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German Pages 400 [402] Year 2007
PARADEIGMATA 28
PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
Jürgen Goldstein, Jg. 1962, promovierte mit der Studie Norminalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham (Freiburg/München 1998) an der Universität Münster und lehrt als Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Bonn.
JÜRGEN GOLDSTEIN
Kontingenz und Rationalität bei Descartes Eine Studie zur Genese des Cartesianismus
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1836-0
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Inhalt
I.
Einleitung ........................................................................................
9
§ 1 Relektüre eines Klassikers ......................................................... § 2 Kontingenz als Konstitutionshintergrund cartesischer Rationalität ............................................................................... § 3 Der Cartesianismus als ein Palimpsest .....................................
9 24 31
Antike Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz ..................................................................................
39
§ 4 Notwendigkeit und Zufall der Weltentstehung im Platonismus und im Atomismus ............................................... § 5 Notwendigkeit, Möglichkeit und Zufall bei Aristoteles ........... § 6 Zufall und bedingte Notwendigkeit bei Boethius.....................
39 45 53
III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz .........
59
§ 7 Voluntarismus und Kontingenz ............................................... § 8 Die Notwendigkeit des Wesens und die Kontingenz des Seins bei Thomas von Aquin .............................................. § 9 Kontingenz und die Metaphysik des Möglichen bei Johannes Duns Scotus ......................................................... § 10 Kontingenz und Freiheit bei Wilhelm von Ockham ................ § 11 Kontingenz und Möglichkeit bei Nikolaus von Kues .............. § 12 Die Pluralität der Welten als Ausdruck der Kontingenz .......... § 13 Kontingenz statt Zufall .............................................................
59
68 76 83 88 94
IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus ......
99
§ 14 Kontingente Notwendigkeit ..................................................... § 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz ............................................. § 16 Die Inventur des Wirklichen.....................................................
99 116 126
Spekulative Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität ........................................................................................
143
§ 17 Eine zweite Schöpfung: Kosmogonie und Rationalität ............ § 18 Aristotelische Topologie und die Aporie der Endlichkeit .........
143 147
II.
V.
64
6
Inhalt
§ 19 Kreationistische Metaphysik und der Bedarf an Unendlichkeit ....................................................................... § 20 Spekulative Unbegrenztheit als der imaginäre Raum der cartesischen Rationalität .......................................................... § 21 Die Rationalität der ›Neuen Welt‹: Ein Atomismus ohne Atome .............................................................................. § 22 Der Geltungsanspruch der neuen Rationalität ......................... § 23 Der cartesische Kopernikanismus ...........................................
170 180 190
VI. Meditative Anthropogenese: Das cogito zwischen Kontingenz und Notwendigkeit ...........................................................................
205
151 160
§ 24 Eine zweite Schöpfung: Die rationale Geburt des neuen Menschen ...................................................................... § 25 Die Kontingenz der Situation und das reinigende Instrument des Zweifels ........................................................... § 26 Das augustinische und das cartesische cogito ........................... § 27 Die erste Notwendigkeit und die Kontingenzen des cogito ..... § 28 Die Kontingenz der res cogitans und die zweite Notwendigkeit ......................................................................... § 29 Kontingenter und absoluter Rationalismus .............................
214 233 247
VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität .........
295
§ 30 § 31 § 32 § 33
205
260 276
Das Ordnen der Gedanken ....................................................... Vermittelte Wirklichkeit: Repräsentation durch species? .......... Physiologische Unmittelbarkeit und kontingente Codes ......... Angeborene Ideen als Konstitutionsprinzipien des aktiven Intellekts ....................................................................... § 34 Reine Rationalität und die Notwendigkeit eines Empirismus
295 310 325 332 341
VIII. Schluß ...............................................................................................
353
§ 35 Kontingenz und Rationalität ....................................................
353
Nachwort ................................................................................................. Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. Literaturverzeichnis .................................................................................. Namenverzeichnis .....................................................................................
367 369 371 395
… denn mein Denken erlegt den Dingen keinerlei Notwendigkeit auf … Descartes, Meditationes V
I. Einleitung
§ 1 Relektüre eines Klassikers Wer einen philosophischen Klassiker liest, weiß anfangs bereits zuviel und am Ende immer noch zuwenig. Er weiß zuviel, da er in der Regel schon über Urteile verfügt, bevor er auch nur eine Zeile des Textes, auf den sie sich beziehen, gelesen hat. Die Etiketten, die dem Text angeheftet zu werden drohen, liegen bereit. Die Schablonen zur Zeichnung des systematischen Grundrisses des Denkers auch. Fein säuberlich ist das Œuvre eines Klassikers in zu füllende Schubladen aufgeteilt: Haupt- und Nebenwerke, Bedeutungszentren und die Peripherie des Randständigen, noch Aktuelles und inzwischen Skurriles. Haben sich die Klassiker nicht an die heutige Exklusivität der Disziplinen gehalten, kommt – bei Autoren des Mittelalters – die Spaltung in das philosophische und das theologische Werk hinzu und – bei Autoren der frühen Neuzeit – etwa die Trennung von philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften. Da jedem Klassiker ein Ruf vorauseilt, kann man ihm nicht anders begegnen als mit einer Mischung aus abgesichertem Wissen, vagen Vermutungen und unentdeckten Fehleinschätzungen. Klassische Texte haben es schwer. Die Überraschungsresistenz des Lesenden ist die Gefahr aller Hermeneutik, Langeweile der unausgesprochene Indikator für eine mißlungene Lektüre. Andererseits gehört zur Resistenz klassischer Texte, daß sie sich gegen ihre Interpretationen behaupten. Es gibt keinen absoluten Kommentar zu ihnen. Sie widersetzen sich dem Versuch, in ein ihnen adäquates Interpretationssystem vollständig überführt zu werden. Die Unabschließbarkeit ihrer Ausdeutungen, der Reichtum der an ihnen entdeckbaren Facetten und die durch sie erfaßbar gewordenen Aporien machen ihre systematische Qualität aus und sichern ihre Unersetzbarkeit. Die Verteidigung ihrer Lesbarkeit besteht darin, auf eine Unabgeschlossenheit ihrer interpretatorischen Aneignung zu insistieren. Das Verblüffungspotential eines klassischen Werkes erweist sich in dem Überbieten der Erwartungen, mit denen der mit seinem Stenogramm Vertraute an den Text herangegangen ist. Es mag nicht für jeden Text gelten, aber für alle klassischen: Das Voraussetzen ihrer prinzipiellen Offenheit für den deutenden Zugriff empfiehlt sich als ein hermeneutisches Apriori, das am Beginn der Lektüre zu stehen hat. Zur Souveränität ihrer Klassizität gehört, daß jede Relektüre der im allgemeinen philosophischen Gedächtnis kanonisierten Texte nicht beliebig und der freien Variation überlassen ist, sondern sich vor der Tradition ihrer Deutungen behaupten und vor allem am Text bewähren muß.
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I. Einleitung
Descartes stellt den Inbegriff eines neuzeitlichen Klassikers der Philosophie dar. Vielleicht kann man sagen, er sei der klassischste aller neuzeitlichen Klassiker. Er repräsentiert den Prototyp des modernen Denkens. Die epochengenetische Funktion, die man ihm in der Philosophiegeschichtsschreibung zugewiesen hat, ist an Bedeutung und Rang unübertroffen. Der Cartesianismus kommt dem Prägnanzbedürfnis, eine Abkehr vom Mittelalter bestimmen zu können, so sehr entgegen, daß die Anerkennung der Klassizität Descartes’ nicht notwendig eine Akzeptanz seiner Positionen erfordert. So urteilt schon Fontenelle, die neue Methode des Schlußfolgerns, die Descartes eingeführt habe, sei sehr viel schätzenswerter als seine eigentliche Philosophie, von der ein großer Teil falsch oder ungewiß sei.1 Das wirkungsgeschichtliche Gewicht der cartesischen Philosophie ist so groß, daß die Frage, ob man sich als Cartesianer versteht oder nicht, wenig Sinn macht, wie Maurice Merleau-Ponty herausstellt: Jene, die dieses oder jenes bei Descartes ablehnen, tun dies aus Gründen, die Descartes viel verdanken.2 Treffender läßt sich die Klassizität Descartes’ nicht auf den Punkt bringen. Da nun der Status des Klassikers eine innerdisziplinäre Popularität verbürgt, ist auch Descartes ein anhaltendes Interesse beschieden. Seine Philosophie darf als gut erforscht gelten. Zu ihr liegen gewichtige Gesamtdarstellungen vor, Person und Werk sind in ihrer denkbiographischen Entwicklung ausgeleuchtet, Spezialuntersuchungen zu Detailproblemen der cartesischen Philosophie vertiefen das Bild, das wir uns vom Cartesianismus machen. Das Werk Descartes’ ist mustergültig ediert, reichhaltig kommentiert und manchmal scheinbar bis zum Überdruß diskutiert. Über die Rekonstruktion der cartesischen Philosophie hinaus ist Licht in das Dunkel der historischen Voraussetzungen und der Wirkungsgeschichte des Cartesianismus gebracht worden. Descartes ist ein Klassiker der Philosophie, den zu kennen zur Grundausstattung des modernen Denkens gehört. Dennoch sind Fragen offen. Die in der neueren Literatur zum Teil heftig geführte Debatte, wie die cartesischen Ideen zu verstehen sind und um welche Form von Repräsentationalismus es sich bei ihnen handelt, gehört dazu. Als noch grundsätzlicher erweist sich die Frage, ob Descartes vorrangig als ein Metaphysiker, Erkenntnistheoretiker oder Bewußtseinsphilosoph zu resümieren ist oder nicht eher als ein Naturwissenschaftler am Beginn der frühen Neuzeit, der 1
B. de Fontenelle, Digression sur les anciens et les modernes (Œuvres complètes II, 358): Es ist für Fontenelle Descartes, »qui a amené cette nouvelle méthode de raisonner, beaucoup pus estimable que sa philosophie même, dont une bonne partie se trouve fausse ou incertaine …« 2 M. Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960, 17: »Etes-vous ou n’êtes-vous pas cartésien? La question n’a pas grand sens, puisque ceux qui rejettent ceci ou cela dans Descartes ne le font que par des raisons qui doivent beaucoup à Descartes.«
§ 1 Relektüre eines Klassikers
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auch philosophische Texte schrieb. Auch über die Einschätzung der Wirkungsgeschichte ist man sich bei genauerem Hinsehen nicht im klaren. Allzuvieles erscheint inzwischen als gut gepflegte Tradition der Fehleinschätzung, so daß sich oftmals das Bild, das zu sehen man sich von der cartesischen Philosophie angewöhnt hat, vor die Texte schiebt. Klassiker der Philosophie zu lesen bedeutet daher auch, sie immer wieder zu lesen. Ihre Lesbarkeit ist durch die Einnahme neuer Perspektiven zu erhalten und gegen den sanften Dogmatismus eines normativen Konsenses zu verteidigen. Die vorliegende Studie unternimmt einen solchen Versuch der Relektüre der cartesischen Philosophie. Auf einen Satz gebracht geht sie der Vermutung nach, daß sich zwischen der Reflexion der Modalität der Kontingenz seit dem späten Mittelalter und der Ausbildung der cartesischen Rationalität in der frühen Neuzeit ein Zusammenhang sichtbar machen läßt, der nicht übersehen zu werden verdient. Und damit fangen die Probleme schon an. Der Terminus contingentia taucht in den Schriften Descartes’ so gut wie nicht auf. Weder schenkt ihm Descartes seine definitorische Aufmerksamkeit, noch weist er ihm überhaupt eine Schlüsselstellung in auch nur einem seiner Werke zu. Die Absenz eines Terminus ist allein aber kein Kriterium für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, systematisch – und somit ausdrücklich jenseits der philologischen Belegbarkeit – ein konstitutives Moment einer Philosophie gerade unter diesem in ihr kaum oder nicht auftauchenden Terminus resümieren zu können. So hat Aristoteles seine Erste Philosophie nicht ›Metaphysik‹ genannt, auch wenn wir sie in die Geschichte der Metaphysik einordnen dürfen. Es stört sich auch niemand ernsthaft daran, die Ausführungen von Thomas von Aquin zum Sinn des Übels als eine mittelalterliche Position der ›Theodizee‹ zu erfassen, auch wenn dieser Begriff erst seit Leibniz auf das systematische Problem der Entschuldung Gottes angesichts des Übels in der Welt angewendet wird. Ähnliches ließe sich über die ›Anthropologie‹ sagen, bei der man sich nicht einmal einig ist, ob es sie – jenseits der Präsenz dieses Terminus – eigentlich immer schon gab oder ob wir erst seit der Neuzeit von Anthropologie als einem spezifizierten und fokussierten Interesse am Menschen sprechen können.3 Von einer Theorie der ›Modalität‹, die sich mit Potenz, Akt, Notwendigkeit, Möglichkeit usf. beschäftigt, sprechen wir eigentlich erst seit Kant, da weder die Antike noch das Mittelalter von einer modalitas sprach,4 obgleich die entscheidenden Vorgaben einer Theorie der Modalität diesen Epochen entstammen. 3
Vgl. O. Marquard, »Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts«, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Neuauflage Frankfurt am Main 1982, 122–144 (Anmerkungen 213 ff.); ders., Artikel »Anthropologie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, 362–374. 4 Vgl. I. Pape, Tradition und Transformation der Modalität I: Möglichkeit – Unmöglichkeit, Hamburg 1966, 14: »Es fehlt dem Problem auf langer Strecke der sammelnde Begriff der
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I. Einleitung
Auch wichtige Antizipationen für das moderne Verständnis von ›Intentionalität‹ entstammen dem Mittelalter – Vorwegnahmen, die sich erst vollständig erfassen lassen, wenn auch dort systematisch nach mittelalterlichen Beiträgen zur Theorie der Intentionalität gefragt wird, wo nicht ausdrücklich von intentiones oder von intentionalitas die Rede ist.5 Die Absenz eines Terminus limitiert also nicht ohne weiteres die philosophische Interpretation einer Quelle, wenn das mit dem Terminus Bezeichnete sich ›der Sache nach‹ in ihr nachweisen läßt. Es ist die uns zugefallene Möglichkeit der historischen Distanz, ein philosophisches Denken quellenintern rekonstruieren und mit Begriffen rekapitulieren zu können, die diesem Denken nicht zur Verfügung standen oder die in ihm keine dominante Ausdrücklichkeit erreicht haben. In diesen Fällen wird ein Beitrag der Philosophiegeschichte in eine inzwischen sichtbar gewordene Gesamttendenz eingeordnet, die den damaligen Autoren selbst noch unzugänglich war. So hat man gute Gründe gesehen, Descartes als einen Begründer der Bewußtseinsphilosophie zu bestimmen – es gibt auch gute Gründe dagegen –, obwohl bei ihm von conscientia oder von der cognitio interna kaum die Rede ist und die übrigen Begriffe, wie mens, intellectus, ratio oder res cogitans, das mit ›Bewußtsein‹ Gemeinte nicht exakt abdecken. Das Phänomen einer unausdrücklichen Präsenz läßt sich an den cartesischen Meditationes de prima philosophia exemplarisch aufzeigen. Aristoteles wird in ihnen nicht ein einziges Mal genannt, obwohl ihr Grundimpuls antiaristotelisch ist. Eine Hermeneutik des Abwesenden könnte auf diese konstitutive Relation durch eine philosophische Interpretation hinweisen – sie braucht es nicht, da Descartes in einem Brief an Mersenne seine Intention offengelegt hat: »… und ich will Ihnen unter uns sagen, daß diese sechs Meditationen sämtliche Grundlagen meiner Physik enthalten. Man darf es aber bitte nicht sagen, denn diejenigen, die Aristoteles begünstigen, würden dann vielleicht mehr Schwierigkeiten machen, sie zu billigen. Und ich hoffe, daß diejenigen, die sie lesen, sich unmerklich an meine Prinzipien gewöhnen und ihre Wahrheit einsehen werden, ehe sie bemerken, daß sie die des Aristoteles zerstören.«6
›Modalität‹. ›Modus‹ bleibt bis zu Kant hin ein für das Modalproblem unspezifischer Terminus …« 5 Dominik Perler hat sich in seiner philosophiegeschichtlichen Studie Theorien der Intentionalität im Mittelalter (Frankfurt am Main 2002) ausdrücklich nicht auf eine Terminologiegeschichte beschränkt, sondern geht dem Terminus intentio auch in Kontexten nach, wo er nicht expressis verbis vorkommt (vgl. ebd., 25). 6 Brief an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 297 f.): »… ie vous diray, entre nous, que ces six Meditations contiennent tous les fondements de ma Physique. Mais il ne faut pas dire, s’il vous plaist; car ceux qui fauorisent Aristote feroient peutestre plus de difficulté de les approuuer; et i’espere que ceux qui les liront, s’accoûtumeront insensiblement à mes
§ 1 Relektüre eines Klassikers
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Die Entdeckung der Anwesenheit des Ungenannten ist eine hermeneutische Aufgabe jenseits der philologischen Hinwendung zum Präsenten. Sie ist so schwierig wie unverzichtbar. Ihre Präzision ist die einer Archäologie des Verstehbaren. Nicht immer kann sie auf den Glücksfall hoffen, daß ein bis zur Unsichtbarkeit verdunkelter Aspekt in einem Text durch den erhellenden Fund an seiner kontextuellen Peripherie an Sichtbarkeit gewinnt. Das kann, wie im erwähnten Fall, eine Stelle in einem nicht verloren gegangenen Brief sein. Nimmt man zur Präsenz eines Textes die nachweisbaren und vermutbaren Einflüsse hinzu, die er als Voraussetzung unmerklich transportiert, kann ein solcher Glücksfall auch in der physischen Unversehrtheit privater Bibliotheken bestehen. So können wir aufgrund der erhaltenen Bibliothek des Nikolaus von Kues nicht nur die systematische Nähe zu Raimundus Lullus ermessen und einen Rezeptionszusammenhang vermuten, sondern nachweislich belegen, welchen Einfluß Lullus auf den Cusaner hatte. Von keinem anderen Autor besaß der Cusaner mehr Schriften, erwähnt hat er Lullus – vielleicht aus Unsicherheit über dessen allgemeine Akzeptanz – so gut wie nie.7 Doch derartige Erhellungen eines Textes durch externe Hinweise sind nicht die Regel. Wo sie ausbleiben, sind die genetische Interpretation und der Vergleich mit anderen Texten das einzige Mittel, der Hermetik eines Textes zu entgehen, um ihn im Wechselspiel von interpretatorischer Nähe und Distanz überhaupt erst vollends ansichtig zu machen. Warum aber hat Descartes vom Begriff der contingentia, der ihm vertraut war – das ist der Unterschied zu den erwähnten Fällen des Stagiriten und des Aquinaten, die die Termini der Metaphysik und der Theodizee hätten erfinden müssen, um sie benutzen zu können –, keinen Gebrauch gemacht? Tat er es nicht, weil er dem systematischen Problem der Kontingenz kein Gewicht beimaß? Die vorliegende Studie behauptet das Gegenteil, indem sie nachzuweisen versucht, daß das Bewußtsein der Kontingenz bei Descartes einen Grad an Selbstverständlichkeit erreicht hat, der jene Hintergründigkeit ausmacht, die Wirksamkeit verbürgt, ohne Ausdrücklichkeit zu verlangen. Diese gewiß gewagte und noch vage These gilt es zu präzisieren. Warum ist ein Zusammenhang von Kontingenz und cartesischer Rationalität anzunehmen? Erwägt man die verschiedenen Möglichkeiten einer vorläufigen und andeutenden Begründung, eröffnen sich systematische Perspektiven unterschiedlicher Verbindlichkeit und Plausibilität. principes, & en reconnoistront la verité auant que de s’apperceuoir qu’ils détruisent ceux d’Aristote.« 7 Eusebio Colomer verweist in seiner Studie Nikolaus von Kues und Raimund Llull. Aus Handschriften der Kueser Bibliothek (Berlin 1961, 1) auf 68 echte Schriften von Lullus, die der Cusaner besaß, wohingegen er ihn nur an zwei Stellen seines Werkes ausdrücklich mit seinem Namen zitiert habe. Vgl. auch Ch. Lohr, »Die Exzerptensammlung des Nikolaus von Kues aus den Werken Ramón Lulls«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 30 (1983), 373–384.
