hinaus findet sich eine Debatte um theoretische und praktische Bezüge der empirischen Forschung. >Wozu noch Soziologie?< Mitte der neunziger Jahre wurde in der Wochenzeitung >Die Zeit« eine Debatte um die Krise der Soziologie geführt; nach einer Polemik von Dettling wurden Beiträge von Käsler, Dahrendorf, Hans-Peter Müller, Wagner, Schulze, Mayntz und Bourdieu publiziert. Die Initiation der Debatte ging auf eine spezifische Krisenkonstruktion zurück: die Veränderungen und krisenhaften Entwicklungen im politischen und im sozialwissenschaftlichen Feld wurden miteinander verknüpft147. Die Krise im politischen Feld wurde in Zusammenhang gebracht mit der Erosion eines (nationalstaatlich) umgrenzten und strukturierten politischen Raums148, mit dem Verschwinden eines (mobilisierungsfähigen) politischen Subjekts (politischer Katholizis-

mus, die

Arbeiterklasse, aufgeklärte Bürger), das

strukturellen Milieus verankert 147

war

in spezifischen sozialund mit der Transformation der (politi-

Friedrichs, Lepsius und Mayer konstatieren, daß sich Dettlings Artikel »nur als unerfüllte journalistische Sehnsucht nach Gesellschaftsdeutung verstehen« ließe (1998:27). Der Staat tritt als bevorzugter Adressat für die Lösung der sozialen Frage in den Hintergrund; »Entscheidungen über das soziale Schicksal der Menschen fallen anderswo« (Dettling 1996:17).

IV. Resümee:

Sozialforschung im >Normalbetrieb
Reichweite< jedoch radikal begrenzt wurde150. Soziologie, die nicht intellektuell verarmen wolle, müsse Unbe-

-

-

So wurde insbesondere der »abenteuerliche Kurzschluß« kritisiert, daß die Soziologie es nach dem Niedergang der großen handlungsorientierenden Kollektive nur noch mit Individuen zu tun habe (Wagner 1996:44). In ähnlicher Weise wurde auch die konstatierte enge Bindung der Soziologie an die nationalstaatliche Strukturierung moniert; damit werde die Innovationsfähigkeit der erheblich unterschätzt. Soziologie 150 Hans-Peter Müller forderte eine Soziologie, die nicht den Verlust ihres Gegenstandes betrauert, sondern sich beherzt den neuen Gegenständen zuwendet. Soziologie müsse sich dabei mit gegenstandsbezogenen Theorien von begrenzter Verallgemeinerungsfähigkeit bescheiden. Mayntz verwies auf einen Typus von Sozialwissenschaftlern, die sich eher über einen bestimmten Gegenstand oder einen Themenbereich und weniger über ihre Herkunftsdisziplin identifizieren. Wagner

434

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

stimmtheiten akzeptieren. Im Verhältnis von Soziologie und Politik komme der Soziologie weniger die Experten- oder gar Gesetzgeberrolle zu; sie müsse eher zur Interpretin und Übersetzerin zwischen verschiedenen sozialen Sprachen werden, die im politischen Bereich gesprochen werden. Schulze

konstatierte sogar, daß es keine langfristig sicherbaren soziologischen Erkenntnisse gebe. Zum anderen wurde die Soziologie als >öffentliche Wissenschaft«: (Dahrendorf), als >Moralwissenschaft< und als >Suche nach der guten Gesellschaft«: (Käsler) oder als Störenfried (Bourdieu, Müller) eingefordert, in Anknüpfung an das politisch-praktische Projekt der Soziologie. Das von Dettling konstruierte Krisenszenario folgte den wissenschafts- und anwendungsbezogenen Leitbildern von Soziologie und Sozialforschung; dabei wurden die eher pragmatischen Bezüge, über die soziologisches Wissen und empirische Sozialforschung in die gesellschaftliche Praxis eingebunden sind, weitgehend verkannt. Zudem wurde das Veränderungspotential unterschätzt: die Rahmenbedingungen empirischer Forschung haben sich verändert, die Verwendungsprobleme sozialwissenschaftlichen Wissens sind offenkundig, aber daraus folgt nicht unbedingt, daß Soziologie und Sozialforschung in eine Krise geraten müssen151. Der von Wingens (1997) vorgebrachten Kritik an der Krisendebatte die empirischen Forschungen zur Praxisrelevanz seien unberücksichtigt und ihre begrifflich konzeptionellen Grundlagen ungeklärt geblieben, zudem sei ein »höchst widersprüchliches« (6) Konglomerat von Kritiken vorgebracht worden ist zuzustimmen; dennoch gibt die Debatte recht gut die Wahrnehmung der Soziologie z.B. in der politischen Öffentlichkeit wieder. Die empirische Sozialforschung spielte in diesem Krisendiskurs eher eine Nebemolle. Verschiedentlich wurde jedoch der »Rückzug in einen technischen Fetischismus in der Sozialforschung« (Käsler 1996:29) angeprangert. Am deutlichsten wurde diese Position bei Schulze formuliert, der von der Soziologie »aufwendige Interpretationsleistungen« forderte und sich gegen das naturwissenschaftliche Paradigma wendete: »Man reduziert Varianz«:, spielt mit Gleichungssystemen herum, falsifiziert, korreliert, quantifiziert und stört sich nicht daran, daß die gesellschaftliche Dynamik die mühsam aufgerichteten Modelle immer wieder zum Einsturz bringt. Die Sehnsucht nach mathematisch gestützter Analysierbarkeit ist stärker als der gesunde Menschenverstand« (1996:541). Auch Wagner bezog sich implizit auf eine -

-

hielt eine grundlegende Erneuerung des soziologischen Projekts für erforderlich; diese müsse sich der Analyse sozialer Beziehungen widmen, ohne auf die klassischen Konzepte von Klasse, Schicht, Familie, Nation, funktionale Differenzierung zu rekurrieren. 151 Schmidt weist jedoch auf die beobachtbaren Verschiebungen der Kritikmuster hin; während in den siebziger Jahren eine eher politische Kritik geleistet wurde, werde die heutige »Kritik an Form und Inhalt soziologischen >Wissensoutputs< und am Engagement von Sozialwissenschaftlern in der Praxis überwiegend inhaltlich-kognitiv d.h. als Kritik an der Defizienz der vorgetragenen Inhalte und als Kritik am Modus der Inhaltsvermittlung vorgetragen«. Soziologie habe »einen schlechten Ruf, weil sie angeblich nutzlos« (1999:7) sei.

IV. Resümee:

Sozialforschung im >Normalbetrieb
realen SozialismusHoffnungsträger< für die Lösung der Probleme der Sozialwissenschaften. Debatten um die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens Auch die von Beck und Bonß (1989) vorgebrachten Überlegungen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens befaßten sich mit der Bedeutung der empirischen Sozialforschung. Sie bezogen sich in ihrer Lagebestimmung auf die von ihnen analysierte >Magna Charta der einfachen Verwissenschaftlichung< und diagnostizierten ein Scheitern der Aufbruchshoffhungen. Die Annahme der Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens sei brüchig geworden152. Die im Umgang mit Wissenschaft erfahrenen Laien haben diese Einsicht in die Unscharfen wissenschaftlichen Wissens dazu genutzt, die Expertenrationalität zu relativieren. Die naive Sozialtechnologie in den USA scheiterte bereits früh an der politischen Unbeeinflußbarkeit zentraler politischer Erklärangsvariablen, an der Vielfalt der Interessen und an den vielfältigen Widerstandsmöglichkeiten, die aus der Umsetzung resultieren. Demgegenüber bleibe in der Bundesrepublik das Scheitern der stillschweigend abgebrochenen Reformen, wie der Bildungs- oder der Psychiatriereform eher verdeckt. »Das sozialtechnologische Fiasko ist durch besseres und mehr Wissen nicht auszubügeln« (17). Beck und Bonß monierten, daß »die blinde Steigerung des wissenschaftlichen Outputs eher zu neuen Unscharfen und Unübersichtlichkeiten« (18) habe und daß das Verständnis von >sozialen Problemen< verschwimme »in der Vielfalt wissenschaftlicher Deutungsmöglichkeiten«. Sie verwiesen auf die Vorherrschaft von »Routine- und Wiederholungsforschun-

geführt

»Durch den geballten Einsatz von Wissenschaft sind die theoretischen Entwürfe und empirischen Befunde nicht konsistenter, sondern vielfältiger und geradezu unkontrollierbar geworden«

(16).

