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German Pages [224] Year 2012
Was ist Gerechtigkeit? Befunde im vereinten Deutschland herausgegeben von Michael Borchard Thomas Schrapel Bernhard Vogel
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die Figur der Justitia vor dem Rathaus in Görlitz, die – abweichend von der ikonografischen Tradition – mit unverbundenen Augen dargestellt ist. Foto: Thomas Schrapel
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20885-1
Inhalt Vorwort der Herausgeber.......................................................................... 7 Michael Borchard, Thomas Schrapel „Gerechtigkeit“ – Philosophie als Anleitung zur Politik ........................... 13 Hans Maier Historische Voraussetzungen des Sozialstaats in Deutschland (2002)........ 37 Hans-Joachim Veen Deutschlands „innere Einheit“ – neuer Gemeinschaftsmythos oder pluralistische Demokratie? ....................................................................... 59 Ulrich Blum Aufbau Ost – eine „gerechte“ Investition.................................................. 91 Martin Lendi Zweckmäßiges, Gebotenes, Gerechtes – als Maßstäbe staatlichen Handelns ................................................................................................. 111 Gert Pickel Gerechtigkeit und Politik in der deutschen Bevölkerung – die Folgen der Wahrnehmung von Gerechtigkeit für die politische Kultur im vereinten Deutschland ............................................................................. 135 Thorsten Faas Arbeitslosigkeitserfahrungen in Ost- und Westdeutschland....................... 173 Gespräch zwischen Bernhard Vogel und Arnold Vaatz.............................. 195 Autorenverzeichnis ................................................................................... 215
Vorwort der Herausgeber Kaum ein Begriff wird in der Politik so häufig diskutiert wie „Gerechtigkeit“. Und dies hat eine lange Tradition. Mit dem Nachdenken über Gerechtigkeit beginnt im Grunde genommen die abendländische Philosophie. Platons Überlegungen über den idealen Staat sind ein einziger Diskurs zum Thema Gerechtigkeit. Dessen Schüler Aristoteles arbeitete wegweisend die Unterschiede zwischen allgemeiner Gerechtigkeit einerseits, austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit andererseits heraus, was auch heute noch Grundlage theoretischer Abhandlungen zu diesem Thema ist. Eine andere philosophische Abhandlung über Gerechtigkeit, die 1971 erschienene Theory of Justice des Amerikaners John Rawls ist nicht zufällig einer der einflussreichsten philosophischen Texte des 20. Jahrhunderts. Die Rede, die Papst Benedikt XVI. anlässlich seines Besuchs in Deutschland im Bundestag hielt, könnte man getrost als aktuellen Debattenbeitrag zum Thema „Gerechtigkeit“ nehmen. Er verweist auf das erste Buch der Könige in der Heiligen Schrift und die Episode, wo Gott dem jungen König Salomon eine Bitte freistellte. Weder Erfolg, noch Reichtum oder langes Leben, auch nicht die Vernichtung der Feinde wünschte sich Salomon, sondern ein „hörendes Herz“, um stets Gutes und Böses voneinander unterscheiden zu können. Daraus schließt Benedikt: „Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muss. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen.“1 Benedikt ist realistisch genug zu wissen, dass Politiker natürlicherweise auch nach Erfolg streben müssen, sichere ja erst dieser ab, überhaupt wirksam zu werden. Gleichwohl mahnt er: „Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit.“2 Freilich hat gerade in modernen Gesellschaften die Zahl von unterschiedlichen Gerechtigkeitsauffassungen exorbitant zugenommen, so dass schon von einem Pluralismus der Gerechtigkeitsformeln gesprochen werden kann. In zunehmendem Maße scheinen die meisten Diskussionen hauptsächlich mit dem Begriff der Gleichheit konnotiert zu sein. Obwohl Gleichheit weder bei Platon oder Aristoteles noch bei modernen Gerechtigkeitstheoretikern das einzige Kriterium für Gerechtigkeit war – häufig noch nicht einmal das entscheidende 1 Rede von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag am 22. September 2011. 2 Ebd.
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– spielt sie gerade in den Debatten sozialstaatlich verfasster moderner Gesellschaften eine herausragende Rolle. Dies trifft auch auf Beschreibungen und Definitionen zu, die sich der Sozialen Marktwirtschaft widmen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist von Anfang an in den unterschiedlichsten Facetten ihrer Arbeit ein Multiplikator für die Idee der Sozialen Marktwirtschaft. Damit spielt automatisch auch das Thema Gerechtigkeit eine besondere Rolle. Öffentliche Veranstaltungen oder Publikationen zur Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und im Rahmen der internationalen Arbeit gehören zum Markenkern der Stiftung. Gerechtigkeit als Orientierung für die Politik steht dabei logischerweise im Mittelpunkt der Überlegungen. Dabei wurde der Fokus auf Chancengerechtigkeit gelegt, so wie es dem christlichen Menschenbild entspricht. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere bei gesellschaftlichen Umbrüchen oder auch „Transformationen“ die Diskussionen über „Gerechtigkeit“ in besonderem Maße aufflackern und nach neuen Antworten suchen. Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 und der „Transformation“ der ehemaligen DDR steht die Politik vor enormen Herausforderungen. Bis heute wird der Prozess der deutschen Einheit vor allem auch unter dem Blickwinkel der „Gerechtigkeit“ diskutiert. Von Anfang an hat sich dabei eine Sichtweise verfestigt, nach der eine Referenzebene Ost gegenüber West auch unter Gerechtigkeitsaspekten betrachtet wird. Wie „ungerecht“ sind bestehende Unterschiede zwischen Ost und West, wenn man bestimmte ökonomische oder sozialstaatliche Parameter zu Grunde legt? Ist Gerechtigkeit erst hergestellt, wenn sich das Leben der Menschen in Ost und West in eben diesen Parametern angeglichen hat? Oder aber sind Unterschiede gar gerechtfertigt? Solche Fragen begleiten die aktuelle Politik. Aber gerade mit Blick auf den Transformationsprozess in den neuen Ländern, hinter dessen tagespolitischer Codierung „Aufbau Ost“ eine enorme Solidaritätsleistung der alten Länder steht, wird zunehmend auch eine Debatte über die Frage geführt, wie lange finanzielle Hilfen für die neuen Länder „gerechtfertigt“ seien. In heutiger Zeit wird kaum eine Abhandlung für sich in Anspruch nehmen können, das Thema „Gerechtigkeit“ auch nur annähernd vollständig zu erfassen. Zu vielfältig sind die Facetten dieses Themas. Auch der vorliegende Band kann sich deshalb nur als Debattenbeitrag verstehen. Wir wollen aber mit diesem Sammelband versuchen, einen „roten Faden“ zu verfolgen, der aus unserer Sicht zeigt, dass die konkreten Fragen über Gerechtigkeit in heutiger Zeit im Grunde genommen die alten Fragen sind. Gleichzeitig geht es dabei um die Weiterentwicklung des Gedankens der Gerechtigkeit vor dem Hintergrund konkreter politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen der heutigen Zeit. Die veränderten Rahmenbedingungen durch den Zusammenbruch des Kommunismus und die Wiedervereinigung stellten das Thema „Gerechtigkeit“
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erneut zur Diskussion. Einige – aus unserer Sicht wesentliche – Aspekte wollen wir im vorliegenden Band erörtern. Gerechtigkeit im politischen Handeln heißt immer auch, den Blick auf die staatlichen Rahmenbedingungen zu richten. Deshalb haben wir uns entschlossen, nach einführenden Überlegungen zum Begriff der „Gerechtigkeit“ durch Michael Borchard und Thomas Schrapel einen maßgeblichen Aufsatz über die „Historischen Voraussetzungen des Sozialstaats in Deutschland“, den Hans Maier 2002 zum ersten Mal publiziert hatte, hier an dieser Stelle nochmals zu präsentieren. Dieser Beitrag hat an brennender Aktualität nichts verloren. In der Tat sind es diese dort von dem Politikwissenschaftler und ehemaligen bayerischen Kultusminister Hans Maier dargelegten sozialstaatlichen Bedingungen und Voraussetzungen, die auch den Transformationsprozess in den neuen Ländern begleiten, ohne dass dieser Prozess konkret angesprochen wird. Wir sind überzeugt davon, dass das sozialstaatliche Verständnis in Deutschland, wie es sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat und im Grunde genommen zu einer Art Staatsraison geworden ist, auch die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gelingen der deutschen Wiedervereinigung geschaffen hat. Es ist bereits erwähnt worden, dass Diskussionen um Gerechtigkeit häufig auch immer Diskurse um Gleichheit sind. In besonderer Weise zeigt sich dies bei der Diskussion um die so genannte „Innere Einheit“ – ein Begriff, der zwar seit 1990 sehr häufig, um nicht zu sagen: fast schon „inflationär“ gebraucht wird. Aber es ist nie wirklich dargelegt worden, was damit eigentlich gemeint ist. Umso kritischer nähert sich Hans-Joachim Veen diesem Begriff, je unklarer dieser in den letzten 20 Jahren bis heute Anwendung fand. Veens kritische Auseinandersetzung beim Gebrauch des Terminus, der ja auch in offizielle Regierungspapiere Eingang gefunden hat3, mit einigen seiner Fachkollegen aus Politik- und Sozialwissenschaft ist im Grunde genommen auch die Auseinandersetzung mit einem „Zeitgeist“, der eo ipso nicht nur eine Angleichung von Lebensverhältnissen, sondern wohl auch eine Art allgemeiner Gleichheit als Ziel staatspolitischen Handelns vorgibt, was der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Ettersberg sehr in Zweifel zieht. Wirtschaftspolitik aus einer philosophischen Perspektive zu betrachten ist gewiss nicht alltäglich. Überlegungen zu Gerechtigkeit vor dem Hintergrund „harter“ ökonomischer Zahlen und Fakten anzustellen ist aber gerade beim Thema „Aufbau Ost“ unserer Meinung nach eine lohnenswerte Sichtweise. Der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Halle, Ulrich Blum, stellt deshalb 3 Um ein Beispiel zu nennen: Die Erlangung der „Inneren Einheit“ war in den „Berichten zum Stand der Deutschen Einheit“ seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bis 2010 immer wieder als Ziel des Aufbaus Ost genannt worden. Aber auch dort wurden kaum konkrete Parameter genannt, an denen eine „Innere Einheit“ zu bemessen wäre.
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den „Aufbau Ost“ ganz konkret im Sinne einer Gerechtigkeitsinvestition dar. Dies scheint umso wichtiger zu sein, da sich ja vor dem Hintergrund der unbestreitbaren großen Erfolge beim Auf- und Ausbau der ostdeutschen Infrastruktur die Stimmen derer mehren, die nunmehr Gerechtigkeitsdefizite dort sehen, wo beispielsweise Straßen in den alten Ländern nicht mehr in dem Zustand gehalten werden konnten, wie es üblicherweise bis 1990 in westdeutschen Kommunen möglich war. Gerade an diesem Punkt zeigt sich die Verantwortung für politische Entscheidungsträger, die – eingebunden in tagespolitische, zumeist schnell zu entscheidende Ereignisse – den Blick für mittelund langfristige Entwicklungen haben müssen. Blum plädiert dafür, nicht allein den eher kurzfristigen Blick auf Effizienz bzw. Rentabilität von Investitionen beim „Aufbau Ost“ entscheiden zu lassen. Die Entwicklung von Regionen und mithin die politisch gewollten Investitionen können generell unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit gesehen werden. Mit dem Beitrag von Martin Lendi wollen wir ganz bewusst eine Sichtweise in diesen Band aufnehmen, die ihren Ausgangspunkt nicht bei der Diskussion um den „Aufbau Ost“ im Konkreten hat. In unserem Nachbarland Schweiz wird im Zusammenhang mit der Effizienz finanzpolitischer Maßnahmen bei der Entwicklung schwacher Regionen häufig über zwei Prinzipien diskutiert. Sollten sich infrastrukturelle Maßnahmen ausschließlich an kurz- oder mittelfristigen Effizienzerwartungen orientieren. Oder sollte der Staat diese für langfristige und nahezu flächendeckende Investitionen in den Blick nehmen. Die häufig ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten vertretene These von der Entwicklung der „Cluster-Regionen“ gibt ja gerade auch beim „Aufbau Ost“ in Deutschland immer wieder Anlass zu Diskussionen. Wir meinen, dass gerade die nichtdeutsche Sichtweise auf das Problem der Gerechtigkeit bei staatlichen Großinvestitionen möglicherweise einen sehr interessanten Aspekt zur Diskussion beitragen kann. Im politik- und sozialwissenschaftlichen Diskurs wird seit 1990 vehement über die Folgen der deutschen Wiedervereinigung gestritten. Dabei wird immer wieder die Frage gestellt, ob noch bestehende Unterschiede in Einstellungen oder Mentalitäten gegenüber dem politischen System oder auch im Hinblick auf künftige Erwartungen bei den Ostdeutschen auf deren lange und intensive Sozialisation im politischen System der ehemaligen DDR zurückzuführen sei. Andererseits wiederum gibt es Auffassungen, nach denen die Erfahrungen im Prozess der Wiedervereinigung entscheidend für den heutigen „Mentalitätshaushalt“ seien. Gert Pickel nähert sich in seinem Beitrag hier vor allem mit empirischen Methoden der Frage, wie Gerechtigkeitsvorstellungen davon beeinflusst sind. Vor allem aber geht es ihm darum, zu erläutern, welchen Einfluss solche Erfahrungen auf die Entwicklung der politischen Kultur in den neuen Ländern haben und wovon ja die alten Länder keineswegs unberührt bleiben
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können. Ganz konkret erörtert Pickel die Frage, in welchem Verhältnis die Wahrnehmungen von Gerechtigkeit zu tatsächlichen objektiven Erfahrungen stehen. Aber vor allem geht es auch darum, wie mögliche Befunde unterschiedlicher Gerechtigkeitsempfindungen im Hinblick auf die politische Kultur zu werten seien. Was trennt Ost- und Westdeutsche bei deren Gerechtigkeitsvorstellungen? Die seit Beginn der 90er Jahre signifikant höhere Arbeitslosigkeit in den neuen gegenüber den alten Ländern ist ein politisches Dauerthema. Es liegt auf der Hand, dass dieses natürlich einen Diskurs über Fragen von Gerechtigkeit nicht unberührt lassen kann. Und natürlich kann man davon ausgehen, dass Dauerarbeitslosigkeit, die ja im Osten Deutschlands in viel höherem Maße zu registrieren war und noch ist, Gerechtigkeitsvorstellungen beeinflusst. Thorsten Faas widmet sich ebenfalls mit empirischen Methoden diesem Thema. Er zeigt auf, wie stark unsere Gesellschaft von der Erfahrung der Arbeitslosigkeit beeinflusst ist, jedoch die ostdeutsche in viel höherem Maße noch als die westdeutsche. Hier rückt vor allem auch der Umstand in den Blick, dass im Durchschnitt die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern doppelt so hoch war wie in den alten Ländern. Gleichzeitig plädiert Faas für eine stärker personenorientierte, sozialwissenschaftliche Sichtweise auf dieses Problem im Gegensatz zu einer überwiegend noch praktizierten volkswirtschaftlichen, volumenorientierten. Politische Beratung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung versucht in hohem Maße Praxis und Wissenschaft zusammenzubringen. Dabei bietet sich an, die konkreten Erfahrungen von politischen Akteuren im Prozess der deutschen Einheit mit einzubeziehen. Der Ehrenvorsitzende der Konrad-AdenauerStiftung und Mitherausgeber dieses Bandes Bernhard Vogel ist der einzige deutsche Politiker, der jeweils über längere Zeiträume Ministerpräsident eines westdeutschen und ostdeutschen Bundeslandes war. Arnold Vaatz wiederum hatte als ehemaliger Oppositioneller in der DDR einen ganz persönlichen Beitrag zur Wiedervereinigung geleistet und stand dann sehr schnell als Staatsminister im Freistaat Sachsen in politischer Verantwortung. Die persönlichen Erfahrungen beider im Hinblick auf Gerechtigkeit beim Prozess der deutschen Einheit haben wir in Form eines Gesprächs, das der Chefreporter der „Super Illu“, Gerald Praschl, moderiert hat, hier in diesem Band dokumentiert. Wir hoffen, mit dem vorliegenden Band interessante und auch neue Sichtweisen in die Diskussion um Gerechtigkeit beitragen zu können. Es wäre müßig darauf hinzuweisen, dass wir selbstverständlich keine wie auch immer geartete Vollständigkeit erreichen wollten. So wäre es denkbar gewesen, beispielsweise demographische Aspekte zu beleuchten, die immer mehr die Diskussion um den „Aufbau Ost“ beeinflussen. Gleichwohl gehen wir davon aus, eine interessante Mischung gefunden und insbesondere die Aktualität stets im Auge gehabt zu haben. Zur Aktualität des Themas „Gerechtigkeit“ sagte
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Papst Benedikt XVI. in seiner oben bereits erwähnten Rede im Deutschen Bundestag am 22. September 2011: „Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“4 Die Herausgeber
4 Rede von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag am 22. September 2011.
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„Gerechtigkeit“ – Philosophie als Anleitung zur Politik „Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht“ – an diese Worte Papst Benedikts XVI. während der Heiligen Messe zu Beginn seines Pontifikats am 24. April 2005 erinnerte erst kürzlich, im Juni 2011, die Deutsche Bischofskonferenz.1 Darin heißt es weiter, dass in der Debatte um eine gerechte Gesellschaft „Gerechtigkeit und Freiheit heute oftmals gegenübergestellt“ werden. Das habe auch etwas mit der „Verkürzung des Freiheitsbegriffs auf wirtschaftliche Freiheit zu tun“.2 Die Deutsche Bischofskonferenz erinnerte abschließend in diesem Positionspapier auf das bundesrepublikanische Leitmotiv: Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“, wobei kritisch angemerkt wird, dass zwischenzeitlich die Voraussetzung dieses Erhard’schen Imperativs, nämlich „Chancen für alle“, aus dem Blick geraten sei. Aber nur so „wird es gelingen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Die gesellschaftliche Erneuerung braucht deshalb ein klares Leitbild: Die chancengerechte Gesellschaft.“3 Jenseits der Auseinandersetzungen zwischen „Kommunitaristen“ und „Liberalisten“ innerhalb der politischen Philosophie, auf die weiter unten noch eingegangen wird, positioniert sich die Deutsche Bischofskonferenz aktuell für Freiheit und Chancengerechtigkeit als prägende Motive politischen Handelns. Dieses aktuelle Beispiel zeigt: Eine Diskussion über „Gerechtigkeit“ hat zu Recht immer Konjunktur! Es dürfte einer der am meisten gebrauchten Begriffe auch und vor allem in politischen Auseinandersetzungen sein. Allerdings besteht die Schwierigkeit darin, normative Maßstäbe für „Gerechtigkeit“ unter verschiedenen politischen Bedingungen so zu definieren, dass diese eine mögliche Allgemeingültigkeit erlangen könnten. Aber ist das überhaupt möglich? Mit Sicherheit ist die Beurteilung, ob es in einer Gesellschaft im Großen und Ganzen „gerecht“ zugehe, eine der Schlüsselfragen für die Funktionsfähigkeit eines Staatswesens. Gerechtigkeitsziele gehören zu den normativen Grundlagen des deutschen Sozialstaats.4 „Nur eine mehrheitlich als sozial gerecht empfundene Gesellschaft wird auf Dauer das notwendige Potential zur Konfliktregelung und gewaltlosen 1 Chancengerechte Gesellschaft. Leitbild für eine freiheitliche Ordnung, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen Nr. 34) 27. Juni 2011. 2 Beide Zitate ebd., 9. 3 Ebd., 38. 4 Vgl. dazu F. Nullmeier, Gerechtigkeitsziele des bundesdeutschen Sozialstaats, in: L. Montada (Hg.), Beschäftigungsziele zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1997.
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Streitschlichtung zur Verfügung stellen können.“ 5 Nun ist allerdings der Maßstab für „gerecht“ und mithin „ungerecht“ zunächst einmal subjektiv und muss nicht zwangsläufig den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Die Politik steht gerade bei diesem Thema häufig vor dem Widerspruch zwischen „gefühlter“ und „tatsächlicher“ Ungerechtigkeit. Einige Beispiele dieser subjektiven Wahrnehmungen werden hier in diesem Band dargelegt. Gern wird in diesem Kontext das so genannte „Thomas-Theorem“ zitiert: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ 6 Demnach können Wahrnehmung und Realität sehr weit auseinander liegen. Gleichwohl muss sich Politik mit den Gefühlslagen der Menschen auseinandersetzen. Wenn eine Gesellschaft oder Politik im Allgemeinen als ungerecht empfunden wird, so ist politisches Handeln angezeigt und zwar unabhängig davon, ob es sich um klar nachvollziehbare, gar messbare Ungerechtigkeiten handelt oder damit „nur“ ein eher diffuses Gefühl ausgedrückt wird. Sozialwissenschaftler versuchen Debatten über „Gerechtigkeit“ häufig mit Hilfe eines so genannten „magischen Vierecks“ zu strukturieren, wobei Chancen-, Bedarfs-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit die Eckpunkte darstellen.7 Bemerkenswert ist folgende Asymmetrie: Zwar gilt in unserer Kultur Gerechtigkeit mehrheitlich als hoher Wert, jedoch lohne es sich nicht, dafür das eigene Leben einzusetzen.8 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Beurteilung, ob eine Gesellschaft „gerecht“ sei, in der Regel entsprechend der sozialen Verortung des Befragten beantwortet wird. Wissenschaftler, Medienvertreter oder auch Politiker können sehr wohl eine Gesellschaft als weitestgehend „gerecht“ beurteilen, während dies ein Großteil der Bevölkerung anders sieht.9 Im Folgenden sollen einige Etappen zur Genesis der Gerechtigkeitsdebatte aufgezeigt werden. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, auf der Basis der Schilderung des – jedenfalls quellenmäßig fassbaren – Anfangs dieses Diskurses aufzuzeigen, wie eng von Anfang an philosophische Überlegungen und 5 E. Carigiet (Hg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit, Zürich 2006, 396. 6 Benannt nach dem amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas (1863–1947), der das Postulat zusammen mit Dorthy Swaine Thomas in dem Buch „The Child in America“ (1928) aufstellte. 7 I. Becker/R. Hauser, Soziale Gerechtigkeit – ein magisches Viereck, Berlin 2009. Darauf bezieht sich ganz wesentlich W. Glatzer, Gefühlte (Un-)Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47 (2009). 8 E. Noelle-Neumann/R. Köcher, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993–1997, München 1997, 66. 9 R.B. Vehrkamp/A. Kleinsteuber, Soziale Gerechtigkeit – Ergebnisse einer repräsentativen Parlamentarier-Umfrage, in: St. Empter/R. Vehrkamp, Soziale Gerechtigkeit. Eine Bestandsaufnahme, Gütersloh 2007.
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politische Anwendbarkeit lagen. Aus unserer Sicht schließt sich der Kreis im 20. Jahrhundert, in dem im Zusammenhang mit der Entwicklung der Politikwissenschaften eine bemerkenswerte Renaissance antiker philosophischer Diskurse zu verzeichnen ist.
„Gerechtigkeitsdiskurse“ in der griechischen Antike10 Sokrates und Platon Es ist kaum verwunderlich, dass in der Philosophiegeschichte des Abendlandes „Gerechtigkeit“ zu einem Dreh- und Angelpunkt Jahrhunderte langer Diskurse wurde. Die Erfahrungen zeigen, dass die unterschiedlichen Definitionen und Interpretationen für eine gerechte Gesellschaft allzu häufig im Spannungsfeld zwischen philosophischen bzw. ethischen Überlegungen und dem politisch Machbaren liegen. Mit Sokrates (469–399 v.Chr.) beginnt nachweisbar das Nachdenken über „Gerechtigkeit“, obwohl wir von ihm keine Schriften überliefert haben.11 Wenn man so will, wurde von ihm zum ersten Mal „Gerechtigkeit“ in einem normativen Sinn analysiert. Auf diesen Urvater der modernen Philosophie traf das Verdikt vom Philosophieren im „Elfenbeinturm“ mitnichten zu. Er praktizierte seine Philosophie „auf der Straße“, im ständigen Dialog mit den Menschen, wo er eine besondere Fragetechnik entwickelte. Wie später auch einer seiner Schüler, nämlich Platon, betrachtete Sokrates das Nachdenken über „Gerechtigkeit“ nicht als Selbstzweck, sondern suchte ständig nach einer praktischen Anwendbarkeit bzw. entwickelte normative Überlegungen aus der Praxis heraus. Aber auch als Politiker war der Philosoph tätig und im Grunde genommen in einem ganz modernen Sinn als Politikberater. Der Historiker Xenophon (430–354 v.Chr.) überliefert uns in seinen „Erinnerungen an Sokrates“, letzterer habe u.a. auch den Bruder Platons, Glaukon, politisch beraten, freilich in der Form, diesem mit Hilfe seiner berühmten Fragetechnik vor 10 Im Rahmen dieses Beitrages kann es nicht darum gehen, eine möglichst vollständige oder auch nur umfangreiche Geschichte der Gerechtigkeitsforschung zu referieren, was spätestens seit dem Erscheinen von John Rawls „Theory of Justice“ (1971), auf den weiter unten noch einzugehen sein wird, von Philosophen und Politikwissenschaftlern getan wurde. Hier sollen nur die wichtigsten Kriterien für Gerechtigkeit, wie sie in der griechischen Antike und deren politischen Philosophen bereits vorgedacht wurden und an die dann im 20. Jahrhundert angeknüpft wurde, dargelegt werden. 11 Inwieweit die Ansichten des Sokrates in dem Dialog „Politeia“ auch diejenigen des Verfassers Platon sind, darüber gibt es eine lange Diskussion. Fakt ist, dass Platon Sokrates persönlich kannte, bei dessen Prozess als Beobachter dabei war und große Teile der langen Passagen wörtlicher Rede auch auf ein hohes Maß an Authentizität zurückzuführen sind.
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allem seine Unzulänglichkeiten und Defizite aufzuzeigen. Über praktische und tiefer gehende Kenntnisse in Sachen Finanzen, Militär und innerer Sicherheit müsse letzterer verfügen, wenn er in der Politik in einem „gerechten“ Sinne agieren wolle. Platon (428/7–348/7 v.Chr.) stellt gleich im 1. Buch seiner Schrift „Politeia“ eine zentrale Frage, die im Grunde genommen auch in heutigen, modernen Gerechtigkeitsdebatten immer wieder auftaucht. Ist eine als gerecht empfundene Handlung immer und ewig „gerecht“ oder kann eine solche Handlung nicht auch das eine Mal „gerecht“ und ein anderes Mal „ungerecht“ sein? Mit anderen Worten ausgedrückt heißt dies: Gibt es eine „ewige“, von allen Zeitumständen und Kontexten losgelöste, absolute „Gerechtigkeit“? Sokrates’ Dialogpartner Kephalos, ein reicher Kaufmann aus Syrakus, sieht in seinem Reichtum eine besonders günstige Voraussetzung, „gerecht“ leben zu können, weil er somit niemandem etwas schuldig bleiben müsste. Das Rückzahlen einer vereinbarten Schuld auf Vertragsbasis sei somit eine gerechte Sache. Sokrates, als Mitglied der Elitetruppe der Hopliden selbst langjähriger und erfahrener Kriegsteilnehmer,12 sieht nun ein Problem, wenn sich die Umstände einer vermeintlich gerechten Vereinbarung ändern. Vor dem Hintergrund von Sokrates’ Biographie ist dessen dann gegebenes Beispiel keineswegs ungewöhnlich, sondern sehr praktisch und nachvollziehbar. Wenn man sich, so sein Beispiel, auf Vertragsbasis von einem völlig gesunden und zurechnungsfähigen Menschen eine Waffe leiht, dieser aber in der Zwischenzeit wahnsinnig geworden sei, solle man dann lieber unrecht handeln und die Waffe nicht wieder aushändigen oder – sozusagen „um jeden Preis“ – „gerecht handeln“ und sich an den Vertrag halten? Platons Werk „Politeia“ trägt den Untertitel: „Über Gerechtigkeit“. Nun ist es nicht ganz einfach, Platons Auffassungen über „Gerechtigkeit“ aus dessen Werk selbst herauszulesen. Als literarisches Mittel zur Darlegung seiner Philosophie bedient sich Platon des Dialogs, in dem mehrere Personen auftreten und ihre Ansichten artikulieren. Der Autor selbst spricht an keiner Stelle. Das heißt, er präsentiert seinen Standpunkt niemals direkt. Ähnlich wie sein Lehrer versuchte sich Platon auch als Politikberater, wie es auch unserem heutigen Verständnis entspräche. 366 bzw. 361 v.Chr. verließ er seine Philosophenakademie in Athen und reiste nach Unteritalien mit dem Ziel, Dionysos II., den Herrscher von Syrakus, direkt und vor Ort zu beraten. Platon wollte Dionysos II. überzeugen, dass dieser einen idealen Staat organisieren solle und Überlegungen über ein gerechtes Staatswesen dürften dabei eine zentrale Rolle gespielt haben.13 Bereits bei seiner ersten Reise nach Unteritalien in der Zeit 12 Sokrates nahm am Peloponnesischen Krieg teil (431–404 v.Chr.). 13 Zusammengefasst in Platons Dialog „Politeia“.
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von 399–388 v.Chr. war er maßlos über den Herrscher von Syrakus, Dionysos I. enttäuscht, der wohl keinerlei Interesse daran zeigte, Platons ideales Staatswesen zu realisieren. Auch mit seinen Versuchen, dessen Sohn zu einer – aus Platons Sicht – gerechten Herrschaft zu bekehren, scheiterte er. Dabei war es gerade Platon, der wahrscheinlich als einer der ersten – wenn man so will – aus dem „Elfenbeinturm“ heraus in die politische Wirklichkeit wollte. Platon wollte auf keinen Fall ein „Nur-Philosoph“ sein. Auch wenn für ihn das Postulat der Ganzheit galt, wollte er sich nicht nur mit dem theoretischen Bereich zufriedengeben. Offenbar in Anlehnung an Sokrates, von dem wir selbst keine schriftlichen Werke überliefert haben, wurde für Platon „Gerechtigkeit“ die zentrale Kategorie bei der Organisation eines Staatswesens. Grundgedanke dieses „idealen“ Staatswesens nach Platon war es, dass alle darin Lebenden ausschließlich die Funktion übernehmen, die ihren Fähigkeiten entspricht. Ungerecht handle demnach derjenige, der sich zu Tätigkeiten hinreißen lässt, die er aufgrund seiner Fähigkeiten nicht bewältigen könne. Freilich hat er sich und seinesgleichen die wichtigste Rolle zuerkannt: die der Herrschenden. Platons Idealstaat war ein aristokratischer Philosophenstaat. Platon zog in seine Betrachtungen im 4. Jahrhundert v.Chr. eben schon die Erfahrungen einer gescheiterten Demokratie in Athen, aber insbesondere die Tyrannis der beiden Herrscher in Syrakus, denen er seine – wenn man so will – Politikberatung angeboten hatte, mit ein. Platon setzt mit seiner „Politeia“ den nicht eben positiven Realitäten seiner Heimat Athen des vierten Jahrhunderts v.Chr. einen Verfassungsentwurf entgegen. Die Erfahrungen mit den Erschütterungen der Athener Demokratie am Ende des Peloponnesischen Krieges dürften eine wichtige Rolle bei seinen Überlegungen gespielt haben. Dabei geht er von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen aus, welche „von Natur keiner dem anderen völlig gleich ist, sondern jeder verschiedene Anlagen hat, der eine für dieses, der andere für jenes Geschäft.“14 Diese natürliche Ungleichheit der Menschen brachte Platon zu der Konsequenz, jeder solle nach seiner Fähigkeit tätig sein – die wesentliche Grundlage einer „gerechten“ Gesellschaftsordnung.15 Als Platons „Politeia“ entstand, existierte die Athenische Demokratie bereits mehr als ein halbes Jahrhundert. Eine Generation vor Platons Geburt (461 v.Chr.) wurde durch die Entmachtung des Adels in Athen die wesentliche Voraussetzung für die Demokratie geschaffen. Einen fundamentalen Schritt für eine breite Partizipation erlebte er, als Perikles die Diäten 14 Zitiert nach Platon, Der Staat, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1988, 65, 370 a/b. 15 Bezogen auf die Athener „Sozialstruktur“ seiner Zeit bedeutete dies: Bauern und Handwerker sorgen für die Grundbedürfnisse, ein Wächterstand kümmert sich um die Sicherheit resp. Verteidigung, eine Schicht um die Politik.
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einführte. Mit den Tagegeldern war es nunmehr auch den armen Schichten möglich, an Volksversammlungen teilzunehmen bzw. auch selbst politische Ämter auszuüben.
Aristoteles Auch Platons Schüler Aristoteles stellt in seiner Nikomachischen Ethik16 „Gerechtigkeit“ in den Mittelpunkt aller Überlegungen: „Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend, aber nicht schlechthin, sondern im Hinblick auf den anderen Menschen. Darum gilt die Gerechtigkeit vielfach als die vornehmste der Tugenden, und ,weder Abendstern noch Morgenstern sind derart wunderbar‘, und im Sprichwort sagt man: ,In der Gerechtigkeit ist alle Tugend zusammengefasst‘. Sie gilt vor allem als die vollkommene Tugend, weil sie die Anwendung der vollkommenen Tugend ist.“17 Aristoteles geht vor allem von den Fragen aus, was man allgemein unter „Gerechtigkeit“ zu verstehen habe und bietet sehr detailliert die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffspaares „gerecht“ resp. „ungerecht“. Für ihn ist „Gerechtigkeit“ eine ethische Grundhaltung. Nur auf der Basis einer solchen Grundhaltung sei der Mensch in der Lage überhaupt „gerecht“ zu handeln. Wesentlich ist dabei, dass nach Aristoteles eine solche Grundhaltung nicht von Natur gegeben sei. Im Gegenteil: An diese wie auch an andere ethische Grundhaltungen müsste man sich von frühester Zeit an bewusst gewöhnen. Das Gerechte ist bei Aristoteles gleichzeitig das „Gesetzliche“ bzw. die Befolgung der Gesetze.18 Diese Gleichsetzung von bestehenden Gesetzen mit dem „Gerechten“ heißt aber nicht, dass er alles Gesetzliche zugleich als „gerecht“ betrachtet, was im Grunde genommen reiner Rechtspositivismus wäre.19 Die meisten heutigen Interpretationen gehen davon aus, dass mit den Aristotelischen „Gesetzen“ nicht nur die geschriebenen der jeweiligen Polis, sondern eben auch die „ungeschriebenen“ Gesetze im Sinne von Sitten und
16 Aristoteles’ Sohn Nikomachos gab die Schrift post mortem heraus. Es ist allerdings nicht eindeutig zu klären, ob die Schrift deshalb diesen Namen trägt. Die Darlegungen zur „Gerechtigkeit“ finden sich insbesondere im Buch V der Nikomachischen Ethik. 17 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und erläutert von Olof Gigon, Stuttgart 1986 (6. Auflage), Buch 5, 3, 25–32. 18 „Was von der Gesetzgebung bestimmt wird, ist gesetzlich und jedes Einzelne davon nennen wir gerecht“. Ebd., 1129 b, 12ff. 19 Dazu auch M. Knoll, Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, München 2009, 52f.
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Normen des gemeinschaftlichen Lebens zu verstehen seien.20 Ohnehin gebietet schon die enge Verknüpfung zwischen „Gesetzlichem“ und „Ethischem“ bei Aristoteles, dessen Auffassungen über „Gerechtigkeit“ nicht auf einen reinen Rechtspositivismus zu reduzieren. Die gesetzliche „Gerechtigkeit“ ist immer nur „...im Kontext von Macht, Herrschaft und Nutzen“ zu sehen.21 Während der ideale und mithin „gerechte“ Staat bei Platon letztendlich von einer Philosophenaristokratie beherrscht wurde, zog Aristoteles unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit auch partizipative Herrschaftsformen in seine Betrachtungen mit ein. Demnach sollten freie und gleiche Bürger abwechselnd regieren und sich regieren lassen. Sokrates’, Platons und Aristoteles’ philosophisches Denken – und mithin deren Gerechtigkeitsvorstellungen – war ein dezidiert politisches Denken, welches im Kontext des Aufstiegs der Athenischen Demokratie und deren „Export“ in andere Poleis zu verstehen ist! Diese griechischen Philosophen versuchten aus der politischen Praxis heraus eine normative Sicht auf „Gerechtigkeit“ zu entwickeln, eng verbunden mit tiefgreifenden Überlegungen über „gerechte“ Staatsverfassungen. Daran knüpften die politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts direkt an.22
20 Vgl. M. Knoll, Gerechtigkeit, Anm. 20, 53 mit Hinweisen auf einen Konsens bei dieser Interpretation und überhaupt grundlegend O. Höffe (Hg.), Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, Berlin 2010 (3. bearbeitete Auflage) sowie frühere Abhandlungen: M. Salomon, Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles. Nebst einem Anhang über den Begriff des Tauschgeschäftes, Leiden 1937, 12; P. Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1955, 54. 21 M. Knoll, Gerechtigkeit, Anm. 20, 54. 22 Ein völlig eigenes Kapitel wäre die Darstellung einer Geschichte der „Gerechtigkeit“ im Rahmen kirchlicher Moral- und Rechtsnormen insbesondere im Mittelalter und hier in der steten Auseinandersetzung mit der weltlichen Macht. Dieses kann aber hier in diesem einleitenden Text nicht geleistet werden. Es sei auf folgendes Werk verwiesen: P. Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003. Der Bruder des EU-Politikers, langjähriger Leiter des Instituto storico italo-germanico in Trient, entwickelt dort nach eigenen Worten keine neue Gerechtigkeitstheorie, sondern stellt die Geschichte des Kampfes um die Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Macht dar und die Emanzipation des modernen Rechtsstaats.
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„Gerechtigkeit“ und die Renaissance der praktischen und politischen Philosophie im 20. Jahrhundert: John Rawls „Theory of Justice“ Im 20. Jahrhundert wurde die praktische Philosophie der griechischen Antike, insbesondere die von Platon und Aristoteles – und hier als Kernbestandteile deren Überlegungen zur „Gerechtigkeit“ – wiederbelebt bzw. erneuert!23 Es ist gewiss kein Zufall, dass dies mit der Wiederbegründung der politischen Wissenschaften zusammenhängt, wenn man sich die Namen der Akteure dieser Renaissance des antiken politischen Denkens vor Augen führt. Henning Ottmann brachte es auf die sehr einprägsame Formel: „Hannah Arendt hat die aristotelische Praxislehre wiederbelebt; sie hat die pluralistische Politikauffassung des Aristoteles erneuert und die Phronesislehre zu einer Theorie der Urteilskraft umgeformt ... Dolf Sternberger hat die Politik des Aristoteles zur ‚Politiklogik‘ schlechthin erklärt und den modernen Verfassungsstaat mithilfe der aristotelischen Politiea und Bürgerfreundschaft gedeutet ... Unter Berufung auf Platon und Aristoteles haben Eric Voegelin und Leo Strauss die Politische Wissenschaft auf eine ‚normative‘ Lehre von der guten Verfassung und vom guten Bürger verpflichtet.“ 24 Die Aktualität von Aristoteles’ Gerechtigkeitsdiskurs hat Sternberger klar herausgearbeitet. Er spricht ja weniger von Demokratie als viel mehr vom modernen Verfassungsstaat und knüpft direkt an die Vorstellungen Aristoteles’ von der gerechten Verfassung an. Dessen Vorschläge zu Ämterwechseln und auch befristeter Amtsausübung sind für Sternberger Merkmale, die auch „ganz besonders für die modernen Verfassungsstaaten“ gelten würden.25 In Aristoteles’ Auffassung von einem gerechten Staatswesen sieht Sternberger große Ähnlichkeiten mit den modernen Verfassungsstaaten. Ausgehend von der Erfahrung, dass es keine „reinen“ Verfassungen geben würde, sondern allenfalls Mischverfassungen, schlussfolgert er: „es gibt keine einfachen Regierungssysteme ... Gemeinsam ist dem modernen Verfassungsstaat und dem Staat des Aristoteles die Gesetzlichkeit, der Pluralismus und die Gleichheit in der Freiheit“26 Martha Nussbaum, Altphilologin und Philosophin in Chicago, spricht im Zusammenhang mit der Aktualität Aristoteles’ und freilich deren eigener Interpretation 23 Vgl. dazu T. Gutschker, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002. Des Weiteren die Einleitung bei M. Knoll, Gerechtigkeit, Anm. 20, 12–16. 24 H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus, Bd. 1/2, Stuttgart 2001, 215. 25 D. Sternberger, Der Staat des Aristoteles und der moderne Verfassungsstaat (Thyssen-Vorträge: Auseinandersetzungen mit der Antike I), Bamberg 1985, 14. 26 Ebd. 24.
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in der Auseinandersetzung zwischen Kommunitaristen und Liberalisten gar von einer „Aristotelischen Sozialdemokratie“.27 In den 1960er und 70er Jahren begann eine „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“.28 Es kam zu einer regelrechten Renaissance der Ethik und politischen Philosophie, wobei die Kategorie der „Gerechtigkeit“ ein ganz wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung wurde und mithin Auslöser intensiver Debatten. Wenn man so will, wurde „Gerechtigkeit“ endgültig zum Politikum. Die philosophische Diskussion um „Gerechtigkeit“ war nunmehr stets ein politischer Diskurs. Obwohl diese Entwicklung bereits in den 1960er Jahren begann, war ganz zweifellos John Rawls „A Theory of Justice“ die bemerkenswerteste Zäsur.29 Otfried Höffe, jahrelanger Leiter der Forschungsstelle „Politische Philosophie“ an der Universität Tübingen, urteilte folgendermaßen: „Die ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ ist der wichtigste Beitrag des englischen Sprachraums, vielleicht sogar der überhaupt wichtigste Beitrag zur Praktischen Ethik des zwanzigsten Jahrhunderts.“30 Mit Blick auf die Diskussion um soziale bzw. Verteilungsgerechtigkeit, auf die in den folgenden Beiträgen eingegangen wird, lohnt es sich, die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit, wie sie von Rawls entwickelt wurden, an dieser Stelle zu referieren: „Erster Grundsatz: Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes der am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“ 31 Rawls formulierte so genannte „Vorrangsregeln“ für Freiheit und Gerechtigkeit, dem Begriffspaar, das im Zentrum der Kontroversen zwischen „Kommunitaristen“ und „Liberalisten“ steht. Grundfreiheiten könnten demzufolge nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden in zwei Fällen, und zwar: „a) eine weniger umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stär-
27 J. Nida-Rümelin/W. Thierse (Hg.), Martha C. Nussbaum: Für eine aristotelische Sozialdemokratie, Darmstadt 2002. 28 Grundlegend M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bände, Freiburg 1972. 29 J. Rawls, A Theory of Justice, Cambridge Mass. 1971; deutsche Übersetzung: J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975 (1. Auflage). Hier und im Folgenden danach zitiert. 30 O. Höffe, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: ders. (Hg.), John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 2007 (Zitate nach dieser 2. Auflage). 31 J. Rawls, Gerechtigkeit, Anm. 30, 336.
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ken; b) eine geringere als gleiche Freiheit muss für die davon Betroffenen annehmbar sein“ Die Bedingungen für den Vorrang der „Gerechtigkeit“ gegenüber der Leistungsfähigkeit und dem Lebensstandard formuliert er folgendermaßen: „die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen: a) eine Chancen-Ungleichheit muss die Chancen der Benachteiligten verbessern; b) eine besonders hohe Sparrate muss insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.“ 32 Noch in den 1950er und 60er Jahren standen sich so genannte „Liberalisten“ und „Kommunitaristen“ unversöhnlich gegenüber.33 Für Rawls ist „Gerechtigkeit“ die erste Tugend sozialer Institutionen. Rawls meint eine „Gerechtigkeit als Fairness“, wo jeder Person ein unabdingbarer Anspruch auf ein System von Grundfreiheiten zustehe. Im Grunde genommen gelingt es Rawls, die beiden Lager „aufzuweichen“. Er wendet sich gegen den klassischen Liberalismus in Anlehnung an John Locke, wo Freiheitsrechte und demokratische Mitwirkungsrechte mit den Prosperitätserwartungen der Marktwirtschaft verbunden sind.34 Rawls „ergänzt den politischen und ökonomischen Liberalismus um ein kräftiges Stück Sozialstaatlichkeit.“ 35
Gerechtigkeitsdiskurse im wiedervereinten Deutschland Wie sieht es nun in unserer Zeit mit der Gerechtigkeit aus, und wie ist der politische Blick auf dieses Thema beschaffen? Welche Vorstellung von Gerechtigkeit prägt im wiedervereinigten Deutschland unser politisches Denken? Wer sich in der Gegenwart dem Thema Gerechtigkeit nähert, wird früher oder später auch dem „Bonmot“ von Friedrich August von Hayek vom „Wieselwort“ der sozialen Gerechtigkeit begegnen.36 Dieses Bild orientiert sich an dem Wiesel, 32 Beide Zitate ebd., 337. 33 Siehe dazu A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main/New York 1993. 34 Siehe dazu O. Höffe, Einführung, Anm. 31, 6. 35 Ebd., 6. 36 F.A. v. Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, in: Gesammelte Schriften in deutscher Sprache: Abt. A, Aufsätze, Bd. 7, Tübingen 2004, 61f. Besonders drastisch hat sich Hayek darüber hinaus 1977 in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geäußert. Er schrieb: „Mehr als zehn Jahre lang, habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffs ,soziale Gerechtigkeit‘ herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem Schluss gelangt, dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat“. „Soziale Gerechtigkeit – eine Fata Morgana“, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.4.1977; zur aktuellen Debatte um das Denken Hayeks: M. Wohlgemuth, Hayek und das magische Dreieck der Moderne, oder: gibt es ein Paradox des
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das Eier restlos aussaugt und dann nur noch die leere, aber äußerlich intakte Hülle zurücklässt. Stimmt das Bild des ausgehöhlten Begriffes? Ist die soziale Gerechtigkeit heute beliebig, ein nicht fassbarer, ja vielleicht sogar gefährlicher, weil ein „ad libitum“ interpretierbarer und instrumentalisierbarer politischer Begriff?37 Auf den ersten Blick scheint die Beweislast erdrückend: Gerade versehen mit dem Attribut „sozial“ ist die Gerechtigkeit in der Tat vor allem im 20. bis hinein in das 21. Jahrhundert vermutlich der dominante politische Kampfbegriff, der die Zeitläufe der gesamten Epoche prägt. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschleunigt sich die industrielle Entwicklung noch einmal erheblich. Damit treten aber zugleich die sozialen Unterschiede immer deutlicher zutage. In den Städten und Ballungsgebieten, in denen sich die industriellen Arbeitsplätze vor allem befinden, wird Armut plötzlich zu einem sichtbaren Massenphänomen. Bürgerlicher Lebensstil und wachsender Wohlstand in den Städten geraten in einen deutlichen Kontrast zu den Armen- und Arbeitervierteln. Die Arbeiterbewegung erstarkt. Die ersten Sozialversicherungen entstehen.38 Die „soziale Frage“ wird über ein ganzes Jahrhundert zu der politischen Konfliktlinie schlechthin. Sie entscheidet mit über die Zukunft und über das Ende von Staatswesen und Regierungssystemen, über die Neugründung und das Ende von politischen Bewegungen und letztendlich auch über Krieg und Frieden. In Deutschland wird diese Entwicklung wie unter einem Brennglas besonders deutlich: Ohne jeden Zweifel tragen die Wirtschaftskrisen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die wachsende Arbeitslosigkeit und das Gefühl wachsender sozialer Unterschiede zur großen politischen Polarisierung in den Zeiten der Weimarer Republik bei.39 Die populistischen und radikalen politischen Strömungen erhalten Auftrieb und locken Wähler an, wenngleich durchaus auch in der Zeit der Weimarer Republik Fortschritte bei der Beseitigung von Ungerechtigkeit erzielt werden. In letzter Konsequenz trägt dennoch das Empfinden von Ungerechtigkeit in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs mit bei.40
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klassisch liberalen Paternalismus?, in: W. Kersting (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit, Die moralischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt am Main 2010, 77–108. Zur Instrumentalisierbarkeit ausführlich: F. Nullmeier: Soziale Gerechtigkeit – ein politischer „Kampfbegriff“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47 (2009), 9–14. Siehe dazu ausführlich den Beitrag von H. Maier in diesem Band. Dazu allgemein: G.A. Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Bonn 1980. Zur Zeit des Nationalsozialismus: T. W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977.
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Es mag vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen kaum verwundern, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes, aber auch die Vordenker und Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Krieg und dem vollständigen gesellschaftlichen Zusammenbruch in dem Bewusstsein handeln, dass der äußere Frieden und der soziale Frieden im Inneren eines Staates in einem engen Zusammenhang stehen. Die Sehnsucht nach einem gewissen Maß an gesellschaftlichem und politischem Konsens, die Sehnsucht nach einem Mindestmaß an wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit nach der Zeit der Orientierungslosigkeit, des Hungers und der Entbehrungen während des Krieges ist offensichtlich. In den beiden Teilen des besiegten Deutschlands wird diese Sehnsucht von den politischen Entscheidungsträgern – freilich unter völlig unterschiedlichen Vorzeichen – aufgenommen. Im Osten des Landes wird die – von der sowjetischen Besatzungsmacht gewünschte und geförderte – Orientierung hin auf ein sozialistisches Staatswesen anfangs durchaus von vielen Menschen nicht nur als aufoktroyiert empfunden, sondern in der ersten Zeit unmittelbar nach dem Krieg mit einer gewissen Begeisterung – die Lebensgeschichten von Wolfgang Leonhard und anderen zeigen das eindrucksvoll – mitgetragen.41 Dabei spielt die wahrhaftig empfundene Hoffnung auf ein gerechteres Gemeinwesen eine durchaus wichtige Rolle. Die zugleich beginnende Ungerechtigkeit von Enteignungen und politischer Entmündigung tritt dahinter zunächst an der Oberfläche ein Stück weit zurück, kommt später dann aber umso deutlicher hervor. Im westlichen Teil des Landes agieren die Besatzungsmächte nicht zuletzt mit dem Ziel, ein neues Erstarken eines unberechenbaren Deutschlands zu verhindern. Sie wollen dieses Ziel neben der festen Bindung und Einbindung Deutschlands an ihre Länder und in ihre internationalen Institutionen, aber auch mit der Etablierung eines freiheitlich demokratischen Staatswesens erreichen. Eine erneute Machtergreifung von politischen Fundamentalisten gilt es zu vermeiden. Bei diesen Vermeidungsstrategien spielt freilich auch die soziale Gerechtigkeit eine Rolle.42 Der rechtliche Bezugspunkt, den die Autorinnen und Autoren des Grundgesetzes für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in der Verfassung schaffen, ist der Artikel 20, Absatz 1. Dort heißt es: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Dieser Satz, der als Grundlage für das „Sozialstaatsprinzip“ gilt, gehört zu den Artikeln der Verfassung, die mit einer 41 W. Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955. 42 Vgl. im Folgenden: H. G. Hockerts, Der Deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011; ders., Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart 1980.
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„Ewigkeitsgarantie“ (Art. 79 (3) GG) versehen sind und deren Bestand und Sinn nicht verändert werden darf.43 Ohne eine explizite Erwähnung zu finden, hat der Begriff der sozialen Gerechtigkeit damit eine verfassungsrechtliche Fundierung erfahren. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht hat sich hier mehrfach relativ eindeutig festgelegt und diese Klausel als „Pflicht“ des Staates ausgelegt, für einen „Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“.44
Gerechtigkeit ist nicht Gleichheit Der „Verfassungspatriotismus“, den Dolf Sternberger konstatiert hat, ist in den Zeiten nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland nicht zuletzt auch ein „Sozialstaatspatriotismus“.45 Der Stolz auf die Geschichte der deutschen Nation ist nach dem Nationalsozialismus diskreditiert und der Patriotismusbegriff nachhaltig belastet. Die Identifikation mit dem Staatswesen ist auch durch die Sicherheiten des Sozialstaats und durch eine politische Logik, die über Jahrzehnte unter anderem auf die Verheißungen sozialer „Wohltaten“ gesetzt hat, mit herbeigeführt worden. Diese befriedende und legitimierende Wirkung von Ausgleichsmechanismen ist schon seit den Zeiten von Aristoteles bekannt. In seiner Nikomachischen Ethik hält der Philosoph fest, dass die ausgleichende Gerechtigkeit den Staat bewahre. Aber auch seit den Zeiten Aristoteles’ ist offenbar, dass eine einseitige und zu weit gehende Bevorzugung einer Gruppe, auf Kosten einer anderen Gruppe am Ende ebenfalls den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet und in letzter Konsequenz delegitimierend wirkt. Eine möglichst weitgehende Balance der Interessen, die allen gesellschaftlichen Gruppierungen in ihrer Verschiedenheit genügend Raum zur Entfaltung lässt, ist von entscheidender Bedeutung. Gerechtigkeit kann deshalb nicht Gleichmacherei bedeuten. Je moralischer allerdings die Interpretation des Begriffes der Gerechtigkeit unterlegt ist, desto größer ist die Gefahr, dass nach und nach in einem schleichenden Prozess jede Form der Verschiedenheit zunehmend als Ungerechtigkeit interpretiert wird.46 Gerade Staat und Politik tun gut daran, in Bezug auf die Gerechtigkeit nicht aufstachelnd, sondern moderierend zu wirken. Zugespitzt 43 O. E. Kempen, Historische und aktuelle Bedeutung der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 21 (1990), 354–366. 44 BVerfGE 40, 121, 204; Vgl. dazu auch BVerfGE 40, 121, 133 sowie BVerfGE 82, 60, 80. 45 D. Sternberger, Verfassungspatriotismus, Frankfurt am Main, 1990, 26–30. 46 Dazu hat der frühere bayerische Senatspräsident Walter Schmitt Glaeser einen pointierten Essay verfasst: „Die Gerechtigkeit ist ein Wiesel“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 29.7.2007.
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heißt das, nach dem Grundsatz zu verfahren, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. In einem freiheitlichen Staatswesen darf nicht verlernt werden, Ungleichheit als einen Ansporn zu bewerten für mehr Leistung, als Anreiz aufzusteigen und ein höheres Niveau – im Bereich der Einkommen, der Bildung etc. – anzustreben. Wenn sich Anstrengungen nicht mehr lohnen, wächst die Gefahr, dass der Wille zur Freiheit erlahmt. Sollte aus der Perspektive der Menschen die Wahrnehmung von Freiheiten keinen angemessenen Ertrag mehr bringen, sinkt die soziale Anerkennung dieses Wertes und in letzter Konsequenz auch die Bereitschaft, diesen Wert entschieden zu verteidigen. Wenn der Einzelne seine Freiheit beschränkt sieht oder sie gar nicht mehr wahrnehmen kann, ist das ein Grund zur Sorge. Aber wenn Menschen ihre Freiheit, die sie genießen können, gar nicht mehr wahrnehmen wollen, dann ist die pluralistische Demokratie in nachhaltiger Gefahr. Der historische Begriff der „Gleichschaltung“, der insbesondere mit dem Nationalsozialismus verbunden wird, aber zugleich Kennzeichen beinahe aller totalitären Staaten ist, zeigt auf, dass die systematische Gleichsetzung aller Menschen und die Bevorzugung einer Funktionärsschicht eben nicht zu mehr Recht, sondern geradewegs in das Unrecht führt. Das Bonmot, „im Sozialismus sind alle gleich, nur einige sind gleicher“, bringt die reale Ungerechtigkeit eines Gesellschaftsmodells, das zumindest vordergründig angetreten ist, um Gerechtigkeit herbeizuführen, treffend auf den Punkt. Am Ende dieses Beitrages wird in einem Exkurs noch genauer auf dieses Thema eingegangen. Freiheit ist eine Grundbedingung für Gerechtigkeit. Sie muss aber zugleich auch die Begrenzung für eine übertriebene, eine gleichmachende Vorstellung von Gerechtigkeit sein. Zugleich ist aber auch ein gewisses Maß an Gerechtigkeit die Voraussetzung für Freiheit. „Ein konzeptionell durchdachter Sozialstaat“, so schreibt Jörg Althammer, „steht nicht im Gegensatz zur freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Im Gegenteil: Erst durch die materielle Absicherung formaler Freiheitsrechte bleibt der Anspruch einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht bloßes Postulat, sondern wird für alle Gesellschaftsmitglieder faktisch einlösbar und damit lebbare Wirklichkeit. Nur wenn der Einzelne in die Lage versetzt wird, formale Freiheitsspielräume auch faktisch zu nutzen, wird der freiheitliche Anspruch einer liberalen Gesellschaft eingelöst.“47 Der moderne Sozialstaat werde, wie der Philosoph Wolfgang Kersting schreibt, zur
47 J. Althammer, Der subsidiäre Sozialstaat – leistungsorientiert und solidarisch, in: V. Kauder/O. v. Beust (Hg.), Chancen für alle. Die Perspektive der Aufstiegsgesellschaft, Freiburg 2008, 63–73.
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„freiheitsermöglichenden Bedingung“, zur Voraussetzung von personaler Würde und Eigenverantwortlichkeit.48
„Gerechtigkeit“ nach dem Fall der Mauer In diesem Zusammenhang zwischen Freiheit und Gerechtigkeit finden sich die Menschen in den neuen Ländern unmittelbar nach dem Fall der Mauer und nach der Wiedervereinigung vor große Herausforderungen gestellt. Die mit Mut und Entschlossenheit abgeworfene Fessel der Unfreiheit und das entschiedene Eintreten für die deutsche Wiedervereinigung sind von Beginn an auch mit erheblichen Gerechtigkeitserwartungen an das wiedervereinigte Deutschland verbunden. Gerechtigkeit wird zunächst im rechtsstaatlichen Sinne empfunden. Jene, die Unrecht erfahren haben, erwarten die Aufarbeitung dieses Unrechts. Was Bärbel Bohley ernüchtert über die aus ihrer Sicht gescheiterte Aufarbeitung des DDR-Unrechts gesagt hat, „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“49, ist subjektiv nachvollziehbar. Und doch hat Deutschland mit der Gründung einer Behörde, die sich um die Offenlegung der Taten der „Staatssicherheit“ kümmert, ein international anerkanntes Beispiel für den Umgang mit Unrechtstaten von Geheimpolizeien gesetzt. Parallel aber richten sich neben dieser rechtsstaatlichen Dimension von Gerechtigkeit die Blicke mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung auf die Frage der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit. Über Nacht müssen die Menschen in den neuen Ländern beinahe alle Gewissheiten aufgeben. Alle Lebensumstände ändern sich fundamental. Die neuen Möglichkeiten, die der freiheitliche Staat an unternehmerischer Freiheit, an Reisefreiheit und Mobilität, kurzum an Aufbruchsmöglichkeiten bietet, stehen der ökonomischen und sozialen Unsicherheit gegenüber. Mit dem Neubeginn richten sich große Hoffnungen auf eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen und den alten Ländern und auf ein gewisses Maß an Wohlstand. Seit der Wiedervereinigung zeigen – in Bezug auf die Gerechtigkeit, die Gleichheit und die Freiheit – die Umfragen bis in die Gegenwart zwei Trends deutlich auf. Erstens: Dass sich die Wertpräferenzen der Menschen in den alten und den neuen Ländern zunehmend angleichen. Während die Menschen in den alten Ländern – nicht zuletzt geprägt durch die Zeit der 68er – mit Wertpräferenzen in die Einheit gegangen sind, die die individuellen Werte der 48 W. Kersting, Theorien der Sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000. 49 Für das Zitat gibt es mehrfache Quellen. Zuletzt ist es aus Anlass ihres Todes noch einmal von der Welt zitiert worden: „Sie wollte Gerechtigkeit und bekam den Rechtsstaat“, Die Welt v. 11.9.2010.
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Selbstbestimmung, der Selbstverwirklichung in den Vordergrund stellen, waren die Menschen in den neuen Ländern stärker von traditionellen und gemeinschaftsorientierten Werten geprägt. Schon vor der Wiedervereinigung sind auch in der DDR nach allen gängigen Thesen die moderneren Werte zu den traditionellen Werten hinzugekommen. Ein ähnlicher „Wertemix“ hat sich auch bei den Menschen aus den alten Ländern gebildet.50 Gleichsam aus unterschiedlichen Richtungen kommend, nähern sich die Einschätzungen von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit in Ost und West zunehmend an.51 Zweitens: Die Umfragen zeigen aber auch, dass die Erwartungen an Staat und Politik, drängende Probleme über staatliche Institutionen und Mechanismen zu lösen, in den neuen Ländern noch immer etwas deutlicher ausgeprägt sind als in den alten. Einer aktuellen Umfrage der Adenauer-Stiftung zufolge sind beinahe 60 Prozent der Menschen in den neuen Ländern der Auffassung, die Veränderung ihrer persönlichen Lage habe vor allem mit der Politik und mit politischen Entscheidungen zu tun, während nur 28 Prozent der Menschen in den neuen Ländern glauben, dass dieses vor allem von ihnen selbst abhänge.52 In den alten Ländern sind es aber rund 36 Prozent, die die eigene Verantwortung für das persönliche Wohlergehen in den Vordergrund stellen. Nur 50 Prozent glauben, dass die Politik dafür vor allem die Verantwortung trage. Schon in der Zeit der Wiedervereinigung steht der deutsche Sozialstaat, von dem unter anderem die Verbesserung der persönlichen Lage erwartet wird, zunehmend in der Kritik. Die Tatsache, dass in den späten sechziger und den siebziger Jahren der Begriff der sozialen Gerechtigkeit vor allem als Umverteilung von Vermögen und Einkommen begriffen wird, hat Auswirkungen, die sich nicht zuletzt auf dem deutschen Arbeitsmarkt niederschlagen und seine Dynamik und Aufnahmefähigkeit in den Jahren nach der Wiedervereinigung bremsen. Gemeinsam mit den notwendigen Investitionen nach der Wiedervereinigung in den Ausbau der Infrastrukturen belastet die ansteigende Arbeitslosigkeit die öffentlichen Haushalte. Der Eindruck eines hemmenden und nicht eines aktivierenden Sozialstaates verbreitet sich immer deutlicher.
50 H. Klages, Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29 (2001), 7–14. 51 Besonders interessant ist zu diesem Themenkomplex die Studie des Werbefachmanns Alexander Mackat, der die Wertangleichungen von Ost und West anhand des Erfolges oder Misserfolges von Werbekampagnen bewertet hat: A. Mackat, Das deutsch-deutsche Geheimnis. Mit der Wertentwicklung in Ost und West zum gesamtdeutschen Markenerfolg, Berlin 2007. 52 Hier und im Folgenden: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Zwanzig Jahre Wiedervereinigung. Bewertung und Zukunftserwartungen, Analysen & Argumente, Ausgabe 81, September 2010, 7.
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Ausgerechnet der SPIEGEL ätzt nicht einmal acht Jahre nach der Wiedervereinigung, der „Sozialstaat deutscher Prägung“ sei kein „Modell mehr“. Er sei „zum Monstrum geworden“, das an seiner eigenen Größe zu ersticken drohe.53 Vor allem aber, so beschließt der SPIEGEL das „Todesurteil“, sei der Sozialstaat zutiefst ungerecht geworden, weil er seine Leistungen oft willkürlich und nicht selten an den wirklich Bedürftigen vorbei verteile. „Nur der Sozialstaat“, so der SPIEGEL, „der sich zurücknimmt und sich Selbstbeschränkung auferlegt, ist auf Dauer sozial“.54 In den neunziger Jahren, unter dem Eindruck des ausufernden und den Wettbewerb behindernden Sozialstaates, aber auch unter dem Eindruck der zunehmenden Globalisierung, die ebenfalls Veränderungs- und Wettbewerbsdruck herbeiführt, sowie durch die erheblichen Erfordernisse nach der Wiedervereinigung, verändert sich die herrschende Interpretation des Gerechtigkeitsbegriffes und kommt dem klugen Satz des amerikanischen Philosophen John Rawls immer näher, der ein leitendes Prinzip der Gerechtigkeit formuliert. Er schreibt: „Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“55 Die im Grunde alte Frage der Schaffung gerechter Ausgangsbedingungen für alle Mitglieder der Gesellschaft – konzentriert in dem Wort der Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit – tritt wieder deutlicher in den Vordergrund. „Es geht“, wie Stefan Liebig und Meike May sagen, „nun um eine gerechte Verteilung von Chancen, also den Möglichkeiten, seine eigenen Lebenspläne zu verwirklichen. Dies umfasst nicht nur die materielle Absicherung oder einen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand, sondern vor allem auch den Zugang zu Bildung, Kultur und die Ermöglichung politischer Teilnahme“.56 Nach den konzeptionellen und empirischen Arbeiten von Wolfgang Merkel lässt sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit heute vor allem in fünf verschiedene Dimensionen ausdifferenzieren: die Vermeidung von Armut, der Zugang zu Bildung, die Inklusion in den Arbeitsmarkt, der soziale Zusammenhalt sowie die Generationengerechtigkeit.57
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„Logik des Kalten Buffets“, Spiegel 30/1998 v. 20.7.1998. Ebd. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, 1994, 83. S. Liebig/M. May, Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47 (2009), 3–14, 4. 57 W. Merkel, Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie 2 (2001), 135–157 ; ders., Soziale Gerechtigkeit im OECD-Vergleich, in: S. Empter/R. B. Vehrkamp (Hg.), Soziale Gerechtigkeit – eine Bestandsaufnahme, Gütersloh 2007, 233–257; ders./H. Giebler, Measuring Social Justice and Sustainable Governance in the OECD, in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Sustainable
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In den Programmen der Parteien findet nach der Wiedervereinigung, freilich in völlig unterschiedlicher Form, diese Veränderung des Gerechtigkeitsbegriffes einen deutlichen Niederschlag. Das betrifft gerade auch die letztgenannte Dimension von Wolfgang Merkel, die Generationengerechtigkeit. Spätestens mit dem Ende der 90er Jahre gehört sie zum politischen Sprachgebrauch. Der demografische Wandel, der in den neuen Ländern, beschleunigt durch Abwanderung, gleichsam im Zeitraffer zu betrachten ist, sich aber in ganz Deutschland vollzieht, und die sich abzeichnenden Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungssysteme werfen diese Frage immer brisanter auf. Auch dieser neue Terminus macht deutlich, dass die alte Frage der Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr alleine die dominante Dimension des Gerechtigkeitsbegriffes ist. Vielmehr können Verteilungs- und Generationengerechtigkeit sogar in einen Gegensatz geraten. Was heute gerecht erscheinen mag, beispielsweise der politische Satz der Rente als „gerechter Lohn für die Lebensleistung“, kann im Blick auf die Generationen zugespitzt als ungerecht und als Bereicherung der gegenwärtigen Rentnergeneration auf Kosten der kommenden Generationen erscheinen. Wenn die Behebung gegenwärtiger sozialer Missstände, die vordergründig zutiefst geboten erscheinen mag, jedoch die öffentlichen Haushalte unangemessen belastet, widerspräche auch das der Generationengerechtigkeit. Die Schuldenbremse, die in den deutschen Ländern eingeführt wurde und inzwischen auch als Lösungsmöglichkeit der Haushaltskrisen in den EU-Ländern gesehen wird, hat einen wichtigen Akzent für mehr Generationengerechtigkeit gesetzt. Die Sozialreformen des letzten Jahrzehnts haben zwar das Problem der Generationengerechtigkeit noch nicht wirklich einer Lösung fundamental nähergebracht und die Reformnotwendigkeit der Sozialversicherungssysteme bleibt auf der politischen Agenda. Aber zumindest eine der von Wolfgang Merkel aufgeworfenen Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit hat sich wirklich umfassend verbessert. Eine Kombination aus Sozialreformen, klugem politischen Agieren auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise und einer soliden Industrielandschaft sowie einer funktionierenden Sozialpartnerschaft hat Deutschland wieder nahe an die Grenze der Vollbeschäftigung gebracht und damit auch bewiesen, dass die Soziale Marktwirtschaft nach wie vor funktionsfähig ist. Dieser Erfolg, der aus „Europas krankem Mann“ (ein Titel des Economist in den neunziger Jahren) den „Motor Europas“ gemacht hat (ein Titel des Economist aus dem Jahr 2010), wirkt sich freilich auch auf die Frage aus, wie
Governance Indicators 2009, Policy Performance and Executive Capacity in the OECD, Gütersloh 2009, 187–215.
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Menschen im Osten und Westen unseres Landes die Zeit seit der deutschen Wiedervereinigung bewerten.58
Aktuelle Dimensionen des Gerechtigkeitsbegriffs Im September 2010 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Umfrage die Bewertung der letzten zwanzig Jahre seit der Wiedervereinigung und die Zukunftserwartungen erfragt.59 Die Aussagen zur Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten sind überwiegend, zum Teil sogar überraschend, positiv. Die Angleichung der Lebensverhältnisse, so sagen 53 Prozent aller Deutschen, ist in den letzten Jahren deutlich vorangekommen.60 56 Prozent der Menschen im Westen sind dieser Auffassung und 43 Prozent der Menschen im Osten. Dass es den Menschen nach der Wiedervereinigung materiell besser geht, glauben immerhin 47 Prozent der Menschen in den neuen Ländern und insgesamt in ganz Deutschland 58 Prozent der Befragten. Zufriedenheit überwiegt auch bei der Frage nach dem sozialen System, eine für die soziale Gerechtigkeit wichtige Dimension: Sehr oder wenigstens einigermaßen zufrieden sind rund 74 Prozent. Nur 25 Prozent der Befragten sind nicht zufrieden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Unzufriedenheit in den neuen Ländern mit 29 Prozent nur unwesentlich höher ist als die Zufriedenheit im Westen mit 24 Prozent. Ganz allgemein nach der Gerechtigkeit befragt, reagieren die Menschen häufig eher skeptisch. Dementsprechend hat Allensbach konstatiert, dass in ganz Deutschland rund 48 Prozent der Auffassung sind, dass die deutsche Gesellschaft ungerechter geworden ist.61 Auf die Frage, wie gerecht es in der deutschen Gesellschaftsordnung zugehe, haben bei der KAS-Umfrage rund 30 Prozent konstatiert, es gehe gerecht zu. „Teils, teils“ sagen 33 Prozent und „ungerecht“ sagen 36 Prozent.62 Es gehört aber zu den besonders spannenden Befunden, dass die Menschen wesentlich differenzierter auf diese Frage reagieren, wenn man fragt, wie gerecht oder ungerecht sie sich ganz persönlich behandelt fühlen: Hier äußern 65 Prozent die Einschätzung, zu einer Gruppe zu 58 „Europe’s engine“, Economist v. 11.3.2010; „The sick man of the euro“, Economist v. 3.6.1999. 59 Konrad-Adenauer-Stiftung, Wiedervereinigung, Anm. 53. 60 Ebd., 5. 61 Dazu auch: „Die gefühlte Ungerechtigkeit“, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.7.2008; sehr ausführlich sind außerdem die Ergebnisse von Allensbach zu diesem Themenkomplex; unter anderem zu lesen in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Soziale Gerechtigkeit 2007, Ergebnisse einer repräsentativen Bürgerumfrage, Gütersloh 2007. 62 Konrad-Adenauer-Stiftung, Wiedervereinigung, Anm. 53, 5f.
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gehören, die weder bevorzugt noch benachteiligt wird. Nur 17 Prozent fühlen sich persönlich eher benachteiligt und 16 Prozent eher bevorzugt. Wie weit die Einschätzung der persönlichen Lage sich in Ost und West bereits angeglichen hat, wird daran deutlich, dass sich auch hier die Befragten in den neuen und den alten Ländern nur minimal unterscheiden. Interessanterweise wirkt sich diese Einschätzung auch auf die Betrachtung der Rolle Deutschlands in Europa aus. 80 Prozent der Befragten meinen kurz vor dem Ausbruch der Eurokrise, dass Deutschland an Wichtigkeit in Europa gewonnen habe.63 79 Prozent gehen davon aus, dass die deutsche Politik in der EU einen großen Einfluss hat. Sogar 88 Prozent der Befragten meinen, dass sich Deutschland in den vergangenen 20 Jahren einen guten Ruf als verlässlicher und fairer Partner erworben hat. Dieses Fundament ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn eine Dimension kommt zu den fünf Dimensionen, die Wolfgang Merkel 64 definiert hat, noch hinzu: die überstaatliche, die europäische Dimension der sozialen Gerechtigkeit. Die gegenwärtige Krise in Europa bringt die Notwendigkeit mit sich, die Integration weiter zu vertiefen und so etwas wie eine gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftspolitik zu betreiben. Dies wirft die Frage auf, wie sich die Empfindung von Gerechtigkeit in diesen größeren europäischen Zusammenhängen, losgelöst vom nationalen Rahmen, darstellt? Sozialpolitik und soziale Sicherheit sind schon deutlicher europäisiert, als wir das auf den ersten Blick wahrnehmen: Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Familienleistungen, Rente und Sterbegeld – das sind Bereiche in denen EU-Regelungen europaweit Risiken abdecken.65 Die berufliche Mobilität, das Recht in anderen EULänder erwerbstätig zu sein, die Möglichkeit in anderen EU-Staaten Transferleistungen zu beziehen, und viele andere Beispiele zeigen sehr deutlich, dass die soziale Gerechtigkeit längst keine ausschließlich nationale Kategorie mehr ist. Wenn die Frage nach der Chancengerechtigkeit im europäischen Rahmen gestellt wird, kommt über kurz oder lang auch das Thema der europäischen Regionenförderung auf den Tisch! Wenn die bisherigen Indikatoren eine Förderung der neuen Länder als so genannte „Ziel-1-Gebiete“ jetzt nicht mehr rechtfertigen, wird zunehmend die Frage gestellt, ob dann die Indikatoren noch der richtige Maßstab sind. Wenn Förderung vor allem Hilfe zur Selbsthilfe 63 Ebd., 7f. 64 W. Merkel, alle Titel in Anm. 58. 65 Rat der Europäischen Gemeinschaften, Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, zitiert nach: J. Gerhards/H. Lengfeld, Europäisierung von Gerechtigkeit aus der Sicht der Bürger, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47 (2009), 22, Anm. 7.