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I. Einleitung
Begonnen werden kann mit der Umkehrung der Beweislast. Kontingenz ist innerhalb der genealogischen Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen der neuzeitlichen Rationalität kein zufällig sich anbietender Begriff. Vielmehr spielt Kontingenz bei der Erfassung der Transformation des klassischen Seinsverständnisses, die den Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit präziser zu bestimmen hilft als alle kulturellen, politischen oder sozialen Umbrüche, eine indikatorische Rolle. Die schöpfungstheologische Annahme, alles Geschaffene sei kontingent im Sinne von möglich, aber nicht notwendig, ist das kreationistische Fazit der spätmittelalterlich vorherrschenden Tendenz eines theologischen Voluntarismus. Alles Seiende ist demnach kontingent, da es auf den freien Willen des allmächtigen Gottes zurückgeht, der das Seiende auch nicht oder anders hätte schaffen können. Es gehört zur Leistung und Spezifität des spätmittelalterlichen Denkens, den Kontingenzbegriff aus seiner systematischen Marginalität herausgeholt und im Rahmen der Ontologie universalisiert und in den Status einer selbstverständlichen Annahme überführt zu haben. Die Beiläufigkeit, mit der etwa schon Nikolaus von Kues von dem Kontingenzgedanken Gebrauch macht, spricht dafür. Die Geschichte der Entstehung der philosophischen Neuzeit ist daher immer auch eine Geschichte der Wirksamkeit des spätmittelalterlich entfalteten Kontingenzbegriffs. Wenn sich diese Annahme erhärten läßt, stellt sich die Frage, warum das frühneuzeitlich präsente Bewußtsein der Kontingenz auf Descartes wirkungslos geblieben sein soll. Die Annahme eines Zusammenhangs von spätmittelalterlicher Kontingenz und frühneuzeitlicher Rationalität behauptet bereits im Ansatz mehr, als das Mißverständnis einer beliebigen Befragung des Cartesianismus unter der Perspektive eines heteronomen Aspekts glauben machen könnte. Es stellt sich die Frage, ob die cartesische Rationalität als eine Form nachmittelalterlicher Kontingenzbewältigung zu begreifen ist, also als eine Ausprägung von Rationalität, für die der Horizont der Kontingenzreflexion verbindlich ist. Dabei kann Kontingenz den Hintergrund ausmachen, den der cartesische Rationalismus akzeptierend voraussetzt oder von dem sich abzusetzen und den zu überwinden sein Anliegen ist. In beiden Fällen käme der Kontingenz eine konstitutive Bedeutung für den Cartesianismus zu, wenn sie tatsächlich eine von der Rezeptionsgeschichte unentdeckte Bedingung der Notwendigkeit seiner Herausbildung darstellt. Wer den Einfluß des Kontingenzbegriffs auf den Cartesianismus leugnet, steht daher implizit vor der Aufgabe, alternativ die Genese der cartesischen Rationalität unter Einbeziehung der problemgeschichtlichen Vorgaben erklären zu können. Das Verstehen der Genese des Cartesianismus ist dabei etwas anderes als das Nachzeichnen der Faktizität seiner Entstehung. Einen weiteren Grund, der dafür sprechen kann, dem Zusammenhang von spätmittelalterlichem Kontingenzbewußtsein und cartesischer Rationalität nachzugehen, bietet der Aspekt der indirekten Präsenz. Descartes spricht an zentralen Stellen nicht von der Kontingenz, wohl aber von der Notwendigkeit. Die
§ 1 Relektüre eines Klassikers
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angeborene Idee Gottes etwa zeichnet sich dadurch aus, daß sie im Gegensatz zu erworbenen und gemachten Ideen die Notwendigkeit der Existenz Gottes verbürgen soll. Auf diese Notwendigkeit kommt es Descartes im Beweisgang der Meditationes unbedingt an. Im Kontext der Ideen nichtmaterieller Gegenstände spricht Descartes, um ein zweites Beispiel zu nennen, von den ›ewigen Wahrheiten‹ (veritez eternelles), den mathematischen und logischen Gesetzmäßigkeiten. Für Descartes haben diese Notwendigkeiten eine konstitutive Funktion für unsere Rationalität: Es sind die Notwendigkeiten, die die Leistungsfähigkeit unserer Rationalität begründen und limitieren. Da die Modalität der Notwendigkeit das Komplement zur Modalität der Kontingenz darstellt, hat Descartes, wenn er von der Notwendigkeit spricht, indirekt auch immer die Kontingenz im Blick. Die verborgene Präsenz des Kontingenzbegriffs scheint daher zumindest indirekt in eine Ansichtigkeit überführbar zu sein: durch einen Blick auf die Präsenz der komplementären Modalität der Notwendigkeit. Das führt zu einem weiteren Aspekt, der auf die Attraktivität verweist, dem Zusammenhang von Kontingenz und Rationalität im Cartesianismus nachzugehen. Man könnte ihn das Moment der konstitutiven Präsenz des kontingenzstiftenden Prinzips nennen. Unübersehbar kommt der Idee des allmächtigen Gottes in der cartesischen Philosophie eine Schlüsselstellung zu. Weder das Programm eines methodischen Zweifels noch das Selbstvergewisserungsbedürfnis des Subjekts in der aufgewiesenen Evidenz des cogito scheinen ohne die Präsenz eines allmächtigen Gottes in der systematischen Motivation nachvollziehbar zu sein. Die von Descartes nicht weiter entfaltete, sondern gelegentlich in Briefen erwähnte und ansonsten vorausgesetzte Lehre von der Allmacht Gottes hat darüber hinaus in einem folgenschweren Schritt dazu geführt, daß er die von Augustinus behauptete Analogie von göttlichem und humanem Geist aufgekündigt hat. Darin beerbt Descartes den theologischen Voluntarismus des späten Mittelalters. Ausdrücklich ist der Mensch für Descartes in seinen intellektuellen Fähigkeiten kein Abbild Gottes mehr. Die Zurückweisung einer Analogie von göttlichem und humanem Geist folgt der neuen Präsenz des unbestimmten und uneinsehbaren göttlichen Willens und zwingt die humane Rationalität zur Ausbildung eines neuen und nachmittelalterlichen Selbstverständnisses. Wer versucht sein sollte, die cartesische Rede vom allmächtigen Gott als einen unbewältigten Rest scholastischen Denkens abzutun, würde die konstitutive Funktion dieses theologischen Lehrstücks für die Herausbildung des Cartesianismus verkennen. Nicht nur in der vielleicht zu hypothetisch erscheinenden Gestalt des täuschenden Gottes, der zur Betonung des experimentellen Charakters der Überlegungen eigens in einen genius malignus umgewandelt wird, berührt die Allmacht die Intimität des Subjekts mit seinen kognitiven Gewißheiten. Die sogenannten ›ewigen Wahrheiten‹, also mathematische oder logische Gewißheiten, besitzen für den menschlichen Intellekt eine zwingende Notwendigkeit. Ihre Nichtnotwendigkeit ist für ihn nicht denkbar. Er ist nicht in der Lage, sich
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I. Einleitung
ein Dreieck anders als aus drei Seiten bestehend vorzustellen. Dennoch geht Descartes davon aus, daß auch diese ewigen Wahrheiten von Gott abhängen. Als von Gott gestiftete Wahrheiten sind sie zwar insofern verläßlich, als daß die Kontinuität des göttlichen Willens ihre Dauer für uns garantiert. Aber Gott hätte, wie ein König Gesetze erläßt, die ewigen Wahrheiten auch anders bestimmen können. Eine derart alternativ geschaffene logische oder mathematische Wahrheit hätte dann für uns wiederum einen verbindlichen Charakter, aus der Perspektive Gottes aber ist ihr keine aus sich selbst heraus begründbare Notwendigkeit eigen. Gottes freier Schöpfungswille unterliegt nicht der Notwendigkeit, den Notwendigkeiten ewiger Wahrheiten gefolgt sein zu müssen. Er hätte sie auch anders schaffen können. Die für uns notwendigen Wahrheiten sind aus seiner Sicht nicht mehr als kontingente Notwendigkeiten. Das Selbstverständnis der cartesischen Rationalität ist davon unmittelbar berührt. Es formuliert sich unter der Bedingung der Kontingenz, die insofern ihre Präsenz behauptet, als daß Gottes freier und allmächtiger Wille als das erste kontingenzstiftende Prinzip an zentraler Stelle eine wesentliche Rolle spielt. Es ist die Versuchung des postcartesianischen Blicks einer autonomen Modernität, den cartesischen Gott im Grunde als einen Theatergott mißzuverstehen, den Descartes nach Belieben durch die Kulissen seines Schauspiels der Vernunft schiebt. Erst die Einbeziehung der spätmittelalterlich gestellten Problemkonstellation eines theologischen Voluntarismus verleiht der Ernsthaftigkeit des cartesischen Gottesbegriffs Kontur. Die von der historisierenden Forschung aufgedeckte Mittelalterlichkeit einiger Facetten des cartesischen Denkens ist nicht länger eine Enttäuschung, aus der sich der Vorwurf einer inkonsequenten Ablösung von dem zu überwindenden Mittelalter speist, sondern die Aufdeckung der Bedingung der Möglichkeit der Konstituierung des Cartesianismus. Wie läßt sich nun die Aufdeckung einer fruchtbaren Dependenz des Cartesianismus vom spätmittelalterlichen Kontingenzbewußtsein absichern? Ein philosophischer Aufweis des Zusammenhangs von Kontingenz und Rationalität bei Descartes hat mehrere Aspekte zu beachten. Es gilt zunächst, einigen Verlockungen der klassischen Descartes-Rezeption zu widerstehen. Eine erste Bedingung, um das Wechselspiel von Kontingenz und Rationalität bei Descartes überhaupt erst in den Blick bekommen zu können, besteht darin, den epochengenetischen Repräsentationalismus abzulegen. Wohl keinem Autor der beginnenden Neuzeit ist ein vergleichbarer Sonderstatus für die Entstehung dieser Epoche zuerkannt worden. Descartes repräsentiert den Epochenbeginn wie kein anderer. Die Attraktivität einer Identifizierung des Cartesianismus mit dem Aufbruch in eine neue Zeit bestand von Beginn an in der Prägnanz, vor allem die cartesische Methode gegen die überkommene Tradition wenden zu können. Eine polemische Abkehr von der Tradition gehört dabei zum rhetorischen Rüstzeug einer Steigerung des Cartesianismus ins Symbolische. So verteidigt bereits Samuel von Pufendorf in einer wohl 1688 entstandenen Apologie
§ 1 Relektüre eines Klassikers
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die cartesische Philosophie, indem er in ihrer Neuartigkeit einen Triumph über den Aristotelismus erblickt: Es lassen sich nicht länger »die Medici und Mathematici deßfalls gantz keine gesetze vorschreiben, und geben ohne Scheu dem Aristoteli einen guten tag; kehren sich auch nicht daran, ob ein und ander diese neue Philosophie«, also den Cartesianismus, »noviteten heiset, weil es ja eine grosse Schande für alle gelehrte wäre, daß sie in 2000 Jahren nichts mehrers und bessers, alß Aristoteles hätten erfinden können«.8 Es ist dieser durchaus nicht theoretische, sondern die Bildungspolitik an den Universitäten bestimmende Wegestreit, dem der Cartesianismus zu einem nicht unerheblichen Teil seine Popularität verdankte. Der Cartesianismus ist das Symbol für den Triumph der neuen Philosophie über die Tradition der alten Welt. Dabei ist es gar nicht so falsch, auch heute noch in Descartes einen entscheidenden Anfang der neuzeitlichen Philosophie zu sehen. Aber dieser Anfang speist sich aus der Tradition. Sowohl die Möglichkeiten als auch die Notwendigkeiten der ›cartesischen Revolution‹ sind nicht voraussetzungslos. Man ist geneigt zu übersehen, daß der Erneuer der Philosophie während der Niederschrift der Meditationes eine der Summen des Thomas von Aquin und die Bibel bei sich hat.9 Erst der vom philosophiegeschichtlichen Mythos eines in allem anfangenden Anfangs befreite Blick läßt an Descartes die Auseinandersetzung mit der Tradition jenseits seiner eigenen rhetorischen Schelte an ihr sichtbar werden. Die geschichtliche Tiefenschicht des Cartesianismus schätzen zu lernen bedeutet, in ihr nicht länger vermeintliche Traditionsreste, sondern vielmehr Modernitätsfundamente auszumachen. Eine weitere Bedingung einer gelingenden Heuristik unentdeckter historischer Dependenzen des Cartesianismus, die den erwähnten Repräsentationalismus hinter sich läßt, ist die Depotenzierung des cartesianischen Komparativs. Diese klassische Denkform der Descartes-Rezeption nimmt die cartesische Philosophie als einen Anfang, den es zwar affirmativ zu bestätigen, vor allem aber zu überbieten gilt. Descartes ist für Hegel der »wahrhafte Anfänger der modernen Philosophie«10 – das Oszillieren dieses Urteils ist nicht zu übersehen: explizites Lob und implizite Kritik in einem. An Husserls Lesart der cartesischen
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S. v. Pufendorf, Samuelis Pufendorfii Unvorgreifflich Bedencken über der Deputirten von der Priesterschafft requeste wegen abschaffung der Cartesianischen Philosophie, in: ders., Kleine Vorträge und Schriften. Texte zu Geschichte, Pädagogik, Philosophie, Kirche und Völkerrecht, hg. und eingeleitet von D. Döring, Frankfurt am Main 1995, 432–441, hier 440. 9 Descartes, der um die Zeit bereits in den Niederlanden lebt, erwähnt in einem Brief an Mersenne vom 25. Dezember 1639 (AT II, 630), er habe jene Bücher aus Frankreich mitgenommen: »… i’ay encore icy vne Somme de S. Thomas, & vne Bible que i’ay aportée de France.« 10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (ed. H. Glockner XIX, 331).
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I. Einleitung
Meditationen wird die Neigung einer affirmativen Steigerung des Cartesianismus exemplarisch greifbar. Die cartesischen Reflexionen besitzen für ihn eine »Ewigkeitsbedeutung«11 und stellen eine »von der Geschichte selbst uns auferlegte Aufgabe«12 dar, die die transzendentale Phänomenologie zu erfüllen in Aussicht stellt. »Verführerische Verirrungen, in die Descartes und die Folgezeit verfallen sind, müssen wir dabei aufklären und vermeiden.«13 Die Folge ist ein Blick auf Descartes, der von dem Willen bestimmt ist, den Cartesianismus zu steigern: Das Ziel ist es, cartesischer zu sein als Descartes. Diese Arbeit an einem cartesischen Komparativ verdichtet den Cartesianismus zu einem ›Projekt‹, das es zu erfüllen gilt. Die Zentrierung der verschiedenen cartesischen Interessen, Ansätze und Probleme auf ein homogenisiertes Vorhaben ermöglicht es, im Gegenzug – bei unterstellter Uneinlösbarkeit – das Projekt als Ganzes abzulehnen, wie es etwa Rorty mit Blick auf das Scheitern des cartesischen Modells des Mentalen fordert.14 Solange sich die Descartes-Rezeption von dem Modell des cartesianischen Komparativs leiten läßt, hat sie sich mit dem auseinanderzusetzen, was Julius Ebbinghaus mit Blick auf die Interpretation und Kritik Kants formuliert hat. Ebbinghaus äußerte den Verdacht, »daß jene ganze Bewegung der ›über Kant Hinausgehenden‹ fortwährend mit einer großen Unbekannten rechnete, und daß diese Unbekannte niemand anders als Kant selbst sei«.15 Wenn man auch nicht leugnen kann, daß sich innerhalb der Descartes-Forschung ein differenzierender und detailgetreuer Blick auf das cartesische Denken durchgesetzt hat, mag es dennoch eine Überlegung wert sein, ob nicht Descartes auch heute noch im allgemeinen philosophischen Bewußtsein oftmals eine eher unbekannte Größe und der Abbau des cartesischen Mythos eine noch unabgeschlossene Aufgabe ist.16 11
E. Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, § 1 (Husserliana I, 43). 12 Ebd., § 2 (Husserliana I, 46). 13 Ebd. (Husserliana I, 48). 14 R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979, 17–69. Auf der cartesischen Theorie des Mentalen als der Unbezweifelbarkeit der Selbstgewißheit und dem LeibSeele-Dualismus sollte eine für Rorty unhaltbare Erkenntnistheorie aufbauen. Zum Paradigma der Philosophie gesteigert, läßt ihr Scheitern allein einen Anticartesianismus zu. Somit wird die cartesische Philosophie zu etwas, von dem man von Grund auf geheilt werden muß, was Rortys Schrift zu leisten verspricht: » The book … is therapeutic rather than constructive.« (7) 15 J. Ebbinghaus, »Kantinterpretation und Kantkritik«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), Bd. II, 80–115, hier 82. 16 Dominik Perler hat den cartesischen Mythos als einen historiographischen analysiert, der Descartes Thesen zuschreibt, die er gar nicht vertreten hat. Erst die Abkehr von einer Überhöhung und einer Diffamierung des cartesischen Denkens führt in die Aktualität
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Ein Umstand, der diesen Verdacht zu stärken vermag, ist der Eklektizismus, der in der Rezeption des cartesischen Denkens vorherrscht. Es ist wohl kaum eine unzulässige Unterstellung, daß der Fokus der Aufmerksamkeit, die dem Denken Descartes’ entgegengebracht wird, auf den Meditationes de prima philosophia liegt. In der Regel wird auch der Discours de la méthode zur Kenntnis genommen. Die Principia philosophiae und die Regulae ad directionem ingenii dagegen dringen in aller Regel kaum noch in das Zentrum der Aufmerksamkeit vor, schon gar nicht die Passions de l’âme. Und selbst wenn diese Unterstellung des Aufmerksamkeitsgefälles nicht zutreffen sollte, ist doch davon auszugehen, daß das zu Lebzeiten unveröffentlichte Manuskript Le Monde ou Traité de la lumière, das in dem Traité de l’homme fortgesetzt wurde, nicht die Beachtung erhält, die es verdient. Immerhin handelt es sich bei diesem Werk um die systematische Hauptanstrengung, die Descartes in seinem Leben unternommen hat. Noch im späten Rückblick wird Descartes beteuern, daß er sich mit dem größten Genuß an jene wenigen Überlegungen erinnere, die er über die Welt angestellt habe und daß er sie nicht gegen irgendwelche andere über einen anderen Gegenstand eintauschen wolle.17 Bereits der Aufbau von Le Monde widerspricht einer eklektizistischen Rezeption. Das Werk sollte aus drei Teilen bestehen: In Le Monde stellt Descartes seine Kosmologie und seine Auffassung vom physikalischen Phänomen des Lichts vor. Es handelt sich somit um seine Physik, die er 1633 abgeschlossen hatte. In ihr vertritt er unter anderem die Lehre von der Bewegtheit der Erde. Aufgrund der Verurteilung Galileis im selben Jahr hielt er das Manuskript von Le Monde dann aber zurück. Passagen dieses Werkes hat Descartes 1644 in den Principia philosophiae veröffentlicht. Der zweite Teil von Le Monde unternimmt eine physiologische Beschreibung des Menschen. In einem dritten, geplanten oder nicht erhaltenen Teil wollte Descartes die menschliche Seele und somit die Metaphysik zum Thema machen.18 Die faktische Publikationsgeschichte der cartesischen Werke nach der Verurteilung Galileis hat die Aufmerksamkeitsausrichtung bis heute bestimmt. 1637 erscheint als das erste veröffentlichte Werk der Discours. Die Regulae, begonnen einer angemessenen Auseinandersetzung. Vgl. D. Perler, »Abkehr vom Mythos. Descartes in der gegenwärtigen Diskussion«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), 285– 308; vgl. auch J. Goldstein, »Descartes. Neue Ein- und Ausblicke«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 54 (2001), 51–72. 17 Burman (AT V, 171): »Fatetur autem se illas cogitationes paucas quas de mundo habuit summâ cum voluptate reminisci, maximique aestimare, nec cum ullis aliis alterius materiae commutare velle.« 18 Descartes erläutert im fünften Teil des Discours den Aufbau von Le Monde. Dort erwähnt er zum Schluß die metaphysische Frage nach der vernünftigen Seele und ihrer Unsterblichkeit (AT VI, 59 f.). Es kann also daraus geschlossen werden, daß die Metaphysik den dritten Teil seines geplanten Hauptwerkes ausmachen sollte.
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I. Einleitung
um 1620, fortgeführt zwischen 1626 bis 1628 und dann abgebrochen, waren unveröffentlicht geblieben. Dieser Discours als Methodentraktat muß als der Versuch gelesen werden, durch eine Einführung in die Methode eine Akzeptanz der Physik von Le Monde vorzubereiten.19 Mit den Meditationes erscheint 1641 seine Metaphysik. Erst in den Principia, 1644 veröffentlicht, erläutert Descartes Aspekte seiner Physik. Die Dominanz vor allem seiner metaphysischen Überlegungen innerhalb der Rezeption hat Descartes’ naturphilosophische Studien zuweilen randständig werden lassen. Das ist für die philosophische Rezeption nicht ungewöhnlich: Auch Hobbes’ naturphilosophische Arbeiten sind von dem Interesse am Leviathan gänzlich an den Rand gedrängt worden. Eine einseitige Dominanz der Metaphysik wäre Descartes aber befremdlich erschienen. Im Gespräch mit Burman relativiert er die Bedeutung der Metaphysik im Gesamt des wissenschaftlichen Interesses: »Es ist zu beachten, daß man sich nicht so sehr den Meditationen und den metaphysischen Dingen widmen sollte, man sollte sie auch nicht in Kommentaren und ähnlichen Schriften ausarbeiten. Noch viel weniger sollte man, wie dies einige versuchen, sie mit größerer Gründlichkeit angehen, als es der Autor getan hat, denn er hat sie schon gründlich genug behandelt. Es genügt vielmehr, sie einmal allgemein zu fassen und sich dann an die Schlußfolgerungen zu erinnern. Andernfalls lenken sie den Geist zu sehr von den Gegenständen der Physik und den wahrnehmbaren Dingen ab, und sie machen ihn zu deren Untersuchung untauglich. Es ist aber höchst wünschenswert, daß die Menschen sich gerade dieser Untersuchung widmen, denn daraus entsteht Nutzen für das Leben.«20 Es genüge, fährt Descartes fort, das erste Buch der Principia zu kennen, worin dasjenige aus der Metaphysik enthalten sei, was man zum Studium der Physik kennen müsse.21 Die Metaphysik wird aus dieser Perspektive zu einem partikularen Interesse, das seinen Sitz und seinen Ursprung woanders hat.22 19
In einem Brief an einen unbekannten Adressaten, wahrscheinlich vom 27. April 1637 (AT I, 369 ff.), stellt Descartes diese vorbereitende Funktion des Discours eigens heraus. Die innere Abfolge der Publikationsgeschichte der cartesischen Werke, die nicht zuletzt eine Akzeptanz seiner Physik vorbereiten sollte, hat Tom Sorell prägnant herausgearbeitet: T. Sorell, Descartes, aus dem Englischen von R. Ansén, Freiburg/Basel/Wien 1999, 43 ff. 20 Burman (AT V, 165): »Observandum, non adeo incumbendum esse meditationibus, nec rebus metaphysicis, nec eas commentariis et similibus elaborandas; multo minus altius repetendas quàm author fecit, ut quidam id tentant, nam ipse satis alte eas exorsus est. Sed sufficere semel in genere haec novisse, et tum recordari conclusionem; aliàs nimis abstrahunt mentem a rebus physicis et sensibilibus, et faciunt eam ineptam ad illas considerandas, quod tamen maxime optandum ut homines facerent, quia inde utilitas ad vitam redundaret.« 21 Ebd. (AT V, 165): »… sed sufficit nosse primum Principiorum librum, in quo continentur ea quae ex Metaphysicis ad Physica etc. scitu sunt necessaria.« 22 Im Anschluß an Gilson weist schon Nigel Abercrombie in seiner Studie Saint Augustine and French Classical Thought, (11938, zitiert nach der Ausgabe New York 1972, 57) auf
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Derartige Äußerungen, deren Depotenzierung durch die Annahme eines rhetorischen Charakters spekulativ wäre, haben zunächst dazu geführt, die pragmatische Seite des cartesischen Rationalismus in den Blick zu bekommen. Nimmt man zu den publizierten Schriften und postum erschienenen Manuskripten die Hinweise in den Briefen hinzu, vervollständigt sich das Bild, das man sich vom Aufmerksamkeitsradius der cartesischen Rationalität zu machen hat: Neben den philosophischen Themen hat sich Descartes mit Mathematik, Geometrie und Kosmologie auseinandergesetzt, sich aber auch mit Botanik 23 beschäftigt. Sein Interesse galt der Anatomie, zu deren Kenntnis er Tiere sezierte,24 aber auch der Sezierung einer Frauenleiche beiwohnte.25 Er erfaßte den Blutkreislauf und resümierte seine medizinischen Forschungen zur Erhaltung der Gesundheit als das Hauptziel seiner Studien.26 Er beschäftigte sich mit Fragen der Chemie und untersuchte die Eigenschaften des Quecksilbers27 ebenso wie die Beschaffenheit eines Salzkorns.28 Sowohl der Musik als auch den meteorologischen Erscheinungen, wie etwa dem Regenbogen, widmete er eine Abhandlung. Er setzte sich mit den Problemen der Optik auseinander und beschäftigte und beriet Linsenschleifer zur Herstellung von Fernrohren.29 Pascal gab er genaue Anweisungen, wie der unterschiedliche Luftdruck im Tal und auf einem Berg mittels einer Quecksilbersäule experimentell zu ermitteln sei.30 In einer zugespitzten Lesart wird Descartes zu einem praktizierenden Naturwissenschaftler, der leider auch einige kurze und ziemlich uninteressante philosophische Abhandlungen schrieb.31 die nicht unplausible Sicht hin, daß für Descartes die Meditationes »can only be regarded as a symptom of a particular intellectual attitude which had its seat and origin elsewhere«. 23 Vgl. die Hinweise auf sein botanisches Interesse in den Briefen an Mersenne vom 13. November 1639 (AT II, 619), 1. April 1640 (AT III, 50) und an Chanut vom 15. Juni 1646 (AT IV, 442). 24 Vgl. den Brief an Mersenne vom 20. Februar 1639 (AT II, 525). 25 Vgl. den Brief an Mersenne vom 1. April 1649 (AT III, 49). 26 Brief an den Marquis de Newcastle, Oktober 1645 (AT IV, 329): »La conseruation de la santé a esté de tout temps le principal but de mes études, & ie ne doute point qu’il n’y ait moyen d’acquerir beaucoup de connoissances, touchant la Medecine, qui ont esté ignorées iusqu’à present.« 27 Vgl. den Brief an den Marquis de Newcastle, 23. November 1646 (AT IV, 571 f.). 28 Vgl. Météores III (AT VI, 249–264). 29 Descartes unternahm engagiert den Versuch, Guillaume Ferrier, einen französischen Mechaniker optischer Instrumente, an sich zu binden. Vgl. den Brief an Ferrier vom 18. Juni 1629 (AT I, 13–16). 30 Vgl. seine Äußerungen in einem Brief an Mersenne vom 13. Dezember 1647 (AT V, 99 f.). 31 So das Urteil von Desmond M. Clarke, Descartes’ philosophy of science, Manchester 1982, 2: »I interpret the extant writings of Descartes as the output of a practising scientist who, somewhat unfortunately, wrote a few short and relatively unimportant philosophical essays.«
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I. Einleitung
Aber auch diese Umwertung des klassischen Descartes-Bildes, das ihn vorrangig als einen Erkenntnistheoretiker und Metaphysiker zeigte, operiert noch mit einer strikten Trennung von philosophischen und naturwissenschaftlichen Interessen. Es wird eine präzise Trennlinie gezogen, die Descartes’ Physik von metaphysischen Themenstellungen fein säuberlich zu separieren sucht und doch Descartes selbst fremd gewesen wäre. Für ihn sind beide Bereiche miteinander verwoben. So weist er einerseits ausdrücklich darauf hin, daß die sechs Meditationen seiner metaphysischen Hauptschrift sämtliche Prinzipien seiner Physik enthalten.32 Andererseits will er es im Rahmen seiner Physik nicht unterlassen, metaphysische Wahrheiten zu berühren.33 Daniel Garber hat daher treffend von der ›metaphyischen Physik‹ Descartes’ gesprochen.34 Wie unbrauchbar heutige Differenzierungen der Disziplinen sind, kann man an der Bemerkung Descartes’ ablesen, der ungefähre Begriff der Physik habe ihm genützt, um sichere Grundlagen der Moral festzulegen.35 Auch die Affekte will er in seiner Schrift Les Passions de l’âme nicht als Redner, auch nicht als Moralphilosoph, sondern nur als Physiker erklären.36 Der Universalismus der cartesischen Rationalität besteht in seinem methodischen Prinzip, auf alle Gegenstandsbereiche anwendbar zu sein. Die Homogenität des Cartesianismus besteht in der Identität der angewandten Rationalität, nicht in einer Einheit des disparaten Spektrums seiner Themen. Versucht man nun, Descartes jenseits des epochengenetischen Repräsentationalismus und Symbolismus und unter Vermeidung eines cartesianischen Komparativs und eines rezeptionellen Eklektizismus zu lesen – und somit gleichsam seine vorherrschende Klassizität zu unterlaufen –, ergeben sich mehrere Bedingungen, die für eine gelingende Heuristik des vorausgesetzten Zusammenhangs von Kontingenz und Rationalität zu beachten sind. Zunächst hat eine Korrektur des rezeptionellen Eklektizismus das gesamte Œuvre Descartes’ unterschiedslos zur Kenntnis zu nehmen. Da sich dieses Werk einer raschen Durchsicht anhand des Leitbegriffs ›Kontingenz‹ verweigert, versagt das ökonomische Instrumentarium einer Scheidung von Wesentlichem und Unwichtigem, Zentralem und Peripherem. Damit ist nicht gesagt, daß sich nicht
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Brief an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 297 f.): »… et ie vous diray, entre nous, que ces six Meditations contiennent tous les fondemens de ma Physique.« 33 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 145): »… ie ne laisseray pas de toucher en ma Physique plusieurs questions metaphysiques …« 34 Vgl. D. Garber, Descartes’ Metaphysical Physics, Chicago/London 1992. 35 Brief an Chanut, 15. Juni 1646 (AT IV, 441): »… ie vous diray, en confidence, que la notion telle quelle de la Physique, que i’ay tasché d’acquerir, m’a grandement seruy pour établir des fondemens certains en la Morale …« 36 Passions, Response à la seconde lettre (AT XI, 326): »… mon dessein n’a pas esté d’expliquer les Passions en Orateur, ny mesme en Philosophe moral, mais seulement en Physicien.«
§ 1 Relektüre eines Klassikers
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bei der Relektüre unter einer eingenommenen Perspektive systematische Zentren und vernachlässigbare Peripherien ausbilden. Aber es ist ein gravierender Unterschied, ob man zu dieser Differenzierung erst während der Lektüre gelangt oder ob man sie mit Blick auf einen vermeintlichen Kanon zentraler Werke und Thesen voraussetzt. Descartes’ Œuvre ist dem Umfang nach bescheiden, aber von hohem Niveau. Man darf sagen, daß es letzteres erst wiederzuentdecken galt. Angesichts mancher Aporien wurde die Finesse der Argumentation oftmals übersehen, und die Verblüffung über manche Antwort hat zur Unaufmerksamkeit gegenüber dem Rang der präzise bestimmten Frage geführt. Die Suche nach der Identität der cartesischen Rationalität angesichts disparater Themenstellungen hebt die Vorentscheidung einer Trennung von naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften auf, um die Vorgehensweise und die zugrundegelegten Bedingungen der rationalen Bewältigung in den Blick zu bekommen. Wie sich zeigen lassen wird, ist für ein Verständnis der cartesischen Rationalität nicht zuletzt die Einbeziehung von Le Monde fruchtbar, da Descartes im ersten, kosmologischen Teil eine raffinierte Inauguration seiner Rationalität vornimmt, die zu übersehen einen Verlust an Verständnismöglichkeiten bedeutet. Jede philosophische Identität ist eine errungene. Sie läßt sich vor dem Hintergrund der gedachten Welt und somit vor den Alternativen ihrer Denkbarkeit bestimmen. Die unhintergehbare geistesgeschichtliche Positionalität einer Philosophie ist gleichsam das historische Rückgrat einer systematischen Position. Nach den genealogischen Konstitutionsbedingungen der cartesischen Rationalität zu fragen bedeutet daher nicht, beliebige externe Fragestellungen an den Cartesianismus heranzutragen und damit die eigentliche Interpretation des Werkes zu verlassen, sondern es ist die Fortsetzung der textnahen Interpretation mit anderen Mitteln. Die vorliegende Studie unternimmt daher ausdrücklich keine rein hermetische Descartes-Interpretation im Sinne des Aufweises einer werkimmanenten Genese,37 sondern sie stellt sich die Aufgabe, die Plausibilität der Genese des Cartesianismus durch die Einbeziehung des scheinbar externen Gesichtspunkts der Kontingenz verständlich zu machen. Diese gleichsam experimentelle Lesart kann als den Indikator ihres Erfolgs nur in Aussicht stellen, daß nach dem Durchgang durch das cartesische Werk der eingangs scheinbar externe Gesichtspunkt der Kontingenz als ein internes Moment sichtbar geworden ist. Die Auswahl des externen Bezugspunkts kann daher bereits im Ansatz nicht beliebig sein, sondern es bedarf eines hinreichend begründeten Verdachts seiner konstitutiven Relevanz. Zu dieser Entgrenzung des Blicks auf Descartes gehört auch die Konturierung durch Vergleich. Die Weitung des Aufmerksamkeitsradius durch Einbeziehung anderer Autoren des 17. Jahrhunderts, wie Bacon, Gassendi oder Spinoza, und 37
Eine derartige werkimmanente Genese des Cartesianismus hat Wolfgang Röd vorgelegt: Descartes. Die innere Genesis des cartesianischen Systems, München/Basel 1964.
