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German Pages 108 [112] Year 1991
Sozialforschung im vereinten Deutschland und in Europa
In der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. - ASI- sind die gemeinnützigen sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und Universitätsinstitute der Bundesrepublik zusammengeschlossen. Ziel der ASI ist die Förderung und Intensivierung der sozialwissenschaftlichen Forschung, insbesondere in ihrer empirischen Ausrichtung. Sie ist Träger des Informationszentrums Sozialwissenschaften (IZ) in Bonn, dem zentralen sozialwissenschaftlichen Fachinformationsinstitut der Bundesrepublik Deutschland.
Sozialforschung im vereinten Deutschland und in Europa Herausgegeben von Heinz Sahner im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. (ASI)
R. Oldenbourg Verlag München 1991
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sozialforschung im vereinten Deutschland und in Europa / hrsg. von Heinz Sahner. Im Auftr. der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. (ASI). - München : Oldenbourg, 1991 ISBN 3-486-55918-4 NE: Sahner, Heinz [Hrsg.] © 1991 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Druck: WB-Druck, Rieden am Forggensee ISBN 3-486-55918-4
Inhalt Heinz Sahner Vorwort
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Manfred Krause Joachim Scharioth Begrüßungen
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Erwin K. Scheuch Perspektiven der Sozialforschung: Deutschland und Europa
IS
Heinrich Best Die europäischen Gesellschaften im Blickfeld der westdeutschen Sozialforschung. Ergebnisse einer Analyse der FORIS-Datenbank des Informationszentrums Sozialwissenschaften
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Karlheinz Reif Organisatorische Randbedingungen und Probleme empirischer Sozialforschung aus europäischer Perspektive. Das EUROBAROMETER der EG-Kommission
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Wolf gang Zapf Förderung der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland - Erklärung des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zur Lage der Soziologie in der ehemaligen DDR
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Artur Meier Wende oder Ende? Probleme und Randbedingungen empirischer Sozialforschung der ausgehenden DDR
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Wolfgang G. Gibowski Umfrageforschung in den neuen Bundesländern: erste Erfahrungen
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Michael Häder Nun kann auch die soziologische Methodik zusammenwachsen
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Wolfgang Geier Neubeginn in Leipzig: Beispiel Kulturwissenschaften
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Diskussion mit Wortmeldungen von Heine v. Alemann, Clemens Burrichter, Nils Diederich, Wolfgang Geier, Uta Gerhardt, Artur Meier, Ekkehard Mochmann, Ulrich Müller, Heinz Sahner (Moderator), Joachim Scharioth, Michael Schlese, Gerd Wagner, Wolfgang Zapf Theorie vs. Empirie; inhaltliche Aufarbeitung Sicherung der DDR-Daten Zensurpraxis Forschungsförderung, Kooperationen Institutionalisierung
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91 95 97 100 106
Anhang: Resolution der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. (ASI)
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Die Referenten und Diskussionsteilnehmer
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Heinz Sahner
Vorwort Die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. (ASI) nahm die erste sich bietende Gelegenheit wahr, ihre wissenschaftliche Jahrestagung in Ostdeutschland durchzuführen. Unter dem Thema "Sozialforschung in Deutschland und Europa. Perspektiven, Befunde, Organisation" wurde sie mit reger Teilnahme auch ostdeutscher Kollegen am 19. Oktober 1990 in der Akademie der Wissenschaften (AdW) in Berlin (Ost) durchgefühlt; das Vorhaben, die Tagung in Leipzig abzuhalten, scheiterte leider an dem Versuch, ein ausreichend großes Potential von Quartieren zu sichern. Diese Bemühungen, auf dem Boden der (ehemaligen) DDR zu tagen, sind durchaus programmatisch zu verstehen. Es ging der ASI nicht nur darum, die organisatorischen Randbedingungen, unter denen in der DDR Sozialforschung betrieben wurde, aus erster Hand kennenzulernen, sondern auch darum, eine von weltanschaulichen Vorgaben weitgehend befreite multiparadigmatisch organisierte empirische Sozialforschung in den neuen Bundenländern zu fördern. Dazu sollte auch die auf der Migliederversammlung diskutierte und später vom ASI-Vorstand verabschiedete Resolution (vergi. Anhang) beitragen. Wie richtig diese Stoßrichtung war, zeigt die durch Abwicklung sich nun abzeichnende institutionelle Verödung der Forschungslandschaft. Wenige zentrale Forschungsstellen der ehemaligen DDR (AdW, ZGI) wurden der bestehenden westdeutschen Infrastruktur GESIS (Gesellschaft sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen), bestehend aus ZUMA, ZA und IZ zugewiesen. Lediglich die dem Informationszentrum Sozialwissenschaften (IZ) zugeordneten Stellen bleiben voraussichtlich in Form einer "Außenstelle" in Brandenburg präsent. Mit weiteren neu zu etablierenden Infrastruktureinrichtungen ist unter den existierenden Engpässen in den öffentlichen Haushalten nicht zu rechnen. Erschwerend kommt hinzu, daß die vorhandenen Infrastruktureinrichtungen als "rund" bezeichnet werden - die wesentlichen Aufgaben sind verteilt Umso mehr kommt es nun darauf an, daß die Sozialwissenschaften in den Hochschulen der neuen Bundesländer fest etabliert werden und zwar in der Hoffnung, daß sie Kristallisationspunkte einer wachsenden Forschungslandschaft bilden. Sozialwissenschaftliche Forschung ist für die Entwicklung einer offenen Gesellschaft von ganz besonderer Bedeutung.