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sein soll, dann stellt sich die Frage, ob nicht beispielsweise die demografische Entwicklung im jeweiligen Gebiet mit in Betracht gezogen werden sollte. Woher sollen Wachstumschancen und Entwicklungsperspektiven kommen, wenn die Menschen fehlen, die diese Impulse setzen sollen. Hier begegnen sich die Generationengerechtigkeit und die Gerechtigkeit im europäischen Rahmen. Auch wenn die Jahre seit der deutschen Wiedervereinigung, in denen viele fiskalische, sozialpolitische und wirtschaftspolitische Herausforderungen zu bewältigen waren, unter dem Strich in den deutschen Geschichtsbüchern mit einigem Abstand vermutlich als eine besonders erfolgreiche Epoche firmieren werden, die Gerechtigkeit bleibt – solange es Staatswesen und die Politik gibt – eine dauerhafte politische Aufgabe. In der globalisierten Wirtschaft nimmt die Chancengerechtigkeit dabei eine entscheidende Rolle ein. Erst zu Beginn des Jahres 2011 hat die OECD in ihren „Sustainable Governance Indicators“ deutlich gemacht, dass auch in Deutschland bei wichtigen Dimensionen der Gerechtigkeit erheblicher Handlungsbedarf besteht.66 Besonders wichtig, für die Chancen der Menschen im Osten wie im Westen unseres Landes, ist dabei die Frage des Bildungszugangs. Es kann uns kaum ruhen lassen, dass der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in Deutschland stark mit ihrem jeweiligen sozioökonomischen Hintergrund zusammenhängt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus einem sozial schwächeren Umfeld durch Bildung befähigt werden, am gesellschaftlichen Wohlstand teilzunehmen, ist in Deutschland geringer ausgeprägt ist als in anderen OECDStaaten. „Selbst der Gerechte wird ungerecht, wenn er selbstgerecht wird“,67 schreibt der deutsche Dichter Rudolf Hagelstange und spricht damit eine schöne Maxime nicht nur für den persönlichen Umgang der Menschen miteinander aus, sondern gibt damit zugleich eine politische Handlungsanleitung. Die soziale Gerechtigkeit, das „Wieselwort“ Hayeks, mag eine schwierige Kategorie sein und in der Gefahr der politischen Instrumentalisierung stehen. Und doch ist gerade für die Christliche Demokratie, die den Menschen mit seiner unantastbaren Würde in den Mittelpunkt stellt, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit auch in Zukunft eine leitende Kategorie.
66 Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland? Sustainable Governance Indicators 2011, Gütersloh 2010, 6ff. 67 Zitiert nach: www.wikiquote.de, Eintrag zur Gerechtigkeit.
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Exkurs: Wie „gleich“ waren die Menschen in der DDR? Kritische Anmerkungen zur „Sozialisationshypothese“ Seit der deutschen Wiedervereinigung werden in kaum noch zu überschauender Menge sozial- und politikwissenschaftliche Untersuchungen zu unterschiedlichsten Fragestellungen bei wirklichen oder vermeintlichen Ost- und Westunterschieden angestellt. Fragen der Gerechtigkeit gehören ganz wesentlich dazu.68 Es fällt auf, dass signifikante Unterschiede in den Gerechtigkeitswahrnehmungen zwischen Ost- und Westdeutschen entsprechend der Sozialisationshypothese überwiegend auf die Prägungen der Ostdeutschen im politischen System der ehemaligen DDR zurückgeführt werden. Dabei wird im Grunde genommen vorausgesetzt, dass der Anspruch der SED, mit Hilfe gewaltsamer und subtiler Methoden die gesellschaftlichen Schichtungen der DDR-Gesellschaft zu nivellieren, gleichsam die „Schaffung des neuen Menschen“ voranzutreiben, tatsächlich umgesetzt worden sei. Wolfgang Engler69, ehemaliger Dozent einer ostdeutschen Schauspielakademie, übernahm in Anlehnung an Norbert Elias’ Unterscheidung70 in diesem Zusammenhang den Begriff der „arbeiterlichen“ Gesellschaft zur Charakterisierung der DDR-Bevölkerung. Aber völlig zu Recht fragt Cornelia Rauh: „War die Gesellschaft der DDR mental tatsächlich jene ‚arbeiterliche‘ Gesellschaft, ... in welcher die ‚Werktätigen‘ das ‚soziale und kulturelle Zepter‘ in Händen hielten? Eine Gesellschaft, in der ‚jeder Hilfsarbeiter ... höheres gesellschaftliches Ansehen‘ genoss und ‚mehr Selbstbewusstsein besaß‘ als ein Angehöriger der wissenschaftlichen Intelligenz? Trifft es zu, dass in dieser Gesellschaft jeder in etwa fühlte und dachte wie die anderen und alle denselben Geschmack pflegten? Eine Gesellschaft, in der sich Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten nach den Normen und Idealen einer körperlich arbeitenden, jedem verfeinerten Genuss abholden Klasse richteten?“71 Rauh gesteht Engler zwar zu, dieser habe möglicherweise „den dominanten Zug der Mentalität der DDR-Gesellschaft getroffen“. Jedoch konstatiert sie eindeutig: „Aber der sozialen Realität der DDR wird der Begriff der ‚arbeiterlichen Gesellschaft‘ 68 Im vorliegenden Band setzen sich insbesondere H.-J. Veen, T. Faas und G. Pickel kritisch mit einigen Haupttendenzen und Ergebnissen dieser Diskurse auseinander, weshalb hier an dieser Stelle auf eine entsprechende Zusammenfassung verzichtet werden kann. 69 W. Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 2000 (2. Auflage), 234–254. 70 Gemeint ist Norbert Elias’ Unterscheidung zwischen höfischer, bürgerlicher und arbeiterlicher Gesellschaft. 71 C. Rauh, Bürgerliche Kontinuitäten? Ein Vergleich deutsch-deutscher Selbstbilder und Realitäten seit 1945, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), 341–362, 353f.
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nicht gerecht. Denn er verdeckt sowohl soziale wie kulturelle ‚Relikte des alten Bürgertums‘ n der DDR-Gesellschaft als auch vor allem jene von der neueren sozialempirischen Forschung nachgewiesene Privilegierung der ‚sozialistischen Dienstklasse‘ gegenüber der Arbeiterklasse, die zahlenmäßig den weit überwiegenden Teil der DDR ausmachte.“72 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Engler selbst auf SEDinterne empirische Untersuchungen verweist, die bis zum Ende der DDR nie veröffentlicht wurden und in denen u.a. von deutlichen Anzeichen sozialer Ungleichheit und Privilegierung einer „neuen Intelligenz“ die Rede war. Weiterhin ist beispielsweise von einer „Kontinuität des Bürgertums als Sozialformation bis in die 60er Jahre“ 73 auszugehen, „weil weder die Sowjetische Militäradministration noch die SED beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft auf die alten Eliten vollständig verzichten wollten.“ 74 Dies traf offenkundig auch auf Angehörige die Wirtschaftselite zu.75 Gerade im Hinblick auf die „Intelligenzpolitik“ der SED müssten unterschiedliche Phasen und Tendenzen viel mehr in den Blick genommen werden. In Anbetracht der massenhaften Flucht- und Abwanderungsbewegungen insbesondere bei der Intelligenz sah sich die SED gezwungen, auch – jedenfalls im Rahmen der sonst üblichen DDR-Verhältnisse – besonders lukrative Arbeitsbedingungen über so genannte „Einzelverträge“ für Teile dieser Schicht zu schaffen. In diesen Kontext gehört auch das gezielte Wiederauflebenlassen vormals abgeschaffter, „bürgerlicher“ Titel, insbesondere bei den Medizinern: Seit Beginn der 1960er Jahre gab es wieder den „Sanitätsrat“, „Medizinalrat“ oder gar „Obermedizinalrat“.76 Jenseits auch von allen Kuriositäten dieses spezifi72 Ebd., 354. 73 Gemeint sind die 1960er Jahre. 74 C. Rauh, Bürgerliche Kontinuitäten?, Anm. 72, 354 verweist auf folgende Untersuchungen: O. Kappelt, Die Entnazifizierung in der SBZ sowie die Rolle und der Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR als ein soziologisches Phänomen, Hamburg 1997; D. van Melis, Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern: Herrschaft und Verwaltung 1945–1948, München 1999; D. Niemetz, Das feldgraue Erbe: Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR (1948/9–1989), Berlin 2006; H. Welsh, Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945– 1948), München 1989. 75 G. Wagner-Kyora, Loyalität auf Zeit – Zur Identität der Management-Elite der DDRChemieindustrie in den fünfziger Jahren, in: P. Hübner (Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999. Für das ehemalige IGFarben-Werk, die Buna-Werke in Schkopau, wurde festgestellt, dass in den 1950er Jahren 80 Prozent (!) des ehemaligen Leitungspersonals weiter in diesem Betrieb tätig war. 76 C. Rauh, Bürgerliche Kontinuitäten?, Anm. 72 verweist auf die Untersuchung von A.-S. Ernst, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945–1961, München/Berlin 1997.
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schen Titelbarocks bleibt zu bedenken, in welchem Maße derartige Maßnahmen und gesellschaftliche Wirklichkeiten zu partieller Nobilitierung und Privilegierung beitrugen. Für die Betrachtung von „Gerechtigkeitsvorstellungen“ bei der ehemaligen DDR-Bevölkerung kann dies nicht außer Betracht bleiben!77 Es ist an dieser Stelle nicht die Gelegenheit, die einzelnen Entwicklungstendenzen der DDR-Sozialgeschichte darzulegen. Aber festzuhalten bleibt, dass bei der DDR-Bevölkerung mitnichten von einer homogenen, egalitären Kohorte auszugehen ist. So wie die ehemalige „bürgerliche“ Intelligenz, insbesondere deren Kinder, in den frühen Jahren der DDR in den meisten Fällen ganz bewusst und gezielt benachteiligt wurden in Bezug auf Bildungschancen etc., so muss gleichzeitig davon ausgegangen werden, dass es schon seit den 1960er Jahren eine deutliche Tendenz gab, dass „echte“ Arbeiterkinder immer weniger zur „führenden“ Klasse der Gesellschaft gehörten. Mit Verweis auf die SED-interne Studie konstatiert Cornelia Rauh: „Sie wies nach, dass Unterschiede der Bildung und fachlichen Qualifikation auch im Laufe des Berufslebens der DDR-Bürger nicht etwa geringer wurden, sich vielmehr fortwährend verstärkten und außerbetrieblich fortpflanzten. Das – fast ausschließlich männliche – betriebliche Leitungspersonal wohnte besser als die Masse der Arbeiter, war besser mit Bildungsgütern wie Büchern oder Musikinstrumenten ausgestattet, lebte meist in häuslicher Gemeinschaft mit einer meist nur halbtags werktätigen Frau; sie konnte sich um die Kinder kümmern – im Unterschied zu den meisten Arbeiterfrauen.“ „Die Formierung und Abschottung jener nur höchstens zur Hälfte aus der Arbeiterund Bauernklasse aufgestiegenen ‚neuen Intelligenz‘ verdeutlicht, dass die Elitenrekrutierung im ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘ andere Wege ging als ideologisch vorgezeichnet. Auch überdauerte zumindest Bürgerlichkeit als milieuspezifisches Kulturmuster den Bau der Mauer.“ 78 Bei den zwischen 1959 und 1961 Geborenen, deren Eltern zur sozialistischen Dienstklasse gehörten, hatten sich die Chancen, selbst zur Dienstklasse aufzusteigen, gegenüber den zwischen 1929 und 1961 Geborenen verdoppelt, während diese bei den „echten“ Arbeiterkindern stagnierten!
77 Auf die von der SED gezielt vorgenommenen Differenzierungen bei er so genannten „Entnazifizierung“ verweist auch: H. Siegerist, Wie bürgerlich war die Bundesrepublik, wie entbürgerlicht die DDR? Verbürgerlichung in historischer Perspektive, in: H. G. Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, 207–244, insbesondere 235. 78 Ebd., 359.
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Historische Voraussetzungen des Sozialstaats in Deutschland (2002) Was der Sozialstaat ist, wie er ökonomisch, politisch und verwaltungstechnisch funktioniert, das erfährt man, wenn man seine Normen studiert und sich in seine Praxis vertieft. Unter welchen Umständen er entstand, darüber hat die Forschung anlässlich verschiedener Gedenkanlässe1 in den achtziger Jahren und später Bemerkenswertes zutage gefördert – erinnert sei nur stellvertretend für viele an die Namen Hockerts, G. A. Ritter, Stolleis und Zacher.2 Dabei wurde sichtbar, dass der Sozialstaat auf spezifischen historischen Voraussetzungen beruht, die sein Entstehen und Existieren ermöglicht haben – eine Tatsache, die uns heute, in einer kritischen Situation der sozialen Sicherungssysteme, deutlicher bewusst wird als in früheren Zeiten. Von diesen „historischen Voraussetzungen des Sozialstaats in Deutschland“ will ich heute Abend zu Ihnen sprechen – und ich bedanke mich herzlich für die Einladung nach Karlsruhe aus dem noblen Anlass des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts und der Juristischen Studiengesellschaft. Wenn ich im Folgenden von Sozialstaat rede, so verwende ich das Wort nicht im engeren, auf das Grundgesetz bezogenen Sinn, sondern in einem weiteren Verständnis, das bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückreicht.3 1 M. Stolleis, Hundert Jahre Sozialversicherung in Deutschland: Rechtsgeschichtliche Entwicklung, in: Zeitschrift für die Gesamte Versicherungswissenschaft 1980, 155–175; N. Blüm/H. F. Zacher (Hg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1989. 2 H. G. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart 1980; ders., Die historische Perspektive – Entwicklung und Gestalt des modernen Sozialstaats in Europa, in: Sozialstaat – Idee und Entwicklung. Reformzwänge und Reformziele (Veröff. der Walter-Raymond-Stiftung 35), Köln 1996, 27–48; G.A. Ritter, Entstehung und Entwicklung des Sozialstaates in vergleichender Perspektive, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 1–90; ders., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989; ders., Bismarck und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung, Pforzheim 1998; M. Stolleis, Historische Grundlagen – Sozialpolitik in Deutschland bis 1945, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. I, Baden-Baden 2001,199–332; H. F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980; ders., Abhandlungen zum Sozialrecht, Heidelberg 1993; ders., Grundlagen der Sozialpolitik (= Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv, Band I), Baden-Baden 2001. 3 Vom „socialen Staat“ sprach bereits L. von Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaften in Deutschland, Stuttgart 1876, 215.
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Damals entstanden in Deutschland die Systeme der Sozialversicherung für Krankheit (1883), Unfall (1884), Alter und Invalidität (1889). Sie wurden im Lauf von mehr als hundert Jahren ergänzt durch eine Arbeitslosenversicherung (1927) und zuletzt durch eine Pflegeversicherung (1995). Auf diesen fünf Säulen ruht bis heute der deutsche Sozialstaat. Historisch war er, um mit G. A. Ritter zu sprechen, „eine Antwort auf den steigenden Bedarf nach Regulierung der im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung immer komplizierter gewordenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auf die geringere Bedeutung der traditionellen Formen der Daseinsvorsorge vor allem in der Familie und auf die Zuspitzung von Klassengegensätzen. Sein Ziel ist es, durch Gewährung von sozialer Sicherheit, vermehrter Gleichheit und politisch-sozialer Mitbestimmung die Bevölkerung zu integrieren und die bestehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme durch einen Prozess ständiger Anpassung gleichzeitig zu stabilisieren und evolutionär zu verändern.“4 Daraus ergibt sich der Aufbau dessen, was ich Ihnen hier vortragen will. Ich skizziere zunächst in knappen Strichen das in Deutschland entwickelte Modell des Sozialstaats (I). Dann versuche ich seine historischen Voraussetzungen nach vier Richtungen hin zu verdeutlichen: Religion, Recht, Staat, Wirtschaft (II). Das führt zu der Frage, inwieweit jene Voraussetzungen, ohne die sich der moderne Sozialstaat kaum durchgesetzt hätte, auch heute noch gegeben sind. Ist der gegenwärtige Sozialstaat noch etwas Lebendiges, steht er noch in einer Kontinuität mit seinen Anfängen? Oder haben sich seine Energien im Lauf der Zeit erschöpft und verflüchtigt, leben wir, was das Soziale angeht, heute vom Duft einer leeren Flasche? (III).
I. Soziale Sicherung in Deutschland Das deutsche Modell sozialer Sicherung trat nicht mit einem Schlag ins Leben. Es entstand aus Bruchstücken. Seine innere Logik entfaltete sich in einer Spanne von rund 120 Jahren, an deren Anfang die Krankenversicherung, an deren Ende die Pflegeversicherung steht. Was sich im Rückblick zeigt, ist ein riesiger sozialer Konversionsprozess von modellhaftem Zuschnitt. Naturhafte Lebensrisiken – des Bauern, Bürgers, Arbeiters – und ihre Bewältigung durch spezifische Techniken und Verhaltensweisen wurden auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene verlagert, sie wurden pauschaliert und generalisiert.5 Das entsprach dem Bewegungsrhythmus der 4 G. A. Ritter. Entstehung, Anm. 2, 9f. 5 Ansätze zur begrifflichen Analyse dieses Vorgangs bei E. Michel, Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, ihrer Krisenformen und Gestaltungsversuche, Frankfurt 1953
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Industriegesellschaft, die das Individuum aus ständischen, zünftischen und familialen „Einschlüssen“ gelöst hatte. Verhältnisse zwischen Personen wurden auf den Austausch von Leistung und Lohn, auf das „abstrakte Recht“ und den „Vertrag“ (Hegel) konzentriert und reduziert. Die Neben- und Folgekosten der Arbeit wurden ausgegliedert aus dem Produktionssystem. Dadurch entstanden gesellschaftliche Verwerfungen von gefährlicher Sprengkraft. Wer war nun verantwortlich, wer sprang ein, wenn Unfälle, Krankheiten, Invalidität, Arbeitslosigkeit und endlich Alter den einzelnen trafen, ihn u.U. in die Isolierung trieben, ihn schutz- und hilflos machten? Genossenschaftliche und gewerkschaftliche Organisationen waren als Widerpart zu schwach (ganz abgesehen davon, dass sie in der Zeit der Frühindustrialisierung in ganz Europa erheblichen Restriktionen unterlagen!). Und auch der einzelne Betrieb als „Verursacher“ war mit den – wie es schien – unvermeidlichen Nebenfolgen industriellen Produzierens (von Umweltemissionen bis zu unfallträchtigen Arbeitsabläufen) schlicht überfordert: Sozialer Paternalismus von Unternehmern – den es durchaus gab! – konnte, aufs Ganze gesehen, keine ernsthafte, wirksame Alternative sein. So war der Staat gefordert, und er trat denn auch mit Nachdruck in die entstandenen Leerräume ein,6 unbekümmert um liberale Warnungen vor einem drohenden „Staatssozialismus“ (Bismarck plädierte schon 1880 für einen „mäßigen, vernünftigen Staatssozialismus“!). Staatlicher Zwang machte die Sozialversicherung zu einem allgemein verpflichtenden Unternehmen. Staatliche Zuschüsse sicherten die Lebensfähigkeit des neuen (3. Auflage), bei E.J. Evans (ed.), Social Policy, 1830–1914: Individualism, Collectivism and the Origins of the Welfare State, London 1978, bei D. E. Ashford und E. W. Kelley (ed.), Nationalizing Social Security in Europe and America, Greenwich, Conn./London 1986 sowie bei R. Castel, Les métamorphoses de la question sociale, Paris 1995 (dt. u. d. Tit. Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000). 6 Klassisch zur Entstehung des Sozialstaats aus der Bemühung um Korrektur sozialer Gefährdungen und die sich dabei ergebenden „internalisierenden“ und „externalisierenden“ Lösungen im Recht: H. F. Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Zacher, Abhandlungen, Anm. 2, 257–278. Den Übergang von den internalisierenden Lösungen, bei denen der soziale Zweck des Rechts in einen größeren Zusammenhang eingebettet bleibt, zur ausdrücklichen „Externalisierung“ und zum „Sozialrecht“ im strikten Sinn des Wortes beschreibt Zacher so: „Wo aber Funktionsausfälle, die in den Grundeinheiten Arbeit/ Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt auftreten, sowie Missverhältnisse zwischen Bedarfen, Einkommen und Unterhalt nur in der Weise zulänglich kompensiert und korrigiert werden können, dass Einkommen und Unterhalt vom Gemeinwesen ersetzt oder ergänzt werden oder dass Bedarfe durch öffentliche Leistungen unmittelbar nach sozialen Kriterien befriedigt werden, wird eine Schwelle von sehr grundsätzlicher Bedeutung überschritten. Die Problemlösung wird auf allgemeine (Staat, Gemeinden usw.) oder spezifische (z.B. Sozialversicherungsträger) Sozialverbände hin externalisiert. Sie übernehmen den Ausgleich der Defizite. Dies ist der Raum der Sozialleistungssysteme und somit des Sozialleistungsrechts ...“ (a. a. O. 261f.).
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Systems, das seine Bewährungsprobe bald bestand. Andererseits enthielt das neue System auch Elemente der Selbstverwaltung: Sie boten ein willkommenes Gegengewicht zum öffentlich-rechtlichen Zwang, wenn sie auch nur noch partiell (so in Teilen der Krankenversicherung) an ältere Traditionen anknüpfen konnten. So entstand eine ausgedehnte und differenzierte „neue Welt“ öffentlich garantierter Sicherungen und Versicherungen, ein System staatlich arrangierter und koordinierter Leistungen und Gegenleistungen, eine kollektive Organisation bisher versprengter Einzelinteressen und zugleich – weit in die Zukunft hineinwirkend – ein Zeitverbund der Generationen. Erstaunlich genug, dass die Sozialversicherung zwei Weltkriege und drei Staatsformen überlebte und sich als das beständigste Element der jüngeren deutschen Geschichte erwiesen hat. Nicht dass ältere Methoden der Lebenssicherung im Zug jener Reformen gänzlich verschwunden wären! Der Grundbesitz des Adels, die bescheidene, doch oft lebenssichernde Hof-Autarkie der Bauern, die Vermögensbildung bei Bürgern und Dienstständen – das alles bestand natürlich weiter. Ebenso fiel die ergänzende, lückenfüllende Tätigkeit von Vereinen, Genossenschaften, wohltätigen Stiftungen nach wie vor ins Gewicht (nur die alte diskriminierende Armenhilfe, deren Inanspruchnahme u.a. den Verlust des Wahlrechts zur Folge hatte, rückte nun zu Recht an den Rand!). Zahlreiche ständische und berufsständische Differenzierungen existierten weiter, einige dauern bis zur Gegenwart: Man denke nur an die noch heute bestehende Vielfalt der Alterssicherung, die von der Rentenversicherung, der Versorgung der Beamten, der landwirtschaftlichen Alterssicherung, der berufsständischen Sicherung der freien Berufe bis zu Formen der Privatversicherung und Vermögensbildung und bis zur Sozialhilfe reicht. Das System sozialer Sicherung in Deutschland war eine Mischung unterschiedlicher, oft disparater Elemente.7 Kühnen Fortschritten auf der einen Seite standen Defizite auf der anderen gegenüber (längere Zeit vor allem im Arbeiterschutz!).8 Die weltweit erste Organisation einer staatlich garantierten Sicherung der arbeitenden Bevölkerung war keine allgemeine Staatsbürgerversorgung; das System wuchs aus der sozialen Sicherung der Arbeiter (später 7 Zum Folgenden: E. Pankoke, Sociale Bewegung – Sociale Frage – Sociale Politik. Grundfragen der Deutschen „Socialwissenschaft“ im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970; F. Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, in: Zeitschrift für Sozialreform 27 (1981), 663–710; G. A. Ritter, Sozialpolitik im Zeitalter Bismarcks. Ein Bericht über neue Quelleneditionen und neue Literatur, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), 683–720; H. Grebing u. a. (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Essen 2000. 8 Jüngste Bilanz: U. Sellier, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1998 (dort speziell zum Widerstand Bismarcks 117ff., 139ff.).
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Arbeitnehmer) hervor; man konzentrierte sich auf die Sozialversicherung; maßgebend war das Modell eines von der Jugend bis ins Alter (damals 70 Jahre!) voll erwerbstätigen Arbeiters; die ungenügende Berücksichtigung der Frauen nahm man in Kauf. Die Gesetzgebung der Weimarer Republik, vor allem aber der Zeit nach 1949 beseitigte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und weitete das Leistungsspektrum aus. Mit der Rentenreform von 1956/57 betrat der Gesetzgeber sozialpolitisches Neuland.9 Hatten die Bismarck’schen Reformen den Armen und Almosenempfänger durch den Rentner ersetzt und einen rechtlichen Anspruch der Versicherten geschaffen, so wurden mit dem Modell der dynamischen Rente die Rentner am Produktivitätsfortschritt der Wirtschaft beteiligt. Sie sollten nicht mehr mit dem abgefunden werden, „was übrigbleibt“. Damit bewegte sich die Sozialversicherung ein Stück weit auf die – in den Anfängen eher distanziert gesehene – Wirtschaft zu.10 Auch die sozialrechtliche Generationensolidarität, die Bindung von Leistungen in Gegenwart und Zukunft, die Verantwortung von Jung und Alt füreinander – dies alles gewann neues Gewicht. Neben den Gedanken der sozialen Sicherung trat der Gedanke des „Generationenvertrags“. Um das Bundesverfassungsgericht zu zitieren (BVerfGE 53, 257, 292): „Es ist zu einem wesentlichen Teil die im Berufsleben stehende Generation, welche die Mittel für die Erfüllung der Ansprüche der älteren Generation aufzubringen hat und die ihrerseits von der folgenden Generation das Gleiche erwartet.“
II. Historische Voraussetzungen Ein so umfassendes, ebenso widerstandskräftiges wie entwicklungsfähiges System verdankt sich nicht nur aktuellen Krisenlagen und nachfolgenden politischen Entscheidungen. Es ist auch nicht ausschließlich eine Schöpfung einzelner „großer Männer“. Bismarck und seine Mit- und Gegenspieler Hermann Wagener und Theodor Lohmann sowie die beteiligten Parlamentarier waren an den einzelnen Teilen der Reform nicht gleichmäßig interessiert und verbanden mit dem Gesetzgebungswerk verschiedene und gegensätzliche Erwartungen.11 Wenn das Ergebnis der komplizierten Prozeduren am Ende doch stimmig wirkte, ja Späteren wie ein geschlossenes Ganzes vorkam, so nicht nur deswegen, weil es allgemein bejahten Notwendigkeiten entsprach und den politi9 H.G. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen, Anm. 2, 320–425. 10 Zum Grundsätzlichen vgl. Chr. Watrin, Ordnungspolitische Aspekte des Sozialstaates, in: Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft (Schriften des Vereins für Socialpolitik NF 92 (1977), 963–985); H. F. Zacher, Sozialrecht und soziale Marktwirtschaft, in: Zacher, Abhandlungen, Anm. 2, 166–208. 11 Einzelheiten bei G.A. Ritter, Bismarck, Anm. 7, 18–34.
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schen Nerv der Zeit traf. Stärker noch fiel ins Gewicht, dass es auf geeignete historische Voraussetzungen stieß, dass es Potentiale mobilisierte, die sich als wirksam und geschichtskräftig erwiesen. Zu erinnern ist hier an verschiedene Überlieferungen, an christliche und naturrechtliche Gebote, an die alte Auffassung des Monarchen als „Amtmann Gottes“, an die Tradition der Wohlfahrtssorge im Rahmen der „guten Policey“, aber auch an charakteristische Elemente „vorliberaler Staatlichkeit“ (Stolleis), die ihren Niederschlag in den Rechts- und Staatswissenschaften der Zeit fanden. Davon wird nun im zweiten Teil zu sprechen sein.
1. Religion An christliche Verantwortung gegenüber dem in Not geratenen Nächsten ist im Zusammenhang des Reformwerks oft erinnert worden, so schon in der „Kaiserlichen Botschaft“ von 1881, aber auch in parlamentarischen Einlassungen und publizistischen Äußerungen der Zeit.12 Man mag vieles als rhetorisches Rankenwerk abtun. Ich meine dennoch, dass es für den Gang der Dinge seine Bedeutung hatte. Wir fassen hier den allgemeinsten Rahmen des Denkens und Verhaltens, der die öffentlichen Debatten bestimmte – einen Rahmen, der weiter war als die speziellen Erörterungen der Juristen, Politiker und Ökonomen. Es ging letzten Endes um die Wahrnehmung des Leidens von Einzelnen und von Gruppen, um mitmenschliche Solidarität – Eigenschaften, für die in der westlichen Überlieferung das Symbol des Kreuzes und das Wort Nächstenliebe stehen. Und speziell im bismarckschen Deutschland waren leitend ein lutherisches Lebens- und Arbeitsethos als breites Fundament – und aus ihm aufsteigend konkrete Initiativen, die oft genug von kirchlichen Minderheiten (Pietisten, Altorthodoxen, Erweckten) ausgingen.13 Hinter den vielfältigen protestantischen Aktivitäten auf sozialem Feld stand keine geschlossene Soziallehre als Handlungsanleitung, wie sie das katholische Deutschland seit der Erneuerung des scholastischen Denkens Mitte des 19. Jahrhunderts besaß. Verglichen mit den Katholiken, die im Kaiserreich zu
12 Tennstedt, Vorgeschichte (Anm. 7); Grebing, Geschichte, Anm. 7, 599, 867ff. 13 W. O. Shanahan, Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage 1815–1871, München 1962; E. Beyreuther, Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 1983 (3. Auflage); R. vom Bruch (Hg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985; U. Gäbler, „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts, München 1991.
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solidarischem Handeln gezwungen waren14 – befanden sie sich doch in einer ausgesprochenen Minoritäts- und Defensivposition –, verhielt sich die protestantische Mehrheit gegenüber der sozialen Frage eher passiv und überließ Reforminitiativen gern dem Staat. Die sozial interessierten und engagierten Minderheiten innerhalb der Mehrheit gingen eigene Wege, sie versuchten den Forderungen der Zeit unmittelbar gerecht zu werden – und gerieten dabei oft an Zäune und Gräben theologischer Lehren und kirchlicher Gewohnheiten. Protestantische soziale Initiativen im 19. Jahrhundert waren durch ein hohes Maß an Geschichtsnähe, durch die Beziehung zu einer konkreten „Not“, durch individuelle Formen und Vorgehensweisen gekennzeichnet. Doch sie hatten Schwierigkeiten, breitere institutionelle Geltung im Rahmen der Kirche zu erlangen – ich erinnere nur an den Theologenstreit um die Diakonissen!15 – und blieben am Ende überwiegend das Werk von Einzelnen. Ein Vergleich mag das zeigen. Ketteler, Hitze und später Sonnenschein waren gewiss starke Figuren von persönlicher Ausstrahlung – doch sie stehen zugleich für eine historischsoziale Bewegung, einen politisch-institutionellen Zusammenhang.16 Fliedner, Wichern, Raiffeisen, Bodelschwingh dagegen – um nur vier bedeutende protes14 H. Maier, Katholische Gesellschaftslehre und neuere deutsche Staatslehre, in: Archiv des öffentlichen Rechts 93 (1968), 1–36; ders., Zur Soziologie des deutschen Katholizismus 1803– 1950, in: Politik und Konfession. FS für K. Repgen, hg. von D. Albrecht u.a., Berlin 1983, 159–172; ders., Katholisch-protestantische Ungleichgewichte in Deutschland. Ein Vorspiel zum Kulturkampf, in: Staat und Parteien. FS für R. Morsey, hg. von K. D. Bracher u. a., Berlin 1992, 275–282. 15 Friederike und Theodor Fliedner wollten mit ihnen eine altchristliche Tradition erneuern, handelten sich aber bei nicht wenigen Protestanten den Vorwurf ein, sie schmuggelten eine römische Einrichtung in die Evangelische Kirche ein; vgl. A. Sticker, Friederike Fliedner und die Anfänge der Frauendiakonie. Ein Quellenbuch, Neukirchen-Vluyn 1963 (2. Auflage); R. Felgentreff, Das Diakoniewerk Kaiserswerth 1836–1998, Düsseldorf-Kaiserswerth 1998. 16 Für die Anfänge bis 1848 noch immer unentbehrlich: F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. IV: Die religiösen Kräfte, Freiburg 1951 (2. Auflage), 3–276 (Der Katholizismus); für die folgende Zeit C. Bauer, Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt am Main 1964; H. Hürten, Kleine Geschichte des deutschen Katholizismus 1800–1945, Paderborn 1992. Zum Volksverein: H. Heitzer, Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1890–1918, Mainz 1979, und G. Klein, Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890–1933, Paderborn 1996. Inhaltlich ist das Corpus der katholischen Soziallehre präsent in: E. Welty (Hg.), Herders Sozialkatechismus, 3 Bde., Freiburg 1952–1958; A. Utz und B. Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, 4 Bde., Aachen 1976; P. R. Iannarone OP (Hg.), Grandi Encicliche Sociali, Neapel 1983 (8. Auflage); B. Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn 1992 (2. Auflage). Die internationale Dimension ist angedeutet in dem Band von J. N. Moody (Hg.), Church and Society. Catholic Social and Political Thought and Movements 1789–1950, New York 1953.
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tantische Gründerfiguren zu nennen – stehen am Ende vor allem für sich; sie sind schöpferische Figuren von eigener Prägung, aber ihre kirchliche Wirkung ist begrenzt.17 „Von unten“ vermochte der deutsche Protestantismus im 19. Jahrhundert kaum aus den alten Formen der familial, kommunal und regional geprägten Armenfürsorge herauszukommen. Zivilgesellschaftliche Zwischenwege – einen „sozialen Protestantismus“ also – gab es nicht.18 So waren alle Weichen auf den Staat gestellt – und in der Tat flossen in die Sozialpolitik, die sich dort formte, beachtliche Energien eines evangelischen Arbeits- und Sozialethos ein. Dies alles freilich nicht lehrhaft und systematisch, sondern eher willkürlich und zufällig – vieles erinnert an Bismarcks höchstpersönlichen eigenwilligen Umgang mit den Losungen der Brüdergemeine. Die protestantischen Initiativen fanden insbesondere in Preußen einen Staat vor, der vieles aus reformatorischen Traditionen in sein eigenes Selbstverständnis aufgenommen hatte. Es war zwar kein „christlicher Staat“ im Sinne Stahls, wohl aber – nach dem treffenden Wort Kurt von Raumers – ein „gleichsam um die Kirche bereicherte(r)“ Staat.19 Hier konnten Ideen einer Verwaltung als geistig-geistliche Aufgabe, eines Fürsten als „Amtmann Gottes“ gedeihen. Hier war das geistliche Regiment noch eine die Öffentlichkeit bestimmende Größe. Der lutherische deutsche Territorialstaat hatte den Machtzuwachs, den er durch die Einziehung des Kirchenguts und die Lostrennung von der römischen Jurisdiktion erfuhr, bewusst durch eine ethische Politik zu vergelten versucht. Der Ausbruch aus dem christlichen Staatsgefüge in die Ungebundenheit moderner Machtpolitik und reiner Staatsräson hat sich daher in Deutschland erst verhältnismäßig spät vollzogen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein beherrschte eine eigentümliche, für die deutsche Staatsentwicklung bedeutsame Konfiguration das Feld, die noch im 19. Jahrhundert – deutlich erkennbar etwa an der Sozial- und Bildungspolitik Preußens bis zu Bismarck – nachwirkte: Der christliche Erziehungs- und Wohlfahrtsgedanke; ein politisches Legat, das die
17 Schnabel, Deutsche Geschichte, Anm. 16, 421–492; Grebing, Geschichte, Anm. 7, 895– 921; vgl. ferner G. Brakelmann/ T. Jähnichen, Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1994; und R. Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831–1905). Eine Studie zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1997. Wichtige Hinweise auch bei H. Lehmann, Max Webers „Protestantische Ethik“, Göttingen 1996. 18 Dies die zentrale, kaum widerlegbare These des Buchs von Shanahan, Der deutsche Protestantismus, Anm. 13. 19 K. von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), 55–96 (83).
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dem Staate eingeordnete lutherische Kirche dem „Teutschen Fürstenstaat“ des 16.–18. Jahrhunderts mit auf den Weg gegeben hatte.20 Dieses Potential, so scheint mir, ist in den Sozialreformen der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein letztes Mal aktiviert und politisch genutzt worden – mit erheblichem Gewicht, ja im Ergebnis mit weltgeschichtlicher Wirkung. Gegenüber den zu wirtschaftlicher Weltmachtstellung aufgerückten anglikanisch und calvinistisch reformierten Völkern setzte das lutherische Deutschland mit der Sozialversicherung einen unverkennbaren Gegenakzent. Indirekt hat auch der deutsche Katholizismus dabei mitgewirkt, zumindest als Zünglein an der Waage; man denke an den Franckenstein’schen Kompromiss, der im Mai 1884 buchstäblich in letzter Minute die Mehrheit für die Unfallversicherungsvorlage garantierte.21 Im Ganzen sind die durch das Zentrum und durch katholische Gelehrte vermittelten Beiträge jedoch erst später in größerem Umfang wirksam geworden; in der Zeit der Weimarer Republik vor allem22 – und dann wiederum bei der Rentenreform von 1957.23
2. Recht In den Reformen der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurden nicht einfach überlieferte Rechtspositionen – der Arbeiter, der Unternehmer – gegeneinander abgegrenzt. Vielmehr wurde ein ganzer Lebensbereich – die industrielle Arbeitswelt – erstmals mit Mitteln des Rechts geformt und geordnet. Auf der einen Seite wurden aus Almosenempfängern Bürger, die mit Rechten ausgestattet waren. Auf der anderen Seite wurde die unternehmerische Verfügungsgewalt begrenzt, die Herrschaft des liberalen Privatrechts eingeschränkt. Auch der Staat war nach Einführung der Versicherungslösung ein anderer geworden: Er begnügte sich nicht mehr damit, erworbene Rechte seiner Bürger zu sichern 20 Einzelnachweise bei H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 1980 (2. Auflage), 92–190. 21 Ritter, Bismarck, Anm. 2, 20f. 22 Erinnert sei an Heinrich Brauns, Reichsarbeitsminister von 1920–1928, an Theodor Brauer und Adam Stegerwald sowie an die von Erzberger und Pesch ausgehende Bewegung des „Solidarismus“. „Wie die Mehrheit des sozialen Katholizismus und die Enzyklika Quadragesimo anno vertrat der Solidarismus den Gedanken der berufsständischen Gliederung als gestaltendes Prinzip einer umfassend konzipierten Sozialreform, die über das Arbeitsrecht und die Sozialversicherung hinaus alle gesellschaftlichen Bereiche neu gliedern ... sollte“ (G. Schulz, Bürgerliche Sozialreform in der Weimarer Republik, in: vom Bruch, Anm. 13, 181–217 [198f.]). 23 Der ihr zugrundeliegende Gedanke der „dynamischen Rente“ wurde entwickelt in der vom „Bund katholischer Unternehmer“ herausgegebenen Denkschrift von W. Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, Köln 1955.
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und sie im Übrigen „machen zu lassen“ (laisser faire), was sie wollten. Er nahm am wirtschaftlichen Geschehen teil, indem er erwünschte und lebenswichtige Leistungen ermöglichte – in Maßen schon ein regulierender und verteilender Staat der „Daseinsvorsorge“. War das allgemeine Rechtsverständnis auf diesen Wandel vorbereitet? Wiederum muss man antworten: in Deutschland mehr als anders wo.24 Das Soziale als Einschlag im Recht hatte alte Traditionen. Kreiste nicht schon das führende naturrechtliche System, das Deutschland hervorgebracht hat, Pufendorfs De Jure Naturae et Gentium (London 1672) – bis ins 18. Jahrhundert hinein in vielen Auflagen verbreitet – um den Begriff der socialitas, der mitmenschlichen Hilfs- und Ergänzungspflicht?25 Und stand nicht die deutsche Entwicklung zu Natur- und Menschenrechten – derartiges gibt es durchaus! – wegen ihrer Nähe zum Religionsrecht von Anfang an im Zeichen institutioneller, auf das Zusammenleben der Konfessionen gerichteter Fragestellungen?26 Auch in der Rezeption der westlichen Grundrechte stößt man von Anfang an auf jenen „vollen Tropfen demokratischen Öls“, in dem Ludwig Uhland in der Paulskirche das Auszeichnende und Typische deutscher Regierungsüberlieferungen erkennen wollte.27 Vom leider nicht realisierten Grundrechtskatalog der 24 So auch Stolleis, Anm. 2, 233–258, der im Arbeiterschutzrecht eine Fortsetzung der gefahrenabwehrenden „Polizei“ sieht. Zum Arbeitsrecht, das sich nach 1890 aus dem Bürgerlichen Recht herauszulösen begann und ein „sozialpolitisch motiviertes, mit dem Mittel staatlicher Intervention arbeitendes Sonderrecht“ wurde, ebd. 259–262. 25 In ausdrücklicher Ablehnung der hobbesschen Dichotomie von Eigenliebe und Gemeinschaftsbindung wird socialitas bei Pufendorf verstanden als „Zuordnung des Menschen zum anderen Menschen, womit Wohlwollen, Friede, Liebe und wechselseitige Verpflichtung verbunden sind“ (De Jure Naturae et Gentium II, 3, 15). Der Begriff socialitas ist eine Neuschöpfung Pufendorfs, knüpft jedoch an die Tradition der praktischen Philosophie an; vgl. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, München 1972, 92–96, 144–152. Die pacifica socialitas adversus alios gehört bei Pufendorf zu den absoluten Pflichten, die das Naturrecht statuiert. Von der Pflichtenseite her ist auch das kleinere Hauptwerk Pufendorfs De officio Hominis et Civis juxta Legem Naturalem Libri duo, London 1673, aufgebaut, in deutlicher Opposition zur Tendenz der neueren Naturrechtslehre (dt. jetzt zugänglich in der von H. Maier und M. Stolleis hg. Bibliothek des Deutschen Staatsdenkens, Bd. I: S. von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übersetzt von K. Luig, Frankfurt am Main 1994). 26 Umgekehrt ließen die Religionsfrieden Raum für individuelle Entscheidungen: so die Möglichkeit, gegen Bezahlung einer Nachsteuer auszuwandern (Augsburger Religionsfriede § 24) oder das exercitium religionis für andersgläubige Untertanen katholischer oder protestantischer Stände vom Normaljahr 1624 an im Westfälischen Frieden (IPO V § 31 u. 32). 27 D. Langewiesche/L. Uhland, Der Ruhm des Scheiterns, in: Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49, hg. von S. Freitag, München 1998, 11–22 (20).
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Paulskirche hat man sagen können, er habe, anders als seine westlichen Vorläufer, „in beachtlichem Maße auf Bevölkerungsanstieg und industrielle Revolution“ reagiert,28 führte er doch nicht nur die Assoziationsfreiheit und die flächendeckende Normierung kommunaler Selbstverwaltung ein, sondern erhob auch erstmals die kühne Forderung nach der „konstitutionellen Fabrik“ – ein Postulat, das freilich erst mit dem Betriebsratsgesetz von 1920 eingelöst wurde. Nicht zu reden von der passiven Sicherung der Pressefreiheit im Interesse ärmerer Schichten, von der geplanten Schulgeldfreiheit, von der Öffnung der Vereinigungsfreiheit für gewerkschaftliche Koalitionen und anderem mehr, mit dem die Abgeordneten der Paulskirche auf das wachsende Selbstbewusstsein der breiten Massen und die industrielle Revolution reagierten. Vor allem aber: In der wirtschaftlich engräumigen, lange Zeit ständisch gegliederten Welt des älteren deutschen Territorial- und Fürstenstaates hatte sich der Usus modernus Pandectarum nie in völliger Reinheit durchgesetzt.29 Vielmehr finden wir öffentliches und privates Recht in Stadt- und Landrechten und in Polizeiordnungen in einer (wenn auch verschieden gewichteten) Gemengelage: Polizeiordnungen regelten unbefangen zahlreiche Gegenstände des Privatrechts, oft in einem der akademischen Pandektenwissenschaft ganz entgegengesetzten Sinn, während die Stadtrechte öffentlich-rechtliche Bereiche in großem Maß mit einbezogen. Auch finden wir hier nicht einen Staat, der gegen den Willen der Beteiligten in eine intakte Sozialordnung eingreift; in vielen Fällen geht die Stützung bedrohter Lebensformen durch obrigkeitliche Gebote auf das Betreiben der Beteiligten, der Stände, Zünfte, Gemeinden selbst zurück. So hat Franz Wieacker das Verhältnis der Stadt- und Territorialrechte zu den Polizeiordnungen mit dem der bürgerlichen Privatrechtsordnung zu den aus ihr „ausgebrochenen“ Bereichen des modernen Arbeits-, Vertrags-, Wohnungsund Liegenschaftsrechts vergleichen können. „Das Schulrecht der Pandekten setzt im Großen und Ganzen ,Vertragsfreiheit‘ voraus; die örtlichen Regelungen sind voll von Preisbindungen, Taxen, Ablieferungs- und Anbietungspflichten, Produktionsbeschränkungen und Abschlusspflichten, vor allem im Bauernrecht.“30 Ähnlich hat Wilhelm Ebel gegenüber der herkömmlichen Überschätzung der gemeinrechtlichen Quellen auf die große Bedeutung der 28 J.-D. Kühne, Eine Verfassung für Deutschland, in: 1848. Revolution in Deutschland, hg. von Chr. Dipper und U. Speck, Frankfurt 1998, 355–365, sieht in den Frankfurter Grundrechten „einen deutschen Verfassungsliberalismus mit sozialer Dimension, der im Vergleich mit dem westlichen Ausland sozial bewusster und weniger individualistisch ist ... Sichtbar wird der spezifische Charakter der Frankfurter Grundrechte auch in der Entfesselung der Assoziation, die im Gegensatz zu den stärker individualistisch geprägten Vorstellungen Frankreichs gerade auf Einbindung des einzelnen zielte“ (359). 29 Hierzu H. Maier, Staats- und Verwaltungslehre, Anm. 20, 74–91. 30 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967 (2. Auflage), 110.
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Polizeiordnungen für das alltägliche Leben der Menschen und auf die außerordentliche Fülle des hier vorliegenden Gesetzgebungsmaterials aufmerksam gemacht. „Verwaltungsgesetze solchen Ausmaßes hat der Staat des 19./20. Jahrhunderts nicht wieder hervorgebracht.“31
3. Staat Wir berühren an dieser Stelle einen Typus von Staatlichkeit, in dessen Zentrum – übrigens nicht nur in Deutschland! – der Begriff der „guten Policey“ steht; ein breites Panorama staatlicher Tätigkeiten, das vom Ordnungsrecht bis zur Sittenpolizei, von Kleiderordnungen bis zu Marktordnungen, von Reglements für Wohnung, Verkehr, Nahrung bis zur Erziehungs-, Armen-, Krankenpolizei reicht.32 In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas 33 markiert „Policey“ – von gr. politeia, lt. politia – den Beginn systematischer Innenpolitik zu Anfang der Neuzeit. Policey geht über die mittelalterliche „Handhabung Friedens und Rechts“ hinaus in Richtung bewussten Friede-Schaffens, ausdrücklicher Rechtspolitik; sie knüpft an den Gedanken des „gemeinen Besten“ an und ist anschlussfähig für moderne Entwicklungs- und Vervollkommnungsideen. Während sich die Worte Politik (und Politiker!) in der Neuzeit immer mehr vom Normativen wegbewegen, immer mehr beschreibend, oft mit pejorativem Ton, gebraucht werden, behält Policey einen normativen Akzent – sei es im Anschluss an die aristotelische politeia, sei es in Nachwirkung christlicher Überlieferungen. So ist die cura promovendae salutis, die Sorge für das Heil des Menschen (und später für das Wohl des Bürgers) eine der Hauptaufgaben der Policey: in Deutschland bis tief ins 19. Jahrhundert hinein.34 Ungeachtet ihrer oft erhaltenden und sichernden Wirkung wird Policey in der Neuzeit von jenen Kräften vorangetrieben, die politisch handlungsfähig sind: in erster Linie von den Fürsten und Territorialstaaten, in zweiter Linie 31 W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Göttingen 1958 (2. Auflage), 62. 32 Maier, Staats- und Verwaltungslehre, Anm. 20, 71ff., 8ff. 33 Die europäischen Dimensionen der „Policey“ sind in den letzten Jahren vor allem durch P. Blickle und M. Stolleis in den Blick gerückt worden: P. Blickle (Hg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa, München 1996; ders., Kommunalismus, 2 Bde., München 2000; M. Stolleis (Hg.), Policey im Europa der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1996; ders. (Hg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1996ff. (mehrere Bände). 34 Fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch hat man in Deutschland an den wohlfahrtspolizeilichen Befugnissen des Staates festgehalten. Erst mit dem Kreuzbergurteil von 1882 trat eine Wendung ein; vgl. Maier, Anm. 20, 200ff., 228ff. Doch gilt auch hier das „tamen usque recurret“; denn mit dem Sozialstaat und seiner „Daseinsvorsorge“ kehrt der Staat des 20. Jahrhunderts in breitem Umfang zur klassischen Wohlfahrtsförderung zurück.
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auch von kommunalen, bürgerlichen und bäuerlichen Kräften.35 (Der Adel tritt generell, die Geistlichkeit zumindest in den reformierten Gebieten Europas zurück.) Die politische Induktion sozialen Wirkens „von oben“ bringt Gefahren mit sich: Die Grenzen der Policey bleiben unbestimmt, sie werden verfügbar für öffentliches Gebot und fürstliche Willkür, je mehr der enge Kreis überschaubarer Lebensräume verlassen wird. Ohne Gegenüber, nur ihrer eigenen Dynamik überlassen, kann die Policey zum Zwangsmittel werden und in kleinliche Reglementiersucht ausarten. Dann gerät der Staat in die Nähe des „Polizeistaats“ im späteren abschätzigen Sinn; Polizeizwecke werden nicht eng begrenzt, sondern stetig ausgeweitet – der Staat wird unfähig, seine Tätigkeiten zu begrenzen und eine autonome Gesellschaft „aus sich zu entlassen“. Freilich kann auch das Gegenteil eintreten: Policey kann, indem sie sich darauf beschränkt, die nötigen Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Recht und Wohlfahrt zu schaffen, gesellschaftliche Kräfte, unternehmerische und geistige Ressourcen mobilisieren. Sie löst dann in der sich bildenden Gesellschaft Synergieeffekte aus. „Gute Policey“ wird von den Betroffenen in eigene Regie genommen. Aus äußerem Zwang wird sie Zug um Zug in Selbstdisziplin und freiwillige Bindungen überführt.36 Am Ende dieser Entwicklung können „gut polizierte“ Städte und Staaten, „polit“ und „galant“ gewordene Menschen stehen – in dieser Form geht vor allem in Deutschland der Polizeibegriff in die Sprache der Aufklärung und der klassischen Literatur ein.37 Policey agiert nicht – wie „machiavellistische“ Politik – kämpferisch in einem offenen, ordnungslosen Raum. Sie wird vielmehr dort tätig, wo Ordnungen bedroht sind und der Stützung von außen bedürfen. Nicht selten ergreift sie Partei für gefährdete Gruppen der Gesellschaft. Sie zielt nicht auf einen umfassenden gesellschaftlichen Neubau, sondern will – in heutigen Begriffen – „den 35 Mediatisierung ursprünglich eigenständiger feudaler und kommunaler Rechte und politische Einbindung der Gemeinden durch den Territorialstaat gehen dabei Hand in Hand; vgl. A. Holenstein, „Vermeintliche Freiheiten und Gerechtigkeiten“. Struktur- und Kompetenzkonflikte zwischen lokalem Recht und obrigkeitlicher „Policey“ im bernischen Territorium des 16./17. Jahrhunderts, in: Gemeinde, Reformation und Widerstand. FS für P. Blickle zum 60. Geburtstag, hg. von H. A. Schmidt u.a., Tübingen 1998, 69–84 (69–71). 36 Es ist die Kernthese des anregenden Buches von M. Raeff, The well-ordered police state. Social and institutional change through law in the Germanies and Russia 1600–1800, New Haven/London 1983, dass die gesellschaftliche Emanzipation durch „Policey“ in Deutschland besser gelungen sei als in Russland, wo die bürgerliche, „zivilgesellschaftliche“ Infrastruktur weitgehend fehlte. 37 Der von politia abgeleitete Begriff von Polizei verschmilzt hier mit policia (von lat. polire, glätten). Im Umkreis dieser neuen Wortbedeutung kommen dann Begriffe auf wie die gut polizierte Gemeinde, der polizierte (oder polite) Mensch, die polizierten Staaten, Völker, Länder, Städte, das polizierte menschliche Geschlecht, das polizierte Jahrhundert (Beispiele bei Maier, Anm. 20, 102–105).
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Wandel gestalten“. Insofern wirkt sie balancierend und stabilisierend – überleitend zu dem, was man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „Sociale Politik“ zu nennen beginnt. So handelt schon Hegel in der Rechtsphilosophie über das „besondere Wohl als Recht“ unter dem Stichwort „Polizei und Korporation“.38 Und Robert Mohl, der letzte Klassiker der Polizeiwissenschaft, stellt 1831 – und noch einmal 1866 – die keineswegs rhetorisch gemeinte Frage: „Wer möchte und könnte in einem Staate leben, der nur Justiz übt, allein gar keine polizeiliche Hilfe eintreten läßt?“39 In der Polizeiwissenschaft und in der aus ihr hervorgehenden Verwaltungslehre und Verwaltungsrechtswissenschaft leben die Fragen nach der „guten Ordnung“, nach den Maßstäben der Gerechtigkeit im Industriezeitalter weiter. Lorenz von Stein überhöht sie zu einer universellen Staatszwecklehre, verbindet sie mit seinem Gedanken des „sozialen Königtums“.40 Das ist heute Vergangenheit, hat aber zur Zeit der Sozialreformen der achtziger Jahre im Hintergrund beachtliche Wirkungen entfaltet.41 Noch einmal tritt hier eine Eigenart des deutschen Staatsdenkens hervor: Es ist ein Denken, das zur offenen Distanznahme, zum naturrechtlichen Messen des Staates an einer über ihm stehenden Ordnung ebenso unfähig ist, wie es sich zur langsam-bedächtigen Reform des Bestehenden in hohem Maße eignet.
4. Wirtschaft Halten wir, um das Bild zu runden, noch die Tatsache fest, dass die moderne Wirtschaftstheorie in Deutschland nie ohne Einschränkungen und Vorbehalte rezipiert worden ist. Die längste Zeit bewegte sich ja die Ökonomik auf dem Fundament aristotelischer praktischer Philosophie, als eine Lehre vom Haus, eingefasst von Individualethik (Monastik) und Ethik im Gemeinwesen (Politik).42 Später boten ihr die kameralistischen Fächer eine neue Heimstatt;43 doch auch 38 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, §§ 230–256. 39 R. Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 2 Bde., Tübingen 1832/33 (I, 9, Anm. 1). 40 L. von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde., hg. von G. Salomon, München 1921. Die Idee eines über den Klassengegensätzen stehenden Königtums der gesellschaftlichen (oder sozialen) Reform ist entwickelt in Bd. 3, 40f. 41 G. A. Ritter, Der Sozialstaat, Anm. 2, 70, 72. Zwei der „Väter“ der Sozialversicherung, Hermann Wagener und Theodor Lohmann, waren eifrige Leser Steins! 42 H. Maier, Politische Wissenschaft in Deutschland. Lehre und Wirkung, München 1985, 31–67. 43 G. Marchet, Studien über die Entwickelung der Verwaltungslehre in Deutschland, München 1885 (Nachdruck Frankfurt am Main 1966); K. Zielenziger, Die alten deutschen
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dort blieb sie mit „Policey“ und „Cammer-Sachen“ in einer unlöslichen Trias verbunden. In Stadt- und Land-Wirtschaft gegliedert, verharrte sie lange in einem vergleichsweise schlichten didaktischen Zustand – der Schwerpunkt der Entwicklung lag bei Policey und Finanz, Fächern, die mit der politischen Praxis des Territorialstaats in enger Beziehung standen. Dies änderte sich erst zu Ende des 18. Jahrhunderts, als Adam Smith’ „Inquiry“ ins Deutsche übersetzt wurde44 und seine Ideen durch Christian Kraus, Kants Königsberger Kollegen auf dem Lehrstuhl für praktische Philosophie,45 überall Verbreitung fanden. War die Ausdehnung der wirtschaftlichen Betrachtung auf das Ganze von Volk und Staat bis dahin auf die Kameralwissenschaft im engeren Sinn (= Finanzwissenschaft) und die Polizeiwissenschaft beschränkt geblieben, so wurde jetzt auch die Ökonomik in diesen Prozess mit einbezogen: Als Nationalökonomie (Volkswirtschaftslehre) wuchs sie über den Umfang der alten Land- und Stadtökonomik hinaus und wurde zur Zentraldisziplin der neugestalteten kameralistischen Disziplinen. Bei den „denkenderen und rüstigeren Kameralisten Deutschlands“ – wie Karl Heinrich Rau sich ausdrückte – begann man „die Wirthschaftsthätigkeiten vieler in Verkehr stehender Menschen als ein ganzes System zusammengehörender Verrichtungen zu betrachten und die Grenzen zu erforschen, unter welchen dieses Ganze nebst seinen Teilen steht“.46 Allein, es dauerte noch lange, bis aus res politicae res oeconomicae wurden. Und in Deutschland (im Unterschied zu Österreich) wurden sie es nie vollständig – zumindest nicht im 19. Jahrhundert. Die politischen Fächer der Nationalökonomie – Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftspolitik – behielten ihr eigenes Gewicht.47 Und in der Historischen Schule der Volkswirtschaft schränkten historisch-politische Gesichtspunkte von Anfang an die Geltung der „reinen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus, Jena 1913 (Nachdruck Frankfurt am Main 1966); P. Schiera, Il Cameralismo e l’Assolutismo tedesco, Mailand 1968. 44 A. Smith, Untersuchungen über die Natur und die Ursachen des National-Reichtums, hg. von Ch. Garve, 3 Bde., Wien 1794/96, 1799 (2. Auflage), 1814 (3. Auflage). 45 Über ihn J. Voigt, Das Leben des Prof. Christian J. Kraus, 1819; vgl. auch G. vom Selle, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Würzburg 1956 (2. Auflage), 204ff. Kraus las auch über Polizeiwissenschaft; zu seinen Schülern gehörten u. a. A. von Arnim und H. von Kleist. 46 So K. H. Rau in seiner 1823 in Heidelberg erschienenen Schrift: Über die Kameralwissenschaft. Entwicklung ihres Wesens und ihrer Theile – bis heute eine der besten Quellen für die Umwandlung der Kameralistik in der Zeit nach 1815 (die Zitate II ,27). 47 Insofern führte die Rezeption der westlichen Wirtschaftslehren in Deutschland nicht zu den gleichen sozialen und politischen Ergebnissen wie in den Heimatländern von Turgot und Adam Smith. Es kam in Deutschland nicht zu einer Verschmelzung von Theorie und Praxis in einer konkurrenzlos herrschenden „politischen Ökonomie“. Für die deutschen Verhältnisse charakteristisch ist vielmehr eine eigentümliche Verschränkung bürgerlich-
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Ökonomie“ ein. Wie stark das Magnetfeld der Politik nach wie vor war, das zeigt der politische Einfluss der „Kathedersozialisten“ und des „Vereins für Socialpolitik“.48 Und nicht zuletzt blieb auch der Doktor der Wirtschaftswissenschaften bis ins 20. Jahrhundert hinein an den deutschen Universitäten ein „Doctor rerum politicarum“ (und eben nicht oeconomicarum) – ein Indiz für den politischen Schwerpunkt der Ökonomie im älteren aristotelischen wie im neueren, aus dem Kameralismus hervorgegangenen System. So konnten also Politik und Verwaltung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts fest damit rechnen, dass die „soziale Frage“ einer politischen Lösung zugeführt werden würde – ökonomische Maßregeln reichten offensichtlich dafür nicht aus. Allein durch seine Größenordnung schien das Problem die immanenten Maßstäbe der Ökonomik zu sprengen. Obwohl auch eine Reihe ökonomischer Lösungen angeboten wurden, entschied am Ende doch die Politik. Und es entstand eben nicht eine Variante der alten Gemeinwirtschaft, sondern etwas gänzlich Neues: der Sozialstaat.
III. Sozialstaat heute – was bleibt? So viel zu den historischen Voraussetzungen des Sozialstaats. Und nun – haben die Entscheidungen von damals auch heute noch Bestand? Ist der Sozialstaat für die heutige Generation etwas Lebendiges oder nur ein lästiges Erbe? Gelten die historischen Voraussetzungen, von denen ich sprach, auch heute noch? Oder sind sie nur noch Geschichte – schleunigst abzuschütteln von den heute nachrückenden Generationen?49 Man sollte meinen, ein mit so viel Kühnheit und Bedacht geschaffenes System sei so etwas wie ein Selbstläufer, es sei – ethisch begründet und ökonomisch verankert – gegen alle geschichtlichen Wechselfälle gefeit. Aber das Gegenteil ist der Fall, wie wir alle wissen: Der Sozialstaat und sein Kern, das Rentensystem, befinden sich seit Jahren in ernsten Schwierigkeiten.50 autonomer Wirtschaftstheorie und staatswirtschaftlicher oder polizeilicher „Intervention“ auf Abruf für Krisenzeiten. 48 Ritter, Sozialstaat, Anm. 2, 75–78. 49 Hierzu: Generationen im Konflikt, hg. von der Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog, München 2000. 50 Aus der unübersehbaren Literatur seien genannt: W. Wellner, Grenzen des Sozialstaates, München 1977; Der Ausbau des Sozialstaates und das Dilemma des Staatshaushaltes – ein internationales Problem (Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 68, 1981); Ph. HerderDorneich, Der Sozialstaat in der Rationalitätenfalle, Stuttgart 1982; Chancen und Grenzen des Sozialstaats, hg. von P. Koslowski u. a., Tübingen 1983; M. Honecker und H. J. Wallraf SJ, Sozialstaat in der Krise, Köln 1985; M. Spieker, Legitimitätsprobleme des Sozialstaats,
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Die äußeren Gründe liegen auf der Hand: Veränderungen der Arbeitswelt, Belastungen des Rentensystems durch versicherungsfremde Leistungen, die internationale Mobilität des Kapitals im Zug der Globalisierung, die quantitative Reduktion der Arbeit, der Trend zur Individualisierung, neue Muster der Familien- und Lebensplanung – und das sind nur die Hauptpunkte. Die Probleme reichen aber auch ins Innere hinein: Was tun mit einem System, das auf Vollerwerbstätigkeit beruht, angesichts massiver Veränderungen in Richtung Teilzeitarbeit, Leiharbeit (auch Schwarzarbeit!)? Was tun mit der (weitgehenden) Finanzierung des deutschen Systems aus Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn dadurch die Lohnnebenkosten steigen und der Wirtschaft massive Nachteile im internationalen Wettbewerb entstehen? Und was tun mit dem Generationenvertrag, wenn die erwerbstätige Generation infolge des Geburtenrückgangs immer kleiner, ihr Berufsleben wegen längerer Ausbildungszeiten und der Möglichkeit früheren Eintritts in den Ruhestand immer kürzer wird, während die Lebenserwartungen und die realen Lebenszeiten der älteren Generation immer weiter steigen? Der Umfang der Veränderungen wird sichtbar, wenn man den Vorgang in eine größere historische Perspektive stellt.51 Nach Schätzungen stieg die Lebenserwartung der Bevölkerung in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis heute von rund 30 Jahren auf rund 75 bei Männern, rund 81 bei Frauen. In der gleichen Zeit fiel die Säuglingssterblichkeit von ca. 50 % auf 2–3 %. Solche Entwicklungen sind gewiss ein beachtlicher Fortschritt. Sie schaffen viel Leid und Unsicherheit aus dem täglichen Leben fort. Sie vermehren die Lebensqualität, ja sie lassen viele zum ersten Mal an einem menschenwürdigen Leben teilhaben. Aber paradoxerweise vermehren sie auch die Probleme sozialer Sicherungssysteme, die auf einem ausgewogenen Verhältnis der Generationen aufgebaut sind. Adenauer konnte bei der Dynamisierung der Renten – einem Schritt, der ihm zunächst ein wenig unheimlich war –, noch damit rechnen, dass „die Leute immer genug Kinder bekommen“ würden. Solches Vertrauen können Adenauers Enkel und Urenkel kaum mehr haben. Überhaupt ist heute ungewiss, womit man noch sicher rechnen kann – außer dass die Zahl der über Sechzigjährigen steigt und steigt, die der unter Zwanzigjährigen sinkt und sinkt und „dass die ganze Welt ergraut“ (Ursula Lehr). (Mindestens die entwickelte, westliche, weiße, reiche Welt, gewiss nicht die armen Länder, Entwicklungsländer, Schwellenländer!)
Bern/Stuttgart 1986; Arbeitszeit und Arbeitszeitflexibilisierung als Faktor internationaler Konkurrenzfähigkeit (Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung 28), Köln 1989; H. F. Zacher, Kapital versus Arbeit? Eine lange Geschichte, in: Die politische Meinung 366 (Mai 2000), 37–41; ders., Die Last des politischen Systems, ebd. (Juni 2000), 89–95. 51 Zum folgenden U. Lehr, Alter, in: Blüm/Zacher, 40 Jahre Sozialstaat, Anm. I, 423–430.
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Dennoch kann man auf Sozialstaat und Generationensolidarität auch in Zukunft kaum verzichten. Alterssicherung und Generationengerechtigkeit zu entkoppeln, das liefe darauf hinaus, blindlings Wechsel auf die Zukunft zu ziehen, der Gedanke der Solidarität der Lebensalter ginge unter in einem allgemeinen Kampf der Generationen, in einem Wettstreit der schnellsten und größten Hände um die schwindenden Ressourcen.52 Dass dies inakzeptabel ist, bedarf keines Beweises. Wettstreit kann nur unter Gleichen stattfinden, nicht aber zwischen denen, die arbeiten, noch nicht arbeiten, nicht mehr arbeiten. Hier ist Solidarität und wechselseitiges Geben und Nehmen geboten – ein Pfund, mit dem der Staat vor 120 Jahren noch wuchern konnte. Aber der Sozialstaat – und der Generationenvertrag53 – müssen neugefasst, neuverstanden, neu in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Allen Bürgern sollte bewusst werden, was beide unter den Bedingungen der Gegenwart bedeuten können. Das betrifft vor allem die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer; es betrifft aber auch ganz allgemein den Staat und seine Bürger. Was Arbeitgeber und Arbeitnehmer angeht, so ist in den letzten Jahren wohl beiden klargeworden, dass der Geburtenrückgang und die durch ihn ausgelöste soziale Asymmetrie54 auf lange Sicht weder von der einen noch von der anderen Seite ausgeglichen werden kann. Schon die Pflegeversicherung – so notwendig sie war und so sehr sie dem universalistischen Anspruch des Sozialstaats entsprach – offenbarte überdeutlich die Grenzen eines vor allem auf die Beiträge der Sozialpartner angewiesenen Sicherungssystems. Inzwischen ist das Gefühl gewachsen, dass Minderungen der Renten und Pensionen bei anhaltend geringer Reproduktion der Bevölkerung (in Wahrheit längst ein MinusWachstum!) auf die Dauer nicht zu vermeiden sind. Persönliche Vorsorge muss also zu den öffentlichen Sicherungen hinzukommen, das System im Ganzen muss flexibler werden; stärker als bisher muss die Arbeit dem Lebensrhythmus folgen; die starre Dreiteilung des Lebens (Ausbildung, Arbeit, Ruhestand) muss sich lockern. Das ist ein weites Feld, gewiss. Ich betrachte es nicht mit dem 52 Typisch für die Gegenwart die angesichts der Geburtenentwicklung nur zu begreifliche, immer lauter werdende Frage: Leben die Jungen auf Kosten der Alten? Leben die Alten auf Kosten der Jungen? Vgl. die Diskussion in: Generationen im Konflikt, Anm. 49, 71ff. (K. Biedenkopf ), 91ff. (M. Berninger), 201ff. (K.-M. Lein und J. Tremmel). 53 Kritisch zum Begriff Generationenvertrag, sofern das Wort eine „Fast-Identität von Rentenversicherung und Alterssicherung“ nahelege und blind sei „für die Unterschiede zwischen den Alterssicherungssystemen, die ja mitnichten als intergenerative Kanäle gebaut sind“: Zacher, Abhandlungen, Anm. 2, 517–519. 54 Auch hier ist die Literatur inzwischen Legion; für viele seien genannt: F.-X. Kaufmann/L. Leisering, Demographische Veränderungen als Problem für soziale Sicherungssysteme, in: Internationale Revue für Soziale Sicherheit 1984, 429ff.; M. Miegel/St. Wahl, Gesetzliche Grundsicherung, Private Vorsorge – Der Weg aus der Rentenkrise, 1985; P. Krause, Alterssicherung, in: Blüm/Zacher, 40 Jahre Sozialstaat, Anm. 1, 431–445.
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euphorischen Optimismus postmoderner Soziologen, die für Bastelbiographien schwärmen (und im Übrigen noch mit vorläufig sicheren Pensionen für sich selber rechnen können). Aber einiges lässt sich sicher ändern und umgestalten mit dem Ziel, die Übergänge zwischen den Lebensphasen fließender zu machen, das manchmal erschreckende Gefälle zwischen Überbeanspruchung und Funktionslosigkeit auszugleichen und nicht nur der Arbeit, sondern auch dem Leben vor und nach der Arbeit einen Sinn zu geben.55 In einer schwierigen Lage ist der Staat. Da er – im Unterschied zu anderen westlichen Demokratien – eine aktive Bevölkerungspolitik nicht wagt,56 ist er gegenüber der Erosion der sozialen Sicherungssysteme hilflos. Andererseits hat er bisher auch den kompensatorischen Schritt zu einer qualitativ steuernden Einwanderungspolitik nicht riskiert.57 So bleibt ihm nur – mehr schlecht als recht – die Pflege und Verwaltung der überkommenen Elemente des Sozialstaats. Missbräuche und Widersprüche zu beseitigen ist ihm kaum gelungen. Oft läuft der Sozialstaat in gruppenhaften Gleisen. Wesentliche Zukunftsaufgaben werden wegen des Widerstands der Betroffenen nicht angepackt. Hans Zacher hat die Aufgaben stichwortartig mit den folgenden Sätzen umschrieben: „Die soziale Übertypisierung der abhängigen Arbeit müsste aufgelöst werden. Die Grundformel von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt müsste auf alle Erwerbstätigkeit erstreckt werden ... die Last des Sozialstaats (müsste) ein neues Verhältnis zum Faktor Kapital gewinnen. Die Solidarität, die dieser Sozialstaat einfordert, müsste sich auf Kapitaleinkünfte erstrecken. Vermögen müsste zu den Strategien sozialer Sicherung gehören: individuell und – durch die Nutzung von Kapitaldeckungsverfahren – kollektiv.“58 Dennoch: Es lohnt sich – so meine ich –, den Sozialstaat gegen Zeittrends zu verteidigen. Er ist längst kein deutsches Sondergut mehr. Dazu hat die Veränderung der politischen Szenerie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Entscheidendes beigetragen. In der Nachkriegswelt begannen sich die historischen Ausprägungen von Staat und Verwaltung in vielen Ländern zu verschränken und einzelne Züge miteinander auszutauschen. In einem weltweiten Mischungsprozess ist der kontinentale Staat parteistaatlich-pluralistisch aufgelockert, seine suprema potestas mit der angelsächsischen rule of law konfrontiert worden, während umgekehrt 55 Hierzu H. Maier, Plädoyer für einen neuen Generationenvertrag, in: Generationen im Konflikt (Anm. 49), 187–200. 56 Selbst das Wort ist – oder war? – bei uns tabuisiert, wie sich auch eine historische Demographie als Wissenschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg kaum entwickelt hat, sehr im Unterschied zu Frankreich, Großbritannien, den USA. 57 Hier ist inzwischen freilich einiges zur Enttabuisierung geschehen, so dass dieser Satz am Ende des Jahres nicht mehr die gleiche Schärfe hat wie zur Zeit meines Vortrags im Februar 2001. 58 H. F. Zacher, Die Last des politischen Systems, Anm. 50, 90f.