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I. Einleitung
durch punktuelle Befragung mittelalterlicher Denker sowie der skizzenhaften Rekonstruktion spätmittelalterlich einsetzender Entwicklungslinien birgt zwar die Gefahr der Entfokussierung in sich, zugleich aber erhöht sie die Sehschärfe durch Kontrast und Spiegelung, um das Spezifikum der cartesischen Rationalität in den Blick zu bekommen. Die Erwartungshaltung gegenüber der geradezu schlichten hermeneutischen Ausgangsthese, daß zwischen dem spätmittelalterlich ausformulierten Kontingenzbewußtsein und der Entstehung der cartesischen Rationalität ein aufweisbarer Zusammenhang bestehen muß, läßt sich – abschließend und um es noch einmal zu betonen – also so bestimmen, daß es geradezu verblüffend wäre, wenn eines der entscheidendsten Reflexionsergebnisse spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denkens nicht auf Descartes gewirkt hätte. Der unverkennbar investigative Charakter dieser Studie könnte zur eigenen Rechtfertigung – wenn es dieser denn bedürfte – auf die Legitimität der Ahnung verweisen, wie Kant sie formuliert hat: »Zuweilen haben wir ein dunkles Vorgefühl von der Wahrheit, eine Sache scheint uns Merkmale der Wahrheit zu enthalten; wir ahnen ihre Wahrheit schon, noch ehe wir sie mit bestimmter Gewißheit erkennen.«38 Dem Reiz der Vermutung entspricht zugleich das Unbehagen, das das defizitäre Verstehen im Stadium des vorläufigen Urteils ausmacht. Damit sind der Antrieb und das Ziel der vorliegenden Studie bestimmt.
§ 2 Kontingenz als Konstitutionshintergrund cartesischer Rationalität Das Wagnis und der Streitwert der vorgelegten Relektüre des Cartesianismus werden durch die benannten Komplikationen und Schwierigkeiten, die sich einstellen, durch den unverkennbaren Reiz des hermeneutischen Experiments und durch den in Aussicht gestellten Zugewinn an genealogischem Verständnis bestimmt. Das Spezifikum der cartesischen Rationalität durch ihre interne Bezogenheit auf den frühneuzeitlich präsenten Begriff der Kontingenz erhellen zu wollen, verlangt zuvor eine präzise Bestimmung des wirkungsgeschichtlich voraussetzbaren Begriffs der contingentia. Da eine umfassende Darstellung der Geschichte des Kontingenzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart ein Desiderat darstellt,39 kann auf eine vorab zu leistende begriffsgeschichtliche Klärung des dem Cartesianismus vorliegenden Kontingenzbegriffs nicht verzichtet wer38
I. Kant, Logik, Einleitung IX (Akademie-Ausgabe IX, 67). Vgl. W. Hogrebe, Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt am Main 1996, dort zu ›Kants Kritik der reinen Ahnung‹: 47–53. 39 Auf dieses Desiderat weist die Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik ausdrücklich und zu Recht hin: G. v. Graevenitz/O. Marquard (Hg.), Kontingenz (Poetik und Hermeneutik XVII), München 1998, XI.
§ 2 Kontingenz als Konstitutionshintergrund cartesischer Rationalität
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den.40 Um dem Versuch, die frühneuzeitliche Rationalität auf den spätmittelalterlichen Kontingenzbegriff zu beziehen, weitere Plausibilität zu verleihen, ist eine erste Ein- und Abgrenzung des vorausgesetzten Kontingenzbegriffs zu unternehmen.41 Was bedeutet – in einer provisorischen Annäherung – der Begriff der contingentia? Und was besagt er im Kontext des 17. Jahrhunderts nicht? Warum orientiert sich die vorliegende Studie zum Cartesianismus an ihm – trotz der benannten und unübersehbaren Schwierigkeiten? Zunächst: Was ist Kontingenz? Schlägt man in einem Lexikon des 17. Jahrhunderts nach, findet man – etwa in Rudolphus Goclenius’ Lexicon philososphicum – die Auskunft, Kontingenz sei, was geschehen kann und nicht geschehen kann: es ist also nicht notwendig.42 Auch Johannes Micraelius hebt in seinem Lexicon philosophicum hervor, kontingent sei, was auch anders beschaffen sein könnte, eingeschlossen die Möglichkeit, das Gegenteil zu sein, also sein oder nicht sein zu können.43 Kontingent ist also, was keine zwingende Notwendigkeit besitzt: weder zu sein noch so zu sein, wie es ist. Woher kommt aber die Kontingenz des Nichtnotwendigen? Durch was ist sein Mangel begründet, nicht notwendig sein zu können, oder woher bezieht es die Freiheit, nicht notwendig sein zu müssen?
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Die Teile II und III der vorliegenden Studie skizzieren daher noch vor der im Teil IV einsetzenden Descartes-Interpretation die antiken Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz und die problemgeschichtlichen Bedingungen seiner spezifischen Bestimmung im Spätmittelalter. Diese begriffsgeschichtliche Skizze, die sich an exemplarischen Stationen des Begriffs der Kontingenz orientiert, will und kann das Vakuum einer umfassenden Studie zur Geschichte des Kontingenzbegriffs nicht füllen. Das Ziel der unternommenen Ausführungen ist allein durch die Funktion bestimmt, den Horizont präzise zu bestimmen, vor dem die Genese des Cartesianismus verantwortbar bestimmt werden kann. 41 Aspekte der Relevanz des Kontingenzbewußtseins für die frühe Neuzeit habe ich auf dem XIX. Deutschen Kongreß für Philosophie (23.–27. September 2002 in Bonn) vorgetragen; publiziert wurde das Manuskript – mit dem Reifegrad dessen, was in der Kunst der Druckgraphik ein ›Probedruck‹ ist – unter dem Titel »Kontingenz und Möglichkeit. Über eine begriffsgeschichtliche Voraussetzung der frühen Neuzeit«, in: W. Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, Bonn 2002, 659–669. 42 R. Goclenius, Lexicon philosophicvm qvo tanqvam clave philosophiae fores aperivntvr, Frankfurt 1613 (2. reprografischer Nachdruck, Hildesheim/New York 1980), 462: »Contingens, quod potest fieri & potest non fieri. Itaque non necessarium est.« Die Kontingenz stellt das Gegenteil und die Negation des Notwendigen dar: »Atque hoc est Contingens oppositum Necessario, id est, includens Negationem Necessarii.« (463) 43 J. Micraelius, Lexicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum, Stettin 21662 (photomechanischer Nachdruck: Düsseldorf 1966), 326: »CONTINGENS … est, qvod potest se aliter habere, & includit … potentiam contradictionis, in eo, qvod esse vel non esse potest.«
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I. Einleitung
Seit Kant wird der Begriff der contingentia mit ›Zufälligkeit‹ übersetzt. Kant hatte innerhalb der Kategorientafel nach den Modalitäten der Möglichkeit und der Unmöglichkeit, des Daseins und des Nichtseins, auch der Modalität der Notwendigkeit ein Pendant zuweisen müssen und dazu das Kontingente als die Negation des Notwendigen – eben als das Zufällige – angeführt.44 Diese Bestimmung sollte sich als maßgeblich erweisen, wie man an ihrer Verwendung durch Wilhelm Traugott Krug in seinem Handbuch der Philosophie und der philosophischen Literatur ablesen kann: »Zufällig heißt daher entweder das Wirkliche, wiefern es nicht als nothwendig (wenigstens nicht als schlechthin nothwendig) gedacht wird, oder das Unabsichtliche, wiefern es ohne oder gar wider unsern Willen geschieht …«45 Der Zufall kennt demnach weder eine verursachende Notwendigkeit noch einen Willen, der ihn bestimmt. Er ist weder kausal determiniert noch willentlich gewollt. Ist damit aber eine Kontinuität gesichert, die das mit dem Begriff contingentia Gemeinte bewahrt? Oder liegt hier nicht vielmehr eine Bruchstelle vor, die innerhalb der Begriffsgeschichte der Kontingenz das Auseinanderdriften zweier Begriffskonnotierungen markiert? Bereits ein flüchtiger Blick macht deutlich, daß weder die antike noch die mittelalterliche Reflexion der Kontingenz den Zufall im nachkantischen Sinne zum Thema hatte. Dabei mag man im antiken Denken am ehesten die Konnotierung des Kontingenten als des blinden Zufalls vermuten. Contingere ist seit Marius Victorinus und somit seit dem vierten Jahrhundert die Übersetzung für das griechische νδéχεσθαι, das bedeutungsverwandt ist mit σωµβαíνειν, der Vorlage für das lateinische accidere. Boethius übernimmt den Terminus contingere, bezieht ihn nahezu unterschiedslos auf beide griechischen Vorlagen und macht ihn für die nachfolgende Tradition verbindlich.46 Contingit bedeutet seitdem: es ereignet sich, es trifft sich, es wird zuteil, es geschieht, es tritt der Fall ein, es ist möglich, es gelingt, es glückt. Kontingent ist daher das, was ohne Notwendigkeit, aber durchaus möglich (δωνατóν) ist. Klassische Beispiele bei Aristoteles sind dafür das zufällige Finden eines Schatzes oder der Zufall, daß ein herunterfallender Stein einen Menschen verletzt.47 Aber nicht nur Ereignisse können kontingent sein, sondern auch das, was einem Seienden ohne Notwendigkeit zufällt: Ein Akzidens (σωµβεβηκóς) als das 44 45
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 80 / B 106. W. T. Krug, Handbuch der Philosophie und der philosophischen Literatur, dritte, verbesserte und vermehrte Auflage, 2 Bde., Leipzig 31828 (photomechanischer Nachdruck: Düsseldorf 1969), Bd. I, 308. 46 Vgl. A. Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ›contingens‹. Eine Untersuchung über die Bedeutungen von ›contingere‹ bei Boethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, Heidelberg 1938. 47 Aristoteles, Ethica Nicomachea Γ 5, 1112 a 27; Physica II 6, 197 b 30–32.
§ 2 Kontingenz als Konstitutionshintergrund cartesischer Rationalität
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Zufällige und Unwesentliche findet sich zwar an einem Seienden, aber nicht mit Notwendigkeit und nicht notwendigerweise immer.48 Während der Besitz der Vernunft dem Menschsein notwendigerweise zukommt, ist die Hautfarbe eines vernünftigen Menschen akzidentell. Da eine derartige Zusammenfügung eines Seienden nicht notwendig ist, ist sie auch nicht von Dauer.49 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, Aristoteles habe seine Lehre vom Zufall im Kontext seiner praktischen Philosophie entwickelt, da das Zufällige sich zwar nicht ohne Ursache, aber für uns überraschend und ohne erkennbaren Zweck im Rahmen einer teleologischen Ordnung ereignet.50 Zwar spricht Aristoteles an einer Stelle der Metaphysik vom Zufall als einer Privation (στéρησις) der Ursache,51 aber Martha Freundlieb hat darauf hingewiesen, daß die aristotelische Zufallslehre den ›absoluten Zufall‹ nicht kennt.52 Was als grundloser Zufall erscheint, ist vielmehr das Zusammentreffen voneinander unabhängiger Ursachenketten: Der Windstoß löst einen Dachziegel, der aufgrund dieser Ursache von einem Haus herunterfällt, ein Mensch verläßt dieses Haus, da er von einem Freund herausgerufen worden ist, und zufällig – ohne daß diese beiden Ursachenreihen verknüpft wären – wird der Mensch vom herabfallenden Dachziegel erschlagen. Im Rahmen der aristotelischen Theorie ist es also im strengen Sinn nicht möglich zu sagen, daß der Zufall die Ursache von etwas ist. Der Zufall wird nicht als eine wirkende und bewirkende Ursache eines Ereignisses angesehen, sondern vielmehr als der Ausfall einer Ursache, wie etwa beim erwähnten Beispiel zweier unverbunden sich kreuzender Ursachenketten die Finalursache fehlt. Die Provokation des derart Zufälligen besteht daher in dem Eintreten des Unvorhersehbaren und somit in einer Nichterfüllung des Erwartbaren, in einem Einbruch der Sinnkontinuität, in einer Störung von Verstehbarkeit angesichts eines aitiologischen Denkens. Der Zufall provoziert jenen Verlust an Orientierung, der moralisch bewältigt werden will. Er erweist sich aber auch als glücklicher Umstand, als gütige Fügung dessen, was nicht in unserer Macht steht. In einer großangelegten Studie hat Martha C. Nussbaum an der griechischen Tragödie bei Aischylos und Sophokles und an den philosophischen Entwürfen von Platon und Aristoteles die These zu bekräftigen versucht, die Grundintention Aristoteles, Metaphysica ∆ 30, 1025 a 14–34. Aristoteles erläutert an der Stelle das Akzidentelle nicht allein, aber auch anhand von Seiendem. Akzidentell ist für ihn auch das Ereignis, zufällig einen Schatz zu finden, also alles, was keine notwendige Ursache hat. 49 Platon, Phaidon 78 b ff. 50 Vgl. R. Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, 35–50. 51 Metaphysica Λ 3, 1070 a 9. 52 Vgl. M. Freundlieb, Studie zur Entwicklung des Kontingenzbegriffes, Würzburg 1933, 13–19. 48
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I. Einleitung
der griechischen Ethik bestehe darin, das Ideal des guten Lebens von dem Einfluß gleichsam zufälliger Umstände und Ereignisse durch eine Disziplinierung unserer Vernunft unabhängig zu machen.53 Der ethische Antrieb der Bewältigung des Unverfügbaren rückt das Phänomen des Zufalls wieder aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit, denn das Unverfügbare, etwa die glücklichen oder verhängnisvollen Umstände einer Handlung, muß selbst nicht grundlos sein. Es genügt, wenn es dem Handelnden als grundlos und somit zufällig erscheint. Nussbaum wehrt daher zu Recht das Mißverständnis ab, dem Begriff der τúχη die Konnotationen des Zufälligen oder Grundlosen zusprechen zu können.54 Auch im Rahmen der Transformation des antiken Seinsverständnisses durch die patristische Theologie eröffnete sich für das Mittelalter kein Spielraum für die Akzeptanz unbedingter Zufälligkeit. Der Zufall ist unvernünftig. Vom Neuplatonismus übernahm die Patristik aber gerade den Gedanken der Verwandtschaft von Sein und Vernunft. So konnten noch die Autoren des Hochmittelalters dem einflußreichen Liber de causis, einer pseudo-aristotelischen Schrift aus dem 9. Jahrhundert, entnehmen, das erste der geschaffenen Dinge sei das Sein,55 und das erste geschaffene Sein sei ganz Geist.56 Der daraus resultierenden Wesensund Ordnungsmetaphysik konnte der blinde Zufall, wie er sich im atomistischen Materialismus angedeutet hatte, nur suspekt sein. Zugleich kam dem Sein unter schöpfungstheologischen Prämissen keine Notwendigkeit aus sich selbst heraus zu. Als geschaffenes ist es abhängiges Sein und hat seine Notwendigkeit aus dem ersten Prinzip zu beziehen. Wenn das geschaffene Sein nicht ewig ist, muß es vor seiner Erschaffung möglich gewesen sein. War es aber auch notwendig, daß es hervorgebracht worden ist? Aber selbst wenn es nicht notwendig war, daß das Sein durch Gott gestiftet wurde, muß es noch kein Zufall gewesen sein, daß es geschaffen worden ist. Der Begriff der mittelalterlichen Kontingenz wird diese Lücke einer modalen Bestimmung des Seins auffüllen, da sich die schöpfungstheologische Prämisse einer freien Hervorbringung der Welt aus dem Nichts nicht mit dem gedanklichen Vokabular der antiken Bestimmungen des Zufälligen beschreiben ließ. Der Begriff der contingentia ist »einer der wenigen Begriffe spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik«.57 53
Vgl. M. C. Nussbaum, The fragility of goodness. Luck and ethics in Greek tragedy and philosophy, Cambridge 1986. 54 Ebd., 3. 55 Liber de causis, prop. IV 37 (ed. R. Schönberger/A. Schönfeld, 8): »Prima rerum creatarum est esse …« 56 Liber de causis, prop. IV 44 (ed. R. Schönberger/A. Schönfeld, 10): »Et esse quidem creatum primum est intelligentia totum …« 57 H. Blumenberg, Artikel »Kontingenz«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, Tübingen 31959, 1793.
§ 2 Kontingenz als Konstitutionshintergrund cartesischer Rationalität
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Die Transformation des antiken Seinsverständnisses klassisch metaphysischer Prägung wurde demnach durch die Annahme einer creatio ex nihilo eingeleitet. Diesem der Antike völlig fremden Gedanken entsprach eine Aufwertung des göttlichen Willens. Zwar hielt der vorherrschende christliche Platonismus das gedankliche Potential der Annahme eines freien Willens vorerst unter Verschluß, aber schon Augustinus beantwortet die Frage, warum Gott Himmel und Erde geschaffen hat, mit einem apodiktischen: Weil er es wollte – Quia voluit! 58 Der freie Wille ist das kontingenzstiftende Prinzip. Durch den freien Willensakt, der keiner zwingenden Notwendigkeit unterliegt, ist die Welt etwas Kontingentes, ohne dabei das Resultat eines Zufalls zu sein. Hatte Epikur in seiner atomistischen Weltentstehungslehre dem Zufall eine zentrale Funktion zugeschrieben, da erst das zufällige Zusammenprallen der auf parallelen Bahnen sich gleichmäßig bewegenden Atome die Gestalt der Welt hervorbringt, weist Augustinus allein dem göttlichen Willen gestaltende Kraft zu. In De civitate Dei, wo Augustinus im elften Buch auf die Schaffung der Welt in Raum und Zeit zu sprechen kommt, lehnt er die Vorstellung ausdrücklich ab, die Welt könne durch Zufall anstatt durch einen göttlichen Plan – auch wenn keine menschliche Vernunft den göttlichen Plan ergründen könne –, genau an diesem Ort und nicht anderswo geschaffen worden sein, obwohl dieser Ort vor anderen gleichmäßig endlosen und nach überall hin offenen Räumen keinen Vorzug besaß. Auch dürfe man nicht annehmen, ein Zufall und nicht ein göttlicher Plan habe es bewirkt, daß Gott gerade in dieser und nicht in einer früheren Zeit die Welt erschuf.59 Erst das späte Mittelalter sollte diesen Zusammenhang von Voluntarismus und Kontingenz konsequent entfalten. Der Aspekt der Zufälligkeit wurde im Begriff der contingentia dabei marginalisiert, und zugleich wurde das Bewußtsein der Kontingenz universalisiert. Das Kontingente im Sinne des Zufälligen hatte das epistemische Selbstverständnis der klassischen Antike nur punktuell in Frage gestellt. Da Wissen nur begründetes und somit auf ein Notwendigkeitsverhältnis zurückgeführtes Wissen war, scherten kontingente Ereignisse gleichsam aus dem dichten Gefüge aitiologischen Wissens aus, da sie dem Prinzip der Notwendigkeit nicht entsprachen. Die Kontingenz war aber solange kein grundsätzliches Problem, wie es innerhalb der systematischen Erklärung des Wirklichen auf einige wenige Problembereiche begrenzt werden konnte. Erst die spätmittelalterliche Metaphysikkritik provozierte jenen theologischen Voluntarismus, der 58 59
Augustinus, De Genesi contra Manichaeos I, cap. 2, 4 (PL 34, 175). Augustinus, De civitate Dei XI, cap. 5 (PL 41, 321): »Et sicut non est consequens ut fortuito potius quam ratione divina Deus, non alio, sed isto in quo est loco, mundum constituerit, cum pariter infinitis ubique patentibus nullo excellentiore merito posset hic eligi, quamvis eamdem divinam rationem, qua id factum est, nulla possit humana comprehendere: ita non est consequens ut Deo aliquid existimemus accidisse fortuitum, quod illo potius quam anteriore tempore condidit mundum …«
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I. Einleitung
den Begriff der Kontingenz aus seiner Latenz herausreißen und ihm eine neue Tragweite zudefinieren sollte. Trotz seiner antiken Vorgeschichte konnte das Bewußtsein von Kontingenz also erst durch und nach der spätmittelalterlichen Transformation des Seinsverständnisses eine Tragweite gewinnen, die dem Begriff jene Grundsätzlichkeit zuwies, die ihn zu einem Signum des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Selbstverständnisses hat werden lassen: Die Welt als solche ist aufgrund der freien Schöpfungssouveränität des voluntaristisch interpretierten Gottes kontingent. Damit ist das Phänomen der Kontingenz nicht länger ein systematisch zu vernachlässigender Teilbereich des Wirklichen, etwa in der Gestalt des Akzidentellen, sondern es ist eine »universale Kontingenz alles kreatürlichen Seins überhaupt«60 behauptet. Während also das antike Denken das Phänomen des niemals völlig grundlosen Zufalls als ein Vorkommnis innerhalb des Wirklichen begriffen hat, legte erst die mittelalterliche Lesart unter Ausblendung des Aspekts der Zufälligkeit jenes Potential der contingentia frei, das diesen Begriff zu einer modallogischen Kategorie von nicht zu überbietender Grundsätzlichkeit gemacht hat. Was kontingent ist, ist demnach nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich: Contingens est, quod nec est necessarium, nec impossibile. Das Kontingente, heißt das, ist nicht teleologisch auf eine letzte Notwendigkeit zurückzuführen, unterliegt aber zugleich der Bedingung, daß es möglich gewesen sein muß, da sein Wirklichsein ihm nicht selbst widersprochen haben kann. Das Kontingente ist die willentliche Verwirklichung einer Möglichkeit ohne Notwendigkeit. Es ist nicht notwendig, ohne dadurch zufällig sein zu müssen. Was kontingent ist, muß nicht so sein, wie es ist. Es könnte auch anders sein oder auch nicht sein. Für in sich nicht widerspruchsvolles Seiendes gilt also, daß nicht nur nicht notwendig ist, daß es ist, sondern auch, daß es nicht notwendig ist, daß es nicht ist. Oder noch einmal anders gesagt: »… kontingent ist das, was die Möglichkeit hat zu sein und dennoch nicht ist, und das, was die Möglichkeit hat nicht zu sein und dennoch ist«.61 Karl Löwith hat die Differenz des antiken und mittelalterlichen Seinsbezugs als eine unterschiedliche Gewichtung des Erstauntseins über das Was-sein und das Daß-sein bestimmt. Für Aristoteles wie auch für Platon richte sich das philosophische Erstaunen »nicht auf das Wunder der Schöpfung, sondern auf das Wunderbare des Seienden, sofern es schon ist, potentiell oder aktuell«.62 Die Präsenz des Gedankens der Negation ist eine grundsätzlich andere. Erst das 60
E. Hochstetter, Studien zur Metaphysik und Erkenntnislehre Wilhelms von Ockham, Berlin/Leipzig 1927, 15. 61 M. Freundlieb, Studie zur Entwicklung des Kontingenzbegriffes, a.a.O., 24. 62 K. Löwith, Wissen, Glaube und Skepsis, vierte Abhandlung: »Schöpfung und Existenz« (Sämtliche Schriften 3, 272). Löwith unterscheidet allerdings nicht zwischen mittelalterlicher Kontingenz und Zufall antiker und moderner Prägung.
§ 3 Der Cartesianismus als ein Palimpsest
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Sein als radikale Schöpfung ex nihilo läßt die Möglichkeit des Nichtseins plausibel werden. Heidegger wird daher erst nach dem Beitrag des Mittelalters zur Geschichte der Ontologie als das »Wunder aller Wunder« bezeichnen können, »daß Seiendes ist«,63 ohne dabei freilich noch einen schöpferischen Gottesbegriff voraussetzen zu müssen. Aber nicht allein die Faktizität des Seins tritt auf konturierte Weise hervor, sondern auch die Möglichkeit des nicht Seienden. Dadurch wird gefördert, was Robert Musil den ›Möglichkeitssinn‹ genannt hat: die Fähigkeit, »alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist«.64 Doch damit wird bereits der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kontext des nachantiken Kontingenzbegriffs verlassen. Kants Synonymsetzung von contingentia und Zufälligkeit, das allein sollte in einer ersten Vergewisserung angedeutet werden, ist für das Verständnis des prämodernen Kontingenzbegriffs irreführend. Die Begriffe Kontingenz und Zufall verdienen in unmittelbarer Nähe dies- und jenseits der Epochenschwelle von Mittelalter und früher Neuzeit sorgsam auseinandergehalten zu werden. Der Frage, inwiefern der spätmittelalterlich geprägte und frühneuzeitlich präsente Begriff der Kontingenz einen konstitutiven Einfluß auf den Cartesianismus hatte, kann erst nachgegangen werden, wenn aufgewiesen worden ist, warum der in diesem Zusammenhang vorausgesetzte Begriff der contingentia mit Zufälligkeit nichts zu tun hat.
§ 3 Der Cartesianismus als ein Palimpsest So offensichtlich die Rationalität zum Cartesianismus gehört und die Kontingenz zu einem der Leitbegriffe im Epochenübergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu zählen ist, so unbestimmt scheint doch das Verhältnis von Rationalität und Kontingenz bei Descartes. Das hat seine Gründe. Einen konstitutiven Zusammenhang von Kontingenz und Rationalität im Cartesianismus anzunehmen, bedeutet immerhin, die Modernität des Cartesianismus von einem spätmittelalterlichen Moment abhängig zu machen oder die Präsenz des Mittelalters im Cartesianismus als eine Entfaltung der latenten Modernismen des Spätmittelalters zu begreifen.65 In vielem ist die frühe Neuzeit noch spätestes Mittelalter, wie schon das späte Mittelalter in vielem früheste Neuzeit ist.
63
M. Heidegger, »Nachwort zu ›Was ist Metaphysik?‹« (1943), in: ders., Wegmarken (Gesamtausgabe I 9, 307). 64 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Gesammelte Werke I, 16). 65 Zur Präsenz mittelalterlichen Denkens im Cartesianismus vgl. E. Gilson, Études sur le rôle de la pensée médiévale dans la formation du système cartésien, Paris 1930.