Manfred Krause
Begrüßung Als ich vor Wochen gefragt wurde, ob ich etwas zur Vorbereitung der 90er Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute beitragen könne, habe ich dem gern zugestimmt. Wenn, wie Frau Mnich und Herr Prof. Sahner anläßlich des vierzigjährigen Bestehens der ASI feststellten, Wissenschaft ein System institutionalisierter Kritik mit dem Ziel von Wissenschaftsproduktion ist - und dafür eine scientific community erforderlich sei, die einen kritischen Austausch ermöglicht -, so sollte man wirklich vieles tun, damit dieser Gedanke nach den Maßnahmen zur Staatlichen Vereinigung von Bundesrepublik Deutschland und DDR für die Herausbildung einer deutschen Wissenschaftsunion fruchtbar gemacht werden kann. Meine diesbezüglichen Hoffnungen stützen sich nicht zuletzt auf Ansprüche an die Sozialwissenschaften, wie man sie in einer Anlage zum Protokoll der ersten Jahrestagung sozialwissenschaftlicher Institute findet: Danach umfassen die Sozialwissenschaften, die in ihrer Summe als eine Fundamentalwissenschaft charakterisiert wurden, die Lehren vom Zusammenleben der Menschen, einschließlich der von Störungen in den Beziehungen, wie ebenso die Lehren von den Mitteln zur Beseitigung von Störungen des Zusammenlebens. Es ist der Wunsch vieler Teilnehmer Ihrer diesjährigen Tagung, daß sie dafür ein Zeichen setzen möge. Seit dem bereits vierzig Jahre währenden Bestehen der Arbeitsgemeinschaft findet deren Jahrestagung - auf Vorschlag von Prof. Scheuch wird die Mitgliederversammlung seit 1971 mit einer wissenschaftlichen Veranstaltung verbunden - zum zweiten Male in Berlin statt Im März 1961 berieten Sie, wie wir den Dokumenten der ASI entnehmen können, über "Probleme der Totalitarismusforschung". Nehmen wir es als ein gutes Zeichen, daß mitten im Prozeß eines weltweiten politischen Wandels die ASI 1990 über "Perspektiven der Sozialforschung in Deutschland und Europa" nachdenkt und dies in Anwesenheit von Sozialwissenschaftlern aus verschiedenen Einrichtungen der fünf neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Gestatten Sie mir, Herr Vorsitzender, Sie und die Mitglieder der ASI - wie
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Manfred Krause
auch alle Gäste dieser 41. Jahrestagung · in den Räumen der Akademie der Wissenschaften in Berlin willkommen zu heißen und der Konferenz einen erfolgreichen Verlauf zu wünschen.
Joachim Scharioth
Begrüßung Als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute möchte ich Sie zur Wissenschaftlichen Jahrestagung über "Die Sozialforschung in Deutschland und Europa - Perspektiven, Befunde, Organisation" herzlich begrüßen und Herrn Professor Dr. Manfred Krause und dem Zentrum für Gesellschaftliche Information der Akademie der Wissenschaften für ihre Gastfreundschaft danken. Die heutige Tagung schließt in geradezu idealer Weise an unsere letztjährige Tagung "40 Jahre Markt- und Sozialforschung der Bundesrepublik Deutschland"1 an. Diese Veranstaltung im letzten Jahr ist zu einer unbeabsichtigten Bilanz der Markt- und Sozialforschung in der alten Bundesrepublik geworden. Die Betrachtung unseres Fachgebietes und unserer Ergebnisse aus der Sicht - der Wirtschaft, Peter Zühlsdorff Mitglied des Vorstandes der Wella AG Marktforschung und Unternehmensführung - der Wissenschaft, Professor Dr. Friedhelm Neidhardt Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung - der Politik, Dr. Heinz Riesenhuber Bundesminister für Forschung und Technologie (BMFT) - der Kultur, Dr. Hansjürgen Rosenbauer, Programmbereichsleiter Kultur und Wissenschaft im WDR - der Kirchen, Augustinus H. Graf Henckel von Donnersmaick Direktor des Katholischen Büros NRW - begleitet von der Geschichtsdarstellung unseres Faches durch Professor Dr. Erwin K. Scheuch, Universität zu Köln hat eine eindrucksvolle Bilanz über das Wiedeierstarken unseres Faches nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben Nach der Rückwendung in die Geschichte wollen wir uns heute nun der Zukunft zuwenden. Es geht um die Entwicklung unseres Faches in einem Gesamtdeutschland, 1
Dieter Franke/Joachim Scharioth (Hrsg.): 40 Jahre Markt- und Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Oldenbourg Verlag, Manchen 1990.