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kontinentale Überlieferungen einer effizienten Staatsverwaltung mit ihrem amtsund dienstrechtlichen Zubehör über den Kanal und den Atlantik gewandert sind. In diesem Zusammenhang haben deutsche Überlieferungen wie die Krankenund Sozialversicherung, der Schutz der Arbeitsstelle gegen willkürliche Entlassungen, disziplinarrechtliche und finanzielle Sicherungen der Beamten und anderes in vielen Ländern Aufmerksamkeit gefunden. Ernst Fraenkel hat diese Entwicklung in den sechziger Jahren in dem bekannten Satz zusammengefasst, man sei sich einig, „dass das Deutschland des ausgehenden 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts einen bedeutsamen und bleibenden Beitrag zu der Entwicklung des Staats- und Gesellschaftstyps beigesteuert hat, den man als ‚westliche Demokratie‘ zu bezeichnen pflegt: den Gedanken der sozialen Geborgenheit“. Er fügte hinzu: „Es ist mehr als eine rhetorische Frage, ob die diesem Gedanken zugrundeliegenden Prinzipien in der Gegenwart nicht bereits die Gültigkeit von Sätzen des Naturrechts beanspruchen können.“59 Man muss dieses Urteil nicht unkritisch übernehmen – wir sehen inzwischen die Unzulänglichkeiten und Defizite des Sozialstaats deutlicher und schärfer als frühere Generationen. Ohnehin hat sich der einstige sozialpolitische Vorsprung der Deutschen auf vielen Feldern reduziert. Wir sehen auch, dass der alte nationale Wohlfahrtsverbund heute, in einer weltweit vernetzten Gesellschaft, nicht mehr die gleiche Bedeutung haben kann wie einst. Doch im Kern hat Fraenkel auch nach 40 Jahren recht: Checks und balances, polare Angebote, Widerlager, Gegenkräfte müssen sein – sonst gäbe es in der globalisierten Welt von heute nur noch ein ordnungsloses Spiel der freigesetzten Kräfte. Es gäbe auch keine Soziale Marktwirtschaft mehr, sondern nur noch die vielbeschworene „Marktwirtschaft ohne Adjektive“.60 Es gäbe kein Zusammengehörigkeitsgefühl 59 E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, 33. 60 Dass die Dynamik wirtschaftlicher Kräfte der „Ordnung“ (im Zweifel: der Sicherung des freien Wettbewerbs durch eine rigide Kartellgesetzgebung) bedarf, war die Grundüberzeugung der Ordo-Liberalen der vierziger und fünfziger Jahre (Eucken, Böhm, Röpke, MüllerArmack), die sich deutlich von den alten „Paläo-Liberalen“ unterschieden. In der Schule der „Sozialen Marktwirtschaft“ lebte der alte Geist der „Rechts- und Staatswissenschaften“, der „Gesamten Staatswissenschaft“. Ordnung der Wirtschaft hieß auch Zusammenarbeit von Juristen und Ökonomen. Sozialpolitik war ein unentbehrlicher Teil der Ökonomie. „Marktwirtschaft ohne Adjektive“ wäre als Zynismus empfunden worden. „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ hieß ein erfolgreiches Buch der fünfziger Jahre (Wilhelm Röpke). – Unbewusst beschwört eine Glosse von Mathias Greffrath diesen mit Elementen der „guten Polizey“ gesättigten europäischen Begriff von Ökonomie und Politik mit den Worten: Er liege „jenseits des Dschungels des Marktes und diesseits des totalitären Zoos“ (Jorge Semprun) ... „Bis vor kurzem jedenfalls war die Kraft des Kapitalismus in Europa gezähmt, kulturelle Vielfalt kein Gegensatz zu sozialer Gleichheit. Die Sauberkeit unserer Städte mit ihren Bädern und Konzertsälen, die Schönheit unserer Dörfer, die Verlässlichkeit der Wasserversorgung, der Fahrpläne und der Müllbeseitigung, die unentgeltliche Bildung – unsere
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der Gleichen mehr, sondern nur noch ein Bewusstsein gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Ungleichen. Es wäre keine Rede mehr vom Ringen um Gerechtigkeit – oder auch nur von einer „negativen Ungerechtigkeitsprüfung“.61 Von den Konzepten ausgleichender Gerechtigkeit blieben nur vage Solidaritäts-Appelle und Fairness-Regeln übrig. Eine solche „schöne neue Welt“ nach dem Untergang des Sozialstaats wäre ein politischer Alptraum. Daher sollte uns der Sozialstaat auch in kommenden Zeiten einiges wert sein. Mögen seine historischen Voraussetzungen sich im Lauf der Zeit gewandelt haben – seine steuernde, ausgleichende, stabilisierende Kraft ist auch in Zukunft nicht entbehrlich. „Wer möchte und könnte in einem Staate leben, der nur Justiz übt, allein gar keine polizeiliche Hilfe eintreten läßt?“ – so hatte einst Robert Mohl gefragt.62 Die Frage ist nach wie vor aktuell – sie hat Bedeutung nicht nur im 19. und 20., sondern auch im 21. Jahrhundert. Im Übrigen: Nicht alles, was der Staat tut, kann sich in einem vordergründigen Sinne ökonomisch „rechnen“. Nicht alles unterliegt reinen ZweckNutzen-Kalkülen. Nicht überall kann die Frage „Was bringt’s?“ die letzte philosophische Auskunft sein. Vieles im staatlichen Handeln liegt jenseits von Angebot und Nachfrage, vieles „lohnt nicht“, ist aber notwendig – vieles ist mehr als „Dienst am Kunden“. Und auch in diesen Feldern muss es Leute geben, die uneigennützig Hand anlegen und andere fürs Mitmachen gewinnen mit einem aufmunternden „Packen wir’s an!“ Von solchen Menschen hat der Sozialstaat in seinen frühen Anfängen, in seinen besten Zeiten gelebt. Von ihnen wird auch seine Gegenwart und Zukunft abhängen. (Anmerkung der Herausgeber: Bei diesem Beitrag handelt es sich um den Nachdruck eines Vortrags von Prof. Dr. Hans Maier aus dem Jahr 2002 mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Hüthig, Jehle, Rehm in Heidelberg. Grundlage bildete die Edition in den Gesammelten Schriften von Hans Maier, Band V, Die Deutschen und ihre Geschichte, München (C.H. Beck) 2010, 86ff. Der Text wurde im Hinblick auf die neue Rechtschreibung leicht überarbeitet.)
Selbstverständlichkeiten sind in Afrika, Asien und selbst in großen Teilen Nordamerikas Utopie“ (zit. in: Christ in der Gegenwart, 3.12.2000, 407). 61 So H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, 214. 62 S. Anm. 39.
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Deutschlands „innere Einheit“ – neuer Gemeinschaftsmythos oder pluralistische Demokratie? Die „äußere“ Einheit Deutschlands ist leicht zu bestimmen: durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990. Damit war der mehr als vier Jahrzehnte währende Zustand der deutschen Teilung als Folge des Zweiten Weltkrieges definitiv beendet, und seither wird am 3. Oktober der Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Doch die nur äußere Einheit genügte den Deutschen nicht, wir setzen der Form gern den Inhalt entgegen, das Eigentliche, Inhaltliche wird gegen das bloß Formale ausgespielt. So wurde der nur „äußeren“ Einheit nach 1990 alsbald die so genannte „innere Einheit“ gegenübergestellt, der Legalität des Beitritts die Legitimität des inneren Zusammenwachsens. Dieser Beitrag geht den unterschiedlichen Deutungen von „innerer Einheit“ nach und setzt sich insbesondere kritisch mit den Ansätzen und Interpretationsmustern der empirischen Sozialforschung auf diesem weiten Feld auseinander, mit ihrer (prozessualen) Begriffsbestimmung und deren problematischen Implikationen. Danach werden normative Kriterien für die „innere Einheit“ entwickelt, die im Einklang mit einem pluralistischen Gesellschafts- und Demokratieverständnis stehen und in den weiteren Kontext der politischen Integration in der Bundesrepublik eingebettet sind. Schließlich wird die normative Begriffsbestimmung von „innerer Einheit“ auf ihre empirische Akzeptanz im vereinten Deutschland hin überprüft und werden Folgerungen für die Politik und die Aufarbeitung der SED-Diktatur gezogen. Die Deutschen sind zwar formal vereint, aber noch nicht wirklich eins – damit dürfte die Ambivalenz der vorherrschenden Einschätzungen zum Stand der deutschen Einheit nach 20 Jahren angemessen beschrieben sein. Zwar gab es auch hier schon relativ früh eine Minderheitenmeinung, die den Zusammenschluss wesentlich positiver beurteilte1, ganz überwiegend wird jedoch mit einer noch lang andauernden Phase des Zusammenwachsens der Deutschen in 1 Vgl. W. Bürklin, Die politische Kultur in Ost- und Westdeutschland: Eine Zwischenbilanz, in: G. Lehmbruch (Hg.), Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1995, 11–24; H.-J. Veen/C. Zelle, Zusammenwachsen oder auseinanderdriften? Eine empirische Analyse der Werthaltungen, der politischen Prioritäten und der nationalen Identifikationen der Ost- und Westdeutschen. Interne Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 78/1994, Sankt Augustin 1994; H.-J. Veen, Innere Einheit – aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41 (1997), 19–28.
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Ost und West gerechnet. Für einige, wie Gregor Gysi, verhärteten sich sogar die politisch-ideologischen Divergenzen oder fand eine Wieder-Entfremdung des ostdeutschen Bewusstseins statt.2 Wütend formulierte Günter Grass, der immer ein Gegner der deutschen Wiedervereinigung war: „Dieser eilige Pfusch erlaubt nicht, dass zusammenwächst, was zusammengehört, vielmehr wird er die während vierzig Jahren konservierte Distanz vergrößern: Vom Wohlstand geködert, durch Arbeitslosigkeit entlohnt, werden sich die Deutschen dort und die Deutschen hier fremder als je zuvor sein“.3 Sogar vom „Supergau Deutsche Einheit“ ist die Rede,4 und eine aktuelle Erhebung unter Ostdeutschen verweist nach Ansicht der Autoren „mit aller Deutlichkeit auf die nach wie vor nicht vollendete Einheit […] Die Integration der Mehrheit der Ostdeutschen ist insgesamt – bei allen anerkannten Fortschritten – noch nicht erreicht worden“.5 So steht zu befürchten, dass der Prozess des Zusammenwachsens zu einer unendlichen Geschichte werden könnte. Denn bis heute ist völlig unklar, auf welchen Endzustand die „innere Einheit“ eigentlich abzielt, was sie umfassen soll, was alles erfüllt sein muss, um sie zu vollenden? Die noch nicht erreichte „innere Einheit“ ist mehr und mehr zu einer wohlfeilen, gut klingenden und problematisch schillernden Metapher des Ungenügens im wiedervereinten Deutschland geworden, die bis heute Konjunktur hat und immer wieder beschworen wird, vor allem dann, wenn Zweifel angemeldet werden sollen, wenn es um Defizite geht, wenn also ein Mangel an „innerer Einheit“ beklagt wird. Diese erscheint als ein Fernziel, von dem wir zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch ziemlich weit entfernt sind, dessen Vollendung uns gleichwohl aufgegeben bleibt. Die Politik hat den Imperativ der Herstellung der „inneren Einheit“ bzw. der Vollendung der Einheit, nach der äußeren, staatsund völkerrechtlichen Vereinigung, offenbar akzeptiert. Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2010 wird denn auch gefordert: „Eine Politik für die Einheit Deutschlands ist weiterhin notwendig, gerade um auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht das Zusammenwachsen von Ost und West weiter voranzubringen“ (S. 25). Im Unterschied zu früheren Jahren wird aber in den letzten Jahresberichten zum Stand der Deutschen Einheit kein Datum mehr genannt, an dem dieses Ziel erreicht werden soll. Dies geschah letztmals im Jahresbericht 2001, als die Regierung sich optimistisch zeigte, „dass 2 So z. B. E. Noelle-Neumann, Eine Nation zu werden ist schwer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.08.1994. 3 G. Grass, Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut, München 1999 (2. Auflage), 26. 4 U. Müller, Supergau Deutsche Einheit, Berlin 2005. 5 Sozialreport 2008, hg. v. Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg, 41.
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in der zeitlichen Perspektive bis 2020 der Aufbau Ost abgeschlossen und die ‚innere Einheit‘ Deutschlands hergestellt sein wird“ (S. 25). Erinnert sei hier immerhin daran, dass der Solidarpakt II jedenfalls 2019 endet, ein Solidarpakt III kann angesichts der laufenden politischen Diskussion aber nicht mehr ausgeschlossen werden.
„Innere Einheit“: Metapher unterschiedlichster Erwartungen Schon in den frühen 1990er Jahren hatten namhafte Sozialwissenschaftler grundsätzliche Bedenken gegenüber dem Vereinigungsprozess geäußert und auf die tiefgreifenden politisch-kulturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen hingewiesen. Tatsächlich waren ja die Sozialisation und die politische Erziehung der Menschen in West- und Ostdeutschland fundamental verschieden verlaufen. Die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme hatten sich antagonistisch gegenübergestanden. So unterstellte Gerhard Lehmbruch einen dauerhaften Unterschied in den „kollektiven Mentalitäten in Ost und West“6. Claus Offe machte das Hauptproblem der „inneren Einheit“ in einem im Osten vorherrschenden egalitären Gerechtigkeitsverständnis und in einer unterentwickelten Zivilgesellschaft aus.7 Wolfgang Schluchter sagte eine „kulturelle und mentale Verwestlichung“ der Ostdeutschen voraus, die er aber angesichts der „mentalen Prägung der Ostdeutschen“ für schwer erreichbar hielt.8 Zu den grundsätzlichen Vorbehalten der Historiker und Soziologen mit Blick auf divergierende Sozialisationen, Mentalitäten und Gerechtigkeitsvorstellungen kommen zahllose sozialwissenschaftliche Erhebungen, die immer wieder auf vielfältige Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in Fragen der Wertorientierungen, der politischen Kultur, namentlich des Demokratieverständnisses, der politischen Präferenzen usw. verweisen und demgemäß zahlreiche Defizite an „innerer Einheit“ konstatieren, ohne jemals explizit zu definieren, was sie unter diesem Begriff eigentlich verstehen. Tatsächlich sind die Einlassungen der Politik, der Publizistik und der Wissenschaften zur „inneren Einheit“ weithin disparat. In der Metapher der „inneren Einheit“ bündelten sich von Anfang an die unterschiedlichsten Erwartungen. Stellen die einen die Anpassung der Ostdeutschen an westdeutsche Standards ins Zentrum, fordern andere vermit6 G. Lehmbruch, Die improvisierte Vereinigung: Die dritte Deutsche Republik, in: Leviathan 18 (1990) 4, 462–486. 7 C. Offe, Die deutsche Vereinigung als „natürliches Experiment“, in B. Giesen/C. Leggewie (Hg.), Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch, Berlin 1991, 77–86. 8 Vgl. W. Schluchter, Neubeginn durch Anpassung? Studien zum ostdeutschen Übergang, Frankfurt am Main 1996, 22 und 54.
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telnder die mentale Zusammenführung beider Teile als Bedingung der „inneren Einheit“.9 Wiederum anderen geht es vor allem darum, eine „gemeinsame republikanische Binnenidentität des staatlich vereinten Deutschlands“ zu entwickeln, in der sich ein gemeinsames Geschichts- und Zukunftsbewusstsein entfaltet, in dem das revolutionäre Credo der ostdeutschen Bürgerrechtler lebendig bleibt und in dem gemeinschaftlich gehandelt wird.10 Auch die Forderung nach „sozialer Anerkennung der Ostdeutschen“ wird zu einem Prüfstein der „inneren Einheit“.11 Für viele sind einheitliche sozioökonomische Lebensverhältnisse, gleiche Arbeitsbedingungen und Einkommen, mithin die vorn bereits genannten „egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen“ der Ostdeutschen der Inbegriff von „innerer Einheit“. Psychologen wie der Hallenser Hans-Joachim Maaz formulieren sogar sozial- und individualpsychologische Ziele: Eine „innere Demokratisierung“, die die Selbstbefreiung der Deutschen in Ost und West in einem „inneren Reinigungsprozess“ bewirken und zu einer „gesunden Vereinigung zur Ganzheit“ führen solle.12 Spätestens wenn tiefenpsychologisch variierte organische Staatsvorstellungen ins Spiel kommen, beschleicht einen eine bange Ahnung davon, was alles gemeint sein kann, wenn die „innere Einheit“ umfassend und grundlegend in den Blick genommen wird.
Ansätze der Sozialforschung und ihre Relevanz für die „innere Einheit“ Schon früh hatten die empirischen Sozialwissenschaften das Augenmerk auf die politisch-kulturellen und politisch-psychologischen Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung gelenkt, die nach 40 Jahren gegensätzlicher politischer Systeme, unterschiedlicher politischer Sozialisation und Erziehung mit unterschiedlichen mentalen und sozialen Prägungen auch auf der Hand lagen. In zahlreichen empirischen Untersuchungen, breit angelegten repräsentativen 9 So bspw. W. Schäuble, Nationale Identität und die innere Einheit Deutschlands, in: G. Langguth (Hg.), Die Intellektuellen und die nationale Frage, Frankfurt am Main 1997, 294ff. 10 L. Probst, Ost-West-Unterschiede und das Erbe der DDR. Über die Reden von der „inneren Einheit“, in: ders. u. a. (Hg.), Differenz in der Einheit. Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West, Berlin 1999, 15–27. 11 D. Pollack, Wirtschaftlicher, sozialer und mentaler Wandel in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40 (2000), 13–21. 12 H.-J. Maaz, Psychologische Aspekte im deutschen Vereinigungsprozess, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19 (1991), 4ff., sowie ders., Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990, 182.
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Umfragen, aber auch in Spezialstudien wird seit über 20 Jahren der Frage nachgegangen, die Max Kaase, ein bedeutender empirischer Sozialwissenschaftler der Mannheimer Soziologenschule, erstmals 1993 so formulierte: „Wie ähnlich und unähnlich die Menschen in West- und Ostdeutschland in ihren Mentalitäten, Lebensweisen und nicht zuletzt politischen Orientierungen zum Zeitpunkt der Vereinigung waren und […] wie sich diese Orientierungen seither verändert haben.“13 Demgemäß werden Übereinstimmungen bzw. Angleichungen zwischen West- und Ostdeutschen positiv bewertet, während Unterschiede negativ für die „innere Einheit“ zu Buche schlagen. Damit war eine vage prozessuale Begriffsbestimmung der empirischen Sozialforschung in der Welt, die – zu Ende gedacht – auf ein komplexeres Homogenitätsideal hinausläuft. Kaase hat seine eigene Begriffsbestimmung später mehrfach überarbeitet und zwischen „konstitutionell-institutionellen“ sowie „materiellen“ und „inneren“ Einstellungen unterschieden. Insbesondere unterscheidet er wohl auch nach meiner ersten kritischen Auseinandersetzung mit seiner Definition14 seit 1999 zwischen Einstellungen zu den politischen Institutionen und den Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Ost- und Westdeutschen. Letztere sind für ihn aber der entscheidende Maßstab „innerer Einheit“ geblieben: „Zu behandeln unter dem Oberbegriff der ‚inneren Einheit‘ ist auch und ganz besonders die Frage mit den wechselseitigen Eigen- und Fremdwahrnehmungen von West- und Ostdeutschen unter Bezug auf die deutsche Vereinigung und deren Veränderungen […] denn sie stellen eine wichtige Bedingung für das Zusammenwachsen der beiden Deutschlands dar.“15 Die wechselseitigen Vorurteile zwischen West- und Ostdeutschen, hier die „Besserwessis“, dort die „Jammerossis“, werden immer wieder ausgiebig nachgewiesen und gelten als starke Beweise fehlender „innerer Einheit“, so als hätte es zwischen den Landsmannschaften in der alten Bundesrepublik, zwischen Ostfriesen und Bayern, Berlinern und Kölnern, Schwaben und Badenern, aber auch zwischen Berlinern und Sachsen nie entsprechend unfreundliche Stereotype gegeben. Wenn demgemäß die unterschiedliche Mentalität zwischen Westund Ostdeutschen problematisiert wird, kann man zurückfragen: Wer hat je die mentalen Unterschiede zwischen rheinischen Katholiken, norddeutschen Lutheranern und schwäbischen Pietisten zu einem Problem der „inneren Einheit“ im Westen gemacht?
13 M. Kaase, Innere Einheit, in: W. Weidenfeld/K.-R. Korte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1993, 372. 14 H. J. Veen, Innere Einheit – aber wo liegt sie?, Anm. 1, 19–28. 15 M. Kaase, Innere Einheit, in: W. Weidenfeld/K.-R. Korte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit 1949–1989–1999, Neuausgabe, Bonn 1999, 455.
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Die empirische Sozialforschung ist Kaases prozessualer Begriffsbestimmung fast durchweg gefolgt. Die zahlreichen empirischen Erhebungen förderten seither vor allem diverse Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen zu Tage, namentlich in den Wertorientierungen, in denen die Ostdeutschen als gleichheitsorientierter gelten, die Westdeutschen demgegenüber als freiheitsorientierter.16 Besonders hervorgehoben werden auch die in Ostdeutschland vermeintlich vorherrschenden „anderen Demokratievorstellungen […] die von der in Deutschland institutionalisierten Demokratie abweichen“.17 In Demokratiefragen gelten die Ostdeutschen als basisdemokratischer, die Westdeutschen als repräsentativ-demokratischer. Da auch die Zustimmungswerte zu der Aussage, die deutsche Demokratie sei die „beste Staatsform“, im Osten geringer ausfallen als im Westen, folgert gar Oscar W. Gabriel: „Zu der in Deutschland implementierten Form der Demokratie hat ein großer Teil der Ostdeutschen […] ein gebrochenes Verhältnis“. Nach Gabriel, dessen Urteil durchaus den Tenor der Debatte spiegelt, „widerspricht die Inkongruenz von politischer Kultur und Struktur im östlichen Teil des vereinigten Deutschland dem Ziel der Herstellung der ‚inneren Einheit‘“.18 Zudem ist die wiederholt gemessene „Demokratiezufriedenheit“ im Osten geringer als im Westen. Prompt vermutet Klaus Schröder „ein grundsätzlich anderes Verständnis von Staat und Demokratie“ im Osten Deutschlands.19 Doch die konstatierten Unterschiede gehen noch weiter. „Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“ ist eine in Umfragen immer wieder benutzte Aussage, die die Affinität zu einem Sozialismus idealiter messen will. Dieser Aussage stimmten seit Jahrzehnten in der alten Bundesrepublik konstant etwa ein Viertel bis ein Drittel der Befragten zu, ohne dass dies besondere Aufregung hervorrief oder gar zu entsprechendem Wahlverhalten führte. Seit der Wiedervereinigung stimmen dieser Aussage manchmal sogar fast 50 Prozent der befragten Westdeutschen zu, aber noch deutlich mehr, rund drei Viertel, der Ostdeutschen. Auch hierin wird ein wesentlich anderes Demokratieverständnis im Osten als im Westen 16 So bspw. T. Petersen/T. Mayer, Der Wert der Freiheit. Deutschland vor einem neuen Wertewandel, Freiburg im Breisgau 2005. 17 Vgl. D. Fuchs/E. Roller, Einstellungen zur Demokratie, in: Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Statistisches Bundesamt u. a. (Hg.), Bonn 2008, 398. 18 O. W. Gabriel, Bürger und Demokratie im vereinten Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift, 48 (2007) 3, 546 und 550. Vgl. dazu auch in diesem Band G. Pickel, Gerechtigkeit und Politik in der deutschen Bevölkerung – Die Folgen der Wahrnehmung von Gerechtigkeit für die politische Kultur im vereinten Deutschland, 135ff. 19 S. K. Schröder, Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006, 492.
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vermutet, „das auch sozialistische Elemente mit einschließt“,20 obgleich der Niederschlag im Wahlverhalten in den neuen Ländern sich in Grenzen hält. Sogar das Liebesleben in Ost und West geriet ins Visier der Umfrageforscher mit den bemerkenswerten Ergebnissen, dass sich u. a. die west- und ostdeutschen Jugendlichen etwa zur gleichen Zeit erstmals verlieben und dass die Ostdeutschen ein intensiveres Körpergefühl und Liebesleben hätten als die Westdeutschen.21 Die Konstatierung von Unterschieden ließe sich noch fortsetzen, namentlich wenn es um die Beurteilung der aktuellen Politik, der politischen Prioritäten, der Parteienkompetenzen und der individuellen wirtschaftlichen Lage geht.22 Die nur kursorisch referierten Unterschiede, die die empirische Sozialforschung ausmisst, sollen auch keineswegs als solche bezweifelt werden, wenngleich man oft die Relevanz und darüber hinaus die Art und Weise der Fragestellung und der Erhebung in Frage stellen kann. Denn schon die Gegenüberstellung von West- und Ostdeutschen bedeutet eine hochgradig künstliche Polarisierung in einer sehr viel komplexeren Gemengelage, in der vielfältige Unterscheidungen möglich wären, zum Beispiel zwischen Nord- und Süddeutschen, Stadt- und Landbevölkerung, zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, Berufstätigen, Arbeitslosen und Ruheständlern, Protestanten und Katholiken oder auch zwischen Mecklenburgern und Sachsen. In den vorherrschenden bipolaren West-Ost-Erhebungen werden die Befragten dagegen auf ein Prokrustesbett gespannt, das viele andere Variablen, die vielleicht einstellungsrelevanter und erklärungsmächtiger sind, einfach ausblendet bzw. eindimensional überlagert. Unberücksichtigt bleibt zudem, dass nach 1990 mehr als 4,3 Millionen Ostdeutsche nach Westdeutschland umgesiedelt sind und dort sozialstatistisch und -empirisch in nicht unbeträchtlichem, gleichwohl unbestimmtem Ausmaß zu Buche schlagen, weil sie quantitativ und qualitativ in den gängigen Umfragen nicht ausgewiesen sind. Schon dadurch gerät der überkommene West-OstVergleich in eine problematische Schieflage. Und ganz generell gilt, dass das Instrumentarium der empirischen Sozialwissenschaft und ihre Erkenntnischancen begrenzt sind und bleiben. Antworten bekommt man ausschließlich auf die Fragen, die man gestellt hat, und damit kann man, bildlich gesprochen, nur sehr schmale Schneisen in sehr viel komplexere Vorstellungswelten, Einstellungen und Werthaltungen der Menschen schlagen, die, pars pro toto genommen, bisweilen auch falsche Spuren legen können. Zu berücksichtigen ist immer auch der jeweilige aktuelle sozio-ökonomische Kontext, in dem Fragen gestellt wer20 D. Fuchs/E. Roller, Einstellungen zur Demokratie, Anm. 17. 21 A. Hessel u. a., Psychische Befindlichkeiten in Ost- und Westdeutschland im siebten Jahr nach der Wende, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13 (1997), 15–24. 22 Vgl. dazu in diesem Band T. Faas, Arbeitslosigkeitserfahrungen in Ost- und Westdeutschland, 173ff.
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den, weil sie die Antworten immer stark prägen. Dies gilt vor allem bei der sehr grundsätzlichen Frage nach dem Vorrang von Freiheit oder Gleichheit im Konfliktfall ebenso wie bei der Frage nach der Zufriedenheit mit der Demokratie, von der die Sozialforschung weiß, dass sie weniger die grundsätzliche Einstellung zur Demokratie misst, sondern in erster Linie die aktuelle Leistungsfähigkeit des Systems, den politischen und ökonomischen „output“ in einer konkreten Situation und eben nicht die demokratische Ordnung als solche. Auch wenn dem Sozialstaat und der sozialen Sicherung im Osten eine gewichtigere Rolle eingeräumt werden als im Westen, muss das nicht als ein tiefgreifender mentaler Unterschied interpretiert werden, sondern kann auch eine konkrete Forderung in einer konkreten Krisensituation sein. Als die empirische Sozialforschung Ende der 1990er Jahre gar feststellte, dass die Forderung der Ostdeutschen nach sozialen Grundrechten und direkter Bürgerbeteiligung auch von einer Mehrheit im Westen befürwortet wird, gab es einige Aufregung, denn das passte so gar nicht in das Schema der Vorurteile.23 Zu einem selbstkritischen Überdenken der immer wieder betonten tiefen Divergenzen oder zu größerer Zurückhaltung bei der Interpretation der Daten führte das jedoch nicht. Dabei blitzt meines Erachtens gerade bei der Frage nach dem Sozialstaat eine mentale Gemeinsamkeit der Deutschen in West und Ost auf, die diese Bezeichnung wirklich verdient, nämlich im verwandten Verständnis staatlicher Daseinsvorsorge, das tief in der deutschen Geschichte und Mentalität verankert ist. In der Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches fand es in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erstmals gesetzlichen Ausdruck. Tatsächlich reicht es aber, wie Hans Maier gezeigt hat,24 noch viel weiter zurück in den älteren „Policey-Staat“, den obrigkeitlichen Verwaltungsstaat des deutschen Absolutismus im 17. und 18. Jahrhundert. Mehr Freiheit oder mehr Gleichheit in konkreten politisch-historischen Situationen, mehr Sozialstaat oder mehr Marktwirtschaft, diese Alternativen müssen keineswegs mentale, sozialisationsbedingte Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen markieren. Vielmehr beschreiben sie traditionelle Konfliktlinien auch der westdeutschen Nachkriegspolitik, in der zwischen den Parteien und großen organisierten Interessen immer um eine eher egalitäre oder eher freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gerungen wurde. Gleichwohl wird in den Gegenüberstellungen der Befunde in Ost und West der Eindruck gefördert, als gäbe es ein fixes Modell von Sozialer Marktwirtschaft, 23 Vgl. D. Fuchs, Welche Demokratie wollen die Deutschen? Einstellungen zur Demokratie im vereinten Deutschland, in: O. W. Gabriel (Hg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinten Deutschland, Opladen 1997, 104. 24 Vgl. H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland, Neuwied/Berlin 1966; siehe auch im vorliegenden Band den Beitrag von H. Maier, 37ff.
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dem die Westdeutschen generell nahe, die Ostdeutschen fern stehen. Die Soziale Marktwirtschaft ist aber nach den Vorstellungen ihrer geistigen Väter kein statisches und überzeitlich fixes Modell, sondern eine regulative Idee, die ständig neu justiert werden muss.25 Abseits von methodischer Einzelkritik ist aber vor allem die unendliche Fülle von Umfragedaten daraufhin zu befragen, wie relevant sie für die Frage der „inneren Einheit“ überhaupt sind? Gegenwärtig erscheint, im Sinne der Kaase’schen prozessualen Definition, alles in etwa gleichermaßen wichtig. Jedweder Unterschied scheint ein Hemmnis, jede Annäherung oder Übereinstimmung ein Aktivposten auf dem Wege zur „inneren Einheit“ zu sein. Auf die höchst problematischen, kaum reflektierten Implikationen dieser sozialwissenschaftlichen Definition wird noch zurückzukommen sein.
Sozialisationstheorien in der Kritik: Wie prägend war der DDR-Sozialismus? Zunächst ist an den vorstehenden Beispielen bereits deutlich geworden, dass ihre Interpretation wesentlich von der jeweils zu Grunde liegenden Sozialisationstheorie bestimmt wird. Beispielsweise können die ostdeutschen Forderungen nach Gleichheit und Sozialstaatlichkeit oder die verbreitete Kritik am gegenwärtigen Zustand der Demokratie, grob vereinfacht, in drei Richtungen interpretiert werden: sozialistisch-ideologisch, sozialdemokratisch-egalitär oder als unideologischsituationsbezogene Forderung nach gleichen materiellen Lebensverhältnissen. Tatsächlich bestimmen zumeist ideologische Interpretationsmuster die ostdeutschen (aber auch westdeutschen) Datenbefunde, ganz im Sinne einer soziologischen Sozialisationstheorie, die die empirische Sozialforschung in aller Regel zu Grunde legt, wenn sie den Zustand und die Entwicklung der beiden deutschen Teilgesellschaften in den Blick nimmt und die zitierten Defizite an „innerer Einheit“ konstatiert, weil die frühen Prägungen so unterschiedlich waren. Diese Sozialisationstheorie nimmt die frühe Prägung und dauerhafte Verinnerlichung von Regeln und Normen an, die in jungen Jahren anerzogen bzw. erworben wurden und den Menschen dauerhaft über Jahrzehnte determinieren. Offen bleibt, ob und wie er sich jemals davon lösen kann. So weit die Annahmen. Doch wie plausibel ist die soziologische Sozialisationstheorie mit Blick auf die DDRGesellschaft? Sie kann vor allem zwei Fragen nicht beantworten: Weshalb konnte 25 Vgl. grundsätzlich A. Müller-Armack, Genealogie der sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern/Stuttgart 1981 (2. Auflage), 15 und erfahrungsgesättigt G. Stoltenberg, Wendepunkte. Stationen deutscher Politik 1947–1990, Berlin 1997, insbes. 27ff.
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es dann überhaupt zur fortschreitenden Delegitimierung der DDR seit den frühen 1980er Jahren, die selbst von der staatlich betriebenen Demoskopie registriert, allerdings nicht veröffentlicht wurde26 und zur Friedlichen Revolution im Jahre 1989 kommen? Und wieso haben sich nach der Vereinigung in den neuen Ländern die politischen Einstellungen und Beurteilungen durchaus in unterschiedliche Richtungen wiederum verändert? Die herrschende Lehre der deutschen Soziologie versuchte eine Auflösung dieses Widerspruchs, indem sie die so genannte Latenz-Hypothese ins Spiel brachte.27 Danach blieben die sozialistischen ordnungspolitischen Überzeugungen auch während der Revolutionszeit und danach untergründig erhalten, sie wurden im subjektiven Bewusstsein nur durch eine kurze Phase der Euphorie zu Beginn des Vereinigungsprozesses überlagert. Mit der bald darauf einsetzenden Ernüchterung über die sozialökonomische Entwicklung, nachdem die viel begehrte „Banane“ (Jürgen Trittin) also konsumiert war, so die Hypothese, wurden dann die alten Prägungen wieder manifest. Überzeugend ist diese Variante zur Rettung der alten Sozialisationslehre indes nicht. Sie ignoriert die Fähigkeit der Menschen, Erfahrungen rational zu verarbeiten und flexibel darauf zu reagieren. Warum muss beispielsweise die unbestreitbare Ernüchterung nach der Vereinigungseuphorie gleich zum Rückfall in altsozialistische Verhaltensstrukturen führen? Oder wie konnte zuvor die Freude an der Wiedervereinigung überhaupt aufkommen? Waren die Menschen etwa nur verblendet und sich über ihre eigenen Vorstellungen nicht im Klaren? Genau dies wird anscheinend unterstellt und damit in bedenklicher Weise mit Unterscheidungen von „objektiver“ sozialer Prägung und „subjektiver“ Stimmung operiert, die fatal an ähnliche Theoreme marxistischer Provenienz erinnern. Aber selbst dann kann man den Verfall der Zustimmung zum SED-Regime in der DDR-Gesellschaft lange vor seinem endgültigen Zusammenbruch nicht erklären. Plausibler, aber in den Sozialwissenschaften bis heute offenbar weithin unterschätzt, dürfte die Erklärung sein, auf die der Kölner Soziologe E. Scheuch28 früh hinwies, dass nämlich die Mauer am Ende nicht so dicht war und die Abschottung und Indoktrination nicht so perfekt gelangen, wie im Westen 26 Vgl. W. Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16–17 (1990) und ders./P. Förster, Jugendliche in den neuen Bundesländern, in: H.-J. Veen u. a., Eine Jugend in Deutschland? Orientierungen und Verhaltensweisen der Jugend in Ost und West, Opladen 1994. 27 Exemplarisch dafür: B. Westle, Demokratie und Sozialismus. Politische Ordnungsvorstellungen im vereinten Deutschland zwischen Ideologie, Protest und Nostalgie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 4 (1994), 571–596. 28 Vgl. E. K. Scheuch/U. Scheuch, Wie deutsch sind die Deutschen? Eine Nation wandelt ihr Gesicht, Bergisch-Gladbach 1991.
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häufig angenommen wurde. Das Referenzsystem der Ostdeutschen war und blieb immer der Westen, die Bundesrepublik. Richard Schröder, Bürgerrechtler und Theologe an der Humboldt-Universität, hat dies früh bezeugt: „Zur ostdeutschen Identität […] gehörte der ständige, oft nur verstohlene Blick über die Mauer nach drüben. Und dieses Drüben war nie Österreich oder die Schweiz, wo es sich ja auch ganz gut leben lässt, sondern immer der andere Teil Deutschlands. Wir waren über das Fernsehen jeden Abend Zaungäste des Westens.“29 Schröder beschreibt hier die so genannte virtuelle West-Sozialisation, die kommunikativ vermittelt wurde. Diese war sicher unvollständig, sie war auch hochgradig verzerrt und idealisiert, viele Enttäuschungen nach der Wiedervereinigung sind darauf zurückzuführen. Immerhin waren die meisten Ostdeutschen ständig in der Lage, zu vergleichen, Erfahrungen zu verarbeiten und zu unterscheiden. Das heißt aber, dass sie sich bei allen Restriktionen des Systems und trotz ihrer Erziehung zu angepassten, neuen, sozialistischen Menschen weiterhin in beträchtlichem Ausmaß selbst bestimmen konnten. Sie waren der Propaganda geistig und psychisch nicht total ausgeliefert und viele entzogen sich dem Anpassungsdruck in der viel zitierten Nischengesellschaft auf je unterschiedliche Weise. Die kommunikative Sondersituation der Ostdeutschen als ständige „Zaungäste des Westens“ und die Folgerungen, die sie daraus mit Blick auf ihr eigenes Regime gezogen haben, verweisen meines Erachtens vor allem auf eines, nämlich die Lernfähigkeit der Menschen und ihre Fähigkeit zur reflexiven und emotionalen Verarbeitung eigener Erfahrungen. Diese Fähigkeiten werden in der jüngeren psychologischen Sozialisationstheorie hervorgehoben, nach der Sozialisation im ständigen Austausch zwischen Umwelt und Individuum und dessen überwiegend kognitiv gesteuerten permanenten Anpassungsleistungen an Systemveränderungen stattfindet. „Produktive Lebensverarbeitung“ heißt der Schlüsselbegriff für die Fähigkeit des Einzelnen, Situationen zu beurteilen, auf Erfahrungen zu reagieren und sich selbst positionieren zu können. Wie viel plausibler (und menschenfreundlicher) sind doch diese anthropologischen Annahmen als jene von der frühen Prägung, um nicht zu sagen „Programmierung“ der Menschen und deren dauerhafter Verinnerlichung!
Mentalität oder Ideologie? Gleichwohl werden in der Diskussion über die „innere Einheit“ immer wieder die unterschiedlichen Mentalitäten beschworen, die die Deutschen in Ost und West voneinander trennen, von „mentaler Verwestlichung“ und „mentaler 29 R. Schröder, Warum sollen wir eine Nation sein?, in: Die Zeit vom 25. April 1997.
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Zusammenführung“ war vorn schon die Rede. Der Soziologie Wolf Lepenies hat auf dem Leipziger Historikertag 1994 auf das Problem eines möglicherweise „schroffen Mentalitätsbruches“ durch den revolutionären Umbruch in der DDR hingewiesen, aber auch auf die Eventualität, dass dadurch „alte, lange Zeit unterdrückte Einstellungen und Verhaltensdispositionen“ frei gelegt werden könnten. Und Wolfgang Schluchter behauptet pauschal, dass vierzig Jahre mentaler Prägung der Ostdeutschen weiterwirkten und der Akzeptanz westlichdemokratischer und sozial-marktwirtschaftlicher Prinzipien entgegenstünden.30 Hier wird Mentalität praktisch zu einem Synonym für sozialistische Deformation, also der rigiden soziologischen Variante der Sozialisationstheorie. Doch wie die bisherige DDR-Mentalität und die möglicherweise wieder frei gelegte ältere beschaffen gewesen sein könnten, bleibt offen.31 Jüngst hat auch der frühere sachsen-anhaltische Ministerpräsident Wolfgang Böhmer auf eine „mentale Hypothek der DDR“ hingewiesen, die darin bestünde, „dass die Menschen soziale Sicherheit höher gewichten als individuelle Freiheit“. 32 Abgesehen davon, ob der Mentalitätsbegriff überhaupt das trifft, was Böhmer artikuliert, oder ob hier nicht präziser von Ideologie zu sprechen ist, fällt doch ganz generell auf, wie leichthin und unreflektiert wir mit „Mentalitäten“ im Zusammenhang mit der „inneren Einheit“ operieren. Es ist meines Erachtens hohe Zeit, den Mentalitätsbegriff genauer ins Auge zu fassen. Mentalität bezeichnet die vorherrschenden Denk- und Verhaltensmuster einer Person oder Gruppe von Menschen. „Historische Mentalität ist das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist“, so die Definition des Historikers Peter Dinzelbacher, vor allem mit Blick auf historische Mentalitäten.33 Dinzelbacher ist Mediävist und hat den Mentalitätsbegriff ausdrücklich in historischer Perspektive definiert. Wie weit und wie tief Mentalitäten im Sinne kollektiver Prädispositionen die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen in der modernen Gesellschaft noch bestimmen, ist inzwischen sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie sehr umstritten. Der Mentalitätsbegriff gilt vielen heute als historisch überholt und den Verhaltensund Orientierungsdeterminanten der modernen Gesellschaft nicht mehr angemessen. Erstaunlich ist, dass es kaum systematische empirische Untersuchungen neueren Datums zu den unterschiedlichen Mentalitäten in Ost- und 30 W. Schluchter, Neubeginn durch Anpassung. Studien zum ostdeutschen Übergang, Frankfurt am Main 1996, 54. 31 W. Lepenies, Für eine Politik der Mentalitäten. Über das Zeitalter der Revisionen und neuen Identitätsfindungen, in: Frankfurter Rundschau vom 22. Oktober 1994. 32 Interview in: Der Spiegel, Nr. 16/2010, 40. 33 P. Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 2008 (2. Auflage), XXI.
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Westdeutschland, also auch nicht zur viel beschworenen DDR-Mentalität oder zur Mentalität der alten Bundesrepublik gibt. Was ist also gemeint, wenn ständig von den Mentalitätsunterschieden die Rede ist, ohne dass das jeweils Spezifische präziser bestimmt wird? Sind mit Blick auf die Ostdeutschen autoritäre Verhaltensmuster, anknüpfend an die Studien von Theodor W. Adorno et al. zur „autoritären Persönlichkeit“, gemeint?34 Ist es der Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum, die Unterordnung des Einzelnen? Wird auf die Affinität zum obrigkeitlich betreuenden Sozialstaat oder zur „fürsorglichen Diktatur“ abgehoben? Ist das gespaltene Auftreten gemeint, das Ostdeutsche gelernt haben, vorsichtig und bedeckt in der Öffentlichkeit als langlebige Lehre aus der Allgegenwart der Stasi, freimütig und offen nur in der Familie? Oder ist die hohe Wertschätzung der Gleichheit im Vergleich zur individuellen Freiheit Ausdruck typisch ostdeutscher Mentalität? Gerade bei Letzterem geht es aber meines Erachtens eher um eine ideologische Prägung, die nachwirken könnte, aber auch durch akute sozio-ökonomische Problemlagen indiziert sein kann. Vielleicht darf der viel erforschte Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit der Ostdeutschen gar nicht so grundsätzlich, so tiefgründig interpretiert werden, wie dies gemeinhin geschieht und als Ausdruck früher und nachhaltiger sozialisatorischer Prägung begriffen wird? Weder mentale noch ideologische Prägungen sind quasi genetische Codes, die unser Leben definitiv determinieren. Die wohl eindrücklichste Unterscheidung von Mentalität und Ideologie stammt von Theodor Geiger schon aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Geiger hat Mentalität als die Summe von über Generationen eingeschliffener Überzeugungen, Glaubensgewissheiten, lebensweltlicher Prägungen und Verhaltensnormen beschrieben, die sich im Alltagshandeln mehr oder weniger unbewusst realisieren. Mentalitäten werden weitgehend kollektiv entwickelt und geteilt. Sind nur potenziell reflexiv und bleiben langfristig stabil. Mentalität ist demnach eine „geistig-seelische Disposition“, die er plastisch gegen ideologische Prägungen abgrenzt: „Mentalität ist subjektiver (wenn auch Kollektiv-)Geist – Ideologie ist objektiver Geist. Mentalität ist geistig-sittliche Haltung, Ideologie aber geistiger Gehalt. Mentalität ist Geistesverfassung – Ideologie ist Reflexion, ist Selbstauslegung, Mentalität ist ‚früher‘, ist erste Ordnung – Ideologie ist ‚später‘ […] Mentalität ist Lebensrichtung, Ideologie ist Überzeugungsinhalt […] Mentalität ist eine Haut – Ideologie ein Gewand.“35 Und ein Gewand, möchte man, um im Bild zu bleiben, hinzufügen, kann man auch viel rascher wieder abstreifen als die in den Tiefenschichten des Unter- oder Halbbewusstseins ver34 T. W. Adorno et al., The Authoritarian Personality, New York 1950. 35 T. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Faksimile-Nachdruck der 1. Auflage 1923, Stuttgart 1987, 77ff.
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haftete Mentalität. Genau dieses aber ist bereits im Vorfeld der Friedlichen Revolution offenbar geschehen, der Wille zur Freiheit war offenbar stärker als die alte Schwerkraft des DDR-Sozialismus.
„Mentale Prägungen“ sind Spekulationen Wie tief die Ost- oder die Westdeutschen mental geprägt sind und wie sich diese Prägungen ausdrücken, ist in der empirischen Sozialforschung bisher wenig systematisch erforscht. Wir wissen auch gar nicht genau, was die „westliche“ Mentalität der alten Bundesrepublik kennzeichnen soll. In den Arbeiten der Bayreuther Sozialwissenschaftler Winfried Gebhardt und Georg Kamphausen zur Mentalitätsforschung in ländlichen Gemeinden hüben und drüben wird vielmehr ein beträchtliches Maß altdeutsch tradierter mentaler Gemeinsamkeiten zu Tage gefördert, die noch aus der Vorkriegszeit stammen.36 Demnach haben die 40 Jahre der ideologischen Indoktrination in der DDR relativ wenig bewirkt im Sinne der Erziehung zum Sozialismus. Aber auch der Individualismus und die Pluralität moderner Gesellschaftsentwicklung sind in den ländlichen Gemeinden des Westens bis heute nicht voll durchgedrungen. Der Mentalitätsbegriff, so viel scheint klar, ist immer weniger geeignet, die offenen und wandelbaren Strukturen moderner Gesellschaften zu erfassen. Sicher gibt es mentale Residuen unterschiedlichster Art in den verschiedenen Winkeln und Ecken Deutschlands, zählebiger wohl in ländlichen Räumen, oberflächlicher in großstädtischen – und zwar in West und Ost und Nord und Süd. Aber so wenig es die ostdeutsche Mentalität gibt, gibt es die westdeutsche. Und wie nachhaltig sie prägen, ist reine Spekulation. In erster Linie agieren heute Individuen und Gruppen, die sich reflexiv und emotional mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und dies in individuelles und gesellschaftliches Handeln umsetzen. Permanente Lern- und Anpassungsprozesse bestimmen das Leben in der offenen Gesellschaft sicherlich stärker als mentale Prägungen. Aber selbst wenn wir unterschiedliche mentale Prägungen annehmen, müssen wir diese nicht nur zwischen West- und Ostdeutschen, sondern regional und landsmannschaftlich weitaus vielfältiger verorten. Doch wieso sollen diese unterschiedlichen Mentalitäten überhaupt der „inneren Einheit“ entgegenstehen? Das können sie meines Erachtens nur dann, wenn es sich um eindeutig antidemokratische, intolerante und antipluralistische Denk- und Verhaltensweisen handelt und diese von beträchtlichen gesellschaftlichen Gruppen geteilt werden und 36 Vgl. W. Gebhardt/Georg Kamphausen, Mentalitätsunterschiede im vereinigten Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16 (1994), 29ff.
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damit die politische Kultur in Deutschland in autoritär-antidemokratischer Richtung mitzuprägen vermögen. Hiervon kann aber gegenwärtig weder im östlichen noch im westlichen Deutschland die Rede sein.
Die Homogenisierungsfalle Am problematischsten aber an den sozialwissenschaftlichen empirischen Forschungsansätzen ist, dass sie tendenziell alle Lebensfelder und Ebenen menschlicher Existenz umgreifen und auf Unterschiede bzw. Übereinstimmungen hin abklopfen wollen – und dabei in eine höchst gefährliche Homogenisierungsfalle tappen, die in der prozessualen Definition von „innerer Einheit“ nach Kaase angelegt ist. Denn wendet man die konstatierten vielfältigen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen, die als Defizite „innerer Einheit“ erscheinen, einmal ins Positive, dann laufen sie in der Summe, mehr implizit als explizit, in der Tat auf das Ideal der Übereinstimmung aller politischen Werthaltungen, Weltanschauungen, Mentalitäten, Vorurteile, Sympathien, Antipathien, Verhaltensweisen und Empfindungen hinaus. Die „innere Einheit“ scheint erst dann wirklich vollendet, wenn die totale Gleichartigkeit aller in allem, romantisch formuliert, im völligen Gleichklang der Seelen und Herzen, des Denkens, Fühlens und Handelns, gegeben ist. Vielleicht bricht sich in diesen komplexen Vorstellungen von „innerer Einheit“ nur die alte deutsche Sehnsucht nach Harmonie Bahn. Der Vergleich mit den Metaphern der Wandervogelbewegung der Jahrhundertwende drängt sich auf, die „innere Einheit“ wird zur „blauen Blume“ der neuen deutschen Einheitsbewegung, voller Sehnsucht gesucht und nie gefunden. Das Ideal einer neuen, total homogenen Gesellschaft ist natürlich nirgendwo formuliert, es ist allerdings der logische Umkehrschluss aus der Konstatierung ihrer Defizite. Die Einheit total wird wohl von niemandem bewusst angestrebt. Aber wir Deutsche sind zweifach totalitarismusgeschädigt und wir müssen penibel darauf achten, dass das Streben nach „innerer Einheit“ nicht unter der Hand zum Einfallstor eines neuen deutschen Gemeinschaftsmythos werden kann. Denn nicht die „substantielle Gleichheit“ der Deutschen, die Carl Schmitt 192337 in seiner Fundamentalkritik der parlamentarischen Demokratie zum Ideal der Volkseinheit bestimmte, sondern die Gleichheit der Ungleichen, pluralistische Gesellschaft, nicht homogene Gemeinschaft kennzeichnen die liberale Demokratie des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Nicht die totale Gleichheit bestimmt sein Menschenbild und das 37 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Neuauflage Berlin 1969, 21ff.
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Gesellschaftsverständnis des vereinigten Deutschland, sondern Einzigartigkeit und Vielfalt der Individuen.
Völkische Gemeinschaft oder pluralistische Gesellschaft? Die fundamentale Unterscheidung von Gemeinschaft und moderner Gesellschaft wurde in den Sozialwissenschaften erstmals von dem deutschen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“38 herausgearbeitet, das 1887 erschien und die Entwicklung der Sozialwissenschaften bis heute grundlegend beeinflusst. Tönnies verlor 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Professur, weil er die NS-Bewegung offen kritisierte, er starb 1936. Ferdinand Tönnies hat „Gemeinschaft“ vor allem emotional und geistig begründet, durch ein hohes Zusammengehörigkeitsgefühl, ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten und emotionalen Verbindungen, als Gleichgesinntheit ihrer Glieder,39 als eine Art Wesensgleichheit, die von einem gemeinsamen „Wesenswillen“, wie Tönnies ihn nannte, bestimmt ist.40 Ihm ordnet sich der Einzelne unter oder geht in ihm auf. Der von ihm geprägten Begrifflichkeit hat sich übrigens teilweise die deutsche Jugendbewegung und auch der frühe Nationalsozialismus bedient, auch wenn Tönnies den Gemeinschaftsbegriff durchaus kritisch, aber analytisch präzise zu erfassen versuchte. „Gemeinschaft“ konstituiert sich nach Tönnies nach drei Kriterien: durch Blut bzw. Verwandtschaft, durch einen Ort bzw. eine Dorfgemeinschaft oder als Gemeinschaft des Geistes bzw. der Freundschaft, als „gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung“41. Auch die so genannte „klassenlose Gesellschaft“ im entwickelten Sozialismus, das sozialistische „Kollektiv“, ist demgemäß eine Form von Gemeinschaft. Dagegen ist die „Gesellschaft“ ein Zusammenschluss von Individuen, um gemeinsam individuelle, aber auch gemeinsame Zwecke zu verfolgen. „Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche […] auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind.“42 Hierfür ist der von Tönnies so 38 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. 39 Vgl. dazu „Theorie der Gemeinschaft“, hier und im Folgenden zitiert nach: F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der Soziologie, Darmstadt 1991 (Neudruck der letzten, achten Auflage von 1935), 7ff. 40 Vgl. ebd., 74ff. 41 Ebd., 17. 42 Ebd., 34.
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genannte „Kürwillen“ bestimmend.43 Im Kürwillen drückt sich das Bestreben der Einzelnen aus, das Zusammenleben nach ihrem eigenen Bilde funktional zu gestalten. Tönnies rekurriert hier auf das moderne Naturrecht und die auf ihm gründenden Vertragstheorien. Die Gesellschaft ist also ein gewolltes Bündnis von Menschen zu für alle und für den Einzelnen nützlichen Zwecken. Die Gesellschaft dient der Befriedigung individueller Bedürfnisse, die alleine nicht erreichbar sind, für die man andere braucht. Mit dem modernen pluralistischen Gesellschaftsbegriff ist auch das Individuum, der einzelne Mensch mit seinem Recht auf Selbstbestimmung, ins Zentrum der sozialwissenschaftlichen Betrachtung getreten. Es geht sozialphilosophisch und rechtlich in der Ausgestaltung des demokratischen Verfassungsstaates der Neuzeit immer wieder um die Balance zwischen individueller Selbstbestimmung und die Notwendigkeiten des Zusammenlebens und des Miteinanders in einer Gesellschaft, die gemeinsame Normen und Werte für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben und für ihre eigene Stabilisierung benötigt. Dem demokratischen Verfassungsstaat entspricht eine Gesellschaft der Individuen, in der jeder einzelne Mensch seine eigene Würde und ein grundlegendes Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung hat. Diese pluralistische Gesellschaft hat wiederum als erster der deutsch-dänische Soziologe Theodor Geiger beschrieben, der als Professor in Braunschweig 1933 emigrieren musste und im dänischen Aarhus ein bedeutendes Institut für Sozialforschung aufbaute, das er nach der deutschen Besetzung Dänemarks in Richtung USA verlassen musste. Geiger hat in seinem bahnbrechenden Werk „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“44, das 1923 erschien, die moderne Gesellschaft (der Weimarer Republik), anknüpfend an Ferdinand Tönnies, genauer in den Blick genommen und erstmals versucht, sie präziser zu erfassen. Er hat die ganze Vielfalt der Komponenten moderner Gesellschaften, der individuellen sozialen Lagen und der Individuen selbst herausgearbeitet und sich dabei auf sozialwissenschaftliche Erhebungen gestützt, die damals ein Novum waren. So wurde Geiger zum Begründer der Schichtungssoziologie. Er hat als erster ein anschauliches Bild der Vielfalt und Differenziertheit moderner Gesellschaften geliefert und die Gesellschaft nach den Bildungsgraden der Menschen, nach ihren Berufen, nach individuellen Eigenschaften, nach ihren Lebensstandards, nach ihrer Religion, nach ihrer ethnischen Abstammung, nach ihrem Elternhaus, nach der Mitgliedschaft in Vereinen, nach ihren Mentalitäten und nach politischen Einstellungen differenziert. Dabei wurde deutlich, dass die moderne Gesellschaft nicht nur aus Individuen, sondern aggregiert auch aus einer Fülle von Minderheiten besteht, die in ihrer Summe die pluralistische 43 Vgl. ebd., 90ff. 44 T. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Anm. 34.
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Gesellschaft ausmachen. Moderne Gesellschaften sind soziologisch gesehen immer Minderheitengesellschaften. Die individualistische und pluralistische Beschaffenheit der modernen Gesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland rasant und mit großen Verzögerungen und Brechungen auch in der DDR vorankam, ist heute eine Binsenweisheit. In dieser Gesellschaft verlaufen die Konfliktlinien zwischen diversen Minderheiten sozusagen kreuz und quer, sodass auch die Vorstellung von „zwei Gesellschaften“ in Deutschland45 von falschen Voraussetzungen ausgeht, da sich diese Gesellschaften in ihrer Binnenstrukturierung gar nicht so eindeutig gegenüberstehen und voneinander abgrenzen lassen, zumal auch die unterschiedlichen politischen Sozialisationen, wie gezeigt, so eindeutig nicht sind. Wenn wir also heute über „innere Einheit“ nachdenken, können wir dies nur auf der Grundlage des eben skizzierten modernen pluralistischen Gesellschafts- und Staatsverständnisses. Dies sollte auch die empirische Sozialforschung zur Kenntnis nehmen und ihre zwischen West und Ost künstlich polarisierenden Forschungsansätze ebenso aufgeben wie ihr implizites Homogenitätsideal.
Einheitliche materielle Lebensverhältnisse oder legitime Ordnung? Im Alltagsverständnis wird die Frage der „inneren Einheit“ allerdings besonders häufig auf die Herstellung sozialer oder ausgleichender Gerechtigkeit verengt. Im Vordergrund stehen dabei die schon zitierten „egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen“, die in Ostdeutschland ausgeprägt und längst zu einem Hebel der Linkspartei in der politischen Auseinandersetzung geworden sind. Diese Verkürzung des Gerechtigkeitsbegriffs entspricht zwar der Ideologie der LINKEN, sie darf die Diskussion über eine gerechte Ordnung von Staat und Gesellschaft im wiedervereinten Deutschland aber nicht beherrschen. Denn sonst geraten wesentliche Errungenschaften der Wiedervereinigung für alle Deutschen aus dem Blick, die den demokratischen Verfassungsstaat46 qualifizieren: Grund- und Freiheitsrechte, die Gleichberechtigung aller Menschen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte, Generationengerechtigkeit, Regelgerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit, neben der ausgleichenden Gerechtigkeit, kurzum, die Gerechtigkeit eines Normensystems, eine rechtliche Grundordnung, die die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die die Chancengleichheit aller in der 45 So W. Heitmeyer, Ein Land, zwei Gesellschaften, in: Die Zeit vom 4. Dezember 2008. 46 Vgl. grundlegend C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin u. a. 1953, sowie E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, erw. Ausgabe, Frankfurt am Main 1991.
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Gesellschaft gleichermaßen garantiert und ein menschenwürdiges Zusammenleben sichert. Gerechtigkeit im Staat hat immer viele Dimensionen, die kunstvoll miteinander in Einklang gebracht werden müssen und für die es kein vorgegebenes Muster gibt. Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema der Ethik, der Rechts- und Sozialphilosophie, der Staats- und Politikwissenschaft, auch der Moraltheologie auf der Suche nach sittlichen und rechtlichen Maßstäben für ein angemessenes Zusammenleben der Menschen. Am treffendsten erscheint mir deshalb die Gerechtigkeitsdefinition, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (V9 1133B) gegeben hat, in der er Gerechtigkeit als eine Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, zwischen Unrecht tun und dem Erleiden von Unrecht bestimmt. Bezogen auf die „innere Einheit“ bedeutet das die Frage nach einem Zuviel oder einem Zuwenig an Übereinstimmung. Wie viel Einheit braucht also die pluralistische Demokratie der Bundesrepublik, um einerseits der Homogenisierungsfalle zu entgehen, andererseits als Nation handlungsfähig zu sein? Wo ist hier die Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Einheit? Das aristotelische Verständnis von Gerechtigkeit macht deutlich, dass es keine überzeitliche Gerechtigkeit geben kann, sondern dass um Gerechtigkeit im Staat immer wieder gerungen werden muss, dass es um die Angemessenheit, um die Abwägung und Balancierung unterschiedlicher Güter, um den Ausgleich unterschiedlicher Wertvorstellungen und Interessen geht. Insofern ist der Gerechtigkeitsbegriff immer ein relativer, aber nur so kann er entsubjektiviert und vor allem entideologisiert werden. Gerechtigkeit mit sozialer Gerechtigkeit im Sinne sozialer Gleichheit gleichzusetzen, ist eine ideologische Verkürzung, die allen Vorstellungen von gesellschaftlichem Pluralismus, Individualismus und Chancengleichheit widerspricht. Gleichwohl wird im Namen der „inneren Einheit“ besonders häufig die Angleichung, möglichst die Gleichheit der materiellen Lebensverhältnisse, gleiche Arbeitsbedingungen und gleiche Einkommen in West und Ost gefordert. Messlatte ist dabei zumeist unbesehen das in 40 Jahren erarbeitete westdeutsche Wohlstandsniveau der frühen 1980er Jahre, das seither nie mehr erreicht wurde. Hierin scheint mir bis heute eine wesentliche Quelle der Frustration vieler Ostdeutscher zu liegen, die die Aufbauleistungen der neuen Länder in aller Regel mit der alten Bundesrepublik und nicht mit ihren ehemaligen sozialistischen „Bruderstaaten“ vergleichen, die allesamt deutlich schwächere wirtschaftliche Transformationsentwicklungen aufweisen und längst nicht die Wirtschaftskraft der neuen Länder erreicht haben. Gefordert wird der Aufbau einer dem Westen entsprechenden Wirtschafts- und Infrastruktur, der Verkehrswege und der Telekommunikation. Letztere konnten im Zuge des Aufbaus Ost in hohem Maße geschaffen werden, die Kommunikationsnetze und die ostdeutschen Autobahnen sind häufig moderner als im Westen. Aber
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trotz aller Anstrengungen des Aufbaus Ost, in den in den letzten 20 Jahren nach Schätzungen der Ökonomen zwischen 1.200 und 1.400 Milliarden Euro geflossen sind, und obwohl noch immer beträchtliche Steuermittel von West nach Ost fließen, kann von einer einheitlichen Wirtschaftsstruktur im vereinten Deutschland nicht gesprochen werden. Die Wirtschaftskraft im Osten hinkt dem Westen noch immer hinterher. Gleichwohl ist der Aufbau Ost eine „große historische Leistung“, so der Magdeburger Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Finanzminister in Sachsen-Anhalt Karl-Heinz Paqué, die überall in Ostmitteleuropa ihresgleichen sucht.47 Eine enorme Aufholleistung ist zu bilanzieren.48 Die Wirtschaftsleistung Ost, die Anfang der 1990er nur bei 30% des Westniveaus lag, ist inzwischen auf 75 bis 80% des westlichen Niveaus gestiegen. Die Renten liegen mittlerweile nahe beieinander, sind in den neuen Ländern auf Grund der häufigeren Berufstätigkeit der Frauen oft sogar höher. Im öffentlichen Dienst werden inzwischen gleiche Gehälter gezahlt. In der Wirtschaft liegt das Tarifniveau im Osten inzwischen bei 96% der Westverdienste. Die Arbeitszeit liegt mit durchschnittlich 38,8% Stunden leicht über den 37,4% Stunden im Westen, so eine aktuelle tarifpolitische Bilanz des WSITarifarchivs der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.49 Allerdings ist die Arbeitslosenquote im Durchschnitt der neuen Länder fast doppelt so hoch wie im Westen, auch wenn es hier regional große Unterschiede gibt. In den alten Industriezentren des Ruhrgebietes oder im Saarland sind die Arbeitslosenquoten etwa so hoch wie im Osten, in den neuen industriellen Kernen des Ostens, im Thüringer Becken oder im Raum Dresden, sind sie dagegen deutlich niedriger als im Westdurchschnitt. Größere Unterschiede wird es auch mittelfristig noch in der Verteilung des Vermögens geben. Denn in der DDR konnte praktisch kein größeres Vermögen erworben werden, Häuser waren nichts wert, weil sie nicht unterhalten werden konnten, weil die Baumaterialien fehlten, Wohnungen brachten keine Mieteinnahmen, während im Westen Deutschlands fleißig Eigentum gebildet und „Häusle“ gebaut wurden. Nach wie vor gibt es also ein wirtschaftliches Gefälle, das sich allerdings in den letzten 20 Jahren erheblich eingeebnet hat. Heute konstatiert die Wirtschaftsforschung, dass sich das „Wirtschaftswachstum in Ost und West im Gleichschritt (vollzieht), das heißt mit gleichen Wachstumsraten, aber auf
47 Vgl. K.-H. Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, München 2009. 48 Vgl. zum Folgenden die detaillierte Analyse der Kosten, Leistungen und ökonomischen Entwicklungen des Aufbaus Ost bei K.-H. Paqué, Die Bilanz, Anm. 47. 49 Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. April 2010, 15.
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unterschiedlichen Niveaus“.50 Das bedeutet, dass es auch in Zukunft eine Angleichungslücke in der Wirtschaftsleistung geben wird, die auch gegen Ende des Solidarpaktes II im Jahre 2019 nicht geschlossen sein wird. Es wird demnach, folgt man den Ökonomen, keine volle Angleichung der wirtschaftlichen Infrastruktur noch der Wirtschaftskraft noch der Einkommensverhältnisse noch der Arbeitslosenzahlen geben, vielmehr werden sich die Entwicklungen in Zukunft weitgehend parallel, aber leicht versetzt vollziehen. Auch eine noch so intensive oder filigrane staatliche Förderung, so renommierte Wirtschaftsforscher wie Rüdiger Pohl, ehemaliger Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Halle (IWH) und früheres Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, kann die Angleichung der Wirtschaftskraft nicht erzwingen.51 An dieser Stelle kann nun weder den Ursachen dieser unterschiedlichen Entwicklung nachgegangen werden noch ein detaillierter ökonomischer OstWest-Vergleich oder ein Vergleich zwischen den neuen Ländern und den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten angestellt werden. Offensichtlich ist nur, dass die ökonomischen Spätfolgen des Sozialismus und der Verfall der technisch-industriellen Innovationskraft in der DDR weitaus schwerer wogen als allgemein prognostiziert worden war und die Kosten des Aufbaus Ost lange massiv unterschätzt wurden. Doch nicht die Bestandsaufnahme der Kosten und Leistungen der Transformation der DDR-Wirtschaft ist unsere Aufgabe dies wird an anderer Stelle in diesem Band geleistet,52 sondern der Frage nachzugehen, wie weit die Einheitlichkeit von Wirtschaftsstrukturen, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu Kriterien der „inneren Einheit“ gemacht werden dürfen. Denn auch in der alten Bundesrepublik gab es immer beträchtliche Unterschiede zwischen wirtschaftlich prosperierenden und wirtschaftsschwachen Regionen. Es gab nicht nur das traditionelle Nord-Süd-Gefälle und später den Zusammenbruch der alten Industrien Kohle und Stahl an Rhein, Ruhr und Saar. Auch das gesamte Zonenrandgebiet von Schleswig-Holstein bis Bayern blieb jahrzehntelang wirtschaftsschwach. Die regionale Wirtschaftsförderung der alten Bundesrepublik hatte bei allen Anstrengungen immer nur begrenzte Erfolge und konnte die Unterschiede nie dauerhaft aufheben. Ein Problem der „inneren Einheit“ Westdeutschlands aber war das nie. Niemand wäre auf die Idee gekommen, mit Blick auf die regionalen Unterschiede in der alten Bundesrepublik die 50 R. Pohl, Thesen zur ökonomischen Transformation in den neuen Ländern und den Folgen für das vereinte Deutschland, in: H.-J. Veen/P. März/F.-J. Schlichting (Hg.), Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus, Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 15, Köln/Weimar/Wien 2010, 123ff. 51 Ebd., 123ff. 52 Siehe unten den Beitrag von U. Blum, Aufbau Ost – eine gerechte Investition, 91ff.
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„Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, die der Artikel 72, Absatz 3 GG, bis zu seiner Neufassung 1994 über Jahrzehnte tatsächlich postulierte, zu reklamieren. Denn die finanziellen und sozialen Ausgleichsmechanismen funktionierten, die auch heute wirksam sind: Länderfinanzausgleich, staatliche Sozialleistungen und seit der Wiedervereinigung die Solidarpakte I und II. Die regionale Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik, dies ist auch die jahrzehntelange Erfahrung in den alten Bundesländern, stößt immer wieder an die Grenzen einer Wettbewerbsordnung, in der letztlich die Unternehmen entscheiden, wo, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen sie produzieren und dafür auch die Verantwortung übernehmen. Die Herstellung einheitlicher ökonomischer Lebensverhältnisse müsste den Staat überfordern, wie sie auch die Zentralverwaltungswirtschaft der DDR überfordert und das Land in den Bankrott getrieben hat. Es wäre also illusorisch zu glauben, der Staat könnte in Deutschland einheitliche Wirtschafts- und Lebensverhältnisse herstellen. Diese gab es nie und kann es in einer freiheitlichen Verfassungsordnung mit einer Sozialen Marktwirtschaft wie der Bundesrepublik auch nicht geben. Diese Marktwirtschaft befindet sich in europaweiter, ja, in globaler Konkurrenz und muss sich am Weltmarkt behaupten. Jede Bundesregierung sollte sich also hüten, Erwartungen zu wecken oder gar anzuheizen, die sie auf dem Boden des Grundgesetzes schlechterdings nicht erfüllen kann. Der demokratische Staat kann nur ökonomische Rahmenbedingungen und Anreizsysteme schaffen und, zeitlich begrenzt, Subventionen gewähren und Aufbauhilfen für Unternehmen leisten. Aber wirtschaften muss am Ende die Wirtschaft, das ist eine der fundamentalen Lehren aus dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Ruin seiner Staatswirtschaft. So sehr natürlich jede Regierung bemüht sein muss, die Kluft zwischen wirtschaftsstarken und wirtschaftsschwachen Regionen, die sich in wechselnden Konstellationen immer wieder auftut, einzuebnen, so wenig kann das zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht gemacht werden, weil das an Voraussetzungen gebunden wäre, über die der freiheitliche Staat nicht verfügt. Die „Einheitlichkeit“ der Lebensverhältnisse ist nach den Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 1994 vernünftigerweise auch als Verfassungsgebot beseitigt worden. Der Artikel 72, Absatz 2 GG, spricht in seiner Neufassung von 1994 zur konkurrierenden Gesetzgebung nunmehr angemessener von der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit“, die im gesamtstaatlichen Interesse bundesgesetzliche Regelungen möglich macht. Die Länder selber haben auf diese bescheidenere Formel gedrängt, um die Bundeskompetenz nicht zu überdehnen. Die Realisierung gleichwertiger Lebensverhältnisse muss in die Handlungsmöglichkeiten und das Ermessen der
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Politik in Bund und Ländern gestellt bleiben53, andernfalls könnte das Postulat nur dazu taugen, ökonomische Realitäten zu denunzieren und die Politik zu diskreditieren. „Einheitlich“ muss die staatliche Infrastruktur entwickelt werden. Hier ist die Liste der staatlichen Investitionen, die vor allem in der Frühphase des Aufbaus Ost in den 1990er Jahren geleistet wurde, beeindruckend: Die Erneuerung der Verkehrswege und Kommunikationsnetze, des Schul- und Hochschulwesens, des Stadt- und Wohnungsbaus, des Ausbaus der öffentlichen Verwaltung, der Erschließung von Gewerbegebieten bis hin zur Sanierung von ökologischen Nutzstandsregionen, von denen es in der ehemaligen DDR viele gab. „Die öffentlichen Hände von Bund, Ländern und Gemeinden schufen – weithin sichtbar – innerhalb weniger Jahre eine Art renovierte Welt, die sich vom Westen nicht mehr wesentlich unterschied, jedenfalls nicht im Erscheinungsbild und in den inneren Strukturen. Es ging um Vorhaben der unterschiedlichsten Art und Größe. In der Summe addieren sie sich zu dem vielleicht umfassendsten und kompaktesten Großprojekt der Modernisierung, das es in der Geschichte bisher gegeben hat.“54 Allerdings hatte die eindrucksvolle öffentliche Fassade auch eine Kehrseite: Sie suggerierte eine Leistungskraft in den neuen Ländern, die wirtschaftlich nicht unterfüttert war. Die Standards der Infrastruktur und der öffentlichen Verwaltung verstellten für viele den Blick auf die Schwäche der ökonomischen Basis. Auf diese Diskrepanz dürfte sich manche Frustrationserfahrung zurückführen lassen. Einheitlich, für alle gleich gelten muss natürlich auch die Rechtsordnung. Mehr Einheitlichkeit, einheitliche Lebensbedingungen gar im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik zu verlangen, widerspricht ihren Legitimitätsgrundlagen und ist deshalb meines Erachtens nicht statthaft. Dies sollte von den Regierenden der Öffentlichkeit auch nicht immer wieder schamhaft verschwiegen, sondern offensiv vermittelt werden, denn sonst nimmt die Legitimität der Bundesrepublik Schaden. Inzwischen konstatieren Ökonomen, dass eine nur auf Ostdeutschland konzentrierte Aufbau-Ost-Politik auch nicht mehr zielführend ist, da die Wirtschaft in West und Ost inzwischen im Gleichschritt wächst und sich westdeutsche und ostdeutsche Regionen in der Wirtschaftskraft längst überlappen. Es wäre also für die Zukunft falsch, dies der Rat der Ökonomie, sich auf eine Region zu konzentrieren und dort möglicherweise Subventionsgewohnheiten und Mitnahmeeffekte zu erzeugen. Stattdessen müsse umgedacht und der Blick auf das Ganze gerichtet werden, mit einer Politik, die die Rahmenbedingungen für eine dynamische 53 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, München 1977, 989ff. 54 K.-H. Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit., Anm. 47, 88.