436

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

gen«, die dazu führe, »daß die Sozialwissenschaften zwar gängige, durchgesetzte Probleme gut >beharken< und nicht unwesentlich zur sozialen Stereotypenbildung beitragen, gegen neue Entwicklungen und sich verschiebende Wahrnehmungsmöglichkeiten aber geradezu immun sind«15 (17f). Die Rolle der empirischen Sozialforschung wurde in dem von Beck und Bonß vorgebrachten Lagebild zur Disposition gestellt. So müsse die Hoffnung, daß mehr Forschung mehr Sicherheit erzeuge, »wohl zum Berufsoptimismus einer an die Ausrechenbarkeit der Welt glaubenden Wissenschaftlergeneration gezählt werden, die sich über die Grundlagen und den prekären Status ihrer eigenen Argumentationen nicht recht im klaren war« (19).154 Der Analyse ist zuzustimmen, nur geht es dabei um Probleme und Debatten, die fast die gesamte Geschichte der Sozialforschung begleitet haben. Ob sich diese Probleme grundsätzlich verändert haben (»Die Unsicherheit der Sozialwissenschaften steigt mit ihrem Entwicklungsgrad«, ebd.), und ob dies »Ausdruck einer in Fluß geratenen sozialen Wirklichkeit« (ebd.) ist, muß bezweifelt werden. Zudem greifen die Unschärfeprobleme über die Probleme der Ausrechenbarkeit weit hinaus. Beck und Bonß forderten eine Relativierung der Gleichsetzung von Verwissenschaftlichung und Versachlichung155. Diese Einsicht in die Modellabhängigkeit des mit Mitteln der empirischen Forschung hervorgebrachten sozialwissenschaftlichen Wissens unterschätzt jedoch den Fortschritt, den die sozialwissenschaftlichen Diskurse mit der Etablierung der empirischen Sozialforschung erfahren haben.

Sozialwissenschaften und Sozialforschung zwischen Theorie und Praxis Auch in anderen Kontexten wurde in den achtziger und neunziger Jahren der Theorie-Praxis-Bezug von Soziologie und Sozialforschung thematisiert156. Dabei lassen sich vier Problemebenen unterscheiden: Praktische und theoretische Bezüge der empirischen Sozialforschung: Von Ferber hat das Praxisproblem der Sozialforschung in wenigen Worten umrissen: »Den Hochschulinstituten fehlte die Praxisnähe, den anwendungsorientierten Instituten, die eine an Interessenorganisationen gebundene Auftragsforschung betrieben, ging schrittweise die wissenschaftliche Unab-

153

Sie beziehen sich dabei auf die soziologische Abstinenz in den Debatten um die ökologischen Herausforderungen und um die Krise der Industriegesellschaft. Sie führen dieses Argument weiter aus: »Die unvorhersehbare Veränderbarkeit fast aller Zentralvariablen (...) hat zu Verstopfungen durch eine real denkmögliche Entwicklungsvielfalt gefuhrt, deren Komplexität sozialwissenschaftlich kaum adäquat >abbildbar< ist und auch durch ma-

thematische Perfektion nicht aus der Welt gerechnet werden kann« (19). »Jeder muß zwar in den Zahlentopf greifen, kommt aber gerade in heiklen Interessenfeldem mit anderen (...) Schlußfolgerungen heraus. (...) Andere Definitionen, Indikatoren, methodische Weichenstellungen, andere institutionelle Kontexte, Auftraggeber, andere Computerprogramme, andere Datensätze usw., und es entstehen völlig andere >Wirklichkeiten«. Diese Entscheidungsvielfalt ist durch immanent methodisch-theoretische Normen und Kontrollen nicht zu bewältigen«. Verschiedene Beiträge zu diesem Diskurs entstammen den biographischen Darstellungen der Nachkriegsgeneration westdeutscher Hochschullehrer. Sie wurden um andere Stellungnahmen zur Lage der Sozialforschung ergänzt.

IV. Resümee:

Sozialforschung im >Normalbetrieb
Ideenlosigkeit< der Soziologie: die professionalisierte Forschungspraxis führe zur »mangelhaften Rückkopplung der konkreten Untersuchungsarbeit mit umfassenderen ideengeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen« und zur »Selbstkasteiung empirischer Sozialforschung durch ein ganz enges Verständnis vom >empirisch Machbaren«« (1982:274). In den biographischen Darstellungen wird die enge Verknüpfung von Soziologie und empirischer bzw. verwendungsbezogener Sozialforschung als Leitbild dieser Gründergeneration der empirischen Soziologe deutlich. Empirische Forschung wurde als ein Korrektiv der einseitig wissenschaftsbezogenen Sozialwissenschaft begriffen: »Ohne die Konfrontation mit empirischer Forschung und die Mitwirkung hieran bleibt soziologisches Argumentieren eine oft respektable, aber praxisfeme Schreibtischleistung«. Andererseits wird vor einer »Überschätzung der bloßen Datensammlung und auswertung (...) nach einem vorgefaßten sozialstatistischen Modell« gewarnt. Empirische Forschung lehre »den Respekt vor der Eigenart verschiedener sozialer Lebenswelten« (Fürstenberg 1998:399). Sowohl im theoretischen wie im empirischen Bereich werden Verselbständigungseffekte konstatiert. Mackensen beklagt das >Abheben der Großparadigmataspektakuläre Deutungen^ wie die der Risiko- oder der Erlebnisgesellschaft ihre empirische Rechtfertigung schuldig bleiben. Neidhardt moniert »einen Überhang an empirischer Forschung, in der mit ansteigend raffinierter Technik theoretisch unbestimmte Gegenstände bearbeitet werden«159. Es scheint, daß sich die bereits früh in den Sozialwissenschaften zu beobachtenden Praktiken der Arbeitsteilung zwischen eher empirisch und eher

hängigkeit verloren

dungswissenschaft157.

-

Fürstenberg verweist darauf, daß die Probleme einer verwendungsbezogenen Sozialforschung oft jenseits der Themen der methodischen Ausbildung liegen: »im Bereich der Herstellung des Zugangs zum Untersuchungsfeld, der Kontaktpflege mit den Untersuchungseinheiten und der Vermittlung von Ergebnissen in einer wissenschaftlich zu vertretenden Weise« (1998:403).

Soziologie, die nichts mehr zu den Erfahrungen der Menschen im Alltag, aber alles über Eigenleben von Systemen und Diskursen zu sagen weiß, wird ihrer Aufgabe auch nicht mehr gerecht werden können« (1998:184). Er ergänzt: »Da läuft ein computerunterstützter Sozialforschungsbetrieb, dessen Ergebnissen nicht anzusehen ist, was sie über den jeweiligen Einzelfall hinaus für allgemeinere Fragestellungen bedeuten. Dem entsprechen andererseits Theorieentwicklungen in Höhenlagen hinein, in denen sie der Sozialforscher aus den Augen verlieren muß. Die neueren Versionen sowohl der Systemtheorie als auch der (...) Lebensweltphilosophien geben sich so abstrakt, daß sie die empirische Forschung weder zu steuern noch zu verarbeiten helfen« (1987b:54). »Eine

das

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D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

theoretisch orientierten Wissenschaftlern auch nach dem Siegeszug der empirischen Sozialforschung nur wenig verändert haben; allenfalls hat sich die Gewichtung verschoben. Angesichts der dichotomen Anlage solcher Gegenüberstellungen ist jedoch Vorsicht geboten: in der Debatte wird häufig mit einem wenig differenzierten Verständnis soziologischer Theorie gearbeitet; unbeachtet bleiben typischerweise die erheblichen Unterschiede, die sich ausgehend von der Frage auftun, inwieweit sich theoretische Ansätze gegenüber der empirischen Analyse öffnen und sie anzuleiten vermögen oder sich gegenüber dieser immunisieren. Das eine Extrem, eine hochgradige Immunisierung, wird von der Systemtheorie besetzt; auf der anderen Seite lassen sich z.B. die Theoriekonzepte von Bourdieu oder darüber hinausgehend von Friedberg verorten160. Man hat bei der Lektüre der biographischen Darlegungen der Nachkriegsgeneration verschiedentlich den Eindruck, daß die Generation der Gründer, die doch mehrheitlich die akademische Institutionalisierung gezielt betrieb, nun vor den von ihnen geschaffenen Institutionen und ihren wissenschaftlich korrekt< ausgebildeten Zauberlehrlingen erschrickt. Auch bei Mayntz wird das Auseinanderfallen der Teilgruppen der Sozialforscher und der Makrotheoretiker und die mangelnde Kommunikation zwischen beiden Gruppen beklagt. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen macht sie jedoch deutlich, daß solche Scheidungen nicht unbedingt auf Vorurteilen (>Fliegenbeinzähler< versus >SeiltänzerNormalbetrieb
Staatswissenschaften< entstanden seien, und durch diese Herkunft stets geprägt blieben; demgegenüber stehe die »Begründung einer Gesellschaftswissenschaft (...) und deren Durchsetzung als legitimer Diskurs über die Gesellschaft« (471) weiterhin aus. Wagner geht von der These aus: »Gesellschaft und Staat in ihrer heutigen Organisationsform sind mehr denn je auf Informationen über sich selbst und deren Interpretation angewiesen. An Ressourcen zur Produktion dieses Diskurses wird es der interventionistische Staat nicht fehlen lassen« (1990:471).