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I. Einleitung
Mag die Einsicht in diese Dependenzen auch landläufig geworden sein, für die Rezeption des Cartesianismus stellt sie so etwas wie einen Offenbarungseid dar. Immerhin hat die säkularisierte Hagiographie der neuzeitlichen Philosophiegeschichtsschreibung Descartes einen Ehrenplatz zugewiesen. Der »Ewigkeitssinn«66 seiner philosophischen Meditationen besteht – wie es Husserl ausgedrückt hat – darin, den »einzigen Ansatz eines wahren Anfangs«67 gefunden zu haben, so daß Husserl – wie viele andere – resümieren konnte: »Mit Descartes beginnt die Neuzeit …«68 Um seine epochale Bedeutung herauszustellen, hat Husserl Descartes mit Kolumbus verglichen. Wie dieser habe Descartes einen Kontinent entdeckt: einen der »transzendental reinen, in sich absolut geschlossenen Subjektivität«,69 den es in der Folgezeit zu erkunden gelte. Die Leistung Descartes’, diese Einschränkung darf man dabei nicht übersehen, ist die Entdeckung, nicht die Erkundung, der Anfang, nicht die Vollstreckung. Wenn Schelling die gelungene Überwindung der Tradition in der cartesischen Leistung sieht, »allen Zusammenhang mit der früheren Philosophie abzubrechen, über alles, was in dieser Wissenschaft vor ihm geleistet war, wie mit dem Schwamm wegzufahren, und diese ganz von vorn, gleich als wäre vor ihm nie philosophirt worden, wieder aufzubauen«,70 greift er zu einer Metapher, die Descartes ihm selbst angeboten hat: Wie ein Maler besser daran täte, mit einem Schwamm über das Bild zu gehen und die Zeichnung wegzuwischen, die dort schon steht, anstatt seine Zeit mit Korrekturen zu vergeuden, solle ebenso jeder Mensch mit einem herzhaften Entschluß alle unvollkommenen Ideen aus seinem Vorstellungsvermögen entfernen, die sich bislang darin festgesetzt haben.71 Der ins Epochale gewendete Gebrauch der Schwamm-Metapher bei Schelling faßt die Funktion des Cartesianismus für das Selbstverständnis der Moderne zusammen. Es ist selten etwas Falscheres über die cartesische Philosophie gesagt worden. Denn es wird übersehen, daß Descartes nicht nur einen neuen Kontinent
66 67 68 69 70
E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 2 (Husserliana I, 46). E. Husserl, Erste Philosophie II (Husserliana VIII, 328). Erste Philosophie I (Husserliana VII, 61). Ebd. (Husserliana VII, 63). F. W. J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie (Ausgewählte Schriften IV,
420). 71
Recherche (AT X, 508). In diesem Dialog hatte Epistemon auf die Unmöglichkeit hingewiesen, daß ein noch so guter Maler ein fehlerhaftes Bild von Lehrlingen vollenden könne. Daraufhin empfiehlt ihm Eudoxus ein Mittel: »Qui est, ce me semble, que, comme vostre peintre feroit beaucoup mieux de recommencer tout à fait ce tableau, ayant premierement passé l’esponge par dessus pour en effacer tous les traits qu’il y trouve, que de perdre le temps à les corriger: il faudroit aussy que chaque homme … se resolust une bonne fois d’oster de sa fantaisie toutes les idées imparfaites qui y ont esté tracées jusqu’alors …«
§ 3 Der Cartesianismus als ein Palimpsest
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betritt, sondern zugleich auf einem alten Erdteil heimisch bleibt. Die Präsenz des Alten in der cartesischen Philosophie war für Heidegger so übermächtig, daß er – mit Blick auf den in den Meditationes angestrebten Beweis Gottes und der Unsterblichkeit der Seele – das innovative Moment des Cartesianismus grundsätzlich bestreiten konnte: »Zu Beginn der neuzeitlichen Philosophie, die man gern als Bruch mit der alten Philosophie ausgibt, finden wir gerade das betont und festgehalten, was das eigentliche Anliegen der mittelalterlichen Metaphysik gewesen ist.«72 Aber gerade die Geburt des Neuen aus den Bedingungen des Alten gehört zur eigentlichen Leistung der Genese des Cartesianismus. In seinem Verhältnis zur Tradition läßt sich der Cartesianismus in der Terminologie der Textüberlieferung als ein Palimpsest beschreiben. Klösterliche Skriptorien im Mittelalter griffen aufgrund des Mangels an beschreibbarem Pergament zu alten Codices, um durch Abwaschen oder Abschaben der Tinte neu beschreibbares Pergament zu erhalten. Der neu aufgetragene Text auf einem derart gereinigten Pergament überdeckt zwar die alte Schrift, aber diese scheint noch durch, da sie nie gänzlich entfernt werden konnte. Durch den Einsatz von Gallapfeltinktur oder mittels der heutigen Fluoreszenzfotografie kann ihre verbliebene Sichtbarkeit noch gesteigert werden. Palimpseste bestehen daher aus einer unteren und einer oberen Schrift, aus zwei Schichten der Lesbarkeit. Bei den Palimpsesten ist der Tilgungs- und Überschreibungsvorgang mehr als nur technischer Natur. Im Mittelalter wurden auf diese Weise heidnische Texte durch christliche ersetzt. Ciceros De re publica etwa ist fast allein als eine untere Schrift eines Palimpsests überliefert: Der Text war durch eine Abschrift aus Augustins Psalmenkommentaren überdeckt worden. Der neue Text sollte ausdrücklich den alten bis in seine physische Präsenz hinein verdrängen. Ein Palimpsest ist die wörtliche Umsetzung der Metapher, über die Tradition wie mit einem Schwamm hinwegzufahren. Es war ohne Zweifel eine von Descartes’ Intentionen, die Präsenz des Vergangenen publizistisch zu tilgen. Nicht nur gewährt er der Tradition, auch wo sie in seinen Texten gegenwärtig ist, keinen Raum durch Zitat oder Verweis, sondern er entkräftet sie durch notorisches Verschweigen. Descartes ist ausdrücklich an einer Ersetzung interessiert. Die Principia philosophiae sind dafür ein Beispiel. Sie sind als ein Handbuch konzipiert, das die noch gängigen Lehrbücher, die er während seiner Ausbildung in La Flèche kennengelernt hat, ersetzen soll. Descartes erkundigt sich eigens bei Mersenne nach den gängigen Handbüchern, da er sich an die vor zwanzig Jahren gelesenen Autoren nicht mehr genau erinnert.73 Die von Mersenne empfohlene Summa Philosophiae des Eustachius a Sancto Paulo 72
M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Gesamtausgabe II 29/30, 64). 73 Brief an Mersenne, 30. September 1640 (AT III, 185).
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I. Einleitung
von 1629 wird ihm zum formalen Vorbild für sein Handbuch (vn Cours de ma Philosophie), dessen ausdrückliche Handhabbarkeit – »mit wenigen Worten« (en peu de mots) – seine neue Philosophie in der Gestalt alter Lehrbücher verbreiten und die noch gängigen verdrängen soll.74 Der Cartesianismus ist also bis in seine publizistische Dimension hinein eine palimpsestartige Verdrängung der Tradition. Doch auch dieser ausdrückliche Wille zur Negierung der Tradition kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch den Cartesianismus die Tradition wie die untere Schrift eines Palimpsests hindurchscheint. Wie ist sie aber sichtbar zu machen, wenn Descartes doch daran gelegen ist, sie ungesehen zu machen? Die schlichte Antwort kann nur lauten: durch Interpretation. Die interpretatio als Auslegungskunst scheint bereits wortgeschichtlich genau zwischen Präzision und Spekulation angesiedelt zu sein: Zum einen entstammt sie der römischen Handels- und Rechtssprache,75 zum anderen bezeichnete sie die Ausdeutung von Zeichenhaftem – etwa der Formation eines Vogelschwarms – durch Auguren und Traumdeuter.76 Das besagt für die Auslegung von Texten, daß die Interpretation einerseits wortgenaue Eindeutigkeit anstrebt, die sich an der Normativität des Textes im Rahmen seiner immanenten Interpretation zu orientieren hat, und es bedeutet andererseits, daß der fragende Umgang mit dem Text ein »Erproben von Möglichkeiten«77 ist, das über die Faktizität des Vorhandenen hinausgeht. Ohne Text gibt es daher keine Interpretation, aber die Interpretation hört nicht an den Grenzen des Textes auf. Denn die philosophische Interpretation ist die systematische Annäherung an den Text, ohne ihm hörig zu sein. Der Präzision des spekulativen Umgangs mit dem Text entspricht die Disziplinierung, daß ein Überschreiten des Textes seiner Verstehbarkeit dienen muß. Die Interpretation gleicht einem maßgeschneiderten Passepartout, das die Sichtbarkeit eines Bildes, das gesehen zu werden verdient, erhöhen soll. Es hat sich, wie der Rahmen auch, zwar strikt auf das Bild zu beziehen, ohne ihm doch im strengen Sinn anzugehören. So wird auch die Interpretation als auslegender Kommentar zu einem die Präsenz des Textes steigernden Umfeld. Für die Interpretation frühneuzeitlicher Texte ist dieses Phänomen der Sichtbarmachung des Verdeckten nicht so ungewöhnlich, wie es scheinen mag. Fast alle Texte der frühen Neuzeit gleichen Vexierbildern, die von Traditionalismen und Modernismen gleichermaßen bestimmt sind und scheinbar Gegensätzliches vereinen. So überrascht es nur auf den ersten Blick, etwa in der platoni74
Brief an Mersenne, 11. November 1640 (AT III, 233). Zu den Principia philosophiae und der scholastischen Handbuchtradition vgl. St. Gaukroger, Descartes’ System of Natural Philosophy, Cambridge 2002, 32–63. 75 Vgl. etwa Cicero, De officiis I 33. 76 Vgl. Plinius Secundus, Historia naturalis II 53. 77 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke I, 381).
§ 3 Der Cartesianismus als ein Palimpsest
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sierenden Renaissance Nominalismen zu entdecken78 oder die Kontingenz als ein verborgenes Thema des großen Ordnungsentwurfs von Dantes göttlicher Komödie sichtbar gemacht zu bekommen.79 War die späte Wiederentdeckung der Präsenz des Mittelalters in der frühen Neuzeit der größtanzunehmende Ernstfall genealogischer Aufklärung und somit ein Paradigma des heuristisch Möglichen, muß eine Heuristik genetischer Dependenzen vom Unerwarteten gleichsam ausgehen. Den cartesianischen Rationalismus auf das antreibende, aber unausdrückliche Motiv der Kontingenz zu befragen, ist für eine Heuristik genetischer Dependenzen daher nicht befremdlicher, als in Humes Empirismus einen verborgenen Rationalismus zu erblicken.80 Nominalismen in der Renaissance, Mittelalter in der Moderne, Rationalismus im Empirismus, Kontingenz im Rationalismus – was dort für Momente der überraschten Aufmerksamkeit wahrnehmbar wird, zerstört die Illusion einer interpretatorischen Hermetik. Wie ist nun der Aspekt einer genealogischen Dependenz des cartesischen Rationalismus vom Gedanken der Kontingenz zu bestimmen? Zunächst ist die Annahme einer diffusen Wirksamkeit des Kontingenzbegriffs auszuschließen. Man kennt das Problem der unüberschaubaren und schwer einsehbaren Wirksamkeiten geistesgeschichtlicher Strömungen zu Beginn der frühen Neuzeit. Der Nominalismus ist dafür ein Beispiel. Aufgrund der spätmittelalterlichen Verurteilungsdekrete und der frühneuzeitlichen Repressionen durch die Kirche wurden nominalistische Autoren so gut wie nie zitiert. Ihr wirkungsgeschicht-
78
Vgl. E. Keßler, »Die verborgene Gegenwart Ockhams in der Sprachphilosophie der Renaissance«, in: W. Vossenkuhl/R. Schönberger (Hg.), Die Gegenwart Ockhams, Weinheim 1990, 147–164. Keßler versucht durch einen »Blick hinter die Fassade humanistischer Selbstdarstellung« die »verschwiegene und daher verborgene Gegenwart« Ockhams exemplarisch an Lorenzo Valla, Rudolph Agricola und Marius Nizolius aufzuweisen (148). 79 Vgl. Karlheinz Stierle, »Der Schrecken der Kontingenz – Ein verborgenes Thema in Dantes Commedia«, in: B. Greiner/M. Moog-Grünwald (Hg.), Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit, Heidelberg 2000, 29–46. Um die Kontigenz als ein leicht übersehbares Motiv der Commedia anschaulich werden zu lassen, gilt es, auf ihre »Sprache unausdrücklicher Andeutungen und Verweise« zu achten, bis ansichtig wird, daß die Fragen im Zusammenhang der Kontingenz, »kaum einmal bis an die Ausdrücklichkeit kommen und … durch ihre Insistenz doch auch in der Unausdrücklichkeit sich zu einer obstinaten Gegenkommunikation verdichten« (29 f.). 80 Lothar Kreimendahl hat in seiner Studie Humes verborgener Rationalismus (Berlin/ New York 1982) nachzuweisen versucht, »daß ein Rationalismus vorwiegend Cartesischer und Leibnizscher Provenienz wohl nachhaltiger auf die Formulierung der grundlegenden Prinzipien des Humeschen Systems eingewirkt hat, als man bislang anzunehmen geneigt war« (4). Auch Louis E. Loeb opponiert in seiner Studie From Descartes to Hume. Continental Metaphysics and the Development of Modern Philosophy (Ithaca/London 1981) gegen das standartisierte Schema, den kontinentalen Rationalismus vom britischen Empirismus zu trennen.
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I. Einleitung
licher Einfluß ist daher textimmanent nicht direkt zu belegen, ohne grundsätzlich bestritten werden zu können. Nun ist Descartes ein Autor notorischer Verschwiegenheit, was seine Inspirationsquellen angeht. Wird versucht, die problemgeschichtlichen Dependenzen seines Denkens aufzudecken, kann allein der systematische Aufweis eines Zusammenhangs aufschlußreich sein. Aufgrund der skizzierten Ausgangslage kann es nicht um eine terminologische Spurensuche gehen, deren Erfolg nur die zweifelhafte Suggestion einer Präsenz des Kontingenzbegriffs im cartesischen Œuvre durch die Isolation und Hervorhebung einzelner Fundstellen sein kann. Um es deutlich zu sagen: Die Terminologie kann für diese Untersuchung keinen Leitfaden darstellen. Die philologische Genauigkeit wird nur die Absenz des Terminus contingentia bestätigen können.81 Die beneidenswerte Prägnanz nachweisbarer Rezeptionsverhältnisse wird sich nicht erreichen lassen. Der Aufweis eines Zusammenhanges von Kontingenz und cartesischer Rationalität stellt – trotz aller aufzuarbeitenden historischen Bezüge – eine philosophische Aufgabe dar. Das bedeutet freilich keinen Dispens von einer sich an den Texten orientierenden Lektüre. Im Gegenteil: Die Normativität des litteralen Sinns wird nicht aufgegeben, indem etwa mit der Unterstellung operiert wird, das eine werde gesagt, aber das andere werde bezeichnet – aliud dicitur, aliud significatur. Die philosophische Interpretation hat den Quellen nicht zu mißtrauen. Sie ist aber auch nicht einzig an den buchstäblichen Sinn gebunden. Die Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns entstammt bereits der antiken Rezeption der Dichtungen Homers und Hesiods, deren Mythenwelt zunehmend allegorisch interpretiert wurde, und sie fand ihre Entfaltung in der biblischen Exegese, die den litteralen Sinn – neben der allegorischen, spirituellen und moralischen Deutung – um die historia und somit um den historischen Kontext des buchstäblichen Textes ergänzte. Für die philosophische Interpretation bedeutet diese Tradition einer prinzipiellen Offenheit der Hermeneutik gegenüber einer Mehrschichtigkeit des Textes, daß auch das Gesagte auf das hin befragt wird, was zur Bedingung seiner Ausdrücklichkeit gehört. Noch die präziseste Begrifflichkeit besitzt einen historischen Vermerk. Insofern dieser historische Vermerk auch die Bedingungen der Möglichkeit dieser Begrifflichkeit enthält, hat die philosophische Interpretation sich auch dem zuzuwenden, was einem Begriff im Rücken steht. 81
Der Index des matières des Index général der Descartes-Ausgabe von Charles Adam und Paul Tannery (AT V, 798 ff.) führt allein den Terminus Contingentes auf und verweist auf den Terminus Tangentes, der in dem Essay La Géométrie, der dem Discours beigefügt ist, von Bedeutung ist. Das von R. Ariew, D. Des Chene, D. M. Jesseph, T. M. Schmaltz und Th. Verbeek herausgegebene Historical Dictionary of Descartes and Cartesian Philosophy (Lanham/Oxford 2003) verzeichnet den Terminus contingency nicht. Auch anhand von John Cottinghams A Descartes Dictionary (Oxford 1993) läßt sich nur die terminologische Absenz bestätigen.
§ 3 Der Cartesianismus als ein Palimpsest
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Es ist also für die vorliegende Untersuchung die entscheidende Frage, ob der begriffsgeschichtlich zu entfaltende Kontingenzgedanke zum oftmals übersehenen Vermerk des cartesischen Rationalismus gehört. Die Reflexion der Kontingenz entspricht gleichsam der unteren Schrift eines Palimpsests, die in Verbindung steht mit der oberen Schrift der cartesischen Rationalität. Der Bezug von Kontingenz und Rationalität muß aber nicht – und da stößt der Vergleich mit einem Palimpsest an seine Grenze – ausschließlich von einer konkurrierenden Intention getragen sein. Vielmehr kann man dem Palimpsest das Phänomen abgestufter Sichtbarkeit von Lesbarkeitsebenen entnehmen. Vielleicht erweist sich ja die Kontingenz als die fast unmerkliche Voraussetzung, von der die cartesische Rationalität ausgeht. In der Metaphorik des Palimpsests wird im folgenden der cartesische Rationalismus als die obere und die Tradition als die untere Schrift gelesen. Ein derartiges Doppelinteresse ist daher auf zweierlei verpflichtet: auf eine systematische Interpretation wesentlicher Aspekte der cartesischen Philosophie einerseits und auf eine Interpretation der Abhängigkeit der cartesischen Philosophie von der Tradition andererseits. Das bedeutet für das methodische Vorgehen, daß auf der einen Seite konstitutive Aspekte des Cartesianismus philosophisch rekonstruiert und in ihrem möglichen Bezug auf den Kontingenzbegriff befragt werden. Auf der anderen Seite wird der Darstellung der vorausliegenden Tradition als einer möglichen Konstitutionsbedingung des Cartesianismus der nötige Raum gewährt. Die Differenz von werkimmanenter Interpretation und geschichtlicher Einordnung, von systematischer Philosophie und ihrer historischen Dimension wird dabei marginal. Wenn der Cartesianismus als ein Palimpsest lesbar ist, hat sich der Lesende zwischen den beiden Lesbarkeitsschichten sowenig zu entscheiden, wie der Mathematiker zwischen den geraden und ungeraden Zahlen zu wählen braucht.82 Den cartesischen Rationalismus in dieser Weise auf den in ihm wirksamen Begriff der Kontingenz zu befragen, ist einen Versuch wert. Nun lautet der hermeneutische Grundsatz aller Interpretation, daß es auch anders sein könnte. Es ist nicht ausgemacht, daß sich wirklich ein tragfähiger Zusammenhang von Kontingenz und Rationalität bei Descartes nachweisen läßt. Angesichts eines so offenen Verhältnisses kann Interpretieren nicht bedeuten, um jeden Preis recht zu behalten. Denn, wie es Descartes formuliert, »solange es allen nur ums Siegen geht, bemüht man sich weit mehr, das Wahrscheinliche zur Geltung zu brin82
Dieses schöne Beispiel, das das Glück des Mathematikers beschreibt, nicht wählen zu müssen, stammt von Manfred Sommer, Identität im Übergang: Kant, Frankfurt am Main 1988, 12. Es wird angeführt im Kontext der Erläuterung einer philosophischen Haltung, die sich von einer reinen theoretischen Neugierde bestimmen läßt, die sich als Theorie eben prinzipiell auf alles einläßt, was es gibt, um es genau zu erfassen, umsichtig zu analysieren und verständlich darzustellen.
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I. Einleitung
gen als Gründe für und wider abzuwägen«.83 Obschon die vorgelegte Relektüre der cartesischen Philosophie eine eindeutige Bestimmung des Verhältnisses von Kontingenz und Rationalität anstrebt, bleibt auch das Für und Wider dieser Interpretation abzuwägen. Denn auch die vorgelegte Lesart der Genese des Cartesianismus ist keine notwendige, sondern eine kontingente und somit zumindest mögliche.
83
Discours VI (AT VI 69): »… pendant que chascun tasche de vaincre, on s’exerce bien plus a faire valoir la vraysemblance, qu’a peser les raisons de part & d’autre …«
II. Antike Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
§ 4 Notwendigkeit und Zufall der Weltentstehung im Platonismus und im Atomismus Einsteins Reaktion auf die mögliche Infragestellung des klassischen Kausalitätsprinzips durch die Annahmen der Quantenmechanik ist in ihrer apodiktischen Kürze von antiker Prägnanz: Gott würfelt nicht.1 Täte er es, könnte das Erkenntnisideal exakten Wissens nicht universal aufrecht erhalten werden, da der Zufall durch den würfelnden Gott zu einem bestimmenden Prinzip würde: Ein Würfel durchläuft während seiner zurückzulegenden Bahn ständig instabile Phasen, die Gabelungspunkte enthält, an denen kleinste Störungen über den weiteren Verlauf der Würfelbahn entscheiden. Selbst ein Würfel mit ideal scharfen Kanten von atomaren Dimensionen wäre aufgrund der thermischen Bewegung der Atome, die sich an den Würfelkanten befinden, mikroskopischen Störungen mit makroskopischen Folgen ausgesetzt. Aufgrund der angenommenen Unschärferelation im Rahmen der Quantenmechanik, wonach Aussagen über Ort und Geschwindigkeit atomarer Partikel nur den Status von Wahrscheinlichkeitsaussagen besitzen, ist die Zahl, die bei einem geworfenen Würfel fallen wird, auch in diesem idealtypischen Fall nicht vorherzusagen.2 Für Einstein ist aber der Gedanke, »daß ein einem Strahl ausgesetztes Elektron aus freiem Entschluß den Augenblick und die Richtung wählt, in der es fortspringen will, … unerträglich«.3 Einsteins Diktum verdeutlicht den Streitwert dieser Überlegungen, die
1
A. Einstein, Brief an Max Born vom 4. Dezember 1926, in: Albert Einstein, Hedwig und Max Born. Briefwechsel 1916–1955, kommentiert von M. Born, München 1969, 129 f.: »Die Quantenmechanik ist sehr achtung-gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das doch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt.« 2 Zum Würfelbeispiel vgl. M. Eigen/R. Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München 51983, 39 f. Für das Würfelbeispiel gilt demnach die Formulierung von Alfred Gierer, »Zufall und naturgesetzliche Notwendigkeit«, in: G. v. Graevenitz/O. Marquard (Hg.), Kontingenz, a. a. O., 123–139, hier 136: »Ein gewisses Maß an Unbestimmtheit ist selbst Naturgesetz.« 3 A. Einstein, Brief an Hedwig und Max Born vom 29. April 1924, in: Albert Einstein, Hedwig und Max Born. Briefwechsel 1916–1955, a. a. O., 118. Er verzichte eben »sehr sehr ungern auf die vollständige Kausalität«, wie er in einem Brief an Born vom 27. Januar 1920 schreibt (44).
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II. Antike Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
nicht allein periphere Enklaven im Wirklichen betreffen, sondern unser grundsätzliches Verständnis der geregelten Wirklichkeit und das Zusammenspiel von Notwendigkeit und Unbestimmtheit. »Du glaubst an den würfelnden Gott«, schreibt Einstein an Max Born, »und ich an volle Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas objectiv Seiendem«, daher könne er sich nicht zum »Glauben an das fundamentale Würfelspiel«4 durchringen. Für Erwin Schrödinger dagegen ist es durchaus möglich, daß die Naturgesetze nur statistische, aber keine absoluten Gesetzmäßigkeiten darstellen. Im Zuge der Kritik an der »von Jahrtausenden ererbten Gewohnheit, kausal zu denken, die uns ein undeterminiertes Geschehen, einen absoluten, primären Zufall als einen vollkommenen Nonsens, als logisch unsinnig erscheinen läßt«, geht er von dem Nachweis aus, »daß zum mindesten für die erdrückende Mehrzahl der Erscheinungsabläufe, deren Regelmäßigkeit und Beständigkeit zur Aufstellung des Postulates der allgemeinen Kausalität geführt hat, die gemeinsame Wurzel der beobachteten strengen Gesetzmäßigkeit – der Zufall ist«.5 Für die Tradition war eine derartige Akzeptanz des Zufalls absurd. Es gibt am Himmel, so referiert Cicero die stoische Kosmologie, weder Zufall noch Willkür, noch Irrtum, noch Unzuverlässigkeit, sondern im Gegenteil lauter Ordnung, Wahrheit, Vernünftigkeit und Beständigkeit.6 Gäbe es den Zufall in der translunaren Region des Wirklichen, wäre er der Inbegriff der Unvernunft. Er wäre ein Sprung innerhalb des Notwendigen, ein unverständlicher Regelverstoß und somit eine Aporie. Den Zufall als ein wirksames Prinzip zu akzeptieren, käme aus dieser Sicht einem Zusammenbruch des Paradigmas gleich, welches das Sein selbst als vernünftig und somit die Welt des Seienden als intelligibel vorstellt. Wenn es überhaupt das Phänomen des Zufälligen gibt, dann an der Peripherie. Am platonischen Timaios, der zumindest in Bruchstücken dem Mittelalter vorlag, konnte die Tradition ablesen, was es mit der Vernünftigkeit der Welt auf sich hatte. Der Grundgedanke im platonischen Timaios ist die Konstruktion der Welt nach mathematischen Prinzipien. Ihr proportionaler Aufbau im Ganzen folgt dem Ideal eines harmonischen Zusammenhangs ihrer Teile nach bestimmten
4 5
Ebd., Brief Einsteins an Max Born vom 7. September 1944, 204. E. Schrödinger, »Was ist ein Naturgesetz?« (Gesammelte Abhandlungen/Collected Papers, Bd. 4, 297, 295). Schrödinger führt als Grund für die konsequente Aufwertung des Zufalls an, daß bei jeder physikalischen Erscheinung, an der wir eine Gesetzmäßigkeit beobachten, ungezählte Tausende, meistens sogar Milliarden einzelner Atome oder Moleküle mitwirken, die – aufgrund ihres undeterminierten Verhaltens – allein eine statistische Gesetzmäßigkeit zulassen. 6 Cicero, De natura deorum II 56 (ed. W. Gerlach/K. Bayer, 204): »Nulla igitur in caelo nec fortuna nec temeritas nec erratio nec vanitas inest contraque omnis ordo, veritas, ratio, constantia …«
§ 4 Weltentstehung im Platonismus und Atomismus
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Zahlenverhältnissen, was die Schönheit der Planetenbewegungen begründet.7 Die Konstruktion der Grundelemente nach geometrischen Prinzipien – die Luft etwa besteht aus Oktaedern, das Wasser aus Ikosaedern – macht sie berechenbar. Die Welt der Erscheinungen folgt also den Gesetzmäßigkeiten einer mathematischen Substruktur. Deren Intelligibilität verbürgt die Denkbarkeit der ihr folgenden Welt der Dinge. Aufgrund dieser Vernünftigkeit der Struktur des Seienden ist die Welt schön und gut: Sie ist ein Ganzes und Geordnetes,8 ihr Baumeister hat nach dem Ewigen als Vorbild geblickt.9 Die Welt muß daher aus Notwendigkeit und Vernunft entstanden sein,10 denn der blinde Zufall macht keinen Sinn.11 Er wäre die grundsätzliche Infragestellung der Genese der Welt aus dem Prinzip vernünftiger Notwendigkeit. »Platons Vernunftbegriff zielt auf ein geschlossenes, stabiles, im ganzen unverändert sich erhaltendes, ewiges System. Man könnte auch sagen, Vernünftigkeit sei hier gleichbedeutend mit Stabilität.«12 Die mathematische Codierung des Wirklichen ist der Inbegriff dieser Stabilität und Schönheit. Paradoxerweise stammt die Formel, die die platonische Lehre von der Erzeugung der Welt nach den Regeln der Mathematik prägnant zusammenfaßt, nicht von Platon selbst. Erst bei Plutarch findet sich die Rede vom »stets geometrisierenden Gott« (τòν Θεòν εì γευµετρεν):13 Gott ist nach mathematischen Prinzipien schöpferisch. Dadurch erklärt sich die Solidität, Harmonie und Schönheit der Welt. Immerhin bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde dieser Deus geometra unmittelbar mit Platon verbunden.14 Für Galilei ist das Buch der Welt in der Sprache der Mathematik
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Platon, Timaios, 34 b–35 d. Platon, Gorgias 508 a. Timaios 29 a. Timaios 47 e–48 a. Platon, Nomoi X 888 d–891 b. K. Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. I: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, 94. Das strikte Abbildungsverhältnis von Welt und idealer Vorlage begründete eine Verbindlichkeit, in der noch der Neukantianismus sich wiederfinden konnte. Für ihn entspricht die platonische Weltentstehungslehre der »Gesetzesbedeutung der Idee und ihrer schlechthin überragenden, kein ursprünglicheres Prinzip über, auch kein gleich ursprüngliches neben sich duldenden Geltung: der des Logischen schlechtweg« (P. Natorp, Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Hamburg 1994, Neuausgabe nach dem Text der zweiten Auflage von 1921, 359 f.). 13 Plutarch, Moralia VIII, qu. 2, 718 b–720 c (Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes IX, 118–130). 14 Vgl. die glänzende Darstellung dieser Rezeptionsgeschichte durch Friedrich Ohly, »Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott«, in: N. Kamp/ J. Wollasch (Hg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, Berlin/New York 1982, 1–42.