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Joachim Scharioth
das seinerseits in ein geeintes Europa eingebunden ist. Neue Herausforderungen warten auf uns. Harald Bielenski und Eberhard Köhler2 haben erst kürzlich auf dem ESOMAR-Kongreß einige dieser Herausforderungen auf der Methodenebene eindringlich beschrieben: - Die Grundlagen für die Stichprobenziehungen sind in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich. Wir müssen ganz neue Anstrengungen unternehmen, um z.B. vergleichbare repräsentative Betriebsstichproben zu ziehen. - Um vergleichbare Ergebnisse in den verschiedenen Ländern Europas zu erzielen, ist es vielfach notwendig, unterschiedliche praktische Verfahren anzuwenden. Beispielsweise sind für die Erfüllung gleicher Aufgaben im Betrieb völlig andere organisatorische Lösungen gefunden worden und Personen mit jeweils anderen Qualifikationen zuständig. Was in dem einen Land hochformalisiert und gesetzlich geregelt ist, wird in einem anderen Land ohne formale, gesetzliche Regelung von Fall zu Fall entschieden. Internationale Forschung erfordert also vor allem eine problemorientierte Vorgehensweise und nicht eine auf formale Vergleichbarkeit ausgerichtete Vorgehensweise. - Wir müssen die Tatsache akzeptieren, daß es sogar nationale Besonderheiten gesetzlicher, politischer oder kultureller Art gibt, die sich einem direkten internationalen Vergleich entziehen, wie z.B. die Zulässigkeit und Praxis befristeter Arbeitsverträge in den verschiedenen Ländern Europas. - Wir müssen beachten, daß Fragebogenübersetzung oder besser noch -Übertragung nicht allein von perfekter Sprachkenntnis abhängt, sondern ein hohes Maß an inhaltlicher und sozialkultureller Kompetenz und Vertrautheit mit den Zielen einer Untersuchung erfordert. - Bei der Organisation internationaler Studien müssen wir lernen, internationale, globale Interpretationsansätze mit national kulturellem Spezialwissen zu kombinieren. Als Vertreter eines Hauses, das hier seit vielen Jahren Erfahrungen gesammelt hat, habe ich gelernt: Es reicht nicht, daß allein aus deutscher, englischer oder französischer Sicht Ergebnisse analysiert werden. Die international vergleichende Analyse braucht das Zusammenspiel der nationalen Experten mit ihrem spezifischen Hintergrundwissen und der international vergleichenden Kompetenz. Arbeitsgruppen werden so auch im ForschungsprozeB eine immer größer werdende Bedeutung erlangen; Teamfähigkeit wird immer wichtiger. Wir müssen das natürliche Konkunrenzdenken in der Wissenschaft um eine ausgeprägte Kooperationsfähigkeit erweitern. 2
Harald Bielinski, Eberhard Köhler New Forms of Work: An Example of New Challenges for Social Research in the Public Sector in Europe after 1992,43. ESOMAR Marketing Research Congress, Monte Carlo 1990, S. 665 ff.
Begrüßung
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Aber nicht nur Europa, sondern auch das Zusammengehen von Deutschland West und Deutschland Ost bringt für unsere Sozialwissenschaften Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Wir sind gefordert, das Sichauseinandersetzen der Deutschen West und Deutschen Ost hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen, ihrer Werteinstellungen, ihrer historischen Erfahrung, ihrer Zukunftserwartung mit dem von uns gewonnenen Datenmaterial zu unterstützen. Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, hier noch einmal die bereits im Voijahr vorgestellte Idee einer informationstechnisch gestützen Sozialenzyklopädie für Gesamtdeutschland zu propagieren. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Schaffung beispielsweise einer CD-Rom, auf der wir Bilder der verschiedenen Regionen, Daten zu den Lebensverhältnissen, Einstellungen zu Institutionen und ethischen Verhaltensweisen, geschichtliche Fakten sowie beispielhafte Rime über das Alltagsleben finden, zur Bildung eines Gesamtdeutschlands beitragen kann. Die technische Entwicklung ist soweit fortgeschritten, daß gerade die Sozialwissenschaftler sie nützen sollten, um unsere Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit tatsächlich zugänglich zu machen. Ich habe in der Zwischenzeit eine große Zahl von Gesprächen mit einer ganzen Reihe von Institutionen geführt, inwieweit sie bereit wären, Erkenntnisse in eine solche Sozialenzyklopädie einzuspeisen: Motivation und Bereitschaft sind vorhanden, organisiert werden muß der Prozeß der Datenerschließung und -aufbereitung, gesucht werden müssen die Mäzene, die ein solches Werk unterstützen. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute wird sich bemühen, einen Arbeitsausschuß zu gründen, der sich dieses Themas annimmt, die Machbarkeit überprüft und das Entstehen der Sozialenzyklopädie begleiten soll. Ich möchte Sie zur Mitarbeit an dieser Aufgabe auffordern.
Erwin Κ. Scheuch
Perspektiven der Sozialforschung: Deutschland und Europa Daß die Bundesrepublik im Jahre 1989 vierzig Jahre bestand, war für die ASI Anlaß, eine Standortbestimmung der empirischen Sozialforschung zu versuchen. So lautete denn auch der Untertitel des Bandes, in dem die Referate der vorherigen Jahrestagung veröffentlicht wurden. Zu unser aller Überraschung besteht jetzt bereits wieder ein unabweisbarer Anlaß für eine grundsätzlichere Betrachtung, als sie sonst für ein Jahrestreffen angezeigt ist: Die Sozialforschung findet statt unter sehr rasch veränderten und sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Darauf müssen natürlich Sozialwissenschaftler reagieren. Mir ist aufgetragen worden, einen solchen Versuch zu unternehmen. Dabei werde ich allerdings auch die Entwicklungen innerhalb meines Faches zu berücksichtigen haben, die sich ja in der Art der Nachfrage nach Daten und deren Behandlung auswirken.