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D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

Verfügungswissen und Orientierungswissen: Das Unternehmen empirische Sozialforschung< war gegen eine geisteswissenschaftlich und historistisch orientierte Soziologie angetreten; aber das Verhältnis zur Sozialphilosophie blieb gespalten; von Teilen der Fachgemeinschaft wurde auch sie im Gegensatz zu dem Projekt einer neubegründeten empirischen Soziologie gesehen; die Vertreter Frankfurter Provenienz versuchten demgegenüber eine Zusammenführung beider Projekte. Die >Karriere< von Sozialforschung und Sozialwissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren hatte ihre Wurzel sowohl in dem einen wie dem anderen Entwurf. Die Ambivalenz gegenüber der Sozialphilosophie und dem Bedürfnis nach Zeitdeutung und Gesellschaftsdiagnose findet sich auch in den Stellungnahmen in den achtziger und neunziger Jahren wieder. Durchgängig wird eine Spaltung festgestellt; die Einschätzungen dieser Konstellation und ihre Hintergründe gehen jedoch auseinander. Scheuch sieht zwei disparate Unternehmungen, das der »sozialphilosophischen Zeitdeutung« und das der »soziologischen Analyse der Gegenwartsgesellschaft« (1990:46); vom Standpunkt des einen lasse sich das andere nicht kritisieren und umgekehrt. Scheuch wie auch Mayntz beklagen, daß die Blüte dieser Deutungswissenschaft vor allem auf deren Publikumserfolg zurückgeht. »Sozialwissenschaft stellt Fragen an die Wirklichkeit, die durch empirische Forschungen zu beantworten sind. (...) Die real existierende Soziologie dagegen ist in nicht geringem Umfang Deutungswissenschaft, und als solche sogar besonders publikumswirksam« (Mayntz 1998:286). Auch Dahrendorf konstatiert eine Spaltung von Sozialphilosophie und Sozialforschung. Stärker als Scheuch und Mayntz fordert er jedoch eine Verknüpfung beider Diskurse ein; die Ursachen der Scheidung sieht er vor allem als ein Problem der Sozialwissenschaften an: »Der Versuch, Makrophänomene empirisch zu untersuchen, muß als einstweilen gescheitert gelten. (...) Empirisch ist vor allem die massenhafte Datensammlung, die viel nützliches Material liefert. Mit Makrophänomenen befassen sich hingegen die Sozialphilosophen« (1998:300). In dem Sonderband der Kölner Zeitschrift >Die Diagnosefähigkeit der Soziologie«: konstatieren die Herausgeber einen »unabweisbaren gesellschaftlichen Orientierungsbedarf« und verweisen auf die Fülle zeitdiagnostischer Themen und Begrifflichkeiten. Sie kommen dann jedoch »zu einem eher skeptischen Urteil über Möglichkeiten der Soziologie, aufgrund ihres Erkenntnisstandes und ihrer bewährten Theorien fundierte Diagnosen und Prognosen geben zu können. Damit steht die Anforderung an das Fach, Gegenwartsdiagnosen der Gesellschaft zu liefern, in einem beträchtlichen Kontrast, dem nachkommen zu können« (1998:13). In Abgrenzung zu Kollegen, die sich in diesem Schisma eingerichtet haben, verweist Atteslander darauf, wie stark die Stellung der Soziologie auch von ihrer Rolle als Deutungswissenschaft abhänge. »Wenn Soziologie auch weiterhin gesellschaftliche Bedeutung beansprucht, so wird sie m.E. sich dem

-

IV Resümee:

Sozialforschung im >Normalbetrieb
Empirische Sozialforschung< und den damit verknüpften Leitbildern von empirisch fundierten Wissens über die soziale Welt war auch die Hoffnung auf seinen identitätsstiftenden und fachintegrierenden Charakter verknüpft; besonders deutlich wird dies in den biographisch orientierten Selbstdarstellungen: Mayntz setzt sich gegenüber der Soziologie als Deutungswissenschaft ab: »Mein Verständnis von Sozialwissenschaft hat sich dagegen eher am Modell der Naturwissenschaften orientiert« (Mayntz

-

der Rolle

1998:286). Hartmann bekennt: Mein Berufswunsch lief

»darauf hinaus, unabhängige und zugleich verbindliche Einsichten in die soziale Welt um mich herum kennenzulernen und womöglich selbst zu erarbeiten. (...) Am damaligen Ziel meines Aufbruchs bin ich nie angekommen. Statt dessen mußte ich einsehen, daß auch Wissenschaft politisch ist, und zwar nicht nur im Rahmen korrigierbarer Fälle von Abweichungen, sondern in ihrer Grundverfassung. Sie dient zwar nur noch selten konkreten politischen Interessengruppen, wird aber existentiell getragen von allgemeinen Überzeugungen über die Natur der Wirklichkeit und deren Zeit, von sozialem Konsens über Wahrheit und deren Wünschbarkeit, von den Opportunitäten der Fragestellung und den Chancen systematischer Stellungnahme« (1998:3530-

Die Stellungnahmen lassen Zweifel am Erfolg dieses Unterfangens aufkommen. Hartmann erhofft eine Integration eher über theoretische Bezüge: »Denn die Forschungsarbeit in Großinstituten steht ebenso wie die der Individualforscher aufgrund methodologischer Eigenheiten immer noch >neben< der Soziologie, statt als (eine) tragende Säule zu gelten. Das hat vor allem damit zu tun, daß die fachliche Identität weiterhin vorrangig auf Theorie aufbaut, das Verhältnis von Theorie zu Empirie aber gespalten geblieben ist« (1998:363). Mit dem Eingeständnis dieser Scheidung stellt sich auch die Frage nach der disziplinären Konsistenz der Soziologie. Am weitreichendsten ist hier Dahrendorfs Bekenntnis: »In früheren Jahren habe ich mich dagegen gewehrt, von der Soziologie als einer >Perspektive< zu reden. Mir war das zu wenig. Ich träumte von Theorien, die eine eigenständige Disziplin begründen können. Heute sehe ich den Gedanken einer soziologischen Perspektive gelassener« (Dahrendorf 1998:301). Auch bei Mayntz wird die Frage nach der fachlichen Identität in Zweifel gezogen: »In der seitdem beibehaltenen Selbstbeschreibung als Sozialwissenschaftler kommt vielmehr zum Ausdruck, daß meine berufliche Identität primär von bestimmten Themen und von einem bestimmten Ansatz (nämlich der empirischen Sozialforschung) und nicht von der sozialen Zugehörigkeit zu einem Fach geprägt ist« (Mayntz 1998:285).

442

D.

Empirische Sozialforschung im >Normalbetrieb< (seit 1980)

>Normalbetrieb< heißt wohl

auch, daß Soziologie und Sozialforschung nun

Rahmenbedingungen von den Auseinandersetzungen die eingeholt werden, bereits ihre Vorgeschichte geprägt haben. Die siebziger Jahre zeichneten sich schließlich auch dadurch aus, daß die großen Kritiker und Skeptiker (Tenbruck, Schelsky, aber auch Max Weber) und die konkurrierenden Theorieentwürfe an den Rand gedrängt wurden. Der Erfolg und die zeitweise integrative Kraft des Unternehmens Empirische Sozialforschung hatte die lange Vorgeschichte der Auseinandersetzungen um die Sozialwissenschaften und die empirische Sozialforschung vergessen lassen. Im

unter veränderten

-

-

>Normalbetrieb< tritt nach dem wissenschaftsorientierten oder dem kritischen Traum einer unified science eine weit größere Spannweite von Wissenschafts- und Praxiskonzepten auf den Plan. Bourdieu hat sein Bild von einer multiparadigmatischen, einer heterodoxen Sozialwissenschaft auf die Formel gebracht: »Vive la crise« (1988).