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geschrieben (scritto in lingua matematica),15 und noch Leibniz greift diese Tradition auf: »Wenn Gott rechnet und seine Gedanken ausführt, entsteht die Welt.«16 Der Marginalisierung des Zufälligen in der platonischen Weltentstehungslehre steht eine Aufwertung des Zufalls im Atomismus, wie er von Leukipp und Demokrit entwickelt und von Epikur vertreten worden ist, entgegen. Es machte die Attraktivität der atomistischen Naturphilosophie aus, parmenideische Kontinuität und heraklitische Bewegtheit im Naturgeschehen zugleich annehmen zu können und erklärbar zu machen, indem die Atome unveränderliche Identitäten und einen Baustoff für wechselnde Körper aus zusammengesetzten Atomen darstellen. Der Preis für diese mechanische Weltsicht war seit Epikur die Anstößigkeit, dem Zufall eine Schlüsselstellung innerhalb der Weltentstehung zugewiesen zu haben. Mit dem bei Epikur vor dem Hintergrund seiner ethischen Intentionen und somit aus einem pragmatischen Interesse heraus eingegangenen Wagnis, das Ungeheure zu denken, erhält der Zufall erstmalig eine Schlüsselstellung in einem naturphilosophischen System. Im Zentrum dieser physikalischen Lehre steht eine Aporie: die zufällige Atomabweichung. Über die Grundannahmen der epikureischen Physik sind wir nicht zuletzt über Diogenes Laertius und Lukrez17 gut unterrichtet: Die in ihrem Bestand konstante, aber in ihrer Gestalt variable Welt besteht aus unendlich vielen unteilbaren und unveränderlichen Atomen. Als Urelemente bieten die Atome den Grundstoff für alle Körper. Sie entstehen durch variable Verbindungen dieser kleinsten Elemente. Entscheidend ist nun die hypothetische Erfassung des Moments der Weltentstehung, da in ihm dem Zufall eine konstitutive Funktion zugewiesen wird: Bevor es überhaupt aus Atomen zusammengesetzte Körper gibt, bewegen sich alle Atome in einem leeren Raum auf parallelen Bahnen. Sie fallen wie Regentropfen – ohne sich zu berühren – durch den Raum. Erst eine kleine Abweichung eines Atoms sorgt innerhalb dieses Atomregens dafür, daß sich zwei Atome berühren, verbinden, und daraufhin mit weiteren Atomen zusammenstoßen. Die unbedingte Parallelität und Isonomie der Atombewegungen vor der ersten Abweichung (παρéγκλισις / clinamen) macht eben diese zur Aporie. Warum weicht ein erstes Atom, wenn auch noch so wenig, von seiner Bahn ab? Es ist eine zufällige Abweichung, eine Unregelmäßigkeit ohne kausalen Grund. Wie skandalös diese Annahme war, kann man daran ermessen, daß Lukrez eine mögliche Eigenbewegung der Atome erwägt,18 so daß die Atome gleichsam aus 15 16
G. Galilei, Il Saggiatore VI (ed. Nazionale VI, 232). G. W. Leibniz, »Dialogus« vom August 1677 (Sämtliche Schriften und Briefe VI, Bd. 4 A, 22): »Cum Deus calculat et cogitationem exercet fit mundus.« 17 Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen X 40 ff.; Lukrez, De rerum natura II 216 ff. 18 De rerum natura II 297 ff.
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eigenem ›Willen‹ zur Abweichung drängen. Noch die Fragwürdigkeit dieses Entschärfungsversuchs, den Grund für die Atomabweichung in die Atome selbst zu verlegen, markiert das Besondere des epikureischen Ansatzes: Innerhalb des Determinismus kausaler Zusammenhänge wird an zentraler Stelle ein kausales Vakuum behauptet, eine unerklärliche Grundlosigkeit. Epikurs Motivation für diesen folgenreichen Schritt hat man in dem ethischen Interesse ausgemacht, angesichts eines ausnahmslosen Determinismus die menschliche Willensfreiheit zu verteidigen, indem im Naturgeschehen ein vergleichbarer Freiheitsspielraum wenn auch noch so kleiner Unregelmäßigkeit behauptet wird.19 Für die naturphilosophische Rezeption Epikurs, zumal in der frühen Neuzeit, war diese Motivation nicht bindend. Der Zufall hatte erstmalig eine systematische Stelle von epistemologisch hohem Rang besetzt. Das Ärgernis bestand auf Dauer darin, daß der Zufall nicht denkbar war. Noch die frühneuzeitliche Annäherung an den Atomismus in der Gestalt seiner Wiederkehr bei Pierre Gassendi hatte jene Entschärfung zur Voraussetzung, die Gassendi mit einer Abschwächung des radikalen Zufalls durch die Einbindung der atomaren Bewegungen in ein göttliches Gesamtkonzept erreichte.20 Systematisch beim Wort genommen, erschien der epikureische Atomismus mit seiner Lehre von den Atomabweichungen eher als ein philosophischer fauxpas. Cicero verkennt keineswegs die ethische Motivation Epikurs, wenn er auf dessen Lehre von den Atomabweichungen zu sprechen kommt.21 Dennoch ist sie für ihn unannehmbar, da Epikur behaupte, daß etwas ohne Ursache geschehe, woraus sich ergebe, daß etwas aus dem Nichts entstehe.22 Er fragt Epikur mit Hinblick auf die Annahme, Atome könnten grundlos von ihrer Bahn abweichen: »Zuerst: Warum? … Was ist das für eine neue Ursache in der Natur, die das Atom abweichen läßt? Oder losen sie unter sich aus, welches seine Bahn verlassen soll und welches nicht? Und warum weichen sie nur um ein Minimales ab, nicht aber um zwei oder drei? Das aber heißt Wunschdenken, nicht aber Disputieren!«23 Epikur habe daher etwas gesagt, was der allgemeine Verstand mit Verachtung zurückweise.24
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Vgl. M. Hossenfelder, Epikur, München 1991, 131–135. Vgl. § 21. Cicero, De fato X 23. De fato IX 18 (ed. K. Bayer, 32): »… ut sine causa fiat aliquid, ex quo existet, ut de nihilo quippiam fiat …« 23 De fato XX 46 (ed. K. Bayer 66): »Primum cur? … Quae ergo nova causa in natura est, quae declinet atomum? Aut num sortiuntur inter se, quae declinet, quae non? Aut cur declinent uno minimo, non declinent duobus aut tribus? Optare hoc quidem est, non disputare!« 24 De fato XX 47 (ed. K. Bayer 68): »… quod omnium mentes aspernentur ac respuant …«
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Die Heftigkeit der Reaktion speist sich aus dem Widerstand gegen die unplausible Annahme, eine so ausdifferenzierte und geordnete Welt könne aus zufälligen Atomanhäufungen entstanden sein. Denn dann müßte man auch annehmen, daß sich aus den einundzwanzig Buchstaben, wenn man sie schüttelt und auf den Boden ausschüttet, die Annalen des Ennius bilden könnten. Dabei käme durch diesen Zufall nicht einmal ein Vers zustande.25 Seneca weist in gleicher Richtung auf die Konsequenz hin, epikureisch gedacht wäre der Mensch nicht die Schöpfung eines Gottes, sondern das Resultat von Atomen und Körnchen (micae), die sich zufällig und planlos zusammengeballt hätten.26 Es sind diese Unplausibilitäten, die die Grenzen der epikureischen Naturphilosophie ausmachen und die Mißkreditierung des Zufalls als Phänomen begünstigen. Die Quellen geben keine Hinweise, wie Epikur die Atomabweichung angesichts der sich einstellenden Aporien dachte und ob er die aporetische Einführung des Zufalls zugunsten der Rettung der Willensfreiheit bereitwillig in Kauf zu nehmen bereit war. In einer noch zu schreibenden Geschichte des Zufalls kommt Epikur daher das schillernde Verdienst zu, den Zufall durch seine Einbeziehung in ein naturphilosophisches System zwar aufgewertet, durch die aporetische Art seiner Einführung aber zugleich dessen Mißkreditierung untermauert zu haben. Erst in der modernen Fortsetzung der Atomtheorie sollte sich zeigen, daß der Zufall nicht bei einer Abweichung der Bewegungsabläufe an den Atomen auftritt, sondern bei einem Quantensprung in den Atomen. Es ist daher eine Wiederkehr der epikureischen Inkonsistenz der Naturerklärung, wenn das epistemologische Resultat der modernen Quantentheorie darin zu bestehen scheint, daß »die Atomphysik sich von den Vorstellungen des Determinismus immer weiter entfernt hat« und als Folge der Unvorhersehbarkeit atomarer Quantensprünge »die unvollständige Kenntnis atomarer Systeme als ein prinzipieller Bestandteil der Theorie erkannt worden ist«.27
25
Cicero, De natura deorum II 93 (ed. W. Gerlach/K. Bayer, 250 f.): »Hoc qui existimat fieri potuisse, non intellego, cur non idem putet, si innumerabiles unius et viginti formae litterarum vel aureae vel qualeslibet aliquo coiciantur, posse ex iis in terram excussis annales Enni, ut deinceps legi possint, effici; quod nescio an ne in uno quidem versu possit tantum valere fortuna.« 26 Seneca, De beneficiis IV 19 (ed. M. Rosenbach V, 328): »… sed te atomi et istae micae tuae forte ac temere conglobauerunt …« 27 W. Heisenberg, »Atomforschung und Kausalgesetz«, in: Schritte über Grenzen, München/Zürich 1984, 114–127, hier 126 f.
§ 5 Notwendigkeit, Möglichkeit und Zufall bei Aristoteles
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§ 5 Notwendigkeit, Möglichkeit und Zufall bei Aristoteles Wie ist es möglich, daß es innerhalb des Wirklichen Mögliches gibt? Was ist das Mögliche im Vergleich zum Wirklichen? Gibt es überhaupt Mögliches angesichts der Präsenz des Faktischen? Und wie verhält sich das Mögliche zum Notwendigen und zum Zufälligen? Diese Fragen nach dem Status und der Erkennbarkeit dessen, was als möglich begriffen wird, gehen bis auf die vorsokratische Tradition zurück, aber es ist Aristoteles, der dieses Problem systematisch erschließt und für die weitere Tradition wichtige Vorgaben macht. Die entscheidenden Formeln, die er dafür prägt, bezeichnen zum einen das aufgrund eines aktiven oder passiven Vermögens Mögliche (κατà δúναµιν) und zum anderen eine Möglichkeit, die nicht von einem Vermögen abhängt (ο κατà δúναµιν).28 Aus dieser aristotelischen Unterscheidung hat sich das Begriffspaar von Potentialität und Possibilität entwickeln lassen 29 – der Begriff der Possibilität ist erst seit der scholastischen Rezeption der aristotelischen Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert ein feststehender Begriff, den die metaphysischen Entwürfe des 17. Jahrhunderts als geläufig voraussetzen.30 Die Potenz im Sinne eines realen Vermögens ist demnach etwa die Fähigkeit einer Person, etwas zu tun, oder auch des Feuers, Holz zu entflammen und somit etwas zu bewirken. Die Possibilität bezeichnet dagegen das logische Möglichsein von etwas ohne Abhängigkeit von einem Vermögen. Für eine Verhältnisbestimmung von Notwendigkeit, Möglichkeit und Zufall bei Aristoteles im Rahmen einer Vorgeschichte des mittelalterlichen Kontingenzbegriffs sind zwei Aspekte bedeutsam: Zum einen gilt es herauszuarbeiten, inwiefern der Vermögensbegriff den Begriff der Möglichkeit in seiner Entfaltung frühzeitig limitiert hat, und zum anderen kommt es darauf an, das Auftauchen des Aspekts des Zufalls im Rahmen der Definition des Möglichen als Possibilität zu markieren. Dadurch kann zugleich gezeigt werden, worin die wichtigen aristotelischen Vorgaben für das Mittelalter bestanden haben und warum sie aus der Sicht des spätmittelalterlichen Voluntarismus als defizitär angesehen werden mußten. Betrachtet man zuerst den aristotelischen Vermögensbegriff im Sinne einer Potenz, ist unverkennbar, daß die mit ihm bestimmte Möglichkeit vorrangig eine Möglichkeit zu bewirkter Veränderung ist. Das wird deutlich, wenn man die kinetische Implikation des Vermögensbegriffs beachtet. Demnach ist die Aristoteles, Metaphysica ∆ 12, 1018 a 15–1020 a 6. Vgl. K. Jacobi, »Das Können und die Möglichkeiten. Potentialität und Possibilität«, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 9–23. 30 Vgl. L. Honnefelder, Artikel »Possibilien« (Abschnitt I: Mittelalter), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie VII, 1126–1135. 28 29
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reale Möglichkeit des Vermögens auf Bewegung (κíνησις) und Veränderung (µεταβολ) zu beziehen,31 und das wiederum in einem aktiven und einem passiven Sinne: So besitzt Feuer das Vermögen, etwas zu erwärmen, und Holz, von etwas anderem erwärmt zu werden. Wird das Holz durch das Feuer erwärmt, geht die Veränderung auf das Vermögen des Feuers, erwärmen zu können, zurück. Das Vermögen ist hier der Ursprung (ρχ) der Veränderung. Zwar verbindet sich mit dem Vermögen zur Veränderung ein Spielraum des Möglichen, wonach etwas unter dem Einfluß eines Bewirkenden die Quantität, Qualität oder den Ort verändern kann, das Verhältnis des Bewirkens und Erleidens zueinander aber ist ein notwendiges: Wenn Feuer mit dem Vermögen des Erwärmens auf Holz mit dem Vermögen, erwärmt werden zu können, trifft, dann wird das Holz mit Notwendigkeit vom Feuer erwärmt – falls nicht etwas Verhinderndes hinzutritt. Die Relation von Bewirken und Erleiden ist aufgrund ihres Notwendigkeitscharakters so eng, daß Aristoteles davon sprechen kann, Bewirken und Erleiden seien gleichsam eins.32 Die kinetische Auslegung des Vermögensbegriffs garantiert zugleich ein Modell der nach festen Prinzipien ablaufenden Veränderung des Ontischen und die Annahme einer Identität im Wandel, da das innewohnende Vermögen im Bewirkenden die Potenz seines verändernden Einflusses festschreibt und zugleich das eine Änderung Erleidende die ihm eigene Potenz zum Wandel aktualisiert. Daher kann Feuer zwar Holz entflammen, aber nicht dem Frost aussetzten, und das Holz kann seinem Vermögen nach zwar brennen, aber nicht flüssig werden. Das kinetische Vermögen ist daher die Möglichkeit der notwendigen Veränderung im Sinne geltender Kausalrelationen. Die κíνησις ist die Phase des Übergangs zwischen zwei tendenziell stabilen Zuständen, die δúναµις ist das Vermögen, das diesen Übergang ermöglicht. Und die ontische Identität beim Wandel der Qualität, Quantität oder Lokalität wird durch ein Zugrundeliegendes (τò ποκεíµενον) gestiftet, das das Vermögen der Bestimmungsänderung besitzt. Nun weist Aristoteles in der Metaphysik darauf hin, daß der zuerst entfaltete Zusammenhang von Vermögen und Bewegung noch nicht die grundsätzlichste Bestimmung des Möglichkeitsbegriffs ist, da das Verhältnis von Vermögen und Wirklichkeit (δúναµις & νéργεια) noch weitreichender sei.33 In der Physik entfaltet er dazu das Verhältnis von Wesen und Materie (οσíα & λη), da eine Bewegung als Veränderung ein Werden darstellen kann. Dem Begriff der Materie kommt dabei die Funktion zu, denjenigen Stoff zu bezeichnen, der reine Potenz zur Bestimmbarkeit ist. Er ist reine Möglichkeit des noch Ungeformten. Metaphysica ∆ 12,1019 a 15. Metaphysica Θ 1, 1046 a 19 f. Metaphysica Θ 1, 1046 a 1–2. Vgl. J. Stallmach, Dynamis und Energeia. Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1959. 31 32 33
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Entspricht dem Vermögen das Wirklichsein, korrespondiert der Materie das Geprägt-Werden durch eine Form (ε!δος). Der Prozeß der Veränderung als ein Werden ist also die Aktualisierung einer Potenz nach festen Vorgaben: Die Form bestimmt die Veränderung des Bestimmbaren. Diesem Hylemorphismus sind zwei Grundannahmen eigen: Zum einen geht er davon aus, daß jedes Werden schon Seiendes voraussetzt. Nichts entsteht aus dem Nichts. Ein Mensch wird von einem Menschen geboren. Zum anderen, und darauf kommt es hier an, besitzt jedes Werden ein Ziel der Veränderung. Im dritten Buch der Physik definiert Aristoteles, das Zur-Wirklichkeit-Kommen eines nur der Möglichkeit nach Vorhandenen sei eine teleologische Veränderung (ντελéχεια).34 Das Saatkorn ist dem Vermögen nach Getreide.35 Jedes Werden besitzt somit ein Telos, jeder natürliche Prozeß eine Finalität. Die Veränderung als ein teleologisches Werden, das die Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt, ist ein notwendiger Prozeß, der durch die vier an ihm beteiligten Ursachen – also durch die Stoff-, Form-, Zweck- und Wirkursache – bestimmt wird. Allein eine Verhinderung des an sich notwendigen und finalen Ablaufs kann das aus einer Möglichkeit heraus Werdende vereiteln. Den Grund dafür macht Aristoteles vornehmlich bei einem Versagen der Stoffursache fest, es erweist sich also als ein Mangel des ›Materials‹, das als das Unbestimmteste und Bestimmbarste der Ort des Zufalls und somit der Kontingenz darstellt.36 Naturhafte Geschehen als Ereignisse vollziehen sich somit nach Aristoteles immer oder in aller Regel mit Notwendigkeit, keinesfalls aufgrund von Zufall.37 Allerdings gilt es hier, die Beschreibung von Naturvorgängen mit Hilfe der Modalität der Notwendigkeit zu differenzieren und den Geltungsbereich abzustecken. Zum einen verwendet Aristoteles den Notwendigkeitsbegriff frequentiv im Sinne einer notwendigen Abfolge aus der Perspektive des Verursachenden: Immer dann, wenn Feuer auf brennbares Holz trifft, entflammt es das Holz mit Notwendigkeit, falls nicht eine verhindernde Ursache hinzutritt. So notwendig also dieser Ablauf ist, wenn er ungestört bleibt, so ist doch keinesfalls notwendig, daß das entflammbare Holz auch entflammt wird, da es daran durch hinzukommende Umstände gehindert werden kann. Zum anderen verwendet Aristoteles die Modalität der Notwendigkeit analytisch im Sinne einer Angabe der notwendigen Bedingungen, die eine Aktualisierung eines Telos voraussetzt, Aristoteles, Physica Γ 1, 201 a 9 ff. Metaphysica Θ 8, 1049 b 19–23. Vgl. U. Nortmann, »›Das Saatkorn ist dem Vermögen nach eine Pflanze‹. Über ontologische und logische Aspekte Aristotelischer Möglichkeitssätze«, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hg.), Potentialität und Possibilität, a. a. O., 43–58. 36 Vgl. Metaphysica Ε 2, 1027 a 13–15, wo Aristoteles den Stoff als die Ursache des Akzidentellen bezeichnet. 37 Physica Β 8, 198 b 34–36. 34 35
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und das eben aus der Perspektive des finalen Abschlusses jenes Vorganges: Wenn Holz brennt, dann ist es notwendigerweise mit einer entflammenden Ursache, gewöhnlich Feuer, in Berührung gekommen. Kontingenztheoretisch gesehen, entwirft Aristoteles mit dem kinetisch entfaltbaren Begriff des Möglichen im Sinne eines aktiven oder passiven Vermögens ein Modell, das Veränderung als ein Werden denkbar machen soll. Die Realität des Möglichen ist dabei die Potenz zur Aktualisierbarkeit: Aus dem Samen kann eine Pflanze werden. Es stellt dabei nicht nur ein Problem dar, welchen ontologischen Status diese Möglichkeit als Entwicklungspotenz besitzt, sondern auch, warum sich das final auf die Verwirklichung angelegte Vermögen nicht in jedem Fall aktualisiert. Dies ist die erste Einbruchstelle der Kontingenz im Sinne einer zufälligen Verhinderung einer Aktualisierung. Während das Vorhandensein und der Bewegungsablauf der Sterne keinen Zufall kennt, da sie Inbegriff des Notwendigen und Ewigen sind, ist im sublunaren Bereich der veränderlichen Phänomene die absolute Notwendigkeit gleichsam der ideale Grenzfall. Bereits ein Versagen der Stoffursache kann einen notwendigen Ablauf eines Naturvorgangs vereiteln. Damit ist das Phänomen der Kontingenz, aristotelisch betrachtet, im Kontext des Vermögensbegriffs auf ein Vorkommnis innerhalb der Wirklichkeit eingegrenzt: als Sonderfall eines Mißlingens. Es ist offensichtlich, daß mit der Beschreibung des Möglichen als ein aktualisierbares aktives oder passives Vermögen nur ein Teilaspekt der Kontingenzthematik erfaßt ist. Denn es gibt Möglichkeitsspielräume, die über den bisher behandelten Begriff des Vermögens hinausgehen: Handlungen und Ereignisse gehören unverkennbar dazu. Eine Person kann wählen, aus dem Haus zu gehen oder es nicht zu tun. Dabei kann es sich ereignen, daß sie beim Hinausgehen von einem herabfallenden Dachziegel erschlagen wird. Beide Male handelt es sich um Nichtnotwendiges, aber Mögliches und somit um Kontingentes. Wenn die Wahl einer Person nicht determiniert und somit nicht notwendig erfolgt, ist sie kontingent, aber nicht zufällig. Ebenso ist der Umstand, daß der Dachziegel einen Menschen erschlägt, nicht notwendig, da es nicht notwendig ist, daß die Person sich gerade zu dem Zeitpunkt an diesem bestimmten Ort befindet. Dieses sich Ereignen ist kontingent im Sinne von zufällig, da es keinen notwendigen Grund für das Ereignis gibt: Das Erschlagenwerden durch einen Dachziegel ist keine Aktualisierung einer Potenz, die als finales Ziel teleologisch geleitet eben dieses Ereignis hervorbringt. Dieser Einbruch des Zufälligen in das natürliche Gefüge der kausal bestimmten Abläufe ist aristotelisch gesehen eine epistemologische Herausforderung und fast schon eine Zumutung. Erinnert man sich daran, daß Aristoteles im zweiten Kapitel des ersten Buches der Analytica posteriora definiert hat, Wissen (πιστµη) in der eigentlichen und von jeglicher Meinung abgrenzbaren Gestalt sei zum einen das Wissen von Ursachen und zum andern damit zusammenhängend das Wissen von einem Tatbestand, der nicht anders sein könne,
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dann scheint diese aitiologische Bestimmung der Erkenntnis in ihrem uneingeschränktesten Modus unvereinbar mit allem Zufälligen. Das wäre nicht gravierend, wenn dem Zufall allein ein marginaler Ort im Gefüge des Wirklichen zukäme, so wie ein Akzidens nur nebensächlich einem Seienden angehört. Aber im neunten Kapitel von De interpretatione kommt Aristoteles auf die mögliche Kenntnis kontingent-zukünftiger Ereignisse zu sprechen – es ist der in der Tradition »meistdiskutierte Text«38 der aristotelischen Schriften. Das ist verständlich, geht es doch in der Konsequenz des dort Diskutierten um den Zusammenhang von Notwendigkeit und Determinismus, Wahrheitswert aktueller Aussagen und Spielräume der menschlichen Handlung. Grundlegend für die von Aristoteles vorgelegten Überlegungen ist das Bivalenzprinzip der Logik. Für kontradiktorische Aussagenpaare gilt, daß sie sich notwendigerweise wahr oder falsch auf Tatbestände der Gegenwart oder Vergangenheit beziehen: 39 Jetzt, zu diesem Zeitpunkt, findet eine Seeschlacht statt oder sie findet jetzt nicht statt. Und: Im September des Jahres 480 v. Chr. hat bei Salamis eine Seeschlacht zwischen der griechischen und der persischen Flotte stattgefunden oder nicht. Entscheidend ist für die bivalente Aussagenstruktur der Wahrheitswert, der sich durch den Bezug der Aussage auf die in der Gegenwart oder in der Vergangenheit aktualisierte Wirklichkeit bezieht. Die schwierige Frage ist nun, ob und inwieweit dieses kontradiktorisch prädizierende Wahrheitsprinzip auf zukünftige Tatbestände anwendbar ist und welche Konsequenzen die jeweilige Annahme für die Möglichkeit des Wirklichen und die Wirklichkeit des Möglichen hat. Aristoteles erörtert zuerst die naheliegende Annahme, das Bivalenzprinzip sei uneingeschränkt auf zukünftige Sachverhalte zu übertragen. Eine der beiden Aussagen ›Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‹ und ›Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden‹ wäre demnach bereits jetzt notwendigerweise wahr, eine wäre hingegen falsch. Gleichermaßen hätte bereits gestern gesagt werden können, daß heute eine Seeschlacht stattfindet oder nicht. Entscheidend ist nun das daraus abgeleitete »Deterministenargument«, wie es Dorothea Frede nennt:40 Wenn gilt, daß notwendigerweise nur eine der kontradiktorischen Aussagen über einen zukünftigen Sachverhalt bereits jetzt wahr sein kann, zugleich aber gilt, daß eine der beiden Aussagen wahr ist und nicht keine der beide Aussagen wahr ist, dann kann der jetzt noch zukünftige Sachverhalt nicht per Zufall eintreten.41 Alles wird vielmehr mit Notwendigkeit geschehen. Denn wenn der noch ausstehende Sachverhalt per Zufall aktualisiert würde, könnte nicht jetzt 38 39 40
G. Seel, Die Aristotelische Modaltheorie, Berlin/New York 1982, 239. Aristoteles, De interpretatione 9, 18 a 27 f. D. Frede, Aristoteles und die ›Seeschlacht‹. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9, Göttingen 1970, 12 ff. 41 De interpretatione 9, 18 b 4–16.