1. Der "Königsweg" ist nicht immer das Verfahren der Wahl Unter dem Titel "Von der Pioniertat zur Institution" hatte ich im vorigen Jahr die Entwicklung der Sozialforschung als Institution zu kennzeichnen versucht1. Das Fazit: Die Sozialforschung bietet viel reichere Möglichkeiten, als sie genutzt werden. Der Königsweg der Sozialforschung, so von René König vor über 25 Jahren genannt, ist immer noch die standardisierte Umfrage2. Dies 1
Erwin K. Scheuch: "Von der Pioniertat zur Institution - Beobachtungen zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung". In: Dieter Franke und Joachim Scharioth (Hg): 40 Jahre Maria- und Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1990, S. 43-67.
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Siehe hierzu die Tabelle "Erhebungsverfahren in der Sozialforschung". In: Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln (Hg.), Empirische Sozialforschung, Frankfurt 1989, S. XIV. Zwar ist der Anteil der Untersuchungen, in denen Grundlage der Auswertungen Einzelinterviews waren, von 57% im Jahre 1968 auf 42% im Jahre 1988 zurückgegangen. Dafür stieg der Anteil der schriftlichen und der Telefonbefragungen. Es hat sich weitgehend nur die Art der Befragung verschoben, nicht aber der Sachverhalt geändert, daB unser Wissen durch Sozialforschung vorrangig auf der Grundlage von Befragungen entsteht
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Erwin Κ. Scheuch
ergibt sich nicht zwingend aus dem Charakter der Wirklichkeit, welche die Sozialforscher zu untersuchen gehalten sind, sondern aus der Institutionalisierung einer Dienstleistung. Sie paßt tatsächlich sehr gut für alle Sachverhalte, die als Wahlakte von Personen gedeutet werden können - wie etwa das Wählen in der Politik oder beim Konsum. Aber immer dann, wenn das erhobene Datum nicht sinnvoll zu deuten ist als eine zutreffende Aussage der Person über ihre Lebensumstände und Eigenheiten, oder wenn Verhalten durch die Randbedingungen und/oder zwischenmenschliche Beziehungen determiniert wäre, ist die Umfrage keinesfalls die Vorgehensweise der Wahl. Ein Beispiel für die Notwendigkeit, direkte Informationen über die Wirklichkeit zu haben, über welche der Antwortende nur zu berichten vermeint, gibt eine Untersuchung von EMNID3. 1978 war nach der Erreichbarkeit von Sportanlagen für Sportinteressierte gefragt worden, und 18 Prozent hatten geantwortet, in der eigenen Umgebung gebe es zu wenig Möglichkeiten für eigene Betätigung. Diese Frage wurde 1989 wiederholt, und jetzt wurde ein Anteil von 36 Prozent ermittelt, die mangelnde Erreichbarkeit von Sportanlagen beklagten. Nur durch den Zeitvergleich wird problematisch, was diese 36 Prozent denn tatsächlich bedeuten, wogegen bei einer einmaligen Erhebung dieser Anteil wahrscheinlich als Aussage über die Ausstattung im Wohnumfeld interpretiert würde. Nun wissen wir aber alle, daß in den letzten elf Jahren - unter kräftiger Förderung durch Mittel aus dem goldenen Plan des Bundes die Sporteinrichtungen auf kommunaler Ebene erheblich ausgeweitet wurden. Hinzu kamen inzwischen breite Angebote kommerzieller Art, mit denen der Interessentenkreis zunächst bei Tennis und Surfen, dann bei Squash und schließlich bei Badminton sehr stark ausgedehnt wurde. Nach objektiven Angaben ist also die Möglichkeit der sportlichen Betätigung weitaus besser geworden als zum Zeitpunkt der ersten Erhebung. Die Aussage in der Umfrage ist als Information über die Infrastruktur von geringer Validität. Im nachhinein und in Kenntnis der Realität kann sie zweckmäßiger gedeutet werden als ein Indiz dafür, daß das Interesse am Sport schneller gewachsen ist als die Infrastruktur und daß die hohe Zahl der Unzufriedenen eben ein Indiz für das Interesse am Sport und nicht für die tatsächlich bestehenden Einrichtungen ist. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß wir im Interview Aussagen ganz unterschiedlicher Verläßlichkeit erbitten - Verläßlichkeit hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Ausgesagten und dem Aspekt der Realität, dem wir diese Aussage zurechnen möchten4. 3
EMNID Informationen 4/1989.
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Evidenz-Charakter von persönlichen Befragungen siehe Erwin K. Scheuch: "Das Interview in der Sozialforschung". In: René König (Hg): Handbuch der empirischen Sozialforschung, 3. Auflage, Stuttgart 1973, Bd. 2, S. 134 ff.