Das Unternehmen

/Empirische Sozialforschung
Empirische Sozialforschung«: ist als Projekt der empirisozialwissenschaftlichen Theoriegebäudes, als Beeines Fundierung kritischen Theorie der Gesellschaft, als Motor gesellschafteiner gründung licher Reform und schließlich als Medium zur Begründung und Optimierung sozialtechnologischer Steuerungsprozesse gestartet. Die einzelnen Aspekte wurden im Rahmen unterschiedlicher Teilprojekte verfolgt; es finDas Undet sich aber auch der Anspruch, diese Aspekte zu verknüpfen ternehmen >Empirische Sozialforschung«: sollte zu einer Umsetzung des unterschiedlich interpretierten Aufklärungs- und Gestaltungsanspruchs der Soziologie beitragen. Es sollte die Qualität sozialwissenschaftlichen Wissens verbessern; über moralische und feuilletonistische Deutungsangebote, über Gesellschafts- und Kulturkritik hinaus sollte wissenschaftliches Wissen über die soziale Welt hervorgebracht werden. In diesem umfassenden Sinne war das Unternehmen nur bedingt erfolgreich. Dennoch kann die empirische Sozialforschung auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Die Praktiken der Sozialforschung und das mit diesen Praktiken hervorgebrachte Wissen über die soziale Welt haben sich im wissenschaftlichen, wie im politischen und kulturellen Leben fest etablieren können. Dieser Erfolg des Unternehmens Empirische Sozialforschung war jedoch nicht unbedingt im Sinne seiner Protagonisten: Im wissenschaftlichen Feld hat sich die empirische Sozialforschung als Medium der Beschreibung und Analyse der sozialen Welt durchsetzen können. Dies hat aber weder zur Verdrängung einer geisteswissenschaftlich orientierten Soziologie geführt164, noch ist der Traum vom Aufbau eines empirisch fundierten Theoriegebäudes oder eines räumlich zeitlich invarianten Wissensbestandes gelungen. Es hat sich gezeigt, daß das mit Mitteln der empirischen Sozialforschung hervorgebrachte Wissen weitaus stärker modellabhängig, kultur- und zeitspezifisch ist als gedacht. Im Bereich der politischen Administration, in Betrieben und Dienstleistungseinrichtungen sowie in politischen Organisationen hat sozialwissenschaftliches Wissen auf breiter Basis Einzug gehalten. Die Verwendung dieDas Unternehmen

schen

.

-

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-

-

In

prägnanter Form hat z.B. Daheim seine Vision einer zukunftsträchtigen Sozialforschung

»auf gesellschaftspolitisch relevante Probleme gerichtet, im Rahmen einer historisch fundierten Zeitdiagnostik an einer Gesellschaftstheorie orientiert, im Austausch mit sog. Praktikern und, nicht zuletzt auf der Höhe der theoretischen und methodischen Entwicklungen in den Sozialwissenschaften betrieben, was ein gewisses Maß an interdisziplinärer Zusammenarbeit ver-

dargelegt:

langt« (1998:326).

Manchmal scheint sozialwissenschaftliches Wissen eher als

Orientierungswissen erfolgreich gewesen zu sein.

sozialphilosophisch inspiriertes

444

Das Unternehmen

>Empirische Sozialforschung«

Wissens folgt jedoch ganz eigenen Regeln, und es zeichnet sich die Tendenz ab, daß dieses Wissen bevorzugt in den Feldern selbst hervorgebracht (in Ressortforschungseinrichtungen bzw. durch Experten innerhalb der jeweiligen Institution) oder von speziellen Dienstleistern (Meinungsforschungsinstitute, Beratungsunternehmen) gezielt eingekauft wird. Mit Mitteln der empirischen Sozialforschung hervorgebrachtes Wissen hat schließlich Eingang in die öffentlichen wie in die privaten Diskurse gefunden. Aber auch hier wurde es gemäß den zeit- und feldspezifischen Belangen popularisiert. Ob es zu einer Rationalisierung dieser Diskurse beigetragen hat, muß dahingestellt bleiben. In all diesen Feldern hat eine erfolgreiche Adaption empirisch fundierten Wissens stattgefunden; dieses (mehr oder weniger) als wissenschaftlich ausgewiesene Wissen trat in Konkurrenz zu den etablierten feldspezifischen Wissensbeständen; es wurde von den Akteuren strategisch eingesetzt. Das für die Belange wissenschaftlicher Forschung entwickelte komplexe und voraussetzungsvolle Arsenal der empirischen Sozialforschung wurde in den verschiedenen Verwendungskontexten eher wie ein Werkzeugkasten genutzt; auch theoretische Konzepte wurden eher im Sinne eines Steinbruchs ses

-

gehandhabt.

>Empirische Sozialforschung< ist vielfach in die gesellschaftlichen Vollzüge, die es sich zum Gegenstand macht, integriert. »Sozialforschung steht nicht als ein quasi neutrales Beobachtungsinstrument sozialer Vorgänge und Zustände außerhalb der Form und Gestalt gebenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern hat Teil an den gesellschaftlichen Entwicklungen, Umbrüchen, an zukunftsgerichteten Reformprojekten wie an den gesellschaftlichen Katastrophen. Sie ist Teil der mächtigen gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesse der >Modeme«, der Ausbildung rationaler Herrschaftsformen, der Anonymisierung von Gewalt und Zwang, der Doppelung von Staat und ziviler (bürgerlicher) Gesellschaft wie der parallel laufenden Prozesse der Demokratisierung, der Durchsetzung und Verallgemeinerung von Gleichheit und Gerechtigkeit, von Sicherheit und allgemeiner Wohlfahrt« (Wienold 2000:11). Diese Entwicklung der empirischen Sozialforschung und der Einsatz empirisch fundierten Wissens wurden durch das Zusammenspiel verschiedener Entwicklungskräfte befördert. Einen zentralen Stellenwert für die Entwicklung und den Ausbau der empirischen Sozialforschung hatte die gesellschaftliche bzw. feldspezifische >Nachffage< nach empirisch fundiertem mit wissenschaftlicher Methodik hervorgebrachtem Wissen über die soziale Welt. Diese Nachfrage bildete sich jedoch nicht automatisch mit dem Auftreten bestimmter Problemlagen oder einer wachsenden Komplexität gesellschaftlicher Beziehungen heraus; sie korrespondierte eher mit der (allmählichen) Veränderung von Diskursen und Wirklichkeitsdeutungen, von Regulierungsstrategien und Legitimationsmustern, kurz mit einem veränderten Blick oder einer veränderten Konstruktion der sozialen Welt. Der Ausbau der empirischen Sozialforschung und allgemeiner der Sozialwissenschaften war zugleich das Ergebnis gezielter InstitutionalisierungsDas Unternehmen

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Das Unternehmen

>Empirische Sozialforschung«

445

prozesse, der von Akteuren insbesondere im wissenschaftlichen und im politischen Feld vorangetrieben wurde. Im Mittelpunkt standen der Ausbau der Sozialwissenschaften und die obligatorische Ausbildung in den Techniken der empirischen Sozialforschung an den Hochschulen, der Aufbau von hochschulfreien Forschungseinrichtungen und schließlich der Aufbau von Infrastruktureinrichtungen (von Fachzeitschriften bis zu Einrichtungen der

Forschungsinfrastruktur). Der Aufbau von Einrichtungen der Ressortforschung und von Forschungsinstituten, die hochgradig von einzelnen Auftraggebern abhingen, trug wie schon die Ausdifferenzierung der amtlichen Statistik und der Markt- und Meinungsforschung dazu bei, daß die Sozialwissenschaftler an den Hochschulen ihr Monopol auf die Produktion sozialwissenschaftlichen -