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schon einer Aussage über diesen künftigen Sachverhalt Wahrheit zugesprochen werden. Aristoteles hält den sich ergebenden Determinismus für unsinnig, da es sich ihm zufolge erübrigen würde, menschliche Handlungen, die unabdingbar auf die Zukunft Auswirkungen haben, abzuwägen.42 Hermann Weidemann hat darauf hingewiesen, dieses auf den ersten Blick schwache Argument gegen den Determinismus sei nicht so zu verstehen, daß Aristoteles hier die Ursächlichkeit des überlegten menschlichen Handelns überhaupt verteidigen, sondern vielmehr deren Eigenart herausstellen wolle: »Was durch das überlegte Handeln des Menschen geschieht, … hat im Menschen ein Prinzip, das sich auf kein außerhalb des Menschen liegendes ursprünglicheres Prinzip zurückführen und somit auch nicht als ein bloßes Glied innerhalb einer Ursachenkette, auf die der Mensch die Verantwortung für sein Handeln abschieben könnte, begreifen läßt …«43 Hier deutet sich bereits der für das späte Mittelalter so wichtige Aspekt an, daß der Wille angesichts der für ihn notwendigen Freiheit nicht determiniert sein kann und er daher eine Quelle für Kontingenz im Sinne unbestimmter Handlungen und Entscheidungen ist. Daß nicht alles mit Notwendigkeit geschieht, versucht Aristoteles durch einen Hinweis auf die Erfahrung zu unterstreichen: Die Möglichkeit ist offensichtlich, daß ein Mantel auseinandergeschnitten werden kann, dann aber doch nicht zerschnitten, sondern aufgetragen wird. Manches geschieht also, wie es sich gerade trifft. In bezug auf diese in der Zukunft eintretenden Fälle ist weder die eine noch die andere kontradiktorische Aussage wahrer als die andere.44 Aristoteles leitet den Schluß von Kapitel 9 von De interpretatione mit einer sehr dichten Zurückweisung des Determinismusarguments ein, deren Interpretation in den Kommentaren umstritten ist: »Freilich ist es für das, was ist, notwendig, daß es ist, wenn es ist, und für das, was nicht ist, notwendig, daß es nicht ist, wenn es nicht ist. Aber es ist weder für alles, was ist, notwendig, daß es ist, noch ist es für alles, was nicht ist, notwendig, daß es nicht ist. Denn daß alles, was ist, dann mit Notwendigkeit ist, wenn es ist, und daß es schlechthin mit Notwendigkeit ist, ist nicht dasselbe; und ebenso verhält es sich auch mit dem, was nicht ist.«45 Der temporären Interpretation zufolge gilt für jeden Sachverhalt, daß es vor einem bestimmten Zeitpunkt schon immer notwendig war, daß er zu diesem Zeitpunkt entweder bestehen oder nicht bestehen wird, daß es aber nicht
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De interpretatione 9, 18 b 26–33. Hermann Weidemann in seinen erläuternden und kommentierenden Anmerkungen zu Peri hermeneias, in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 1, Teil II, Berlin 1994, 271. Deutsche Zitate aus De interpretatione im folgenden nach dieser Ausgabe. 44 De interpretatione 9, 19 a 12–22. 45 De interpretatione 9, 19 a 23–27 (Übersetzung H. Weidemann).
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notwendig war, ob er bestehen oder nicht bestehen wird.46 Von dem Faktum des Bestehens oder Nicht-Bestehens an gilt demnach die Unabänderlichkeit des Notwendigen, aber es gibt Sachverhalte, die – obwohl zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Notwendigkeit seiend oder nichtseiend – vor diesem Zeitpunkt eben nicht determiniert notwendig waren. Deshalb gilt für die beiden Bestandteile einer kontradiktorischen Aussage, daß es notwendig ist, daß das Ausgesagte zutrifft oder nicht, und es ist auch notwendig, daß es zutreffen wird oder nicht, aber es ist nicht notwendig, daß ein Teil des kontradiktorischen Aussagenpaares notwendigerweise zutrifft oder zutreffen wird. Aristoteles erläutert das an dem berühmten Seeschlacht-Beispiel: »Ich meine damit, daß es beispielsweise zwar notwendig ist, daß morgen eine Seeschlacht entweder stattfinden oder nicht stattfinden wird, daß es aber nicht notwendig ist, daß morgen eine Seeschlacht stattfindet, und auch nicht notwendig, daß morgen keine Seeschlacht stattfindet. Daß jedoch morgen eine Seeschlacht (entweder) stattfindet oder nicht stattfindet, ist notwendig.«47 Damit hat Aristoteles eingeräumt, daß es zukünftige Sachverhalte gibt, deren Eintreten oder bleibende Unverwirklichtheit nicht notwendig ist, sondern kontingent. Denn keine der beiden Bestandteile einer kontradiktorischen Aussage können vor der Aktualisierung des Möglichen den Wahrheitswert für sich beanspruchen, den das Notwendige für sich reklamiert. Die Notwendigkeit einer Aussage über kontingente zukünftige Sachverhalte beschränkt sich demnach allein auf die bivalente Logik, wonach notwendigerweise eine der kontradiktorisch vorweggenommenen Urteile gelten wird. Damit ist der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff des Aristoteles, wonach die Sätze entsprechend wahr sind, wie es die Dinge sind,48 gleichsam temporalisiert, denn keine der kontradiktorischen Aussagen über ein kontingent-zukünftiges Ereignis ist solange wahr oder falsch, wie das kontingent-zukünftige Ereignis noch zukünftig ist, aber sie werden wahr oder falsch sein, wenn das noch kontingent-zukünftige Ereignis gegenwärtig sein wird. Die modallogische Raffinesse, die der aristotelischen Erfassung des Möglichen unabhängig vom Begriff des Vermögens innewohnt, besteht in der Abgrenzung des Möglichen vom Unmöglichen und der damit verbundenen Vorstellung einer grundsätzlichen Aktualisierungstendenz des wesentlich Möglichen. In den Analytica priora definiert Aristoteles das Mögliche als nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich.49 Es ist also nur das möglich, was auch wirklich werden kann. Allem Anschein nach hat Aristoteles vorausgesetzt, daß alle wesentlichen Mög-
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Vgl. H. Weidemann in: Aristoteles, Peri hermeneias, a. a. O., 224, 281 f. De interpretatione 9, 19 a 29–32 (Übersetzung H. Weidemann). De interpretatione 9, 19 a 32 f. Aristoteles, Analytica priora Α 13, 32 a 18–20.
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lichkeiten im Laufe der Zeit auch realisiert werden. In der Metaphysik heißt es, es könne »offenbar nicht wahr sein, wenn man sagt, das und das sei zwar möglich, aber es werde nicht eintreten, da auf diese Weise die Bedeutung von unmöglich uns ganz entginge«.50 Damit scheint Aristoteles zu einem Vertreter dessen zu werden, was Arthur O. Lovejoy das principle of plenitude51 genannt hat: Die Welt ist auf Dauer gesehen eine ausgeschöpfte Realisierung des möglich Gewesenen. Lovejoy, der dieses Erfüllungsprinzip als ein Kontinuitätsmoment der abendländischen Geschichte beschreibt, hat Aristoteles zwar von der Zustimmung zu diesem Prinzip ausdrücklich ausgenommen.52 Daß aber auch Aristoteles im recht verstandenen Sinn von einer Realisierung des wesentlich Möglichen ausgeht, hat Jaakko Hintikka gezeigt, indem er darauf hinweist, es sei damit eine Realisierung der wesentlichen Möglichkeiten (›genuine‹ possibilities) gemeint, nicht aber die Realisierung von Möglichkeiten, die individuelle Objekte betreffen.53 Ein Mantel kann möglicherweise zerschnitten, dann aber doch aufgetragen werden. Es kommt hier auf die Limitierung des Möglichkeitsbegriffs – nicht als Potenz, sondern als Possibilität – durch die unterstellte Aktualisierungstendenz an. Im Gegensatz zu spätmittelalterlichen Kontingenzentwürfen geht Aristoteles scheinbar nicht davon aus, das es wesentliche Möglichkeiten gibt, die nicht irgendwann realisiert werden. Das Unmögliche ist niemals, das Ewige ist notwendig, und das wesentlich Mögliche wird irgendwann einmal sein. Diese statistical interpretation of modality54 setzt also eine dynamische und sukzessive Verwirklichung des Möglichen als des nur jetzt noch nicht Wirklichen voraus. Damit ergibt sich nach Hintikka immerhin eine für Aristoteles ansonsten nicht übliche Tendenz zu einem Determinismus: Es ist nicht möglich, daß eine echte Möglichkeit unrealisiert bleibt.55
Metaphysica Θ 4, 1047 b 3–6. A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, (11936) Cambridge/London 151982, 52: Mit dem »principle of plenitude« vertritt Lovejoy die These, »that no genuine potentiality of being can remain unfulfilled, that the extent and abundance of the creation must be as great as the possibility of existence and commensurate with the productive capacity of a ›perfect‹ and inexhaustible Source, and that the world is better, the more things it contains.« 52 Ebd., 55. 53 J. Hintikka, »Aristotle on the Realization of Possibilities in Time«, in: ders., Time and Necessity. Studies in Aristotle’s Theory of Modality, Oxford 1973, 93–113, hier 100 f. Vgl. auch R. M. Dancy, »Aristotle and the Priority of Actuality«, in: S. Knuuttila (Hg.), Reforging the Great Chain of Being, Dordrecht/Boston/London 1981, 73–115. 54 Vgl. dazu S. Knuuttila, Modalities in Medieval Philosophy, London/New York 1993, 1–19. 55 J. Hintikka, »Aristotle on the Realization of Possibilities in Time«, in: ders., Time and Necessity, a. a. O., 113: Aristoteles »believed in indeterminism and in the special role of 50 51
§ 6 Zufall und bedingte Notwendigkeit bei Boethius
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Der Befund der aristotelischen Theorie der Möglichkeit ist zwiespältig. Auf der einen Seite verteidigt sie die Wirklichkeit des Nichtnotwendigen und somit das Phänomen des zufällig sich Ereignenden: Es kommt Aristoteles darauf an, zu zeigen, »daß es etwas wie kontingente Sachverhalte gibt, deren Eintreten, aber auch deren Nicht-Eintreten möglich sein muß«.56 Auf der anderen Seite führt ein Primat des Seins zur Entwertung der nicht verwirklichten Möglichkeit. So wichtig also eine Möglichkeit auch ist, sie bleibt im aristotelischen Kontext solange im gewissen Sinne defizitär, bis sie auch verwirklicht worden ist. Das Mögliche und mit ihm das Kontingente als die nichtnotwendige Verwirklichung einer Möglichkeit oder einer Nichtverwirklichung einer nichtnotwendigen Möglichkeit innerhalb des Wirklichen unterliegen dem theoretischen Interesse am Wirklichen. Aristoteles entfaltet die Theorie des Möglichen im Rahmen einer Metaphysik des Seins mit Blick auf das tatsächlich Verwirklichte. Das späte Mittelalter dagegen wird im Rahmen einer Metaphysik der Möglichkeit das Sein als eine nichtnotwendige Verwirklichung einer Möglichkeit und somit als etwas Kontingentes zu denken versuchen.
§ 6 Zufall und bedingte Notwendigkeit bei Boethius Insofern die antike Metaphysik dem Notwendigen vor dem Möglichen einen prinzipiellen Vorrang gewährte, nahm der Zufall in den Systemen des Denkens eher einen marginalen Platz ein. Obschon als Phänomen beachtet und als epistemische Aporie reflektiert, kam dem Zufall – jenseits des antiken Atomismus – dennoch kein zentraler Ort im Ganzen des philosophischen Denkens zu. Boethius dagegen hat die Frage nach dem Zusammenhang von Notwendigkeit, Determination, Zufall und Freiheit in seiner Schrift De consolatione philosophiae zum zentralen Gegenstand gemacht. Bereits der Anlaß für diese Schrift über den Trost der Philosophie war kontingent: Boethius hatte dem ostgotischen König Theoderich über fast eineinhalb Jahrzehnte in höchsten Ämtern gedient, fiel aber 524 in Ungnade, verlor seine Stellung, wurde inhaftiert und noch im gleichen Jahr hingerichtet.57 Während seiner Inhaftierungszeit geschrieben, geht De consola-
modal notions. Yet in his very own conceptual apparatus there were factors that tended to push him towards determinism and towards an extensional (tense-logical) reduction of modal notions to non-modal ones.« 56 D. Frede, Aristoteles und die ›Seeschlacht‹, a. a. O., 53. 57 Joachim Gruber hat in seinem Kommentar zu Boethius De consolatione philosophiae (Berlin/New York 1978, 43), darauf hingewiesen, daß sich Boethius’ Trostschrift – trotz aller konventionellen Topik – von der traditionellen Konsolationsliteratur dadurch abhebt, daß in ihr »der durchgehende Bezug auf das eigene, persönliche Schicksal« unverkennbar ist
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II. Antike Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
tione philosophiae der Frage nach, wie ein so schicksalhafter Sturz philosophisch zu erklären und zu bewältigen ist. Boethius’ Stellung zwischen später Antike und frühem Mittelalter und sein Schöpfen aus platonischen, aristotelischen, neuplatonischen und stoischen Quellen bei gleichzeitiger Hinwendung zur christlichen Kultur weisen seinen Überlegungen zur Kontingenz eine exponierte Stellung für die Tradition zu. Seine Aristoteles-Kommentare – er übersetzte unter anderem Peri hermeneias ins Lateinische und fertigte zwei Kommentare dazu an – ließen ihn mit dem systematischen Problem des Zufälligen und insbesondere mit der Erkennbarkeit der futura contingentia vertraut sein. Das fünfte Buch seiner Trostschrift setzt mit der Frage ein, ob es überhaupt irgend etwas gibt, was wir Zufall nennen können.58 Ist vielleicht der Zufall nur ein leeres Wort? Er ist es dann, so die ›Philosophia‹, die als allegorische Person das Gespräch führt, wenn er als ein Ereignis definiert wird, das durch eine willkürliche Bewegung und nicht durch ein Zusammenwirken von Ursachen hervorgebracht wird, so daß es überhaupt keinen Zufall gibt und er überhaupt keine zugrunde liegende Sache bezeichnet.59 Der Zufall wird nach dieser zur Diskussion gestellten Definition auf reine Willkür reduziert, die sich im Rahmen der Kausalitätsannahmen nicht erklären läßt. Um das Phänomen zu retten und den Zufall nicht allein als eine façon de parler erscheinen zu lassen, bestimmt Boethius das Zufällige mit Blick auf Aristoteles als ein Zusammentreffen unerwarteter Ursachen. Der Bauer, der sein Feld pflügt und dabei unerwartet einen dort versteckten Schatz findet, entdeckt diesen zufällig, aber nicht grundlos.60 Zufall ist daher das unerwartete Ergebnis eines Zusammentreffens von Ursachen angesichts dessen, was zu irgendeinem Zweck unternommen wurde.61 Damit ist das Phänomen des Zufälligen nur scheinbar gerettet und schon gar nicht erklärt. Ist das zufällige Ereignis ein Ergebnis einer ontologischen Indeterminiertheit der Kausalfaktoren? Ereignet sich also tatsächlich Zufälliges in der Wirklichkeit? Oder ist das, was als Zufall erscheint, Ergebnis der epistemologischen Schwäche, den Grund für das Unerwartete einsehen zu können? Ist vielleicht das scheinbar Zufällige Resultat einer ordnenden Vorsehung und somit
und noch den Umgang mit der Tradition bestimmt: »Jedes Traditionselement bekommt damit Gewicht und einen besonderen Aspekt.« 58 Boethius, De consolatione philosophiae V, pr. 1, n. 312 (PL 63, 829 f.): »Quaero enim an esse aliquid omnino, et quidnam esse casum arbitrere.« 59 De consolatione philosophiae V, pr. 1., n. 313 (PL 63, 830 f.): »Si quidem, inquit, aliquis eventum temerario motu, nullaque causarum connexione productum, casum esse definiat, nihil omnino casum esse confirmo, et praeter subjectae rei significationem inanem prorsus vocem esse decerno.« 60 Aristoteles, Ethica Nicomachea Γ 5, 1112 a 27. 61 De consolatione philosophiae V, pr. 1, n. 314 (PL 63, 831 f.): »Licet igitur definire casum esse inopinatum, ex confluentibus causis, in his, quae ob aliquid geruntur, eventum.«
§ 6 Zufall und bedingte Notwendigkeit bei Boethius
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Teil einer Kette des Schicksals (fatalis catena)? Und wie verhält sich das Zufällige zur anzunehmenden Allwissenheit Gottes und seiner Vorsehung (providentia)? Das ist die entscheidende Frage der Consolatio, der Boethius mit einem Selbstbewußtsein nachgeht, in dieser alten Streitfrage eine neue Lösung vorlegen zu können.62 Zunächst spielt Boethius zwei Möglichkeiten durch, die er beide für aporetisch hält: (1) Wenn Gott alles irrtumsfrei voraussieht, muß mit Notwendigkeit eintreffen, was die Vorsehung als zukünftig vorausgesehen hat.63 (2) Etwas geschieht nicht deshalb, weil es die Vorsehung als zukünftig vorausgesehen hat, sondern im Gegenteil: Weil etwas geschehen wird, kann es der göttlichen Vorsehung nicht verborgen bleiben.64 Wenn das Eintreffen des Künftigen mit Notwendigkeit der Vorsehung (providentia) folgt, ist alles durch sie determiniert, und es gibt keinen freien Willen. Und wenn die Vorsehung erkennt, was notwendig geschehen wird, ist alles Künftige determiniert, auch wenn es nicht der Vorsehung, sondern diese dem Künftigen folgt. Es ist dann nicht notwendig, daß das geschieht, was vorausgesehen wurde, sondern es ist notwendig, daß das, was zukünftig geschehen wird, vorausgesehen wird. In beiden Fällen ist jede Wahlfreiheit angesichts des Zukünftigen destruiert. Das Moment der determinierenden Notwendigkeit wird in beiden Modellen nur verschieden zugewiesen. Das Ergebnis wäre desaströs: Die menschliche Freiheit, der Sinn der Tugend und das Verhältnis zu Gott wären zerstört. Die Vernunft (ratio) als das Konstitutionsmoment der Person wäre infrage gestellt, da die »Entscheidungsfreiheit ein Implikat der ratio«65 bei Boethius darstellt. Um dieser verfahrenen Situation zu entkommen, greift Boethius zu zwei Setzungen: (1) Es gibt gewisse kommende Ereignisse, die von aller Notwendigkeit frei sind.66 62 63
De consolatione philosophiae V, pr. 4, n. 334 (PL 63, 346 f.). De consolatione philosophiae V, pr. 3, n. 324 (PL 63, 839): »Nam si cuncta prospicit Deus, neque falli ullo modo potest, evenire necesse est quod Providentia futurum esse praeviderit.« 64 De consolatione philosophiae V, pr. 3, n. 325 (PL 63, 839): »Aiunt enim, non esse ideo quid eventurum, quoniam id Providentia futurum esse prospexerit, sed e contrario potius, quoniam quid futurum est, id divinam Providentiam latere non posse …« 65 C. Schlapkohl, Persona est naturae rationabilis individua substantia. Boethius und die Debatte über den Personbegriff, Marburg 1999, 62. 66 De consolatione philosophiae V, pr. 4, n. 335 (PL 63, 848): »Quare sunt quaedam eventura, quorum exitus ab omni necessitate sit absolutus.«
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II. Antike Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
(2) Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß alle Dinge, die man weiß, gemäß ihrer spezifischen Fähigkeit und Natur erkannt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Alles, was erkannt wird, wird nicht gemäß seiner eigenen Fähigkeit erkannt, sondern gemäß der Möglichkeit des Erkennenden.67 Das erste Postulat, daß es nicht-determinierte Ereignisse gibt, schützt den Handlungsspielraum durch die Freiheit des Geschehens. Das zweite Postulat unternimmt eine erkenntnistheoretische Wende, die den Akt des Erkennens nicht vom Erkenntnisobjekt, sondern vom Erkenntnissubjekt bestimmt sein läßt. Damit hat Boethius die Möglichkeit gewonnen, grundsätzlich zwischen der göttlichen und der menschlichen Erkenntnis unterscheiden zu können. Analog zur Ausdifferenzierung der menschlichen Erkenntnis etwa in das sensitive und das intellektuelle Vermögen ist die göttliche von der menschlichen Erkenntnisweise abzuheben. Dabei überbietet die Potenz der göttlichen Erkenntnisweise die menschliche etwa so, wie die Vernunft des Menschen die ihm eigene Sinnlichkeit überbietet. Um diese epistemologische Differenz zu verdeutlichen, erläutert Boethius die alternative Zeitbezogenheit der göttlichen und der menschlichen Erkenntnis. Zur Bestimmung der göttlichen Natur und der göttlichen Erkenntnis definiert er die Ewigkeit, die Gott eigen ist, als den »vollständigen und vollendeten Besitz unbegrenzbaren Lebens«.68 Gott ist ewig, da er die Fülle des unbegrenzbaren Lebens gleichzeitig umfaßt und besitzt, ihm mangelt es weder am Zukünftigen noch am Vergangenen, und er muß notwendigerweise, seiner selbst mächtig, als eine Gegenwart in sich ruhen und die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben.69 Seine Gegenwart transzendiert die Modi der bewegten Zeit. Gott ist reine Gegenwärtigkeit. Sein Erkennen unterliegt daher nicht den Bedingungen menschlicher Temporalität. Die eingeführte epistemologische Differenz ermöglicht eine doppelte Perspektive auf Ereignisse, die uns zukünftig und Gott bereits präsent sind. Für die göttliche Erkenntnis ist ein zukünftiges Ereignis notwendig, der eigenen Na-
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De consolatione philosophiae V, pr. 4, n. 336 (PL 63, 848 f.): »Cujus erroris causa est, quod omnia quae quisque novit, ex ipsorum tantum vi atque natura cognosci existimat quae sciuntur, quod totum contra est. Omne enim quod cognoscitur, non secundum sui vim, sed secundum cognoscentium potius comprehenditur facultatem.« 68 De consolatione philosophiae V, pr. 6, n. 348 (PL 63, 858): »Aeternitas igitur est, interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio.« 69 De consolatione philosophiae V, pr. 6, n. 349 (PL 63, 859): »Quod igitur interminabilis vitae plenitudinem totam pariter comprehendit, ac possidet, cui neque futuri quidquam absit, nec praeteriti fluxerit, id aeternum esse jure perhibetur: idque necesse est, et sui compos praesens sibi semper assistere, et infinitatem mobilis temporis habere praesentem.«
§ 6 Zufall und bedingte Notwendigkeit bei Boethius
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tur nach ist es völlig frei und unabhängig.70 Das göttliche Vorherwissen determiniert somit nicht das Eintreten des noch Zukünftigen. Obwohl es eintreten wird, tritt es aus freien Stücken ein. Gott erblickt das Zukünftige, das aus der Freiheit des Willens hervorgeht, als ein Gegenwärtiges.71 Das derart bestimmte Verhältnis von göttlicher Vorsehung und menschlicher Willensfreiheit ist prekär. Einerseits wird kritisiert, wie praedestinatio und arbitrii libertas im Kausalzusammenhang miteinander vereinbar seien, bliebe ungelöst.72 Andererseits wird verteidigt, Boethius habe die Abhängigkeitsrelation zwischen der ontologischen und der epistemologischen Ebene erfolgreich aufgekündigt und die Unterscheidung einer ontologisch absoluten Notwendigkeit (necessitas simplex) und einer epistemologisch bedingten Notwendigkeit (necessitas conditionis) eingeführt. Während eine ontologisch absolute Notwendigkeit – wie etwa die unveränderliche Sterblichkeit des Menschen – schlechthin notwenig sei, bestehe eine epistemologisch bedingte Notwendigkeit nur für Sachverhalte, die von der göttlichen Vorsehung notwendig gemacht werden: Ein Sachverhalt – ›Sokrates geht‹ – hat genau dann, wenn er von Gott gewußt wird, die Eigenschaft bedingter Notwendigkeit, er ist aber nicht von Natur aus unbedingt notwendig – wenn Gott weiß, daß Sokrates jetzt geht, ist es notwendig, daß Sokrates geht, aber es ist nicht an sich notwendig, daß Sokrates jetzt geht. Boethius habe daher die These der göttlichen Vorsehung aufrecht erhalten und den Determinismus zurückgewiesen.73 Eindeutig dagegen ist die Anstrengung, die Kontingenz als Zufall zu eliminieren. Zur Wahrung der Willensfreiheit bedarf es in einer von der göttlichen Vorsehung geordneten Welt der Möglichkeit künftiger Ereignisse, die keiner Not70
De consolatione philosophiae V, pr. 6, n. 351(PL 63, 861): »Respondebo namque idem futurum, cum ad divinam notionem refertur, necessarium: cum vero in sua natura perpenditur, liberum prorsus atque absolutum videri.« 71 De consolatione philosophiae V, pr. 6, n. 351 (PL 63, 861): »Atqui Deus ea futura, quae ex arbitrii libertate proveniunt, praesentia contuetur.« 72 J. Gruber, Kommentar zu Boethius De consolatione philosophiae, a. a. O., 378. 73 So die Argumentation von Dominik Perler, Prädestination, Zeit und Kontingenz. Philosophisch-historische Untersuchungen zu Wilhelm von Ockhams Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurum contingentium, Amsterdam 1988, 123–126. Schon Peter Huber hat in seiner Untersuchung Die Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit in der Consolatio Philosophiae des Boethius (Zürich 1976, 57) in Boethius’ Versuch, von der naturhaften und unveränderlichen Notwendigkeit eine bedingte Notwendigkeit abzusetzen, die systematische Pointe gesehen: »Insofern die bedingte Notwendigkeit Notwendigkeit ist, ermöglicht sie überhaupt erst Erkennen und Wissen des Möglichen. Denn Wissen erfordert die Notwendigkeit der Übereinstimmung von Wissen und Gewusstem. Ein Wissen vom freien Tun ist also möglich. Insofern die bedingte Notwendigkeit aber bedingt ist, macht sie das Erkannte nicht innerlich notwendig, sondern lässt es in der Möglichkeit und Freiheit bestehen, die ihm von seiner Natur her zukommen. Es ist also ein freies Tun
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II. Antike Voraussetzungen des mittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
wendigkeit unterliegen. Zugleich ist dieser Spielraum des Nichtnotwendigen ganz und gar dem Willensentscheid überantwortet und nicht dem Zufall überlassen. Was als scheinbarer Zufall des unerklärlichen Schicksalsschlages begann, hat sich unter den Reflexionen der Vorsehung und der Willensfreiheit humaner Rationalität zu einer zustimmungsfähigen Kontingenz im Sinne einer bedingten Notwendigkeit gewandelt. Ein Fall spätantiker Kontingenzbewältigung.
möglich, das mit bedingter Notwendigkeit erkannt wird.« Vgl. auch H. Chadwick, Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy, Oxford 1981, 245: »We see how for Boethius necessity is being contrasted both with voluntary action and with the contingent event which happens but does not have to happen. Our wills are in the order of causes kown to God.«
III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
§ 7 Voluntarismus und Kontingenz Blickt man auf die antike Vorgeschichte des mittelalterlichen Kontingenzbegriffs zurück, ist nicht zu übersehen, daß das Phänomen der Kontingenz – etwa als ein zufälliges Ereignis – zwar reflektiert, aber doch zugleich auch marginalisiert worden ist. Außer im epikureischen Atomismus vermochte der Gedanke der Kontingenz keine theoretische Schlüsselstellung in der Systematik des antiken Denkens einzunehmen.1 Wo er es tat, eben im Rahmen der atomistischen Kosmologie, wurde die implizierte Zufälligkeit des atomaren Geschehens als anstößige Aporie wahrgenommen, und das bis weit in die Neuzeit hinein. Die entscheidende Aufwertung seines systematischen Stellenwertes, seine definitorische Fixierung und die Erweiterung seiner Tragweite konnte der Begriff der Kontingenz erst innerhalb der spätmittelalterlichen Auseinandersetzung um die Verhältnisbestimmung von Intellektualismus und Voluntarismus erfahren. Erst unter schöpfungstheologischen Voraussetzungen vermochte ein betonter Voluntarismus dem nicht terminologisch, aber systematisch in der Antike vorbereiteten Begriff der contingentia seine universale Tragweite zu verleihen. Entscheidend war dafür eine Neubewertung des Verhältnisses der ordinierten und der absoluten Macht Gottes.2 Erst dem entfalteten Konzept einer potentia dei absoluta war der Gedanke einer universalen Kontingenz alles Seienden zu entnehmen. Die Konfrontation der arabischen Philosophie des Mittelalters mit der aristotelischen Lehre von der Ewigkeit der Welt löste eine symptomatische und 1
Dieses Urteil ist durch die dargestellten und exemplarisch behandelten Positionen antiken Denkens nicht zureichend gesichert. Es wäre allein schon zu untersuchen, welche Rolle die Kontingenz in der Gestalt des zufälligen Schicksals innerhalb der griechischen Dichtung, etwa in der Tragödie und der Komödie, spielt. Eine begriffsgeschichtliche Skizze der antiken Vorgeschichte des mittelalterlichen Kontingenzbegriffs darf sich aber auf jene Traditionen beschränken, denen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine wirksame Präsenz unterstellt werden kann. 2 Zur Unterscheidung der potentia dei ordinata und der potentia dei absoluta und der spätmittelalterlichen Betonung der göttlichen Allmacht vgl. W. J. Courtenay, Capacity and Volition. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990; einen prägnanten Überblick bietet auch F. Oakley, Omnipotence and Promise: The Legacy of the Scholastic Distinction of Powers (Pontifical Instititute of Mediaeval Studies: The Etienne Gilson Series 23), Toronto 2002.