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Die geringsten grundsätzlichen Probleme gibt es selbstverständlich, wenn die Aussage zu deuten ist als Information über das eigene Erleben bzw. den eigenen Zustand. Hier ist der Befragte sein eigener Beobachter. Da kommen immer noch erhebliche Beobachtungsfehler vor, wie ich im vorigen Jahr am Beispiel des Auseinanderfallens von tatsächlichem Ferien-Verhalten am Strand und der Erinnerung an dasselbe vorführte; aber es gibt hier kein prinzipielles Problem der Deutung. Etwas anderes ist es schon, wenn der Befragte über andere Personen berichten soll. Hier ist er immer noch in der Situation des Beobachters, aber wir kennen seine Stellung relativ zum beobachteten Gegenstand nicht, müssen mithin unterstellen, daß er zur Beobachtung tatsächlich in der Lage wàr. Zum Problem wurde das bei der Begleituntersuchung zur Volkszählung5. Wir fragten zunächst nach der Wahrscheinlichkeit, mit der man sich an der Volkszählung beteiligen oder die Beteiligung daran verweigern werde. Diejenigen, die an der Volkszählung teilnehmen wollten, erklärten auf eine entsprechende Frage, das sei auch bei 78 Prozent ihrer besten Freunde die Absicht. Von den Gegnern einer Volkszählung sagten dagegen 75 Prozent, ihre besten Freunde würden wohl die Teilnahme verweigern. Bei denjenigen, die noch unentschlossen waren, wie sie sich zur Volkszählung verhalten sollten, berichteten 73 Prozent über Unentschlossenheit auch bei ihren Freunden. Diese Aussagen lassen unter anderem zwei Deutungen zu: Entweder sind tatsächlich in der alten Bundesrepublik die Netzwerke der Freundschaften bei moralischen Streitfragen - denn eine solche war (in verkleideter Form) der Gegensatz hinsichtlich der Akzeptanz der Volkszählung - so homogen, wie das die Befragten mitteilten; oder es ist üblich, daß bei moralischen Streitfragen ein eventueller Dissens aus dem Umgang miteinander ausgeblendet bleibt, so daß sich für die Freunde untereinander der Eindruck halten kann, in allen wichtigen Fragen gäbe es Übereinstimmung. Wir haben dann später durch ein Schneeballverfahren geprüft, welcher Evidenzwert dem Bericht über die Wahrnehmung zukommt, man habe die gleichen Ansichten bei Grundfragen6. Eine aste Prüfung ergibt, daß wohl tatsächlich in den Netzwerken der engeren Freundschaftsbeziehungen eine hohe Homogenität in den moralisch bewerteten Grundauffassungen gegeben ist. "Die erste Prüfung" statt "die Auswertung" - so mußte übrigens diese unsere Qualifizierung des Ergebnisses lauten, weil wir keine Standard-Software hatten, mit der wir rasch die Art der gegenseitigen Wahrnehmung quantitativ 5
Hierüber berichten Erwin K. Scheuch, Lnenz Giflf und Steffen Kühnel: Volkszählung, Volkszahlungsprotest und BOtgerverhalten. Stuttgart 1989.
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Die Ergebnisse sind noch nicht veröffentlicht, aber ein Bericht von J. Berger aus dem Jahre 1990 kam bereits vom Institut für angewandte Sazialfonchung in KOb angefordert werden.
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Erwin Κ. Scheuch
ausweisen konnten. Die vorhandene Standard-Software geht nämlich vom einzelnen Akteur als Einheit der Analyse aus und nicht von der Beziehung. Letztere ist jedoch derjenige Aspekt der Realität, über den hier auf der Basis von Aussagen der einzelnen Akteure berichtet wird. Eigentlich ist eine Interview-Aussage nur dann unproblematisch, wenn ich sie deuten kann als eine Reaktion auf einen Stimulus. Wenn die Antwort eben nicht als bloße Reaktion, sondern als Bericht über irgend etwas (als indirekte Evidenz) verstanden wird, erfordert eine Deutung eigentlich Zusatzinformationen.
2. Handeln ist kontingent Das zunächst erwähnte Beispiel, die Bewertung der Erreichbarkeit von Sportanlagen, ist ein Hinweis auf einen wichtigen Aspekt sozialen Handelns, der in der Routine-Empirie gewöhnlich nicht berücksichtigt wird und sehr oft auch nicht berücksichtigt zu werden braucht: daß Handeln nämlich kontingent ist. Erst wenn ich die Randbedingungen verstehe, weiß ich eine Antwort zu deuten. Wenn ich zu einem gegebenen Zeitpunkt in einem mir sehr vertrauten Land beziehungsweise sozialen Kontext eine Antwort deute, dann kann oft als Selbstverständlichkeit implizit bleiben, was sonst zu problematisieren ist. Für Inglehart ist es ein Indiz postmateriellen Denkens, daß man Nein sagt zu der Behauptung, die Bekämpfung der Inflation sei eine dringliche öffentliche Aufgabe. Der Anteil deijenigen, die seit 1973 einer solchen Aussage in Westeuropa zustimmen, ist erheblich zurückgegangen, was Inglehart als Zunahme postmateriellen Denkens deutet7. Näher liegt es, darin einen Ausdruck des Umstandes zu sehen, daß die Inflationsraten während dieses Zeitraums in den betreffenden Ländern tatsächlich zurückgegangen sind. Die Dringlichkeit, mit der die Bekämpfung der Inflation als dringliche Aufgabe empfunden wird, ist ja offensichtlich kontingent hinsichtlich der tatsächlichen Inflationsrate. In international vergleichenden Untersuchungen der Jugendlichen von vierzehn Ländern, die das Büro des japanischen Premierministers in Auftrag gibt, wird immer wieder als verblüffendes Ergebnis ermittelt, daß der Optimismus der jungen Menschen in Ländern wie Indien viel höher als in einem Land wie Schweden ist. Wie ist zu erklären, daß in Ländern, in denen es für die Mehrzahl der Jugendlichen keinen vernünftigen Grund gibt, fröhlich in die eigene Zukunft zu schauen, der Anteil der Optimisten so hoch ist? Werden die tatsächlich erfolgenden Änderungen bedacht, wird berücksichtigt, daß etwa ein Drittel der indischen Bevölkerung tatsächlich im Vergleich zur desolaten Ver7
Die aktuellste Darstellung ist Ronald Inglehart; Kultureller Umbruch, Frankfurt 1989.