Wissens verloren. Damit bekam die pragmatische Drift innerhalb von Sozialwissenschaften und Sozialforschung eine neue Qualität. Mit der Ausbildung von professionell orientierten Sozialwissenschaftlern an den Hochschulen trat schließlich eine neue Spezies von Akteuren auf den Plan, die im Laufe der siebziger Jahre zunehmend weniger vom expandierenden wissenschaftlichen Feld absorbiert werden konnte; sie wurden an den Hochschulen im Kontext unterschiedlicher Leitbilder von Sozialforschung fachlich sozialisiert und trachteten nun danach, Anwendungsfelder für die in der Ausbildung erworbenen Kapitalien zu eröffnen und zu erweitern. Die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens wurde damit zunehmend von den professionellen Interessen dieser Gruppe geprägt. Wir haben es heute vor allem mit den Folgeeffekten dieser verschiedenen Institutionalisierungsprozesse zu tun, mit den Eigenlogiken der verschiedenen Kontexte, in denen Sozialforschung institutionalisiert wurde, mit den strategischen Kalkülen von Sozialwissenschaftlern in diesen Kontexten. Das anfangs notwendig diffuse Interesse an sozialwissenschaftlichem Wissen veränderte sich im Laufe der Zeit; individuelle und kollektive Akteure machten (als Produzenten, als Verwender, als Rezipienten, als Studierende etc.) Erfahrungen mit sozialwissenschaftlichem Wissen. Die Nutzung sozialwissenschaftlichen Wissens zeitigte Folgeeffekte: es wurde in den feldspezifischen Machtspielen strategisch gehandhabt, es stellten sich bestimmte Verwendungsroutinen ein etc. Ob die oben beschriebene Veränderung von Wirklichkeitsdeutungen und Diskursen unumkehrbar ist, wie manche behaupten (z.B. Beck/Bonß 1989:28 und 32) oder ob nicht auch diese Wirklichkeitsdeutungen längerfristigen Konjunkturen unterliegen und durch an-

Deutungssysteme, z.B. eher ökonomischer, biologischer oder technologischer Provenienz, überlagert werden können, muß dahingestellt bleiben. In den verschiedenen Kontexten, in denen sozialwissenschaftliches Wissen produziert und verwendet wurde, stellte sich die Entwicklung der empiridere

schen

Sozialforschung unterschiedlich dar:

446

Das Unternehmen

>Empirische Sozialforschung«

Im Hochschulbereich folgte die empirische Sozialforschung weitgehend Gratifikationslogik des wissenschaftlichen Feldes. Belohnt wurden Spezialisierung und methodische Innovation165; die Fragen der gesellschaftlichen und fachlichen Relevanz der untersuchten Probleme spielten oft nur eine nachgeordnete Rolle. Dahrendorf beklagt, daß Universitätswissenschaft nicht länger »öffentliche Wissenschaft« (1996:35) sei. Nicht unerhebliche Teile der akademischen Soziologie agierten eher selbstbezogen und trugen noch immer die Spuren einer Wissenschaft der Gelehrten, die sich mit den Insignien wissenschaftlicher Methodik und empirischer Fundiertheit schmückt166. Die Klage über die Bürokratisierung der Hochschulforschung (vgl. auch Schulze 1996) übersieht jedoch ihre wichtige Rolle als stabilisierender und regulierender Faktor inmitten von Praxisfeldem, die von starken verwendungsbezogenen Interessen strukturiert sind. In dem großen Segment der Sozialforschung, das sich auf die Belange der öffentlichen Verwaltung bezieht, stand diese unter dem starken Druck, verwendungsbezogenes Wissen hervorzubringen. Wagner hatte in den siebziger Jahren noch von einer Diskurskoalition zwischen Akteuren im politischen und im wissenschaftlichen Feld gesprochen. »Das gemeinsame Projekt der Gesellschaftsreform durch Stärkung einer aufgeklärten und rational agierenden Steuerungsinstanz des Wohlfahrtsstaats ging über in eine neue Form der Verstaatlichung der Sozialwissenschaften« (1990:399)167. Im Bereich der unternehmensbezogenen Forschung und Beratung hatte die empirische Sozialforschung jenseits der Markt- und Meinungsforschung keine größere Bedeutung gewonnen. Es herrschte eine starke Konkurrenz mit Forschungs- und Beratungsdienstleistungen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen168. Erst in den neunziger Jahren zeichnete sich mit den Veränderungen der Arbeits- und Betriebsorganisation eine spezifische Nachfrage auch nach sozialwissenschaftlicher Expertise ab169.

der

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Der Status empirisch fundierten Wissens über die soziale Welt Die empirische Sozialforschung bewegt sich wie auch die Sozialwissenschaften zwischen den zwei großen Wissenschaftskulturen, den Natur- und

Mayntz verdeutlicht dies in ihren >Karrieretips< für den wissenschaftlichen Nachwuchs; sie empfiehlt eine »leicht erkennbare professionelle Identität durch die Spezialisierung auf eine bestimmte Methode oder auf ein bestimmtes Arbeitsgebiet« (1998:292). Mayntz bemerkt dazu (vgl. Fn. 165): »Die Deutungsleistungen der Soziologie befriedigen, vor allem wenn sie den berühmten Zeitgeist gut treffen, beim großen Publikum tiefere Bedürfnisse als ihr Angebot an empirisch fundiertem Wissen. Dabei schadet es auch nicht, gegen die von Max Weber geforderte Enthaltung von Werturteilen zu verstoßen. Auf jeden Fall ist ein in sich geschlossenes theoretisches Werk mit hohem Erklärungsanspruch reputationsfördernder als eine

Reihe guter empirischer Monographien« (1998:292). Die Wagnersche Position bedarf sicherlich der Relativierung und Spezifizierung (s.o.); sie macht aber die prekäre Situation der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion in diesem Feld deutlich. 168 Vgl. Weltz (1982:301). 169 Offen ist dabei, inwieweit sich aus dieser Beratungstätigkeit auch eine Befruchtung der Sozialforschung ergibt; vgl. dazu Thinnes (1999:48).

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>Empirische Sozialforschung«

447

den Geisteswissenschaften170; sie liefert mehr oder weniger brauchbare Bilder der sozialen Welt, bringt Artefakte hervor, die gesellschaftliche Strukturen und gesellschaftliches Handeln kommunizierbar, reflektierbar, erklärbar, prognostizierbar oder verstehbar machen, die es legitimieren und kritisieren können. Die empirische Forschung fügt den bereits vorliegenden Wirklichkeitskonstruktionen weitere hinzu. Mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Praktiken werden Bilder von der sozialen Welt produziert; d.h. das Wissen, das empirische Sozialforschung generiert, ist nicht unerheblich durch die (kultur171- und zeitspezifischen) Modellvorstellungen und Techniken geprägt, die es hervorgebracht haben. Dieses Wissen bezieht sich auf gesellschaftliche Praxisfelder; seine > Akzeptanz«^ setzt eine Korrespondenz mit den in diesen Feldern vorherrschenden Weltbildern voraus. Es kann sich dann >durchsetzenWirklichkeitsmaschineEmpirische Sozialforschung«

bringung kann ihm eine besondere Rolle im gesellschaftlichen Diskurs zukommen lassen174. Sozialwissenschaftliches Wissen erweist sich in hohem Maße als feld- und

zeitspezifisch. Es ist an die anerkannten Deutungen und Symbolsysteme gebunden und ist auch mit der Geschichte des Feldes, mit den dort herrschen-

den Spielregeln und Machtverhältnissen, verknüpft. Empirische Forschung ist darauf verwiesen, an zeitgenössische Fragestellungen und Perspektiven auf die soziale Welt anzuknüpfen; die Selbstverpflichtung, gesellschaftlich relevantes Wissen hervorzubringen, nötigt diesem Wissen zugleich eine gewisse Begrenztheit auf. Auch die Frage, wann ein Phänomen als >erklärt< oder wann eine Praxis als >verstanden< gilt, scheint einem zeitlichen und kulturellen Bezug zu unterliegen. Schelsky hatte in seinen >Ortbestimmungen< bereits auf »die Vorläufigkeit aller Arten von Empirie« verwiesen; er sehe daher »die Theorie der Gesellschaft in engem Zusammenhang mit der Lebensbilanz der sozialen Erfahrung nicht nur des einzelnen Sozialwissenschaftlers, sondern einer ganzen Generation und Epoche« (1959:84). Der spezifische Zeit- und Feldbezug sozialwissenschaftlichen Wissens bedingt, daß dieses Wissen nur begrenzt akkumulierbar ist und zu komplexeren Aussagegebäuden gefügt werden kann175. Auch die Modellspezifik der empirischen Analysen, die hohen (meist nur näherungsweise erfüllbaren) Anforderungen an den Erhebungs- und Auswertungsprozeß, verleihen den Befunden des Forschungsprozesses eine gewisse Unscharfe. In engem Zusammenhang mit dem Akkumulationsproblem ist ein Phänomen zu beobachten, daß man als Problem des sinkenden >Grenznutzens< soziologischen Wissens bezeichnen könnte. Die empirische Sozialforschung hat zunächst in vielen Feldern, die zum Gegenstand systematischer Forschungsarbeit wurden, wichtige Einsichten und neue Perspektiven hervorgebracht; eine Intensivierung der Forschungstätigkeit hat sich dann jedoch nur noch begrenzt in einem Zuwachs oder einer Vertiefung sozialwissenschaftlichen Wissens niedergeschlagen. Scheuch hatte einen solchen Effekt bereits in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre beschrieben, als er gewissen Das impliziert ein epistemologisches >ProgrammVemunft< und Realität zur Erklärung der Weise, wie politische Freiheit unser Verständnis des Nutzens von Forschung verändert hat« ([1989] 1993:122). Wienold skizziert die praktizierte Sozialforschung als »weitgehend registrierend, deskriptiv oder prognostisch, bezogen auf (...) historische Problemlagen, Wandlungen und Umbrüche. Ihre theoretische Bedeutung und ihr kumulativer Ertrag erscheinen eher gering« (2000:12f).