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Wirtschaftsentwicklung in Deutschland als Ganzem verbessert. „Nur wenn das Wirtschaftswachstum in ganz Deutschland an Kraft gewinnt, ist auch im kleineren Teil – Ostdeutschland – nachhaltig mehr wirtschaftliche Dynamik zu erwarten. Eine nur auf Ostdeutschland konzentrierte Aufbau-Ost-Politik, die den gesamtdeutschen Kontext ausklammert, führt nicht mehr zum Ziel“.55 Eine weitere Erkenntnis der Wirtschaftsstatistik verdient Beachtung: „Die Ost/Westverzahnung im Ranking der Wirtschaftsindikatoren ist ein Faktum, zu dem die stereotype Zweiteilung Deutschlands in den durchschnittlichen Osten und den durchschnittlichen Westen nicht mehr passt. Den wirtschaftlichen Leistungsrückstand Ostdeutschlands gibt es so pauschal, wie es immer noch hingestellt wird, gar nicht mehr. Das macht Mut.“56
Wie viel Einheit brauchen wir? Kriterien der „inneren Einheit“ Nach dieser Problematisierung der Erwartungen „einheitlicher“ ökonomischer Lebensverhältnisse und ihrer Vereinbarkeit mit dem freiheitlichen Verfassungsstaat und der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik soll nun abschließend der Versuch gewagt werden, einen Kriterienkatalog der „inneren Einheit“ zu skizzieren, an dem die empirischen Befunde am Ende gemessen werden können. Versucht werden soll eine Begriffsbestimmung, die einem antipluralistischen Gemeinschaftsmythos ebenso entgegenwirkt wie verfehlten Maßstäben von Einheitlichkeit, die am Ende nur zur Delegitimierung des politischen wie wirtschaftlichen Systems taugen. Wie viel Einheit braucht die Bundesrepublik also, ohne ihre notwendige Pluralität und ihren freiheitlichen und föderalen Charakter zu verlieren? Begriff und Inhalt der „inneren Einheit“ müssen vor allem eingegrenzt werden auf das, was an Gemeinsamkeit, was an Übereinstimmung aller für den inneren Zusammenhalt des vereinten Deutschlands wirklich unverzichtbar ist, was also wirklich Konsens sein muss. Worin müssen wir also im vereinten demokratischen Deutschland übereinstimmen, und was kann legitimerweise kontrovers in der Demokratie sein? Meine These ist deshalb, dass das Ziel der „inneren Einheit“ strikt auf die Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates verpflichtet bleiben muss. Als Gegenstück zur verfassungsrechtlichen Vereinigung bedeutet „innere Einheit“ dann die Zustimmung der Bürger zu den gemeinsamen Grundlagen der staatlichen Ordnung. Die Kriterien „innerer Einheit“ dürfen substantiell nicht weiterreichen, nicht mehr an Gemeinsamkeiten einfordern, 55 So R. Pohl, Thesen zur ökonomischen Transformation, Anm. 50, 125. 56 Vgl. ebd., 128.
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als der Grundkonsens des Grundgesetzes verlangt, mit anderen Worten: Jenes Maß an politisch-ethischer Übereinstimmung, das für das Zusammenleben in einem Staat unabdingbar ist. Dieser Konsens kann unter den Bedingungen moderner Gesellschaftsentwicklung nur ein Minimalkonsens, darf kein Maximalkonsens sein.57 Dieser Grundkonsens muss auf zwei Erfordernisse eingegrenzt werden: Erstens die Zustimmung zu den Grundentscheidungen der Verfassung und zweitens der gemeinsame Wille der Ost- und Westdeutschen, in diesem Verfassungsstaat zusammenleben, eine Nation sein zu wollen. Die Grundentscheidungen der Verfassung lassen sich in zweifacher Hinsicht subsumieren: in ihre wesentlichen Verfahrensprinzipien und in ihre materiellen Festlegungen. Zu den Verfahrensprinzipien gehören die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips, freie Wahlen und die Periodizität politischer Ämter, die freie Konkurrenz und Chancengleichheit der Parteien, Offenheit des politischen Prozesses, Legitimität des Interessenpluralismus, Gewaltfreiheit bzw. die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Zu den materiellen Festlegungen zählen die Anerkennung der Grund- und Menschenrechte sowie die Staatsstrukturprinzipien des Artikels 20 GG, die die Bundesrepublik als demokratischen und sozialen Bundesstaat sowie als gewaltenteilenden Rechtsstaat definieren.58 Dazu zählt das Vertrauen in die demokratischen Institutionen; herausgehoben dabei ist das Bundesverfassungsgericht als Höchstinstanz im Streitfall über Verfassungsnormen. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter Grundkonsens das „weitgehende Einverständnis der Bürger mit der vom Grundgesetz geschaffenen Staatsordnung“59. Ein weitgehendes, aber nicht vollständiges Einverständnis wird demnach gefordert, der Grundkonsens muss also weder von allen Bürgern noch in allen seinen Elementen vollständig mitgetragen werden, vielmehr müssen auch ablehnende Minderheiten hingenommen werden. Dies muss bei der Gewichtung der Umfragedaten berücksichtigt werden. Über die Akzeptanz der Verfassungsordnung hinaus scheinen mir für den Grundkonsens des vereinten Deutschlands zwei weitere Elemente zustimmungsbedürftig, die den Erfolg der deutschen Nachkriegsdemokratie wesentlich bestimmt haben: die Soziale Marktwirtschaft als regulative Idee und die Einbindung der Bundesrepublik in die Europäische Union und das transatlantische Verteidigungsbündnis. 57 Vgl. St. Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie. Eine Studie zur Akzeptanz der Grundlagen demokratischer Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn 1986, s. i. d. S. auch schon R. A. Dahl, A Preface to Democratic Theory, Chicago 1963. 58 Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1995 (20. Auflage), 293f.; Rand-Nr. 704ff. 59 BVerfGE 44, 125 (147).
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Diese Anforderungen liegen teils in der Verfassungslogik oder sie gehörten von Anfang an zur Staatsräson der Bundesrepublik. Zweitens aber muss es nach über 40 Jahren der Trennung eine Identifikation beider Teile mit dem vereinten Deutschland geben, also den nachhaltigen Willen zur Einheit, das Eins-sein-wollen als Nation, das Nicht-zurück-wollen in die Teilung, das republikanische „plébiscite de tous les jours“, das eine Nation seit der Französischen Revolution ausmacht. Diese beiden Grundpfeiler – Grundkonsens und Wille zur Einheit – scheinen mir die notwendigen, aber auch hinreichenden Kriterien für „innere Einheit“ zu sein. Jede Ausweitung dieses Minimalkonsenses würde die legitime gesellschaftliche Pluralität und Freiheitlichkeit, die politische, gesellschaftliche und kulturelle Lebensluft der Bundesrepublik unzulässig einschnüren. Sie ginge zu Lasten der Offenheit des politischen Prozesses und entspräche weder den Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik noch der notwendigen Balance zwischen Konsens und Konflikt in unserem Land. Vielmehr wäre es „äußerst bedenklich, die Angleichung von Werten und Mentalitäten einzufordern, wo doch die individuelle und gruppenspezifische Differenz der Lebenslagen, des jeweiligen Bewusstseins und der spezifischen politischen Ideen die Grundbedingung einer pluralistisch-demokratischen Ordnung ausmacht.“60 Die Vereinigung hat Deutschland unübersehbar in eine neue Größenordnung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Vielfalt katapultiert. Eine nur „erweiterte Bundesrepublik“ ist Deutschland heute längst nicht mehr, es ist aber auch keine völlig „andere Republik“ geworden. Seine Grundpfeiler sind die der westlichen Demokratie geblieben, die rechtliche Grundordnung des Grundgesetzes wurde für ganz Deutschland verbindlich, eingebettet in die Europäische Union demokratischer Verfassungsstaaten und in das westliche Verteidigungsbündnis der NATO. Aber auf diesen Fundamenten hat sich das vereinte Deutschland kräftig verändert. Es ist vielfältiger, östlicher, protestantischer, konfessionsloser, linker, kulturell reicher, wirtschaftlich belasteter, international gewichtiger und verantwortlicher und vieles mehr geworden. Mit der Vereinigung haben die Deutschen naturgemäß mehr innere Differenzierung, mehr Farbigkeit, mehr Konflikte akzeptieren müssen, wie es in einem 80-Millionen-Volk im Herzen Europas mit seiner ausgeprägt föderalen und auch multiethnischen Geschichte im Schnittpunkt von europäischen Wanderungsbewegungen über viele Jahrhunderte gar nicht anders sein kann. Das vereinte Deutschland ist bunter geworden und mit seinem Zuwachs an Unterschieden, wie mir scheint, politischpsychologisch endlich mit Verspätung in der Normalität der großen westlichen Demokratien angekommen. Dies sollte uns mit Genugtuung erfüllen und nicht 60 So zu Recht M. Linden, Innere Einheit. Konjunkturen und Defizite einer Debatte, in: Deutschland Archiv, Nr. 2 (2009), 306.
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mit der selbstquälerischen Suche nach immer mehr „innerer Einheit“, die am Ende nur ein Rückfall in antipluralistische und illiberale Volkstümelei wäre.
Der Grundkonsens und seine Akzeptanz Das wiedervereinigte Deutschland ist meines Erachtens reif genug, Unterschiede zu ertragen, die es ja nicht nur zwischen West und Ost, sondern auch zwischen Nord und Süd seit jeher gibt. Die daraus folgenden politischen Probleme eines gewissen sozialen und ökonomischen Ausgleichs konnten in der deutschen Nachkriegsgeschichte auch vor der Wiedervereinigung in immer mühsamen Auseinandersetzungen immer wieder von der Politik bewältigt werden. Die Lösung von Konflikten bleibt die ständige Aufgabe der Politik, aber das hat mit „innerer Einheit“ so lange nichts zu tun, solange das Grundsätzliche geklärt ist. Der Grundkonsens, den wir normativ formuliert haben, muss also auch empirisch von einer deutlichen Mehrheit aller Deutschen mitgetragen werden. Wenden wir uns also von den normativen Überlegungen zur „inneren Einheit“ der empirischen Akzeptanz des Grundkonsenses und des Willens zur Nation in der Bevölkerung in West und Ost zu. Gewichtet man die Fülle der demoskopischen Befunde entlang unserer restriktiven Anforderungen nach ihrer Relevanz für die „innere Einheit“ Deutschlands, ergibt sich zusammenfassend: Das unabdingbare Mindestmaß an Übereinstimmung ist längst gegeben. Die freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung wird von einer breiten Mehrheit grundsätzlich akzeptiert.61 Die großen Institutionen der Verfassung werden anerkannt und die demokratischen Verfahren der Willensbildung selbstverständlich von der ganz großen Mehrheit mitgetragen. Auch die Zugehörigkeit zur EU und zur NATO wird, von unterschiedlich großen Mehrheiten hüben und drüben, geteilt. Dass der Afghanistan-Einsatz in Ost und West in unterschiedlichen Ausmaßen negativ beurteilt wird, tangiert die „innere Einheit“ nicht, sondern gehört in den Bereich des legitimerweise Konfligenten in der Demokratie. Zurück in die Teilung wollen etwa 10% der Ost- und Westdeutschen. Der subjektive Wille zur Einheit ist also ebenfalls gegeben und dürfte ungebrochen bleiben. Woher Wolfgang Herles seine Behauptung „Wir sind kein Volk“ nimmt, bleibt sein Geheimnis ebenso wie seine Vorstellung von dem, was denn „ein Volk“ im 21. Jahrhundert in einem modernen Verfassungsstaat ausmacht.62 Von einer wachsenden grundsätzlichen Ablehnung der freiheitlichen Demokratie der 61 Vgl. für die 1990er Jahre H.-J. Veen, Innere Einheit – aber wo liegt sie?, Anm. 1, sowie aktuell M. Linden, Innere Einheit, Anm. 60, insbes. 310f. 62 S. W. Herles, „Wir sind kein Volk.“ Eine Polemik, München/Zürich 2004.
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Bundesrepublik kann keine Rede sein. Ähnliches gilt für die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft und der Wettbewerbsordnung in Deutschland, jedenfalls im Prinzip, wobei die Ostdeutschen deutlich skeptischer sind was die sozialen Nebenfolgen der Marktwirtschaft angeht, die sie ja auch in den letzten Jahren gravierender gespürt haben. Auch die im Vergleich zu Umfragedaten härteren Daten, die Wahlergebnisse in Bund und Ländern, bestätigen eine relativ hohe Akzeptanz unserer Parteiendemokratie. Mehr als zwei Drittel aller Ostdeutschen wählen eindeutig westlich-demokratische Parteien. Die langjährige Gralshüterin der Ostalgie, DIE LINKE, kommt im Durchschnitt der neuen Länder auf rund 25% und in welcher Größenordnung sie im Westen ankommt, ist noch nicht ausgemacht. Die Rechtsextremen sind, jedenfalls bei Bundestagswahlen, über den Status von Splitterparteien bis heute nicht hinausgekommen und bleiben für die ganz große Mehrheit aller Deutschen aus dem demokratischen Spektrum ausgegrenzt. Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Potenziale des politischen Extremismus von rechts und links über Zeit in Deutschland nicht gewachsen sind, sondern dass für die Bundesrepublik „eine kontinuierliche Abnahme der Zustimmung auf fast allen [extremistischen] Dimensionen zu verzeichnen ist […]. Eine einfache Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschland geht, dem Vergleich der Bundesländer entsprechend, an der Komplexität des Phänomens vorbei. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern müssen eine einfache Ost-West-Fixierung aufweichen.“63 Das bedeutet natürlich keine Entwarnung, vielmehr bleibt die ständig wachsame Auseinandersetzung mit den Gegnern der Demokratie, wo immer sie sich stark machen, eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, die meines Erachtens auch nicht durch Parteienverbote, sozusagen administrativ, erledigt werden kann. Die Sicherung der Grundlagen der deutschen Demokratie und die Verteidigung des Grundkonsenses sind und bleiben für alle Demokraten ständige Bürgerpflicht. Die „innere Einheit“ kann, so gesehen, als der permanente gemeinsame Wille zur freiheitlichen Demokratie der vereinten Bundesrepublik begriffen werden. In diesem Zustand „innerer Einheit“ leben wir bereits. Wir haben die „innere Einheit“ schon, in dem was sie legitimerweise bedeuten kann. Mehr Einheit brauchen wir nicht, mehr könnte sogar drückend und der pluralistischen Demokratie abträglich sein. Deshalb ist es höchste Zeit, den Begriff der „inneren Einheit“ aus einer permanenten Verquickung mit Forderungen der Tagespolitik zu lösen. Sonst droht er zu einer Waffe zu werden, mit der jedes politische Problem in Deutschland zu einer Infragestellung der Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik umfunktioniert werden könnte. 63 O. Decker/E. Brähler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006, 71.
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Nicht mehr um die „innere Einheit“, sondern um die gemeinsame Zukunft geht es. Beenden wir also endlich das unbedacht vage wabernde Gerede von der angeblich noch nicht vollendeten „inneren Einheit“. Entfalten wir besser unseren gemeinsamen Willen zur Sicherung der freiheitlichen Demokratie und knüpfen wir dabei an unsere föderalen Traditionen an, die wesentliche Träger des politischen und kulturellen Pluralismus sind und zum Besten unserer verspäteten Nationwerdung gehören. Was wir brauchen, ist demgemäß mehr Gelassenheit und Toleranz, mehr Verständnis für Vielfalt und mehr Akzeptanz von Unterschiedlichkeiten. Nationalstaatliche Homogenitätsvorstellungen sind im Europa des beginnenden 21. Jahrhunderts wohl endgültig obsolet geworden. Der offenen, pluralistischen und multiethnischen Gesellschaft mit einem freiheitlich-demokratischen Grundkonsens gehört die Zukunft.
„Innere Einheit“ – politische Integration Spätestens an dieser Stelle ist unschwer zu erkennen, dass unsere Diskussion über die „innere Einheit“ Deutschlands in einen grundlegenderen Zusammenhang eingebettet ist: in den Kontext der politischen Integration in der Bundesrepublik, die deutlich mehr Facetten hat als die Deutschen in Ost und West.64 Nach den jüngsten Informationen des Statistischen Bundesamtes leben inzwischen mehr als 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, etwa so viel wie die DDR Ende der 1980er Jahre Einwohner hatte.65 Zu Recht hat Markus Linden darauf hingewiesen, dass ohne ein „normativ angemessenes Integrationsverständnis“66 der Zusammenhalt der Menschen in der Demokratie nicht gelingen kann. Grundlegend für diese Integration ist der skizzierte Grundkonsens mit dem Willen zur Einheit. Ständige Aufgabe der Zivilgesellschaft und der politischen Erziehung aber bleibt es, diesen Grundkonsens zu pflegen und für nachfolgende Generationen zustimmungsfähig zu machen als das bürgerschaftliche Plebiszit „de tous les jours“, mit dem die freiheitliche Demokratie sich immer wieder ihrer Grundlagen vergewissern muss. Für diesen Vorgang hat Linden zwei Mechanismen vorgeschlagen: „Repräsentation und Partizipation“.67 Dabei versucht er politische Repräsentation mit zivilgesellschaftlicher Mobilität zu verbinden und damit die Legitimität der demokratischen Ordnung auf eine vitale 64 Vgl. dazu umfassend M. Linden, Politische Integration im vereinten Deutschland, BadenBaden 2006. 65 Statistisches Bundesamt (Hg.), Pressemitteilung Nr. 248 vom 14.07.2010: Erstmals mehr als 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, in: www.destatis. de [10.08.11]. 66 M. Linden, Innere Einheit., Anm. 60, 312. 67 Vgl. ausführlich M. Linden, Politische Integration, Anm. 64, 274.
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Grundlage zu stellen. „Die Aufrechterhaltung der bestehenden politischen Einheit Deutschlands ist […] an politische Integrationsmechanismen und gesellschaftliche Voraussetzungen geknüpft, deren dauerhafte Nichtbeachtung weitreichende Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben könnte. In der Demokratie gilt: Auch ein bestehender Grundkonsens bleibt stets vakant.“68 Nur so kann aber auch europäische Integration funktionieren, mit viel Verständnis für Unterschiede und einem ganz ähnlichen Minimalkonsens wie dem für das vereinte Deutschland skizzierten und mit zivilgesellschaftlichen Strukturen, die weit über die Nationengrenzen hinaus aktiv sein wollen.
Getrennte Erinnerungen – das verbliebene Problem der „inneren Einheit“ Mit dem Blick auf das vereinte Europa und die zum Teil tief kontroversen und national fokussierten kollektiven Gedächtnisse seiner Völker gerät am Ende eine weitere Analogie zum vereinten Deutschland in den Blick: die getrennten Erinnerungen der Deutschen an die letzten 40 Jahre und zum Teil auch an die Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik. Im vereinten Deutschland bestehen bis heute unterschiedliche Geschichtsbilder insbesondere mit Blick auf die alte Bundesrepublik und mit Blick auf die DDR, und hier vor allem in den neuen Ländern selber. Der Erinnerung an Unterdrückung, Verfolgung und Zersetzung in der SED-Diktatur und der Hochschätzung von Opposition und Widerstand steht eine schöngefärbte, fürsorgliche und friedliebende DDR gegenüber, in der alle Arbeit hatten und rundum versorgt waren. Viele spürten die Fesseln des Repressionsapparates nicht, weil sie ganz konform gingen oder sich, so Freya Klier, nicht zu bewegen wagten. Aber auch zwischen West- und Ostdeutschen gibt es getrennte Erinnerungen an die letzten 40 Jahre, die sich zwangsläufig durch die unterschiedlichen Lebenswege ergaben. Für viele Westdeutsche ist die SED-Diktatur immer fremdes Terrain geblieben, mit dem sie sich kaum näher auseinandergesetzt haben. Deshalb können sie die Unterdrückung und Unfreiheit des Lebens in der Diktatur oft nicht ermessen, wissen aber auch die Friedliche Revolution als Akt der Selbstbefreiung nicht hinreichend zu würdigen. Die Erinnerungskultur im vereinten Deutschland ist also mehrfach gespalten. Bis heute gibt es vor allem keinen Konsens über den Diktaturcharakter der DDR, ganz im Unterschied zur nationalsozialistischen Diktatur, deren totalitärer Charakter gesamtdeutscher Konsens ist. Noch ist nicht ausgemacht, wohin die DDR-Erinnerung treibt, wie weit die Weichzeichnungen und Verklärungen 68 M. Linden, Innere Einheit, Anm. 60, 313.
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tragen. Noch hat die DDR keinen festen historischen Platz in der deutschen Erinnerungskultur gefunden. Sie ist bis heute, wie Edgar Wolfrum konstatiert, „geschichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt“69. Ist das ein vernachlässigbares Faktum, mit dem man im vereinten Deutschland mit dem Blick nach vorn leben kann? Oder sind die getrennten Erinnerungen ein Problem der „inneren Einheit“? Meine vorläufige Antwort ist: Die gespaltenen Erinnerungen an die SED-Diktatur können problematische Langzeitfolgen für das Diktatur- und Demokratieverständnis und damit für den Grundkonsens im vereinten Deutschland entfalten. Deshalb müssen wir als Demokraten auf eindeutigen Begriffen von Diktatur und Demokratie bestehen. Relativierungen der SED-Diktatur, sei es als „kommod“ oder als „fürsorglich“ oder sonst wie, dürfen wir weder in der Wissenschaft noch in der politischen Bildung zulassen. An der Verständigung über die deutsch-deutsche Geschichte, insbesondere den Diktaturcharakter der DDR, muss sicher noch mit langem Atem gearbeitet werden. Dabei müssen die wissenschaftlichen Standards der vergleichenden Diktaturforschung der Politik- und Geschichtswissenschaft gelten. Als Maßstab der Aufarbeitung kann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte dienen, die die Vereinten Nationen 1948 verabschiedet haben. Die mehrfach gespaltenen Erinnerungen an die jüngste deutsche Diktaturgeschichte sind am Ende das verbliebene Problem der „inneren Einheit“, über das wir im Gespräch bleiben müssen. Deshalb bleibt es eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung und der Demokratieerziehung, auf eindeutigen Diktatur- und Demokratiebegriffen zu bestehen und den Grundkonsens über die freiheitliche Demokratie in den nachfolgenden Generationen zu verankern. So viel „innere Einheit“ brauchen wir. Alles andere ist Sache der Politik und der legitimen Interessenvertretung in wechselnden Konfliktsituationen.
69 E. Wolfrum, Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: St. Sigmund et al. (Hg.), Soziale Konstellationen und historische Perspektive. Festschrift für M. Rainer Lepsius, Wiesbaden 2008, 310.
Ulrich Blum
Aufbau Ost – eine „gerechte“ Investition 1. Gerechtigkeit – eine Frage der Perspektive Der Begriff „Gerechtigkeit“ wird in Ostdeutschland und in Westdeutschland perspektivisch sehr unterschiedlich eingeordnet, und es ergibt sich eine weitgehende inhaltliche Inkompatibilität. Im historischen Rückblick betrachten sich die Ostdeutschen als die Gruppe, die in erheblichem Maße die Kosten des verlorenen Kriegs über Reparationen und das „falsche Gesellschaftsmodell“ begleichen musste. Für die Zukunft erwarten die Bürger in den neuen Ländern nicht, dass sie die gleichen Lebenschancen haben werden wie die Bevölkerung im Westen. Diese wiederum sieht vor allem die Milliardentransfers, die im Osten vorgeblich „versickerten“ und im Westen „Schlaglöcher gerissen haben“ als höchst ungerechte Lastenverteilung an, die die eigene wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit, vor allem auch in altindustralisierten Regionen, bedroht. Ein Beitrag zum Thema Gerechtigkeit hat daher offensichtlich neben einem Blick in Vergangenheit und Gegenwart auch zu prüfen, wie sich die künftige Verteilung von Chancen in den Teilräumen des Landes entwickelt und wie diese zu bewerten ist. Die Perspektiven des geeinten Deutschlands sind damit zu thematisieren und die Frage, welche Legitimität künftige Gerechtigkeitserwartungen in einer liberalen Gesellschaft haben, in denen staatliches Handeln schnell an Grenzen stößt. Die ökonomische Perspektive spielt dabei eine wichtige Rolle, insbesondere Beschäftigungs- und Karrieremöglichkeiten. Zwei Aspekte gewinnen hierbei eine besondere Bedeutung, weil sie die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten der neuen Länder besonders stark beeinflussen: Die Verlagerung von Führungszentralen vom ehemaligen mitteldeutschen Industriegebiet und von Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg in den Westen konnte nach der Wende noch nicht einmal ansatzweise – entweder durch Konzernsitzverlagerungen oder durch Wachstum von Unternehmen vor Ort – ausgeglichen werden. Der Erfolg des süddeutschen Wirtschaftsraumes in den vergangenen fünfzig Jahren ist eine direkte Folge dieser Entwicklung. Nach der Wende folgten der Bevölkerungsauszehrung, die durch den Mauerbau zwangsweise unterbrochen wurde, eine weitere massive Wanderungswelle vom Osten in den Westen – und auch hier konnte Süddeutschland in allen relevanten Aspekten massiv profitieren: Qualifikation, soziale Kompetenz, Fertilität. Gerade diese haben wirtschaftliche Wachstumsschübe und eine demographische Stabilisierung im Westen bewirkt, die es wiederum erlaubten, den Aufbau Ost mit stetig fallenden Lasten zu finanzieren. Als Fazit zeichnet sich ab, dass sich die deutsche Einheit – über die
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Freiheit hinaus – im Sinne einer rein ökonomischen Betrachtung als „Investitionsprojekt“ gelohnt hat. Zusätzlich wurde durch sie eine ergänzende wirtschaftliche Leistung auf dem Gebiet der institutionellen Modernisierung mobilisiert, die weit über den aktuellen noch laufenden Kosten liegt und die dem Land insbesondere in der letzten Wirtschaftskrise zugutekam. Dieser Gesamtsicht folgend arbeitet der Beitrag zunächst die historischen „Ungerechtigkeiten“ auf. Viele von diesen werden markiert durch den Antagonismus zwischen gesellschaftlicher Liberalität und einen alles beherrschen wollenden Totalitarismus. Dabei zeigt sich auch ein hohes Maß von geradezu absurdem wirtschaftlichen Zerstörungsdrang in der zweiten Lebenshälfte der DDR, der nicht zwingend als systemimmanent anzusehen ist. Er ist in hohem Maße für die Anpassungskrise der Nachwendejahre verantwortlich. Schließlich ist zu prüfen, ob aus den Befunden Erkenntnisse für die europäische Einigung gewonnen werden können.
2. Gerechtigkeit in ökonomischer Sicht – eine Einordnung Der Ökonom subsumiert unter dem Begriff Gerechtigkeit mindestens drei Kategorien: Die Anfangsausstattung, die Chancen im Lebensprozess und den erreichten Endzustand – und dies wiederum in Bezug auf eine geeignet erscheinende Referenz. Gerade letztere ist allerdings schwer festzulegen. Besitzt die gleiche Ausgangsausstattung in verschiedenen Wirtschaftssystemen den gleichen Wert? – Offensichtlich nicht! Welchen Beitrag leisten Referenzsysteme, die angesichts erheblicher Strukturunterschiede keine sein können? – Sie sind höchstens eine erste Orientierung! So erscheint die Vorstellung, „100% West“ sei der geeignete Maßstab, irrig und nimmt, wie Blum und Ludwig zeigen,1 keinerlei Bezug auf siedlungsstrukturelle Besonderheiten: So offenbart auch der Nord-Süd-Vergleich im Westen erhebliche Unterschiede. Und im Osten werden diese auch sichtbar. Tatsächlich erscheint es als plausibler und glaubwürdiger, rund 90% als Referenz Ost zu West anzusetzen. Betrachtet man die heutige wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern, so erkennt man an der stark voneinander abweichenden Vermögensausstattung unterschiedliche Startchancen und (gegenwärtige) Endzustände. Beleg hierfür sind die unterschiedlichen Finanzvermögen (pro Einwohner liegen sie im Osten bei der Hälfte des Westens) ebenso wie das Erbschaftsteueraufkommen
1 U. Blum/U. Ludwig, Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Berlin 2011.
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pro Einwohner; dieses beträgt nur 10% des westlichen Niveaus.2 Eine mit einem angemessenen Vermögen ausgestattete bürgerliche Gesellschaft, wie es sie in den großen Städten im Westen Deutschlands gibt, beginnt sich im Osten erst langsam zu entwickeln. Sie ist – ebenso wie die Restrukturierung der Wirtschaft – eine Generationenaufgabe. Diese „Ungerechtigkeit“ wird aber auch durch die innerdeutsche Mobilität beeinflusst, wobei die Richtung nicht klar ist. Eine detaillierte Forschung zu den Wirkungen der ostdeutschen Migration in Westdeutschland existiert ebenso nur rudimentär wie die umgekehrte Wirkung der Westmigration in den Osten. Vor dem Hintergrund einer Angleichung, die auf der Seite von Einkommen und Produktivität rund 70% bis 80% des Westniveaus erreicht hat, heißt es: „Die Transformation in Ostdeutschland war zwar im Vergleich zu den mittel- und osteuropäischen Transformationsländern erfolgreich, offenbart aber auch eine Reihe von Defiziten. Harte Anpassungen, vor allem im Sozialbereich, blieben Ostdeutschland erspart. Damit einher gingen allerdings auch einige Entwicklungen, die heute aus langfristiger Sicht als eher problematisch einzuordnen sind: Die neuen Länder sind in erheblichem Maße Vorleistungsproduzenten, organisieren also ihre Märkte nicht selbst, sondern lassen sie über Konzernzentralen außerhalb der Region aufbauen. Damit entfallen Wertschöpfungsstufen, was einen beträchtlichen Teil des Aufholprozesses behindert.“3 Ob es gelingt, diesen Abstand zu verringern, ist, wie oben ausgeführt, eine Frage der künftigen regionalen Entwicklungsmuster, die im Süden der neuen Länder mit einer starken Reindustrialisierung anders verlaufen als im Norden, womit sich ein Muster abzeichnet, das auch in der alten Bundesrepublik existiert: das einer Nord-Süd-Divergenz.
3. Gerechtigkeit in historischer Sicht – die Ausgangsausstattung nach dem Zweiten Weltkrieg Vor der Frage nach der persönlichen Gerechtigkeit ist die nach der gesellschaftlichen Gerechtigkeit im Sinne der Bewältigung der historischen Lasten des verlorenen Krieges zu bewerten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dem damaligen Mitteldeutschland nach der Abtrennung der Ostgebiete zugunsten Polens und Russlands ein ineffizientes ökonomisches System und eine politische 2 U. Blum/H. Buscher/H. Gabrisch/J. Günther/G. Heimpold/C. Lang/U. Ludwig/M. Rosenfeld/L. Schneider, Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Sonderheft 1 (2009), Halle a.d. Saale, 21 und 92. 3 Ebd., 22.
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Diktatur oktroyiert. Entwicklungsmöglichkeiten, die der Westen nutzen konnte, hat es nicht kennengelernt. Diese historische Ausgangssituation ist noch heute spürbar und wird besonders von der älteren Generation vor der Kenntnis des historischen Reichtums des mitteldeutschen Wirtschaftsraums – ökonomisch und kulturell – häufig reflektiert. Zunächst besaß das „alte“ Mitteldeutschland eine gegenüber dem Westen erhöhte industrielle Leistungsfähigkeit, wie Abbildung 1 belegt; diese leichte Besserausstattung ging erst nach dem Krieg verloren. Maßgeblich dafür sind vor allem die sowjetischen Demontagen, wie Abbildung 2 verdeutlicht. Tatsächlich besaß nämlich Mitteldeutschland nach dem Krieg nicht nur einen in Teilen erhaltenen hochmodernen Kapitalstock, rund ein Viertel davon war jünger als fünf Jahre,4 auch die Technologie entsprach einer für Friedenszeiten erfolgreichen Produktionsstruktur: Fahrzeugbau, Maschinenbau, Feinmechanik, Optik, Elektronik und Elektrotechnik, Pharmazie und Chemie, um nur einige Beispiele zu nennen, waren die Wachstumsbranchen der anschließenden 50er Jahre. Die Demontagen trafen Ostdeutschland im Kernbestand, wenn auch Teile des Abtransportierten durch die seinerzeit geringe internationale Arbeitsteilung zügig ersetzt werden konnten.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in Deutschland – im Osten stärker als im Westen. Berechnungen auf der Grundlage der Analysen von Maddison6 weisen aus, dass in Westdeutschland ein Rückgang auf rund 40% und in Ostdeutschland auf unter 30% der Leistung von 1944 erfolgte. Anders als Ostdeutschland konnte der westdeutsche Wirtschaftsraum durch den Marschall-Plan sukzessive modernste Technologien einkaufen. Nicht nur die Finanzmittel spielten hierfür eine Rolle, auch die durch das Einbeziehen in den Fonds erzeugte Reputation für die junge Bundesrepublik, welche die weltwirtschaftliche Integration beschleunigte – was Ostdeutschland nicht vergönnt war, das in Richtung Abschottung und Autarkie driftete. Das ehemalige wirtschaftliche Kraftzentrum des Deutschen Reiches, aus dem viele der großen Erfindungen, die Deutschland reich und wirtschaftlich bedeutend gemacht haben, ihren Ursprung genommen hatten, erodierte: Ohne diese Region wäre an die Automobilindustrie, auch an viele der heutigen Marken, kaum zu denken; wichtige Erfindungen der chemischen Industrie verbreiteten sich von hier aus in die Welt. Maschinenbau, Feinmechanik, Optik, Elektrotechnik waren bedeutende Schlüsselsektoren, die eine große regionale industrielle Identität 4 J. Sleifer, Planning Ahead and Falling Behind. The East German Economy in Comparision with the West German, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 8, Berlin 2006. 5 U. Blum, Der lange Schatten des Sozialismus: Folgen für die Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 35. Jg., 1 (2008), 216– 229. 6 A. Maddison, Monitoring the World Economy 1820–1992 (OECD), Paris 1995.
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Abbildung 1:
Entwicklung des industriellen Kapitalstocks
150 100 Index (1936=100) 50 0 1936
Westdeutschland Ostdeutschland
1944 Jahr
1948
1950
Abbildung 2:
1.000 RM/Einwohner
Pro-Kopf-Kriegs- und Besatzungsschäden in Deutschland bis 1953
3.000 2.500 Besatzungskosten
2.000
Reparationen
1.500
Demontagen
1.000
Kriegsschäden
500 0 West
Ost
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schufen. Vor allem „Kernmannschaften“ aus den Unternehmen – Forschung und Management sowie Eigentümer – wanderten in den Westen ab, wenn sie nicht von den Alliierten requiriert worden sind, um entweder in den USA, England oder Russland für neue Herren zu arbeiten. Gerade die industrielle Entwicklung in Süddeutschland und besonders die in Bayern wäre ohne die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs nicht in dieser Form verlaufen. Weltkonzerne hätten ihren Sitz nicht in München genommen, hochqualifiziertes Personal wäre nicht in diese Region gezogen. Vor allem hätte sich der dynamische Mittelstand nicht entwickelt, der in Bayern beispielsweise (auch) ein sudetendeutsches Gesicht trägt. Nicht umsonst wurde das Wirtschaftswunder im Westen oft damit begründet, dass man bei einer Bevölkerung von 60 Millionen auf die Elite von 80 Millionen zurückgreifen konnte. Dieser Befund legt nahe, dass die Kosten für die Folgen des Zweiten Weltkriegs in erheblichem Maße von der Region, die heute als „Neue Länder“ bezeichnet wird, getragen worden sind. Das geschah teilweise offen – über Reparationen und Demontagen ist bereits berichtet worden – teilweise aber auch durch falsche institutionelle Rahmenbedingungen, die eine Expansion der Wirtschaft und der Gesellschaft behinderten. Dafür kann man diesen Landesteil nicht verantwortlich machen. Allenfalls könnte man diskutieren, weshalb sich in der DDR ein besonders nachhaltiger ökonomischer Stalinismus festsetzen konnte – anders als in Ländern wie Polen oder Ungarn. Umgekehrt haben sich dadurch dem Westen besonders im Süden erhebliche Chancen aufgetan, die ein Geschenk, kein Verdienst waren. Nimmt man die zusätzlichen Wachstumsdifferentiale, so ergeben sich sehr schnell Milliardenbeträge, die durch die positiven Ausgangsbedingungen in Westdeutschland realisiert werden konnten. Auch diese waren wenig systematisch, sondern wurden gelegentlich durch schiere Zufälle kanalisiert: Ohne einen Ludwig Erhard und seinen Mut hätte man die Chancen, die es seinerzeit gab, nicht in dem Maße begriffen.7 Hier zeigt sich, dass Pfadbindungen in der ökonomischen Entwicklung nicht nur eine Frage breiter geschichtlicher Prozesse sind, sondern sehr häufig auch mit individuellen Verantwortlichkeiten und persönlicher Führung einhergehen.
7 Vgl. dazu D. Koerfer, Kampf ums Kanzleramt: Erhard und Adenauer, Berlin 1998, wo deutlich beschrieben wird, wie Erhard die Soziale Marktwirtschaft gegen alliierte Vorbehalte durchsetzte, insbesondere die Preise gegen den Willen des alliierten kommandierenden Generals Clay.
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4. Gerechtigkeit in historischer Sicht – die Folgen der Zwangsverstaatlichungen in den siebziger Jahren Bringt man die Leistungsdaten der ostdeutschen Wirtschaft in den marktwirtschaftlichen Kontext, so sieht man die deutlich geringeren Wachstumsraten im Vergleich zum Westen: In den ersten zwanzig Jahren wird eine Art „2/3-Wirtschaft“ sichtbar. Diesen Zusammenhang verdeutlicht die Abbildung 3, die belegt, dass Ostdeutschland praktisch seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wachstumsdefizit aufweist, das es übrigens bis heute – worauf später noch einzugehen sein wird – nicht überwunden hat. In den 70er Jahren zeigt sich ein Einbruch, der nach der Wiedervereinigung nur mittels eines Wachstumssprungs ausgeglichen wurde; viele Strukturprobleme, die sich darin ausdrücken, dass Einkommen und Produktivität stets um rund ein Drittel unter dem Westniveau liegen, datieren aber aus den frühen Jahren der DDR und sind bis heute nicht gelöst. Abbildung 3:
Entwicklung des pro-Kopf-Einkommens, 1900-2010 35 000
(€)
30 000 25 000 20 000 15 000 10 000 5 000 0 1900
1910
1920
1930
Reich+Westdeutschland
1940
1950
1960
Ostdeutschland
1970
1980
1990
2000
2010
Vereintes Deutschland
Quelle: Blum, U., 2013, East Germany’s Economic Development Revisited: Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, in: Journal of Post-Communist Economics, forthcoming
Der Einbruch der 70er Jahre koinzidiert stark mit der Enteignung des ostdeutschen gewerblichen Mittelstands, dessen erhöhte Produktivität – rund 50% über dem der übrigen Wirtschaft – ein Garant für Exporterfolge und damit Deviseneinnahmen war. Während weltweit marktwirtschaftliche Unternehmen dezentralisierten, um den Herausforderungen der Energiepreiskrise zu begegnen, zentralisierte die DDR. Die massive Zahlungsbilanzkrise Anfang der Achtziger Jahre wurde durch den sogenannten „Strauß-Kredit“ nur zeitweise überwunden.
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Der Aufholprozess der neuen Länder stagniert relativ zum Westen, seitdem er wieder an die besagte strukturelle 2/3-Grenze stößt. Es existieren, wie die historische Wirtschaftsforschung lehrt, massive Pfadbindungen, die durch strategische Wirtschaftspolitik allenfalls langfristig – und dies mit hoher Irrtumswahrscheinlichkeit – überwunden werden können. Die historische Erfahrung zeigt beispielsweise an der Geschichte der Südstaaten der USA nach dem Bürgerkrieg, dass mehr als eine Generation – und ein neuer Technologiezyklus, auf den man aufspringen kann – nötig sind, um diese Defizite zu überwinden. Beides ist allenfalls in Ansätzen in den neuen Ländern sichtbar.
5. Gerechtigkeit nach der Wende – wirtschaftliche und politische Legitimität des Aufbaus Ost Nach der Wende stellte sich die Frage nach Gerechtigkeit aus einem völlig neuen Blickwinkel: Für die Bewältigung der Lasten der Einheit wurden Milliarden aktiviert, um den Investitionsrückstau in den neuen Ländern zu beseitigen, eine moderne Wirtschaft aufzubauen und die institutionellen Rahmen im Sinne einer liberalen Gesellschaft zu verändern. Jährliche Bruttotransfers in die neuen Länder von rund 150 bis 200 Milliarden Euro pro Jahr, vermindert um die Rückflüsse, vor allem Steuern und Sozialabgaben, bedingten eine Nettobelastung von 70 bis 90 Milliarden Euro pro Jahr und waren (bzw. sind heute noch mit abnehmender Tendenz) vom Westen zu schultern. Diese Belastung traf auf eine im Westen global gesunde Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur – allerdings auch in einigen Bundesländern und besonders Kommunen auf zum Teil katastrophale Finanzausstattungen. Die mit diesem Solidarausgleich zusätzlich verbundenen Belastungen der Haushalte bewirkten natürlich massive Diskussionen, die oft auf der Ebene „Luxusstraßen im Osten gegen Schlaglöcher im Westen“ geführt worden sind.8 Aus ökonomischer Sicht entstand damit eine neue (Un-)Gerechtigkeitsdebatte: Die westliche ökonomische Leistungskraft zu schmälern, um den Osten aufzubauen und dann – als neue Dimension – keine „Dankbarkeit“ zu ernten, hat regelmäßig die politische Debatte vergiftet. Dem wurde dann die sogenannte „ostdeutsche Lebensleistung“ entgegengesetzt – ökonomisch ein geradezu wirrer Begriff. Denn in der Ökonomie zählt letztendlich nicht der gute 8 Vgl. U. Blum/J. Ragnitz/S. Freye/S. Scharfe/L. Schneider, Regionalisierung öffentlicher Ausgaben und Einnahmen – Eine Untersuchung am Beispiel der Neuen Länder, Sonderheft 2, Halle 2009. Daraus geht hervor, dass nur rund 10% der transferierten Gelder tatsächlich wachstumswirksam wurden. Dies zeigt deutlich, wie kostenwirksam die soziale Alimentierung und der institutionelle Aufbau einer liberalen Gesellschaft, einschließlich der dazu notwendigen Verwaltungsstrukturen, im Rahmen der Transformation ist.
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Wille und der Arbeitseinsatz, sondern das Ergebnis (Leistung ist Arbeitsergebnis pro Zeiteinheit). Bismarck sagte: „Motiv ändert die Wirkung nicht“. Das allgemeine Ungerechtigkeitsgefühl ergibt sich daraus, dass trotz großer Anstrengungen und hoher Qualifikationen das Niveau des Westens aus systemischen Gründen unerreichbar bleiben musste. Das ökonomische Problem bestand doch genau darin, dass das zentralverwaltungswirtschaftliche System den Anspruch auf Lebensleistung nicht erfüllen konnte. Zu welchen Lebensleistungen die Bürger in den neuen Ländern tatsächlich fähig sind, sieht man, wenn man die Entwicklung in den letzten 20 Jahren verfolgt: In keiner Region der entwickelten Welt ist eine derartige Restrukturierung und Reindustrialisierung gelungen. Und die „Resilienz“ der Bevölkerung, die sich trotz des menschenverachtenden Systems in das neue demokratische Haus mit hoher Motivation einzubringen wusste, war eine wesentliche Voraussetzung für den „Aufbau Ost“. Offensichtlich gab es genügend Nischen und offene Bereiche, um diese weit über das Ökonomische hinausgehende gesellschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten.9 Berücksichtigt man das weiter oben Gesagte zu den erschwerten Startchancen des Ostens und die „Zufälligkeit der geographischen Lage“, die das Gebiet in das stalinistische System zwangen, so ist der Aufbau Ost eine legitime Ausgleichsleistung. Aber er ist mehr: Er ist eine gesamtdeutsch äußerst sinnvolle Investition in die institutionelle Erneuerung, die gesellschaftliche Modernisierung und schließlich auch in das wirtschaftliche Wachstum.
6. Die Einheit und das induzierte wirtschaftliche Wachstumspotential Der monetäre Preis der Einheit war hoch – aber war er zu hoch? Zunächst gestaltet er sich als massive „Anschubfinanzierung“ Westdeutschlands. Langfristig werden die Ostdeutschen erhebliche Teile dieser Aufbauleistung selbst tragen, und dabei muss man die dauerhafte Rendite der Migrationsgewinne vor dem Mauerbau 1961 noch nicht einmal bemühen: Denn rund 4,3 Millionen Ostdeutsche wanderten in den Westen ab. Sie waren meist überdurchschnittlich qualifiziert, jung und weiblich. Rund 2,7 Millionen Menschen aus dem Westen wanderten in den Osten. Der Saldo erwirtschaftet heute, nimmt man die westdeutschen Durchschnittswerte, pro Jahr eine ergänzende Wertschöpfung 9 Dieser Tatbestand kann nicht hoch genug bewertet werden. Südkorea rechnet damit, dass im Falle einer Wiedervereinigung mehrere Millionen schwer traumatisierte Menschen aufzufangen sind. Wie gut die Menschen in den neuen Ländern in den neuen Lebensbedingungen aufgingen, sieht man insbesondere an der problemlosen Einführung der DM und dem vorsichtig-klugen Umgang mit ihr.
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von rund 60 bis 70 Milliarden Euro, denen dann Steuern von ungefähr der Hälfte zuzurechnen sind. Das bedeutet, dass gegenwärtig alleine die Hälfte der Nettotransfers durch das Zahlen von Steuern von Ostdeutschen in Westdeutschland finanziert wird. Auch die Expansion der westdeutschen Wirtschaft wäre ohne die Wiedervereinigung in dieser Form nicht möglich gewesen. Die Abbildung 4 verdeutlicht, dass die immer noch hohen Nettotransfers sukzessiv durch die Wirtschaftsleistung Ostdeutscher im Westen – aus dem Migrationsgewinn – geschultert werden. Allein die damit verbundenen Steueraufkommen kompensieren heute die Hälfte der Nettozahlungen. Zu ergänzen ist dieser Betrag um die direkte Wirtschaftsleistung und deren steuerliche Folgen, die die neuen Länder im Westen begünstigen. Denn die andere Seite der Transfers und anfänglichen Kapitalimporte in die neuen Länder ist das Leistungsbilanzdefizit, das anfänglich fast ebenso hoch war wie die eigene Produktionsleistung, inzwischen aber auf rund 10% bis 15% der Wirtschaftsleistung abgeschmolzen ist. Dieses löst durch Multiplikatoreffekte eine ergänzende Wirtschaftsleistung im Westen aus, deren Steuerfolgen mit Sicherheit die Differenz schließen. Abbildung 4:
Migrationsgewinne und Transferdynamik Billion Euro zu laufenden Preisen
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1990 Nettotransfers
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Lohnbeitrag Ostdeutscher im Westen zum BIP (Saldo)
Die Gerechtigkeitsdebatte wird aus gesamtdeutscher Sicht geradezu skurril, wenn man die institutionelle Weiterentwicklung betrachtet, welche die Vereinigung auslöste bzw. – oft unter großen Zwängen – durchsetzte. Insbesondere die Struktur der Arbeitsmärkte hat sich nachhaltig verbessert: Der makroökonomische Schock der Wiedervereinigung, der im Westen ein anhaltendes
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Leistungsbilanzdefizit erzeugt hat, dem die Kapitalimporte entsprachen, um den Aufbau Ost auch privatwirtschaftlich zu finanzieren, führte gemeinsam mit der Politik der Bundesbank, die Verschuldung des Aufbaus Ost nicht inflationswirksam werden zu lassen, zu steigenden Zinsen, die wiederum durch die Aussicht auf hohe Rentabilität Kapitalimporte erleichterten. Die damit verbundene Aufwertung der DM bescherte den ostdeutschen Unternehmen, die ohnehin unter enormen Lohnstückkosten zu leiden hatten, eine zusätzliche Rationalisierungspeitsche. Nicht nur die westdeutschen Unternehmen mussten sich stetig verbessern, die ostdeutschen mussten ihnen immer eine Idee voraus sein, um überhaupt Marktanteile erobern zu können.10 Die Rendite dieser Rosskur und die damit verbundene Flexibilisierung der internen Arbeitsmärkte in den Unternehmen waren vermutlich die wesentlichen Erfolgscharakteristika bei der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, aus der Deutschland besonders in Bezug auf seinen Arbeitsmarkt besser herauskam als alle Länder gleicher Größe. Dennoch kann die Entwicklung nicht vollumfänglich befriedigen, weil – historisch bedingt – die Führungsfunktionen im Osten, wie oben erwähnt, unterentwickelt sind und eine kleinteilige Wirtschaft vorherrscht. Sucht man im Westen im Hinblick auf Märkte, Produkte oder Größe strukturell vergleichbare Unternehmen zu denen im Osten, so besitzen diese ähnliche Produktivitäten, Innovationsintensitäten und Internationalisierungsgrade. Dieses „Portfolioproblem“ zu ändern – Gerechtigkeit herzustellen? – bedeutet dann, die Wirtschaftsförderung so zu gestalten, dass genau dieses Defizit angegangen wird.
7. Einheit und Verschuldung Die ökonomische Kraftanstrengung der deutschen Einheit hat ihren Niederschlag in der Entwicklung der Staatsverschuldung gefunden. Diese stieg zwischen 1990 und 2005 um rund 15 Prozentpunkte, und das ist erheblich weniger als die Schuldendynamik beim deutschen Nachbarn Frankreich. Diese 15 Prozentpunkte in 15 Jahren entsprechen dem Aufwuchs der Staatsschulden in Folge der Weltwirtschaftskrise – in nur drei Jahren. Offensichtlich bestätigt sich in diesen Zahlen die weiter oben getroffene Aussage, dass die deutsche Einheit weitgehend durch ergänzende Wirtschaftsleistung finanziert wurde. Dennoch hat die Verschuldung langfristig erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung in den neuen Ländern. Mit der Schuldenbremse will der Gesetzgeber nämlich, um der Generationengerechtigkeit willen, langfristig die Einnahmen und Ausgaben der Gebietskörperschaften ausgleichen. Vor allem die Ausgabenseite wird unter Druck geraten, weil aus Gründen des inter10 U. Blum/U. Ludwig, Wirtschaftlicher Stand, Anm. 1.
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nationalen Steuerwettbewerbs das Anheben von Steuersätzen nur begrenzt zu erhöhten Einnahmen auf der Einnahmenseite führt. In Ostdeutschland tritt hinzu, dass durch das Abschmelzen des Solidarpakts Einnahmen in erheblichem Maße entfallen werden, was bezogen auf die Leistungsfähigkeit der Landeshaushalte um die Jahrtausendwende im Jahr 2020 einen Etatrückgang von real ungefähr einem Drittel mit sich bringen wird. Neben diesen expliziten Schulden werden zunehmend auch implizite Schulden thematisiert, vor allem aus Versorgungsverpflichtungen der öffentlichen Hand und in den Sozialversicherungssystemen. Bisher kaum beachtet wird eine weitere Kategorie: verdeckte Verschuldung aus Unterinvestitionen. In Unternehmensbilanzen sind implizite Schulden Teile der Rückstellungen, beispielsweise aus Pensionszusagen. Unterinvestitionen bzw. unterlassene Instandhaltungen zeigen sich in einem Schrumpfen von Sachvermögen und ggf. Eigenkapital, also einer Bilanzverkürzung, wenn die erforderlichen Erträge am Markt nicht mehr verdient und dann als Liquidität sichtbar werden. Sinnvoll kann dies sein, wenn das Sachkapital obsolet zu werden droht und damit eine Verlagerung der Mittel in andere, produktive Bereiche angezeigt ist. Der bekannte und immer wieder thematisierte Investitionsrückstau im öffentlichen Bereich – von der Verkehrsinfrastruktur bis hin zu Schulen, Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen droht dann zum Engpass der wirtschaftlichen Entwicklung zu werden, wenn dieser Kapitalstock um der Zukunftsfähigkeit willen erforderlich ist. In Griechenland sieht man deutlich die Folgen einer Politik, die sich nur auf die explizite Verschuldung konzentriert: Es werden Lasten in die Zukunft verlagert, und das verschärfte Sparen begrenzt die Wirtschaftsleistung. In Ostdeutschland stellt sich die Frage: Wie viel öffentliches Kapital auf welchem Qualitätsniveau kann man sich vor dem Hintergrund der demographischen Auszehrung leisten? Unterinvestitionen können ein Land in die Misere führen – die DDR ist der beste Beleg dafür – und eine hohe Investitionsintensität kann das Land auch aus der Unterentwicklungsfalle befreien – das ist die bisherige Erfolgsgeschichte der neuen Länder. Da wirtschaftliche Entwicklungsverläufe sehr zäh verlaufen – pfadgebunden sind – kann man eine Auszehrung des öffentlichen Kapitalstocks eine sehr lange Zeit hinnehmen, ohne dass man die Folgen spürt. Langfristig gilt nämlich auch: Investitionen sind nicht alles, sie sind notwendig für die Entwicklung, aber nicht hinreichend – es bedarf mehr – und ohne diese privaten und gesellschaftlichen Ergänzungen wird Unterinvestition, gerade in den neuen Ländern, zur Anpassung an eine demographische und möglicherweise wirtschaftliche Auszehrung. Welches sind daher die Entwicklungspfade?
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Abbildung 5:
30.000
Schuldenstände der Länder und Durchschnitte (vorl.) per 31. 12. 2010
25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0
8. Wachstums- und Technologieorientierung – eine Perspektive Die Vision der neuen Länder als Wachstumsregion auf der Grundlage der gegenwärtig vielerorts zu beobachtenden Technologieorientierung wird durch historische Erfahrungen bestärkt, denen zu Folge ein neuer Technologiezyklus, der die vorhandenen Kompetenzen aufgreift, die wirtschaftliche Dynamik kumulativ verstärkt. Prototypisch kann der amerikanische Sezessionskrieg als Bruch des politischen und des ökonomischen Systems angesehen werden – bis hin zu Veränderungen von Eigentumsrechten. Erst seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gelingt der Aufschwung der Südstaaten auf der Basis der sich entwickelnden Leichtindustrie. In den neuen Ländern waren es anfänglich die vertikalen Cluster11, die die wirtschaftliche Lage stabilisierten, weil die mit ihnen verbundenen Großinvestitionen massive Beschäftigungseffekte auslösten und es erlaubten, im Vorleistungsbereich ertragreiche Ansiedlungen zu tätigen. Diese Großstrukturen sind aber allesamt verlängerte Werkbänke, also Einrichtungen ohne eigene übergreifende 11 Zur Unterscheidung der Clustertypen vgl. U. Blum, Institutions and Clusters, in: B. Johansson/C. Karlsson (ed.), Handbook on Research and Clusters, Cheltenham/Northampton 2008, 361–373.
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Führungsfunktionen und insbesondere fast immer ohne eigene Forschung und Entwicklung. Deren Bedeutung für die Wertschöpfung ist immens – rund 20% der Leistung gehen auf sie zurück.12 Mit der schnellen Privatisierung von Betriebsteilen ohne Führungsfunktionen geriet die Industrieforschung in den neuen Ländern unter Druck. Nur Sachsen und Thüringen waren in der Lage, Auffangstrukturen bereitzustellen, die die weitgehend vollständige Abwicklung verhinderten. Zu den „vertikalen“ Ansiedlungen zählen insbesondere die Betriebe der Fahrzeugindustrie, der Mikroelektronik und der Chemieindustrie. Ihre Ausstrahlung ist erheblich, aber auch ihr regionalwirtschaftliches Risiko: Veränderungen der weltwirtschaftlichen Konkurrenzlage können den Zusammenbruch des Systemkopfs auslösen und die wirtschaftliche Basis einer Region erodieren lassen. Beispiele in Ostdeutschland sind die inzwischen weitgehend überwundenen Krisen der Mikroelektronik und der Fahrzeugindustrie, gegenwärtig vor allem der Solarindustrie. Horizontale Cluster beruhen auf regional verorteten technologischen Kompetenzen mit breiter Anwendungsbasis. Diese werden auch als „general purpose technologies“ bezeichnet.13 Diese wurden in Thüringen nach der Wende durch den massiven Einsatz von Fördermitteln stabilisiert und ausgebaut. Heute zeigen sich die Erfolge dieser Strategie deutlich. Der Umbau der Wirtschaft ist besonders dort geglückt, wo das regional gebundene innovative und industrielle Erbe aus der Zeit der Industrialisierung, das von der DDR an vielen Stellen weitergetragen wurde, nun zu neuer Blüte geführt werden konnte. Damit ließ sich das Potential der Innovationswellen14 auf Grundlage neuer Technologien und Produkte sowie die sich damit manifestierenden neuen Trajektorien ausschöpfen.15 Betrachtet man in den neuen Ländern Standorte der horizontalen Cluster und ihre Geschichte, so erkennt man die Verbindung von industrieller Tradition und Modernität deutlich, vor allem im mitteldeutschen Wirtschaftsraum. Sie befruchten insbesondere ihre „komplementären Regionen“,16 beispielsweise das Erzgebirge oder den Thüringer Wald, durch
12 U. Blum, Der Einfluss von Führungsfunktionen auf das Regionaleinkommen. Eine ökonometrische Analyse deutscher Regionen, in: Wirtschaft im Wandel 13. Jg., 6 (2007), 187–194. 13 E. Helpman, General Purpose Technologies and Economic Growth, Cambridge (Mass.) 1998. 14 R. Hägerstrand, The Propagation of Innovation Waves, Lund Studies in Geography, Series B, 1952. 15 R. R. Nelson/S.G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge (Mass.)/London 1982. 16 A. Lösch, Die räumliche Ordnung der Wirtschaft, Stuttgart 1962.
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entsprechende Spillover-Effekte im Sinne der Neuen Regionalökonomik und der Neuen Wachstumstheorie.17 Unter dieser Bedingung würde sich die Chancenverteilung im Raum massiv durch das Überwinden der„70%-Ökonomie“ verbessern. Das strukturelle Problem, das aus der DDR-Zeit herüberreicht18, vor allem das Abwandern der Führungszentralen, durch das das Zentralverwaltungswirtschaftssystem und die sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zementiert wurden, konnte nämlich nicht im Rahmen der Privatisierung durch die Treuhand kompensiert werden. Die Folge ist, dass keines der DAX-30-Unternehmen seinen Sitz in Ostdeutschland hat; im bevölkerungsmäßig ungefähr gleichgroßen Bayern haben immerhin sieben dieser Unternehmen ihren Sitz. Unter den 100 HDAX-Unternehmen finden sich drei in den neuen Ländern, darunter zwei in Jena. Bedeutende Firmensitze haben noch einige große Unternehmen der Versorgungswirtschaft. Insgesamt ist die Headquarterdichte extrem gering, besitzt aber das Potential, im Kontext eines neuen Technologietrajektoriums zu wachsen. Eine solche Entwicklung würde das Problem der „ökonomischen Gerechtigkeit“ dann abschließend lösen.
9. „Sterilisierung“ der Wirtschaft – der kumulative Niedergang Was passiert, wenn das Anknüpfen an ein derartiges Trajektorium nicht gelingt? Das hat für die Entwicklung der Wirtschaft und damit auch für die Gesellschaft fatale Konsequenzen: Denn Führungszentralen gewährleisten nicht nur hohe Einkommen und damit Kaufkraft, die sich in der Urbanität der Städte und im Steueraufkommen niederschlägt, sie sind auch ein zentraler Ort für privatwirtschaftliche Forschung und Entwicklung und globale Strategie. Fehlen sie, ist das mit einer wirtschaftlich verringerten Dynamik verbunden, die auch durch immer neue verlängerte Werkbänke nicht kompensiert werden kann. Gerade die erhöhten Einkommen des Personals der Führungsfunktionen erzeugen über die Kaufkraft Urbanität.
17 M. Porter, The Competitive Advantage of Nations, London/Basingstoke 1990; P.M. Romer, Endegenous Technological Change, in: Journal of Political Economy 98 (1990), 70–102. 18 U. Blum und L. Dudley, The Two Germanies: Information Technology and Economic Divergence, 1949–1989, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 155 (1999) 4, 710–737; dies., Blood, Sweat, Tears: Rise and Decline of the East German Economy, 1949–1988, in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik – Journal of Economics and Statistics, 220 (2000) 4, 438–452.
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Die Polarisationstheorien beschreiben derartige kumulative Prozesse,19 wobei der Expansionsprozess wirtschaftspolitisch meist nur sehr langfristig, vor allem durch eine Humankapitalorientierung mittels einer „nationalen Entwicklungsstrategie“ gestaltet werden kann;20 die damit gewonnenen Wettbewerbsvorteile wirken dann meist nachhaltig.21 Kontraktionsprozesse hingegen können sehr schnell Platz greifen, vor allem dann, wenn eine hohe Mobilität vorhanden ist und mangels der Effizienz von Widerspruch („voice“) Abwanderung („exit“) gewählt wird.22 Die DDR ist ein warnendes Beispiel dafür. Was sich für die Abwandernden als gerechte Lebensoption darstellt, ist für die Verbleibenden die Partizipation am Niedergang.23 Neben dem mit einer solchen Entwicklung einhergehenden wirtschaftlichen Niedergang verstärkt sich auch wieder die demographische Implosion, die inzwischen zum Halten gekommen ist. Es zählt zum Erfahrungswissen der Ökonomen, dass eine Regionalstruktur als stabil anzusehen ist, wenn die großräumigen Pro-Kopf-Einkommensdisparitäten 20% nicht überschreiten. Dieser Zustand ist in Deutschland weitgehend erreicht. Wanderungsbewegungen drücken dann im Sinne von C. M. Tiebout,24 der die ökonomische Theorie des Föderalismus begründete, unterschiedliche Präferenzen im Hinblick auf Steuern und öffentliche Güter – und im Sinne der Wanderungstheorie – auf die Einkommenschancen aus. Tatsächlich werden diese durch Restriktionen, vor allem durch den Verfall der Immobilienpreise im Osten, die beim Verkauf versunkene Kosten offenbar werden lassen, behindert.25 Insofern sind die Wanderungen durchaus als Signal für noch erforderliche Anpassungsprozesse zu sehen. Ob sich damit Gerechtigkeitslücken ausdrücken, ist allenfalls politisch zu diskutieren. Klammert man die extrem hohen Wanderungen im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts aus, die im West-Ost-Fall weitgehend mit dem Aufbau grundlegender Strukturen eines liberalen, marktwirtschaftlichen Landes zu tun hatten und im Ost-West-Fall mit der Wahrnehmung neuer Erwerbschancen und damit eine Humankapital- und Demographielücke im Westen
19 G. Myrdal, Economic Theory and Under-Developed Regions, London 1957; F. Perroux, L’ économie du xxème siècle, Paris 1964; A. Hirschmann, Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974. 20 F. List, Das nationale System der politischen Ökonomie, Jena 1928 (1848). 21 M. Porter, The Competitive Advantage, Anm. 17. 22 A. Hirschmann, Abwanderung, Anm. 18. 23 H. Uhlig, Regional Labor Markets, Network Externalities and Migration: The Case of German Reunification, in: The American Economic Review 96/2 (2006), 383–387. 24 C. M. Tiebout, A pure theory of local public goods, in: Journal of Political Economy, Jg. 64 (1956), 416–424. 25 M. Greiner, Räumliche Interaktion und siedlungsstrukturelle Persistenz, Wiesbaden 2000.
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schließen halfen, so existierte in Deutschland fast immer eine Mobilität auf gegenwärtigem Niveau.
10. Gerechtigkeit als politischer Erklärungsfaktor Es sind besonders drei Problembereiche zu nennen, die die eigentlich nicht mehr existente Gerechtigkeitslücke weiter thematisieren:26 1. Ein falsches Konvergenzziel: Betrachtet man die Siedlungsstruktur in Ostdeutschland, insbesondere Siedlungsdichte und Agglomerationspotential, so erkennt man deutlich die erheblichen Unterschiede zum Westen: Berlin hat seine ökonomische Rolle als Bundeshauptstadt bis heute nicht gefunden und Ballungsräume wie die um München, Stuttgart, Frankfurt, Köln oder Hamburg existieren nicht. Nimmt man deren wirtschaftliche Leistung aus dem westdeutschen Durchschnitt heraus, so wird er sehr viel „ostähnlicher“. Anders gewendet: Ostdeutschland wird bei gegebener Siedlungs- und Agglomerationsstruktur niemals zum westdeutschen Standard aufschließen können, weil entsprechende westdeutsche Regionen das bisher auch nicht vermocht haben. Die mit diesen Gegebenheiten verbundenen Spezialisierungsmuster sind nachhaltig und kaum zu ändern. 2. Stärken der Agglomerationen zur langfristigen Ertüchtigung der Peripherie: Die bisher verfolgte Begrenzung von Deglomerations- und Dekonzentrationsprozessen, also die Politik der Stabilisierung des ländlichen Raumes, hat einen Preis, der zu bezahlen ist: Die Agglomerationskraft der Zentren und damit möglicherweise auch deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit leiden. Das wird sich besonders dann bemerkbar machen, wenn die demographische Implosion den ländlichen Raum nur zu sehr hohen sozialen und ökonomischen Kosten zu stabilisieren erlaubt. Insofern sind hier klare politische Prioritäten zu setzen, die selbstverständlich als „ungerecht“ empfunden werden, die aber auf hochpersönliche individuelle Entscheidungen im Bereich von Migration und Bevölkerungsdynamik zurückzuführen sind. Die Erfahrung lehrt, dass nur starke Zentren auch starke komplementäre Regionen erzeugen. Politisch ist zu entscheiden, in welchem Umfang die „Gerechtigkeitsverteilung im Raum“ um des langfristigen Ziels eingeschränkt werden soll. 3. Unternehmensbesatz und Marktkonsolidierung: Weiterhin muss in einer sich konzentrierenden Wirtschaft die Fähigkeit, Märkte zu konsolidieren und damit Unternehmenswachstum nicht nur intern sondern auch extern zu befördern, an Bedeutung gewinnen. Tatsächlich ist der ostdeutsche Mittelstand immer noch unterkritisch groß. Ein global aufgestellter Mittelstand ist erst in 26 U. Blum/U. Ludwig, Wirtschaftlicher Stand, Anm. 1.
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Ansätzen zu sehen. Derzeit besteht das große Risiko, dass dieser bei entsprechender Leistungsfähigkeit schnell von großen Unternehmen aufgekauft wird, weil die Freiheit der Kapitalmärkte dem nichts entgegenzusetzen hat. Aus Sicht des Staats (und des Steuerzahlers) erscheint es als ungerecht – und auch als nicht legitim – erst mit hohen Subventionen einen Unternehmensbesatz aufzubauen, der dann „Opfer der Globalisierung“ wird, indem er aufgekauft und oft technologisch ausgesaugt wird. Denn heute ist es infolge niedriger Kapitalkosten leichter, ein Unternehmen zuzukaufen als – wegen hoher Kosten für Qualifizierte und deren Einstellung – die Produktion selbst hochzuziehen. Es muss also nach Wegen gesucht werden, die technologischen Perlen in den neuen Ländern mittels eines „Kapitalinkubators“ zu erhalten und durch internes und externes Wachstum zur Reife zu führen. Das erfordert eine neue Wirtschaftspolitik, die vor allem ein mittelständiges Merger and Acquisition-Geschäft unterstützt. Was künftig Gerechtigkeit ist, muss sich – wie so oft – an den vorab gesetzten Zielen messen ebenso wie an den wirtschaftspolitischen Instrumenten, die verwendet werden, um diese Ziele zu erreichen. Der Erfolg hängt entscheidend davon ab, dass Ziele und Mittel in Harmonie stehen, also erste nicht zu hoch gesetzt und zweite unzureichend ausgestattet sind.
11. Was kann Europa vom Einigungsprozess lernen? Aus europäischer Sicht bietet die Einheit eine Vielzahl von Referenzpunkten, die gerade vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, die die Divergenzen der wirtschaftlichen Entwicklungen deutlich macht, von Bedeutung sind. Zu den zentralen Fragen zählt: – Was ist das Konvergenzziel der europäischen Länder, gerade angesichts des Einsatzes der Kohäsionsfonds? Sind die Ansprüche realistisch – und sind die ökonomischen Blasen, die derzeit platzen, nicht auch Folge eines überdehnten Zielsystems? – Welche institutionellen Veränderungen sind tatsächlich durchsetzbar, auch angesichts manifester national unterschiedlicher „Wirtschaftsgesinnungen“? – Welche Rolle soll der Staat dabei spielen, wenn er die Veränderungen als Europäische Union vollzieht, in welchem Umfang soll er sich anschließend zurückziehen? Vieles an der Gerechtigkeitsdebatte, die im innerdeutschen Kontext geführt wurde, lässt sich offensichtlich nahtlos auf die europäische Debatte übertragen: Welche „Schuld“ haben Posttransformationsländer daran, dass sie über Jahrzehnte in einem adversen Wirtschaftssystem existieren mussten und nun Mittel benötigen, um den Aufbau zu gewährleisten? Natürlich keine, aber man
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kann ihnen die Aufgabe nicht abnehmen, mit den verfügbaren Mitteln sorgsam umzugehen. Das wurde in den neuen Ländern dadurch erleichtert, dass sie in die Verwaltungs- und Rechtsstruktur des Westens eingegliedert wurden. Welche Legitimität hat die Forderung, entsprechende Ausgleichszahlungen von den reichen in die ärmeren Länder zu vollziehen und in welchem Umfang sollte das geschehen? Das hängt sehr stark von der Effizienz der Verwendung der Mittel ab, die immer wieder zur Nachdenklichkeit Anlass gibt. Die neuen Länder zeigen, dass mit großer Kraftanstrengung eine Teilhabe an der globalen Wirtschaft möglich ist, aber als Generationenaufgabe fundamentale Defizite zu beseitigen sind (beispielsweise die Führungsfunktionen). Damit ist die Legitimität der Hilfe abhängig von der Fähigkeit, die Mittel als Investitionshilfen zu sehen, die irgendwann durch erhöhte Leistungsfähigkeit und damit auch „gesamteuropäische Wirtschaftsleistung“ zurückgezahlt werden. Schließlich wird auch deutlich, dass ein liberaler Ansatz der wirtschaftlichen Entwicklung, der die standörtlichen Unterschiede in Rechnung stellt und nicht versucht, im Sinne einer „planification“ Ziele zu erreichen, die dem komparativen Vorteil nicht entsprechen und die auch am Standort nicht entwickelt werden können, zu forcieren ist.