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gangenheit Chancen für ein besseres Leben haben kann, dann ist der Optimismus zwar als weit überzogen, aber als dennoch relativ verständlich zu weiten. Sind dagegen auf einem hohen Lebensniveau die Aussichten für eine bessere Zukunft nicht gut, ja ist eine gewisse Verschlechterung nicht auszuschließen, dann können junge Schweden, die auf einem für Inder unerreichbaren Niveau leben, die Zukunft tatsächlich als relativ trübe erleben. An dieses zu erinnern, besteht aktueller Grund, wenn die alte DDR in die Bundesrepublik hineinwächst und Teil eines erweiterten Erhebungsgebiets für routinemäßige Umfragen wird. Da wird es unabwendbar, die Randbedingungen zu kennen, unter denen die Bürger der ehemaligen DDR antworten. Aus dieser Überlegung folgt ein vorrangiges Forschungsprogramm, das öffentliche Mittel erfordert und sich nicht durch das Gewinnstreben der privaten Auftraggeber von Umfragen von selbst erledigt - nämlich eine Sozialbeschreibung, wie sie auf noch unzureichende Weise im Sozialreport 1990 der DDR versucht wurde8. Die Sammlung von Sozialindikatoren ist nicht etwa eine Alternative zur Umfrageforschung, sondern deren Kompliment. Für das Zusammenwachsen Europas gilt das a fortiori. Im eigenen Land sind uns aus dem Alltag die Umstände vertraut, innerhalb derer die Antworten bei Umfragen entstehen. Für andere Länder gilt das nicht. Das ist aus der international vergleichenden Forschung gewiß prinzipiell bekannt. Es gibt so etwas wie Sprachstile, die zwischen Ländern verschieden sind und sich äußerst störend für Antwortvorgaben erweisen. Ein intellektuell banales, aber in seiner Wirkung keinesfalls nebensächliches Beispiel ist die Bereitschaft zuzugeben, man habe keine Meinung. Ein anderes Exempel ist die Bereitschaft, sich möglichst kritisch oder eher freundlich zu äußern. Wenn nun eine Untersuchung international vergleichend angelegt ist, dann müßte unterstellt werden, daß die Forscher mit solcherlei Problemen vertraut sind. Bei international vergleichenden Erhebungen pflegt in der Vergangenheit als Korrektiv aber auch meist der Umstand zu wirken, daß diese Erhebungen von Teams vorgenommen werden, wobei der jeweilige Forscher den heimischen Kontext kennt. Anders ist dies bei international vergleichenden Erhebungen, die in irgendeinem Land zentral ausgewertet werden, und solche Arten von Erhebungen werden mit dem Fortschreiten der Einigung Europas häufig9. Ein Hinweis auf eine solche Problematik, die zwar methodologisch nicht neu ist, als quantitativ wichtiges Problem aber jetzt erst ins Gewicht fallen wird, ist der Zusammenschluß von Instituten zu europaweiten Ketten. Schon 8
Darüber hielt das Wissenschaflszentnim Berlin ein DDR-BRD-Symposium im Frühjahr 1990 ab, worüber die Arbeitsgruppe Sozialbelichterstattung des WZB einen Bericht vorlegte.
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Das angesprochene Deutungsproblem stellt sich heute schon beim Eurobarometer.
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Erwin Κ. Scheuch
längst besteht die Galuppkette, auf deren Umfragen übrigens die Aussagen von Inglehart über den Postmaterialismus beruhen. Weitere Gruppen sind einmal entstanden, zerfielen wieder. Jetzt aber sind im Gegensatz zu vordem Gründe für internationale Ketten gegeben: ein kontinuierliches Interesse an einer grenzüberschreitenden Betrachtungsweise, eine materielle Interessiertheit an einer Europa-Perspektive. Die Gründung der neuesten Kette, der Virtusgruppe, deren deutscher Teil jetzt Infas ist, kann als Reflex auf den zukünftigen Binnenmarkt in Europa verstanden werden.