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>Empirische Sozialforschung«

449

Entwicklungsproblemen der Sozialforschung nachging. Zunächst sei die Sozialforschung »als Sozialbeschreibung« erfolgreich gewesen, und es war ihr gelungen, »mit nicht sehr anspruchsvollen Verfahren viele Erscheinungen des Alltags auf die Variation einiger Bestimmungsgründe teilweise zu reduzieren. Seither erweist es sich jedoch als schwierig, über solche Erklä-

(1976:Ulf)176.

rungen hinaus zu gelangen« Die Zeit- und Feldspezifik sozialwissenschaftlichen Wissens weist darauf hin, wie wenig dieses von seinen >Gegenständen< zu scheiden ist; es hat »einen doppelten Charakter. Es stellt Gesellschaft dar, bildet sie ab und durchdringt und rationalisiert sie in einem. Das Bild formt das Abgebildete. Die Soziologie in Gestalt der empirischen Sozialforschung nimmt wie alle großen Wissensprojekte, sei es auf den Gebieten der psychischen Formationen und Deformationen, der Sexualität oder der Bevölkerungen, teil an der Formung der Gesellschaft« (Wienold 2000:11). Die Hoffnungen, die das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< beflügelt hatten, daß mit der Erfindung der Sozialforschungsmaschine das so produzierte empirische Wissen über die soziale Welt sui generis wissen-

schaftlichen Fortschritt und theoretische Klärung einerseits und gesellschaftskritische und reformerische Impulse andererseits hervorbringt, daß damit gesellschaftliche Rationalisierungsprozesse einen (unumkehrbaren) Selbstlauf bekommen, erwiesen sich als trügerisch. Die Techniken der empirischen Sozialforschung sollten zu einem Angelpunkt in den >bodenlosen< Auseinandersetzungen um die erkenntnisleitenden Vorstellungen und Interessen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Praxis werden. Die Anwendung kodifizierter empirischer Arbeitsmethoden kann jedoch nicht den Diskurs um das Selbstverständnis und die Rolle sozialwissenschaftlicher Forschung und Theorie ersetzen. Die Hoffnung, daß eine >gute Sozialforschung< im Selbstlauf Beiträge zu einer >guten Wissenschaft und einer >guten Gesellschaft«: liefert, ist in der einen wie der anderen Variante zu revidieren: das betrifft sowohl die Hoffnung, über eine methodische und methodologische Exaktheit auch wissenschaftlich exaktes Wissen hervorbringen zu können, als auch die Vorstellung, über qualitative oder aktivierende Methoden zu einer emanzipativen Sozialwissenschaft und zu gesellschaftlichen Reformen und Veränderungen beitragen zu können. Mit dem Projekt der empirischen Sozialforschung war quer über alle Leitbilder die Vorstellung verbunden, man habe mit dem empirisch gewonnenen Wissen über die soziale Welt so etwas wie ein Interpretationsmonopol gegenüber anderen globalen und lokalen Wissensproduzenten, wie auch gegenüber den geisteswissenschaftlich orientierten Mitwissenschaftlern. Die Leitbilder, die die Herausbildung der modernen Techniken der empirischen Sozialforschung begleitet haben, erinnern stark an andere FortScheuch sah darin einen Hinweis auf eine mögliche Krise der quantitativen das Problem trifft vermutlich qualitative Forschungsansätze in ähnlicher Weise.

Sozialforschung;

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>Empirische Sozialforschung«

schrittshofïhungen, die mit dem Einsatz neuer Technologien verknüpft werden. Darüber hinaus lassen sich noch eine Reihe zeitspezifischer Faktoren

Überhöhung in dem untersuchten Zeitverstärkt haben: der (einzigartige) zeitgeschichtliche Kontext von Postfaschismus, kaltem Krieg und Systemkonkurrenz, die Veränderung der Legitimationsmuster politischen und administrativen Handelns, die besonderen Umstände der akademischen Institutionalisierung der Sozialwissenschaften und die damit verbundene Logik der innerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen; schließlich hatte auch die neu entstandene Branche der Markt- und Meinungsforschung ein spezifisches Interesse an einer diskursi-

ausmachen, die diesen Effekt der raum

Überhöhung ihrer Forschungspraxis. Vor diesem Hintergrund muß das Unternehmen >Empirische Sozialforschung< in das Unternehmen Sozialwissenschaft zurückgeholt werden; der Streit um die angemessenen Techniken der Sozialforschung muß auf einen Streit um die Wissenschafts- und Praxisprogramme der Sozialwissenschaft zurückgeführt werden. Die grundsätzliche Unscharfe des mit Mitteln der empirischen Forschung hervorgebrachten sozialwissenschaftlichen Wissens ist keinesfalls als ein Hinweis auf die Müßigkeit des empirischen Unternehmens oder auf die Beliebigkeit des empirischen Forschungsprozesses zu begreifen; die Einsicht in die Unscharfe sollte eher als Plädoyer für eine empirische Sozialforschung angesichts der vielfachen Begrenztheit ihrer Möglichkeiten verstanden werden. ven

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Personenregister Acham, Karl 257 Adorno. Theodor W. 3,

5ff, 14, 47f, 50, 54, 78, 81, 83, 85ff, 101, 103f, 119, 207ff 212, 217. 231, 250, 253, 258, 265, 355, 407 Agartz. Viktor 76f, 80 Albert, Hans 94, 183, 192, 253, 255ff Alemann, Heine von 243, 290, 303, 308ff, 319.350,354,397 Anderson, Neis 45f, 50, 62, 67, 81, 85, 92 Anderson, Oskar 17, 37, 107, 159, 162, 169, 201

Anger. Hans 84 Arensberg. Conrad 50, 92

Arndt. Hans-Joachim 50 Atteslander. Peter 66, 90, 110, 120, 135, 145,

183, 210, 231, 349ff, 359, 437, 440

Badura, Bernhard 381 Bahrdt, Hans Paul 55, 66f, 72, 80, 115, 122, 199,212,221,354,364,427 Baier, Horst 285 Ballerstedt, Elke 329

Bardey. Emil

189

Baumert. Gerhard 2, 132, 144 Beck, Ulrich 186, 243, 368, 375, 382f, 385f, 392, 43 5f, 445 Becker-Schmidt, Regina 90 Behrens. Karl Christian 132.140,179 Bell, Daniel 236, 325, 370 Below, Georg von 365 Berger. Hartwig 266ff 344 Bergmann, Joachim 84, 287, 291, 301, 312, 333, 335f. 361 Berth, Rolf 134f, 141,204 Blind, Adolf 147,167 Blossfeld, Hans-Peter 418 Blücher, Viggo Graf 144 Blume, Otto 93, 120 Blumer, Herbert 26 lf Boettcher, Erik 115 Bolte. Karl Martin 34, 36, 54f, 62, 104, 111, 113. 115. 117, 121, 123,155,224,241,296, 370, 375. 379ff, 401,404 Bonß, Wolfgang 37f, 43, 217, 243, 272f, 279, 283, 285, 382f, 385, 392, 407, 435f, 445 Bortkiewicz, Ladislaus von 155, 169 Bortz, Jürgen 351,396,423f Bosch, Gerhard 278,396 Boudon. Raymond 37 Bourdieu. Pierre 21ff, 31, 144f, 192, 248, 355, 362, 428f, 432, 434, 438, 442 Boustedt, Olaf 37 Bowley, Arthur L. 155