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Zweckmäßiges, Gebotenes, Gerechtes – als Maßstäbe staatlichen Handelns Das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum staatlichen Handeln ist ambivalent. Auf der einen Seite soll sich der Staat zurückhalten und von den ihm zuerkannten Mitteln sparsamen, nur haushälterischen Gebrauch machen. Auf der anderen Seite möchten Kommunen, Regionen und sogar Landesteile, aber auch die Wirtschaft insgesamt, sektorale Branchen und vor allem Interessengemeinschaften nicht minder, sogar einzelne Bürgerinnen und Bürger, von den Investitionen der öffentlichen Gemeinwesen möglichst profitieren. Da erstaunt es nicht: Begünstigungen werden angefordert, reich an plausiblen Begründungen. Diejenigen Menschen und Gebiete aber, die leer ausgehen, beklagen Ungerechtigkeiten, Fehlleistungen, gar Verletzungen grundlegender Regeln der Korrektheit, des moralisch gebotenen fairen Handelns.1
Das Grundproblem Eine der spannenden Herausforderungen besteht für die Schweiz – abgesehen von den wirtschaftlichen Verwerfungen im Finanzbereich und bald einmal bei den Sozialwerken – im Umgang mit den Infrastrukturen.2 Was darunter zu 1 Ich konzentriere mich in dieser Abhandlung auf schweizerische Beispiele und verweise vorweg auch auf das schweizerische Recht sowie die aus diesem Land hervorgegangene Literatur, letztlich um einen ausweitenden Beitrag an die Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland zu leisten. Die Verwandtschaft der Problemstellungen ist, auch bei Andersartigkeiten, gegeben. Einzig im Bereich des Demokratieverständnisses pflegt die Schweiz aus ihrer Geschichte heraus eine direktere Sicht, mit dem Vorteil der erhöhten Legitimierung des Rechts und von Sachinvestitionen. Näher berühren sich die Rechts- und Bundesstaatlichkeit, also rechtsstaatliche und föderative Elemente. Das Regierungs- und das Bürokratieverständnis sind hingegen nicht deckungsgleich, auch im sozialstaatlichen Bereich werden die Akzente nuanciert anders gesetzt. Siehe dazu W. Haller, The Swiss Constitution, in: A Comparative Context, Zürich/St. Gallen 2009; ferner W. Linder, Schweizerische Demokratie, 2. A., Bern 2005. 2 Es geht dabei um die Infrastrukturen, beispielsweise des privaten und öffentlichen Verkehrs. Der Begriff ist aber wesentlich breiter zu fassen. Sie umfassen Bauten/Anlagen/ Einrichtungen als lebenserleichternde Voraussetzungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, bereitgestellt vorweg durch die Gemeinwesen. Siehe dazu M. Lendi, Demokratie und Infrastruktur – ein Responsum, UPR 11+12/2011, 422ff. Daselbst findet sich der Versuch einer deskriptiven „Definition“. Sie entfalten in der Regel räumliche Wirkungen.
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verstehen ist, das mag umstritten sein. Gewiss aber ist, dass das Land vor großen Herausforderungen steht, so bezüglich Ausbau, Engpassbeseitigungen, Unterhalt , Finanzierung – vor allem rund um die Infrastruktur von Schiene und Straße, dann auch hinsichtlich der Energieversorgung. Alles verbunden mit Seitenblicken auf die Gliedstaaten (Kantone), die Städte, die Agglomerationen, die wirtschaftlich eher benachteiligten Gebiete. Da ist einmal der Umstand, dass die Bevölkerung aufgrund von Zuwanderungen wächst resp. massiv zugenommen hat, vor allem in den Städten und Agglomerationen, dass die Ansprüche an die Mobilität, das Wohnen, das Arbeiten, die Freizeitmöglichkeiten enorm gestiegen sind und voraussichtlich auch weiterhin – hoffentlich maßvoller – steigen werden. Sodann wird bewusst: Die in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg großzügig geplanten Infrastrukturen3 kommen in die Jahre – mehr oder weniger gleichzeitig. Was ist im Bereich der Infrastrukturen vorzukehren? Welche Kriterien sind für das Setzen von Prioritäten maßgebend? Gibt es Maßstäbe des korrekten Verhaltens gegenüber allen Landesteilen, Regionen, Agglomerationen, Städten? 4 Diese Fragen sind von allgemeiner Bedeutung, gerade auch für das staatliche Handeln, im Allgemeinen, also weit über konkrete Beispiele der Infrastrukturpolitik hinaus, bis hinein in die Sozialpolitik. Allein schon deshalb, weil die öffentlichen Mittel, richtig verwaltet und im Respekt vor dem Steuerzahler gehörig dosiert, immer knapp sind, weil die Erwartungshaltungen an staatliche Leistungen erfahrungsgemäß nach oben tendieren und weil es immer Bereiche, Lebensräume und zahllose Menschen gibt, die sich benachteiligt sehen oder gar benachteiligt fühlen dürfen. Aber, der Staat kann nicht alles, er darf nicht alles, er soll nicht alles. Das Nachfragen nach den gültigen 3 Es war dies die Zeit der großen Zukunftskonzeptionen, da und dort auch der Planungseuphorie. In der Schweiz erlangten die Landesplanerischen Leitbilder des ORL-Instituts der ETH Zürich und die Prospektivstudien des St. Galler Zentrums für Zukunftsforschung (Prof. Kneschaurek) beispielhafte Bedeutung. Sie führten zu einem großzügigeren Ausbau der Infrastruktur, weil die Prognosen auf größere Einwohnergleichwerte bei höheren Einwohnerzahlen und Ansprüchen an den Lebensraum ausgelegt resp. auf absolut größere Einwohnerzahlen ausgerichtet wurden. Da die Wirklichkeit die vorhergesagten Zahlen sogar überrundet hat, führt dies aktuell zu massiven Engpässen samt Nachholbedarf, deutlich erkennbar bei Schiene und Straße. Zu den Leitbildern siehe ORL-Institut, Landesplanerische Leitbilder, Bd. I-III, Plankassette, ETH Zürich, Zürich 1971. 4 Das Fragen nach Maßstäben, nach Kriterien der Bewertung staatlichen Handelns, das ist eine Problematik, die vorweg auf das Recht und auf die Ethik zielt. Sie mündet dann allerdings auch in sachliche Aspekte der räumlichen Ordnung, der Sachplanungen beispielsweise für Schiene und Straße, und sodann auf Dimensionen der Ökologie, des Schutzes der Umwelt, der Energiepolitik usw. Multi-, Inter- und Transdisziplinarität sind ihrerseits involviert.
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Maßstäben staatlichen Handelns bildet deshalb ein Kernproblem nicht nur der politischen Klugheit, sondern auch des staatspolitischen Verantwortungssinns.5 Die Schweiz, auf die ich Bezug nehmen will, mag, was Wachstum und Wohlstand angeht, ein Sonderfall sein.6 Für andere Staaten, in denen die Bevölkerung in einzelnen Landesteilen schrumpft und die wirtschaftliche Kraft eher zurückbleibt denn heranwächst, stellen sich die sachlichen Probleme zunächst differenzierter, wenn nicht sogar grundlegend anders dar. Und doch, selbst in solchen Staaten – ich denke durchaus, wenn auch nuanciert, an die Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder – zeigt sich mit Blick auf die Infrastrukturpolitik, dass diese bewusst lanciert wurde/wird und bewusst mit Nachdruck und Aufwand eingesetzt wurde/wird, um negativen Entwicklungen, wie keimender Arbeitslosigkeit, entgegenzutreten. So auch mit dem Ziel, die Standortgunst in zurückbleibenden Regionen von Grund auf zu stärken. Das Insistieren auf kritischen Maßstäben für die Infrastrukturpolitik ist deshalb in der äußeren Art von Staat zu Staat, je nach den Grundgegebenheiten, verschieden. Gehörige Kriterien bilden aber eine allgemeine Herausforderung, bis in die supranationalen Organisationen hinauf – auch mit Blick auf Verschuldungstendenzen im Nachgang zu forciert bis überforciert unterstützten Erstinvestitionen in einzelnen Mitgliedsländern.
5 Die aktuellen Staats- und Wirtschaftskrisen in Europa illustrieren, dass das Nachfragen nach Maßstäben bald einmal das Fachliche sprengt und die Verantwortungshorizonte von Politik, Wirtschaft wie auch der Gesellschaft, zusätzlich der Zivilgesellschaft, herausfordert. 6 Der „Sonderfall Schweiz“ wird in der Regel bemüht, wenn es darum geht, ihre Stellung außerhalb der EU wie auch des EWR, dann auch der NATO, zu erläutern und um die Regelung des Verhältnisses zur EU durch sog. bilaterale Verträge zu erklären. Die Schweiz ist in einem gewissen Sinn tatsächlich ein Sonderfall, jedenfalls vom Tatsächlichen her: Sie ist derzeit zu einem Einwanderungsland geworden, ihre Bevölkerung wuchs in den letzten Jahrzehnten enorm. Sie ist im schweizerischen Mittelland zu einer durchgrünten Stadt geworden. Die aktuelle wirtschaftlich Situation ist – auf hohem Niveau – belastet durch den hohen Frankenkurs, u.a. ausgelöst durch die Divergenzen zwischen Währungen, so zwischen CHF – Euro/Dollar, wobei die Schweiz gleichsam für die relativ früh lancierte, vorbildliche, nämlich umsichtige und zurückhaltende Finanzund Verschuldungspolitik „bestraft“ wird. Zur Schuldenbremse siehe Art. 126 BV (BV, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, in Kraft seit 1. Januar 2000 – totalrevidierte Verfassung jener von 1874, die ihrerseits auf jene von 1848 zurückgeht und die übrigens als Urkunde von 1874 bis zur Neufassung rund 150mal teilrevidiert worden ist!).
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Erfahrungen der schweizerischen Infrastrukturpolitik im Verhältnis zu benachteiligten Gebieten Mit der sich aufbauenden Hochkonjunktur zu Beginn der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat die relativ kleine Schweiz mit ihrer föderativen Struktur erkennen müssen, dass es nach wie vor Landesgegenden gibt, die vom wirtschaftlichen Aufschwung nicht im gleichen Maße profitieren.7 Dies waren die Berggebiete, die peripheren Räume und zudem wirtschaftlich monostrukturierte Teilgebiete, die abhängig beispielsweise von der Textil- oder Uhrenindustrie waren. Interregionale Binnenwanderungen – aus den Berggebieten in die Städte des Mittellandes – und ökonomische Ungleichgewichte (Disparitäten) sowie auseinanderdriftende Lebensbedingungen machten sich markant bemerkbar. Die Politik reagierte mit der Institutionalisierung der Raumplanung und parallel dazu mit einer differenzierenden, wirtschaftlich/räumlich ausgerichteten Regionalpolitik.8 In dieser ersten Phase verband sie – vor allem gerichtet auf die Berggebiete – Regionalisierung, Förderung der zentralen Orte und bewusst eingesetzte Infrastrukturpolitik im breiten Umfang von der Erschließung durch Straßen, Bahnen, Busverbindungen usw. bis zu den lebensnotwendigen Ausstattungen mit Spitälern, Schulen usw. Es ergingen entsprechende Gesetze, Pläne wurden geschmiedet, Bauten errichtet und Leistungen angeboten. Nicht ohne Erfolge, aber nicht zwingend von bleibend nachhaltiger Wirkung.9 Das urbane Leben in Städten blieb eben attraktiv, und tragisch: Vor allem gut ausgebildete, junge Leute wagten den Schritt in die großen Zentren des Landes. Den benachteiligten Gebieten gingen sie verloren. Es wäre dennoch fragwürdig, von 7 Im 19. Jahrhundert hatten große Landesteile (Berggebiete usw.) unter Überbevölkerung und Naturkatastrophen zu leiden. Auswanderungen waren nicht selten. Gewässerkorrekturen, Lawinenverbauungen usw. halfen, Gefahren zu mindern. Im 20. Jahrhundert belasteten die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre die Prosperität für Jahrzehnte. Die Städte erholten sich schneller als die Berggebiete usw. 8 Siehe dazu H. Flückinger, Gesamtwirtschaftliches Entwicklungskonzept für das Berggebiet, Bern 1970; R. Frey, Starke Zentren, Starke Alpen, Wie sich die Städte und ländlichen Räume der Schweiz entwickeln können, Zürich 2008, und die daselbst vom gleichen Autor erwähnten Schriften. Siehe ferner M. Lendi/H. Elasser, Raumplanung in der Schweiz, Eine Einführung, Zürich 1991 (3. Auflage); M. Lendi, Zur Geschichte der Schweizerischen Raumplanung, DISP Nr. 167, 4/2006, 66ff.; idem, Schweizerische Regionalpolitik, in: idem, Recht und Politik der Raumplanung, Zürich 1997 (2. Auflage), 21ff. 9 Das erste der Regionalwirtschaft gewidmete Bundesgesetz über die Investitionshilfe für Berggebiete vom 28. Juni 1974 legte den Akzent deutlich in Richtung auf die Infrastrukturpolitik und abgestimmt darauf auf die damaligen Bestrebungen der Raumplanung, so mit Akzenten hin zu den zentralen Orten. Derzeit gilt das neue Bundesgesetz über die Regionalpolitik vom 6. Oktober 2006.
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einem Scheitern der damaligen Infrastrukturpolitik zu sprechen, aber hinreichend erfolgreich war sie nicht. Es kam deshalb zu einer zweiten Phase. In dieser wurde entdeckt, wie wichtig es wäre, die vor Ort lebende Bevölkerung zu motivieren, sich selbst um ihre Lebensqualitäten in den kritischen Gebieten zu kümmern. Es kam zur Doktrin der Förderung der endogenen Kräfte, der Potentiale vor Ort. Ein heikles Unterfangen: Wie investiert man moralisch korrekt, gerecht und erst noch zweckmäßig in konkrete Menschen und deren Aktivitäten samt Wirkungen auf andere Menschen wie auch auf das Gedeihen der ökonomischen und sozialen Bedingungen? Darf und kann man parallel, örtlich konzentriert und sachlich erfolgversprechend in das Fördern kultureller Einrichtungen, alternativer Wirtschaftsinvestitionen und von irgendwelchen Neugründungen durch strebsame Menschen Geld einschießen? Es geschah, aber auch hier die nüchterne Erkenntnis: Nicht ohne Erfolge – aber mit noch höheren Anforderungen an die Maßstäbe, als sie ohnehin schon angezeigt sind, gegenüber der breiter angedachten „Förderungspolitik“ der menschlichen und wirtschaftlichen Nähe.10 In der dritten Phase11 sah sich die Regionalpolitik zum kritischen Eingeständnis genötigt, dass es irgendwie einer Anbindung nach wie vor zurückbleibender Gebiete an die wirtschaftsstarken bedürfte, konkret der Verknüpfung mit Städten, Agglomerationen, gar mit Metropolitanräumen, zum Beispiel des tief in den Bergen liegenden Glarnerlandes mit dem Großraum Zürich – heute verkehren Sonderzüge von Zürich in den Kanton Glarus, resp. aus dem Glarnerland nach Zürich. Die relativ kleinen Distanzen machen dies in der Schweiz möglich. Kurzum: Die Gesamtnetze von Schiene und Straße bewirken, dank der herausragenden Leistungsangebote für den privaten und durch den öffentlichen Verkehr, eine nach Reisezeiten geschrumpfte Schweiz. Gleichsam als Rückkehr zu einer neu konzipierten Infrastrukturpolitik. Dieses Bild mitsamt seinen Veränderungen wäre unvollständig gezeichnet, wenn nicht deutlich gemacht würde, das es in allen drei Phasen zu „Ungerechtigkeiten“, „Unzweckmäßigkeiten“ und vor allem auch zu nicht vertretbaren „Unkorrektheiten“ in Form von neuen Benachteiligungen usw. gekommen ist. Es gibt sie eben nicht, die integral hohen Maßstäben genügende Politik, auch nicht als Regionalpolitik, auch nicht als Wirtschaftspolitik. 10 Die Schwachstellen lagen in den letztlich begrenzten staatlichen Möglichkeiten, direkt oder indirekt Menschen und/oder Institutionen als Wirkungsträger gezielt zu fördern, gar nachhaltig. 11 Für diese 3. Phase ist das derzeit geltende Bundesgesetz über die Regionalpolitik vom 6. Oktober 2006 maßgebend. Parallel wurde ein neuer Finanzausgleich zwischen den Kantonen lanciert (Art. 46 und 135 BV).
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Das hier in knappen Zügen geschilderte Beispiel habe ich übrigens relativ kurz nach dem Fall der Mauer an einer Tagung in Leipzig skizziert und dafür geworben, wie wichtig es wäre, nicht eine exklusive, also nicht eine einseitige Infrastrukturpolitik zugunsten der neuen Bundesländer zu betreiben, sondern die Parallelität eines breiten Maßnahmenspektrums zu wagen. Und nicht vergessen habe ich, darauf hinzuweisen, wie viele Jahrzehnte es in der Schweiz bedurfte, bis es ihr gelang, für die Berggebiete, die peripheren Räume und die Gebiete ohne wirtschaftliche Diversifikation vertretbare Lebensbedingungen zu gewährleisten. Selbstredend ist es im heutigen Zeitalter des allgemeinen Informations- und Wissensaustausches schneller möglich, auf Entwicklungen Einfluss zu nehmen, doch bleibt es dabei, dass der Abbau von Disparitäten nun einmal der Zeit, der Geduld, der Investitionen in „Menschen“ und „Infrastrukturen“, des „Engagements“ und der „Raumbedingungen“ bedarf. Mit Stichworten sei noch ein zweites Beispiel gestreift: Neben den offenkundig benachteiligten Gebieten fühlen sich auch die Städte und Agglomerationen durch den Bund „ungerecht“ behandelt, so im Bereich der Verkehrsinfrastrukturen (und der Soziallasten). Nicht ohne Grund: Die Agglomerationen und die beiden Metropolitanräume „Genève-Lausanne“ und „Zürich-Basel-Luzern-ZugWinterthur“ sehen sich vor größte Infrastrukturprobleme, vorweg im Bereich Schiene/Straße, gestellt. Der Bund reagierte mit sog. Agglomerationsprogrammen für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in diesen Räumen, alimentiert aus Mitteln der Straße.12 Der Verteilkampf folgte – zwischen den Städten und Agglomerationen, zwischen Schiene und Straße, zwischen privatem und öffentlichem Verkehr. Da die finanziellen Mittel knapp sind, wird nach sog. objektiven, mühsam entwickelten Kriterien entschieden.13 Die Gerechtigkeitsfrage wird dabei eher auf die Seite geschoben, indem vorweg sachliche, fachliche, planerische und wirkungsorientierte Anforderungen in den Vordergrund gerückt werden.14 12 Art. 86 Abs. 3 lit. bbis BV: „Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in Städten und Agglomerationen“. Diese Bestimmung dient weitestgehend als rechtliche Grundlage des finanziellen Handelns des Bundes, zumal der Bund, was die Städte und Agglomerationen angeht, nur sehr begrenzt über materielle Kompetenzen verfügt. Er hat auf diese Rücksicht zu nehmen (Art. 50 BV), so die Kernaussage. 13 Allerdings fehlt dem Bund die Kompetenz zu einer substantiellen Städte- und Agglomerationspolitik. Auch kann er kein nationales räumliches Entwicklungskonzept verbindlich vorgeben. Dazu bedürfte es erweiterter Befugnisse des Bundes auf dem Gebiet der Raumplanung – in Ergänzung des heutigen Art. 75 BV. 14 In Bayern kam es im Sommer 2011 zu einer kontrovers geführten Diskussion zum Verhältnis „Land – Ländliche Räume/Metropolitanräume“, vorweg unter dem Gesichtspunkt sog. gleichwertiger Lebensverhältnisse, in einer gewissen Sorge betr. die absehbare Privilegierung der wirtschaftsstarken Gebiete der neuen Räume. Darüber fand eine Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung und der Professur von Prof. Holger Magel (TU München) in Mün-
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Das Recht als naheliegende Erstantwort Eine Erstantwort auf die Fragen nach den Maßstäben lag und liegt auf der Hand. Sie verweist auf das Recht. Gleichsam, es müsse alles nach geltendem Recht geplant, gebaut, unterhalten und finanziert werden, der Rechtsgleichheit verpflichtet, möglichst sachlich-rechtlich konsequent, aber dann doch wieder gerecht, sogar fair.15 Dafür spricht das Prinzip des Rechtsstaates, das u.a. staatliches Handeln, vor allem auch verwaltungsseitiges, auf das Recht verweist.16 Es ist denn auch im Rechtsstaat Grundlage und Schranke des staatlichen Handelns, begleitet von der Pflicht, öffentliche Interessen zu wahren und die Verhältnismässigkeit zu beachten.17 Nur, eine absolute Klärung schafft das Recht (leider?) aus sich heraus nicht, weil es, in sachlich und zeitlich ausgreifenden Belangen, wie im Infrastrukturbereich, relativ reich an eingeräumtem freien Ermessen und an auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriffen ist, dann aber auch deshalb, weil die Begegnung des Abstrakten und Generellen der Rechtssätze mit der nicht immer klar fassbaren Wirklichkeit Wägbares und Unwägbares mit sich bringt.18 Das Recht lässt also Fragen offen, allein schon weil es in Belangen der Infrastrukturen einer komplexen Realität, die sich zudem laufend verändert, begegnet. Mit einem einzelnen, sektoralen Gesetz ist die vielgestaltige Wirklichkeit ohnehin nicht fassbar. Das für Infrastrukturen maßgebende Recht leitet sich zwar zunächst – zum Beispiel – aus dem speziell konzipierten Verkehrsrecht für Straße und Schiene her, zusätzlich aber ruft es nach dem Raumplanungs-, dem Umweltschutz-, dem Energie-, dem Expropriations- und vor allem auch nach dem Finanzrecht. Mithin kann es sich gar nicht um eine subtile Rechtsanwendung eines einzelnen Gesetzes auf einen gegebenen Sachverhalt handeln. Vielmehr geht es um eine Summe von Rechtssätzen unterschiedlichen Ursprungs, was eine sog. koordinierte, abgestimmte Rechtsanwendung bedingt. Diese birgt Wertungen in sich – zwingend. chen statt (20. Juli 2011). Siehe dazu die entsprechende Publikation der Hanns-SeidelStiftung. 15 Die rein legalistische Sicht steht in einem gewissen Kontrast zu den modern wirkenden Lehren einer zeitgemäßen Verwaltung und zu den aktuellen Planungsaussagen – mit einem doktrinseitigen Hang zum betont Informellen in beiden Bereichen, bei noch unklaren Abgrenzungen zwischen dem Formellen und Informellen. 16 Art. 5 BV (Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns) 17 Es gilt das sog. „Legalitätsprinzip“. 18 Zum schweizerischen Infrastrukturrecht siehe den bereits zit. Aufsatz von M. Lendi, Demokratie und Infrastruktur – ein Responsum, Anm. 2, 422ff. Dort findet sich eine (auf das Wesentliche konzentrierte) Übersicht der wichtigsten, eher sektoralen Rechtsquellen.
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Nicht nur nebenbei: Vor diesem differenzierten Hintergrund hat es mit der involvierten „Rechtsgleichheit“ seine Tücken.19 Diese lässt sich grundsätzlich als absolute und als relative verstehen, gleichsam im Geist der Formel, wonach das Gleiche gleich und das Ungleiche ungleich zu behandeln seien. In derartigem Bemühen wird aber sichtbar, wie unterschiedlich die Gegebenheiten für die einzelnen Infrastrukturen sind. Die Wirklichkeit besteht aus einem Konglomerat von sachlichen Bedürfnissen und Zwängen nach Vernetzungen mit bestehenden Anlagen, sodann nach Räumen, nach spezifischen topographischen, baulichen Bedingungen. Auch die zeitabhängigen Umstände sind für jede einzelne der Infrastrukturen verschieden. Sie rufen nach besonderen Akzentsetzungen, singulären Beurteilungen, häufig provozieren sie sogar Unvergleichbarkeit. Dazu kommen noch sozio-ökonomische, unterschiedliche Grade an Knappheiten, beispielsweise des politischen Konsenses und vor allem der Finanzen. Aus dem jeweiligen, sehr sektoralen Fachrecht lassen sich ebenfalls kaum allgemeine Beurteilungskriterien oder Prioritätssetzungen herleiten. Anders formuliert: Planung, Bau und Betrieb sowie Unterhalt von Infrastrukturen, auch deren rechtliche Würdigung, sie tun sich schwer mit dem geltenden Recht, auch mit der Rechtsgleichheit. Pointiert kann die Aussage anklingen, Infrastrukturen seien immer einmalig und also aus sich heraus ungleich, mithin nicht oder kaum vergleichbar. Die schweizerische Raumplanung20, die gegenüber Infrastrukturen, betonter als im deutschen Recht, eine steuernde und leitende Funktion übernimmt, hat schon früh lernen müssen, dass raumplanerische Maßnahmen – zu ihnen zählen auch die Infrastrukturanlagen! – nicht einseitig nach der Rechtsgleichheit entworfen, gebaut, unterhalten, ausgebaut oder erweitert werden können, sondern aus der Begegnung mit der Wirklichkeit unterschiedlich gesehen und verstanden werden müssen. Von einer „abgeschwächten Bedeutung der Rechtsgleichheit“ ist unter diesem Titel die Rede, mit guten Gründen, sogar von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung akzeptiert, weil die rechtsgleiche Beurteilung von staatlichen Maßnahmen im Bereich der Leistungsverwaltung nach Gleichheitsmerkmalen nicht vorbehaltlos taugt. Bleibt die Frage: Genügt der
19 Art. 8 BV 20 Ausdrücklich verwiesen sei auf den Verfassungsartikel 75 BV und vor allem auf das Bundesgesetz über die Raumplanung (RPG) vom 22. Juni 1979, das mit dem Instrument des kantonalen Richtplans die konzeptionelle und programmatische Funktion, also die materielle und zeitliche Steuerung der Entwicklung, unterstreicht. Leider fällt die Praxis da und dort der Versuchung anheim, den Plan und seine Aussagen auf Aspekte der Planung der Bodennutzung zu reduzieren oder so abstrakt zu gestalten, dass nichts konkretes unmittelbar ableitbar wird.
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Maßstab des Willkürverbots?21 Er beschränkt sich weitgehend auf das gerade noch Begründbare.
Moderne Verwaltungsattitüden – begründete Bindung an das Recht Die moderne Verwaltung hätte, wenn sie wählen könnte, eine Präferenz. Sie wäre, so vermute ich, mit allgemein gehaltenen Vorgaben zufrieden. Aufträge wie „Grundversorgung“, „Daseinsvorsorge“, „Förderung der allgemeinen Wohlfahrt“, „Mehrung des Gemeinwohls“, würden ihr genügen. 22 Das Verbindliche am Recht belastet, engt ein. Methodisch wäre es für die Verwaltung also erleichternd, sich vom Formellen lösen und das Informelle pflegen zu können, oder wenigstens das Hoheitliche abzustreifen und das Partnerschaftliche, das Rechtsgeschäftliche, das Koordinierende, das Kooperative – alles herwärts des tradierten administrativen Handelns „cum imperio“ – zu betonen.23 Und wenn dabei gleichzeitig noch wirkungsorientierte Management-Impulse mitgenommen werden könnten, so wäre dies, aus der Sicht der Verwaltung, eine Chance für eine unbürokratische, problemnahe, effiziente Verwaltung. NPM und PPP sind Kürzel für solche Trends.24 Eine bedeutende Rolle spielen bereits 21 Siehe dazu neuerdings A. Ruch, Umwelt-Boden-Raum, Basel 2010, 218 und die dort zit. bundesgerichtliche Rechtsprechung. Das Gebot der Rechtsgleichheit fällt weitgehend auf das Willkürverbot zurück. Auf alle Fälle bestehen keine Rechtsansprüche auf Gleichbehandlung, wenn es um die räumliche Ordnung geht. Diese ist zu konzipieren – unter Einschluss landschaftlicher, siedlungsseitiger, transport- und versorgungsrelevanter Dimensionen, begleitet von Maßnahmenpaketen. 22 Das schweizerische Recht vermeidet den Begriff der Daseinsvorsorge, jener der Grundversorgung kommt hingegen in der Verfassung vor, so in Art. 43a Abs. 3 BV, wo davon die Rede ist, dass die Leistungen der Grundversorgung allen Personen in vergleichbarer Weise offenstehen müssen, sodann in Art. 92 Abs. 2 BV, wonach der Bund in Belangen des Post- und Fernmeldewesens in allen Landesteilen für eine ausreichende und preiswerte Grundversorgung zu sorgen hat. Der Begriff der Grundversorgung wird also nicht als allgemein gehaltene Kompetenznorm verstanden, sondern gleichsam im Kontext von Fällen der „Verteilgerechtigkeit“ angesprochen. 23 Diese Diskussion wird vor allem im Bereich der Raumplanung geführt. Dem Informellen wird (häufig, zu häufig?) das Wort geredet. Das Rechtliche wird nicht selten, beinahe verächtlich und exklusiv dem Formellen zugeordnet. Es besteht eine Neigung, dem Verbindlichen des Rechts auszuweichen. Der neue Grundriss der Raumordnung der dt. Akademie für Raumforschung und Landesplanung widmet den „Informellen Planungsansätzen“ erhöhte Aufmerksamkeit. Siehe dazu: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), Grundriss der Raumordnung und Raumentwicklung, Hannover 2011, S. 473ff. 24 Für die Schweiz vgl. A. Lienhard, Staats- und verwaltungsrechtliche Grundlagen für das New Public Management in der Schweiz, Bern 2005.
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die sog. Leistungsvereinbarungen mit verselbständigten Verwaltungseinheiten/ Unter-nehmungen. Sie schwächen die Bindung an das Recht, allerdings nur von der faktischen Seite her. Für diese Grundeinstellung gibt es viele Anzeichen, sei es im engeren Bereich der Raumplanung, auch des Umweltschutzes, sei es gar in den Grundlehren zum Verwaltungsrecht. Sie möchten die rechtlichen Bindungen lockern, nicht allenthalben, aber doch im Bereich der Leistungsverwaltung und damit auch zugunsten der Planung, des Baus, der Erneuerung von Infrastrukturanlagen. Für die Ordnungsbelange ist wohl unbestritten, dass diese, allein schon wegen der Nähe zu den Grundrechten, an das Recht gebunden und auf die Gesetze, das Wahren öffentlicher Interessen und auf das Prinzip der Verhältnismässigkeit verpflichtet sind. Auch bei der Interventions- und der Finanzverwaltung wird der Rückhalt im Gesetz angestrebt. Aber dort, wo es um das Vorwärtsschreiten in die Zukunft geht und da wo Leistungen angeboten und konkretisiert werden, da meldet sich (scheinbar und/oder real) das Bedürfnis, disponieren, mindestens „frei“ verhandeln zu können, auf alle Fälle sich zum Ob und zum Wie einigen zu können – im Interesse der Sache, des Vermeidens unnötiger Aufwendungen, der raschen Wirkung.25 Für das schweizerische Verwaltungsrecht ist jedoch – bundesgerichtlich – klargestellt, dass das Legalitätsprinzip auch für die Leistungsverwaltung gilt.26 Es ist deshalb am Gesetzgeber, differenziert zu legiferieren, beispielsweise das Infrastrukturrecht flexibel zu fassen, das damit verbundene Planungsrecht zukunftsorientiert zu bedenken, das einordnende und abstimmende Raumplanungsrecht offenzuhalten, gleichzeitig aber die Schwerpunkte der Schrankenziehung gesetzlich festzuschreiben. Kurzum, weil das Legalitätsprinzip die Bindung an das Recht mit sich bringt, ist es am Gesetzgeber, die aus der Sache heraus notwendigen, geeigneten und also berechtigten Eigenheiten der Leistungsverwaltung vorzubehalten sowie positiv zum Tragen zu bringen. 25 Der öffentliche Vertrag ist eine Möglichkeit, doch vermag er das geltende Recht nicht zu ändern. Den Ausnahmefall des rechtsetzenden öffentlich-rechtlichen Vertrags gilt es zwar vorzubehalten, doch ist er im Kern rechtsetzenden Organen vorbehalten. Der Inhalt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages (nicht rechtsetzender Art) setzt das Bestehen von Rechtssätzen voraus. 26 U. Häfelin/G. Müller/F. Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. A, Zürich 2010, 95, verweist auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung. Diese begründet die Bedeutung des Legalitätsprinzips für die Leistungsverwaltung mit der demokratischen Komponente der Gesetzgebung, doch sind die Anforderungen weniger streng als gegenüber der Eingriffsverwaltung. Als Beispiel gilt der „numerus clausus“ für das Universitätsstudium. Er bedarf der gesetzlichen Grundlage und einer klaren Regelung der Grundzüge der Zulassung resp. Nicht-Zulassung, aus der Sache heraus, nicht weil damit Eingriffe in die persönliche und in die Wirtschaftsfreiheit verbunden wären.
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Ein Blick auf das Verwaltungsrecht verrät, wie sehr dieses im Leistungsbereich nach freiem Ermessen verlangt und sich zusätzlich nicht scheut, durch unbestimmte Rechtsbegriffe Auslegungsspielräume zugunsten einer breiteren Beurteilungskompetenz zu generieren. Das elementare Insistieren auf der Rechtsbindung macht jedoch Sinn, weil sich mit den Gesetzen grundlegende Werte wie Rechtssicherheit und demokratische Legitimierung verbinden. Ob es hingegen sinnvoll ist, das sog. freie Ermessen, auch das Beurteilungsermessen, nachträglich durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in concreto zu beschränken und durch präjudizierende Wirkungen faktisch außer Kraft zu setzen? Dies muss gefragt werden, weil es in der Kompetenz des Gesetzgebers liegt, der Verwaltung Freiräume zuzugestehen, nicht wider das Legalitätsprinzip, sondern einbezogen in die Bindungen an das Recht. Es kann eben sachlich nötig sein, Öffnungen zugunsten eines sachgerechten Handelns im Einzelfall zuzulassen, sogar im Bewusstsein der abgeschwächten Wirkung der Rechtsgleichheit.27
Die Relevanz des Zweckmäßigen, des Gebotenen und des Gerechten Knüpfen wir wieder bei der öffentlichen Aufgabe der Sicherstellung der Infrastruktur an. Bei der Planung, dem Investitionsentscheid, bei Erneuerung, aber auch schon in den vorangehenden Entscheidungsprozessen zur Gesetzgebung, der Integration in die Raumplanung und der Finanzierung wie auch in den nachfolgenden Kontrollen der Wirkung, der Beurteilung der Angemessenheit der Investitionen ex ante wie auch der Rechtfertigung der getätigten Investitionen ex post spielen drei Aspekte eine herausragende Rolle: das Zweckmäßige, das Gebotene und das Gerechte. Dies klingt abstrakt. Etwas konkreter geht es um das sachlich Angezeigte, das rechtlich Ausgewiesene und das ethisch Vertretbare, sowie um das Gerechte, beispielsweise bei Begünstigungen resp. bei Benachteiligungen durch Infrastrukturen, so von Landesteilen, Unternehmungen, Grundeigentümern und einzelnen Menschen. Alles hier nur kurz anformuliert, doch im Bewusstsein, dass es beim staatlichen Handeln nie nur um eine der drei „Größen“ geht. Die Bedeutung der einzelnen Elemente spielt nicht in allen Phasen staatlichen Handelns die gleiche Rolle. Sie sind, wie unschwer nachvollziehbar sein dürfte, unterschiedlich zu gewichten, sei es bei der Gesetzgebung, sei es während der Ausführung der Vorhaben, sei es beim nachträglichen Erfassen der Wirkungen, sei es bei der Bilanzierung der Vor- und Nachteile konkreter 27 Siehe dazu die weiter vorn stehenden Bemerkungen zum Legalitätsprinzip und zur Rechtsgleichheit im Kontext der Infrastrukturmaßnahmen.
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Projekte. In der Gesetzgebung dominieren Aspekte des Sachlichen, des rechtlich Zulässigen und der politisch (und rechtlich? und moralisch?) fokussierten Gerechtigkeit, übrigens bei recht großem freiem Ermessen, eingeschränkt durch die auferlegte Pflicht, die höherstufige Verfassung und das Völkerrecht zu befolgen. Ganz anders bei einem Variantenvergleich mit dem Ziel des Auswählens eines konkreten Vorhabens. Hier steht das Zweckmäßige evident im Vordergrund. Mindestens beim ersten Zutritt. Und nachher? Mit zur Relevanz dieser drei Komponenten des Zweckmäßigen, des Gebotenen und des Gerechten zählt, dass diese untereinander, also gegenseitig exponiert sind. Das evaluiert Zweckmäßige muss – wie auch umgekehrt – mit dem Recht konfrontiert werden. Und es sieht sich auch dem ethisch Gebotenen ausgesetzt. Die Gerechtigkeitsfrage stellt sich zudem wie von selbst ein, weil nie allen Erwartungen entsprochen werden kann. Zudem ist sie mit dem Recht derart eng verknüpft, dass jegliches staatliche Handeln, das vom Recht getragen ist, auch den Gerechtigkeitsaspekten gegenüber offen sein muss, es sei denn, man erachte das geltende Recht als gerechtigkeitsimmun. Wie dem auch sei: Zweckmäßiges, Gebotenes und Gerechtes können sich streiten, widerstreiten. Sie sind jedoch immer präsent. Staatliche Maßnahmen können und dürfen deshalb nie exklusiv unter einem dieser „Maßstäbe“ beurteilt werden, selbst wenn der einzelne in concreto – im Vergleich zu den anderen, wie oben gezeigt – von geringerer Relevanz sein könnte. Wenn dem aber so ist, dann darf den Fragen nach der Gerechtigkeit oder dem Gebotenen oder dem Zweckmäßigen nicht, eigentlich sogar nie ausgewichen werden, mindestens gerichtet auf notwendig werdende Novellierungen, dann aber auch auf fällig werdende konkrete Anwendungen. Alle drei: Das Zweckmäßige, das Gebotene und das Gerechte, sie liegen in der Waagschale des Erwägens. Und noch eine Kernaussage. Die Dreiheit von Zweckmäßigem, Gebotenem und Gerechtem erträgt keine Verabsolutierung eines dieser drei Elemente. Beispielweise geht es nicht an, staatliches Handeln auf das Zweckmäßige zu reduzieren und dieses gleichzeitig zu überhöhen, kann doch mit dem Zweckmäßigen alles und jedes irgendwie begründet werden, unabhängig von Qualitäten, unabhängig vom Gebotenen, fern dem Gerechten. Auf der Direktheit des Zweckmäßigen zu insistieren, ist allein schon deshalb fragwürdig, weil damit das Augenmaß aus der Warte des Gebotenen und des Gerechten verloren gehen könnte oder geht. Aber auch diese ertragen keine Verabsolutierungen. Für das Recht mag das bekannte Wort, wonach das auf die Spitze getriebene Recht die höchste Ungerechtigkeit mit sich bringen kann (summum ius, summa iniuria, Cicero), Beleg sein. Auch das Gebotene darf sich nicht überschätzen, selbst dort, wo es als verbindliches Recht auf Durchsetzung angelegt ist. Die Frage, was zu tun ist, was getan werden darf, resp. was letztlich getan werden muss, das ist eine Frage, die in sich kritisch reflektiert sein will, weil es die Adressaten in die Pflicht
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nimmt. Mindestens der Vorbehalt der besseren Einsicht muss angebracht sein, so im Bereich des Rechts der einsichtige, sich zurücknehmende Satz von dessen Änderbarkeit.28
Das Zweckmäßige Der Satz, eine funktionsuntaugliche Infrastruktur sei ein Widerspruch in sich, leuchtet ein: Eine Infrastruktureinrichtung taugt eben nur, wenn sie dem Zweck, für den sie angelegt wurde, zudient – erfolgreich, wirkungseffizient, anhaltend, nachhaltig. Staatliches Handeln kann an dem was sachlich taugt, was vernünftig planbar und erwartungsgemäß mit berechenbarem Aufwand umgesetzt werden kann, nicht vorbei sehen. Selbst Neues, das noch nicht erprobt ist, kann sich als zweckmäßig aufdrängen, wenn es kritisch auf seine fachliche Grundlage, Nützlichkeit, auf seine Ziel/Mittel/Wirkung-Relation hin überprüft werden kann. Staatliches Handeln hat also auf das Zweckmäßige zu achten.29 28 Für die Schweizerische Bundesverfassung ist Art. 192 Abs. 1 BV maßgebend: „Die Bundesverfassung kann jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden.“ Dieser auf die Verfassung ausgerichtete Satz impliziert die Änderbarkeit des Rechts im Allgemeinen, verstanden als das Recht von Menschen für Menschen. 29 Die Dimension des „Zweckmäßigen“ wird, mindestens in den schweizerischen Lehrbüchern zum Verwaltungsrecht, in der Regel nicht deutlich genug hervorgehoben (so auch beim schweizerischen Standardwerk von U. Häfeling/G. Müller/F. Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, Anm. 26. Es spielt eine gewisse Rolle, wenn es um die Rechts- und Zweckmäßigkeitskontrolle durch die Rechtsmittel- resp. Aufsichtsinstanzen geht, also vorweg als Abgrenzung zur Rechtskontrolle, auf der das Schwergewicht liegt. Es wird wohl angenommen, es sei am Gesetzgeber und an der Rechtsanwendung, auf das Zweckmäßige zu achten. Dies trifft weitgehend zu. Es reicht aber nicht hin, das „Zweckmäßige“ als in den Rechtssätzen und in Begegnung mit der Wirklichkeit (mit den Sachverhalten) eingeschlossen zu betrachten. Gerade in all jenen Bereichen, in denen dem Ermessen große Bedeutung zukommt, gilt es das Zweckmäßige adäquat zu disponieren. Dies wird in den Lehren zum Planungsrecht bewusst, wo das Zweckmäßige zusätzlich mit der Komponente der Zukunft bereichert wird. Zur Struktur des Planungsrechts gilt es denn auch immer wieder neu zu bedenken, dass es mit seinen Besonderheiten zu verdeutlichen hat, wie es das Zweckmäßige auf die Zeitachse bringt. Seine Strukturen und auch seine Instrumente haben diesem Anspruch zu genügen. Siehe dazu Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), Grundriss der Raumordnung und Raumentwicklung, Hannover 2011, 379ff. Zum Planungsrecht siehe ferner M. Lendi, Planung und Recht – Reflexionen, in: UPR, Heft 10 (2004), 361ff., und die dort zit. Lit.; ferner idem, Die Zukunft – eine Frage an das Recht, bedacht vor dem Hintergrund von Recht und Planung, in: B. Bovay/Nguyen Minh Son (Hg.), Mélanges Pierre Moor, Bern 2005, 129ff., ebenso idem, Das Ungewisse als Herausforderung des Rechts, in: Caroni/Heselhaus/Mathis/Norer (Hg.), Auf der Scholle und in lichten Hö-
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Es würde sich unzulänglich, sogar fehlerhaft einbringen, wenn es diesen Ansatz außer Acht lassen würde. Der Wirklichkeit würde es sich verschließen. Auf der anderen Seite versteht sich, dass das politische Handeln Anforderungen an das Zweckmäßige im Sinne des Erforderlichen, des Geeigneten und des Realisierbaren stellen muss. Selbst das Wirtschaftliche daran fällt mit ins Gewicht, das Gesellschaftliche kommt hinzu, das politisch Wegweisende und Verkraftbare ebenfalls – solche Elemente verstanden als die aus sich heraus kritisch bewertete Wirklichkeit, die es zu erfassen gilt, wenn öffentliche Aufgaben angepackt, wenn geplant und investiert, wenn Recht angewandt werden soll, wenn es die Wirkungen ergriffener Maßnahmen zu beurteilen gilt. Die Quelle des Zweckmäßigen liegt im Sachverstand, im eigenen oder im zu mobilisierenden, allerdings nicht in einem weltfremden, sondern einem dem Tatsächlichen zugewandten, sachkundigen. Dieser schlägt sich im Fachlichen, in Standards, in Fachnormen, aber auch in der bewährten Lehre nieder, welche die Praxis kritisch begleitet. Der Gesetzgeber muss sich mit diesen Gefäßen des Zweckmäßigen befassen, Planung und Projektierung wie auch Ausführung stehen ganz besonders in der Pflicht, stets mit dem Ziel, dem erprobt Fachlichen auf den Grund zu gehen und von dort her neue Entwicklungen vorherzusehen oder sogar voranzutreiben. Zu eng wird das Zweckmäßige gesehen, wenn es die Umgebung übersieht, wenn es nur sich selbst im Visier hat, zudem nur rückbuchstabiert auf ein isoliertes Vorhaben evaluiert würde. Das Beispiel der Infrastruktur, die dem Geschehen zudient, erhellt aus sich heraus die Notwendigkeit des Einbezugs des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Umfeldes, aber auch des geographischen, des räumlichen. Sie ist eben aus sich heraus einem breiten Wirkungsfeld zugewandt. Dieses ist sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Planung, die Projektierung, den Investitionsentscheid usw. relevant. Auch bei der Wirkungskontrolle genügt es nicht, die Einnahmen und Ausgaben zum Beispiel einer Straßenbahnlinie zu erfassen – das Verkehrsgeschehen, die Siedlungsentwicklung usw., sie sind einzubeziehen, sogar die Auswirkungen auf andere Infrastrukturen gilt es zu bedenken. Interessant: Die Rechtsordnungen, vor allem auch die Lehre vom Recht, sie gehen gleich an mehreren Stellen auf das Zweckmäßige zu, wenn auch in der Regel mit etwas anderen Worten. So hat die Lehre von der Gesetzgebung30 sich klar zu werden, welche Sachverhalte in welchen Dimensionen rechtsrelevant hen, Festschrift für Paul Richli zum 65. Geburtstag, Zürich/St. Gallen/Baden-Baden 2011, 71ff. Nach wie vor eindrücklich: F. Ossenbühl, Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung, Gutachten B zum 50. Deutschen Juristentag, München 1974. 30 Sie dazu G. Müller, Elemente einer Rechtsetzungslehre, Zürich 2006 (2. Auflage).
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sind, wie auch jene von der Rechtsanwendung31 verdeutlichen muss, wie die Realitäten im Rahmen der Begegnung mit dem Recht und seinen Rechtssätzen erfassbar werden. Ein sehr konkretes Beispiel: Von grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen wird verlangt, dass sie geeignet, erforderlich sein mussten und der Relation Zweck-Wirkung zu entsprechen hätten, was in unserem Zusammenhang heißt, sie müssten vorweg „zweckmäßig“, eben geeignet, erforderlich und gleichsam vernünftig dosiert sein.32 Das Zweckmäßige ergibt sich, über alles gesehen, nicht einseitig und abschließend aus dem Zweck im Recht, der bekanntlich das Recht stimuliert.33 Es leitet sich vielmehr auch aus faktischen und rechtsrelevanten Standards ab, welche bewährtes Tun, erfahrungsgestützt, als das Handeln lege artis beschreiben. Von der Medizin bis hin zum Bauwesen. Auch in den eigentlichen Fachnormen finden sie Berücksichtigung. Diese werden zwar ebenfalls aus den Erfahrungen heraus formuliert, jedoch nicht einfach de facto wie die Standards, sondern kritisch durchleuchtet, aus größeren Zusammenhängen heraus bedacht, um dann mit einer gewissen Verbindlichkeit als „Normen“ erlassen zu werden. Zukunftsoffen werden sie dabei angelegt, wenn neue Erkenntnisse ausdrücklich vorbehalten werden, was erlaubt oder erlauben müsste, mit zureichenden, letztlich nur mit hinreichenden Begründungen von diesen abzuweichen.34 Geht es um die Infrastruktur, um auch hier bei diesem Beispiel zu bleiben, dann darf eine Kritik des Geleisteten und des zu Leistenden das „Zweckmäßige“ nicht außer Acht lassen – breit verstanden, bis hin zum Raumplanerischen und zum Umweltseitigen, zum Ökologischen, zum Volkswirtschaftlichen, aber 31 Siehe zum Beispiel E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, Bern/München/Wien 2010, 35, wobei aber gerade bei diesem Werk auffällt, wie sehr sich die Methodenlehre kapriziert, die Normentextbearbeitung und die Interpretationslehre zu forcieren, im Wissen sogar, dass die Sachverhaltsermittlung, also das Erfassen der Wirklichkeit, theoretisch eher vernachlässigt bleibt. 32 So als Grundvoraussetzung Art. 36 BV, wobei Eignung, Erforderlichkeit und Zweck-Wirkung lehrseitiger Ausdruck der geforderten Verhältnismäßigkeit sind. Siehe dazu für das schweizerische Recht U. Häfelin/W. Haller/ H. Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. A., Zürich 2008, 97ff. 33 „Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts“ – so R. Ihering in seinen Schriften „Der Zweck im Recht“ (seit 1877) und „Der Kampf ums Recht“ (1872). 34 Die Fachnormen spielen im Baubereich eine große Rolle. Sie berühren – in der Schweiz – einerseits die vertraglichen Rechte und Pflichten der Bauherren, Unternehmer, Subunternehmer etc., dann aber auch die technischen Anforderungen, wobei sich diese vernünftigerweise auf das Technische beschränken. Für die Schweiz geht es vor allem um das Normenwerk der Schweizerischen Ingenieure und Architektenvereins (SIA). Sie verpflichten deren Mitglieder, werden aber von der Gerichtspraxis als allgemeine Standards/ Fachnormen beachtet.
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auch hin zum Finanziellen, zum Zeitlichen der Abwicklung und des Zugriffs auf die Zukunft. Das „Zweckmäßige“ als kernbestimmender Auslöser einer Infrastrukturanlage ist bestimmend, aber nicht unbedingt wichtiger als das Gebotene und das miteinhergehende Gerechte. Für eine Bilanzierung und das Bewerten einer solchen Einrichtung wird es letztlich wohl aller drei Maßstäbe bedürfen.
Das Gebotene Staatliches Handeln wird neben dem fachlich Zweckmäßigen berührt und sogar erfasst durch das Gebotene. Im Vordergrund des Gebotenen35 steht das verbindlich Angezeigte gemäß geltendem Recht. Dieses kann nicht umgangen werden. Denn das Recht ist wesensmäßig und aus seiner Funktion heraus verbindlich. Diese Ausrichtung und Durchsetzungskraft beansprucht es aus seiner legitimierten, in der Regel sogar demokratisch verfassten Anordnungskompetenz. Diese beschränkt allerdings das Verbindliche durch das Recht auf das Menschennahe, zumal das Recht als Ordnung von Menschen für Menschen nicht beliebig weit ausholen kann und darf, sondern das im Auge zu behalten hat, was als Gebotenes und Verbindliches den Menschen mit Blick auf ein geordnetes Zusammenleben zugemutet werden kann und zugetraut werden muss, nicht unter höchsten Anforderungen, sondern mit Sinn für das Mögliche und das Durchsetzbare. Aber das Gebotene ist nicht einseitig und abschließend auf das Recht fokussiert. Es führt gleichsam nebenher ein selbständiges Eigenleben als Antwortenfülle auf die Grundfrage nach dem, was wir als Menschen in Verantwortung – u.a. gegenüber den kommenden, künftigen Generationen – über das Recht hinaus tun müssen, zu tun gehalten sind. Gleichsam als Ethikresultante mit den Quellen des Gewissens, der Vernunft, vorgegebener oder vorausgesetzter Werte, sogar der Offenbarung oder der Schöpfungsordnung, sodann angebahnter Prozeduren wie des souveränen Diskurses. Allerdings 35 Das Gebotene gehört in die großen Zusammenhänge von Rechtsphilosophie/Rechtstheorie und philosophischer/theologischer Ethik. Diese sind neuerdings dargestellt bei M. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 2010. Siehe aber auch, der luziden Darstellung wegen, H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, und die dort zit. Quellen. Auffallend ist, dass im Unterschied zur vorliegenden Abhandlung das Gebotene, gleichsam als das „Rechtsethische“ und das „Ethische“, wenig prononciert dem Zweckmäßigen, eher der Gerechtigkeit, dem Gerechten, gegenübergestellt wird.
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nicht versehen mit dem Siegel „wahrer“ Quellen, aber im Wissen, dass sich Menschen als Menschen den Fragen nach dem Gebotenen zu stellen haben.36 Spannend nun, dass das Gebotene gemäß dem geltenden Recht und aus der Ethik heraus durch Brückenschläge auffällt – gegenseitig. So spricht das Recht – wenn auch in den eigenen Dimensionen befangen und in unterschiedlichen Formulierungen – von der Freiheit, der Menschenwürde, von der Gleichheit, vom Schutz der Persönlichkeit, vom Schutz des Lebens, von den Menschenrechten, von der Verantwortung gegenüber dem Schöpfer, von der Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen, vom Wohl der Schwachen – kurzum, das verbindliche Recht lehnt sich an die Ethik jenseits des positiven Rechts an, allgemein gehalten, aber doch getragen vom Bewusstsein, dass gleichsam „Moral“ und „Recht“ sich nicht fremd sind und feind sein müssen, auch wenn die Spannweiten zur Wirklichkeit und die Verbindlichkeit klar divergieren.37 Die Stellen, an denen sich Recht und Ethik berühren, sind gleichsam zweispaltig. Einerseits als rechtsimmanente Rechtsethik, mitgetragen von den erwähnten Bezügen zu Freiheit, Menschwürde, Schöpfungsordnung usw., dann aber vor allem dort, wo das Recht sich ans Unbestimmte verliert, sich dem Ungewissen gegenüber öffnet, wo es den Rechtsanwendenden, also auch den Staatsorganen Beurteilungsermessen, sogar freies Ermessen zuerkennt, vor allem aber wo es dem Gesetzgeber die Pflicht auferlegt, am Pulsschlag der Zeit nach Innovationen, nach gesetzlichen Novellierungen, nach Änderungen des geltenden Rechts zu suchen, um dem Gebotenen nahe zu bleiben. Das geltende Recht ist zwar limitiert in seinen durchsetzbaren Ansprüchen, aber doch fähig, dem Gebotenen (wie auch dem Zweckmäßigen und dem Gerechten) auf der Spur zu sein, offen dafür, dass sich die Menschen, auch als Bürger/Bürgerinnen, über das geltende Recht hinaus in Verantwortung sehen sollen.38 36 Dies hat dazu geführt, dass im Werk der Akademie für Raumforschung und Landesplanung zur Ethik in der Raumplanung sowohl von der Rechtsethik als Grundlage für die Raumplanung als auch von der Ethik (in) der Raumplanung die Rede ist. Siehe dazu M. Lendi/K. H. Hübler (Hg.), Ethik in der Raumplanung, Zugänge und Reflexionen, Hannover 2004, daselbst: M. Lendi, Rechtsethik als Grundlage der Raumplanung, 132ff., sodann idem, Ethik und Raumplanung, ein Auftrag zum Innehalten, zum Besinnen, zur kritischen Distanznahme, a.a.O. , 220ff. Siehe ferner idem, Ethik in der Planung, in: D. Henkel et al (Hg.), Planen-Bauen-Umwelt, Handbuch, Wiesbaden 2010, 143ff. 37 Zu den Rückkoppelung zwischen Recht und Moral/Ethik siehe vor allem die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV), vorweg die Präambel, den Zweckartikel (Art. 2 BV) und den 2. Titel über die Grundrechte und die Sozialziele (Art. 7ff. BV). Sie nimmt auf die zit. Begriffe und weitere Bezug, insgesamt ist sie also relativ reich an solchen, die der Wortwahl nach sowohl der Ethik als auch dem positiven Recht zuzuordnen sind. 38 Gegenüber der Öffentlichkeit artikuliert sich dies in der Ausübung der politischen Rechte (Art. 39 BV).
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Zwischen der verbindlichen Normenwelt des Rechts und der gleichsam hohen Ethik als Antwortbündel auf die Frage nach dem, was wir tun müssen, gibt es einen gemeinsamen Nenner, gleichsam eine gemeinsame Basis – mehr als ein formaler methodischer Hinweis. Es ist dies der Auftrag zum Innehalten, zum Besinnen und zum kritischen Distanz-Nehmen.39 Das übereifrige, unreflektierte Handeln ist vor dem Gebotenen verpönt, allgemein auch im hier hervorgehobenen Infrastrukturbereich. Nicht angepeilt als Flucht in ein Hinauszögern, aber sehr wohl verstanden als sachlich ausholendes und einordnendes Nachdenken, bis hin zum Reflektieren über Vor- und Nachteile, über positive und negative Wirkungen, dann auch – so am Beispiel der Infrastruktur – über dereinst möglicherweise anfallende Folgekosten aus Betrieb, Unterhalt, Erneuerung, Kapitalaufwand, sogar bezüglich der Gefahr der Ausweitung bereits eingegangener Lasten aus Schulden.
Das Gerechte Dem Gerechten ist nicht auf der Ferse, der eine gerechte Welt schaffen möchte, ohne sich einzugestehen, dass diese, selbst bewusst angestrebt, nicht machbar ist, weil die Gerechtigkeit nicht objektiv fassbar ist. Sie ist und bleibt – vereinfacht ausgeführt – ein nicht abschliessend definierter Wert oder ein relativ offenes Postulat, jedenfalls mehr als eine singuläre Idee oder eine unter vielen Tugenden. Sie ist so etwas wie „Idee“ und „Sollensauftrag“ an Menschen, der Gerechtigkeit nahe zu kommen.40 Trotz der Unbestimmtheit des Begriffs ist und bleibt sie derart eng mit der Rechtsidee verknüpft, dass sich Recht und Gerechtigkeit nicht nach Belieben auseinander dividieren lassen. Sie sind sich zugewandt, zugeordnet. Zum inneren Wert des Rechts gehört also das Anstreben der Gerechtigkeit im Recht und durch das Recht, beispielsweise beim Erlass von Gesetzen wie auch bei deren Anwendung und Durchsetzung. 39 Siehe dazu M. Lendi, Ethik und Raumplanung – ein Auftrag zum Innehalten, zum Besinnen, zur kritischen Distanznahme, in: M. Lendi/K. H. Hübler (Hg.), Ethik in der Raumplanung, Zugänge und Reflexionen, Anm. 36, 220ff. 40 Was Gerechtigkeit ist und wie sie verstanden wird, resp. wie sie verstanden und wie sie angegangen werden könnte, das ist weitgehend offen, gleichsam bleibend. Man kann von der Ungewissheit der Gerechtigkeit sprechen. Schon der Rechtsbegriff ist auf alle Fälle ein Kulturbegriff und erst recht trifft dies auf die Rechtsidee zu, die nahe bei der Gerechtigkeit ist, die also auch nicht ohne Kulturbezug gedacht werden kann. Siehe, statt vieler Werke, B. Rüthers/Chr. Fischer, Rechtstheorie, München 2010 (5. Auflage), 222ff. Das kleine Rechts-Brevier von Gustav Radbruch sagt als „Spruchbuch“ mehr aus über Recht und Gerechtigkeit als manches Grundlagenwerk auszudrücken vermag (hg. von Fritz von Hippel, Göttingen 1954).
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In Zeiten, in denen sich die Rechtsordnung auf das Regeln der Verhältnisse zwischen den Menschen konzentrieren konnte, ging es um jene materiellen, formellen und vor allem auch institutsbezogenen Bausteine des Rechts, die erlauben sollten, die Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Körperschaften rechtsgeschäftlich zu meistern, gleichsam autonom, aber getragen von Treu und Glauben, mitbeeinflusst durch zwingendes Recht. Das moderne Recht, insbesondere das Verwaltungsrecht, tut sich schwer. Es neigt zu objektiv gesetzten, direkt anwendbaren, hoheitlich gesetzten Normen – bis in Details hinein, gleichsam abschließend. Die Grundidee, das Recht der Gerechtigkeit gegenüber offen zu halten, ist aber nicht veraltet. Die Bürgerinnen und Bürger, ganz allgemein die Rechtsadressaten, sie mischen, immer wieder überraschend, aus sich heraus den Rechtsnormen die kritische Komponente der Gerechtigkeit bei und insistieren auf der Gerechtigkeitsnähe staatlichen Handelns. Deutlich im Umfeld des Leistungsstaates, so auch des Sozialstaates. Dieser bietet Leistungen an und verteilt diese – unter Umständen können sogar Rechtsansprüche geltend gemacht werden – nach „objektiven“ Kriterien, gleichsam verobjektiviert „gerecht“. Diese ersetzen aber – erfahrungsgemäß – das kritische Fragen nach der Gerechtigkeit nicht, da die tatbestandsmäßigen und rechtsfolgeseitigen Festschreibungen in Rechtssätzen immer eine arge Verkürzung der Gerechtigkeit darstellen. Anders formuliert: Idee und Postulat der Gerechtigkeit stehen als kritische Mahnung wachend dem Recht zur Seite, im Bewusstsein, dass die Gerechtigkeit nicht durch den Gesetzgeber vereinnahmt, beherrscht, verabsolutiert werden kann. Gesetzliche Kriterien des „gerechten“ Zuteilens stehen möglicherweise näher beim „Zweckmäßigen“ als beim „Gerechten“. Auf alle Fälle dürfen sie das kritische Fragen nach dem Gerechten nicht obsolet werden lassen. Das Beispiel der Planung der Infrastrukturanlagen, dem wir treu bleiben, spricht für sich. Es geht dort um Bedürfnisse, um Projektreife, Durchführbarkeiten, verfügbare finanzielle Mittel, Wirkungen usw. Kaum zu vermeiden, dass von solchen Entscheidungselementen her staatliche Maßnahmen veranlasst und realisiert werden können, die nicht allen Maßstäben genügen und die auch einem Vergleich mit anderen getätigten Investitionen nicht standhalten. Und so kommt es, dass selbst im Infrastrukturbereich resp. in der Infrastrukturpolitik das Fragen nach dem gerechten Verteilen, Dimensionieren und Finanzieren nicht verstummt. Das „Gerechte“/„Ungerechte“ ist als Anspruch und als Beklagen gleichsam stets gegenwärtig. Ein schweizerisches Beispiel: Weil die Schweiz föderativ breit gefächert ist, kommt es immer wieder vor, dass Mittel gießkannenartig in Gebiete fließen, wo zwar Probleme auszumachen sind, die aber vergleichsweise als eher klein eingestuft werden könnten. Dies wird in jenen Kreisen als „ungerecht“ reklamiert, die in Front großer Probleme leer ausgegangen sind. Zu kurz gekommen
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fühlen sich in diesem Sinne vor allem die äußerlich prosperierenden Städte und Agglomerationen. Nun aber: Selbst wenn der Vorwurf des Ungerechten gut begründbar ist, getätigte Investitionen können nicht weggeschafft werden. Nichtigkeit ist nicht denkbar; Anfechtbarkeit hilft realiter kaum weiter. Gebautes hat eben Bestand. Es bleibt der offene Weg, kommende Infrastrukturplanungen gemäß neu zu bedenkender Maßstäbe neu anzugehen, ein schwieriges Unterfangen.41 Ob auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht doch sinnverwandte Problemlagen auszumachen sein könnten, beispielsweise dort, wo erhebliche Mittel in die neuen Bundesländer politisch bedingt fließen mussten, während Problemmeisterungen in den alten zurückblieben? Und in der EU? Sind gemessen an den Folgekosten nicht doch zu viele Infrastrukturvorhaben in einzelnen Ländern lanciert worden? Heikel vorweg die Frage, wie die Komponente der Gerechtigkeit als Verteilgerechtigkeit zu gewichten ist. Konsequenter zu prüfen ist in jedem Fall eines neuen Vorhabens, die Übereinstimmung mit den breit verstandenen Anforderungen der Zweckmäßigkeit, des Gebotenen und auch des Gerechten. Nach geltendem Recht stehen konkret die Zweckmäßigkeitsund die Rechtmäßigkeitsprüfung oben an. Sie müssten gerade bei Investitionsentscheiden im Infrastrukturbereich mit Umsicht vorangehen, doch sind sie von der mitschwingenden Frage nach der Gerechtigkeit nicht befreit.
Unverzichtbarkeit des „Gerechten“, Bedeutungszuwachs für das „Zweckmäßige“ und für das „Gebotene“ Das Fragen nach der Gerechtigkeit ist – durch die Rechtsgeschichte und das aktuelle Rechtsverständnis belegt – mit dem Recht derart intensiv liiert, dass dem „Gerechten“ als Maßstab staatlichen Handelns, das an das Recht gebunden ist, nicht ausgewichen werden kann. Wer auf das Recht zugeht, Recht setzt, erlässt, es anwendet, sich von ihm in seinem Tun tatsächlich leiten lässt, der gar sein Tun anhand des Rechts rechtfertigt, der sieht sich gleichsam wie von selbst mit dem Fragen nach der Gerechtigkeit konfrontiert. Auf alle Fälle muss er sich die Frage, ob sein Handeln als Gesetzgeber und/oder Rechtsanwender, als öffentlicher Investor usw. gerecht sei, gefallen lassen. Dies gilt sogar für alle Bereiche der Verwaltung, selbst in jenem der Leistungsverwaltung im weitesten 41 Planung, auch als Raumplanung, als Lageplanung, hat die staatlichen Maßstäbe vorauseilend, über alles gesehen, zu bedenken. Als kritischer Punkt könnte sich die denkbare Strategie erweisen, die „ungerecht“ realisierten Infrastrukturen sich selbst zu überlassen resp. den Begünstigten anheimzustellen, was sie in die Zukunft für diese vorsehen möchten. Dies käme aber einem Ausweichen gleich. Die Planungskompetenz gilt auch gegenüber bestehenden Anlagen, die in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind.
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Sinn, die, was zu akzeptieren ist, primär auf Produktivität, Effizienz, und vor allem auf Wirkung hin angelegt ist, so auch im Bereich des illustrierten Beispiels der Infrastruktur. Die Frage nach dem Gerechten, nach der Gerechtigkeit, bleibt vorgegeben: unverzichtbar ist sie. Nur muss man sich bewusst sein, dass sich der Staat unserer Tage, mit seinem breit gewordenen Leistungsangebot, vorweg und vor allem intensiv mit dem Sachgerechten und mit dem in Raum und Zeit Wirkungsvollen, also mit dem Zweckmäßigen, auseinandersetzt. Das Bedenken des Gerechten bleibt dabei erfahrungsgemäß – mindestens zunächst – zurück. Ob, wie, wo und wann Straßenbauten, Eisenbahnnetze, Abwasserkanäle, Starkstromleitungen, für welche Kapazitäten mit welchem Finanzaufwand gebaut und betrieben werden, das spielt sich gleichsam konzentriert im Bereich des „Zweckmäßigen“ ab, herwärts des Fragen nach dem Gerechten. Dieses wird also vom Ansatz her verdrängt, da und dort sogar ausgeklammert, mindestens marginalisiert. Es lässt sich aber letztlich nicht übergehen, denn es ist bleibend gegenwärtig. Sobald nämlich Menschen, mehr oder weniger direkt, involviert sind und durch die Leistungsverwaltung begünstigt oder benachteiligt werden, ist die Gerechtigkeitsfrage – leicht fassbar als Verteilgerechtigkeit – spürbar präsent, so im Gesundheitsweisen, bei Fürsorgeleistungen, dem Anbieten von Kinderkrippenplätzen, aber eben auch bei Infrastrukturanlagen aller Abmessungen usw. Selbstredend geht es auch hier immer um das Zweckmäßige, aber dann doch erneut um das Gebotene und das Gerechte. Eingefordert wird in jedem Fall die Abrufbarkeit des gesetzlich vorgesehenen Angebots, nötigenfalls unter Berufung auf die Gerechtigkeit. So akzentuiert im Kontext der Leistungsverwaltung das „Zweckmäßige“ hervortritt, so bedeutsam wird – noch vor dem Gerechten – das „Gebotene“, sei es aus der Verbindlichkeit des Rechts heraus, sei es als Ethik und Ethos des „TunMüssens“. Anders formuliert: Gerade weil das Gerechte erfahrungsgemäß eher verdrängt oder in verobjektivierte Kriterien verstrickt wird, bedarf das „Zweckmäßige“ des kritischen (Korrektur-)Maßstabes des „Gebotenen“, ohne zu verkennen, dass im Rechtsstaat bereits das Gerechte als Partnerin des Rechts bedacht sein muss. So wie in den Finanzmärkten das Eigendynamische und Markttaugliche wie auch die Wirkung des Gewinns forciert werden, so geht es auch im Bereich der Leistungsverwaltung um das zu Bewirkende, um die Leistung – aber eben, hier wie dort, bedarf es der Begleitung durch das Gebotene gemäß dem einfachen Fragesatz: Was ist zu tun, was darf nicht getan werden – was ist geboten? Zurück zum Beispiel der uns begleitenden Infrastruktur. Es bahnen sich zusammenfassend folgende Überlegungen an: a) Infrastrukturen sind, unbestritten, nach Kriterien der Zweckmäßigkeit zu disponieren, insbesondere mit Einschluss der räumlichen Planung. Die Maßstäbe des Zweckmäßigen durchleuchten Absteckungen und Wirkungen
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konkreter Vorhaben, einbezogen den politische Konsens, das Lebensräumliche, das Ökologische, das Wirtschaftliche und das Finanzielle. b) Das Gebotene lenkt die Aufmerksamkeit auf das Verbindliche des Rechts und die ethischen Herausforderungen jenseits des Rechts, konkret zusätzlich auf die Nicht-Begünstigten, auf das gegenüber Dritten Angezeigte, auf das Weiterführende, auf politische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Folgemaßnahmen. c) Jeder Investor, jeder Bauherr/Inhaber einer Infrastrukturanlage muss sich der Frage exponieren, ob die damit verbundenen Investitionen und das angeforderte Leistungsangebot alles in allem – sachlich, räumlich, zeitlich, rechtlich – „gerecht“ eingebracht werden oder eingesetzt worden sind, also nach Kriterien der Gerechtigkeit, beispielsweise „rechtsgleich“. Dass aber bei Infrastrukturen die Rechtsgleichheit nur von abgeschwächter Bedeutung sein kann, das muss wohl akzeptiert werden, zumal das Zweckmäßige dominiert. Willkürlich dürfen Infrastrukturen auf keinen Fall veranlasst, gebaut und betrieben werden. Das Gerechte bleibt Mahnwache. d) Ob das Nachfragen nach dem „Gerechten“ vorauseilend oder nachhinkend das „Zweckmäßige“ zu berühren vermag? Dies erscheint fraglich. Getätigte Investitionen können rechtlich kaum nichtig erklärt, dann ausradiert werden; auch die Anfechtbarkeit hilft letztlich nicht in allen Teilen weiter, vielleicht im Verbund mit Klagen auf Entschädigungen. Bedeutsamer wäre es, Vorhaben auf Recht- und Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, dabei auch das Gebotene und das Gerecht zu bedenken, in dem Sinne, dass ernsthaft gefragt wird, ob lancierte Projekte rechtlich und auch jenseits des geltenden Rechts zu verantworten sind. Planerische, politische und rechtliche Verfahren machen in Kombination Sinn, weil in den planerischen/politischen breit nachgehackt und in den rechtlichen lege arti erwogen werden muss.
Der weite und doch kurze Weg zum Grundsätzlichen Alles wäre so einfach, wenn Rezepte angebracht wären. Sie sind es aber nicht. Im modernen Staat mit seinen vielen sachlichen Weiten und so zahlreichen Spannungsverhältnissen – zum Recht, zur Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, zu den föderativen Gliedern, zur Wirtschaft und den sie mittragenden Unternehmungen, zu den Währungshütern, zum Lebensraum, zu den Sozialwerken, zur Zivilgesellschaft – lassen sich Rezepte von vornherein nicht denken. Es muss tiefer reflektiert werden, auch wenn es immer wieder neu gilt, das Grundsätzliche herauszuschälen. Dieses aber zu finden, ist nicht einfach, da das tradierte Staats- und Verwaltungsverständnis kritisch zu durchleuchten ist,
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genauso wie junge Ideen nicht blindlings übernommen oder abgelehnt werden dürfen. Die resignierende Gefahr, in bekannten Bahnen zu verharren, besteht, aber nicht dann, wenn kritisch bewusst auf das Grundsätzliche zurückgegriffen wird, denn dieses ist Ursprungskraft auch für Neues. Es räumt Hürden des Alltäglichen, des Eingespielten aus dem Weg. Die Dimensionen des Zweckmäßigen, des Gebotenen und des Gerechten sind Kernelemente des Grundsätzlichen. Selbst diese an das staatliche Handeln zu legenden Maßstäbe müssen immer wieder neu bedacht werden – in ihren Relationen zur tatsächlichen Wirklichkeit, je für sich und untereinander. Allein schon der Versuch, das Zweckmäßige mit dem Gebotenen und dem Gerechten zu konfrontieren, zeigt an, wie elementar diese sind, erst recht, wenn sie mit der neuen, gar der werdenden Wirklichkeit zusammengeführt werden. Wie war dies doch, als die ersten Staumauern errichtet worden sind, als Pipelines über das Land gelegt wurden? Und wie war es mit den Atomkraftwerken, den Schnellfahrtstrecken der ICE, den Alpentransversalen, den Windkraftanlagen? Maßstäbe waren gefragt. Wurden sie bedacht? In die Zukunft hinein sind sie jedenfalls gefordert!