3. Der Nationalstaat als Maß? Mit dem Hineinwachsen der früheren DDR in die Bundesrepublik und dem Zusammenwachsen Westeuropas wird etwas zum Problem, das wir wie die eben erwähnten Selbstverständlichkeiten beim Deuten von Antworten als Grundbedingung nicht zu hinterfragen hatten. Jetzt aber stellt sich die Frage: Ist der Nationalstaat der Sampling frame, also das Kollektiv für die zu erhebende Vielfalt der Antworten? Das war allerdings in Wahrheit bei international vergleichenden Untersuchungen in Europa auch schon bisher durchaus eine Frage, die in der methodischen Literatur des internationalen Vergleichs als eine Variante des sogenannten Galton's Problem zu deuten ist10. 1889 trug auf einer Sitzung der Royal Anthropological Institute der Ethnologe Tylor Ergebnisse vergleichender Völkerkunde vor. Daraufhin hatte der damals schon berühmte Statistiker Galton das Folgende eingewendet: It was extremely desirable for the sake of those who may wish to study the evidence for Dr. Tyler's conclusion that full information should be given as to the degree in which the customs of the tribes and races which are compared together are independent It might be, that some of the tribes had derived the customs from a common source, so that they were duplicate copies of the same original1 V
Im Fall Westeuropas war immer schon nicht nur die teilweise Gemeinsamkeit des historischen Hintergrunds zu bedenken, sondern zudem der Prozeß der 10 Hierai ausführlicher Erwin K. Scheuch: "The Development of Comparative Research - towards Causal Explanations". In: Else Oyen (Hg): Comparative Methodology. London 1990, S. 19-37. Problematisiert wild die Selbstverständlichkeit, den Nationalstaat als Kollektiv für Auswahl und Erklärung zu benutzen, im gleichen Band auch von Henry Teune: 'Comparing Countries - Lessons Learned". 11 Galtons Problem ist das zentrale Thema der Habilitationsschrift von Thomas Schweizer Methodenprobleme des interkulturellen Vergleichs. Köln 1978, Kapitel S; das Zitat von Gallon findet sich auf S. 132.
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Diffusion. Wenn wir heute in Deutschland unsere Eßgewohnheiten zum Teil geändert haben, wenn die Hauptmahlzeit inzwischen nicht mehr durchweg das Mittagessen ist, sondern dieses für viele zum Lunch wird, dann ist dies Folge einer Diffusion von Verhaltensweisen. Nicht das Kollektiv Deutschland kann hierfür als Deutungseinheit herangezogen werden. Die in diesem Lande heute zu beobachtende Uneinheitlichkeit des Zeitpunkts für die Hauptmahlzeit ist vielmehr ein Ausdruck des Umstandes, daß das Kollektiv mit dem Namen Deutschland den Prägecharakter für die Selbstverständlichkeit der Hauptmahlzeit aufgrund intranationaler Verflechtung beziehungsweise als Folge von Diffusion teilweise verloren hat So können viele Verschiedenheiten von Prozentsätzen mit der Zähleinheit Nationalstaat jetzt in Westeuropa verstanden werden als Unterschiede in dem gegenseitigen Durchdringen der Nationalkulturen. Aber inwiefern gibt es tatsächlich die Nationalkultur? So alt ist der Nationalstaat ja nicht, daß er in allen Lebensbereichen standardisierend gewirkt hätte. Für die verschiedenen Länder, die jetzt zur Europäischen Gemeinschaft zusammenwachsen, ist er das auf sdir unterschiedliche Weise gewesen - am ehesten noch in Frankreich und England, sehr viel weniger dagegen in Italien, Deutschland und Spanien12. Wenn dann große externe und interne Unterschiedlichkeiten berichtet werden, dann hat man dann wohl doch den falschen Sampling frame benutzt. Für manche Geselligkeitsformen wäre der angemessene Sampling frame dagegen etwa die Region gewesen, für andere vielleicht der Beruf, für wieder andere etwa eine Firmenkultur. Der Nationalstaat wird in der Europäischen Gemeinschaft von zwei Seiten her in seiner Relevanz gemindert: durch den erwähnten Prozeß der Integration und der damit einhergehenden Diffusion sowie auf der anderen Seite durch die steigende Bedeutung von Regionalismus in einigen der Länder, die ab 1. Januar 1993 die Europäische Gemeinschaft sein sollen13. Hier scheint die Veränderung in Frankreich stärker zu sein als in der Bundesrepublik, was als eine 12 Siebe hierzu die Konzeption von Stein Rokkan "nation building" in solchen Schriften wie: Citizens, Elections, Parties. Oslo 1970; Rokkan ua: Centre-Periphery Structures in Europe. Prankfun 1987. Die Thematik wird vertieft in Mattei Dogan und Dominique Pclassy: How io Campare Nations. Chatham (New Jersey), 1984. "Juan Linz delineated eight Spains, Erik ADardt four Finlands, and Stein Rokkan as many Norways. Everybody knows that there are three Belgiums, four Italys, and five or six Fiance. Those who are considering all of Western Europe might succeed in counting forty units"; ibid, S. IS. 13 Siehe auch Erwin Κ. Scheuch: "Die Verwendung von Zeit in West- und Osteuropa". In: OFM Mitteilungen zur Markt- und Absatzforschung, Heft 3 aid 4, Jg. 13 (1967), S. 6S-73 w d 97-100. In einer Sekundäranalyse des Wlhlerverhalttns in Rankreichs 2450 Kreisen (cantons) kommt Mallei Dogan zu dem Schluß: "The national avenges based on aggregate data or on survey data are largely foliación», particularly those concerning causal relationships". Mallei Dogan und Daniel Derivry: France in Ten Slices, in: Electoral Studies (1988), Bd. 7, Heft 3, S. 251.