Braczyk, Hans-Joachim 249, 331, 335f, 389 Brandt, Gerhard 91,217,241,388 Braudel, Fernand 414 Braun, Siegfried 50, 66, 76ff, 126, 218, 327 Brepohl, Wilhelm 65, 67, 70ff, 180, 186 Brocke, Bernhard vom 44, 121, 154f, 168, 197,414

Bungard, Walter 269 Burgdörfer, Friedrich Burgess, Ernest 46 Burkhardt, Felix 154

168

Carnap, Rudolf 255 Chapin, F. Stuart 45, 47

Christaíler. Walter

70

Cicourel, Aaron V. 259, 262, 266ff, 401 Coleman, James S 47, 370 Cooley, Charles Horton 261 Crespi, Leo P. 2 Croon, Helmut 67 Dahrendorf, Ralf 66, 89, 102, 108, 110, 113, 118, 127f, 191, 207f, 210, 229, 237, 245, 264, 280, 366,432ff, 440f, 446 Desrosières, Alain 27, 37, 152, 155, 447 Devereux, Georges 266, 269, 401 Dichter, Ernest 139 Diekmann, Andreas 350, 418, 423f

Dienel, Peter C. 337 Dilthey, Wilhelm 174, 193, 198, 260

Dirks, Walter

84

Dodd. Stuart 47, 132, 187, 256

Elias, Norbert 400 Erbslöh, Eberhard 344, 350 Esenwein-Rothe, Ingeborg 37, 147, 162, 167, 169, 184, 189 Esser, Hartmut 156, 269, 305, 341, 344, 372f, 378, 390f, 401, 414ff, 419, 423ff, 428 Ferber, Christian von 38, 85, 115f, 127, 250,

257,380,382,436,438 Feyerabend, Paul 265, 3 82, 414, 423 Fisher, Ronald Aylmer 184 Flaskämper. Paul 147, 154f, 159, 167, 184

Fleck, Ludwik 25ff Flick. Uwe 403ff,409, 411ff, 426 Foucault, Michel 32, 37f, 428 Francis, Emench K. 129, 177. 209 Fricke, Werner 336f Friedberg, Erhard 409, 438 Friedeburg, Ludwig von 2, 66, 84f, 90, 124, 132,202,354,427

506

Personenregister

Friedmann, Georges 79 Friedrichs, Jürgen 114, 349f, 353, 432 Fröhner, Rolf 132

Jaeggi, Urs 67 Jahoda, Marie 50,350,354f James, William 49,260 Fuchs, Werner 273ff, 409 Jantke, Carl 65f, 71, 113,220 Fürst, Gerhard 44, 52,147,149f, 152ff, 157ff, Jerusalem, Wilhelm 25,197 164f Jetter, Ulrich 9 Joas, Hans 46, 49f, 197, 261, 263, 282, 400 Fürstenberg, Friedrich 183, 208, 362, 437 Jüres, Ernst August 66f, 354, 427 Garfinkel, Harold 259, 262, 267 Kaase, Max 2,133, 135,137,297,315,319, Garz, Detlef 402,406,408 375,381 Gayer, Kurt 202 Kapferer, Clodwig 2, 11,131, 133f, 144f, 206 Geck, L.H. Adolf 37, 121,388 Katterle, Siegfried 278 Geertz, Clifford 413 Kellerer, Hans 4, llf, 14, 17, 156, 158, 161, Gehlen, Arnold 71,121,177,197 163, 169, 172,183f Geiger, Theodor 110, 121, 187, 196, 354f Kern, Horst 36, 38, 43, 45, 83, 96, 109f, 117. Gerdes, Klaus 400 295, 332, 336f, 355,364f,437 Giddens, Anthony 34, 246, 255, 363, 368, 400 Kesting, Hanno 66f, 71, 354, 427 Glaser, Barney 401, 409, 412 Kiaer. Anders N. 155 Gleitze, Bruno 77 Kinsey, Alfred C. 202,245 Goldschmidt, Dietrich 104, 110, 115, 291, Klages, Helmut 67, 237, 243f, 341, 364, 396 300f, 311,324 Kleining, Gerhard 196,402,410 Goode, William J. 50,207,210 Klezl, Felic 155,164 Grigsby, S Earl 50 Kluckhohn, Florence R. 193 Guba, Egon G. 395,412 Kluth, Heinz lOlf, 106, 113 Knorr-Cetina, Karin 27 Habermas, Jürgen 84, 116, 208, 232, 241, Kohh, Martin 47,401,409 250, 253, 257ff, 261, 263,265, 280,283, Koller, Siegfried 154 313, 354f, 372, 386, 400, 413, 427, 433 König, René 9, 44, 49, 51, 53f, 62, 72, 89, Hacking, Ian 27 91ff 102, 110, 112, 117, 119f, 145, 171. Hampe, Asta 147 177, 180f, 183, 194ff, 201, 207f, 210, 212, Harder, Theo 144 215, 228, 231, 245, 250, 256, 269, 342f, Harmsen, Hans 71, 154f 364 Hartenstein, Wolfgang 135 Hartmann, Heinz 48ff, 68, 117, 125, 128, 186, Koolwijk, Jürgen van 352,417 Korherr, Richard 70 210. 253. 262, 271, 283, 350, 355f, 358, Kracauer, Siegfried 203 382,401,441 Krahn, Karl 278 Hartwig, Heinrich 167, 170 Kraimer, Klaus 402, 406, 408 Heberle, Rudolf 49, 177, 197 Kreutz, Henrik 269,344 Helle. Horst Jürgen 260f, 400 Kriz, Jürgen 270,401,414,419 Hennis, Wilhelm 113, 203f Kromrey, Helmut 350, 389, 428 Herberger, Lothar 157 Küchler, Manfred 402 Heyde, Ludwig 93f Kuhn, Thomas S. 24f, 264, 353f, 360, 382, Hobart, Donald M. 131,179 423 Hoffmann, Walther G 64f, 67, 70, 72, 200, Kuhr, Irma 85 220f Kuske, Bruno 70 Hofstätter, Peter R 183,214 Holm. Kurt 340, 344, 349, 352 Lakatos, Imre 264, 271, 423 Honer, Anne 403, 407ff 411 Lamnek, Siegfried 426, 429f Horkheimer, Max 6, 55, 58, 62, 81ff, 85, 91, Langelütke, Hans 10, 38, 195 101, 207, 209, 216, 250, 255, 354 Latour, Bruno 27 Horn, Gustav-Herbert 2, 76, 141 Lautmann, Rüdiger 385, 429 Horstmann, Kurt 154 Lazarsfeld, Paul F. 38, 44, 47f, 51, 60, 87ff, Hughes, Everett C. 50 139, 144, 192, 194, 209, 224, 228, 242, 256f, 265, 271, 280, 282f, 285, 345, 354f, Ipsen, Günther 67, 70f, 154f 424

Personenregister Le

Play, Pierre-Guillaume-Frédéric 8, 114,

233 Lenk, Hans

507

Naschold, Frieder 328, 330, 388 Nehnevajsa, Jiri 187 Neidhardt, Friedheim 36, 104, 121. 224, 321,