Gert Pickel
Gerechtigkeit und Politik in der deutschen Bevölkerung – die Folgen der Wahrnehmung von Gerechtigkeit für die politische Kultur im vereinten Deutschland 1. Gerechtigkeit, wahrgenommene Gerechtigkeit und politische Kultur Seit mittlerweile fast zwei Jahrzehnten scheint in der öffentlichen Diskussion zu Politik immer wieder der Begriff der Politikverdrossenheit auf. Abgesehen von seiner unpräzisen Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes1, verweist er auf eine nicht zu leugnende Tatsache – ein abgesunkenes Vertrauen in Politiker und Parteien. Gleichzeitig wird auf Schwankungen in der Zufriedenheit mit der aktuellen deutschen Demokratie und recht konsistente Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland hinsichtlich verschiedener Indikatoren der politischen Unterstützung2 aufmerksam gemacht.3 So scheinen die ostdeutschen Bürger auch zwanzig Jahre nach dem Umbruch noch eine größere Skepsis gegenüber den Aktivitäten der deutschen Demokratie aufzuweisen als ihre westdeutschen Mitbürger. Genauso konstant findet sich seit fast 20 Jahren die Begründung dieser Differenzen in der unterschiedlichen (politischen) Sozialisation.4 1 Der unscharfe Begriff der Politikverdrossenheit vermischt, wie Arbeiten zeigen konnten, unterschiedliche Dimensionen der Haltungen von Bürgern zu Politik und politischen Objekten. Analytisch sinnvoller ist eine Differenzierung der Bezugsobjekte, z.B. in Politiker- und Parteienverdrossenheit, Demokratieverdrossenheit, Staatsverdrossenheit und Institutionenverdrossenheit. Dazu K. Arzheimer, Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffes, Wiesbaden 2002; J. Maier, Politikverdrossenheit. Dimensionen – Determinanten – Konsequenzen, Opladen 2000; G. Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit. Zwei politische Kulturen im Deutschland nach der Vereinigung?, Opladen 2002. 2 Das Konzept der politischen Unterstützung wird in Kapitel 2 noch ausführlich vorgestellt. 3 D. Easton, A Re-Assessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science 5 (1975), 435–457; D. Pollack, Der Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B13 (1997), 3–14; H.-J. Veen, Innere Einheit – aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B40-41 (1997), 19–28; vgl. dazu auch den Beitrag von H.-J. Veen in diesem Band. 4 D. Fuchs, Wohin geht der Wandel der demokratischen Institutionen in Deutschland? Die Entwicklung der Demokratievorstellungen seit ihrer Vereinigung, in: G. Göhler (Hg.): In-
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Doch sind diese Unterschiede einzig eine Langzeitfolge der divergenten Sozialisation in zwei politisch divergenten Systemen? Dann wären sie ja von überschaubarer Dauer. Diese Annahme, welche auf den Prämissen der klassischen politischen Kulturforschung beruht5 wurde aber in den letzten Jahren kritisch hinterfragt.6 Einerseits wurde dieser These eine rein objektiv-sozioökonomische Begründung der Differenzen entgegengestellt. Aus dieser Position sind es sozialstrukturelle und sozioökonomische Differenzen zwischen beiden „Landesteilen“, die Unterschiede in den politischen Kulturen bedingen.7 Andererseits wird die Relevanz von innerdeutschen Vergleichen der Bundesbürger für Unterschiede in der politischen Kultur betont. So fühlen sich die ostdeutschen Bürger ja insbesondere in der Relation zu den westdeutschen Bürgern ungerecht behandelt. An dieser Stelle kommen die Begriffe Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ins Spiel. Sich im Verhältnis zu einem „signifikanten Anderen“ ungerecht behandelt fühlen wird in den Sozialwissenschaften als „relative Deprivation“ bezeichnet.8 Dabei werden „Gerechtigkeitsurteile als das Ergebnis sozialer Vergleiche verstanden“.9 Ob man objektiv benachteiligt ist, ist für die Einschätzung des Individuums erst einmal zweitrangig: Die Ungerechtigkeitswahrnehmung kann in objektiver Benachteiligung wurzeln, muss dies aber nicht zwingend. Entscheidend ist der normative Maßstab, welcher vom Einzelnen an die wahrgenommenen Zustände angelegt wird. Dieser Maßstab variiert zwischen und innerhalb von Kulturen (z.B. zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Sozialmilieus).
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stitutionenwandel. Wiesbaden 1999, S. 253–284; O. W. Gabriel, Bürger und Demokratie im vereinigten Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift 48/3 (2007), 540–552. G. Almond/S. Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton, 1963; Lipset, Seymour M., Political Man. The Social Bases of Politics, Baltimore 1981. D. Pollack, Wie ist es um die innere Einheit Deutschlands bestellt? In: Aus Politik und Zeitgeschichte B30-31 (2006), 3–7; D. Pollack und G. Pickel, Die ostdeutsche Identität – Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B41-42 (1997), 9–23; H.-J. Veen, Innere Einheit, Anm. 3, 19–28; D. Walz/W. Brunner, Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Oder: Warum sich die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B51 (1997), 13–19. D. Walz/W. Brunner, „It’s the economy, stupid!“ – Revisited. Die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse? – Benachteiligungsgefühle in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl 1998, in: S. Pickel/G. Pickel/D. Walz (Hg.), Politische Einheit – Kultureller Zwiespalt? Die Erklärung politischer und demokratischer Einstellungen in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl 1998. Frankfurt am Main 1998, 113–130. W. G. Runciman, Relative Deprivation and Social Justice: A Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century England, Berkeley 1966. S. Liebig/H. Lengfeld/S. Mau, Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, in: dies. (Hg.), Einleitung: Gesellschaftliche Verteilungsprobleme und der Beitrag der soziologischen Gerechtigkeitsforschung, Frankfurt/Main 2004, 7–28.
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Für die Akzeptanz eines Zustandes als „gerecht“ sind besonders das Verständnis und die Existenz von sozioökonomischer Gleichheit von einer Bedeutung. Zwar streben Bürger in Demokratien auch nach politischer Gerechtigkeit, im Sinne eines möglichst gleichen Zugangs zur Beteiligung an Herrschaft, oder nach Verfahrensgerechtigkeit, als Gleichheit vor dem Gesetz, in modernen kapitalistischen Gesellschaften rückt aber hauptsächlich die Frage nach sozioökonomischer oder sozialer Gerechtigkeit ins Zentrum kontroverser Debatten.10 Entsprechend steht die vergleichende Wahrnehmung der Einlösung von Gleichheit vor dem Gesetz, im politischen Leben, aber ganz besonders hinsichtlich der Verteilung von (knappen) Gütern im Kern der Gerechtigkeitsforschung. In deren aktuellen Debatten wird noch der Gedanke der Teilhabegerechtigkeit hinzugefügt. Nun unterscheiden sich West- und Ostdeutschland sowohl in den vor 1989 politisch vertretenen Gerechtigkeitsideologien als auch in den aktuellen sozialen Rahmenbedingungen stärker als in vielen anderen Lebensfeldern. In den letzten Jahren hat sich speziell die empirische Gerechtigkeitsforschung mit diesen Phänomenen auseinandergesetzt und recht beständige West-Ost-Differenzen ausgemacht.11 Damit wird die Einschätzung dessen, was man an Ungleichheit zu akzeptieren bereit ist sowie welches Wertverständnis heute noch hinter diesen Einstellungen steht, zu einer zentralen Komponente der Bestimmung des Verhältnisses zwischen West- und Ostdeutschen – ohne allerdings prinzipiell auf diese beiden Gruppen beschränkt zu bleiben.12 Die zwischen West- und Ostdeutschland unterschiedliche subjektive Wahrnehmung von dem was gerecht „ist“ und „sein sollte“ könnte somit zu den angesprochenen Differenzen in der politischen Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland beitragen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wir im vereinigten Deutschland auch zwanzig Jahre nach dem Umbruch tatsächlich noch maßgebliche Unterschiede im Verständnis und in der Einschätzung von Gerechtigkeit feststellen können, und ob diese – sollten sie bestehen – für Differenzen in den politischen Einstellungen und der politischen Kultur bedeutsam sind. Die Ausgangshypothese des vorliegenden Aufsatzes 10 E. Holzleithner, Gerechtigkeit, Wien 2009; D. Miller, Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2008 (engl. Original 1976). 11 B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsideologien 1991–1996, in: H. Meulemann (Hg.), Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung. Opladen 1998, 25–60; zuletzt B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsvorstellungen in Ost- und Westdeutschland im Wandel: Sozialisation, Interessen, Lebenslauf, in: P. Krause/I. Ostner (Hg.): Leben in Ost- und Westdeutschland. Frankfurt am Main 2010, 83–102. 12 Auch das Verhältnis zwischen „Eingesessenen“ und Migranten oder zwischen Angehörigen unterschiedlicher Nationen unterliegt Vergleichsbewertungen. Doch dies soll nicht das Thema des vorliegenden Aufsatzes sein, würde es doch den gesetzten Rahmen bei weitem sprengen.
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ist, dass in den neuen Bundesländern der Bundesrepublik ein anderes Gerechtigkeitsverständnis als in den alten Bundesländern vorherrscht, die persönlichen Gerechtigkeitseinschätzungen ungünstiger ausfallen und diese Unterschiede in Ostdeutschland zu einer geringeren Zufriedenheit mit dem aktuellen demokratischen System der Bundesrepublik führen.
2. Was ist Gerechtigkeit? – Was ist politische Kultur? 2.1 Gleichheit und Gerechtigkeit – Verständnis und Folgerungen Für das Verständnis von Gerechtigkeit ist eine ganze Reihe von philosophischen und politikwissenschaftlichen Zugängen möglich. Sie alle zielen auf eine spezifische Idealform des gemeinsamen Zusammenlebens in Gesellschaften. Da eine Behandlung der existierenden Vielfalt dieser Ansätze den vorliegenden Beitrag bei weitem überlasten würde, erfolgt eine selektive Auswahl mit dem Ziel einer späteren empirischen Erfassung von Gerechtigkeitseinstellungen. Auf einer ersten Ebene bestehen unterschiedliche Zielbereiche von Gerechtigkeit. Das Kriterium Gerechtigkeit wird am Arbeitsplatz, in der Politik, in den Geschlechterverhältnissen, vor Gericht und insbesondere hinsichtlich der materiellen Lebensbedingungen zur Anwendung gebracht. So möchte man in seinem Leben als Mitglied einer Gesellschaft gerecht behandelt werden. Dies beinhaltet in Demokratien vornehmlich Teilhaberechte, wie sie zum Beispiel im Rahmen von Debatten über „neue Gerechtigkeitsbegriffe“ verstärkt thematisiert werden.13 Gerechtigkeit impliziert aber auch eine gerechte Behandlung des Einzelnen vor dem Gesetz genauso wie die Toleranz für die politischen und normativen Positionen, die er vertritt. Dabei verschmelzen gelegentlich Prämissen der Freiheit (als freier Zugang aller Mitglieder einer Gesellschaftsform) und der Gleichheit. So fordern Bürger in Demokratien in der Regel einen freien und gleichen Zugang zu politischer Partizipation oder zu juristischen Verfahren.14 Als ungerecht wird die Einschränkung der Mitwirkungsmöglichkeiten empfunden. Zumeist wird aber, wenn der Begriff Gerechtigkeit in öffentlichen Debatten aufkommt, an soziale Gerechtigkeit gedacht. Entsprechend haben sich die meisten Gerechtigkeitsdebatten auf dieses Feld verlagert. Dies ist als Reflex auf die starke sozioökonomische Prägung moderner Gesellschaften, gleichzeitig aber auch 13 F. Nullmeier, Soziale Gerechtigkeit – Ein politischer „Kampfbegriff“? In: Aus Politik und Zeitgeschichte B47 (2009), 11. 14 Genau solche Aspekte beinhalten übrigens auch die zentralen Indikatoren der internationalen Messung von Demokratie, wie sie zum Beispiel die amerikanische Organisation „Freedom House“ durchführt.
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als Resultat aus den zwingenden materiellen Notwendigkeiten des Lebens für die Menschen zu sehen. Stärker noch als bei den politischen Rechten, ist das verwendete Verständnis von sozialer Gerechtigkeit kulturabhängig. Was als gerecht angesehen wird, hängt davon ab, welche Form und welches Maß der Verteilung von Ressourcen und Gütern – denn darum dreht sich die Diskussion bei der sozialen Gerechtigkeit – in einer Gesellschaft legitim ist. Damit wird bereits deutlich, dass Gerechtigkeit etwas ist, was Individuen in Verhältnissen begreifen. Zum einen wird das dem Individuum Zugestandene im Verhältnis zu einem allgemein vorherrschenden Verständnis von Gerechtigkeit – eine verbreitete Gerechtigkeitsideologie – beurteilt. Doch „während Gerechtigkeitsideologien soziale Ordnungsvorstellungen ausdrücken“15, beziehen sich konkrete Gerechtigkeitsurteile der Bürger auf die Bemessung der eigenen Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen. Diese Bewertung erfolgt immer mit Bezug auf die kulturell vorherrschende Gerechtigkeitsideologie. Eine weitere wichtige Relationsgröße stellen andere Menschen und Sozialgruppen dar. Zumeist wird auf Personen und Sozialgruppen im Umfeld eines Individuums Bezug genommen. Die eigene soziale Position und der eigene soziale Status werden im Vergleich mit diesen Positionen beurteilt. Dies kann ganz nach den vorherrschenden Rahmenbedingungen zu Abweichungen von den objektiven Ressourcen des Einzelnen führen. Besitzt man zum Beispiel ein Mittelklasseauto, so kann dies einen sehr zufriedenstellen, wenn alle Nachbarn und auch die Verwandten nur Kleinwagen besitzen. Verfügt aber genau dieselbe Vergleichsgruppe über Wagen der Luxusklasse, dann dürfte die Wahrscheinlichkeit hoch sein, dass man mit seinem Wagen (der objektiv der gleiche ist) nicht mehr zufrieden ist – und sich benachteiligt sieht. Somit wird deutlich, dass es sich bei der Beschäftigung mit sozialer Gerechtigkeit um eine Betrachtung subjektiver Urteile handelt. Nicht ein imaginärer objektiver Zustand, sondern ein seitens der Individuen vorgenommenes Urteil bestimmt, was in einer Gesellschaft gefordert wird – und was nicht. Die Bestimmung und Analyse dieser subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen und Gerechtigkeitsbeurteilungen ist das Geschäft der empirischen Gerechtigkeitsforschung. Sie setzt sich mit den Urteilen und Erwartungen der Bürger an die „gesellschaftliche Verteilung von Gütern und Lasten“ auseinander.16 Empirische Gerechtigkeitsforschung ist also in ihrem Kern Einstellungsforschung. Es wurde bereits auf die normative Komponente der sozialen Gerechtigkeit verwiesen. Ob man sich gerecht oder ungerecht behandelt fühlt, hängt mit der vorherrschenden Gerechtigkeitsideologie bzw. den dominant anerkannten (oder 15 B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsideologien, Anm. 11, 28. 16 S. Liebig/M. May, Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B47 (2009), 3–4.
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legitimen) Prinzipien zusammen. Welche gibt es nun? Liebig und May17 fassen vier Prinzipien zusammen. Zum einen gibt es das Anrechtsprinzip, welches Individuen Anrechte als Resultat der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund erworbener sozialer Positionen zugesteht. Dem stehen das Bedarf- oder Bedürfnisprinzip, welches sich an der Deckung von notwendigen Grundbedürfnissen der Individuen orientiert und das Leistungsprinzip, welches die Belohnung individueller Leistungen als gerecht ansieht (und damit Abweichungen von einer gleichen Verteilung der Güter rechtfertigt), zur Seite. Gerade letzteres gerät gelegentlich in Konflikt mit dem auf gleiche Rechte und Verfügbarkeiten von Gütern ausgerichteten Gleichheitsprinzip (Abb. 1). Die reine Form des Gleichheitsprinzips diente sozialistischen Gesellschaften als Leitideal. Hier dient die faktische Gleichheit des Kollektivs als Maßstab.18 In den USA dominiert demgegenüber eine starke Ausprägung des Leistungsprinzips.19 Überhaupt hat das Leistungsprinzip in westlichen liberalen Demokratien marktwirtschaftlicher Prägung eine dominierende Position. Es stellt das Individuum in den Vordergrund und koppelt Ungleichheit an dessen Fähigkeiten und Einsatz. Spricht man in der Bundesrepublik von sozialer Gerechtigkeit, dann findet man eine komplizierte Verknüpfung von Gleichheits- und Leistungsprinzip.20 Im Allgemeinen wird von Vertretern des Leistungsprinzips der Fokus auf die Chancengleichheit gelenkt, von der aus man individuell zu verantworten hat, was man im Leben erreicht. Bezogen auf soziale Gerechtigkeit hängt das Urteil, welches das Individuum nun vornimmt, davon ab, ob man Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit versteht und (a) als einen Anfangszustand ansieht, von 17 Dies., 5. 18 Dabei muss man von den real beobachtbaren Umsetzungen des Sozialismus absehen. Auch dort wurde das dem Sozialismus eigentlich zugrundeliegende Prinzip einer Gleichheit im Endzustand nicht eingehalten. 19 Besonders gut lassen sich die dominierenden Gerechtigkeitsprinzipien an den jeweils vorherrschen Typ des Wohlfahrtsstaates ausmachen. Der liberale Wohlfahrtsstaat setzt auf das Leistungsprinzip, der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat auf das Gleichheitsprinzip und der konservative Wohlfahrtsstaat auf das Anerkennungsprinzip. Siehe dazu E. Roller, Marktwirtschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Gerechtigkeitsprinzipien in Deutschland und den USA, in: J. Gerhards (Hg.), Die Vermessung kultureller Unterschiede, Wiesbaden 2000, 90–91; E. Roller, Einstellungen zur Demokratie im vereinigten Deutschland, in: P. Krause/I. Ostner (Hg.), Leben in Ost- und Westdeutschland, Frankfurt am Main 2010, 597–614. 20 Und eigentlich noch darüber hinaus. So wird gelegentlich von einem „magischen Viereck“ der Gerechtigkeit gesprochen, welches Elemente der Chancen-, Bedarfs-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit beinhaltet. Dazu könnte man noch Anrechtsprinzipien hinzuzählen. Entsprechend bildet eine „Vielfalt von Gerechtigkeitszielen […] die normative Grundlage des deutschen Sozialstaates“. Siehe hierzu W. Glatzer, Gefühlte Ungerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B47 (2009), 16.
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dem aus sich die Individuen auf eigene Verantwortung fortentwickeln können, oder (b) als einen Endzustand der Gesellschaft, in dem alle unabhängig von ihren Fähigkeiten dasselbe besitzen. Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich im ersten Fall um eine liberale oder gar libertäre Philosophie, im zweiten Fall um eine radikalsozialistische handelt. Abbildung 1: Gerechtigkeitsprinzipien im Überblick Prinzip
Forderung
Gleichheit
Gleiche Rechte, gleiche Teilhabechancen oder den gleichen Egalitarismus Anteil an Gütern und Lasten Belohnung individueller Anstrengungen und Leistungen Individualismus mit Nebeneffekt einer dadurch legitimierten ungleiche Güterverteilung Zugeschriebene oder über die Zeit erworbene Anrechte von Askriptivismus Personen und sozialen Gruppen Schaffung einer zur Deckung der Grundbedürfnisse notwendigen Mindestversorgung
Leistung Anrecht Bedarf
Orientierungen
Quelle: Grundlage S. Liebig und M. May, Dimensionen (Anm. 16), 5; Ergänzungen nach Wegener und Liebig, Gerechtigkeitsideologien (Anm. 11), 33–36, 55; dem Bedarfsprinzip wurde keine entsprechende Orientierung zugewiesen; ergänzend besteht noch die Orientierung des Fatalismus.
Empirisch zu bestimmende Gerechtigkeitseinstellungen ergeben sich als Produkt des normativ abgeleiteten Gleichheitsverständnisses (Gerechtigkeitsideologie) und des faktischen Bestehens von Gleichheit (ergebnisbezogene Gerechtigkeit nach Wegener und Liebig21) oder der Bemessung des Erfahrenen an dem normativen Ideal. Dabei können Komponenten des Leistungs- und des Gleichheitsprinzips variieren.22 Doch so einfach ist dies nicht. Auch in liberalen Demokratien existieren kulturell unterschiedliche Schwellenwerte der Akzeptanz von Ungerechtigkeit oder Ungleichheit in der Bevölkerung. Diese Unklarheit der individuell auch noch unterschiedlichen Schwellenwerte erschwert es oft auszumachen, wie viel Ungleichheit noch als gerecht empfunden wird.
21 B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsideologien, Anm. 11, 28. 22 Die empirische Gerechtigkeitsforschung verzichtet an dieser Stelle bewusst auf einen „Maßstab, mit dem sie den faktischen Verhältnissen ein moralisches Ideal gegenüberstellt“ und versucht in der „Gesellschaft vorfindbare Gerechtigkeitsperspektiven“ zu bestimmen und zu beschreiben. Entsprechend wird auf einen inhaltlich näher bestimmten Begriff verzichtet. Siehe hierzu erneut S. Liebig/H. Lengfeld/S. Mau, Verteilungsprobleme, Anm. 9, 15.
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2.2 Gerechtigkeitsvorstellungen und die politische Kultur in Deutschland Für die zweite gestellte Hypothese – die Auswirkung der Gerechtigkeitseinschätzung auf die politische Kultur – ist es hilfreich, sich die möglichen Beziehungen zwischen beiden Bereichen zu vergegenwärtigen. Ausgangspunkt sind die Überlegungen der politischen Kulturforschung. Dabei wird politische Kultur entsprechend dem Konzept der politischen Unterstützung nach David Easton verstanden. Es differenziert zwischen drei politischen Objekten (politische Gemeinschaft, politisches Regime, politische Autoritäten) und zwei Unterstützungsarten (spezifisch und diffus). Für den Systemerhalt von der größten Relevanz ist die politische Unterstützung des Regimes – und dort besonders der Legitimität. Legitimität wird als eine eher diffuse Form der politischen Unterstützung des Systems seitens der Gesellschaftsmitglieder verstanden. Sie ist unspezifisch über längere Zeit entstanden und unterscheidet sich von dem sie flankierenden Vertrauen. Letzteres resultiert aus der Wiederholung konkreter positiver Erfahrungen mit dem politischen Regime. Vertrauen und Legitimität zusammen erhalten das politische Regime am Leben (Abb. 2).23 Abbildung 2: Politische Unterstützung nach David Easton Unterstützungsobjekte Politisches Politische Regime Autoritäten RegimeAutoritätenDiffus Identifikation Legitimität Legitimität mit der politischen RegimeAutoritätenGemeinschaft Vertrauen Vertrauen Zufriedenheit mit den Spezifisch alltäglichen Outputs Politische Gemeinschaft
Quelle der Unterstützung
Quelle: Fuchs 1989, 18.
Die angesprochenen positiven Erfahrungen mit dem System ergeben sich durch einen Abgleich der bestehenden Struktur des politischen Systems mit den eigenen Überzeugungen (politische Kultur). Easton stellt hier eine enge Verbindung her zwischen der politischen Unterstützung (political support) und den Forderungen (demands) der Bürger. Nur wenn ihre Forderungen zumindest 23 Der Begriff der Legitimität wird auch von Seymour M. Lipset verwendet. Ihm liegt es aber weniger an einer Differenzierung der politischen Bezugsobjekte der Einstellungen (wie David Easton) als an einer Ergründung des Zusammenhangsmechanismus zwischen der Einschätzung politischer bzw. wirtschaftlicher Effektivität und Legitimität.
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halbwegs realisiert werden, oder zumindest deren Nicht- oder Teilrealisierung überzeugend begründet wird, sind die Bürger bereit, das politische Regime zu unterstützen. Für die Unterstützung seitens der Bürger ist somit die Responsivität der Herrschenden hinsichtlich der an sie gestellten Forderungen von Bedeutung. Werden die Diskrepanzen zwischen den Leistungen des politischen Regimes und den seitens der Bürger gestellten Forderungen aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit zu hoch, dann erfolgt ein Entzug der politischen Unterstützung. Was ist der Nutzen dieses Konzepts hinsichtlich der aufgezeigten Fragestellung? Dies wird erkennbar, wenn man verschiedene Erklärungsangebote für Unterschiede in der Beurteilung der aktuellen Demokratie differenziert.24 Die Unterstützer der Sozialisationshypothese25 führen die Einstellungsunterschiede maßgeblich auf das Weiterwirken der in der Sozialisation in der DDR erworbenen sozialistischen Wertorientierungen zurück. Dem liegt die Kernannahme der klassischen politischen Kulturforschung zugrunde, dass politische Wertorientierungen in der Jugend vermittelt (Sozialisation) und internalisiert werden und sich im späteren Lebenslauf nur noch wenig ändern. Konform zur These der Langlebigkeit politischer Kultur wird davon ausgegangen, dass Wertereminiszenzen der ehemaligen DDR mit wachsenden Sozialisationserfahrungen neuer Geburtskohorten im demokratischen System der Bundesrepublik an Bedeutung verlieren.26 24 Der Bezug auf die verschiedenen Ansätze der Erklärung für Unterschiede in den Haltungen der Bürger zur Demokratie ist dabei für eine differenzierte Analyse angebracht. Da ist es manchmal überraschend, dass bei aktuellen Veröffentlichungen zur Demokratiezufriedenheit ohne Kenntnisnahme dieser Erklärungsangebote eher ad-hoc-Erklärungen und sehr einfache Deutungsangebote vorgelegt werden (zum Beispiel http://www.demokratiedeutschland-2011.de/common/pdf/Einstellungen_zur_Demokratie.pdf ). 25 D. Fuchs, Das Konzept der politischen Kultur: Die Fortsetzung einer Kontroverse in konstruktiver Absicht, in: D. Fuchs/E. Roller/B. Wessels (Hg.), Bürger und Demokratie in Ost und West. Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess, Wiesbaden 2002, 27–49; D. Fuchs/E. Roller/B. Wessels, Die Akzeptanz der Demokratie des vereinten Deutschlands. Oder: Wann ist ein Unterschied ein Unterschied? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (1997), 3–12; O. W. Gabriel, Demokratische Einstellungen in einem Land ohne demokratische Traditionen. Die Unterstützung der Demokratie in den neuen Bundesländern im Ost-West-Vergleich, in: J. Falter/O. W. Gabriel/H. Rattinger (Hg.), Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich. Opladen 2000, 41–78. K. Völkl, Fest verankert oder ohne Halt? Die Unterstützung der Demokratie im vereinigten Deutschland, in: O. W. Gabriel/ J. Falter/H. Rattinger (Hg.), Wächst zusammen was zusammengehört? Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland, Baden-Baden 2005, 249–284. 26 Diesen Überlegungen widersprechende Befunde einer Ost-West-Diskrepanz in den nach dem Umbruch sozialisierten Alterskohorten werden mit dem Hinweis auf eine nach wie vor existierende (sozialistische) Sekundärsozialisation im Elternhaus beantwortet.
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Befürworter der Situationshypothese, wie Walz und Brunner,27 betonten dagegen die höhere Relevanz von (objektiven) situativen und sozialstrukturellen Unterschieden für die aktuelle Haltung zur Demokratie. Insbesondere die OstWest-Differenzen in den materiellen Lebensbedingungen (z.B. Einkommen, materielle Bedürfnisbefriedigung, Wohneigentum) drücken sich in einer geringeren politischen Unterstützung in den neuen Bundesländern aus. Nicht von früher transportierte Ideologien, sondern aktuelle Erfahrungen bestimmen die Haltungen zum demokratischen System. Entsprechend sind Angleichungsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschland nur bei einer Angleichung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen zu erwarten. Verschiedene Befunde deuten nun darauf hin, dass sich in Ostdeutschland eine Art „Abgrenzungsidentität“ oder ostdeutsche Sonderidentität ausgebildet hat.28 Damit hätten wir eine dritte Erklärungsmöglichkeit. Die in Ostdeutschland kritischeren Positionen zum demokratischen System entwickeln sich aus einer Abgrenzung gegenüber den westdeutschen Mitbürgern und deren politischer Kultur. Hierfür verantwortlich ist eine Synthese aus negativen persönlichen Erfahrungen mit den Westdeutschen und einem „Bedürfnis nach sozialer Anerkennung“.29 Bei den ehemaligen DDR-Bürgern entstand das Gefühl, dass ihre Vergangenheit nahezu vollständig entwertet wurde und als Bezugspunkt für eine eigene, selbstbewusste Identität nicht mehr tauge. Das daraus resultierende Identitätsproblem führt einerseits zu einer rückblickend positiveren Bewertung von Elementen der DDR30, andererseits zu einer Identitätsabgrenzung31 gegenüber den Westdeutschen (Wir- vs. Fremdgruppe). In Westdeutschland bestehende Abgrenzungshaltungen bestärken die Ostbürger in ihrer Distanz. Eine kritische Haltung zur aktuellen (als westdeutsch angesehenen) Demokratie ist die Folge.
27 D. Walz/W. Brunner, Das Sein, Anm. 6; D. Walz/W. Brunner, It´s the Economy, Anm. 7. 28 A. Thumfart, Bilanz der Einigungsbilanzen – Forschung- und Meinungskonjunkturen der letzten 15 Jahre, in: Politische Vierteljahresschrift 48 (2007), 564–584; Sozialreport 2010: Daten und Fakten zu der sozialen Lage 20 Jahre nach der Vereinigung – 1990–2010 – Positionen der Bürgerinnen und Bürger, Berlin 2010. 29 D. Pollack, Der Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B13 (1997), 3–14. 30 K. Neller, DDR-Nostalgie. Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen, Wiesbaden 2006. 31 K. Mühler, Identifikation versus Distanz. In: M. Glaab/ W. Weidenfeld/M. Weigl (Hg.), Deutsche Kontraste 1990–2010. Politik-Wirtschaft-Gesellschaft-Kultur, Frankfurt am Main 2010, 619–652.
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Abbildung 3: Potentielle Erklärungen von Ost-West-Differenzen in der politischen Kultur SituationsHypothese
Relative Deprivation
IdentitätsHypothese
SozialisationsHypothese
Sozialstrukturelle und situative Ost-WestUnterschiede führen zu Differenzen in den Einstellungen zur aktuellen Demokratie.
West-Ost-Vergleich erzeugt bei ostdeutschen Bürgern aufgrund einer Kombination objektiver sozialer Ungleichheit, negativer subjektiver Wahrnehmungen und stärkerer Verbreitung von Egalitarismus in Ostdeutschland ein Gefühl relativer Benachteiligung.
Erfahrungen aus dem Transformationsprozess münden in ein Gefühl mangelnder Anerkennung der Ostdeutschen durch die Westbürger und in der Herausbildung einer im Gegensatz zur westdeutschen stehenden ostdeutschen Identität.
Wertorientierungen, die in der Periode der DDR gewonnen wurden (und DDR-Nostalgie) bedingen aufgrund der Annahme einer Persistenz von in der Sozialisation erworbenen Werten Differenzen in den politischen Einstellungen zwischen West und Ost.
Folge: Abhängigkeit der Einstellungen allein von der Entwicklung der sozioökonomischen Ungleichheiten.
Folge: Nur langsame Reduktion der Ost-West-Differenzen durch situative Angleichung, langlebige Restdifferenzen.
Folge: Persistenz eines Unterlegenheitsgefühls der Ostdeutschen stützt Einstellungsunterschiede im politischen Sektor.
Folge: Abbau bestehender Differenzen erfolgt über den Generationenwandel, kontinuierlicher Abbau.
Quelle: Eigene Zusammenstellung.32
Spielt der Gerechtigkeitsgedanke bereits bei der Identitätshypothese hinein, ist er am stärksten im letzten potentiellen Erklärungsansatz beheimatet – die Hypothese eines Effektes des Gefühls relativer Deprivation in Ostdeutschland. Dieses Gefühl entsteht aus einer ungünstigeren Beurteilung der eigenen sozioökonomischen Situation im Vergleich zur Lage der westdeutschen Mitbürger. Der entscheidende Unterschied zur Situationshypothese ist, dass die Einschätzungen von den objektiven Gegebenheiten abweichen können.33 Eine Mischung 32 Eine Vorversion dieser Aufstellung findet sich bei G. Pickel, Eine ostdeutsche Sondermentalität acht Jahre nach der Vereinigung? Fazit einer Diskussion um Sozialisation und Situation, in: S. Pickel/G. Pickel/D. Walz (Hg.), Politische Einheit – Kultureller Zwiespalt? Die Erklärung politischer und demokratischer Einstellungen in Ostdeutschland vor der Bundestagswahl 1998, Frankfurt am Main 1998, 157–178. 33 T. Faas, Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten. Direkte und indirekte Wirkungen auf Wahlbeteiligung und Parteipräferenzen in Ost- und Westdeutschland. Nomos, 2010; D. Pollack/G. Pickel, Pessimismus – ein ostdeutsches Phänomen? Politische Einstellungen in
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aus situativen Bewertungen, psychologischen Haltungen und einer bestehenden (ggf. abweichenden) Gerechtigkeitsideologie erzeugt eine eigenständige Einstellung, wobei speziell die Nichterfüllung von Erwartungen eine gewichtige Rolle für deren Ausprägung spielt. Diese trifft auf grundsätzliche Werthaltungen, vor allem ein in Ostdeutschland ausgeprägtes Ideal der Egalität, die als Verstärker wirken. Das aus dieser Gemengelage entstehende Gefühl, strukturell benachteiligt oder im Vergleich zu den Westdeutschen nicht gerecht behandelt zu werden, setzt sich in den Köpfen der ostdeutschen Bürger fest und bedingt skeptischere Haltungen gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik. Entsprechend seiner partiellen Lösung von den objektiven Gegebenheiten, kann sich das persönliche Ungerechtigkeitsempfinden über die Zeit situativer Diskrepanzen hinaus halten – und damit zu einer bleibenden West-Ost-Differenz beitragen. Inwieweit dies nun wirklich der Fall ist, wird sich in den folgenden empirischen Ergebnissen zeigen.
3. Gerechtigkeitsempfinden im innerdeutschen Vergleich (und darüber hinaus) 3.1 Empfindung gerechter Behandlung – Bestehen von Rechtsstaatlichkeit Bevor man sich den Gründen für die Urteile über Gerechtigkeit und Demokratie zuwendet, ist es zuerst sinnvoll, sich einen generellen Eindruck über die Gerechtigkeitseinstellungen in der Bundesrepublik zu verschaffen. Wie bereits angesprochen, steht in der Regel die soziale Gerechtigkeit im Fokus der öffentlichen Debatten. Nichtsdestoweniger ist es interessant zu schauen, inwieweit sich die Bürger auch auf dem politischen Sektor gerecht behandelt fühlen. Hierzu werden in Meinungsumfragen seltener tragfähige Fragen gestellt als zur sozialen Gerechtigkeit, sieht man doch hier ein geringeres Unzufriedenheitspotential in demokratischen Rechtsstaaten. Die wenigen verfügbaren Ergebnisse zeichnen auch wirklich ein recht positives Bild. In West- wie in Ostdeutschland werden Freiheiten und Rechte in Deutschland als weitgehend gewährleistet angesehen. Nur geringe Minderheiten empfinden ihre Freiheitsrechte eingeschränkt. Diese Aussagen geben einen Hinweis auf die relativ günstige Wahrnehmung politischgesellschaftlicher Gerechtigkeit. Daraus ist nicht zu schlussfolgern, dass sich jeder Einzelne gegenüber anderen sozialen Gruppen als gleich und gerecht behandelt Ostdeutschland im ostmittel- und osteuropäischen Vergleich. In: G. Pickel u.a. (Hg.), Osteuropas Bevölkerung auf dem Weg in die Demokratie, Wiesbaden 2006, 137–154.
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ansieht. Vielmehr wird in der Bevölkerung immer wieder auf die eigenen Benachteiligungen gegenüber Personen mit besseren sozialen Beziehungen und finanziellen Möglichkeiten hingewiesen. Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung an politischen Verfahren und ein gewisses Misstrauen gegenüber seinen Repräsentanten (im Schnitt von 80 Prozent zu Politikern oder Parteien) belegen zudem ein gewisses Unbehagen an den politischen Repräsentanten im Allgemeinen. Ihnen wird nur selten zugetraut, dass sie das Gemeinwohl mit gerechten Teilhaberechten für alle Bürger in adäquater Weise gewährleisten. Abgesehen von diesem Grundmisstrauen gegenüber der „politischen Klasse“ sind die Deutschen aber mit dem „politischen Gerechtigkeitsangebot“ ihres politischen Systems überwiegend zufrieden.34 Eine solche Zustimmung ist auch notwendig. So stufen 90 Prozent und mehr der West- und der Ostdeutschen die in Abbildung 4 dargestellte Gewährleistung dieser Freiheitsrechte auch als sehr wichtig ein. Abbildung 4: Empfundene Gewährleistung von Bürgerrechten und Reaktionen
Quelle: Eigene Berechnungen Political Culture in New Democracies (PCND) 2000/2002; „Auf dieser Liste sind einige Bürgerrechte und politische Rechte aufgeführt. Sagen Sie mir bitte anhand der Skala, in welchem Maß Sie denken, dass diese in ihrem Land gewährleistet sind“: Redefreiheit = Meinungs- und Redefreiheit, Freie Medien = Freie und unabhängige Medien, Parteigründungsrecht = Recht auf Gründung einer politischen 34 So sind auch die Urteile in Ostdeutschland im Vergleich zu anderen Transformationsländern die besten in der Vergleichsgruppe; siehe G. Pickel u.a., Osteuropas Bevölkerung auf dem Weg in die Demokratie. Repräsentative Untersuchungen in Ostdeutschland und zehn osteuropäischen Transformationsstaaten. Reihe: Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas, Band 1, Wiesbaden 2006, 87–89.
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Partei, Freie Wahlen = Freie, gleiche und faire Wahlen, Minderheitenrechte = Minderheitenrechte sind garantiert (Zustimmende Werte 1–3 auf einer 7-Punkte-Skala; Angenommen Sie hätten den Eindruck, vom Staat ungerecht behandelt zu werden, welche der folgenden Maßnahmen würden Sie ergreifen?“: Gericht = Ich würde vor Gericht gehen und Einspruch erheben, Präsident = Ich wende mich schriftlich an den Präsidenten oder den Regierungschef, Medien = Ich informiere die Medien von dieser Ungerechtigkeit, Verwaltung = Ich gehe zur zuständigen Verwaltung und bestehe darauf, dass ich mein Recht bekomme, Persönlichkeit = Ich wende mich an eine einflussreiche Persönlichkeit (Zustimmende Werte auf einer 4-Punkte-Skala).
Auch die Reaktion im Falle ungerechter Behandlung zeigt ein – entgegen manchen Medienberichten – relativ tief sitzendes Vertrauen in die „prinzipielle Gerechtigkeit“ des demokratischen Rechtsstaates. Drei Fünftel würden in einem Unrechtsfall das Gericht anrufen und drei Viertel erst einmal die zuständige Verwaltung zur Lösung des Problems kontaktieren. Die dezidiert nichtdemokratische Alternative der Kontaktaufnahme zu einer einflussreichen Persönlichkeit mit der Bitte um Einflussnahme, besitzt nur eine untergeordnete Bedeutung (die Nennung dieser Kategorie ist zum Vergleich in den meisten Staaten Osteuropas ca. doppelt so hoch). Rechnet man ein, dass ein Teil der Befragten so oder so in einem entsprechenden Fall von Benachteiligung und Ungerechtigkeit nichts unternehmen würde, dann scheinen die Deutschen – und hier unterschieden sich West- und Ostdeutsche nicht voneinander – auf der politisch-juristischen Ebene der Verfahrensgerechtigkeit kein grundsätzliches Gerechtigkeitsproblem zu sehen. Dies sieht auf der Ebene der sozialen Gerechtigkeit anders aus.
3.2 Empfindung sozial gerechter Behandlung – persönliches Gerechtigkeitsempfinden Als besonders aussagekräftig für die Erfassung sozialer Gerechtigkeit hat sich eine einfache Frage herauskristallisiert: Sie ermittelt, inwieweit man denkt, den einem zustehenden gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten. Als Alternativkategorien stehen dem Befragten der gerechte Anteil, ein zu hoher Anteil (sehr selten gewählt) und ein zu niedriger Anteil am Lebensstandard zur Verfügung. Glatzer klassifiziert diesen Zugang als „persönliche Verteilungsgerechtigkeit“.35 Interessant an dieser Frage sind die klare subjektive Positionsbestimmung sowie der Einbezug einer relationalen Sichtweise.
35 W. Glatzer, Gefühlte Ungerechtigkeit, Anm. 20, 16.
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Abbildung 5: Gerechter Anteil am Lebensstandard Bevölkerung gesamt
West 68 60
Ost
1980 1982 1991
66
18
1996 2000 2002 2004 2006 2008 2010
60 59 60 55 59 54 55
37 33 35 29 35 30 31
Westdeutschland nach Alter
Ostdeutschland nach Alter
18–29 30–45 46–60 61+ 18–29 30–45 46–60 61+ 65 66 69 70 56 61 59 64 57 66 71 66 21 17 11 21 58 57 61 63 40 32 28 45 52 57 61 64 33 32 28 43 62 57 59 64 45 34 31 38 50 54 55 57 37 26 26 29 59 58 57 62 48 32 32 33 51 54 52 59 35 31 24 32 54 54 50 61 38 30 27 32
Quelle: Eigene Zusammenstellung; Allbus 1991–2010; Frage = „Im Vergleich dazu, wie andere hier in Deutschland leben, glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteil erhalten, mehr als Ihren gerechten Anteil, etwas weniger oder sehr viel weniger?; Werte = „Erhalte den gerechten Anteil am Lebensstandard“; Werte in Prozent der Befragten (im Durchschnitt n>1500).
Wie sich zeigt, fällt die Einschätzung zwischen West- und Ostdeutschland hochgradig unterschiedlich aus. Betrachtet man einmal den Wert von 1991 mit nur 18 Prozent als zeithistorischen Sonderfall, so empfinden seit 1996 gerade einmal ein Drittel der Befragten in Ostdeutschland, dass sie den ihnen gerechterweise zustehenden Anteil am Lebensstandard erhalten (Abb. 5). Knapp zwei Drittel empfinden sich demgegenüber als relational unterprivilegiert. Und dieses Urteil ist von erstaunlich hoher zeitlicher Konstanz und unterlag bislang nur kleineren Schwankungen. Die Rate der sich gerecht behandelt Fühlenden in Westdeutschland liegt dagegen seit fast zwei Jahrzehnten um 25 Prozentpunkte über den Raten der Ostdeutschen. Die konsistenten West-Ost-Unterschiede sind Begleiterscheinung der in beiden Gebieten beeindruckend gleichförmigen konjunkturellen Schwankungen.36 Seit 2008, möglicherweise als Folge der Finanzkrise, zeichnet sich ein leichter Trend zu weniger empfundener sozialer Gerechtigkeit ab.37 Ebenfalls bemerkenswert ist die relativ geringe Differenz der Einstellungen zwischen den Alterskohorten innerhalb der Untersuchungsgebiete. Abgesehen von der ältesten Personengruppe in Westdeutschland und der jüngsten in 36 Siehe auch G. Pickel, Politikverdrossenheit, Anm. 1, 211–216. 37 W. Glatzer, Gefühlte Ungerechtigkeit, Anm. 20, 17.
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Ostdeutschland, die eine positivere Sicht bekunden, sind die Abweichungen vom Bevölkerungsdurchschnitt nicht bedeutend. Den Sozialisationstheoretikern zufolge müsste aber zwischen beiden Gebieten über die Zeit hinweg ein Differenzabbau stattfinden, der sich auch in einem Schmelzen der Unterschiede zwischen den Altersgruppen in Ostdeutschland niederschlägt. Die etwas besseren Werte der jüngsten Alterskohorte in den neuen Bundesländern scheinen diese Annahme zuerst einmal zu stützen. Allerdings finden wir diese Altersdifferenzen bereits seit Anfang der 1990er Jahre. Und wichtiger noch, sie haben scheinbar keinen wirklichen Bestand über die Biographie der Betroffenen. So ist die 1996 jüngste Alterskohorte 2006/2008 in die zweitjüngste weitergerückt, ohne allerdings die vormals höheren positiven Beurteilungen weiterzutragen. Hier ist eine Wirkung lebenszyklischer Effekte und (negativer) Erfahrungen zu vermuten.38 Nach wie vor scheint auf der Ebene der sozialen Einstellungen eine deutliche Differenz zwischen West- und Ostdeutschland zu bestehen. Man könnte fast von einer „Gerechtigkeitslücke“ sprechen.39 Dies ist auch das Urteil der Bundesbürger selbst. So ist man sich 2010 in West wie Ost mit großer Mehrheit einig, dass die Einkommensunterschiede in Deutschland zu hoch ausfallen (Abb. 6).40 Allerdings ist bei dieser Frage weder klar, was die ungerecht behandelten Vergleichsgruppen sind, noch welche normativen Kriterien man anlegt. So ist die Meinung hinsichtlich des Bestehens von Chancengleichheit wesentlich ausgeglichener hinsichtlich Zustimmung und Ablehnung verteilt. Das allgemeine Teilhaberecht an höherer Ausbildung (Studienzugang) empfindet die Hälfte der Befragten als für alle sozialen Gruppen gegeben. In dieser Einschätzung unterscheiden sich die Westdeutschen nicht wesentlich von den Ostdeutschen. So wie man soziale Ungleichheit allgemein beklagt, so deutlich reduziert sich diese Klage bei Fragen nach dem Bestehen von Chancengleichheit. Mit der Wahrnehmung ist nicht gesagt, dass man entstehende Ungleichheiten generell akzeptiert. Allerdings auch nicht, dass man sie zwangsläufig als illegitim ansieht. Eher handelt es sich bei dieser Antwort um eine Feststellung, während die Einkommensunterschiede bereits einer (diffusen normativen) Wertung unterzogen werden. Gleichzeitig rücken bei diesen Fragen die Schwellenwerte ins Blickfeld, die man unter Bezugnahme auf unterschiedliche Beurteilungsprinzipien sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu akzeptieren bereit ist. Es scheint so etwas wie ein tolerierbares Ausmaß an sozialer Ungleichheit zu geben. Diese 38 Zu lebenszyklischen Effekten detailliert B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11, 94. 39 H.-H. Noll, Wahrnehmung und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991–1996, in: H. Meulemann (Hg.), Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung, Opladen 1995, 61–85. 40 Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus), 2010.
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Toleranzschwelle ist dabei von den eigenen sozialen Verhältnisse wie auch von den eigenen politischen Überzeugungen abhängig. Gleichzeitig gibt es wohl auch einen Punkt, ab dem ein bestimmtes Niveau sozialer Ungleichheit für ein Gros der Bevölkerung nicht mehr akzeptabel erscheint. In die gleiche Richtung gehen die Aussagen aus den Sozialstaats- und Wohlfahrtssurveys, wo drei Viertel der Westdeutschen und fünf Sechstel der Ostdeutschen in Deutschland Verteilungsungerechtigkeit konstatieren. Problematischer noch – seit 2005 empfinden auch drei Viertel der Deutschen eine Abnahme sozialer Gerechtigkeit.41 Interessant ist noch ein anderer Befund: Nur ein Viertel der Westdeutschen empfinden die Bereitschaft zur Korruption als relevantes Aufstiegsmerkmal. Dies deckt sich mit den vorangegangenen Ergebnissen zur Einschätzung der Verfahrensgerechtigkeit. Gleichzeitig ergibt sich wieder ein Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen. Vermutlich vor dem Hintergrund vieler seit 1990 unterbrochener Berufskarrieren, drückt sich in den neuen Bundesländern ein gewisses Frustrationspotential aus. So sieht man auf dem Gebiet der Gleichheit der Aufstiegschancen in Ostdeutschland für sich strategische Nachteile auf dem informellen Sektor. Als positives Zeichen zu deuten ist, dass sich beide Bewertungen in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert haben. Abbildung 6: Urteile über den Bestand sozialer Gerechtigkeit in Deutschland
„In Deutschland haben alle Menschen die gleichen Chancen zu studieren, unabhängig von Geschlecht, nationaler und ethnischer Herkunft oder sozialer Schicht.“ „Um in Deutschland heute ganz nach oben zu kommen, muss man korrupt sein.“ „Die Einkommensunterschiede in Deutschland sind zu groß.“ (Nur Zustimmungswerte) „Die heutige Gesellschaftsordnung [in der Bundesrepublik Deutschland] ist gerecht“* In welchem Maß ist die gerechte Verteilung des Wohlstandes in Deutschland organisiert? (Kategorien: eher und überhaupt nicht realisiert)**
Jahr 2010
West 46–44
Ost 42–45
2000 2010 1992 1999 2010 2000
37–46 25–61 84 76 87 30–38
52–27 40–43 98 94 96 17–57
1998
71 76 79
92 85 85
2005 2008
Quelle: Eigene Zusammenstellung; Allbus 2010; International Social Survey Programme – Schwerpunkt „Social Inequality II, III, IV“, Anteil „stimme voll und ganz zu + stimme zu“ versus Anteil „stimme nicht zu und stimme überhaupt nicht zu“ (Residualkategorie „weder noch“); *= Political Culture in New Democracies (Frankfurt/Oder 2000–2002); **=W. Glatzer, Gefühlte Ungerechtigkeit (Anm. 20), 19 (Wohlfahrtssurveys und Sozialstaatssurveys). 41 Ders., 19.
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Die Bestimmung von sozialer Gerechtigkeit bezieht sich zumeist auf die Einschätzung der sozioökonomischen Lage. Sie besitzt allerdings Konsequenzen für das Bild über die eigene Position in der deutschen Gesellschaft. So sehen sich fast drei Viertel der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse an.42 Und auch an dieser gruppenbezogenen Selbsteinstufung hat sich in den letzten zwanzig Jahren wenig bis gar nichts verändert. Waren es 1991 76 Prozent der Ostdeutschen die diese Aussage befürworteten, so stieg diese Zahl bis 1998 leicht auf 77 Prozent an, um dann 2000 kurz auf 68 Prozent zu fallen (Emnid). Auch wenn es sich eher um ein diffuses Gefühl, denn um eine streng belegte Tatsache handelt, trägt die Verbindung zu dem persönlichen Ungerechtigkeitsempfinden maßgeblich zu dieser Einstellung bei. Diese Einstellung kann sich dabei über die Zeit von objektiven Ungleichheiten lösen und ein relativ stabiles Unterlegenheitsgefühl in den neuen Bundesländern etablieren. Wenn man sich zurückerinnert, dies war die Kernannahme der im vorangegangenen Kapitel und Abbildung 2 vorgestellten Identitätshypothese. Insgesamt besteht in der Beurteilung sozialer Gerechtigkeit zwischen West- und Ostdeutschland eine Schieflage. In den neuen Bundesländern ist das Gefühl sozial ungerecht behandelt zu werden seit zwanzig Jahren wesentlich stärker ausgeprägt als in den alten Bundesländern. Nicht nur finden sich markante West-OstUnterschiede in der Beurteilung der Bundesrepublik als sozial gerechter Gesellschaft oder im Hinblick auf das persönliche Gerechtigkeitsempfinden, auch insgesamt scheint eine beachtliche Unzufriedenheit auf diesem Sektor vorzuliegen. Worauf diese Urteile beruhen und wieweit sie folgenreich für die Haltung zum demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland sind, soll nun im Folgenden beantwortet werden.
3.3 Gerechtigkeitsverständnis und Akzeptanzgrade Worauf beruhen nun diese Unterschiede? Hier gilt es nun einen grundlegenderen Blick auf das Verständnis dessen zu lenken, was die Bürger überhaupt als gerecht ansehen. Dies führt einen zu den Gerechtigkeitsideologien oder Gerechtigkeitsprinzipien.43 Auch hier dient eine einfache Frage – danach, ob soziale Unterschiede allgemein als gerecht oder als nicht gerecht anzusehen sind – als Einstieg. Sie repräsentiert eine Zustimmung zu einer milden Variante des Gleichheitsprinzips, im Sinne einer allgemeinen – und noch folgenlosen – Befürwortung dieses Prinzips. 42 Nach dem ARD-Deutschlandtrend 2010 sind das 74 Prozent. 43 Siehe B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsideologien, Anm. 11 und Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11.
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Abbildung 7: Akzeptanz sozialer Ungleichheit Bevölkerung gesamt
1984 1988
West 48 42
1991
48
1994 1998 2000 2004 2008 2010
46 37 47 36 32 30*
Westdeutschland nach Alter
Ostdeutschland nach Alter
Ost
18–29 30–45 46–60 61+ 18–29 30–45 46–60 61+ 33 50 53 56 32 37 45 53 15 40 48 54 72 11 16 16 17 12 38 41 53 52 13 10 11 13 10 34 30 35 40 12 10 11 13 19 44 43 48 53 22 17 16 17 16 30 32 35 45 20 14 16 14 12 27 30 27 38 14 15 9 13 19* 29 24 27 39 19 22 18 18
Quelle: Eigene Zusammenstellung; Allbus 1991-2010; „Soziale Unterschiede sind gerecht“: * = variierte Fragestellung „Ich finde die sozialen Unterschiede in unserem Land im Großen und Ganzen gerecht“ (Allbus 2010).
Das Ergebnis ist frappierend. Wie sich zeigt, hat sich in den neuen Bundesländern bis heute keine grundlegende Akzeptanz sozialer Ungleichheit durchgesetzt. Die Anzahl derjenigen, die soziale Ungleichheit generell als gerechtfertigt ansehen, unterschreitet seit 1991 stetig ein Fünftel der ostdeutschen Bevölkerung. Aber auch in den alten Bundesländern ist diese, noch bis Mitte der 1990er Jahre zumindest in der Hälfte der Bevölkerung bestehende, Akzeptanz sozialer Unterschiede in den letzten zwanzig Jahren (mit der Ausnahme 2000) erodiert. Dieses Antwortverhalten richtet sich gegen das Denken einer rein individuellen Zuschreibung sozialer Verhältnisse. Oder anders gesagt, ein liberaler Markt mit sozialen Ausgleichsfaktoren kann akzeptiert werden, ein libertäres System ohne solche sozialen Ausgleichsmechanismen nicht. Zu der beobachteten zeitlichen Entwicklung können verschiedene Faktoren beigetragen haben: Zum einen haben sich die seit 1990 gesammelten Erfahrungen mit sozialer Ungleichheit wohl nicht wesentlich verändert, zum anderen hat die mediale Diskussion sozialer Ungleichheit wieder Fahrt aufgenommen. Dies zeigt sich in Westdeutschland. Nun gibt die verwendete Frage nur begrenzt Auskunft über den bereits mehrfach angesprochenen Schwellenwert sozialer Ungleichheit, den man zu akzeptieren bereit ist, wenn man dieses allgemeine Gleichheitsprinzip mit dem ebenfalls verbreiteten Leistungsprinzip in Konfrontation bringt. Denn auch dieses wird, wie auch Abbildung 8 belegt, in West- wie Ostdeutschland hoch geschätzt. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger empfinden soziale Ungleichheit auch als wichtigen individuellen Leistungsanreiz.
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Die Akzeptanz von Leistungskriterien bestätigen Ergebnisse mit alternativen Indikatoren: Während 68 Prozent der Deutschen der Aussage „wer viel leistet, sollte dafür belohnt werden“ zustimmen, befürworten bemerkenswerte 93 Prozent die Aussage „Gerechtigkeit bedeutet, dass das Einkommen einer Person allein von ihrer Leistung abhängt“.44 Die Notwendigkeit der individualistischen Anreizstruktur sozialer Ungleichheit sehen in Westdeutschland seit zwei Jahrzehnten mehr als 60 Prozent der Bürger. Aber auch die ostdeutschen Bürger haben sich, sieht man einmal von einem temporären Anfangshoch nach der Wiedervereinigung ab, kontinuierlich mit dem Leistungsprinzip angefreundet und ihren Rückstand in den Zustimmungsraten reduziert. Da mutet es verwirrend an, wenn nahezu die gleiche Gruppengröße den Einfluss der Rahmenbedingungen (Tarifverträge, Wirtschaftslage, Sozialleistungen) beklagt und für das – eben nicht von individueller Leistung abhängige – Bedürfnisprinzip plädiert. Gar vier von fünf Befragten sehen sogar den Staat in der Verantwortung, dass ein Staatsbürger auch in Notlagen ein gutes Auskommen hat. So finden auch mehr als die Hälfte der Bundesbürger, dass der Staat ein Mindesteinkommen garantieren sollte. Auch im Zeitverlauf ist ein interessantes Ergebnis festzuhalten: Die noch 2000 bestehende (immerhin um 16 Prozentpunkte) höhere Zustimmungsrate in Ostdeutschland zum Item der „dominierenden Rahmenbedingungen“ hat sich 2010 komplett an die westdeutsche Rate angeglichen. Die gerade skizzierte Position ist aber nicht mit einem Streben nach völliger Gleichheit oder Egalitarismus gleichzusetzen. Vielmehr wird das Bedürfnisprinzip von der Mehrzahl der Bürger als relativ problemlos mit dem Leistungsprinzip kombinierbar angesehen. Eben orientiert an einem Schwellenwert. Entsprechend fällt die Zustimmung zu vollständiger Gleichheit, also Gleichheit im Endzustand, eher gering aus: Kein Viertel der Bundesbürger fordert, dass in Deutschland alle gleich viel besitzen sollten und noch weniger denken, dass „Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft das gleiche Einkommen haben“.45 Bedürfnisse und Leistungsbelohnung müssen in einem aus Sicht der Bürger „vernünftigen“ Verhältnis zueinander stehen. Gibt es nun diesbezügliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland? Selbst wenn die Ost-West-Annäherungen im Antwortverhalten das dominierende Merkmal der Fragen nach Gleichheitsprinzipien ist, bedeutet dies keineswegs eine vollständige Angleichung der Ost- an die Westdeutschen. Trotz unterschiedlicher Messinstrumente kommen alle Studien auch heute noch zu einer höheren
44 A. Klein/A. Zick, Abwertung im Namen der Gerechtigkeit, in: W. Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010, 124–125. 45 Dies., S. 124.
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Offenheit der ostdeutschen Bürger gegenüber der Gerechtigkeitsideologie Gleichheit im Vergleich zu den westdeutschen Bürgern.46 Abbildung 8: Akzeptanzgrade von sozialer Gerechtigkeit – sozialer Ungleichheit
Jahr
West
Ost
Gerechtigkeitsprinzipien Das Einkommen sollte sich nicht allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht. (Bedürfnisprinzip)
1991 1994 2000 2004 2010
47 40 47 40 58
49 42 55 49 56
Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistungen. (Leistungsprinzip)
1991 1994 2000 2004 2008 2010
64 62 67 64 63 61
58 44 49 47 50 53
Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im Wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat. (Chancengleichheitsprinzip)
1991 1994 2000 2004 2008 2010
53 57 60 60 57 56
45 35 45 41 41 48
Ist es gerecht oder ungerecht, dass Menschen mit höherem Einkommen sich eine bessere medizinische Versorgung leisten können als Menschen mit niedrigerem Einkommen? (Anrechtsprinzip)
2000 2010
13–73 12–70
10–83 13–77
Ist es gerecht oder ungerecht, dass Menschen mit höherem Einkommen ihren Kindern eine bessere Ausbildung zukommen lassen können als Menschen mit niedrigerem Einkommen? (Anrechtsprinzip)
2000 2010
12–72 10–74
9–84 11–78
1991 1994 2000 2010
56 52 62 63
65 75 78 62
Abhängigkeit von Rahmenbedingungen Was man im Leben bekommt, hängt nicht so sehr von den eigenen Anstrengungen ab, sondern von der Wirtschaftslage, der Lage auf dem Arbeitsmarkt, den Tarifabschlüssen und den Sozialleistungen des Staates. Staatsverantwortung 46 Hier zeigt sich ein methodisches Problem der Erfassung des Gleichheitsprinzips. B. Liebig/S. Wegener, Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11 bestimmen Egalitarismus über Aspekte sozialer Angleichung aber nicht grundsätzlicher Gleichheit. So deuten sie zum Beispiel die Garantie des Mindesteinkommens als Indikator für Egalitarismus. Entsprechend kommen sie zu höheren Zustimmungsraten zum Egalitarismus. Dies., Gerechtigkeitsideologien, Anm. 11, 125; dies., Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11, 90.
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Gert Pickel
Jahr
West
Ost
Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat.
2000 2004 2010
86 83 80
92 92 87
Es ist Aufgabe des Staates, die Einkommensunterschiede zwischen den Leuten mit hohem Einkommen und solchen mit niedrigem Einkommen zu verringern.
1992 1999 2010
65 53 59
89 76 79
Der Staat sollte Mindesteinkommen garantieren.
1992
58
88
Der Staat sollte für einen angemessenen Lebensstandard der Arbeitslosen sorgen.
2010
60–20
68–15
Quelle: Eigene Zusammenstellung; Allbus 1992–2010, Anteil „stimme voll und ganz zu + stimme zu“ versus Anteil „stimme nicht zu und stimme überhaupt nicht zu“ (Residualkategorie „weder noch“)
Am schwierigsten sind Haltungen des Askriptivismus zu erfassen. Das Anrechtsprinzip bezieht sich ja auf früher erworbene oder aus der Statusgruppe abgeleitete „Privilegien“. Nimmt man die Fragen aus dem Allbus zu einer besseren Versorgung oder Ausbildung von „Bessergestellten“, dann findet sich überwiegend eine ablehnende Haltung der Bürger. Zum gleichen Ergebnis (und fast deckungsgleichen Zustimmungsraten) kommen Klein und Zick mit anderen Indikatoren.47 Ein wiederum anderer Indikatorenpool wird von Wegener und Liebig verwendet.48 Dort fällt die Zustimmung zu Askriptivismus höher aus. Allerdings stellen sie gleichzeitig fest, dass sich die Zustimmung zu diesem Gerechtigkeitsprinzip zwischen 1991 und 2006 in West- und in Ostdeutschland im Sinkflug befindet. Was bedeuten diese Ergebnisse zusammengenommen? Zum ersten besitzt soziale Ungleichheit einen negativen „Touch“. Sie wird als ungerecht angesehen und man ist generell für ihre Reduktion. Zum zweiten – daraus resultierend – herrscht eine starke Anspruchshaltung gegenüber dem Staat vor, sozialen Ausgleich zu schaffen. Gleichheit ist ein hohes Gut und es wird nur als gerecht angesehen, dass der Staat als Korrektiv zur – Individualismus sowieso befördernden – Marktwirtschaft fungiert. Genau genommen ist dies sogar eine der zentralen Forderungen an den Staat. Zum dritten existiert ein gewisser Widerspruch: So wie eine Mehrheit den Staat in der Verantwortung sieht sozialen Ausgleich zu schaffen, so ist gleichzeitig aus Sicht einer Mehrheit das Individuum für seinen Lebensweg verantwortlich. Die hohe Legitimationsfunktion individueller Leistung bestätigt sich auch, wenn man nach Eigenschaften und Umständen für sozialen Aufstieg fragt. Fast alle Deutschen erwählen Leistungswille, Bildung, Durchsetzungskraft und Intelligenz als 47 A. Klein/A. Zick, Abwertung, Anm. 44, 125. 48 B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsideologien, Anm. 11, 55.
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Kernelemente für sozialen Aufstieg. Protektion, Beziehungen zu besitzen und Vermögen werden dagegen nur als zweitrangig angesehen. Und diese Verteilungen sind nicht nur zwischen West- und Ostdeutschland fast komplett gleich, sondern auch über die Zeit bemerkenswert konsistent.49 Der Staat wird also seitens der Bürger als das Korrektiv der „gnadenlosen“ und soziale Ungleichheit produzierenden Marktwirtschaft angesehen. Und dies in West und Ost. Der Eindruck von Chancengleichheit befördert die Zustimmungsraten. So fordern bei einer Frage nach der Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland fast 90 Prozent der Befragten in West und Ost die Notwendigkeit „gleiche Chancen für alle“ herzustellen, aber nur knapp 50 Prozent „gleiche Lebensbedingungen für alle“ herzustellen.50 Diese gleichen Zugangsmöglichkeiten soll der Staat garantieren. Zwar unterschieden sich entsprechende Einstellungen zwischen West- und Ostdeutschland, allerdings bei weitem nicht in dem Umfang, wie in der Beurteilung der Eigeneinschätzung sozial gerechter Behandlung. 51 Als manifeste Forderungen an den Staat ergibt sich so der Wunsch nach einem tragfähigen sozialen Sicherungsnetz. In einer Entscheidungsfrage 2010 des Allbus sind nur wenige (13% Westdeutschland, 9% Ostdeutschland) bereit, Sozialleistungen zu kürzen, während immerhin 32% in den alten Bundesländern und 44% in den neuen Bundesländern zu einer Ausweitung der Sozialleistungen bereit wären. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten in Westdeutschland und knapp weniger in Ostdeutschland würden es so lassen wie es bisher ist.52 Dieses Antwortverhalten kann aus realer sozialer Ungleichheit und aus Differenzen zwischen den Ansprüchen der Bürger und der Wirklichkeit resultieren. Es zeigt in jedem Fall die hohe Bedeutung sozialer Sicherung für das bundesdeutsche System und seiner Beurteilung durch die Bürger.53 49 Statistisches Bundesamt, 2006: Datenreport 2006. Berlin, 2006, 625–633. 50 Sozialreport 2010, 38. 51 Allerdings sind die Forderungen nach dem Staat in Ostdeutschland teilweise ausgeprägter. So liegt die Zahl derjenigen, die ein Mindesteinkommen garantiert haben möchten 1992 um 30 Prozentpunkte und die Zahl derer, welche eine Aufgabenzuweisung der Reduktion der Einkommensunterschiede an den Staat vornehmen, um 20 Prozentpunkte höher. Hier spiegeln sich möglicherweise Reminiszenzen einer früheren etatistischen Haltung wider, wobei allerdings auch ein Einfluss der eigenen sozioökonomischen Lage auf das generelle Empfinden dessen, was gerecht ist, anzunehmen ist. 52 Die Zahl derer, die lieber sehen würden, dass die Bundesregierung Steuern senkt als die Sozialleistungen zu erhöhen, hält sich mit ihrem Gegenpart (lieber Sozialleistungen erhöhen als Steuern senken) in West- wie in Ostdeutschland ziemlich die Waage. 53 So dürfte, im Gegensatz zum doch relativ großen Rückhalt von politischen Kräften in den USA in der Schuldenkrise 2011 für Sozialleistungskürzungen in der Bevölkerung, ein vergleichbarer Vorstoß in Deutschland weitgehend chancenlos sein.
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3.4 Gründe für Gerechtigkeitseinstellungen Was sind nun Gründe für die Ausprägung relativer Deprivation oder eine negative „persönliche Verteilungsgerechtigkeit“? Sie sind schwierig zu bestimmen, werden doch oft sehr persönliche Vergleiche gezogen. Allerdings kann man trotzdem fragen, ob sich bestimmte systematische Zusammenhänge ergeben. So ist eine Annahme der empirischen Gerechtigkeitsforschung, dass ein Teil dieser Bewertungen „ergebnisbezogen“ ist.54 Das Empfinden der sozialen Benachteiligung und der Wunsch nach mehr Gleichheit ist dann Folge der eigenen sozialen Lage. Dies intendiert einen empirischen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Situation und Gerechtigkeitsempfinden. Und dieser Zusammenhang ist auch empirisch zu belegen. Abbildung 9 zeigt signifikante Korrelationen zwischen der Einschätzung der derzeitigen eigenen persönlichen Lage und der Einschätzung den gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten. Auch objektive Bezüge tun sich auf: So erhöht ein höheres Haushaltseinkommen das Gefühl, den gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten (und reduziert den Wunsch nach Umverteilung). Dieser Effekt verstärkt sich, wenn man die subjektive Einschätzung der Wirtschaftslage – egal ob für den persönlichen Haushalt oder die Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen – verwendet. Fazit: Die Wahrnehmung der sozialen Lebenssituation besitzt einen dominierenden Einfluss auf die persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen. Das persönliche Gerechtigkeitsempfinden ist demnach massiv ereignisabhängig, wenn auch eine subjektive Wertung einzugehen scheint. Doch auch die generelle Haltung zu sozialen Unterschieden bzw. die Zustimmung zu den Gerechtigkeitsideologien variieren mit der sozialen Lage. Sicherlich besitzen die Effekte nicht das Ausmaß wie beim persönlichen Gerechtigkeitsempfinden, aber die Beziehungen sind doch signifikant. Diejenigen, die (denken) mehr (zu) besitzen, sehen soziale Unterschiede auch eher als gerechtfertigt an, als diejenigen, die ihre persönliche Wirtschaftssituation ungünstig beurteilen. Entsprechend empfinden sie Ausgleichsleistungen des Staates auch als weniger notwendig für die Absicherung individueller Notlagen. Gleichheitsprinzip und Bedürfnisprinzip sind demnach keine von der sozialen Lage unabhängige Ideologien. Vielmehr stehen beide Prinzipien in Beziehung zur (ergebnisbezogenen) Sozialrealität. Dies ergeben auch die Ergebnisse von Wegener und Liebig, welche erhebliche konjunkturelle Bewegungen in den Gerechtigkeitsideologien ausmachen.55 Das Leistungsprinzip scheint dagegen von sozialstrukturellen Begleitfaktoren weitgehend unabhängig zu sein. Ob der Sozialismusidee gewogen oder nicht, die 54 B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11, 86. 55 Dies., 90.
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Zustimmung zum Leistungsprinzip differiert nicht. Auf die anderen Prinzipien wirkt sich eine Nähe zur Idee des Sozialismus dagegen wie erwartet aus – sie befördert den Wunsch nach Gleichheit, Bedürfnisprinzip und Staatseinsatz. Die Differenzierung in Korrelationsanalysen allein auf dem west- bzw. dem ostdeutschen Gebiet bestätigt die Gültigkeit dieser Muster unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Ein paar kleinere Abweichungen gegenüber Westdeutschland ergeben sich in den Wechselwirkungen zur Zustimmung zur Idee des Sozialismus. Wie die gesamtdeutschen Ergebnisse dann aber zeigen, wirkt die Idee des Sozialismus häufig vor allem zwischen den West- und den Ostdeutschen diskriminierend. Abbildung 9: Bezüge zwischen Gerechtigkeitsempfinden und Rahmenfaktoren Wila Ego +.35 (.39/.43)
Wila Land +.18 (.22/.26)
HH Eink +.21 (.21/.29)
ObenUnten +.29 (.25/.31)
-.12 (-.06/-.13)
Soziale Unterschiede sind gerecht (weiches Gleichheitsprinzip)
+.20 (.17/.23)
+.21 (.19/.23)
+.11 (.06/.17)
+.12 (.08/.22)
-.16 (n.s./-.12)
Rangunterschiede sind akzeptabel (Chancengleichheitsprinzip)
+.12 (.09/.14)
+.06 (n.s./.09)
n.s. (n.s./n.s.)
+.07 (n.s./n.s.)
n.s. (n.s./-.11)
Einkommensunterschiede erhöhen Motivation (Leistungsprinzip)
n.s. (n.s./n.s.)
n.s. (n.s./n.s.)
n.s. (n.s./n.s.)
n.s. (n.s./n.s.)
n.s. (n.s./n.s.)
Jeder sollte haben was er zu einem anständigen Leben braucht (Bedürfnisprinzip)
-.15 -.13 -.15 -.16 +.20 (-.13/-.18) (-.12/-.16) (-.17/-.25) (-.18/-.14) (.22/.14)
Gerechter Anteil am Lebensstandard (persönliche Gerechtigkeit)
SozIdee
-.13 -.16 -.13 +.16 Staat muss bei Krankheit und -.15 (-.14/-.17) (-.13/-.12) (-.13/-.20) (-.17/-.12) (.11/n.s.) Not für gutes Einkommen sorgen (Staatsaufgabe) Quelle: Eigene Zusammenstellung; Allbus 2010, Anteil „stimme voll und ganz zu + stimme zu“ versus Anteil „stimme nicht zu und stimme überhaupt nicht zu“ (Residualkategorie „weder noch“); Wila Ego = Einschätzung der persönlichen Wirtschaftslage; Wila Land = Einschätzung der Wirtschaftslage des Landes; HHEink = Haushaltseinkommen; Oben-Unten = Oben-Unten-Selbsteinordnungsskala; SozIdee = Einschätzung, dass Idee des Sozialismus gut war, nur schlecht ausgeführt wurde; Werte sind Pearsons ProduktMoment-Korrelationen; Werte in Klammern (Westdeutschland/Ostdeutschland); n.s. = kein signifikanter Zusammenhang.
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Interessant ist, in einer Regressionsanalyse gelingt es keinem weiteren Faktor neben der Eigeneinschätzung der persönlichen Wirtschaftslage, dem Haushaltseinkommen und der Einschätzung, dass soziale Ungleichheit ungerecht ist, einen Einfluss auf die persönliche Gerechtigkeitseinschätzung zu erzielen. Speziell die Einschätzung des Sozialismus als gute Idee kann sich in Relation zu den ergebnisbezogenen Einflussfaktoren nicht durchsetzen. Die Konsequenz ist einfach: Unterschiede in der Einschätzung sozialer Gerechtigkeit zwischen West- und Ostdeutschland sind vornehmlich auf die Wahrnehmung sozioökonomischer Ungleichbehandlungen und Differenzen in der Wirtschaftslage zurückzuführen. Weniger die Ideologie unterscheidet das Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland als die soziale Lage. Entsprechend sind Feststellungen, dass in Ostdeutschland dem Prinzip des „Egalitarismus“ immer noch stärker zugestimmt wird wie in Westdeutschland,56 weniger auf ideologische, sondern stärker auf Reflektionen eigener Erfahrungen zurückzuführen. Hier sind zum Beispiel Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit in dem näheren persönlichen Umfeld oder im eigenen Lebenslauf zu nennen, welche die Gerechtigkeitsbeurteilungen beeinflussen.57 In ihnen verbinden sich subjektive Vergleichseinschätzungen und reale Benachteiligungen der Ostdeutschen gerade im sozioökonomischen Sektor. Das daraus Wirkungen auf die Beurteilung des politischen Systems resultieren, liegt nahe. An dieser Stelle lässt sich noch ein bislang nicht beachteter Punkt anschließen. Ist dies so, dann müssten sich auch interessante Sozialisationsprozesse für die erheblichen Gruppen der Ost-West- und West-Ost-Migranten ergeben.58 Die neu gewonnenen Erfahrungen sowie die neue Umwelt treten dann teilweise in Konflikt, oder zumindest Konkurrenz zu früher internalisierten Wertvorstellungen. An dieser Stelle herrscht leider noch ein Forschungsdefizit, die wenigen empirischen Hinweise zeigen aber eine Melange aus Anpassungsund Resistenzprozessen auf.