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Erwin Κ. Scheuch
Art Nachholbedarf an Regionalisierung verstanden werden kann. Es fehlt eine Grundsatzforschung über die Frage, wie französisch die Franzosen und wie deutsch die Deutschen sind - will heißen: inwiefern es angebracht ist, vom Kollektiv her Partikularismen zu deuten als Abweichungen innerhalb des Kollektives14. In der Zeitbudgetuntersuchung haben wir dieses Problem einmal in die Frage umgesetzt: Was ist verhaltensbestimmender: die Nationalität oder die Zugehörigkeit zu einer gegebenen sozialen Kategorie13? Ins Konkrete gewendet: Ist es für den Ablauf des Tages wichtiger, eine Hausfrau mit Kindern zu sein im Vergleich zu einer ledigen Berufstätigen oder aber Russin, Amerikanerin oder Deutsche zu sein? Im Falle Deutschlands und der USA war die Antwort eindeutig: Der Unterschied zwischen einer berufstätigen Ledigen und einer Hausfrau mit Kindern ist für die Organisation des Tagesablaufs viel bedeutsamer als die Zugehörigkeit zu einer Nationalität. Das galt auch für die Sowjetunion, wehngleich es die Kategorie Hausfrau ohne Beruf kaum gab, da hier die Quote der Berufstätigkeit im Gegensatz zu westlichen Ländern enorm hoch ist. Für die Wirkung der Positionen wäre dann übrigens der richtige Sampling frame16 das Kollektiv der Positionsinhaber unabhängig von den jeweiligen Ländern gewesen, womit wir dann auch im Fall der Sowjetunion noch zu einer statistisch aussagekräftigen Repräsentation der dort sehr seltenen Soziallage "berufslose Ehefrau" gekommen wären. Aus der international vergleichenden Forschung ist abzuleiten, daß unter ähnlichen Gesellschaften die Deutung der beobachteten Verschiedenheiten als Folge einer als schwarze Kiste belassenen Nationalität beziehungsweise Nationalkultur sehr selten vertretbar ist17. Sehr viele der beobachteten Unterschiede zwischen "westlichen" Gesellschaften sind Unterschiede in der Häufigkeit, mit der Kategorien vorkommen, und würden verschwinden, wenn die
14 Eine empirische Prüfung versucht Erwin K. Scheuch: "Wie deutsch sind die Deutschen?" In: Politik und Kultur, Jg. 10 (1990), Heft S. 15 Einzelheiten sind nachzulesen bei Philip E. Converse: "Country Differences in Time Use". In: Alexander Szalai (Hg): The Use of Time, Den Hague 1972, S. 145-177, insbesondere S. 151,154, 161,174. 16 "Sampling frame" wird hier als Begriff aus der Forschungstechnik benutzt für eine inhaltliche Sache: Welchem Kollektiv sind zu beobachtende Unterschiede, und zwar nach GruppenzugehOrigkeit zu ordnende Unterschiede, zuzurechnen? Und das ist selbstverständlich keine forschungstechnische, sondern eine theoretisch zu begründende Entscheidung. 17 Siehe hierzu den letzten Abschnitt von Erwin K. Scheuch: "Theoretical Implications of Comparative Survey Research". In: International Sociology, Heft 2, Jg. 4 (1989), S. 147-168.
Perspektiven der Sozialforschung: Deutschland und Europa
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nationalen Samples so umgewichtet würden, daß daraus eine standardisiert vergleichbare Bevölkerung folgte. Selbstverständlich ist die unterschiedliche Häufigkeit von Sozialkategorien Teil des Lebens in den jeweiligen Ländern, aber das ist etwas anderes als die Deutung einer Häufigkeit als Folge einer Nationalkultur - wenn sich zumindest ebenso sehr die Deutung anbietet, hier handele es sich um Folgen unterschiedlicher Gelegenheitsstrukturen. Vielleicht ist es gegenwärtig für Europa noch nicht allgemein notwendig, bei Untersuchungen zu reflektieren, ob denn nun die Region oder die Kategorie oder der Nationalstaat der richtige Samplingframeist, das relevante Kollektiv bei der Deutung eines Ergebnisses. Hier ist Grundlagenforschung notwendig und dringlich, die uns sagt, zu welchem Ausmaß das Kollektiv Nationalkultur jeweils als verhaltensbestimmend gelten kann. Wir selbst haben dies mit den Mitteln der Korrespondenzanalyse einmal für Westeuropa zu ermitteln versucht. Als Folge ergaben sich sehr unterschiedliche Distanzen zwischen den einzelnen Ländern, wobei die zwischen Deutschland, den Niederlanden und Dänemark besonders gering waren. Für diese Länder ist die Binnenvariabilität beträchtlicher als die Außenvariabilität (siehe Abb. 1 und 2 auf den folgenden Seiten). Eine spezielle Variante des Problems ist für uns die DDR. Die Randbedingungen des Lebens waren zweifellos verschieden, und doch ist es in einigen Grundeigenschaften nur ein Deutschland unter ungünstigen materiellen und politischen Umständen (siehe Abb. 3 und 4 auf den folgenden Seiten). Bis auf weiteres werden wir in Umfragen die alte DDR wohl noch als eigenes Kollektiv behandeln müssen - aber mit der Optik: Von wann an wird der Unterschied alte DDR - alte Bundesrepublik geringer als der Unterschied zwischen einem Sample von Schleswig-Holstein und einem für Bayern? Die Beobachtung des Prozesses, wie die DDR in die Bundesrepublik hineinwächst, ist zugleich eine Forschungsaufgabe von materieller Bedeutsamkeit wie eine Voraussetzung von Analysen.
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Erwin Κ. Scheuch
Abbildung 1: Korrespondenzanalyse für Westeuropa 1977
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Perspektiven der Sozialforschung: Deutschland und Europa
Abbildung 2: Korrespondenzanalyse für Westeuropa 1987
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