241,254f,265 371.393.437 Lenz, Friedrich 132, 203f, 206 Lepsius. M Rainer 44, 69, 72, 83,97ff, 104ff, Neuloh, Otto 63ff, 95f, 104,186, 220f, 224 109f, 112f, 1171Ï, 125, 127, 144f, 189, 210, Neundörfer, Ludwig 5, 8, 53, 82, 88, 224 212ff, 224, 234. 249, 251, 280f, 285ff, Neurath, Otto 254f 317f,348, 361ff,383,432 Noelle-Neumann, Elisabeth 3, 9, 16, 132, 140f, 144, 179, 202, 206, 344,349 Leverkus-Brüning, Iris 344 Lewin, Kurt 276 Noll, Heinz-Herbert 329 Lieber, Hans-Joachim 116, 120, 126 Nothaas, Josef 167,184 Liepelt, Klaus 135 Nowotny, Helga 321, 338, 373, 385f Linde, Hans 67, 70f, 121 Lisowsky, Arthur 11,14 Oberschall, Anthony 38,43,45 Litz. Hans-Peter 147ff, 151, 153f, 157f, 165, Oehler, Christoph 354, 427 169, 171f,306,329 Oevermann, Ulrich 273, 402, 407, 409 Lorenz, Charlotte 38, 147, 162, 164, 167f, Offe, Claus 374,394 175, 177, 184 Ogburn, William Fielding 45ff Lück, Helmut E. 269 Park, Robert 46 Luckmann, Thomas 82,263,382,400 Peirce, Charles Sanders 260, 263, 400 Lundberg, George 47, 187, 256 Lutz, Burkart 66, 77, 79ff 84, 103, 124, 126, Peisert, Hansgert 113f, 117, 324, 364 218, 238, 289, 302f, 308, 310, 312, 317, Pfeffer, Karl-Heinz 53, 70f, 73 319, 331, 343, 367, 379f, 439 Pfeil, Elisabeth 67, 70f, 73, 114, 155 Pirker, Theo 55, 66, 76ff, 103, 118, 126ff, 171,218f,289 Mackenroth, Gerhard 62, I09f, 114f, 121, Plessner, Helmuth 62, 89, 101, HOf, 115, 147, 155, 183 119f, 127, 129,214f Mackensen, Rainer 44, 56, 63, 71, 73,104, Polanyi, Michael 25,28 110, 121, 124, 135, 155, 189, 196,282, Pollock, Friedrich 81,85,90 286,371,380,403,437 Popitz, Heinrich 66f, 72f, 80, 331, 354f, 427 MacKenzie, Donald A. 27, 3 8 Popper, Karl R. 195, 209, 242, 253, 255ff, Mangold, Werner 349f 259,271.428 Mannheim. Karl 93, 101, 108, 113, 116, 197f, Potthoff, Adolf 76,98 235.298,315,407 Pnm, Rolf 337 Markmann, Heinz 74f, 77 Matthes. Joachim 35, 102ff, 108, 110, 118, Ralis, Max 50, 178, 180 187,229,248,251,363 Reichertz, Jo 410,413 Maus, Heinz 182,250 Reigrotzki, Erich 5,8,92 Mayhews, Henry 202 Paul 155 Mayntz, Renate 92ff, 126, 183, 195, 244, 281, Riebesell, Riehl, Wilhelm Heinrich 8, 193, 198 318. 341, 349, 354f, 379, 401. 414, 432f, Rinne, Horst 44, 54, 156, 159, 167, 305, 359 438, 440f, 446 Ritsert, Jürgen 266, 273, 282 Mavr, Georg von 38, 40, 74, 159, 161, 166f, Rolfes, Max 85 169, 175,221 Rorty, Richard 400,448 Mayring, Philipp 402, 405ff Rosenmayr, Leopold 126 Mead, George Herbert 46, 259f, 263, 400 Rüschemeyer, Dietrich 94, 154, 172, 180 Meitzen, August 38,40,175 Rüstow, Alexander 101, 120, 264 Menges, Günter 38, 76, 167, 170 Merton, Robert K. 22, 47, 192, 282, 409, 424 Sahner, Heinz 60, 69, 95, 186, 210, 226, 232, Mies, Maria 242, 276f, 325, 370, 401 249ff, 265, 283, 313, 351, 353, 357, 414 Mittelstraß. Jürgen 264 Sauermann, Heinz 82, 103, 120, 212 Moser. Heinz 395f Schäfer, Erich 25, 38, 70, 131, 133f, 138, 179 Müller, Karl Valentin 55, 61f, 116 Scharpf, Fritz W. 323f Müller. Ursula 273, 276, 401, 405, 452 Schelsky, Helmut 29, 53, 60, 62, 67ff, 80f, 98, Myrdal, Gunnar 265 100, 102, 104, 107, 109f, 112ff, 119, 121, 125, 129, 177. 186, 207ff, 212,214f, 224,

Personenregister

508

228, 231, 234,24If, 245, 250,259,286,

322,355,433,442,448

Scheuch, Erwin K. 2, 36, 50, 56,73f, 9Iff, lOlf, Ulf, 116,118,120,132, 134, 138f,

141,143,145f, 154,172,177f, 180,182f,

191f, 196, 207, 216, 224, 249, 251f, 256, 269, 271, 281, 286f, 319, 339f, 345,347f,

353, 355, 358, 364, 416, 429, 440, 448f Schmidtchen, Gerhard 144 Schubnell, Hermann 154 Schumann, Michael 296, 332, 336 Schütz, Alfred 259f, 267, 400, 428 Schütze, Fritz 402,409 Schwenzner, Julius 3, 11, 133 Selltiz, Ciaire 50, 340, 350 Shils, Edward T. 45f Sittenfeld, Hans 3ff, 11, 14, 203f, 206 Soeffner, Hans Georg 400, 402 Solms, Max, Graf zu 178 Specht. Karl Gustav 93, 186 Spieker, Wolfgang 74f

Spöhnng, Walter 411f

Stammer, Otto 62, 101, 109, 116, 120, 190, 214f,250 Steltzer, Theodor 2, 4 Sternberger, Dolf 58, 103, 228 Strauss, Anselm 259, 401, 409, 412

Tenbruck, Friednch H. 33f, 51, 82, 98, 104, 122, 209ff, 241, 245f, 260, 363, 365, 442 Thomas, William Isaac 46f, 261 Thurnwald, Hilde 114, 116, 120, 197 Tönnies, Ferdinand 41, 197 Topitsch, Ernst 257ff Troitzsch, Klaus G. 341 Utermann, Kurt 67, 71, 177

Vershofen, Wilhelm 133f Vierkandt, Alfred 177

Wagemann, Ernst 154 Wagenführ, Rolf 76ff, 147, 152, 167, 183, 189

Walther, Andreas 49,114,197 Weber, Alfred 62, 103, 111, 116, 120, 177, 264 Weber, Max 41, 43, 88, 175, 190, 259f, 262, 358, 442, 446 Weeks, H. Ashley 50 Weingarten, Elmar 274, 400,402 Weisker, Jürgen 179,206 Weisser, Gerhard 9, 29, 92ff, 110, 112, 120, 216,218,230,256 Wellmer, Albrecht 263 Weltz. Friedrich 84, 335f, 344, 385, 389f, 394, 397, 427,446

Werlhof, Claudia von 337 Wickert, Günter 130, 135,137,179 Wiedemann, Herbert 67 Wieken-Mayser, Maria 352, 417 Wienold, Hanns 68, 280, 444, 448f Wiese, Leopold von 2, 5, 9, 92, 95, 99, 101, 104, Ulf, 121, 178, 187, 196, 202, 255 Wildenmann, Rudolf 93f Winch, Peter 259, 262f Wingen, Max 383ff, 388, 392, 434 Wiswede, Günter 139f Wohlrab-Sahr, Monika 407 Wohlrapp, Harald R. 253,281,338 Woolgar, Steven 27 Wundt, Wilhelm 193 Wurzbacher, Gerhard 92, 113ff, 233, 245, 327, 355 Zahn, Friedrich 155 Zapf, Wolfgang 82, 289, 306, 324ff, 329f, 378 Zeisel, Hans 38, 45, 49, 354 Zetterberg, Hans L 256, 366

Ziegenfuß. Werner 177

Zinnecker, Jürgen 137f, 142, 205, 327, 404 Zizek, Franz 167 Znaniecki, Florian 187 Zwiedineck-Südenhorst, Otto von 164, 217

Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte wird sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung tragen. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse.

Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: vergleichende Studien zu den nationalen Idiomen und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu er-

Die Reihe -

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forschen.

Die Reihe

Ordnungssysteme verfolgt einige

Themen mit besonderem Inter-

esse:

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den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.

Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der

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europäischen Gesellschaften. Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.

Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 3-486-56341-6 Band 2: Thomas Sauer

Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999.

VII, 326 S. ISBN 3-486-56342-4

Band 3: Gudrun Kruip

„Welt"-„Bild" des Axel Springer Verlags lournalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 3-486-56343-2 Das

Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 3-486-56344-0 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 3-486-56455-2

Band 6:

Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte" im Spannungsfeld tik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962 2000. 277 S. ISBN 3-486-56484-6

von

Modernitätskri-

Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 18641913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 3-486-56545-1

Band S.Martin Sabrow Die Diktatur des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969 2001. 488 S. ISBN 3-486-56559-1 Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 3-486-56581-8 Band 7 O.Martina Winkler KarelKramáf (1860-1937)

Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 3-486-56620-2

Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 3-486-56678-4 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 3-486-56679-2

Band 13: Julia Angster

Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 3-486-56676-8

Band 14:

Christoph Weischer Das Unternehmen ,Empirische Sozialforschung' Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepu-

blik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 3-486-56814-0

Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und 1949-1970 2004. 364 S. ISBN 3-486-56818-3

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