4. Gerechtigkeitsempfinden und politische Kultur 4.1 Immer noch Ost-West-Differenzen in der politischen Kultur? Haben wir bislang die Einschätzung gerecht oder ungerecht behandelt zu werden und das Gerechtigkeitsempfinden als die abhängige Variable behandelt, scheint es angesichts der Eingangsfragestellung Zeit, die Perspektive zu wech56 Dies., 91. 57 T. Faas, Arbeitslosigkeit, Anm. 33, 221. 58 Bis heute sind fast 3 Millionen Ostdeutsche in das Gebiet der alten Bundesländer migriert.
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seln und zu sehen, welche Wirkung das Gerechtigkeitsempfinden auf die politische Kultur und die Haltungen gegenüber dem politischen System besitzen. Hierzu wurde in Kapitel 2 ein ordnender Vorschlag vorgelegt, der im Folgenden die Analyse leiten soll. Ausgangspunkt aller solcher Überlegungen ist der in Abbildung 10 dargestellte Befund. In relativ großer Beständigkeit halten sich seit 1991 zwischen den neuen und den alten Bundesländern Differenzen in den Einstellungen zur Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Dies ist nach dem Konzept der politischen Unterstützung von David Easton die Ebene des politischen Regimes.59 Dies heißt nicht, dass die Demokratie als Regimetyp generell auf dem Prüfstand steht. Neun von zehn Ostdeutschen sehen – kaum anders als in Westdeutschland – die Demokratie als die angemessenste Regimeform und präferieren sie gegenüber anderen Systemalternativen. Doch in der Beurteilung ihrer konkreten Darstellung in der Bundesrepublik Deutschland kommt es zu erheblichen Differenzen. Zwar ist die West-Ost-Differenz von 25 Prozentpunkten 1991 bis 2010 auf 17 Prozentpunkte geschmolzen, dies kann allerdings nur als eine begrenzte Annäherung gewertet werden. Immer noch dominieren die Unterschiede in den Haltungen zur aktuellen Demokratie. Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass die Haltungen zur Demokratie in der Bundesrepublik sowohl von grundsätzlichen Aspekten als auch von tagespolitischen Entscheidungen abhängen. Dies wird auch durch die beobachtbaren Einbrüche in den Gesamtbeurteilungen 2010 reflektiert.60 Hier scheint die Finanzkrise einen Effekt zu besitzen. Die Parallelität der Entwicklungen in West- und in Ostdeutschland deutet allerdings auf eine Mischung von konjunkturellen Erfahrungen und langfristigen Einflüssen hin. Für die Betrachtung West- und Ostdeutschlands bietet sich noch eine etwas spezifischere Analyse und Sicht an. Ist es das Gerechtigkeitsempfinden, was die Deutschen trennt? Was besagen uns nun aber diese Einstellungsdifferenzen zwischen West- und Ostdeutschland? Handelt es sich, wie oft behauptet wird, um schwer zu verdrängende ideologische Altlasten des DDR-Regimes61 oder eher um eine Folge der konsistent ungleichen Lebensverhältnisse im vereinigten Deutschland? Eine diesbezügliche Diskussion fand bereits um das Jahr 2000 59 D. Easton, A System Analysis of Political Live, New York 1979; siehe auch S. Pickel/G. Pickel, Politische Kultur- und Demokratieforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, 84–90. 60 Eine ausführlichere Debatte dieser Ost-West-Differenzen findet sich in G. Pickel, Zwischen beständigen Differenzen und überraschenden Angleichungen – Einstellungen, (A) Religiosität und politische Kultur, in: A. Lorenz (Hg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften, Opladen 2011, 169–188. 61 Siehe O. W. Gabriel, Demokratische Einstellungen, Anm. 25 oder K. Neller, DDR-Nostalgie, Anm. 30.
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statt. Dort wurden vier Interpretationsmöglichkeiten thematisiert: die Situationshypothese, die Sozialisationshypothese, die These der relativen Deprivation und die These einer ostdeutschen Sonderidentität (siehe Kapitel 2).62 Abbildung 10: Ost-West-Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit
Quelle: Eigene Berechnungen und Zusammenstellung; Allbus 1991–2008, ARD-Deutschlandtrend 2010
Und alle vier der Erklärungsmöglichkeiten besitzen empirische Evidenz. So finden sich erhebliche Ost-West-Unterschiede in der Einschätzung des Sozialismus. Zustimmungswerte zur Idee des Sozialismus in den neuen Bundesländern von 70 Prozent sind keine Seltenheit.63 Damit liegt diese Zustimmung immerhin um 30 Prozentpunkte über dem Antwortverhalten auf die gleiche Frage in Westdeutschland, welches – dies hier nur am Rande vermerkt – immerhin noch die meisten anderen Zustimmungsraten in Osteuropa übersteigt!64 Und gesteht bis 2006 höchstens jeder Zehnte in den alten Bundesländern der DDR mehr gute als schlechte Seiten zu, so ist dies in den neuen Bundesländern immerhin ein Drittel. Auch in der Einschätzung der sozialen Gerechtigkeit und eines gruppenbezogenen Benachteiligungsgefühls (Identitätshypothese) beste62 Detailliert in G. Pickel, Sondermentalität, Anm. 33, 159. 63 Die Zustimmung zur Idee des Sozialismus ist nicht mit einer Zustimmung zum real existierenden Sozialismus zu verwechseln. Sehen seit 1990 in der Regel drei Viertel der Ostdeutschen die Idee des Sozialismus als gut an, so sind es nicht einmal 30 Prozent, welche dem in der DDR real existierenden Sozialismus etwas Gutes abgewinnen können. Siehe hierzu D. Pollack/G. Pickel, Pessimismus, Anm. 33, 140–142. 64 Dies., 141.
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hen – wie bereits ausführlich dargestellt – deutliche Unterschiede zwischen beiden Gebieten. Gleiches gilt für die finanzielle Ausstattung der Haushalte und die Gefährdung durch Armut oder Arbeitslosigkeit. Allerdings hat sich die Einschätzung der eigenen finanziellen Situation mittlerweile zwischen den neuen und den alten Bundesländern weitgehend angeglichen (Abb. 11). Noch stärker ist dies für die Einschätzung der Wirtschaftslage der Bundesrepublik der Fall. Dort finden sich zwar konjunkturelle Schwankungen in der Beurteilung, diese sind aber in West- und Ostdeutschland vollständig parallel. Was bedeutet dies? Nichts anderes, als dass zwar die Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Situation einen Einfluss auf die Zufriedenheit besitzen kann, aber kaum zur Erklärung von West-Ost-Unterschieden beitragen dürfte. Abbildung 11: Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Situation
Quelle: Eigene Berechnungen und Zusammenstellung; Allbus 1991–2010; Werte sind Einschätzung als sehr gut oder gut (Residualkategorien sind teils teils, schlecht, sehr schlecht)
Zur Entscheidung über die Bedeutung der Gerechtigkeitseinstellungen auf die politische Unterstützung ist eine kausale Untersuchungsanlage notwendig. Eine lineare Regressionsanalyse identifiziert das Gefühl der relativen Deprivation sowie die Einschätzung, ein Bürger zweiter Klasse zu sein, als zentrale Begründungsfaktoren für die Haltung zum aktuellen demokratischen System. Zwar besitzt auch die Zustimmung zur Idee des Sozialismus einen signifikanten Effekt, er ist allerdings erheblich geringer. Die Einschätzung der eigenen ökonomischen Lage ist der wichtigste Prädiktor für die Haltung zur aktuellen
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Demokratie. Wenig überraschend empfinden Menschen, denen es wirtschaftlich besser geht, die Leistungen des demokratischen Systems als befriedigender als Menschen, die in sozioökonomischen Problemlagen leben. Allerdings kann nun dieser stärkste Prädiktor der Demokratiezufriedenheit aufgrund seiner in Abbildung 11 gezeigten Gleichverteilung zwischen West und Ost kaum für die beobachtbaren Niveauunterschiede verantwortlich sein.65 Abbildung 12: Bestimmungsfaktoren der Haltung zur Demokratie Westdeutschland
Positive Haltung zur Idee des Sozialismus (Sozialisationshypothese) Positive Einschätzung der eigenen ökonomischen Lage (Situationshypothese) Einschätzung als Bürger zweiter Klasse (Abgrenzungsidentität) Erhalte den gerechten Anteil am Lebensstandard (persönliche Gerechtigkeit) Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit (politische Gerechtigkeit) R-Quadrat
Ostdeutschland
Demokratie Demokratie als Demokratie Demokratie als im Land Regierungsform im Land Regierungsform -.05 n.s. n.s. -.17 +.25 (+.21)
n.s. (+15)
+.36 (+.33)
+.16 (+.17)
n.E.
n.E.
-.14
-.15
+.14 (+.26)
+.10 (+.16)
+.13 (+.30)
+.11 (+.10)
+.06
+.12
+.08
+.13
.19
.06
.29
.15
Quelle: Eigene Berechnungen; standardisierte beta-Koeffizienten der OLS-Regression mit Daten PCND 2000/2002, (Allbus 2008); n.E. = nicht Erhoben in dieser Teilstichprobe; n.s. = nicht signifikant66; Werte in Klammern Berechnungen mit Allbus 2008, statt Demokratie als Regierungsform wurde Zustimmung zur Demokratieidee erfragt.
65 Dies bestätigt eine Analyse der Ost-West-Unterschiede mithilfe einer Partialkorrelation. Weder dem Indikator für ökonomische Unterschiede noch der Sozialismusidee gelingt es dort, die Einstellungsdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschland maßgeblich zu reduzieren. Ohne Berücksichtigung eines Indikators für die Abgrenzungsidentität ist die relative Deprivation der stärkste Erklärungsfaktor. Hierzu siehe G. Pickel, Politikverdrossenheit, Anm. 1, 266. 66 Der Rückgriff auf die Daten von 2000/2002 ist notwendig, da nur dort Indikatoren für alle vier Erklärungsansätze sowie die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit vorliegen. Dies ist in alternativen Befragungen nicht der Fall. Generell kann man davon ausgehen, dass sich die Kausalbezüge in ihrer Struktur nicht ändern.
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Somit bleiben nur die Einschätzung, den gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten und das Gefühl der Ostdeutschen, Bürger zweiter Klasse zu sein, als Erklärungsfaktoren für die West-Ost-Unterschiede übrig. Beide Aspekte können Ost-West-Differenzen erzeugen, weisen sie doch Differenzen in der OstWest-Verteilung auf und besitzen eine nachweisliche Wirkung auf die Haltung zur Demokratie. Es ist also weniger die (in Ostdeutschland schlechtere) ökonomische Situation an sich als vielmehr das Gefühl benachteiligt zu werden, welches in den neuen Bundesländern eine geringere politische Unterstützung der aktuellen Demokratie bedingt. Auffällig ist ein weiterer Befund. Die generelle (hohe) Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform oder Idee lässt sich mit den verwendeten Indikatoren – wie die geringe Gesamterklärungskraft der Modelle belegt – nur in geringem Maße erklären. Entweder beruht diese politische Einstellung auf bislang nicht identifizierten Grundlagen oder sie stellt eine originäre Wertehaltung dar. In den neuen Bundesländern wird sie zumindest in begrenztem Umfang von allen vier Faktorenbündeln beeinflusst. Dies kann als Erklärung für die doch auffindbaren Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland in dieser Einstellung dienen, die sich aber – wie bereits gesagt – stark in Grenzen halten. Als wichtiger Stabilisierungsfaktor für die generelle Akzeptanz der Demokratie erweist sich die Wahrnehmung von Verfahrensgerechtigkeit.67 Diese wird stärker als grundsätzlicher Bestandteil der Demokratie verstanden als von den aktuell Regierenden beeinflusst. Die Konsequenz dieses Ergebnisses ist insbesondere die Feststellung, dass die Empfindung der persönlichen Ungerechtigkeit stärker als andere Faktoren einen Effekt auch auf die grundsätzliche Haltung zur Demokratie als Regierungsform besitzt. Selbst wenn es also noch stimmen würde, dass die starke Betonung des Ideals faktischer Gleichheit in der ehemaligen DDR die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit geschärft hat,68 müssen deswegen die Wertorientierungen der Ostdeutschen nicht im Konflikt zu Demokratie stehen. Eher schlagen sich dann entsprechende Wertpräferenzen in höhere Forderungen der Ostdeutschen an die aktuelle Demokratie nieder. Allerdings verweist die ermittelte starke „Ergebnisbezogenheit“ der Gerechtigkeitseinstellungen in eine andere Richtung – der Verknüpfung von objektiven, erfahrenen und vermuteten Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten. Wegener und Liebig betonen zu Recht, „dass es sich bei ordnungsbezogenen Gerechtigkeitseinstellungen nicht um stabile Dispositionen 67 E. Holzleithner, Gerechtigkeit, Anm. 10, 15. 68 Betonen die westdeutschen Bürger in höherem Ausmaß liberale Grundrechte, Parteienpluralismus oder unabhängige Gerichte (Rechtsstaatlichkeit) als normative Prinzipien der Demokratie, so stellen die ostdeutschen Bürger auf Nachfrage die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund. Dies geschieht um zehn Prozentpunkte häufiger als in Westdeutschland, wie Roller belegen kann. Siehe E. Roller, Gerechtigkeitsprizipien, Anm. 19, 600.
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handelt“, sondern um Einstellungen, die sich im Lebenslauf mit neuen Erfahrungen verändern können.69 Wertorientierungen mischen sich mit konkreten (Un-)Gleichheitserfahrungen der Nachwendezeit. So sind weniger Erinnerungen an eine „schönere DDR“, oder die mangelnde Einsicht, dass Marktwirtschaften aufgrund der leistungsbezogenen Entlohnung zwangsläufig Ungleichheit produzieren, für die Gerechtigkeitsbewertung des aktuellen demokratischen Systems verantwortlich, als vielmehr das sich über 20 Jahre verstetigende Gefühl der Ostdeutschen, nicht die gleichen Chancen wie ihre westdeutschen Mitbürger zu erhalten. Die Betrachtung der konkreten sozioökonomischen Situation bestätigt dann diese Sicht – und damit auch den Fortbestand dieser Diskrepanzen zwischen West- und Ostdeutschland – nur. Ausgehend von diesen Befunden ist auch in naher Zukunft eine relativ hohe Stabilität der Ost-WestUnterschiede in der auf das aktuelle demokratische System bezogenen politischen Überzeugungen zu erwarten.
4.2 Konsequenzen für die Demokratie Entsprechend dieser Ergebnisse reflektiert ein unterschiedliches Gerechtigkeitsempfinden in Ost und West keine „Mauer in den Köpfen“. Die Ostdeutschen stehen vielmehr im heutigen Leben und beurteilen die dortigen Verhältnisse vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen aber auch den Erfahrungen im nahen Familien- oder Freundeskreis.70 Eine Rückkehr zu Sozialismus im Verständnis der DDR oder zu diesem politischen System ist für sie mehrheitlich genauso uninteressant wie eine Revision der Wiedervereinigung (Abb. 13). Im Gegenteil, letztere wird mit überwältigender Mehrheit als Erfolg angesehen und man möchte sie nicht missen. Allerdings beschleicht die Ostdeutschen das Gefühl einer gewissen Geringschätzung der eigenen Identitätsgruppe im Vergleich zu den Westdeutschen. Spricht man also von Nostalgie oder „Ostalgie“, dann ist dies weniger eine Rückbesinnung auf die „gute“ sozialistische Vergangenheit als vielmehr ein gefühltes Identitätsdefizit und Abwertungsempfinden.71 Man kann wohl zu Recht von einem Zusammenspiel zwischen der Identitätshypothese und der Hypothese der relativen Deprivation ausgehen. Kritischere Haltungen zur bundes69 B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsideologien, Anm. 11, 90–91. 70 So ist die Zahl derer in den neuen Bundesländern, die jemanden kennen, der eine negative Umbrucherfahrung oder Arbeitslosigkeitserfahrung nach 1989 gemacht hat, ungleich höher als in den alten Bundesländern (siehe auch T. Faas in diesem Band). 71 Hier ist es auch interessant zu sehen, wie der Wunsch, die Stasi-Vergangenheit ruhen zu lassen, über die letzten Jahrzehnte nicht nur in den neuen, sondern auch den alten Bundesländern zugenommen hat.
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deutschen Demokratie sind damit keine Folge von Ostalgie oder „sie haben es noch nicht gelernt“, sondern eine Reaktion auf wahrgenommene Unterschiede, Ungleichheiten und empfundene Ungerechtigkeiten. Also einer Mischung aus objektiven Bedingungen, Erfahrungen und Gefühlen. Dies sichert auch den Bestand der Einstellungsdifferenzen zwischen West- und Ostdeutschland in die Zukunft hinein. Abbildung 13: Haltung zur DDR-Vergangenheit und Wiedervereinigung
Quelle: Eigene Zusammenstellung verschiedener Quellen: Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer-Extra „20 Jahre Mauerfall“; SFZ Volkssolidarität „20 Jahre friedliche Revolution“ 2010; Fokus-Studie „20 Jahre Wiedervereinigung“; Stasi-Vergangenheit = „Man sollte endlich aufhören danach zu fragen, ob jemand während des alten DDRRegimes für die Stasi gearbeitet hat oder nicht“; Deutsche Fremd = „Die Bürger im anderen Teil Deutschlands sind mir in vielem fremder als die Bürger anderer Staaten“; eigene Berechnungen Allbus 1991, 2000, 2010
Was sind die Folgen für die deutsche Demokratie: Zum ersten ist die noch stärkere Wahrnehmbarkeit des Aspektes Gerechtigkeit für die Politik hervorzuheben. Kein Politiker und keine politische Partei kann es sich leisten, dauerhaft den Eindruck zu erwecken, Ungleichheit (und Ungerechtigkeit) zu befördern – oder ihr nicht entgegenzutreten. Bestimmte Margen sozialer Ungleichheit werden mit der Begründung unterschiedlicher Leistungsbereitschaft akzeptiert, gleichzeitig müssen aber Aspekte der Bedarfsgerechtigkeit berücksichtigt werden. Zudem darf ein Schwellenwert der Ungleichheit nicht überschritten werden. Zum zweiten kann alle wohlmeinende „political Correctness“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es noch lange mit divergierenden politischen
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Anforderungen zwischen West- und Ostdeutschland zu tun haben wird. Dies wird sich auch weiterhin in Wahlergebnissen manifestieren. Zum dritten ist aufgrund der massiven Migrationsbewegungen (verbunden mit einer forcierten Überalterung in den neuen Bundesländern) eine strukturelle Verschärfung der Ost-West-Differenzen auf der sozialstrukturellen Ebene zu erwarten, die einer gesteigerten Aufmerksamkeit bedarf. Doch viertens ist – bei allen Problembeschreibungen – festzustellen, dass die Ostdeutschen in einer neuen Bundesrepublik (denn diese hat sich nach dem Umbruch insgesamt gewandelt) angekommen sind. Die (liberale) Demokratie an sich genießt Legitimität und auch die liberalen Individualrechte werden hoch geschätzt. Nur etwas sozialer und gerechter dürfte es in Deutschland sein.
5. Fazit – der Umgang mit sozialer Gerechtigkeit und deren Empfinden als Grundlage einer gemeinsamen demokratischen politischen Kultur Auch zwanzig Jahre nach dem Umbruch unterscheiden sich sowohl die Wahrnehmungen von sozialer Gerechtigkeit als auch das persönliche Gerechtigkeitsempfinden zwischen West- und Ostdeutschland. Sehen sich Ost- und Westdeutsche in Punkto Verfahrensgerechtigkeit und politischer Gerechtigkeit gleichermaßen zufriedengestellt (oder nicht), so fallen die Einschätzungen einem persönlich zukommender sozialer Gerechtigkeit in den neuen Bundesländern seit 1991 konsistent ungünstiger als in den alten Bundesländern aus (in der Regel um mehr als 20 Prozentpunkte). Auch die grundsätzlichen Forderungen der ostdeutschen Bundesbürger nach Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Absicherung seitens des Staats sind etwas drängender als in Westdeutschland. Allerdings ist die West-Ost-Differenz im „ordnungsbezogenen“ Denken über Verteilungsgerechtigkeit weit geringer als im stärker „ergebnisbezogenen“ persönlichen Gerechtigkeitsempfinden.72 Dem Gefühl, sozial ungerecht behandelt zu werden, liegen damit in Teilen unterschiedliche Verständnisse von Gerechtigkeit zugrunde. So findet sich eine stärkere Offenheit der Westbürger für das Leistungsprinzip und einzelne Hinweise deuten auf eine höhere Zuneigung zum Gleichheitsprinzip in Ostdeutschland. Soweit diese Ergebnisse überhaupt empirisch belastbar sind, fallen die Wirkungen dieser Unterschiede allerdings bei weitem nicht so stark aus wie man manchmal nach Rezeption von Medienberichten annehmen würde. Zudem nähern sich die Bürger beider Gebiete in diesen Vorstellungen seit 1990 einander Schritt für Schritt an. Und dies ist schon fast mehr als man 72 Siehe hierzu auch B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11, 98–99.
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erwarten kann, werden doch die persönlichen Gerechtigkeitseinstellungen nachweisbar stärker durch die objektiven Gegebenheiten und persönliche Erfahrungen im näheren Lebensumfeld geprägt als durch ideologische Faktoren. Da aber die sozioökonomischen Rahmenbedingungen in den neuen Bundesländern zwanzig Jahre nach dem Umbruch noch immer ungünstiger als in Westdeutschland ausfallen, sind entsprechende Rückwirkungen im Sinne von Einstellungsunterschieden nicht verwunderlich. Die gleichen Daten zeigen, dass sich das Gros der Ostdeutschen in der daraus resultierenden Wirtschaftssituation subjektiv gesehen erstaunlich gut eingerichtet hat. Man akzeptiert seine sozioökonomische Position vor dem Hintergrund einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten – und ist auch gar nicht mal so unzufrieden. Immerhin hat sich die Situation gegenüber früher für die meisten Ostdeutschen nachweislich verbessert. Und dies sehen die ostdeutschen Bürger, trotz mancher Unmutsäußerung, auch so. Gleichzeitig empfindet man eine soziale Benachteiligung gegenüber „dem Westen“. Oder anders gesagt: Die Ostdeutschen sehen sich im Vergleich zu den Westdeutschen als Gruppe relativ depriviert. Und dieses Gefühl der eigenen „Zurücksetzung“ lässt sich in Diskussionen durch Verweise auf die objektiven sozioökonomischen Nachteile problemlos legitimieren. Zudem widerspricht sie den Versprechungen westdeutscher Politiker zum Umbruchzeitpunkt. Bemerkenswert ist die Kontinuität der Differenzen in den persönlichen Gerechtigkeitseinstellungen: Es finden sich seit 1992 keine substantiellen Annäherungsprozesse. Nach wie vor sehen sich zwei Drittel der Ostdeutschen als in ungerechter Weise am deutschen Lebensstandard beteiligt an. An dieser Einschätzung dürfte sich vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung auch in näherer Zukunft wohl nichts ändern. Da, wie oben gezeigt, einfache Verweise auf ein Überleben des DDR-Etatismus genauso unangebracht scheinen, wie für rein situative Erklärungen, ist der Grund woanders zu suchen. Und in der Tat besitzen vielmehr Identitätsprozesse und gruppenbezogene Vergleiche eine große, wenn nicht die größte Bedeutung für die persönlichen Gerechtigkeitseinschätzungen. Was nicht heißt, dass Differenzen in den Gerechtigkeitsideologien oder sozioökonomischen Rahmenbedingungen vollständig irrelevant wären. Dieser Zustand ist für das politische System der Bundesrepublik nicht unproblematisch. Zum einen wird gerade vom Staat, also der Politik erwartet, dass er für sozialen Ausgleich sorgt. Dies ist seine Aufgabe, wird doch seitens des (freien) Marktes kein Interesse an sozialer Gerechtigkeit erwartet. Dort dominieren das reine und ungehemmte Leistungsprinzip und das Profitstreben. Die Erfahrungen der jüngsten Finanzkrise dürften diese Einschätzungen kaum verringert, sondern eher vergrößert haben. Das Leistungsprinzip ist auch bei den
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Bürgern anerkannt und als Verteilungsmechanismus legitimiert.73 Gleichzeitig – und dies sieht man hierzu nicht im Widerspruch stehend – soll in einem gewissen Umfang sozialer Ausgleich erfolgen. Der geforderte Ausgleich bemisst sich an zum Leben notwendigen Mindeststandards und dem Bedarfsprinzip. Nicht nostalgischer Egalitarismus, wie manchmal behauptet wird, sondern praktischer Sozialausgleich mit Mindestsicherung ist das Ziel der meisten Ostdeutschen. Und in diesem Wunsch unterscheiden sie sich gar nicht mal so stark von den Westdeutschen. Fast alle Deutschen wollen eine soziale Marktwirtschaft, die das Leistungsprinzip mit dem Bedarfsprinzip sinnvoll verbindet. Nicht vollständige Gleichheit in der Güterverfügbarkeit, sondern eine staatlich gesicherte Chancengleichheit im Sinn von Teilhabemöglichkeiten in Kombination mit einer Mindestsicherung für aufgrund bestimmter Gründe deprivierter Mitbürger ist das Ziel der Deutschen in Ost- und Westdeutschland. Und dies fordert man vom Staat und den Vertretern der Demokratie. Da ist es dann wenig überraschend, wenn persönliche Gerechtigkeitseinstellungen ein zentraler Prädiktor für die politische Unterstützung der Demokratie – und wahrscheinlich auch nichtdemokratischer Systeme – sind. Teilweise sogar stärker als andere Begründungsindikatoren bestimmt sie die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie. Dabei wird nicht die Demokratie als generell ungerecht angesehen, sondern die aktuell Herrschenden. Damit unterscheidet sich dieser Einflussfaktor der politischen Kultur von rein auf objektiven sozioökonomischen Bedingungen beruhenden Gründen, aber auch von dem klassischen Verständnis der politischen Kulturforschung mit ihrem Bezug auf die Langlebigkeit von einmal in der frühen Sozialisation erworbenen Werten. Dies erklärt auch die Responsivität der Gerechtigkeitseinstellungen auf Erfahrungen im Lebenslauf.74 Gerechtigkeitseinstellungen repräsentieren allem Anschein nach immer eine Mischung aus Reaktion auf Erlebtes und einem grundsätzlichen Bild dessen, wie die Welt sein sollte. Letzteres ist ein typisches Verständnis der normativen Ansprüche aller Gerechtigkeitskonzepte. Durch diese Mischung konterkariert der Einbezug von Gerechtigkeitseinstellungen in Erklärungsmodelle der politischen Kulturforschung die oft etwas zu einfache Annahme eines rein aus der Sozialisation stammenden – und dann langfristig beständigen – Einstellungsgeflechtes, ohne sie dabei grundsätzlich zu verwerfen. Einstellungen und objektive Rahmenbedingungen werden in diesem Indikator kombiniert und sind sowohl offen für Wandel als auch für systemische Persistenz. Und Gerechtigkeit ist von hoher Relevanz für jede Demokratie. So steht das Ideal Gerechtigkeit gerade auch in liberalen Demokratien als eine wichtige Forderung neben der nach individueller Freiheit. Zumeist wird zwar letztere als 73 Siehe A. Klein/A. Zick, Abwertung, Anm. 44, 132. 74 Siehe insbesondere B. Wegener/S. Liebig, Gerechtigkeitsvorstellungen, Anm. 11.
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die grundlegende Basis der Demokratie angenommen, allerdings impliziert Freiheit dabei zumeist schon Gerechtigkeit auf der politischen und juristischen Ebene. Verstöße gegen Gerechtigkeitsprinzipien werden nur in engen Grenzen akzeptiert. Dabei ist Gerechtigkeit gegenüber Gleichheit zu differenzieren. Ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit im Sinne sozialer Ungleichheit hat in marktwirtschaftlich ausgerichteten liberalen Demokratien einen gewissen Akzeptanzgrad. Ist dieser Grad aber überschritten, dann wirkt sich dies deutlich negativ auf die Beurteilung der Demokratie aus. Dies ist in der Bundesrepublik bislang nicht der Fall, doch die Politiker und Parteien dürfen diesen Schwellenwert auch nicht aus dem Blick verlieren. Was ist daraus zu folgern? Zum einen, dass die Herstellung eines gewissen Maßes an sozialer Gerechtigkeit zu den Kernaufgaben jeder Demokratie zählt. Sichtbare Verstöße gegen Gerechtigkeitsprinzipien werden zuerst den Regierenden, aber – sollten sie länger bestehen bleiben – dann der Demokratie zugeschrieben. Damit wird auch klar, die Forderung der Ostdeutschen (und auch vieler Westdeutscher) nach mehr sozialer Gerechtigkeit ist keinesfalls eine nostalgische Reflexion, im Sinne eines „ich will die DDR zurück“. So stimmen auch gerade mal ein Zehntel der Ostdeutschen nach dem „Deutschen Wertemonitor“ oder anderen Umfragen dieser Frage zu. Und über 80 Prozent halten die Wiedervereinigung für richtig (Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer-Extra, 20 Jahre Mauerfall, 11/2009). Was die Bundesbürger wollen ist ein Deutschland, welches persönlichen Aufstieg zulässt, Leistung belohnt, dabei aber den sozial Schwachen ein lebenswertes Auskommen sichert und Ungerechtigkeiten abbaut. Wird diesen Wünschen seitens der Politik nicht entsprochen, dann ist Politiker, Parteien- und Institutionenverdrossenheit eine fast zwangsläufige Folge. Gelingt es aber die Balance zwischen sozialem Ausgleich und Liberalität zu finden, dann ist es um die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik besser bestellt als es vielen Kritikern manchmal scheint.
Thorsten Faas
Arbeitslosigkeitserfahrungen in Ost- und Westdeutschland 1. Einleitung Mittlerweile können wir auf über 20 Jahre Deutsche Einheit zurückblicken. Bei allen Facetten, die mit dem Ereignis selbst und den danach einsetzenden Entwicklungen verbunden sind, sticht eine Entwicklungslinie doch besonders hervor: die dramatische Entwicklung auf dem (ostdeutschen) Arbeitsmarkt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat aus Anlass des Jahrestages der Wiedervereinigung 2011 in einer Videobotschaft noch einmal betont, dass trotz allem, was in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit erreicht worden sei, auch weiterhin gelte, dass die Arbeitslosigkeit in den fünf neuen Bundesländern noch immer fast doppelt so hoch sei wie in den alten Bundesländern; auch auf die biographischen Brüche, die damit für viele Menschen verbunden sind, hat sie verwiesen. Nach den Zahlen des Arbeitsmarktberichts der Bundesagentur für Arbeit für September 2011 etwa lag die Arbeitslosenquote für Deutschland insgesamt bei 6,6 Prozent, in Westdeutschland bei 5,7, in Ostdeutschland dagegen bei 10,4 Prozent. Eine solche Perspektive auf Arbeitslosigkeit, die sich auf Arbeitslosenquoten und durchschnittliche Arbeitslosenzahlen konzentriert, dominiert die öffentliche Diskussion über den Gegenstand. Routinemäßig werden allmonatlich die neuesten Zahlen aus Nürnberg berichtet. Dabei ist diese Sichtweise auf Arbeitslosigkeit eher volkswirtschaftlich orientiert; sie fragt nach dem Volumen an Arbeitskraft, das der Volkswirtschaft zwar prinzipiell zur Verfügung steht, das aber nicht genutzt wird.1 Besonders deutlich wird dies, sobald man von einer Monats- zu einer Jahresperspektive wechselt. Wenn es etwa im Bericht der Bundesagentur für Arbeit zum „Arbeitsmarkt 2010“ heißt: „Im Jahresdurchschnitt 2010 waren in Deutschland 3.238.000 Menschen arbeitslos gemeldet“, dann bedeutet dies letztlich, dass die deutsche Volkswirtschaft 2010 insgesamt 3.238.000 Personenjahre an Arbeit in diesem Zeitraum nicht genutzt hat, die verfügbar gewesen wären. Über die Zahl der Personen, die dieses Volumen getragen haben, die also tatsächlich 2010 für einen mehr oder minder langen Zeitraum von Arbeitslosigkeit betroffen waren, sagt das Jahresmittel nichts aus. Joseph Schumpeter hat dies in anderem Zusammenhang 1 U. Cramer, Konzeptionelle Probleme der Arbeitsmarktstatistik aus der Sicht der Arbeitsmarktforschung, in: Allgemeines Statistisches Archiv 74 (1990), 1–18.
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einmal mit der Metapher eines Omnibusses versinnbildlicht, „der zwar immer besetzt ist, aber von immer anderen Leuten“.2 Eine Konsequenz jedenfalls ist damit unmittelbar verbunden, nämlich dass die Zahl persönlich betroffener Personen in einem Jahr über dem (volumenorientierten) Jahresmittel liegt. Aus sozialwissenschaftlicher – und auch aus politischer – Sicht ist eine solche Perspektive, die individuelle Erfahrungen von Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt des Interesses stellt, von mindestens ebenso großer, wenn nicht gar von größerer Bedeutung als eine volumenorientierte, volkswirtschaftliche Sicht der Dinge. Arbeitslosigkeit ist eben nicht bloß ein Phänomen, das eine Volkswirtschaft insgesamt charakterisiert. Arbeitslosigkeit ist immer auch ein höchst bedeutsames biographisches Ereignis für Individuen, die diese Arbeitslosigkeit erfahren. Gleichwohl ist festzustellen, dass diese Sichtweise in der öffentlichen Diskussion mitunter sehr kurz kommt. Unsere Perspektive auf Arbeitslosigkeit ist daher einseitig und verzerrt; dies gilt gerade auch mit Blick auf die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in Ost- und Westdeutschland im Zeitraum der zurückliegenden 20 Jahre. Wenn wir eine solche sozialwissenschaftliche Perspektive auf Arbeitslose – oder noch präziser formuliert: Menschen mit persönlichen Arbeitslosigkeitserfahrungen – anlegen, dann stellen sich im Vergleich zur ökonomischen Perspektive sofort gänzlich andere Fragen: Wie viele Menschen werden überhaupt innerhalb eines bestimmten Zeitraums arbeitslos? Wie lange bleiben sie arbeitslos? Werden sie mehrfach arbeitslos? Haben sie Angst davor, arbeitslos zu werden? Und vor allem auch: Was machen all diese verschiedenen Formen von Arbeitslosigkeitserfahrungen mit ihnen? Um ein umfassendes Bild davon zu bekommen, wie Arbeitslosigkeit eine Gesellschaft berührt, sollte man im ersten Schritt die Individuen, die am eigenen Leibe Arbeitslosigkeitserfahrungen machen, in den Mittelpunkt rücken. Man sollte die Perspektive aber noch in einem zweiten Sinne erweitern: Die Menschen, die unmittelbare Arbeitslosigkeitserfahrungen machen, sind schließlich keine isolierten Individuen. Sie sind vielmehr in zahlreiche Kontexte eingebunden, zum Beispiel in ihre Familien- und Freundeskreise, deren Mitglieder auf diesem Wege vermittelte Arbeitslosigkeitserfahrungen machen.3 Auch diese Perspektive, wie also individuell erfahrene Arbeitslosigkeit die Gesellschaft auch über die unmittelbar Betroffenen hinaus berührt, fehlt in der öffentlichen Diskussion in aller Regel.
2 J. A. Schumpeter, Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, Tübingen 1985. 3 Siehe hierzu ausführlicher: T. Faas, Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten: Direkte und indirekte Wirkungen auf Wahlbeteiligung und Parteipräferenzen in Ost- und Westdeutschland, Baden-Baden 2010.
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Wenn wir mit Blick auf den Arbeitsmarkt über Unterschiede zwischen Ost und West in den zurückliegenden 20 Jahren sprechen, dann sollten die Menschen in Ost und West im Mittelpunkt stehen. Welche unmittelbaren, aber auch welche mittelbaren Erfahrungen von Arbeitslosigkeit haben sie in diesem Zeitraum gemacht? Die Antworten auf diese Fragen liefern nicht nur ein angemesseneres Bild davon, wie Arbeitslosigkeit die Gesellschaft in Ost und West berührt hat. Erst mit solchen Antworten können wir auch umfassend verstehen, wie Arbeitslosigkeitserfahrungen die Gesellschaft in Ost und West verändert haben. Schließlich sind sowohl objektive Lebenschancen als auch die subjektive Lebenszufriedenheit jedes Einzelnen weiterhin eng mit Arbeitsmarktund Arbeitslosigkeitserfahrungen verknüpft: Dass solche Erfahrungen etwa Gerechtigkeitswahrnehmungen – bezogen auf Einzelne ebenso wie bezogen auf die Gesellschaft insgesamt – und darüber vermittelt auch Einstellungen zu politischen Akteuren bis hin zum politischen System insgesamt berühren können, ist in der einschlägigen Forschung hinreichend gezeigt worden.4 Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden aufzeigen, wie weit verbreitet Arbeitslosigkeitserfahrungen in einem weit verstandenen Sinne in Ostund Westdeutschland in der jüngeren Vergangenheit gewesen sind. Dazu werde ich zunächst noch einmal detaillierter auf begriffliche Grundlagen eingehen, um darauf aufbauend ein Raster entwickeln zu können, aus dem verschiedene Formen von direkten Arbeitslosigkeitserfahrungen ableitbar sind. Darauf folgt eine Darstellung der Verbreitung dieser verschiedenen Formen, ehe ich mich anschließend vermittelten Arbeitslosigkeitserfahrungen zuwende. Ich schließe mit einem Fazit und Ausblick.
2. Arbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeitserfahrungen: Grundlagen Arbeitslosigkeit ist ein vergleichsweise junges Phänomen; „die Figur des ‚Arbeitslosen‘ ist nicht älter als hundert Jahre.5 Zuvor gab es die Armen, die Bettler und Vagabunden; es gab die Ausgestoßenen, die Vertriebenen und diejenigen ohne ‚Heim und Herd‘, die regelmäßig die Spitäler, Bettlerdepots und 4 Siehe hierzu T. Faas, Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten, Anm. 3 sowie den Beitrag von G. Pickel in diesem Band. 5 M. Promberger, Eine kurze Geschichte der Arbeitslosigkeit: Teil 1 – Vom Mittelalter bis zur Industrialisierung, in: Arbeit und Beruf (2005), 1-2; M. Promberger, Eine kurze Geschichte der Arbeitslosigkeit. Teil 2: Von der Gründerzeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Arbeit und Beruf (2005), 33-34; M. Promberger, Eine kurze Geschichte der Arbeitslosigkeit. Teil 3: Von der Ära des Wirtschaftswunders bis zum Jahr 2000, in: Arbeit und Beruf (2005), 65-66.
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Arbeitshäuser bevölkerten“. 6 Dass man diese Personen dennoch nicht als Arbeitslose bezeichnet hat, liegt im Fehlen des entsprechenden Konstrukts in den Köpfen der Menschen und folglich dem Fehlen einer entsprechenden Begrifflichkeit begründet. Dies war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Fall, ehe „fast zeitgleich in England, Frankreich, Deutschland und der Westküste der USA die ‚Arbeitslosigkeit‘ ... entdeckt wurde“.7 In Deutschland ist Arbeitslosigkeit mit der 1892 gegründeten Kommission für Arbeiterstatistik „zum legitimen und messbaren Gegenstand der Diskussion“ geworden.8 Arbeitslosigkeit konnte damit individuell erlebt, aber auch in weiteren Kontexten erfahren werden. Dieser kurze historische Exkurs weist auf zwei wichtige Punkte hin: Zunächst einmal zeigt er, dass Arbeitslosigkeit nichts Naturgegebenes, sondern eine soziale Konstruktion ist, die sich erst durch entsprechende Begriffe und Definitionen konstituiert. Zweitens ist Arbeitslosigkeit nicht nur ein junges, sondern – ganz im oben skizzierten Sinne – ein vielschichtiges Phänomen. Sie ist auf sehr verschiedenen Wegen erfahrbar: Einerseits ist Arbeitslosigkeit im Sinne der „Figur des Arbeitslosen“ ein Merkmal von Individuen: Eine Person ist arbeitslos oder eben nicht, wobei sich dahinter wiederum höchst unterschiedliche individuelle Verlaufsformen verbergen können – von kurzzeitiger bis hin zu Dauerarbeitslosigkeit. Außer solchen Formen der individuellen Betroffenheit ist Arbeitslosigkeit zugleich ein Merkmal von sozialen Einheiten und Aggregaten. Diese können sehr verschiedener Größe und in sehr unterschiedlichem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sein. Angefangen beim eigenen Haushalt lässt sich dies über Freunde, kleinere und größere regionale Kontexte (wie Stadtteile, Gemeinden, Städte, Kreise oder Bundesländer) bis zur gesamtstaatlichen Ebene erweitern. Arbeitslosigkeit kann somit unmittelbar am eigenen Leibe, aber ebenso mittelbar über soziale Kontexte erfahren werden, was auch begriffliche Differenzierungen, die in der Literatur vorgeschlagen worden sind, belegen: Rattinger etwa unterscheidet zwischen Kontext- und Individualeffekt, Bürklin und Wiegand trennen Kontext von Betroffenheit.9 6 M. Bohlender, Der lange Weg zum Arbeitsamt: Zur Geschichte des „erzwungenen Müßiggangs“, in: Vorgänge: Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 43 (2004), 34–45. 7 M. Bohlender, Der lange Weg zum Arbeitsamt, Anm. 6, 35. 8 M. Bohlender, Der lange Weg zum Arbeitsamt, Anm. 6, 36. 9 H. Rattinger, Politisches Verhalten von Arbeitslosen: Die Bundestagswahlen 1980 und 1983 im Vergleich, in: D. Oberndörfer/H. Rattinger/K. Schmitt (Hg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertewandel: Folgen für das politische Verhalten in der BRD, Berlin 1985, 97-130; W. P. Bürklin,/J. Wiegand, Arbeitslosigkeit und Wahlverhalten, in: W. Bonß/R. G. Heinze (Hg.), Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt am Main 1984, 273–297.
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Gleichwohl bleibt der einzelne Arbeitslose der Ausgangspunkt auch von möglichen Kontexterfahrungen. Was aber heißt es letztlich, „arbeitslos“ zu sein? Als abstrakte Definition lässt sich festhalten, dass derjenige als arbeitslos gilt, der keine entlohnte Arbeit hat, obwohl er gern welche hätte und auch haben dürfte.10 Eine solch abstrakte Definition kann allerdings nicht die Grundlage einer umfassenden Arbeitsmarktstatistik sein; dazu muss der „(allgemeine) Begriff ‚Arbeitslosigkeit‘“ in zugehörige „Messkonzepte“ übersetzt werden.11 Nach der Definition, die die Bundesagentur für Arbeit aktuell verwendet, sind – siehe im Dritten Sozialgesetzbuch die Paragraphen 16 und 119 – Arbeitslose Arbeitssuchende, was die Suche nach einer mehr als siebentägigen Beschäftigung, eine (persönliche) Meldung bei der Arbeitsagentur als arbeitslos sowie die Fähigkeit und Erlaubnis zur Ausübung der gesuchten Tätigkeit impliziert. Sind all diese Bedingungen erfüllt, zählt eine Person im Sinne der Bundesagentur für Arbeit als arbeitslos.12 Abbildung 1 zeigt die Zahl der Personen, auf die diese Definition der Bundesagentur für Arbeit in den einzelnen Monaten der Jahre 1991 bis 2010 jeweils zugetroffen hat. Diese „Arbeitslosenzahl“ wird der Gesellschaft allmonatlich zurückgemeldet, Rundfunk- wie Printmedien berichten routinemäßig darüber, wobei zugleich „zahlenmagische Effekte“13 gefunden wurden. Gerade das Überschreiten „psychologisch wichtiger und plakativ darstellbarer Grenzen“14 führe zu einer besonders umfangreichen Berichterstattung. 10 K. Paul/K. Moser, Negatives psychisches Befinden als Wirkung und als Ursache von Arbeitslosigkeit: Ergebnisse einer Metaanalyse, in: J. Zempel/J. Bacher/K. Moser (Hg.), Erwerbslosigkeit: Ursachen, Auswirkungen und Interventionen, Opladen 2001, 83-110. 11 J. Sauermann, Registrierte Arbeitslosigkeit oder Erwerbslosigkeit: Gibt es das bessere Messkonzept?, in: Wirtschaft im Wandel (2005), 104-108. 12 Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass auch diese Definition im Zeitverlauf mitunter Veränderungen – gerade auf operationaler Ebene – unterworfen war. Darauf möchte ich an dieser Stelle allerdings nicht näher eingehen. Siehe hierzu etwa: I. Kolf, Zahlen können trügen – Änderungen der Arbeitslosenstatistik durch die Hartz-Gesetze und die Erwerbsstatistikverordnung, in: Soziale Sicherheit – Zeitschrift für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik 53 (2004), 254-262; G. Raddatz, Die Arbeitslosenstatistik – zwischen konzeptioneller Unschärfe und politischer Manipulierbarkeit, Berlin 2004; S. Rässler/H. Kiesl, Zur Erfassung der Arbeitslosigkeit: aktuelle Problemstellungen im Rahmen der Statistiken nach dem ILO- und dem SGB-Konzept, in: H. W. Brachinger/ E. Schaich (Hg.): Wirtschaftsstatistik, München 2006, 227-246. 13 M. Hagen, Erwerbslosigkeit und die Agenda-Setting-Hypothese: Über den Einfluss der Medien auf die Wahrnehmung eines privaten und öffentlichen Problems, in: J. Zempel/J. Bacher/K. Moser (Hg.), Erwerbslosigkeit: Ursachen, Auswirkungen und Interventionen, Opladen 2001, 207–231. 14 O. Quiring, Fernsehnachrichten über die Arbeitslosigkeit und die Wahlpräferenz der Bevölkerung: Eine Zeitreihenanalyse 1994-1998, in: W. Donsbach/O. Jandurra (Hg.), Chancen und Gefahren der Mediendemokratie, Konstanz 2003, 367-385.
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Betrachtet man die in Abbildung 1 dargestellte Entwicklung unter diesem Blickwinkel, so wurden in Westdeutschland – nachdem die Zahl von zwei Millionen Arbeitslosen dort bereits im Jahr 1982 überschritten wurde – erstmals im Januar 1997 mehr als drei Millionen Arbeitslose gezählt. In Ostdeutschland wurde schon kurz nach der Wiedervereinigung 1990 die Zahl von einer Million Arbeitslosen überschritten; sie bewegte sich Ende der 1990er Jahre sowie noch einmal im Jahr 2005 auf die Zahl von zwei Millionen zu, ohne diese Grenze allerdings jemals zu überschreiten. In jüngerer Vergangenheit konnte die Zahl von einer Million sogar wieder unterschritten werden. Bei gesamtdeutscher Betrachtung wurde die Grenze von drei Millionen Arbeitslosen schließlich im Frühjahr 1992 erstmals erreicht, im Januar 1996 schließlich die Marke von vier, im Januar 2005 – unter besonderer öffentlicher Aufmerksamkeit – die Marke von fünf Millionen Arbeitslosen. In der Folgezeit konnten all diese Werte aber auch wieder unterschritten werden, jüngst sogar die Drei-Millionen-Grenze. Abbildung 1: Arbeitslosenzahlen 1991–2010 (Monatswerte)
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
So also sieht die Realität auf dem deutschen Arbeitsmarkt, wie sie die Statistik der Bundesagentur für Arbeit widerspiegelt, aus. Würde man anstelle der absoluten Zahl Arbeitslosenquoten verwenden, resultierte ein praktisch identisches Verlaufsbild. Entscheidend im hiesigen Kontext ist nun allerdings, dass beide Perspektiven – sowohl basierend auf absoluten Zahlen als auch basierend auf
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Arbeitslosenquoten – ein volumenorientiertes Bild der Arbeitslosigkeit zeichnen. Abbildung 1 sagt uns letztlich etwas darüber, wie viele Personenjahre an Arbeit, die grundsätzlich zur Verfügung gestanden hätten, die deutsche Volkswirtschaft in den Jahren von 1991 bis 2010 nicht genutzt hat. Wir erfahren nichts darüber, wie viele Personen in welcher Form dieses Volumen getragen haben, auch wenn die Formulierung „Arbeitslosenzahl“ das suggerieren mag. Die Brücke von einer volumen- zu einer tatsächlich personenbezogenen Betrachtung lässt sich nun anhand einer mathematischen Zerlegung der Arbeitslosenquote schlagen. Diese Quote ergibt sich nämlich (zumindest approximativ) aus dem Produkt des individuellen Risikos, arbeitslos zu werden, sowie der Dauer und der Anzahl individueller Arbeitslosigkeitsperioden.15 Mit diesen drei Komponenten stehen Prozesse individueller Arbeitslosigkeit16, bestehend aus dem Eintritt, dem Verbleib und gegebenenfalls auch dem Wiedereintritt einzelner Personen in die Arbeitslosigkeit, im Vordergrund. Diese drei Komponenten können damit auch die Grundlage einer sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Arbeitslosigkeit sein, die allerdings noch um eine weitere Komponente erweitert werden sollte: Auch die Angst vor dem Eintritt in die Arbeitslosigkeit ist eine relevante Erfahrungsform, was etwa Sverke et al. aus der allgemeinen Erkenntnis folgern, dass „anticipation of a stressful event represents an equally important, or perhaps even greater, source of anxiety than the actual event“.17 Ehe wir uns auf dieser Basis nun der Analyse der einzelnen Komponenten der zerlegten Arbeitslosenquote im Detail widmen können, ist noch eine letzte (methodische) Vorbemerkung notwendig. Abbildung 1 basiert auf der amtlichen Statistik der Bundesagentur für Arbeit, die wiederum auf prozessgenerierten Daten aufbaut. Im Gegensatz dazu soll im Folgenden auf Daten aus Bevölkerungsumfragen – allen voran der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) – zurückgegriffen werden und dies aus zwei Gründen: Erstens liefert die amtliche Statistik keine umfassenden Informationen bezogen auf die einzelnen Komponenten des gerade abgeleiteten Rasters aus Eintritt (einschließlich der Angst davor), Dauer und Wiedereintritt in die Arbeitslosigkeit; insbesondere mit Blick auf die Angst vor Arbeitslosigkeit finden wir dort praktisch keine Informationen. Zweitens muss in einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung das Thomas-Prinzip berücksichtigt werden, wonach 15 F. Egle, Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote, Dauer der Arbeitslosigkeit und Betroffenheit von Arbeitslosigkeit, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 10 (1977), 224–228; W. Franz, Arbeitsmarktökonomik, Berlin 2003. 16 U. Cramer/W. Karr/H. Rudolph, Über den richtigen Umgang mit der Arbeitslosen-Statistik, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 19 (1986), 409–421. 17 M. Sverke/J. Hellgren/K. Näswall, No Security: A Meta-Analysis and Review of Job Insecurity and Its Consequences, in: Journal of Occupational Health Psychology 7 (2002), 242-264.
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gilt: „If men define situations as real, they are real in their consequences“.18 Auf die subjektive Seite von Arbeitslosigkeitserfahrungen kommt es demnach an – und auch diese lässt sich durch Bevölkerungsumfragen besser abbilden.
3. Unmittelbare Erfahrungen von Arbeitslosigkeit Aufbauend auf diesem Raster können wir uns damit der Frage zuwenden, wie weit verbreitet die verschiedenen Formen von Arbeitslosigkeitserfahrungen in der Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland sind. Zwar haben die oben skizzierten Arbeitslosenzahlen bereits einen ersten Überblick zur Situation auf dem Arbeitsmarkt geliefert, aber diesen gilt es nun systematisch im Sinne des skizzierten Rasters zu vervollständigen: Der Eintritt in die Arbeitslosigkeit ist dabei ebenso zu berücksichtigen wie der Verbleib in der Arbeitslosigkeit; betrachtet man Erwerbsbiographien insgesamt, gilt es frühere Arbeitslosigkeitserfahrungen ebenso zu berücksichtigen wie befürchtete zukünftige – und dies alles aus der subjektiven Perspektive der Menschen. Wenn wir uns im ersten Schritt dem Eintritt einzelner Personen in die Arbeitslosigkeit widmen, so kann es nicht genügen, nur einen einzigen Zeitpunkt zu betrachten; stattdessen ist ein Blick auf längere Zeiträume notwendig, um für diese Zeiträume prüfen zu können, ob eine Person innerhalb dieses Zeitraums einmal arbeitslos geworden ist, ob sie also eigene Erfahrungen von Arbeitslosigkeit gemacht hat. Die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus), die seit 1980 in einem Turnus von zwei Jahren in Deutschland erhoben wird19, beinhaltet eine Frage, die dieses Kriterium erfüllt. Dort werden nämlich auch all jene Befragten, die aktuell nicht arbeitslos sind, gefragt, ob sie in den jeweils zurückliegenden zehn Jahren (vom Befragungszeitpunkt aus gesehen) einmal arbeitslos gewesen sind. Daraus lässt sich unmittelbar ein Indikator ableiten, der anzeigt, ob eine Person in diesem Zeitraum mindestens einmal arbeitslos war, ob also – im Sinne des Rasters – Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Abbildung 2 zeigt die entsprechenden Ergebnisse für diese erste Erfahrungsform von Arbeitslosigkeit und stellt sie zugleich dem (deutlich kleineren) Anteil derer gegenüber, die zum Befragungszeitpunkt aktuell arbeitslos sind.
18 W. I. Thomas/D. S. Thomas, The Child in America: Behavior Problems and Programs, New York 1928. 19 Zusätzlich gab es eine Befragung im Jahre 1991 unmittelbar nach der Wiedervereinigung.
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Abbildung 2: Verbreitung eigener Arbeitslosigkeitserfahrungen (Anteil der Befragten, die zum Erhebungszeitpunkt bzw. innerhalb der jeweils zurückliegenden zehn Jahre einmal arbeitslos waren)
Quelle: Allbus 1991–2010
Wie diese Ergebnisse zeigen, haben eigene Erfahrungen von Arbeitslosigkeit im Verlauf der vergangenen rund 20 Jahre im Westen Deutschlands und erst recht im Osten Deutschlands zunächst deutlich zugenommen. Blickt man auf den Anteil der zum jeweiligen Erhebungszeitpunkt aktuell Arbeitslosen, so schwankt dieser im Westen Deutschlands zwischen zwei (1982, 1990) und fünf Prozent (2006), jeweils bezogen auf die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren.20 Gleiches gilt – wenn auch auf deutlich höherem Niveau – für den Osten Deutschlands: Aktuell arbeitslos waren dort zwischen 8 (1991) und 18 Prozent (1998). Dass und in welchem Ausmaß unmittelbare Erfahrungen von Arbeitslosigkeit auf individueller Ebene in den betrachteten Zeiträumen tatsächlich zugenommen haben, zeigt erst der Übergang von einer zeitpunkt- zu einer zeitraumbezogenen, von einer volkswirtschaftlichen zu einer sozialwissenschaftlichen 20 Die Logik dieser Werte entspricht insofern der Logik der Arbeitslosenquoten der Bundesagentur für Arbeit. Hier liegt der Fokus auf den aktuell Betroffenen. Gleichwohl unterscheidet sich die Basis: Die Bundesagentur bezieht die Zahl der Arbeitslosen auf die Zahl der Erwerbspersonen, um eine Quote zu bestimmen; hier wird als Basis die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren insgesamt herangezogen.
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Betrachtung. Wie skizziert, erlauben die Allbus-Erhebungen auch diese Betrachtung, da auch Personen, die aktuell nicht arbeitslos sind, nach Arbeitslosigkeitserfahrungen in den zurückliegenden zehn Jahren gefragt werden. Für West- wie für Ostdeutschland zeigt diese Betrachtung deutliche Anstiege, die im Westen eher wellenförmig, im Osten dagegen lange Zeit eher monoton verlaufen. Hatten im Westen Deutschlands 1991 nur 14 Prozent aller Befragten eigene Arbeitslosigkeitserfahrungen (in den jeweils zurückliegenden zehn Jahren) sammeln müssen, sind dies in den jüngeren Erhebungen rund 20 Prozent. Im Osten Deutschlands ist der Anteil von einem Niveau von 11 Prozent 1991 ausgehend auf rund 40 Prozent nach oben geschnellt; erst in den jüngeren Erhebungen ist hier wieder eine gewisse Entspannung erkennbar. Allerdings gilt selbst in den jüngeren Erhebungen noch immer: Mit rund 35 Prozent hat mehr als ein Drittel der Menschen ab 18 Jahren innerhalb eines Jahrzehnts Arbeitslosigkeit erfahren müssen. Nun ist der Eintritt in die Arbeitslosigkeit der Beginn eines Prozesses, der sich über einen mehr oder minder langen Zeitraum erstrecken kann. Unterschiede in der Erfahrung eigener Arbeitslosigkeit sowie in den damit verbundenen Konsequenzen ergeben sich somit nicht nur aufgrund unterschiedlicher Zugangsraten, sondern ebenso aufgrund unterschiedlich langer Verweildauern in der Arbeitslosigkeit. Von der gerade skizzierten Betroffenheit von Arbeitslosigkeit (im Sinne des Zugangs) ist demnach die Intensität der Betroffenheit (im Sinne der Dauer) zu unterscheiden.21 Dies betrifft zunächst eine mögliche aktuelle Phase der Arbeitslosigkeit. Allerdings beschränkt sich die Dauer unmittelbar erfahrener Arbeitslosigkeit nicht zwangsläufig auf die aktuelle Arbeitslosigkeitsperiode; sie kann sich ebenso auf die Dauer verschiedener Arbeitslosigkeitsphasen im Laufe einer Erwerbsbiographie erstrecken. So verstanden ergibt sich die Intensität eigener Arbeitslosigkeitserfahrungen aus der Dauer einzelner Arbeitslosigkeitsperioden sowie der Anzahl der Perioden (im Sinne der Mehrfacharbeitslosigkeit), die beide bereits oben als Bestandteile der zerlegten Arbeitslosenquote identifiziert worden sind. Wie sieht die erfahrene Dauer der Arbeitslosigkeit, die Betroffene in Umfragen angeben, nun empirisch aus? Wer sitzt wie lange im Bus der Arbeitslosen, um es mit Schumpeters Metapher zu formulieren? Auch zur Beantwortung dieser Frage kann man auf die Allbus-Erhebungen zurückgreifen. Dort nämlich werden Personen, die in den zurückliegenden zehn Jahren irgendwann einmal selbst arbeitslos waren, gefragt: „Wie lange waren Sie 21 W. Ludwig-Mayerhofer, Familiale Vermittlung sozialer Ungleichheit: Vernachlässigte Probleme in alter und neuer Ungleichheitsforschung, in: P. A. Berger/P. Sopp (Hg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, 155-177.
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insgesamt in den letzten zehn Jahren arbeitslos?“, verbunden mit dem Hinweis, gegebenenfalls alle Perioden aufzuaddieren, wenn ein Befragter mehr als einmal arbeitslos gewesen ist. Abbildung 3: Entwicklung der mittleren Dauer eigener Arbeitslosigkeit nach aktuellem Erwerbsstatus
Quelle: Allbus 1991–2010; Basis sind Befragte, die in den jeweils zurückliegenden zehn Jahren mindestens einmal arbeitslos waren.
Abbildung 3 liefert die entsprechenden Befunde auf der Basis der AllbusErhebungen seit 1991. Sie zeigt die Entwicklung der mittleren (kumulierten) Arbeitslosigkeitsdauer bei aktuell arbeitslosen Personen im Sinne der bisherigen Dauer, berücksichtigt aber zugleich die vollendete Dauer bei Nicht-Arbeitslosen, die in den zurückliegenden zehn Jahren nach eigenen Angaben auch mindestens einmal arbeitslos gewesen waren. Dabei wird nochmals zwischen aktuell erwerbstätigen und aktuell nicht-erwerbstätigen Personen, die dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) zur Verfügung stehen, unterschieden. Wie gleich oder ungleich ist nun die Intensität von Arbeitslosigkeitserfahrungen verteilt? Wie leicht ist es, den Zustand der Arbeitslosigkeit wieder zu verlassen, sofern er einmal eingetreten ist? Der Blick auf die rechte Hälfte der Abbildung mit den Ergebnissen für Westdeutschland zeigt, dass sich für Personen, die aktuell einer Erwerbstätigkeit
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nachgehen, im betrachteten Zeitraum von 1991 bis 2010 kaum etwas verändert hat: Sofern sie im Laufe ihrer Erwerbsbiographie einmal arbeitslos geworden sind, so dauerte diese Phase der Arbeitslosigkeit im Schnitt etwa ein Jahr. Dies galt im Jahr 1991 ebenso wie im Jahr 2010. Im Gegensatz zu dieser nahezu unveränderten Situation bei aktuell Erwerbstätigen hat sich die Situation bei den anderen beiden hier betrachteten Gruppen in Westdeutschland merklich verschlechtert: Personen, die zum aktuellen Befragungszeitpunkt weder erwerbstätig noch arbeitslos waren, die aber zu einem früheren Zeitpunkt einmal arbeitslos geworden waren, wiesen 1991 im Durchschnitt eine Arbeitslosigkeitsdauer von etwas mehr als einem Jahr auf. Sie lagen damit nur unwesentlich über dem Niveau erfahrener Arbeitslosigkeit, das für aktuell Erwerbstätige zu beobachten war. In der Folgezeit allerdings hat sich ihre Situation erheblich verschlechtert – zwischenzeitlich sind sie der Gruppe der aktuell Arbeitslosen ähnlicher geworden als der Gruppe der aktuell Erwerbstätigen. In den jüngsten Erhebungen liegt die erfahrene Arbeitslosigkeitsdauer bei über zwei Jahren – mehr als doppelt so hoch wie noch 20 Jahre zuvor. Man kann dies als Ausdruck des aus der Literatur bekannten Musters deuten, wonach Personen, die eine längere Phase eigener Arbeitslosigkeit erleben, ihre Arbeitslosigkeit häufig in Richtung anderer Formen der Nicht-Erwerbstätigkeit verschieben, also den Arbeitsmarkt insgesamt dauerhaft verlassen22 – auch das ist übrigens eine Perspektive auf den Arbeitsmarkt, die nur selten beleuchtet wird. Ein besonders deutlicher Anstieg ist in dieser Gruppe seit 2004 zu beobachten – und das gilt in noch stärkerem Ausmaß für die Gruppe der aktuell Arbeitslosen. Obwohl ihre Arbeitslosigkeit noch andauert (im Gegensatz zu den beiden anderen Gruppen, deren Arbeitslosigkeit ja in der Vergangenheit liegt), sind die durchschnittlichen Verweildauern durchweg die höchsten. Dies gilt insbesondere in der jüngeren Vergangenheit: Trotz positiver Entwicklungen am Arbeitsmarkt insgesamt (Abbildung 1), hat sich die Situation von (Langzeit-) Arbeitslosen aus subjektiver Sicht kaum verbessert – im Gegenteil: In der Allbus-Erhebung des Jahres 2010 müssen sie in Westdeutschland auf durchschnittlich 190 Wochen erfahrene Arbeitslosigkeit zurückblicken – und dies bei einem betrachteten Zeitraum, der qua Frage auf 10 Jahre begrenzt ist. Offenkundig ist die Intensität erfahrener Arbeitslosigkeit auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt keineswegs gleich verteilt, was unmittelbar Gerechtigkeitsfragen – objektiv wie subjektiv – aufwirft. 22 T. Hahn/G. Schön, Arbeitslos – chancenlos? Verläufe von Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, Opladen 1996; G. Licht/V. Steiner, Abgang aus der Arbeitslosigkeit, Individualeffekte und Hysteresis: Eine Panelanalyse für die Bundesrepublik Deutschland, in: C. Helberger/L. Bellmann/D. Blaschke (Hg.), Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit: Analysen auf der Grundlage des Sozio-ökonomischen Panels, Nürnberg 1991, (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 144), 182-206.
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Erst recht gilt dies, wenn wir die Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt betrachten. Zunächst ruft Abbildung 3 noch einmal in Erinnerung, dass es in der früheren DDR – zumindest offiziell – keine Arbeitslosigkeit gab: 1991 noch liegen die mittleren Werte erfahrener Arbeitslosigkeit durchweg unter dem Niveau, das zu diesem Zeitpunkt für Westdeutschland zu beobachten war. Doch blieb dieser relative Vorteil nur von kurzer Dauer: Die Turbulenzen und Friktionen des ostdeutschen Arbeitsmarkts ebenso wie die damit verbundene Ungleichheit, die in der Folge zu beobachten waren, werden hier sehr deutlich sichtbar. Gleichwohl zeigt sich auch für Ostdeutschland, dass aktuell Erwerbstätige in der relativ besten Position sind. Selbst wenn sie einmal arbeitslos gewesen sind, so konnten sie offenkundig den Zustand der Arbeitslosigkeit vergleichsweise schnell wieder verlassen und müssen folglich auch auf die geringsten Arbeitslosigkeitsdauern zurückblicken. Ungleich schwerer haben es dagegen Personen, die entweder aktuell arbeitslos oder aktuell nicht-erwerbstätig sind. In beiden Gruppen ist ein rasanter Anstieg erlebter Arbeitslosigkeitsdauer zu beobachten. In der Erhebung 2008 berichten die Arbeitslosen von etwa fünf Jahren erlebter Arbeitslosigkeit – und dies bei einem betrachteten Zeitraum, der auf zehn Jahre beschränkt ist. Immerhin ist – im Gegensatz zur Situation westdeutscher Arbeitsloser – 2010 eine leichte Verbesserung beobachtbar. Es bleibt somit festzuhalten, dass sich sehr verschiedene Intensitätsgrade erfahrener Arbeitslosigkeit erkennen lassen. Ganz im Schumpeter’schen Sinne bleiben manche Betroffene lange im Bus der Arbeitslosigkeit, während andere schnell den Absprung schaffen. Dabei finden sich in der Gruppe der aktuell Arbeitslosen die höchsten Werte, was die Dauer erfahrener Arbeitslosigkeit betrifft, während die vollendete Dauer vor allem bei aktuell Erwerbstätigen deutlich geringer ausfällt. Wenn man solch gravierende Intensitätsgrade erfahrener Arbeitslosigkeit sieht, liegt es nahe anzunehmen, dass Arbeitslosigkeit als Prozess ihre dunklen Schatten mitunter vorauswirft, so dass auch Personen in Form von Furcht vor Arbeitslosigkeit relevante und potenziell folgenreiche Arbeitslosigkeitserfahrungen machen.23 Dieser Dimension wollen wir uns abschließend mit Blick auf individuelle Erfahrungen von Arbeitslosigkeit zuwenden. Wie sieht ihre empirische Verbreitung aus?
23 A. Büssing, Arbeitsplatzunsicherheit und Antizipation von Arbeitslosigkeit als Stadien des Arbeitslosigkeitsprozesses, in: Soziale Welt 38 (1987), 309–329; G. Mohr, Langzeiterwerbslosigkeit, in: J. Zempel/J. Bacher/K. Moser (Hg.): Erwerbslosigkeit: Ursachen, Auswirkungen und Interventionen, Opladen 2001, 111-131; L. Truninger, Arbeitslos? – Ich nicht: Distanzierungen bei Arbeitslosen und deren subjektive Wahrnehmung der öffentlichen Meinung, Freiburg 1990.
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Abbildung 4: Verbreitung der Furcht vor Arbeitslosigkeit
Quelle: Allbus 1991–2010; Basis sind Befragte, die aktuell erwerbstätig sind; 2002 wurde die entsprechende Frage nicht gestellt.
Die Ergebnisse – bezogen auf die jeweils erwerbstätigen Personen auf der Basis der Allbus-Erhebungen – liefert Abbildung 4. Auch hier gilt im Einklang mit den bisherigen Ergebnissen zu den tatsächlichen Erfahrungen von Arbeitslosigkeit, dass die resultierenden Werte in Ost- stets höher liegen als in Westdeutschland. Allerdings gilt hier ebenso, dass in keinem der beiden Landesteile eine monoton steigende Tendenz erkennbar ist. Im Westen etwa ist die Furcht vor Arbeitslosigkeit 1991 noch ein nahezu unbekanntes Phänomen, während im Osten das Jahr 1991 – aufgrund der gerade erfahrenen Umbrüche – von besonderer Ungewissheit geprägt war. Hier findet sich die höchste bisher beobachtete Verunsicherung. Danach allerdings zeigen sich keine monotonen Trends. Besonders aufschlussreich ist der Vergleich der Jahre 1998 und 2000: Während 1998 in beiden Landesteilen jeweils sehr hohe Werte zu verzeichnen waren, ist dann 2000 – gerade in Ostdeutschland – ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Von einem immer währenden Anstieg der Sorge um den Arbeitsplatz kann demnach nicht die Rede sein. Die Tatsache, dass die Werte 2004 und 2006 wieder höher liegen, während sie 2008 und 2010 wiederum sehr niedrige Niveaus erreichen, lässt vielmehr vermuten, dass ein Zusammenhang zur jeweiligen Lage auf dem
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Arbeitsmarkt besteht – 1998, aber auch 2004/2006 war diese eher schlecht, 2000 ebenso wie 2008/2010 dagegen im Aufwind begriffen. Diese Entwicklung spiegelt die Sorge Erwerbstätiger um ihren Arbeitsplatz offenkundig wider. Am Ende der Analyse der Verbreitung direkter Arbeitslosigkeitserfahrungen bleibt somit festzuhalten, dass direkte Arbeitslosigkeitserfahrungen der gerade skizzierten Arten in der Gesellschaft viel weiter verbreitet sind, als man es auf Basis der Werte, die die Bundesagentur für Arbeit allmonatlich vermittelt, vermuten würde. Durch Betrachtung von Eintritt, Verbleib und Furcht konnte gezeigt werden, dass sich in West- und insbesondere in Ostdeutschland weite Teile der Bevölkerung unmittelbar mit Arbeitslosigkeit konfrontiert sahen und sehen. Von einem Randphänomen kann keine Rede sein, vielmehr von einem höchst dynamischen Phänomen, von dem viele Menschen unmittelbar betroffen sind – viele nur vorübergehend, einige aber auch dauerhaft – und viele fürchten sich schließlich davor, je nach Lage auf dem Arbeitsmarkt insgesamt.