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
lebhaft geführte Diskussion um die Möglichkeiten des göttlichen Willens aus, denn erst die Kritik an der Ewigkeit der Welt ließ ihre Erschaffung zu etwas möglicherweise Kontingentem werden.3 Durch sie ist die Tragweite des Kontingenzproblems auch für das lateinische Mittelalter neu bestimmt worden, denn »das antike Kontingenzproblem betraf nur die Welt des Werdens und Vergehens; die neue und radikalere Frage entsteht dadurch, daß die Prinzipien, die das antike Problem lösen sollten (Hylemorphismus), nun selbst unter dem Maßstab des Schöpfungsbegriffes kontingent werden«.4 Die unbedingte Freiheit des göttlichen Willens macht alles Geschaffene zu etwas Kontingentem, wenn und insofern gilt, daß dieser Wille nicht determiniert und limitiert ist. Der oftmals in diesem Zusammenhang zitierten und als wegweisend betrachteten 53. These des Pariser Verurteilungsdekrets des Bischofs Stephan Tempier aus dem Jahr 1277 kommt sicherlich eine indikatorische Schlüsselstellung zu. In ihr wird die Auffassung verurteilt, daß alles, was unmittelbar von Gott bewirkt wird, von ihm mit Notwendigkeit getan werden müsse. Diese These wird zurückgewiesen, da sie die Freiheit Gottes zerstöre und seine Ohnmacht, anders zu handeln, behaupte.5 Eine derartige Verurteilung setzt schon eine gewachsene Plausibilität einer Neubestimmung des Verhältnisses von göttlichem Intellekt und seinem Willen voraus. Die platonisch-neuplatonische Tradition hatte der Bonität Gottes die Tendenz zur Aktualisierung der im göttlichen Intellekt vorhandenen Ideen attestiert. Nicht weil er will, schafft Gott etwas, sondern weil er gut ist, will Gott, was er macht – so bringt Hieronymus unter christlichen Vorzeichen den platonischen Gedanken der Motivation des göttlichen Handelns auf eine Formel.6 Doch schon bei Thomas von Aquin, also noch vor der Pariser Verurteilung von 1277, setzt sich eine neue Unbestimmtheit des göttlichen Willens als Bedingung seiner Freiheit durch. Gottes Bonität zeichnet sich für Thomas dadurch aus, daß ihre Vollkommenheit eine ontologische Autonomie impliziert. Gottes Perfektion ist
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Vgl. E. Behler, Die Ewigkeit der Welt. Problemgeschichtliche Untersuchungen zu den Kontroversen um Weltanfang und Weltunendlichkeit im Mittelalter, erster Teil: Die Problemstellung in der arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters, München/Paderborn/Wien 1965. 4 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Seinsbegriffs im Mittelalter, Berlin/New York 1986, 384. 5 Ich zitiere die Thesen nach dem Abdruck des Verurteilungsdokuments in: Chartularium Universitatis Parisiensis, hg. von H. Denifle, Bd. I, Paris 1889, 543–558 (im folgenden zitiert als ›ed. H. Denifle‹). These 53 (ed. H. Denifle, 546): »Quod Deum necesse est facere, quicquid inmediate fit ab ipso. – Error, sive intelligatur de necessitate coactionis, quia tollit libertatem, sive de necessitate inmutabilitatis, quia ponit impotentiam aliter faciendi.« 6 Die Formel des Hieronymus: non enim quod vult hoc facit, sed quod bonum est, hoc vult Deus findet sich zitiert bei Petrus Abaelard, Introductio ad Theologiam in libros tres divisa III, 5 (PL 178, 1095).
§ 7 Voluntarismus und Kontingenz
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nicht steigerbar und bedarf keines Gegenübers, sondern ist sich allein genug: »Da nun das Gutsein Gottes ohne anderes sein kann, ja ihm sogar dadurch überhaupt kein Zuwachs entsteht, wohnt ihm deswegen weil er sein Gutsein will, keine Notwendigkeit inne, anderes zu wollen.«7 Damit ist nicht weniger als der Zwang zur schöpferischen Selbstmitteilung unterlaufen. Gott muß nicht, weil er gut ist, das, was er nicht ist, wollen. Wenn er es dennoch will – wofür die Faktizität des Geschaffenen spricht –, dann weil er es ohne Notwendigkeit aus freien Stücken will. Denn er will auch das, was jetzt ist, nicht notwendig.8 Zwar will Gott das andere, weil er gut ist, aber er will das andere nicht aus absoluter, sondern aus bedingter Notwendigkeit.9 Es läßt sich also durchaus für Gottes Willen ein Grund angeben – seine Bonität –, aber daraus folgt nicht, daß etwas Ursache für seinen Willen ist.10 In einer an Behutsamkeit nicht zu überbietenden Formel resümiert Thomas das Verhältnis von freiem Willen und Intellekt, der dem Willen die Bonität des zu Wollenden vorhält: »Der Wille Gottes neigt sich gleichsam dem, auf das er durch seine Natur nicht determiniert ist, durch seinen Intellekt zu …«11 Damit ist für den göttlichen Willen gegenüber dem göttlichen Intellekt – trotz aller Neigung – eine mögliche Unbestimmtheit gewahrt, deren Ergebnis das Vermögen der Spontaneität ist. Der Wille ist nicht festgelegt, sondern kann frei wollen. Für schöpfungstheologische Szenarien ist die Ungebundenheit des Willens durchaus prekär: Erst vor diesem Hintergrund gewinnen Fragen wie die, ob Gott das Böse wollen kann, an Plausibilität und systematischer Tiefenschärfe.12 Doch allein schon die Unbestimmtheit des Willens ist ein Problem. Wie verträgt sie sich mit der Bonität Gottes? Duns Scotus stellt eigens heraus, daß die Unbestimmtheit des Willens in Gott keine Unvollkommenheit hineinträgt. Zwar
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Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I, cap. 81 (ed. Leonina XIII, 225): »Cum igitur divina bonitas sine aliis esse possit, quinimmo nec per alia ei aliquid accrescat; nulla inest ei necessitas ut alia velit ex hoc quod vult suam bonitatem.« 8 Ebd. (ed. Leonina XIII, 225): »Non igitur ex necessitate vult etiam ea quae nunc sunt.« 9 Summa contra gentiles I, cap. 83 (ed. Leonina XIII, 231): »Ex his autem haberi potest quod, licet Deus circa causata nihil necessario velit absolute, vult tamen aliquid necessario ex suppositione.« 10 Summa contra gentiles I, cap. 87 (ed. Leonina XIII, 238): »Quamvis autem aliqua ratio divinae voluntatis assignari possit, non tamen sequitur quod voluntatis eius sit aliquid causa.« 11 Summa contra gentiles I, cap. 88 (ed. Leonina XIII, 239): »Voluntas divina in his ad quae secundum suam naturam non determinatur, inclinatur quodammodo per suum intellectum …« 12 Vgl. etwa Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 47, qu. 1 (Opera theologica IV, 680–685).
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
bedeute es eine Unvollkommenheit, eine Freiheit zu gegensätzlichen Akten anzunehmen, da sie eine Veränderlichkeit impliziere, die Freiheit zu gegensätzlichen Objekten dagegen bedeute keine Unvollkommenheit, so wie es für den Intellekt eine Vollkommenheit bedeute, gegensätzliche Objekte erkennen zu können.13 Die Unbestimmtheit des Willens ist die Bedingung seiner Freiheit. Auf die Frage, warum der Wille etwas will, kann es nur die Antwort geben, daß der Wille eben Wille ist.14 Damit ist im lateinischen Mittelalter erreicht, was arabische und jüdische Philosophen schon vorgedacht hatten. »Das wahre Wesen und die Realität des Willens hat die Bedeutung, daß er will oder nicht will.«15 So beschreibt schon Moses Maimonides in seiner Schrift Dalatat al-Ha’irin, dem Führer der Unschlüssigen, die Souveränität des Willens. Für Maimonides ist die Ewigkeit der Welt nicht notwendig, und Gottes Wille kann einmal tätig und einmal untätig sein. Der absolute Wille, der »in keiner Hinsicht um eines anderen Dinges willen ist, ändert sich absolut nicht«, und die Tatsache, daß er »jetzt etwas will und morgen etwas anderes will, ist keine Veränderung in seinem Wesen«.16 Damit war frühzeitig der Verdacht entkräftet, die unbestimmte Willensfreiheit bedeute eine Imperfektion für die Bonität Gottes. Es ist die neue Autonomie des Willens, auch gegenüber dem Intellekt, die die Radikalisierung des Kontingenzbegriffs gegenüber den antiken Vorläufern einleiten sollte. Bereits Anselm von Canterbury hatte gefordert, im Gegensatz zum Sein Gottes müsse alles übrige Seiende als nichtseiend denkbar sein.17 Bonaventura unterstrich, daß Gott als Schöpfer vieles, aber nicht alles geschaffen habe: multa, non omnia.18 Da nun der Wille Gottes die erste Ursache von allem
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Johannes Duns Scotus, Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 46 (ed. Vaticana XVII, 493 f.): »Nunc autem in ista totali libertate voluntatis aliquid est imperfectionis et aliquid est perfectionis: quia quod habeat libertatem ad actus oppositos, hoc est imperfectionis, quia secundum hoc necessario est receptiva, et mutabilis per consequens …; libertas autem ad obiecta opposita est perfectionis, quia quod voluntas possit operari circa obiecta opposita, non est imperfectionis sed perfectionis, sicut quod intellectus possit intelligere obiecta opposita est perfectionis …« 14 Johannes Duns Scotus, Ordinatio I, dist. 8, pars 2, qu. 1, n. 299 (ed. Vaticana IV, 325): »… et ideo huius ›quare voluntas voluit‹ nulla est causa nisi quia voluntas est voluntas …« 15 Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Übersetzung und Kommentar von A. Weiß, mit einer Einleitung von J. Maier, 2 Bde., Hamburg 1972 (Nachdruck der Ausgabe von 1923/1924); das vorliegende Zitat: Führer der Unschlüssigen III, Kapitel 18 (Bd. II, 122). 16 Ebd. 17 Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 3 (Opera omnia I, 103): »Et quidem quidquid est aliud praeter te solum, potest cogitari non esse.« 18 Bonaventura, Liber II. Sententiarum, dist. I, pars 2, art. 1, qu. 1: (Opera theologica selecta II, 32): »Propter ergo immensitatem infinita potest, sed propter immensitatis manifestationem multa de suis thesauris profert, non omnia …«
§ 7 Voluntarismus und Kontingenz
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ist – voluntas divina est prima causa omnium19 –, ist es für das Verständnis des Seienden entscheidend, daß er es nicht notwendigerweise wollte. Er hat nicht nur nicht alles, was er gewollt haben konnte, gewollt, sondern er hätte auch das, was er gewollt hat, nicht gewollt haben können. Gottes Wille, wie es Duns Scotus formuliert, steht es also aufgrund seiner Unbestimmtheit nicht nur frei, anderes, das er nicht gemacht hat, zu machen, sondern sogar das Gegenteil dessen zu machen, was er gemacht hat.20 Daher ist alles, was er geschaffen hat, nicht mehr ein notwendiges Resultat dessen, was der Wille gemäß den bindenden Vorgaben des Intellekts gewollt hat. Es wird vielmehr – auch wenn keine Spaltung von Intellekt und Wille Gottes unterstellt wird – als kontingent begreifbar, da es zwar nicht zufällig, aber auch nicht notwendig ist. Es könnte auch nicht oder anders sein. Wirklichkeit ist nicht länger die vollstreckte Konsequenz ihrer Möglichkeit. Die Bedeutsamkeit des spätmittelalterlichen Primats des Willens über den Intellekt ließe sich auch als Spiegelung zur Gotteslehre an den wegweisenden Verschiebungen innerhalb der Anthropologie aufzeigen. Die Genese des modernen Subjektbegriffs aus den Bedingungen des Spätmittelalters heraus setzt eine Betonung des freien Willens auch des Menschen geradezu zwingend voraus.21 Erst die Loslösung des Personenbegriffs aus dem Bereich der Naturdinge hat dem ens naturae ein ens morale oder eine res voluntaria bzw. ein esse voluntarium gegenübertreten lassen. Diese Differenz der willentlichen Freiheit gegenüber der Bestimmung des Menschen durch seine Naturhaftigkeit hat einen Subjektbegriff im modernen Sinn überhaupt erst ermöglicht.22 Es wäre also voreilig zu meinen, eine Betonung des göttlichen Willens im Rahmen einer Neubestimmung des Verhältnisses von göttlichem Voluntarismus und Intellektualismus müsse oder könne sich nur auf Kosten des menschlichen Selbstverständnisses vollziehen. Nicht allein der göttliche, auch der menschliche Wille ist eine Quelle der Kontingenz, da sich die Freiheit seiner Entscheidung als ein Potential seiner Subjektivität erweist. 19
Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 10, qu. 2 (Opera theologica III, 339). 20 Johannes Duns Scotus, Reportatio I A, dist. 43, qu. 2, n. 3 (ed. J. Söder, 267): »Et sic dico quod potest facere non tantum alia quae non fecit, immo opposita eorum quae fecit …« 21 Vgl. G. Mensching, »Der Primat des Willens über den Intellekt: Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter«, in: R. L. Fetz/R. Hagenbüchle/P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 2 Bde., Berlin/New York 1998, Bd. I, 487–507. 22 Vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997, 37 ff. »Das vom Naturding unterschiedene ens morale ist somit zuerst dadurch charakterisiert, daß es auf den Willen als Ursache zurückführbar ist.« (37)
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
§ 8 Die Notwendigkeit des Wesens und die Kontingenz des Seins bei Thomas von Aquin Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der Wille Gottes bei Thomas von Aquin – trotz des beim Aquinaten vorherrschenden Primats des Intellekts – unbestimmt und somit frei ist. Gott genügt sich selbst, so daß er das andere nicht wollen muß, sondern es aus freien Stücken wollen kann. Um diesen Aspekt noch zu konturieren, soll er anhand der Unterscheidung von esse und essentia bei Thomas weiter entfaltet werden. An dieser Distinktion läßt sich zum einen exemplarisch ablesen, daß Thomas nicht allein vom Aristotelismus abhängt, sondern viel mehr als oftmals wahrgenommen vom Neuplatonismus inspiriert ist. Zum anderen verdeutlicht dieses Lehrstück einer Unterscheidung von Sein und Wesen, daß Thomas zwar in loyaler Weise die Terminologie der aristotelischen Ontologie wahrt, zugleich aber eine »leise Revolution innerhalb dieser Metaphysik«23 vollzieht. Die Distinktion von esse und essentia war vorbereitet durch die aristotelische Unterscheidung der Frage nach dem ob und dem was etwas ist,24 eine Unterscheidung, die seit Boethius latinisiert als terminologische Differenz von esse und quod est vorlag.25 In De ente et essentia schreibt Thomas – mit Ausnahme des subsistierenden Seins – jedem Seienden eine notwendige Unterscheidung seines Seins (esse) und seiner Washeit (quidditas) zu.26 Diese quidditas, die Thomas an
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R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, a. a. O., 296. Eine ausführlichere Studie zum Kontingenzbegriff bei Thomas hätte nicht zuletzt von seinem Kommentar zu De interpretatione auszugehen. Ich beschränke mich in meiner zu keiner Vollständigkeit verpflichteten problemgeschichtliche Skizze der Genese des Kontingenzbegriffs auf die Distinktion von esse und essentia, da sie die Gelegenheit bietet, anhand des Aquinaten auf das Gewicht der arabischen Tradition für die Entstehung des Kontingenzbegriffs zumindest hinzuweisen. 24 Aristoteles, Analytica posteriora Β 1, 89 b 24 f. Einen knappen Überblick zum Ursprung der Distinktion von esse und essentia bei Aristoteles und deren Entfaltung im Mittelalter bietet J. F. Wippel, »Essence and existence«, in: N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 385–410. 25 Boethius, Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint cum non sint substantialia bona II (zitiert nach dem Abdruck in: A. M. S. Boethius, Die Theologischen Traktate, lat./dt., übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von M. Elsässer, Hamburg 1988, 36): »Diversum est esse et id quod est …«; das Sein (esse) selbst, so fährt Boethius fort, ist noch nicht, wohingegen das, was ist (quod est), weil es die forma zu sein empfangen hat, ist und besteht: »… ipsum enim esse nondum est, at vero quod est accepta essendi forma est atque consistit.« 26 Thomas von Aquin, De ente et essentia, cap. 4 (ed. Leonina XLIII, 377): »Vnde relinquitur quod talis res que sit suum esse non potest esse nisi una; unde oportet quod in qualibet alia re preter eam aliud sit esse suum et aliud quiditas uel natura seu forma sua …«
§ 8 Die Kontingenz des Seins bei Thomas von Aquin
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gleicher Stelle auch als Natur (natura) oder Form (forma) bezeichnet, setzt er mit der essentia gleich. Thomas spricht in einem Atemzug von essentia oder quidditas. Die Essenz eines Seienden macht dieses Seiende erst zu diesem konkreten Seienden in seiner spezifischen Washeit. Wie verhält sich nun das Sein des Seienden zur spezifizierenden essentia? Grundlegend für das Verständnis von esse ist seine Interpretation als ein Akt. Es ist eine wirkende, eine verwirklichende Aktion, die das Mögliche aktualisiert, und kein Zustand.27 Gott ist daher seiner Substanz nach Sein und Handlung zugleich.28 Mit Nachdruck bezeichnet Thomas das Sein als den Akt aller Akte und als die Vollkommenheit aller Vollkommenheiten.29 Dadurch konturiert sich die Differenz zur essentia: Das Wesen ist kein Akt – actus non est essentialis.30 Das Sein als Akt kommt der Essenz also nicht aus sich selbst heraus zu. Aristoteles hatte die οσíα, also die forma, als die erste Ursache des Seins definiert.31 Ebendies unterläuft die Distinktion von esse und essentia: die forma wird geradezu depotenziert.32 Sie ist als Teilmoment der essentia nicht mehr für die Aktualisierung des Seienden verantwortlich. Auf die daraus zu ziehende Konsequenz kommt es im Zusammenhang einer Begriffsgeschichte der contingentia an: Das Sein eines Seienden entspringt nicht mehr der notwendigen Verwirklichungstendenz der Ideen oder Formen, sondern kommt zu diesen hinzu. Damit wird der modale Status des Seins des Seienden fraglich oder doch zumindest deutbar. Die Essenz wird zu einer Potenz, die durch das Sein erst noch zu verwirklichen ist. Das Sein eines Seienden scheint nicht notwendig aus der essentia zu resultieren: »Was ein Ding ist, schließt nicht sein Sein ein. Die Dinge sind kontingent, sie haben das Sein nicht aus sich.«33
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Vgl. E. Gilson, Le Thomisme. Introduction à la Philosophie de Saint Thomas d’Aquin, Paris 71997, 175: »… comme tout verbe, le verbe esse désigne un acte et non pas un état.« Vgl. Summa contra gentiles I, cap. 22 (ed. Leonina XIII, 68): »Esse actum quendam nominat … « 28 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 54, art. 1 (ed. Leonina V, 39): »Solus autem Deus est actus purus. Unde in solo Deo sua substantia est suum esse et suum agere.« 29 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De potentia, qu.7, art. 2, ad 9 (ed. R. Busa III, 241): »unde patet quod hoc quod dico esse est actualitas omnium actuum, et propter hoc est perfectio omnium perfectionum.« 30 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De anima, qu. 12, ad 11 (ed. Leonina XXIV–1, 111). 31 Aristoteles, Metaphysica Ζ 17, 1041 b 27 f. 32 Vgl. dazu R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, a. a. O., 276–289. 33 J. A. Aertsen, »Thomas von Aquin. Alle Menschen verlangen von Natur nach Wissen«, in: Th. Kobusch (Hg.), Philosophen des Mittelalters. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 186–201, hier 194.
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Wie strikt Thomas die Trennung von esse und essentia vollzieht, läßt sich an der Bemerkung ablesen, jedes Wesen oder jede Washeit könne gedacht werden, ohne daß man etwas über deren bzw. dessen Sein wisse. So könne man wissen, was ein Mensch oder ein Phönix ist, auch wenn man nicht wisse, ob ein Mensch oder ein Phönix auch wirklich ist.34 Damit scheint Thomas einen platonischen Essentialismus zu vertreten, der im Gegensatz zu seiner Erkenntnistheorie zu stehen scheint, die von einer Angleichung von Intellekt und Ding ausgeht, wobei die Dinge die Angleichung auslösen. Sie sind das Maß des Intellekts und bewegen ihn anfänglich.35 Bedeutet das ›Nicht-Wissen‹ des Seinsstatus einer essentia also nur soviel wie: ›Nicht-Beachten‹? Ungeachtet dieser schwierigen Frage gilt es noch einmal, die Modalität des Seinsstatus einer essentia herauszustellen. Die Nichtnotwendigkeit des Seins war in der arabischen Philosophie vorbereitet worden. Al-Gazali hat schon vom akzidentellen Sein all dessen, was ist, gesprochen.36 Auch Avicenna verneint die Notwendigkeit, daß der Essenz Sein zukommt. Das Sein des Seienden ist auch für ihn geradezu akzidentell: Das Sein gehört »nicht zur substantiellen Struktur der Seienden, es befindet sich auf der gleichen Stufe wie die vielen kontingenten und vorübergehenden Merkmale, die den Seienden zugehören«.37 Damit ist eine neue Akzentuierung der Lehre vom Absoluten eingeleitet, die sich so auch bei Thomas oder bei Duns Scotus findet: Nur dem ens absolutum kommt es zu, ein necesse esse per se zu sein. Nur das absolute Sein ist notwendig und genügt sich selbst. Es könnte auch sein, wenn nichts anderes außer ihm ist. »Nur das Erste muß sein, alles andere kann als nicht seiend gedacht werden. Darum kann das Erste sich nur zu sich selbst notwendig verhalten. Gleich ›unterhalb‹ des ersten beginnt der Bereich der Kontingenz.«38 Damit wird schlagartig deutlich, wie unter den Bedingungen der mittelalterlichen Metaphysik dem Begriff der Kontingenz eine radikalisierte und universalisierte Bedeutung zuwächst. Alles Seiende jenseits des ens absolutum war vor der
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De ente et essentia, cap. 4 (ed. Leonina XLIII, 376): »Omnis autem essentia uel quiditas potest intelligi sine hoc quod aliquid intelligatur de esse suo: possum enim intelligere quid est homo uel fenix et tamen ignorare an esse habeat in rerum natura …« 35 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De veritate, qu. 1, art. 2 (ed. Leonina XXII– 1, 9): »… sed intellectus speculativus, quia accipit a rebus, est quodam modo motus ab ipsis rebus, et ita res mensurant ipsum …« 36 Al-Gazali, Tractatus de logica (ed. C. H. Lohr, 247): »… quia esse accidentale est omnibus quae sunt …« 37 G. Verbeke, Avicenna, Grundleger einer neuen Metaphysik (Veröffentlichungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Vorträge; G 263) Opladen 1983, 16. 38 L. Honnefelder, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus – Suárez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990, 78 f.