4. Indirekte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit Direkte Arbeitslosigkeitserfahrungen im gerade skizzierten Sinne individueller Betroffenheit stellen ohne jeden Zweifel ein einschneidendes biographisches Ereignis dar. Allerdings ist diese direkte Form nicht der einzige Mechanismus zur Erfahrung von Arbeitslosigkeit, denn es existieren unabhängig davon auch indirekte Erfahrungsformen. Wie einleitend schon ausgeführt, ist Arbeitslosigkeit nicht bloß eine Eigenschaft von Individuen, sondern ebenso als Aggregation individueller Betroffenheit ein Merkmal von größeren regionalen oder sozialen Einheiten. Dies ist auf den ersten Blick trivial, hat aber dennoch eine wichtige Implikation: Auch nicht unmittelbar von Arbeitslosigkeit betroffene Mitglieder dieser Einheiten erfahren so Arbeitslosigkeit. Haushaltsmitglieder erfahren Arbeitslosigkeit, wenn andere Haushaltsmitglieder arbeitslos werden; Mitmenschen erfahren Arbeitslosigkeit, wenn Freunde und Bekannte entlassen werden; Bürger einer Stadt erfahren Arbeitslosigkeit, wenn ein großes Unternehmen sich zurückzieht und Mitbürger dadurch arbeitslos werden; schließlich erfahren wir alle (etwas über) Arbeitslosigkeit, wenn allmonatlich die neuesten Arbeitsmarktzahlen veröffentlicht werden und die Medien darüber berichten. Dabei ist es keineswegs nur von Interesse zu wissen, wie weit verbreitet solche kontextuell vermittelten Arbeitslosigkeitserfahrungen sind. Mit Frey und Stutzer lassen sich vielmehr auch zahlreiche Effekte erwarten, die in solchen vermittelten Erfahrungen ihren Ursprung haben. Personen, die vermittelte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit machen, könnten demnach „feel bad about the unfortunate fate of those unemployed and they may worry about the possibility of becoming unemployed themselves in the future. They may also
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feel repercussions on the economy and society as a whole. They may dislike the increase in unemployment contributions and taxes likely to occur in the future; they may fear crime and social tension will increase; and they may even see the threat of violent protests and uprisings“.24 Betrachten wir vor diesem Hintergrund das Ausmaß an Arbeitslosigkeitserfahrungen, das wir in Ost und West beobachten können, zunächst am Beispiel von Erfahrungen, die im eigenen Haushalt über den (Ehe-)Partner vermittelt werden. Der Bedeutung des Haushalts ist in der Literatur bereits einige Aufmerksamkeit zuteil geworden25 – was wenig überraschend ist: „Versteht man den Haushalt bzw. die Familie nicht nur als einen ‚Ort‘ des Zusammenlebens, sondern auch als eine Gemeinschaft, in der materielle und psychische Belastungen direkt mit anderen Personen geteilt und verallgemeinert werden, so ist zu erwarten, dass einschneidende Veränderungen im Leben einer Person dieser Gemeinschaft sich auch auf das Lebensumfeld anderer Haushaltsmitglieder auswirken“.26 Kieselbach spricht in diesem Zusammenhang von „Opfern-durch-Nähe“.27 Abbildung 5 zeigt, wie sich der Verbreitungsgrad von Arbeitslosigkeitserfahrungen verändert und erweitert, wenn man zusätzlich zu eigenen Erfahrungen auch mögliche Erfahrungen, die sich über einen Ehe- oder Lebenspartner vermitteln, berücksichtigt. Dabei ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass bei dieser Analyse – mit Ausnahme der Allbus-Erhebung des Jahres 2000 – nur eine zeitpunktbezogene Perspektive möglich ist, also nur Arbeitslosigkeitserfahrungen zu einem einzigen Zeitpunkt (nämlich dem Zeitpunkt der Befragung) Berücksichtigung finden; außerdem bleiben – außer dem Partner – alle andere Haushaltsmitglieder außen vor. Nichtsdestotrotz zeigt sich für West- und vor allem erneut für Ostdeutschland, dass sich der Verbreitungsgrad von Arbeitslosigkeitserfahrungen nochmals vergrößert (in einigen Jahren sogar annähernd verdoppelt), wenn man diese zusätzliche Erfahrungsform über den Partner vermittelt berücksichtigt. 24 B. S. Frey/A. Stutzer, What Can Economists Learn from Happiness Research?, in: Journal of Economic Literature 40 (2002), 402–435. 25 R. Hauser/K. Müller/J. Frick/G. Wagner, Die Auswirkungen der hohen Unterbeschäftigung in Ostdeutschland auf die personelle Einkommensverteilung, Berlin 1993 (WZB Working Paper 93 – 103); D. Landua, Verläufe von Arbeitslosigkeit und ihre Folgen für die Wohlfahrt von Haushalten und Individuen, in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), 203-211; D. Landua, W. Zapf: Folgen von Arbeitslosigkeit für die Wohlfahrt von Individuen und Haushalten, Berlin 1989; W. Ludwig-Mayerhofer, Familiale Vermittlung, Anm. 21, 155–177. 26 D. Landua, Arbeitslosigkeit im Haushaltskontext – Erfahrungen und subjektive Betroffenheit, in: C. Helberger/L. Bellmann/D. Blaschke (Hg.), Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit: Analysen auf der Grundlage des Sozio-ökonomischen Panels, Nürnberg 1991, (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 144), 135-148. 27 T. Kieselbach, Massenarbeitslosigkeit und Gesundheit in der Ex-DDR: Soziale Konstruktion und individuelle Bewältigung, in: T. Kieselbach/P. Voigt (Hg.): Systemumbruch, Arbeitslosigkeit und individuelle Bewältigung in der Ex-DDR, Weinheim 1993, 43-72.
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Abbildung 5: Verbreitung von Arbeitslosigkeitserfahrungen bei individueller und haushaltsbezogener Betrachtung
Quelle: Allbus 1991–2010; nach Arbeitslosigkeitserfahrungen des Partners in den zurückliegenden zehn Jahren wurde nur im Allbus 2000 gefragt – und zwar nur dann, wenn der Partner aktuell erwerbstätig ist.
Die Allbus-Erhebung des Jahres 2000 erlaubt schließlich – als einzige Erhebung – eine zeitraumbezogene Perspektive, denn in dieser Erhebung wurde zumindest auch für erwerbstätige Partner die Information erfasst, ob diese erwerbstätigen Partner in den zurückliegenden zehn Jahren einmal Arbeitslosigkeitserfahrungen haben machen müssen. Auch hier bestätigt sich, dass der Verbreitungsgrad deutlich ansteigt, wenn man vermittelte Erfahrungen berücksichtigt.28 Arbeitslosigkeitserfahrungen bleiben aber keineswegs nur auf den eigenen Haushalt beschränkt; vielmehr ist zu erwarten, dass mit der Erweiterung der 28 Dabei gibt es gute Gründe, anzunehmen, dass selbst diese Werte das Ausmaß an über den eigenen Haushalt vermittelten Arbeitslosigkeitserfahrungen eher unter- als überschätzen. Zunächst wird nur eine mögliche Arbeitslosigkeit des Partners berücksichtigt – und das auch nur, wenn dieser Partner aktuell erwerbstätig ist; andere Haushaltsangehörige bleiben unberücksichtigt. Zudem mag das Wissen und die Rückerinnerung bezogen auf die Erwerbsbiographie einer anderen Person nicht perfekt sein. Es verwundert daher nicht, dass andere Studien zu noch höheren Werten kommen, vgl. T. Faas, Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten, Anm. 3, 108–110.
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kontextuellen Betrachtung auch die Verbreitung von Arbeitslosigkeitserfahrungen weiter ansteigt. Ein einfaches Rechenbeispiel von Paldam und Nannestad unterstreicht dies: „If it [die Arbeitslosigkeit, T. F.] rises by one person this will cause three persons to have one or more extra spells of unemployment, and if we know 200 people, we will know an average of six people affected.“29 Um dies empirisch prüfen zu können, bietet sich eine Netzwerkperspektive an. Pappi etwa definiert ein Netzwerk formal als „eine durch Beziehungen eines bestimmten Typs verbundene Menge von sozialen Einheiten“30, was die Offenheit des Ansatzes unterstreicht. Gerade was Freunde als Netzwerkpartner betrifft, besitzen auch diese Beziehungen einen vertrauten, emotionalen Charakter ähnlich dem Haushaltskontext; allerdings fehlt die gemeinsame finanzielle Basis, die den Haushalt kennzeichnet. Daneben beziehen wir auch über Kollegen und Nachbarn zahlreiche Informationen, die aber von Nachbar zu Nachbar, von Kollege zu Kollege variieren. An die Stelle emotionaler Verbindungen tritt dabei allerdings stärker der (nicht zwingend weniger wichtige) Aspekt struktureller Äquivalenz. In den Allbus-Studien werden in regelmäßigen Abständen auch Informationen zu egozentrierten Netzwerken erhoben. Dies gilt konkret für die Erhebungen der Jahre 1990 (nur West), 2000 und 2010, in denen Informationen zu drei Mitgliedern egozentrierter Netzwerke der Befragten erhoben wurden, unter anderem auch die Frage, ob diese Personen (zum Erhebungszeitpunkt) arbeitslos waren. Die Ergebnisse zur Betroffenheit egozentrierter Netzwerke von Arbeitslosigkeit liefert Abbildung 6. Erneut bestätigen sich dabei die bekannten Muster: 1990 und 2000 waren jeweils rund vier Prozent westdeutscher Netzwerke von Arbeitslosigkeit betroffen, das heißt mindestens eine Person darin war zum Erhebungszeitpunkt arbeitslos. 2010 ist dieser Wert auf sechs Prozent angestiegen. Für Ostdeutschland sind erneut deutlich höhere Werte zu verzeichnen: im Jahre 2000 waren rund 21 Prozent der Netzwerke betroffen, 2010 immer noch rund 14 Prozent. In anderen Studien – etwa den monatlichen Politbarometer-Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen – werden auch „weichere“ Kontextindikatoren erfragt, etwa zu Arbeitslosigkeitserfahrungen bei „Nahestehenden“ im Allgemeinen. Entsprechend höher sind die Werte, die auf einer solchen Basis resultieren. Sie erreichen zu den Hochzeiten der Arbeitslosigkeit in Deutschland rund um das Jahr 2005 Werte von bis zu 75 Prozent in Ostdeutschland, bis zu 50 Prozent in 29 P. Nannestad/M. Paldam, Into Pandora’s Box of Economic Evaluations: A Study of the Danish Macro VP-functions, 1986, 1997, in: Electoral Studies 19 (2000), 123-140. 30 F. U. Pappi, Sozialstruktur und politische Konflikte in der Bundesrepublik. Individualund Kontextanalysen der Wahlentscheidung, Köln 1977 (unveröffentlichte Habilitationsschrift).
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Westdeutschland. Drei von vier Ostdeutschen hatten demnach ihnen nahestehende Personen, die arbeitslos waren! Abbildung 6: Verbreitung von Arbeitslosigkeitserfahrungen in egozentrierten Netzwerken
Quelle: Allbus 1990 (nur West), 2000, 2010
Auch im Allbus 2008 ist noch ein im Vergleich zur strengen Netzwerklogik weicherer Indikator enthalten: „Wie viele Ihrer Familienmitglieder, Verwandten und Freunde sind derzeit arbeitslos – sehr viele, eher viele, eher wenige, sehr wenige oder überhaupt niemand?“ Für Westdeutschland geben dabei 58 Prozent der Befragten an, überhaupt keine arbeitslosen Familienmitglieder oder Freunde zu haben, für Ostdeutschland sind es 29 Prozent. Selbst wenn man die Gruppe derer, die nur „sehr wenige“ Arbeitslose aktuell im Kreise ihrer Familie bzw. Freunde kennen, außen vor lässt (21 bzw. 25 Prozent in Ost- bzw. Westdeutschland), so haben selbst für das Jahr 2008 mit seiner insgesamt durchaus positiven Lage auf dem Arbeitsmarkt 17 Prozent der Westdeutschen bzw. sogar 50 Prozent der Ostdeutschen in ihrem unmittelbaren Umfeld Arbeitslosigkeitserfahrungen gemacht; sie kennen mindestens einige Arbeitslose. Insgesamt wird ersichtlich, dass durch die Interaktion mit Mitmenschen – im eigenen Haushalt, aber auch im engeren persönlichen Umfeld – noch
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weitaus mehr Menschen Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit machen, als es die rein individuelle Perspektive nahe legt. Wie gerade die zitierten Ergebnisse auf der Basis der Politbarometer-Erhebungen, aber auch die Allbus-Daten gezeigt haben, kann kaum noch jemand in der heutigen Gesellschaft von sich behaupten, zu Arbeitslosen keinen Kontakt zu haben und deren Situation nicht zu kennen. Arbeitslosigkeitserfahrungen sind gerade in Ostdeutschland noch immer ubiquitär.
5. Fazit und Ausblick Das öffentliche Bild von Arbeitslosigkeit, das geprägt ist von Arbeitslosenzahlen und Arbeitslosenquoten, liefert nur eine bestimmte Perspektive auf das Phänomen der Arbeitslosigkeit, wie es die Gesellschaft insgesamt berührt. Wenn es aber darum geht zu verstehen, wie eine Gesellschaft durch Arbeitslosigkeit berührt (und verändert) wird, dann sollte an die Stelle einer volkswirtschaftlichen, volumenorientierten eine sozialwissenschaftliche, personenorientierte Perspektive treten. Im Rahmen dieses Beitrags habe ich versucht zu zeigen, wie die ost- und westdeutsche Gesellschaft in den zurückliegenden 20 Jahren durch Arbeitslosigkeit berührt worden ist. Bei einer differenzierteren Betrachtung, die einerseits Prozesse individueller Arbeitslosigkeit bestehend aus dem Eintritt in die Arbeitslosigkeit (samt der Furcht davor) sowie dem Verbleib in der Arbeitslosigkeit berücksichtigt, andererseits auch über Kontexte vermittelte Erfahrungsformen in die Analyse mit einbezieht, wird klar, wie umfassend und omnipräsent Arbeitslosigkeitserfahrungen in der heutigen Gesellschaft sind – dies gilt für Westdeutschland, aber noch viel mehr für Ostdeutschland. Nun könnte man einwenden: Was bringt uns dieses Wissen um die „wahre“ Verbreitung von Arbeitslosigkeitserfahrung? Zunächst einmal ist es per se wichtig, dass eine Gesellschaft über sich erfährt, wie es um sie bestellt ist. Noch wichtiger aber ist, dass von all diesen skizzierten Formen von Arbeitslosigkeitserfahrungen soziale und politische Folgen ausgehen können. Arbeitslosigkeitserfahrungen berühren die wirtschaftliche Situation sowohl der Betroffenen als auch der Nation insgesamt, sie berühren Gerechtigkeitsvorstellungen und Staatsvorstellungen, sie berühren das Wahlverhalten, aber auch das Potenzial für andere Formen politischer Partizipation.31 Das Potenzial von Arbeitslosigkeit, die Gesellschaft und ihre Mitglieder zu verändern, ist um ein Vielfaches größer als es ein Blick auf die Zahl der aktuell 31 Siehe hierzu im Detail T. Faas, Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten Anm. 3; G. Pickel in diesem Band.
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Arbeitslosen suggeriert. Weit über die aktuell Betroffenen hinaus gibt es viel mehr Menschen, die mit dem Phänomen und Problem der Arbeitslosigkeit etwas anfangen können, die wissen, was Arbeitslosigkeit bedeutet, und die mitunter bereit sind, dagegen etwas zu unternehmen. Dieses weitreichende Potenzial von Arbeitslosigkeit wird allerdings erst klar, wenn man ein umfassendes Verständnis von Arbeitslosigkeit anlegt. Das sollten folglich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch politisch Handelnde tun.
Gespräch zwischen Bernhard Vogel und Arnold Vaatz (Das Gespräch wurde am 7. Juli 2011 in der Akademie der Konrad-AdenauerStiftung geführt; Gesprächsmoderation und Fragen: Gerald Praschl, Chefreporter der Zeitschrift „Super Illu“) Praschl: Vaatz:
Herr Vaatz, wie sozial gerecht oder sozial ungerecht ging es denn damals in der DDR zu? Na ja, will erst mal sagen: Wer das Wort ‚Gerechtigkeit‘ mit einem Attribut versieht, mindert seine Gesamtbedeutung. Also: Soziale Gerechtigkeit bedeutet nicht umfassende Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit bedeutet / bedeutete im Koordinatensystem der DDR-Obrigkeit der SED, dass man eine möglichst gleiche Verteilung von Einkommen beispielsweise erreichen wollte und dass man sozusagen durch die Kreationen des Volkseigentums als Eigentum, was man vorher konfisziert hat, was man vorher enteignet hat durch die Kreation des Prinzips Volkseigentum sozusagen eine allgemeine Teilhabe geschaffen hat. Das Problem ist: Es hat sich dann bald gezeigt, dass trotz eines sicher ernsthaften Bemühens um eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit, diese zunehmend weniger leistungsabhängig war. Das wurde dann als sehr ungerecht empfunden, weil derjenige, der keine Leistungen oder eine geringere Leistung erbracht hat, oftmals dieselben Vorteile daraus gezogen hat wie der, der eine große Leistung vollbracht hat. Das Erbringen einer großen Leistung hat sich für denjenigen, der sie hätte erbringen können, nicht mehr gelohnt. Aus diesem Grund ist eine allgemeine Leistungsverweigerung eingetreten. Das alles hat man hier als ungerecht empfunden und dann ist insbesondere eines aufgetreten: Also wenn es den „Mikrokosmos DDR“ an sich betrifft, dann kann man sagen, gut, dort hat vielleicht eine große Verteilungsgerechtigkeit geherrscht, aber es ist zunehmend zu einer absoluten Reduzierung des Wohlstands in der DDR und im ganzen Ostblock im Vergleich zum Westen gekommen. Und das ist ja eine gewaltige Ungerechtigkeit, weil das bedeutete, dass diese Mikrogerechtigkeit innerhalb der DDR mit dem allgemeinen Absinken gegenüber dem Rest der Welt bezahlt wurde. Und das sieht man jetzt auch beispielsweise in Reinkultur in Nordkorea. Das mag in dem Land zehnmal gerecht zugehen, aber dort herrscht Hunger. Und im Vergleich zu dem Ausland, im Vergleich zu dem Südteil des Landes geht es den Nordkoreanern katastrophal. Das empfinden sie als ungerecht.
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Praschl:
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Herr Professor Vogel, wahrscheinlich würden sie das heute genauso unterschreiben. Was die Bewertung der DDR-Gesellschaft betrifft, sind sie sich heute gewiss relativ einig. Und doch stand die CDU DDR-Bürgerrechtlern in den 80er Jahren, auch Bürgerrechtlern wie Herrn Vaatz und vielen anderen mit einem gewissen Abstand gegenüber. Prof. Vogel: Das kann ich so nicht akzeptieren. Ich habe beispielsweise lange vor der Wiedervereinigung einen regen Gedankenaustausch mit Herrn Eppelmann gehabt, der zufällig eine alte Mutter in Koblenz hatte und deswegen gelegentlich nach Rheinland-Pfalz kam. Wir, die christlichen Demokraten, waren hinsichtlich der offiziellen Kontakte etwa zur SED, wie ich meine, übrigens auch heute noch meine, zu Recht wesentlich zurückhaltender als andere. Also auf die Idee, ein gemeinsames Papier zu entwickeln, wie das Sozialdemokraten und SED vor dem Fall der Mauer getan haben, darauf wären wir bestimmt nicht gekommen. Wenn wir zu gewissen Zugeständnissen bereit waren, dann war das immer verbunden mit dem Versuch, die Lebensbedingungen etwas zu bessern, insbesondere hat es ja eine wesentliche Rolle gespielt bei einem der schwierigsten Vorgänge, an die ich mich vor ’89 erinnern kann: der Besuch von Erich Honecker 1987 in der Bundesrepublik. Das ist Helmut Kohl, wie ich weiß, aber auch mir – er (Honecker – Red.) hatte u. a. auch Trier besucht – sehr schwergefallen zu akzeptieren, Erich Honecker als Staatsgast zu empfangen, auch wenn das nicht so hieß. Wir haben es getan, weil es verbunden war mit weiteren Verbesserungen der Lebens- und insbesondere Reisebedingungen der älteren Menschen in der DDR. Ich bin im Übrigen, was die Aussage von Herrn Vaatz eben betrifft, ein Hörender, denn ich habe nicht die Lebenserfahrung eines DDR-Bürgers, wie er sie hat. Ich habe nur zwei Erlebnisse in meiner langen Amtszeit in Thüringen nach 1992 in Erinnerung: Erstens die Erfahrung, dass eine bestimmte Position innezuhaben in der DDR nichts aussagte über die damit erwarteten Kenntnisse und Fähigkeiten. Wenn Sie einem Professor aus der DDR-Zeit begegnet sind, dann konnte das ein weithin bedeutender Spezialist sein, es konnte aber auch ein Funktionär sein, der von seinem Fach keine Ahnung hatte. Und außerdem habe ich erfahren – als Westdeutschem war mir dies völlig unverständlich – eine tausendfache Gliederung von Gehaltszulagen aller Art. So etwas an Ungleichheit habe ich mir gar nicht vorstellen können. Ich habe Jahre gebraucht, um das wirklich zu begreifen, wer für was alles
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Zulagen bekam. Ich habe es eigentlich am besten dann begriffen, als die Empfänger dieser Zulagen versuchten, ihr „Recht“ einzuklagen, um sich diese Zulagen auch in der Bundesrepublik zu sichern. Gerechtigkeit, wenn ich das noch sagen darf, heißt nicht: jedem das Gleiche, sondern Gerechtigkeit heißt: jedem das Seine. Bei der Wende 1990 fühlten sich insbesondere auch viele BürgerPraschl: rechtler, Menschen, die also damals in einer kleinen Minderheit waren und die in der DDR offene Opposition geleistet haben, ungerecht behandelt, um nicht zu sagen: Sie fühlten sich speziell nach der Volkskammerwahl 1990 ein bisschen um ihren Machtanspruch beraubt, insbesondere von der West-CDU. Konnten Sie das damals nachvollziehen? Prof. Vogel: Selbstverständlich kann ich das bis auf den heutigen Tag sehr gut nachvollziehen, obwohl auch hier Herrn Vaatz das erste Wort zusteht, als ein Begleiter dieser Entwicklung. Ich kann das, was sich vollzogen hat, sehr wohl verstehen. Noch am 9. November 1989 wagte niemand an eine rasche oder gar innerhalb eines Jahres sich vollziehende staatliche Wiedervereinigung zu denken, sondern das höchste der Gefühle, das Höchste der Hoffnung war mehr Freiheit in der DDR. Und der Ruf „Wir sind das Volk“, drückt das ja bis heute in einer besonderen Weise aus. Die „Bürgerrechtler“ wollten eine reformierte DDR. Und erst nach dem 9. November wurde aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ der Ruf „Wir sind ein Volk“. Da hat in der Tat der Wunsch der Mehrheit, so schnell wie möglich auf dem „Königsweg“ des Artikels 23 zusammenzukommen, die Reformer der DDR in der Tat zur Minderheit werden lassen. Sie haben bei der ersten freien Wahl für die Volkskammer nur noch einstellige Prozentsätze bekommen. Ich habe Verständnis, dass denen, die auf die Straße gingen, um die DDR zu reformieren, es nicht ganz leicht gefallen ist, sich ein paar Jahre später als Bürger der Bundesrepublik wiederzufinden. Trotzdem will ich ausdrücklich sagen, es war der einzig mögliche Weg und es war der Weg, den die überwältigende Mehrheit der Menschen in der DDR nach meiner Überzeugung gewollt hat. Herr Vaatz, Sie waren ja damals einer von den wenigen BürPraschl: gerrechtlern, die noch im Jahr 1990 den Weg vom Neuen Forum zur CDU gefunden haben und wurden dafür wahrscheinlich auch angefeindet, nehme ich an, von den anderen. Oder wie war das? Na gut, da muss man erst mal sagen: Die Bürgerrechtler gibt’s nicht. Vaatz: Es gab sehr unterschiedliche Auffassungen und das Spektrum der Auffassungen, was sich in Berlin gezeigt hat, das war meines
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Erachtens wesentlich enger als das Spektrum, was in anderen Landesteilen wie bei uns in Sachsen da war. So dass, wie gesagt, der bestimmte Artikel („die“ Bürgerrechtler – Red.) hier fehl am Platze ist. Die Berliner Bürgerrechtler haben also Gesellschaftsmodelle hin und her gewendet, während man in Dresden und in verschiedenen Städten im Süden gesagt hat: Es ist alles Unsinn, eure Versuche das Fahrrad noch mal zu erfinden, sind alle vergeblich, es hat überhaupt keinen Sinn. Lasst uns die Dinge, die vernünftig im Westen gelaufen sind, übernehmen, weil wir in dieser kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht in der Lage sein werden, einen Staatsaufbau aus dem Hut zu zaubern, der diesem erprobten und demokratisch entstandenen überlegen sein könnte. Darüber ging der Streit innerhalb der Bürgerrechtspartei. Was aber in der Tat alle Bürgerrechtler an dieser Stelle vereinte war das Gefühl, dass nach all der Angst, die sie im Herbst 1989 durchlebt hatten, sich auf einmal statt ihrer eine Block-Partei auf den erkämpften Regierungssessel setzte und so tat, als ob sie schon immer gegen das Regime gewesen wäre, obwohl sie in Wirklichkeit mit zu den Vollstreckungsgehilfen des Ganzen gezählt hat – und dass diese Partei nun jetzt plötzlich adoptiert worden ist von ihrer westdeutschen Schwester. Und diejenigen, die die Knochen hingehalten hatten im Herbst 1989, standen jetzt plötzlich außen vor. Das war nicht gerecht. Aber Sie sind doch damals trotzdem in die CDU eingetreten. Ja, weil ich das Grundlagengerüst der CDU-West vollkommen geteilt habe. Was die West-CDU wollte, wusste ich ja und zwar aus dem Westfernsehen, das zumindest in den vielen Jahren, in denen ich ihn Thüringen lebte, dort bestens zu empfangen war. Ich habe mich mit den Zielen der CDU identifiziert, während ich das Verhalten der SPD-West von einem bestimmten Zeitpunkt an definitiv nicht mehr ertragen konnte, beispielsweise die Sache mit dem SPD-SED-Papier. Ich identifizierte mich mit den Zielen der West-CDU und war der Meinung, dass man etwas tun muss, um die Kräfte in der Ost-CDU, die sozusagen diese Symbiose mit der SED erzwungen hatten innerhalb der Partei, daran zu hindern, für die Zukunft eine wesentliche Rolle zu spielen. Das war mein Ziel, deshalb bin ich 1990 in die CDU eingetreten. Später habe ich festgestellt, dass ich das Gesamttableau der CDU-Ost falsch eingeschätzt hatte. Es gab dort eine ganze Reihe von Menschen, die sogar schon seit den vierziger Jahren mit dabei waren und die eigentlich wirklich im Rahmen der Möglichkeiten, die sie hatten,
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versuchten, innerhalb der CDU zu überwintern, was ich nicht kritisieren kann. Herr Prof. Dr. Vogel, Sie konnten in Ihren Funktionen damals Praschl: mitentscheiden, wer innerhalb der Thüringer CDU dazu geeignet schien, Verantwortung in der CDU, in der Regierung oder auch im Parlament zu übernehmen. Sie haben sich ja sicherlich auch damals Gedanken gemacht, wie man da möglichst gerecht vorgehen kann, aber welche Kriterien galten da für Sie? Prof. Vogel: Also zunächst stand ich der Blockpartei der CDU mit größter Skepsis gegenüber, weil ich den Blick auf die Führung der OstCDU in Berlin hatte – und das waren willfährige Funktionäre, jedenfalls war so mein Eindruck. Ich habe aber dann in den Jahren gelernt, dass das auf ein CDU-Mitglied in Schmalkalden oder in Hildburghausen nicht unbedingt zutraf, sondern dass da viele Mitglied geworden sind, um dadurch der Mitgliedschaft in der SED zu entgehen und so trotzdem eine Chance zu wahren, dass der Sohn oder die Tochter studieren darf. Das Bekenntnis zu dem „C“ hatte auch in der DDR bei vielen einfachen Mitgliedern eine Bedeutung und war ein Signal, dass man unter den gegebenen Umständen gegen die Diktatur des Proletariats, gegen die Vorherrschaft der SED gewesen ist. Sehr schwierig war für mich, der ich am Anfang ja kaum zehn Leute mit Namen kannte, etwa bei der ersten Kabinettsbildung Entscheidungen zu treffen: Wen berufst du und wen berufst du nicht? Zunächst einmal fand ich ein völlig anderes Berufsspektrum vor als ich das kannte. In Westdeutschland hat man Kabinette aus Juristen und aus Lehrern gebildet, die zehn, fünfzehn Jahre in der Jungen Union oder sonst wo gedient hatten und die man gut kannte. Unbelastete Juristen gab es gar nicht und Lehrer, wenn sie etwa Marxismus-Leninismus unterrichtet hatten, kamen auch nicht in Frage. Ich musste mich daran gewöhnen, dass man mit Physikern, Tierärzten und Biologen Kabinette bilden musste. Und ich musste lernen, dass ich jeden auf Herz und Nieren fragen musste: Was hast du in den letzten 20 Jahren getan und wo hast du dich engagiert? Und dass ich jeden verpflichten musste, dass, wenn das, was er mir jetzt sagt, nicht stimmt, einen sofortigen Widerruf meiner Bitte um Mitarbeit bedeuten würde. Ich habe dann viele Unterlagen und Materialien vorgelegt bekommen, einige besondere habe ich heute noch in meinem Besitz und ich muss sagen: Erstaunlicherweise ist es in den Führungsfunktionen der Landesregierung gelungen, diesbezüglich keine Fehlentscheidung zu treffen. Keiner hat mich
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hinters Licht geführt, ich musste niemanden austauschen. Ich habe auch gelernt, dass nicht jedes Mitglied einer Blockpartei nur ein Funktionär des herrschenden Systems gewesen ist. Viele Posten, insbesondere in Schlüsselbereichen, wurden gar Praschl: nicht mit Ostlern, sondern mit Westlern besetzt. Unbelastete Quereinsteiger in der Politik, insbesondere aus der Bürgerrechtsbewegung, wie Arnold Vaatz, blieben die Ausnahme. Das ist zum Beispiel in Tschechien oder Polen ganz anders gelaufen. War das gerecht? Prof. Vogel: Also zunächst – die DDR ist ein anderes Staatsgebilde gewesen als jedes andere Mitgliedsland des Warschauer Paktes. Es ist das einzige Staatsgebilde, das nicht überlebt hat. Polen ist Polen geblieben und Ungarn ist Ungarn geblieben. Die DDR ist zum Ende gekommen. Diese einfache Aussage enthält einen Sack voller Probleme, beispielsweise auch die, dass man sich über zwei Jahrzehnte nicht verglichen hat mit früheren Lebensbedingungen, sondern mit den Lebensbedingungen in West-Deutschland. Das konnte ein Pole, das konnte ein Ungar nicht tun. Und wir haben ja viele Jahre darunter gelitten, dass wir nicht von heute auf morgen eine Angleichung der Lebensverhältnisse, der Löhne, der Infrastruktur zum Westen erreichen konnten, aber an ihm immer gemessen wurden. Erst heute kann man sagen: Die alte Zonengrenze ist dort wiederzufinden, wo die Autobahnen besser und sechsspurig werden und da beginnt Thüringen und endet Hessen. Das hat aber zwanzig Jahre gedauert. In den ersten Jahren waren die meisten dankbar, wenn Fachkundige aus dem Westen bereit waren, zu kommen und sich zu engagieren. Das hat sich allerdings nach einigen Jahren sehr weitgehend geändert, weil man erkannt hat – und das ist ein gesunder Prozess gewesen –, dass auch ein westdeutscher Fachmann nur mit Wasser kocht und keine Wunder vollbringen kann. Und dann sagten viele: „Was die können, können wir auch oder können es sogar besser.“ Ein sehr gesunder Prozess. Das war aber nicht die Situation Anfang der 90er Jahre. Außerdem: In jeder Herde von Schafen gibt es auch ein paar schwarze Schafe. Es sind sehr, sehr viele aus reinem Patriotismus in den Osten gekommen, weil sie helfen wollten, aber es sind natürlich auch Glücksritter gekommen. Es sind natürlich auch die gekommen – ich kannte die aus RheinlandPfalz ja –, wo ich wusste, dass der Chef die schon seit Jahren loswerden wollte. Und es sind die gekommen, die schon seit Jahren etwas werden wollten, was sie im Westen nie geworden wären. Ich
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habe, weil ich ja erst 1992 kam, mit größter Überraschung manchen Beamten aus Rheinland-Pfalz in Funktionen wiedergefunden, in denen ich sie nie berufen hätte und für die ich sie völlig ungeeignet hielt. Auch solche schwarzen Schafe hat es in der Tat gegeben, aber die dürfen nicht verdecken, dass viele kamen aus dem einfachen Willen, helfen zu wollen. Schließlich habe ich dann am Ende der Entwicklung die Erfahrung gemacht: Wenn ein Westdeutscher wirklich mit Haut und Haar sowie Kind und Kegel kam und nach Erfurt oder Weimar zog, seine Kinder in die Schule in Erfurt und die Großmutter dort ins Krankenhaus gab, dann wurde er akzeptiert. In Thüringen hat sich die Fähigkeit, Fremde zu akzeptieren, seit Goethe und Schiller tausendfach bewährt. Die waren ja auch keine Thüringer. Wer nur Montag nachmittags an- und Freitag früh wieder abreiste, seinen Lebensmittelpunkt irgendwo im Westen hatte, der wurde allerdings auf Dauer nicht akzeptiert. Was mich betrifft, kann ich erstaunlicher- und erfreulicherweise sagen: Mir hat niemand je meine westdeutsche Herkunft zum Vorwurf gemacht, sondern es ist immer gesagt worden: Erfreulich, dass du gekommen bist und versucht hast, zu helfen. Herr Vaatz, auch Sie haben damals, als Umweltminister in Sachsen, eine Verwaltung mit aufgebaut. Glauben Sie, dass Sie das gerecht gemacht haben? Ja, es könnte sein, dass wir einige Dinge in gewissen Nuancen ein bisschen anders sehen, aber auf alle Fälle unterstreiche ich erst mal alles das, was Bernhard Vogel gesagt hat. Es ist in der Tat so, dass es eine große Zahl von außerordentlich hilfsbereiten Leuten gegeben hat, die auch die kleinen Nachteile in Kauf genommen haben und die uns in diesen entscheidenden Taten zur Seite gesprungen sind. Aber – jetzt kommt der Punkt: Wir wussten Verschiedenes über den Westen vor der Wiedervereinigung, aber eben nicht alles! Was wir zum Beispiel nicht wussten, war, dass das öffentliche Dienstrecht in der Bundesrepublik Deutschland den Dienstherrn einbetoniert, dessen Freiheit zur Gestaltung praktisch vollkommen beschneidet. Und dass er fast überhaupt nicht mehr in der Lage ist, irgendeinen Referenten vom Referat A nach B zu versetzen, ohne dass der dagegen klagt. Demzufolge konnten wir nicht die ungeheuere Weihnachtsmannerwartung nachvollziehen, die manchen westdeutschen Ministerpräsidenten befallen haben mag, als er merkte: Jetzt entsteht ein riesiges Feld von leeren Stellen in Ost-Deutschland. Dort erhalte ich die sehnlichst
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erwünschte personalpolitische Flexibilität zurück, ich kann endlich aus meinem Land was machen, indem ich einer Reihe von Leuten als dringend benötigte Verwaltungsexperten nach OstDeutschland schicke. Ich habe lange Zeit gebraucht, ehe ich dieses selige Lächeln auf dem Antlitz meines Freundes Lothar Späth, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg, richtig verstanden habe über die Gründung des Landes Sachsen. Man hat sich tatsächlich auf diese Weise im Westen einer Reihe von Personen, die einfach teilweise aus überbesetzten Verwaltungen kamen, entledigen können, indem man sie in den Osten geschickt hat. Das ist das eine. Das zweite Problem war: Die wichtigsten Stellen in den öffentlichen Verwaltungen in Bezug auf die Rekrutierung von Personal sind die Personalchefs. Einen Personalchef konnten wir damals aus OstDeutschland nicht stellen, weil wir niemanden hatten, der im westdeutschen Personalwesen so ausgebildet gewesen wäre, dass er rechtssichere Einstellungen, Kündigungen und alles das hätte vollziehen können. Man brauchte also deren juristische Qualifikation, sonst wären wir sofort von Arbeitsgerichtsprozessen überrollt worden. Ein völlig natürlicher Prozess war es, dass ein großer Teil dieser Personalchefs dann auch den einen oder anderen Wunsch seiner Bekanntschaft aus dem Westen berücksichtigt hat, wenn es um Neubesetzung von Stellen ging. Und heute sind wir in der Situation, und das ist eine Angelegenheit, die ich mir vorwerfe, mir persönlich, nicht den Kollegen aus dem Westen, sondern nur mir, dass die Ostdeutschen unserer Generation, und da rede ich von denjenigen, die zwischen 1950 und etwa 1965 geboren sind, bei der Wahrnehmung von öffentlichen Ämtern, nahezu ausgeschaltet sind. Davon ausgenommen sind natürlich politische Wahlämter. Ich sage „nahezu“, weil es eine Reihe von Leuten gibt, die selbstverständlich in der Verwaltung eine Rolle spielen. Aber wenn ich die sächsische Staatskanzlei oder das sächsische Innenministerium oder die thüringische Staatskanzlei oder das thüringische Innenministerium durchkämme, dann stelle ich fest: Auch Positionen, die ohne Weiteres ein ostdeutscher Quereinsteiger hätte wahrnehmen können, sind nicht von einem solchen besetzt. Ein Beispiel: Die Gemäldegalerie, die Dresdner Kunstsammlungen allgemein, sind immer kompetent geführt worden, auch zu DDR-Zeiten von hervorragenden Leuten, teilweise von Leuten, die trotz einer erbitterten
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Auseinandersetzung mit der SED ihre Positionen erlangt haben. Ich würde also zum Beispiel an Werner Schmidt oder andere denken. Es ist heute nicht mehr möglich, einen Ostdeutschen dort unterzubringen. Dasselbe gilt für andere öffentliche Institutionen im Bereich Kunst und Kultur, wo es überhaupt gar keine Gründe gibt, weshalb man einen Ostdeutschen nicht gebrauchen könnte. Und jetzt sehe ich das mittlerweile auch bei den evangelischen Bischöfen. Ich will jetzt, wie gesagt, nicht irgendwelche West-Ost-Konflikte schüren, aber ich bitte doch jeden, sich einfach mal vorzustellen, dass beispielsweise im Freistaat Bayern auf nahezu allen wichtigen Dienstposten kein Mensch mehr sitzt, der Bayerisch spricht, sondern irgendwo von außerhalb kommt. Das kann ein Land in Schwierigkeiten bringen. Und es betrifft ganz besonders unsere Generation. Da entsteht der Eindruck, dass ausgerechnet diejenigen, die bei der friedlichen Revolution den Karren durch den Dreck gezogen und dafür gesorgt haben, dass das SED-System in Ost-Deutschland kapituliert, diejenigen sind, die von dem ganzen Prozess am wenigsten haben. Das war ungerecht. Eine weitere Ungerechtigkeit ist finanzieller Natur. Es dauerte keine zwei oder drei Jahre, bis die Deckelung von Ruhestandsbezügen für Spitzengenossen gekippt war – vom Bundesverfassungsgericht. Für die Opfer-Pensionen haben wir siebzehn Jahre gebraucht. Ja, das sind natürlich Signale, das ist das, was ich auch nie erwartet habe: nämlich dass die westdeutsche Gesellschaft eine größere Affinität zu den Tätern und Repräsentanten des SEDSystems hat als zu deren Gegnern und Opfern. Das war sicher nicht bewusst und war auch nicht gewollt. Aber es ergab sich in der Summe so. Das betrachte ich natürlich als ungerecht. Aber auf der anderen Seite muss ich mir immer die Frage stellen: Hättest du diesen Ausgang vorausgesehen, wärest du dann gegen den Kollaps der DDR, gegen den Mauerfall, gegen die Wiedervereinigung gewesen, dann würde ich natürlich mit „Nein“ antworten. Aber zu den wirklichen Siegern zähle ich meine Generation nicht, bis auf Ausnahmen, zum Beispiel die Frau Bundeskanzlerin. Herr Vaatz, ihre Generation und alle Ostdeutschen haben doch dafür zumindest die Freiheit errungen, das ist doch wohl die Hauptsache, oder? Die Freiheit haben wir bekommen. Aber es ist schon ein Erlebnis, das man erst mal verkraften muss. Wenn man feststellt, nachdem die ganze Sache gelaufen ist, sitzt eben der Repräsentant der Eliten
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der DDR in der Ersten Klasse und selber sitzt man, oder sitzen die eigenen Bekannten in der Economy-Klasse. Und das ist eine Angelegenheit, die nicht darüber hinwegtäuschen darf: Wir sitzen beide im Flugzeug und das hätten wir uns nie träumen lassen. Aber die Sitzordnung ist wieder hergestellt im wiedervereinigten Deutschland, da kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Also diejenigen, die am meisten am Entzug der Freiheit für den größten Teil der Bürger und dem Entzug von Demokratie mitgewirkt haben, die haben von der entstandenen Freiheit schließlich am meisten profitiert. Diejenigen, die am entschiedensten die Grundsätze eines bei uns nicht vorhandenen Grundgesetzes in Ost-Deutschland außer Kraft gesetzt haben, zum Beispiel durch die Nichtachtung des Eigentums, haben unter dem Schutz des Grundgesetzes ihre zu Unrecht erworbenen Besitzstände fortschreiben können. Das ist die Realität. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, das ist ein bedauerliches Erlebnis für unsere Generation. Wir werden damit sterben, wir werden das nicht ändern, aber es muss zumindest noch möglich sein, dies in einer freien Gesellschaft offen auszusprechen. Prof. Vogel: Ich würde die Sache etwas gnädiger sehen als mein Freund Vaatz. Wir haben es mit der Tatsache zu tun, dass die westdeutsche Bevölkerung dreizehn Jahre Diktatur erlebt hat und die OstDeutsche 56 Jahre. In West-Deutschland ist der Wiederaufbau begonnen worden von Leuten, die 13 Jahre vorher bereits engagiert waren und noch lebten. In Ost-Deutschland habe ich nicht einen einzigen in einem Landtag oder einem Gemeinderat oder sonst wo gefunden, der bereits vor 1933 politisch engagiert war. Diese Unterschiedlichkeit muss man begreifen. Das ändert natürlich nichts daran, dass es auch mich ärgert, wenn noch heute die Vorstände der politischen Stiftungen, die Vorstände der Rundfunkräte und der Verwaltungsräte, die Posten der Intendanten in Deutschland so einseitig stark von Westdeutschen dominiert sind. Vaatz: Dass es so geworden ist, sage ich frei von Vorwürfen, ohne Schuldzuweisungen. Es gibt einen einzigen Adressaten, an den ich einen Vorwurf gerichtet habe: Das ist an mich selber, dass ich solche Entwicklungen nicht früh genug erkannt habe, nicht früh genug meine Möglichkeiten genutzt habe, um vielleicht die eine oder andere Maßnahme zu treffen. Das ist mir misslungen, das habe ich nicht gemacht, und das betrachte ich als mein persönliches politisches Versagen. Personen, die von außerhalb kommen,
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können das nicht wissen. Und demzufolge kann ich es von ihnen auch nicht verlangen. Das wollte ich nur gesagt haben. Eine mittelfristige Folge könnte sein, dass die CDU seit ihrem Praschl: großen Wahlsieg bei den Volkskammerwahlen im März 1990 im Osten Deutschlands an Glaubwürdigkeit, an Bedeutung eingebüßt hat bis hin zu Gebieten, in denen ausgerechnet die Linkspartei, der SED-Nachfolger, zur stärksten Partei aufgestiegen ist. Prof. Vogel: Entschiedener Widerspruch, die Christlich-Demokratische Union hat insbesondere in ostdeutschen Parlamenten über viele Jahre absolute Mehrheiten errungen, nicht in westdeutschen – von Bayern einmal abgesehen. Und ich muss ehrlich sagen, es ist schon ein Erstaunen wert, dass sie im – vor 1933 – „roten“ Sachsen und „roten“ Thüringen nach 1990 über Jahre absolute Mehrheiten errungen hat und das mit dem C im Namen, was übrigens zeigt: Die CDU wählt man, wenn man meint, sie mache gute Politik, und nicht allein des Namens willen. Was in der Tat überrascht, mit einem Rest Unverständnis für mich bis heute, ist, dass die Linkspartei so stark und in den neuen Ländern eine Volkspartei ist. Herr Prof. Vogel, zwei weitere Sachverhalte im Vereinigungsprozess Praschl: werden bis heute ebenfalls als ungerecht angeprangert. Das ist zum einen, dass die CDU-geführte Bundesregierung damals einwilligte, die Enteignungen zwischen 1946 und 1949 nicht rückgängig zu machen. Und zum zweiten die Frage des gerechten Umgangs mit der Stasi-Vergangenheit. Da scheint es heute, wie beim Fall dieser 47 Stasi-Leute in der BSTU (Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen – Red.), als sei es auf Wunsch von oben damals bei den Überprüfungen recht lax zugegangen. Ist aus heutiger Sicht bei diesen Dingen etwas falsch gelaufen? Prof. Vogel: Also, was das erste Thema betrifft: Es war klare Forderung der frei gewählten Regierung der DDR, die Bodenreform nicht rückgängig zu machen. Da ist alles Mögliche hineingeheimnist worden, was die Russen verlangt hätten oder was die Westdeutschen. Dabei war es eine klare und eindeutige Aussage der DDR-Seite. Es akzeptieren zu müssen, hat mir Schwierigkeiten gemacht, es dann auch noch verteidigen zu müssen, hat mir noch größere Schwierigkeiten gemacht. Aber man muss klar sagen: Es war der klare Wille einer überwältigenden Mehrheit der Bürger der ehemaligen DDR, an dieser Bodenreform nicht zu rütteln. Mir fällt das schwer, das zu
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verteidigen, denn es ist ein Stück Ungerechtigkeit dabei, aber ich muss andererseits auch anerkennen, dass man nicht alle Räder der Geschichte zurückdrehen kann. An dieser Stelle fällt auch der fundamentale Unterschied zu der anderen Diktatur auf, die wir auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert hatten. Die Ideologie des Nationalsozialismus war ein sehr dünnes Brett, aber die Vorstellung des Sozialismus, das ist eine 2000 Jahre alte Idee, die sogar heute noch Anhänger hat, trotz allen Scheiterns. Ganz anders ist es beim zweiten Thema. Da haben wir uns in West-Deutschland nach 1945 in den Spruchkammern furchtbar schwer getan, da tun sich bis heute die neuen Länder schwer, bei der Frage nach einem gerechten Umgang mit zweieinhalb Millionen SED-Mitgliedern, nebenbei bemerkt ein höherer Prozentsatz, als einst die NSDAP Mitglieder hatte. Für mich mündet das in der klaren Aussage: Wer bei der Stasi war, wer inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war, darf nicht Staatssekretär oder ähnliches einer demokratischen Regierung werden. Und hier bin ich mir zwar bewusst, dass die Stasi nicht der Staat war, aber eben Schild und Schwert der Partei und dass ich deswegen hier großes Verständnis habe, dass auch nach 20 Jahren Mitarbeit in der Stasi mit Mitarbeit am Aufbau dieses Staates nicht vereinbar ist. Die SED hat 1989/90 natürlich versucht, die Landbevölkerung gegen die Umwälzung aufzuhetzen, in dem sie als Schreckgespenst an die Wand malte, die Junker kämen wieder und nähmen ihnen ihr kleines Häuschen weg oder ihr Land, dass sie bei der Bodenreform bekommen hatten. Dabei forderten die meisten Enteigneten von einst und ihre Erben doch nur die Unmenge Land zurück, die in öffentlicher Hand war und die nach der Wende den Kommunen, den Ländern oder dem Bund zufielen. Und um dieses Eigentum ging es, nicht um eine Enteignung der kleinen Eigenheimbesitzer. Der Streit zwischen den Alt-Eigentümern und den öffentlichen Händen, die zu Erben von Bodenreformgut geworden sind, kann einen schon in Rage bringen. Sie inklusive… Ich will keinen neuen Streit über die Grundeigentumsfrage, aber zur Wahrheit gehört eben dazu: Der Bund hätte dieses Vermögen mit Leichtigkeit an die Alt-Eigentümer herausgeben können, und hat es nicht getan, weil er selbstverständlich im Besitz der Werte bleiben wollte. Ob das so in Ordnung war, weiß ich nicht. Der Streit um diese 47 Stasi-Pförtner bei der Stasi-UnterlagenBehörde zeigt uns gerade wieder, welche Sprengkraft auch 20 Jahre
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später noch in solchen Themen liegt. Stasi-Verfolgte und auch der neue Aktenhüter Roland Jahn, selbst einst ein Verfolgter, wollen, dass diese von dort wegversetzt werden. Andere halten das für „Rache an den kleinen Würstchen“. Was hielten Sie denn für eine gerechte Vorgehensweise? Prof. Vogel: Ich kann Roland Jahn gut verstehen, aber auch er muss halt begreifen, es gilt deutsches Recht. Sie werden Angestellte im öffentlichen Dienst, die sie seit 20 Jahren beschäftigt haben, selbst wenn das ein Ärgernis ist, nicht so ohne Weiteres wieder los. Und unser Rechtsstaat sichert Freiheit, aber ist manchmal auch schmerzhaft zu ertragen. Und deswegen würde ich aus diesem Einzelfall keine grundsätzlichen Schlüsse ziehen. Es schadet dem Ansehen eines Instituts, das zur Untersuchung des Vaatz: Wirkens von einer bestimmten politisch-strategischen Struktureinheit sozusagen geschaffen worden ist, nämlich der Staatssicherheit, dass genau jene Personen, die Gegenstand der Untersuchung sind, auch zugleich für dieses Institut selber arbeiten. Das geht nicht. Ich kann nicht, wenn ich einen bestimmten Untersuchungsauftrag habe, meine Unabhängigkeit oder meinen unabhängigen Ruf dadurch gefährden, indem ich mir nachsagen lassen muss, dass die Untersuchenden gleichzeitig Untersuchungsobjekte sind. Das geht nicht. Auch wenn ich hundertprozentig davon überzeugt bin, dass diese Personen mittlerweile auf dem Boden der freiheitlichdemokratischen Grundordnung stehen und sich auch dementsprechend in den letzten Jahren verhalten haben. Sie haben sich also nichts zu Schulden kommen lassen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass sie doch von sich aus interessiert sind, der Behörde keinen Ansehensverlust zu bereiten. Wenn offene Stellen für sie bereit stehen, kann ich mir vorstellen, dass sie freiwillig in diese offenen Stellen wechseln. Aber es gibt Kräfte, die genau an dieser Stelle zeigen wollen, dass sie letzten Endes im Recht sind und die Sache verhindern können. Und die haben natürlich einen konkreten Namen. Das sind Leute wie Herr Wiefelspütz und Herr Thierse von der SPD, die Roland Jahn und die CDU unbedingt mit dem Ansinnen scheitern sehen wollen und ihre Energie darin setzen, das Projekt zum Scheitern zu bringen. Sie wollen Roland Jahn zwingen, weiter mit diesen Leuten zu arbeiten. Prof. Vogel: Ich habe volles Verständnis für die Argumentation von Arnold Vaatz, trotzdem sage ich angesichts der vergangenen Jahre, angesichts der Verantwortung von Herrn Gauck und von Frau Birthler und angesichts der Größenordnung, da empfehle ich, die
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Angelegenheit etwas niedriger zu hängen. Daran hängt nicht die Bewältigung der ganzen Stasi-Vergangenheit. Ich halte die Versetzung für leicht realisierbar, wenn man will! Vaatz: Wenn man nicht will, natürlich nicht, das ist klar! Praschl: Drei Aspekte hätte ich gerne noch angesprochen in Sachen Gerechtigkeit beim Prozess der Wiedervereinigung. Als erstes die Renten. Die höchsten Renten in Deutschland werden heute ausgerechnet in Ost-Berlin gezahlt, da wo die SED mal ihre Hauptstadt hatte, wo deren Funktionäre wohnten, die niedrigsten in Bayern. Ein bizarres Missverhältnis, das die Frage aufwirft, ob nicht vielleicht in einigen Bereichen zu viel Transferleistungen von West nach Ost geflossen sind. Prof. Vogel: Die Aussagen über die Renten überlasse ich gerne meinem Freund Arnold Vaatz. Zu dem zweiten Punkt, den Sie anschneiden, möchte ich einmal feststellen: Es ist heute ein beachtliches Maß an Normalisierung eingetreten. Und ich kann nur sagen: Dank allen, die daran Anteil haben. Die Italiener haben vor kurzem ihre 150 Jahre in Freiheit gefeiert, das Entstehen des Staates Italien. Wir sind nach 20 Jahren in der Angleichung der Lebensverhältnisse meilenweit, Lichtjahre weiter als die Italiener nach 150 Jahren. Und ich weiß, dass ich lange Jahre in Thüringen die Sorge hatte, wenn wir nicht aufpassen, entsteht ein Süditalien in Ost-Deutschland. Das ist nicht geschehen, sondern jetzt muss man vorsichtig sein, dass westdeutsche Besucher nicht neidisch nach Hause zurückkehren, weil die Städte Dresden und Erfurt schöner sind als manche westdeutsche Städte. Und jetzt muss ich feststellen, dass das natürlich auch erheblich Geld gekostet hat. Ich würde übrigens gern gelegentlich mal bei der Klage über die hohen Schulden, die Länder und Bund gemacht haben, hören, dass da auch die Schulden der Wiedervereinigung dabei sind. Und dass die berechtigt waren und dass wir heute wieder diese Schulden machen würden. Ich hätte allerdings den Vorschlag: Wenn sich Bund und Länder in der Sache Steuerreform so absolut nicht einigen können, weil die Länder Schwierigkeiten haben, ihren Anteil zu übernehmen, dann soll der Bund doch den Solidaritätszuschlag abschaffen. Das kann er allein, entlastet die Steuerzahler in West und Ost, denn den Solidarzuschlag zahlen wir im Osten auch, und es würde gleichzeitig den Vorwurf, wir würden nach 25 Jahren immer noch für die Einheit zahlen müssen, begrenzen. Der Wiederaufbau hätte effizienter und billiger bewerkstelligt werVaatz: den können. Wenn wir nicht von Anfang an die furchtbare
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Inflexibilität des nunmehr gesamtdeutschen Öffentlichen Dienstrechtes gehabt hätten. Wir hätten durchaus mit einer größeren Gestaltungsfreiheit im personellen Bereich wesentlich billiger von Anfang an sein können. Zweitens, wenn die Bundesrepublik Deutschland mit den technischen Normen und den Umweltnormen, um nur mal zwei Teile aufzugreifen, des Jahres 1989 bereits im Jahre 1949 ausgestattet gewesen wäre, dann sähe die Bundesrepublik Deutschland heute nicht so aus, sondern vielleicht wie Nordkorea, weil die Beschränkungen, die alleine das Umweltrecht mit sich gebracht hat, die Verfahrensdauern und die zusätzlichen Aufwendungen in Infrastruktur oder auch die mittlerweile außerordentlich hohen Standards, die wir sofort erfüllen mussten, gestiegen sind. Ohne sie hätten wir die Sache wesentlich kostengünstiger hinbekommen können. Nun ist die große Frage: Wer hat denn das westdeutsche Dienstrecht und die westdeutschen Normen, die westdeutschen Standards, die westdeutschen Umweltgesetze und alles das bei uns sofort, 1990, installiert? Wir kannten sie gar nicht. Es muss vom Himmel gefallen sein, muss jemand anders gewesen sein. Prof. Vogel: Das Gedächtnis ist manchmal relativ kurz. Hätten wir im Einigungsvertrag nicht fast alle Gesetze im Osten übernommen, dann hätte es geheißen: Ihr wollt uns gar nicht haben. Von mir wäre der Vorwurf ganz bestimmt nicht gekommen. Vaatz: Prof. Vogel: Nein, aber von anderen, und leider bist du ja nicht allein. Wir haben 60 Jahre Bundesrepublik aufgebaut und über 20 Jahre die neuen Länder. Und das heißt, alles was neu ist, ist im Osten neuer als im Westen. Ich habe das immer wieder erlebt, wenn ein Oberbürgermeister einer westdeutschen Stadt bei der Einweihung eines Krankenhauses in Ost-Deutschland dabei war. Dann kam er hinterher zu mir und hat gesagt: Aber so modern ist mein Krankenhaus nicht! Ich habe ihm dann nur antworten müssen, aber du lebst schon seit 40 Jahren in Zweibettzimmern und nicht mehr in Fünfbettzimmern. Wir hätten ja nicht ein bisschen 20 Jahre aufbauen können! Wenn Sie ein Land in 20 Jahren völlig neu anstreichen, dann ist es natürlich moderner, als wenn Sie manches, was neu angestrichen war, im Westen nicht wieder anstreichen müssen. Selbstverständlich, das wird in 20 Jahren im Osten so sein. Die natürliche Entwicklung war in WestDeutschland, wo das über Jahre sich hinzog, die haben wir im Osten nicht gehabt, sonst wären die Häuser zusammengefallen. Sie können doch nicht erwarten, wenn Sie zwölf Leute in einem Zimmer ohne Nasszelle haben und ein neues Krankenhaus bauen,
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dass Sie sich jetzt nicht sagen lassen müssen, das muss aber älter sein als das 20 Jahre alte im Westen. Das geht doch nicht! Bei der Wirtschaftsleistung hängt der Osten immer noch hinterPraschl: her, bei der Arbeitslosenquote ist er, Thüringen mal ausgenommen, weit über Bundesschnitt. Wirtschaftlich gibt es also schon noch einen Unterschied, auch wenn er optisch nicht auffällt. Brauchen wir diesen Transfer in dieser Größenordnung? Prof. Vogel: Genau so wie er vorgesehen ist, in sehr stark abnehmendem Umfang bis 2019, und dann gilt, was für alle Länder gilt: der Bundesfinanzausgleich und der Länderfinanzausgleich, daraus bekommt das Saarland Mittel, und auch Bremen und wenn es notwendig ist, bekommt auch Mecklenburg-Vorpommern nach 2019 daraus Geld. Einen Solidarpakt III wird es nicht geben und ich würde mich auch Vaatz: nicht dafür einsetzen. Nach meiner Meinung muss die Zeit kommen, dass der Osten, also die Länder und die Gemeinden in OstDeutschland von ihren eigenen Einnahmen leben können. Die Aussicht, die Finanzspritzen würden immer wieder und wieder verlängert, würde notwendige Reformen, notwendige Umstrukturierungen, nur verhindern und Länder und Kommunen in einer Sicherheit wiegen, die es nicht gibt. Allerdings ist mir auch bewusst, wie schwer das ist. Wir haben jetzt in Ost-Deutschland in den Ländern eine durchschnittliche Steuerdeckungsquote von 56 Prozent. Die notwendige Steuerdeckungsquote liegt bei ungefähr 75 Prozent. Die brauchte man, damit man den Rest durch 25 Prozent sonstige Einnahmen abdecken kann – ohne Neuverschuldung. Der Aufwuchs der Steuerdeckungsquote pro Jahr ist nicht größer als ein halbes bis ein Prozent. Das heißt mit anderen Worten: Es ist nicht zu erwarten, dass wir bis zum Jahr 2019 eine Steuerdeckungsquote von 75 Prozent erreichen. Wenn wir gut sind, erreichen wir etwas über 60 Prozent. Bleiben 15 Prozent, die wir theoretisch durch Verschuldung bestreiten müssten. Es muss den Ländern gelingen, die Ausgabenseite um diese 15 Prozent zu reduzieren. Wenn es den Ländern gelingt, wenigstens die Hälfte davon, als ungefähr 7 Prozent in den Ausgaben runterzukommen, was ich als eine große Leistung betrachten würde, dann wäre ich auch bereit, durch Sonderprogramme die Länder an der einen oder anderen Stelle zu entlasten, aber nicht mehr durch eine systematische Förderung, die sich Solidarpakt III nennt. Das ist meine Position. Prof. Vogel: Ich bin auch strikt gegen einen Solidarpakt III. Wir haben einen Länderfinanzausgleich, der muss dann greifen. Wenn man noch
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das eine oder andere Zusatzprogramm machen kann, ist das in Ordnung. Aber im Übrigen wird sich zeigen: Wir haben nicht nur ein Ost-West-Gefälle, sondern immer mehr Bedeutung gewinnt das Nord-Süd-Gefälle. Und jetzt noch mal kurz zu den Renten. Da muss ich sagen, trügt die öffentliche Wahrnehmung. Im Westen sagt man: Die kriegen viel zu viel Rente im Osten, das sind alles Haushalte, wo Mann und Frau verdient haben. Und die kriegen jetzt natürlich, Mann und Frau, Rente und bei uns ist es so gewesen, dass einer gearbeitet hat, der andere ist zu Hause geblieben und wir müssen mit viel weniger auskommen. Das ist die Argumentation West. Und dazu noch: Die haben nie in unser System eingezahlt. Und die Argumentation Ost ist: Wir haben einen geringeren aktuellen Rentenwert als im Westen. So, dazu muss ich Folgendes sagen: Wenn die Angleichungsfantasie verwirklicht würde, dass wir den gleichen Rentenwert haben, dann ließe sich das nicht anders machen, als dass wir auch die gleiche Punktzuordnung bekämen. Wenn beides auf einen Nenner gebracht wird, sinken die Renten in Ost-Deutschland. Und nun muss man mal wissen, die meisten wissen überhaupt nicht, was eigentlich hinter dieser gegenwärtigen Rentenkonstruktion steht. Es ist nämlich folgendermaßen: Man hat 1990 in Ost-Deutschland festgestellt, dass das Lohnniveau bei ungefähr 35 Prozent des West-Niveaus liegt. Und dass das Lohnniveau natürlich auch rückbezüglich, also über der Erwerbslage, bei ungefähr 35 Prozent West gelegen hat. Und jetzt hat man gesagt: Moment mal, wenn wir jetzt eine Wiedervereinigung machen und die Preise in Ost- und West-Deutschland gleichen sich an, dann ist es doch völlig undenkbar, dass in Ost-Deutschland die Rentner jetzt plötzlich 35 Prozent der Restrenten, die natürlich auch nicht so üppig sind, also viel weniger als ein Arbeitsloser, haben. Das geht doch nicht! Die müssen doch eigentlich so viel kriegen, dass sie wenigstens leben können. Dann sagen wir: Wie wäre denn das Gehalt des Postmeisters oder des Spediteurs oder was auch immer im Osten gewesen, wenn er die gleiche Arbeit im Westen verrichtet hätte. Dann hat man ihm gesagt: Du hast jetzt so viel Rentenpunkte verdient, als wenn du im Westen diese Tätigkeit gehabt hättest? Das heißt mit anderen Worten, der hat jetzt auf einmal dasselbe Punktekonto wie sein Pendant im Westen. Das war die sogenannte Hochwertung. Jetzt hat man als nächstes gesagt: Wenn wir den noch mit demselben Rentenwert wie im Westen multiplizieren, dann kriegt er
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auch viel mehr als das, was jemand auf die Hand kriegt im Osten. Aus diesem Grunde wurde ein Mixsystem eingeführt. Der Rentner bekam zwar seine Anrechnungspunkte von früher, damit ihm seine früheren Gehälter, obwohl er verglichen mit dem Westen so wenig verdiente, nicht auf die Füße fallen, aber er wurde mit geringeren Rentenwerten multipliziert, damit er unter dem ostdeutschen Erwerbseinkommen lag und nicht drüber. Nun war man der Meinung, der Rentenwert würde sich mit den Löhnen nach und nach angleichen, was aber bis heute nicht eingetreten ist. Es gibt eine Reihe von Lösungsvorschlägen. Ich habe bis jetzt noch keinen gesehen, der wirklich so vernünftig ist, dass es auf der anderen Seite in Ost-Deutschland keine Einbußen bringt und im Westen sozusagen auch die Erwartungshaltung befriedigt. Ich sage mal so: Ich hoffe, dass es uns irgendwann gelingt, einen Zeitpunkt anzupeilen, wo die beiden Rentensysteme ineinander übergehen werden, um ab diesem Zeitpunkt einen stoßfreien Übergang zu gewährleisten. Das heißt also, wir werden den Rentenwert jetzt nach und nach auf den Berg zusteuern und dann müsste das in einem bestimmten Jahr gehen, aber wir dürfen bei der Gelegenheit nicht die Bestandsrentner einseitig treffen und auch nicht die Rentner, die die Ansprüche erwerben. Weil wir über so viele kleine und große Ungerechtigkeiten diskuPraschl: tieren: Hat denn der Einzelne überhaupt einen Anspruch gegenüber dem Staat, dass der in allen Fällen und allen Punkten für soziale Gerechtigkeit sorgt oder auf Gerechtigkeit insgesamt? Prof. Vogel: Wenn Sie von Gerechtigkeit insgesamt sprechen, dann hat der Einzelne einen Anspruch darauf, dass es beim Staat gerecht zugeht. Ganz ohne Frage, aber ich wiederhole noch einmal: Gerecht heißt, dass jeder seine Gerechtigkeit erfährt und nicht jeder die gleiche. Strengen sich die Leute unterschiedlich an, leisten die Leute unterschiedlich viel für das Gemeinwohl? Die Menschen sind unterschiedlich leistungsfähig, haben unterschiedliche Lebensbiographien, das muss ein gerechter Staat berücksichtigen. Aber er hat in der Tat Verantwortung, dass es gerecht zugeht. Vor Gericht, auch im sozialen Bereich, aber beispielsweise im Bildungsbereich, wo es ungerecht ist, wenn jeder die gleiche Bildung bekommt, und gerecht ist, wenn jeder die für ihn geeignete Bildung bekommt. Muss der Staat denn auch so einen Riesenschaden, wie uns diese Praschl: SED-Diktatur hinterlassen hat, für jeden Einzelnen ausgleichen? Prof. Vogel: Ja, natürlich, weil der Schaden entstanden ist, weil wir den Zweiten Weltkrieg gemeinsam verloren haben. Und es muss dringend noch
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mal darauf hingewiesen werden: Die DDR hat es gegeben, weil Hitler mutwillig einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen hat. Und weil wir diesen Krieg gemeinsam verloren haben, sind wir gemeinsam für die Bewältigung der Kriegsfolgen verantwortlich. Und leider ist das Wort „Wiedervereinigung“ immer wieder missbraucht worden anstelle des Wortes „Folgen der deutschen Teilung“. Vaatz: Kriegsfolgen. Prof. Vogel: Ja, Folgen der deutschen Teilung, die eine Folge des Krieges gewesen ist.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Ulrich Blum Ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre, seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Von 2004 bis 2011 Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Von 1991 bis 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der Technischen Universität Dresden. Davor Professor an der Universität Montreal und an der Universität Bamberg. Forschungsinteressen fokussieren auf Fragen der Wirtschaftspolitik und der Governance, der Industrie- und der Institutionenökonomik mit besonderem Interesse an Fragen der Systemtransformation von sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften zu Marktwirtschaften. Vorsitzender von nationalen und internationalen Kommissionen auf dem Gebiet der Innovationsund der Normungspolitik. Ordentliches Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaften und Künste. Dr. Michael Borchard Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Geboren 1967 in München. Von 1989 bis 1994 Studium der Politischen Wissenschaft, Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts in Bonn. 1994 Magister Artium. 1995 bis 1998 Promotionsstudium. 1995 bis 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesarchivs. 1998 freier Mitarbeiter in der Politischen Abteilung des Bundeskanzleramtes. Von 1998 bis 2003 Leiter des Referates „Reden, Textdokumentation, Fragen des gesellschaftlichen Wandels“ in der Thüringer Staatskanzlei. 2003 Leiter der Arbeitsgruppe Innenpolitik in der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit Dezember 2003 Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung. Prof. Dr. Thorsten Faas Inhaber der Juniorprofessur für Politikwissenschaft, insbesondere Wählerverhalten, an der Universität Mannheim. Studium der Politikwissenschaft an der OttoFriedrich-Universität Bamberg und der London School of Economics and Political Science (LSE). Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung e.V., Co-Sprecher des DVPW-Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ und Fellow der British Election Study. Projektleiter der „Wahlstudie Baden-Württemberg 2011“. Schwerpunkte der Forschung: Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlstudien, analog wie digital, online wie offline.
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Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Martin Lendi, Rechtsanwalt, o. Prof. für Rechtswissenschaften, ETH Zürich. 1961–1969 Generalsekretär Baudepartement Kanton St. Gallen, 1969–1998 Professor ETH Zürich, Mitglied und zeitweise Vorsteher der Leitung des Instituts für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH Zürich (1969–1987). Selbständige Professur für Rechtswissenschaft ETH Zürich (1987–1998), Vorsteher der Abteilung für Geistes- und Sozialwissenschaften, Vorsteher des Departements Recht und Ökonomie der ETH Zürich, (o.) Mitglied der dt. Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), Ehrendoktor der Universität für Bodenkultur Wien, Tit. Professor der Donau-Universität Krems, Träger des Camillo Sitte-Preises der TU Wien und der Republik Österreich, Ehrenmitglied der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung. Prof. Dr. Hans Maier Geboren 1931 in Freiburg im Breisgau. Studium der Geschichte, Romanistik, Germanistik und Philosophie in Freiburg und München. 1957 Promotion bei Arnold Bergstraesser. 1962 Habilitation für politische Wissenschaft. Ab Dezember 1962 Ordentlicher Professor für politische Wissenschaft an der Ludwigs Maximilian Universität München. 1966–1970 bayerischer Vertreter im Deutschen Bildungsrat als stellvertretender Vorsitzender. 1970–1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus. 1978–1987 Abgeordneter des Bayerischen Landtags. 1976–1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.1975–1985 Präsident des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz. 1985–1989 Präsident des Deutschen Bühnenvereins. 1988– 1999 Ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität München (Guardini Lehrstuhl). Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Schönen Künste und des Bayerischen Maximiliansordens. Prof. Dr. Gert Pickel Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie an der Universität Leipzig. Mitglied der Sprecherräte der Arbeitskreise „Demokratieforschung“ und „Politik und Religion“ der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DVPW) und des Vorstandes der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die politische Kulturforschung, Religionssoziologie, Demokratieforschung sowie international vergleichende Sozialwissenschaften. Aktuelle Forschungsschwerpunkte liegen auf der Bestimmung kontextabhängiger Säkularisierung, der Analyse von Einstellungen zu politischen Systemen und der Untersuchung religiösen Sozialkapitals.
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Dr. Thomas Schrapel Geboren 1956 in Oschatz (Sachsen). Studium der Alten Geschichte und Archäologie in Berlin (Ost) und Trier. 1992 Promotion im Fach Alte Geschichte. Seit 1993 Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung. 1999–2003 Mitarbeiter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Bereich „Aufbau Ost“. 2003 Koordinator Neue Länder der Konrad-Adenauer-Stiftung. 2004–2010 Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Mongolei in Ulan Bator. 2010–2012 Koordinator Neue Länder. Derzeit Landesbeauftragter der Konrad-AdenauerStiftung für Albanien. Arnold Vaatz Studium der Mathematik in Dresden, 1981 Diplom, 1982 bis 1983 Inhaftierung wegen Reservewehrdienstverweigerung; Zwangsarbeit im Stahlwerk Unterwellenborn. 1989 Mitglied in der Gruppe der 20 und Eintritt in das Neue Forum, Pressesprecher. 1990 bis 1998 Mitglied des Sächsischen Landtages. 1990 bis 1991 Chef der Sächsischen Staatskanzlei. 1992 bis 1998 Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung im Freistaat Sachsen. Seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2002 bis 2009 Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Bereiche Aufbau Ost, Menschenrechte u. humanitäre Hilfe, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Seit 2009 Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Bereiche Aufbau Ost, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Menschenrechte u. humanitäre Hilfe. Prof. Dr. Hans-Joachim Veen Studium der Politikwissenschaft, des Öffentlichen Rechts und der Geschichte an der Universität Hamburg und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1976 Promotion bei Wilhelm Hennis an der Universität Freiburg. 1983–1999 Forschungsdirektor in der Konrad-Adenauer-Stiftung und ab 2000 Leiter des Projekts „Demokratie- und Parteienentwicklung in Osteuropa“ der KAS. Seit 1994 Honorarprofessor an der Universität Trier. Seit 2002 Vorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar. Die Stiftung ist der vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert und ihrer demokratischen Transformation gewidmet. Seit 2008 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Prof. Dr. Bernhard Vogel Ministerpräsident a.D. Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 1965–1967 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1967–1976 Kultusminister von Rheinland-Pfalz, 1971–1988 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz.
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1972–1976 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). 1976–1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. 1992–2003 Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. 1994–2004 Mitglied des Thüringer Landtags. 1989– 1995 und 2001–2009 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit 2010 Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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NORBERT BISCHOF
MORAL IHRE NATUR, IHRE DYNAMIK UND IHR SCHATTEN
Dieses Buch handelt von der nobelsten Errungenschaft der menschlichen Kultur. Es handelt von einem erbarmungslosen Mordinstrument, dem mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als den schlimmsten Naturkatastrophen. Es handelt von Gut und Böse, die sich als Antipoden gebärden und doch nur zwei Seiten derselben Sache sind. Es handelt von der Moral. Der Psychologe und Verhaltensforscher Norbert Bischof analysiert aus interdisziplinärer Perspektive, wie die affektiven Mechanismen funktionieren, denen das moralische Werturteil entspringt. Dabei legt er deren evolutionäre Wurzeln frei, würdigt aber auch den Qualitätssprung, den die Tiernatur beim Übergang zum Menschen durch laufen hat. Bischof argumentiert aus der Distanz empirischer Forschung, verharrt aber nicht im Unverbindlichen. Er besteht darauf, unbequeme Fragen aufzuwerfen, wohlfeile Antworten zu problematisieren, Tabus in Frage zu stellen und dort, wo sich das Undenkbare abzeichnet, die Augen geöffnet zu halten. So wird erkennbar, dass Moral ein zutiefst paradoxes Phänomen ist, das bei gut gemeinter, aber maßloser Auslegung die Brände schürt, die es löschen soll. 2012. II, 526 S. 220 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-20893-6
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
historisch-politische mitteilungen Archiv für christlichdemokr atische Politik im auftr ag der Konr ad-AdenauerStiftung hrsg. von günter Buchstab / Hans-Otto Kleinmann / Hanns Jürgen Küsters
Die »Historisch-Politischen Mitteilungen« der Konrad-Adenauer-Stiftung bieten seit 1994 ein Forum für Forschungen und Darstellungen zur Geschichte der christlich-demokratischen Bewegungen und Parteien und ihrer Vorgeschichte im Kontext der geistigen, politischen und sozialen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt auf der Politik der Christlichen Demokratie in der staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Deutschlands nach 1945. Alle Bände enthalten Abstracts in Englisch, Französisch und Deutsch.
erscheinungsweise: Jährlich ISSN 0943-691X
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