§ 8 Die Kontingenz des Seins bei Thomas von Aquin
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Verwirklichung ein mögliches Seiendes, dessen Aktualisierung nicht notwendig war. Als Geschaffenes bedarf es der creatio continua, da es aus sich selbst heraus nicht zu subsistieren vermag. Schon allein aus diesem Grund kann Thomas das Sein nicht mehr als univok betrachten. Trotz des bei ihm präsenten Neuplatonismus – immerhin sollte er den Liber de causis kommentieren und als erster erkennen, das es sich bei dieser pseudo-aristotelischen Schrift um Exzerpte aus Proklos handelt 39 – war bei Thomas, sicher auch als Reflex auf den frühen Nominalismus,40 der Kontingenzgedanke schon so wirksam, daß sich eine differenzlose Homogenität des Seins ausschloß. Um zugleich der nominalistisch inspirierten Lehre von der aequivocatio des Seins nicht folgen zu müssen, vertritt Thomas die Position einer Analogizität des Seins. Die analogia entis ermöglichte es ihm, aufgrund einer Ähnlichkeitsrelation den Zusammenhalt von Sein und Seiendem und zugleich die Differenz vom ens absolutum und dem von ihm Geschaffenen zu erläutern. Alles Seiende partizipiert am absoluten Sein, jede geschaffene Substanz ist daher auf ihr Sein wie die Potenz auf den Akt bezogen.41 Es ist unschwer zu erkennen, wie der Partizipationsgedanke den graduellen Unterschied von notwendigem Sein und kontingentem Seienden wahrt. Ruft man sich nun den bereits herangezogenen Gedanken in Erinnerung, daß Gottes Wille durch seine Natur nicht determiniert ist und er sich dem anderen durch seinen Intellekt zuneigt, wird resümierend deutlich, inwiefern die Lehre von der Differenz von esse und essentia für die Genese des Kontingenzbegriffs bedeutsam ist. Gottes Wille ist von Natur aus frei und unbestimmt. Dabei ist Thomas weit davon entfernt, Gottes Willen gegen seinen Intellekt auszuspielen: Alles Geschaffene ist gleichermaßen das Ergebnis von göttlichem Willen und Intellekt.42 Aber auch wenn der Wille der Vorgabe des Intellekts folgt, ist die Einsetzung des möglichen Seienden zwar naheliegend und jeder Willkür enthoben, aber dennoch ungezwungen und somit kontingent.43
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Zur Bedeutung des Liber de causis und des platonischen Denkens für Thomas vgl. J.-P. Torell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, aus dem Französischen übersetzt von K. Weibel, in Zusammenarbeit mit D. Fischli und R. Imbach, mit einem Geleitwort von R. Imbach, Freiburg/Basel/Wien 1995, 146–148, 236–238, 360. 40 Zum Einfluß des frühen Nominalismus auf Thomas vgl. G. Mensching, Thomas von Aquin, Frankfurt/New York 1995, 48–59. 41 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, cap. 53 (ed. Leonina XIII, 391): »… solus Deus est essentialiter ens, omnia autem alia participant ipsum esse. Comparatur igitur substantia omnis creata ad suum esse sicut potentia ad actum.« 42 Vgl. Summa theologiae I, qu. 19, art. 4 (ed. Leonina IV, 237): »Unde, cum esse divinum sit ipsum eius intelligere, praeexistunt in eo effectus eius secundum modum intelligibilem. Unde et per modum intelligibilem procedunt ab eo. Et sic, per consequens, per modum voluntatis: nam inclinatio eius ad agendum quod intellectu conceptum est, pertinet ad voluntatem. Voluntas igitur Dei est causa rerum.« 43 Von hier aus wäre zu untersuchen, inwiefern das Moment der Kontingenz auch eine
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Im Vergleich zur spektakulären Präsenz des Voluntarismus nach der Verurteilung von 1277 ist die metaphysische Distinktion von esse und essentia bei Thomas erst auf den zweiten Blick aufsehenerregend und gleichsam ein durch die Konstanz der aristotelischen Terminologie verdeckter Einschnitt innerhalb der Geschichte der Metaphysik. Dennoch markiert schon Thomas die gravierende Radikalitätsdifferenz zwischen dem mittelalterlichen Bewußtsein der contingentia und all dem, was das antike Denken vorbereitet hatte.
§ 9 Kontingenz und die Metaphysik des Möglichen bei Johannes Duns Scotus In den Jahren 1298 bis 1299 hielt Johannes Duns Scotus in Oxford seine Vorlesung zu den Sentenzen des Petrus Lombardus. Das erst 1927 wiederentdeckte Vorlesungsmanuskript enthält einen Kontingenztraktat, der inzwischen als ein Schlüsseltext der spätmittelalterlichen Kontingenzphilosophie angesehen wird. Scotus’ Ausführungen zum Problem der futura contingentia in der Lectura I 39 schließen nicht an eine durch die Tradition verbürgte Auslegung der Kontingenzthematik an und begnügen sich nicht damit, vorgängige Entwicklungslinien zu radikalisieren, sondern – und das ist in der Begriffsgeschichte selten genug – fügen dem Bekannten einen in dieser konsequenten Entfaltung neuen Gedanken hinzu: Die schöpferische Freiheit Gottes erlaubt nicht allein einen Wandel seines vollzogenen Willens im Laufe der Zeit, sondern ihr liegt ein momentaner Entscheidungsspielraum zugrunde, der jeder realisierten Möglichkeit eine zugleich nicht verwirklichte Möglichkeit an die Seite stellt. Damit wurde eine Philosophie der Kontingenz auf den Weg gebracht, die die Metaphysik des Notwendigen korrigierend ergänzen sollte. In der Ordinatio, der nachträglich überarbeiteten Fassung der Lectura, hat dieser Gedanke die Formel gefunden, etwas sei dann kontingent, wenn in dem Augenblick, da es eintrete, auch sein Gegenteil eintreten könnte.44 Die nicht verwirklichte Möglichkeit hört damit auf, das Ergebnis allein eines mißlunge-
Rolle innerhalb der moralischen Akte des Menschen spielt, also für die Ethik des Aquinaten von Belang ist: Der Mensch mag Gott als das höchste Gut notwendig wollen, zugleich aber ist er frei, partikulare Ziele kontingent zu wollen. Vgl. K. Hedwig, »Circa particularia. Kontingenz, Klugheit und Notwendigkeit im Aufbau des ethischen Aktes bei Thomas von Aquin«, in: L. J. Elders/K. Hedwig (Hg.), The Ethics of St. Thomas Aquinas. Proceedings of the Third Symposium on St. Thomas Aquinas’ Philosophy, Rolduc, November 5 & 6, 1983, Città del Vaticano 1984, 161–187. 44 Johannes Duns Scotus, Ordinatio I, dist. 2, pars 1, qu. 1–2, n. 86 (ed. Vaticana II, 178): »… dico quod non voco hic contingens quodcumque non-necessarium vel non-sempiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando illud fit …«
§ 9 Kontingenz und die Metaphysik des Möglichen bei Duns Scotus
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nen teleologischen Ablaufs zu sein, an dessen Ende im Regelfall die realisierte Möglichkeit zu stehen hat. Vielmehr wird die Möglichkeit zur Kehrseite des Wirklichen: Alles, was ist, könnte auch nicht oder anders sein. Damit wird der Begriff der Realität mit dem auf ihn anwendbaren Prinzip der Negation konfrontiert, dem zufolge der absolute Vorrang des Seienden vor dem Nichtseienden zumindest abgeschwächt wird. Es war vor Scotus gleichsam die metaphysische Schwerkraft des Notwendigen, das Mögliche als Randphänomen erscheinen zu lassen. Wird die Alternative zum Faktischen aufgewertet, ist das Denken in Notwendigkeiten um seine Selbstverständlichkeit gebracht. Scotus entfaltet seinen neuen Kontingenzbegriff vor dem Hintergrund des epistemologischen Problems der futura contingentia im Hinblick auf das göttliche Wissen. Hat Gott ein bestimmtes Wissen von allen Dingen, auch den zukünftigen? Ist das göttliche Wissen sicher und unfehlbar? Ist sein Wissen unwandelbar? Ist es notwendig? Und schließlich: Ist mit dem göttlichen Wissen die Kontingenz von Dingen vereinbar?45 Bereits die einführenden Erörterungen zu den fünf Fragen, die noch nicht Scotus’ eigene Sicht beinhalten, sondern vielmehr das Thema der Kontingenz vorbereitend eröffnen, offenbaren den gegen Ende des 13. Jahrhunderts unübersehbar gewordenen Bruch zwischen dem assimiliertem Aristotelismus und der sich behauptenden Theologie: Zwar lehre einerseits Aristoteles, daß es keine sichere Kenntnis von zukünftigen Sachverhalten gebe – Scotus verweist zu Beginn der Lectura, dist. 39, qu. 1, auf De interpretatione, cap. 9 –, aber wenn Gott weiß, daß a eintreten wird, und a nicht eintritt, ist Gott fehlbar, oder auch wenn es möglich ist, daß a nicht eintreten wird, kann Gott fehlbar sein.46 Es ist weiterhin anzunehmen, daß ein Wandel eines Sachverhaltes zu einer Veränderlichkeit des göttlichen Wissens führt: Wenn a nicht ist und a sein kann, dann kann a beginnen zu sein. Gott kann dann beginnen zu wissen, daß a ist.47 Wenn aber Gott notwendigerweise unveränderlich ist, ergibt sich die Frage, ob nicht aufgrund seiner Vollkommenheit auch sein Wissen den Modus der Notwendigkeit besitzt: Denn wenn es keine andere Notwendigkeit in Gott gibt als die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit, dann weiß Gott unveränderlich und somit notwendigerweise, daß a ist.48 Wenn aber sein notwendiges
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Johannes Duns Scotus, Lectura I, dist. 39, qu. 1–5 (ed. Vaticana XVII, 481–484). Lectura I, dist. 39, qu. 2, n. 4 (ed. Vaticana XVII, 482): »Sequitur ›Deus scit a fore, et a non erit, igitur Deus fallitur‹…; igitur a simili, sequitur ›Deus scit a fore, et potest non fore, igitur Deus potest falli‹ …« 47 Lectura I, dist. 39, qu. 3, n. 8 (ed. Vaticana XVII, 483, 482): »… si a non est et a potest esse, igitur potest incipere esse.« »… Deus scit a non esse et potest scire a esse, igitur potest incipere scire a esse …« 48 Lectura I, dist. 39, qu. 4, n. 11 und 13 (ed. Vaticana XVII, 483). »Primo sic: quia in Deo non est alia necessitas quam necessitas immutabilitatis… Igitur si ›scire a‹ potest esse in
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Wissen eines Sachverhaltes dessen Realisierung beinhaltet, ist dieser Sachverhalt selbst notwendig: Wenn Gott weiß, daß a sein wird, dann wird a notwendigerweise sein.49 Kontingenz scheint, nach dieser Exposition des Themas, mit dem göttlichen Wissen nicht vereinbar zu sein. Es ist der Widerstreit von Notwendigkeit und Möglichkeit, der die polarisierenden ersten Ausführungen bestimmt. Gott kommen traditionell als dem ens perfectissimum die Attribute der Unwandelbarkeit, Unfehlbarkeit und Notwendigkeit zu. Das kontingente Eintreten eines Sachverhaltes – wenn es denn Kontingenz gibt – ist dagegen nicht notwendig, es verändert die Wirklichkeit auf aus keiner Notwendigkeit ableitbare Weise und erfüllt daher nicht die aristotelischen Kriterien des Wissens als einem Wissen von Notwendigem. Der mittelalterliche Gottesbegriff, ontotheologisch entfaltet und in Anlehnung an die antike Metaphysik definiert, besitzt im Kern ein statisches Moment, das mit der Dynamik einer kontingenten Wirklichkeit unvereinbar zu sein scheint. Der idealistische Seinsstillstand der antiken Metaphysik wiederholt sich hier, indem er – als Attribut dem perfektesten Sein zugesprochen – den göttlichen Intellekt in seiner Unwandelbarkeit zu limitieren scheint und zu dem Verdacht führt, daß es für das notwendigste Sein Kontingenz per definitionem nicht geben kann. Dieser latente Seinsstillstand, der die kognitive Potenz Gottes zu bestimmen droht, wird auch von der schöpfungstheologischen Dynamik eines kreativen Gottes nicht aufgehoben. Das erkennt auch Scotus sofort, da er – nach der Exposition der Eingangsfragen – das Referieren fremder Lösungsvorschläge nutzt, um den inhomogenen Diskussionsstand zu fokussieren. Sämtliche vorgebrachten Perspektiven auf das Verhältnis von Kontingenz und Wissen treffen sich in dem einen Fluchtpunkt, wie Kontingenz angesichts der Ideen im göttlichen Intellekt denkbar sein soll. Seit Augustinus die neuplatonische Ideenlehre zu einem Kernstück der Schöpfungstheologie gemacht hat, galt die Annahme als verbindlich, daß alles Geschaffene in den Ideen des göttlichen Intellekts seine Urform hat. Entscheidend war dabei der unauflösliche Zusammenhang von Denken und Schaffen: Johannes Scotus Eriugena fand dafür die Formel, bei Gott sei Denken und Schaffen eins: Cognoscere ergo et facere dei unum est.50 Sollte dieser Zusammenhang ungebrochen sein, wäre dann nicht Gottes Wissen per se unfehlbar, da es nichts Geschaffenes gäbe, das er nicht vorher als Idee in seinem Intellekt gehabt hätte? Scotus lockert diesen Zusammenhang, indem Deo, igitur necessario est idem Deo; sed quod est necessario idem Deo, est necessario scitum a Deo; igitur Deus necessario scit a.« 49 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 15 und 16 (ed. Vaticana XVII, 484): »Sequitur ›Deus scit a fore, igitur a erit‹… Praetera, omne scitum a Deo, necessario erit …« 50 Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae II (ed. I. P. Sheldon-Williams, Scriptores Latini Hiberniae IX, 76).
§ 9 Kontingenz und die Metaphysik des Möglichen bei Duns Scotus
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er seine Auffassung der Ideenlehre innerhalb des Kontingenztraktats ein erstes Mal andeutet. Für ihn verbürgen die göttlichen Ideen ausschließlich ein ›einfaches Wissen‹, eine cognitio simplex,51 womit zwar die göttliche Kenntnis des Seienden in der Ideenlehre fundiert bleibt, aber die Vorstellung zurückgewiesen wird, Gottes Ideen wären vollständige Repräsentationen der aktuellen Realität. Der enge Nexus von Denken und Schaffen als Grundlage der Erkenntnis – der immerhin so bestimmend sein sollte, daß noch Giambattista Vico die Verstehbarkeit der Geschichte von ihrer Erzeugung abhängig macht – wird von Scotus gelockert, da für ihn die Ideen keine notwendigen Bedingungen der Erkenntnis kontingenter Sachverhalte sind.52 Die latente Konsequenz der epistemologisch maximal ausgelegten Ideenlehre ist eine kognitive Identität von Sein und Werden: Alles, was war, ist und sein wird, ist dem göttlichen Intellekt vertraut, da es durch Ideen im Vorhinein bestimmt und erkannt ist. Die Kontingenz des Zukünftigen wäre demnach nur für die endliche Vernunft des Menschen ungewußt, dem göttlichen Intellekt dagegen wäre das Zukünftige so präsent, wie das Gegenwärtige und Vergangene. Scotus wendet sich gegen diesen temporalen Holismus, der jede Seinsdynamik vorherbestimmt sein läßt, indem er darauf verweist, Gott könne nach dieser Lehre nichts Neues schaffen.53 Diese Limitierung kann dem spätmittelalterlichen Voluntarismus nicht mehr akzeptabel gewesen sein. Die Etablierung eines neuen Kontingenzbegriffs hängt für Scotus also davon ab, ihn mit einer Gotteslehre vereinbaren zu können, die Gott als das notwendigste Sein denkt und zugleich Kontingenz als das Nichtnotwendige zuläßt. Kontingenz und Notwendigkeit stehen in einem sich gegenseitig ausschließendem Verhältnis. Der naheliegende Nezessitarismus hatte die Notwendigkeit zu einem Vollkommenheitsattribut des Seins erhoben und die Kontingenz zu einem Randphänomen gemacht. Kennzeichnend dafür ist noch die Lösung des Thomas von Aquin, etwas Seiendes im Hinblick auf seine Zweitursachen kontingent, aber im Hinblick auf seine Erstursache notwendig sein zu lassen. Scotus lehnt dies ab. Etwas könne nicht zugleich in Hinblick auf seine Zweitursache kontingent und in Hinblick auf seine Erstursache notwendig sein.54 Die menschlichen Seelen,
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Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 19 (ed. Vaticana XVII, 485). Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 21 (ed. Vaticana XVII, 485): »Igitur ideae non sunt necessariae ad cognoscendum futura contingentia.« 53 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 28 (ed. Vaticana XVII, 487): »Praetera, si omnia futura essent praesentia Deo secundum eorum actualem exsistentiam, impossibile esset Deo causare aliquid de novo …« 54 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 36 (ed. Vaticana XVII, 490): »… quia non potest esse quod idem effectus secundum suum esse habeat necessarium habitudinem ad causam perfectam, et contingentem ad causam imperfectam …«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
als ein prägnantes Beispiel, seien unmittelbar von Gott geschaffen, aber deshalb nicht notwendig.55 Was ist aber nun Kontingenz? Wie ist sie als eine modale Explikation des Seienden zu denken? An diesem Punkt setzen Scotus’ eigene Überlegungen ein. Zunächst gibt Scotus zu, daß weder durch einen Verweis auf etwas Bekannteres (per notius) noch notwendigerweise (a priori) durch eine Ableitung aus dem Begriff des Seienden bewiesen werden kann, daß alles Seiende der fundamentalen Unterscheidung von notwendig und kontingent unterliegt und es somit kontingentes Seiendes gibt (contingentia in rebus).56 Da aber ebensowenig beweisbar ist, daß es kein kontingentes Seiendes gibt, liegt gleichsam »ein ›erkenntnistheoretisches Patt‹ zwischen Nezessitaristen und Kontingentisten«57 vor. Zwar ist Kontingenz nicht beweisbar – es wäre durchaus ein Paradox, wenn das Nichtnotwendige mit Notwendigkeit nachgewiesen werden könnte –, aber sie ist für Scotus doch ein gleichsam durch sich selbst Bekanntes.58 Scotus schließt sich somit der Auffassung des Aristoteles an, aufgrund der alltäglichen Erfahrung, daß Dinge auch anders sein oder werden können, als sie sind, und diese Möglichkeit nicht vollends auf eine Notwendigkeit zurückgeführt werden kann, gebe es immerhin ein a posteriorisches Verständnis von Kontingenz.59 Wenn es aber etwas Kontingentes gibt, dann gibt es auch etwas Notwendiges, so wie etwas Endliches als letzte Ursache etwas Unendliches voraussetzt. Scotus zieht für seinen Aufweis eines notwendigen Seins die entscheidende Differenz von Notwendigkeit und Kontingenz heran: Wie bei allen anderen Disjunktionen, die über ein Seiendes aussagbar sind – wie endlich und unendlich, möglich und wirklich usf. –, besteht zwischen den Teilmomenten der Disjunktion weder eine Gleichwertigkeit noch eine notwendige Korrelation: Das Notwendige ist höherwertig als das Kontingente und kann auch ohne das Kontingente existieren, was umgekehrt nicht gilt. Die Disjunktionen spiegeln somit den anagogischen Verweischarakter des ontotheologisch dechiffrierten Seinsverständnisses antik-mittelalterlicher Provenienz. 55
Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 37 (ed. Vaticana XVII, 490): »Praeterea, animae immediate creantur a Deo et non ab aliqua causa proxima, non tamen necessario causantur …« 56 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 39 (ed. Vaticana XVII, 490): »De primo, quod sit contingentia in rebus, non potest … probari per notius, nec a priori, quia ens dividitur per ›necessarium‹ et ›possibile‹.« Scotus verwendet in der Lectura die Begriffe contingens und possibile synonym. 57 J. R. Söder, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999, 46. 58 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 40 (ed. Vaticana XVII, 491): »Propter quod accipiendum est tanquam per se notum quod sit contingentia in entibus …« 59 Johannes Duns Scotus, Reportatio I A, dist. 39–40, qu. 3, n. 30 (ed. Söder, 247): »Philosophus etiam qui vult et ponit contingentiam esse in rebus, non probavit hoc a priori sed a posteriori …«
§ 9 Kontingenz und die Metaphysik des Möglichen bei Duns Scotus
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Wie kommt es aber zur Kontingenz? Der Tradition war der Gedanke fremd, daß die erste Ursache als das in jeder Hinsicht notwendige Sein (ens necessarium) mit etwas Nichtnotwendigem in ein direktes kausales Verhältnis gerückt werden könnte. Die Hervorbringung von Nichtnotwendigem oblag den Zweitursachen. Scotus bricht mit dieser Tradition, indem er voraussetzt, daß die erste Ursache Kontingentes schafft, ja kontingent wirkt.60 Vor dem Hintergrund des Nezessitarismus vermag es nicht zu überraschen, daß es für Scotus innerhalb der göttlichen Vermögen der Wille ist, der Kontingentes schafft – und nicht etwa der Verstand oder das ausführende Vermögen (potentia exsecutiva).61 Um zu erläutern, wie der Wille Kontingentes schafft, zieht Scotus zum Vergleich die Freiheit des menschlichen Willens heran. Dieser ist grundsätzlich frei, entgegengesetzte Akte, Objekte und Wirkungen zu wollen. Während das Wollen von Akten unvollkommen ist, da es eine passive Potentialität darstellt, genießt das Wollen von Objekten den Status der Vollkommenheit, da es sich auf alles richten kann, was überhaupt gewollt werden kann. Die Freiheit zu entgegengesetzten Wirkungen ergänzt hingegen die Freiheit zu entgegengesetzten Objekten akzidentell.62 In einer ersten Entfaltung der Potentialität des Willens ist dessen Möglichkeit, Entgegengesetztes zu wollen, wenig spektakulär. Ein Wille kann zunächst das eine und dann das andere als dessen Gegenteil wollen.63 Der sukzessive Wandel des Willens ist der Spielraum der Freiheit im Verlauf der Zeit. Diese Wandelbarkeit des Willens ergänzt Scotus durch eine logische Möglichkeit (possibilitas logica), die im Vergleich zur sukzessiven Veränderbarkeit weniger offenkundig (non ita manifesta) 64 sei: Der Wille kann in einem einzigen Moment simultan das eine oder das andere als dessen Gegenteil wollen.65 Wählt er das eine, hat er dennoch immer die Möglichkeit gehabt, das Entgegengesetzte gewählt zu haben. Dieses Vermögen des Willens unterliegt aber der logischen
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Ordinatio I, dist. 38, pars 2 et dist. 39, qu. 1–5, n. [14] (ed. Vaticana VI, Appendix A, 416): »Et dico … quod nulla causatio alicuius causae potest salvari ›contingens‹ nisi prima causa ponatur immediate contingenter causare …« 61 Vgl. Lectura I, dist. 39, n. 42–44 (ed. Vaticana XVII, 492 f.); Ordinatio I, dist. 38, pars 2 et dist. 39, qu. 1–5, n. [14] (ed. Vaticana VI, Appendix A, 416): »Primam ergo contingentiam oportet quaerere in voluntate divina …« 62 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 45–46 (ed. Vaticana XVII, 493 f.). 63 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 48 (ed. Vaticana XVII, 494). 64 Ordinatio I, dist. 38, pars 2 et dist. 39, qu. 1–5, n. [16] (ed. Vaticana VI, Appendix A, 417). 65 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 50 (ed. Vaticana XVII, 495): »Haec autem possibilitas logica non est secundum quod voluntas habet actus successive, sed in eodem instanti: nam in eodem instanti in quo voluntas habet unum actum volendi, in eodem et pro eodem potest habere oppositum actum volendi …«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Limitierung, zwar sukzessiv, aber nicht simultan zu wollen und nicht zu wollen. Die simultane Wahlfreiheit des Willens zwischen zwei entgegengesetzten Möglichkeiten ist für Scotus von größter Bedeutung, da ihr die Hervorbringung von Kontingentem entspringt. In der Ordinatio geht Scotus den Überlegungen zu einer momentanen Entscheidungssituation eines freien Willens, entgegengesetzte Möglichkeiten wollen zu können, im Rahmen eines Gedankenexperiments nach: Angenommen, der geschaffene – also menschliche – Wille würde nur einen einzigen Augenblick existieren, und er hätte in diesem einen Moment einen einzigen Willensakt – und somit nicht die Möglichkeit, sich sukzessiv einmal für das eine und das andere Mal für das andere entscheiden zu können –, dann hätte er diesen Willensakt nicht notwendigerweise – und somit kontingenterweise.66 Ein kontingenter Sachverhalt entsteht demnach nicht nur durch die Möglichkeit, daß ein Wille sich sukzessiv und ohne Notwendigkeit ändert, sondern auch in dem einen Moment simultaner Wahlfreiheit zwischen zwei entgegengesetzten Möglichkeiten. Zwei Aspekte sprechen dafür, daß der experimentell auf einen Augenblick reduzierte Wille nicht mit Notwendigkeit wählt: Zum einen gehört es ja zur grundlegenden Definition des Willens nach Scotus, immer zwischen zwei entgegengesetzten Möglichkeiten wählen zu können. Wäre der Wille durch eine notwendige Wahl bestimmt, müßte seine Freiheit als untergraben angesehen werden. Es entspricht gleichsam nicht seiner Natur, mit Notwendigkeit nur das eine und nicht auch das entgegengesetzte andere wollen zu können. Der andere Aspekt bezieht sich auf Scotus’ Grundannahme, daß der Mensch per se ein kontingentes Seiendes ist, das wiederum nur Kontingentes verursacht. Grundsätzlich, so hebt Scotus in der Reportatio hervor, darf eine Vollkommenheit des kontingenten Seienden – in diesem Fall die Freiheit des menschlichen Willens, zwischen entgegengesetzten Objekten wählen zu können – aus dem kategorialen in den transzendentalen Bereich übertragen, also auf Gott angewandt werden, freilich abzüglich aller verbleibenden Unvollkommenheiten.67 Daher gilt die Wahlfreiheit des Willens, in einem Moment zwischen Entgegengesetztem simultan wählen zu können, auch für den göttlichen Willen. Während aber die Endlichkeit des menschlichen Willens es erfordert, daß nach und nach Objekte des Willens bestimmt werden, obliegt es allein dem göttli66
Ordinatio I, dist. 38, pars 2 et dist. 39, qu. 1–5 n. [16] (ed. Vaticana VI, Appendix A, 417 f.): »Ponendo enim voluntatem creatam tantum habere esse in uno instanti, et quod ipsa in illo instanti habeat hanc volitionem, non necessario tunc habet eam.« 67 Reportatio I A, dist. 39–40, qu. 3, n. 40 (ed. J. R. Söder, 250): »Hic dico quod assumendo quae sunt perfectionis in voluntate nostra respectu actus et dimittendo quod est imperfectionis in ea, transferendo ea quae sunt perfectionis in ea ad divina, statim apparet propositum.«
§ 9 Kontingenz und die Metaphysik des Möglichen bei Duns Scotus
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chen Willen, sich auf die Gesamtheit aller möglichen Willensobjekte in einem Akt richten zu können.68 Damit hat Scotus einen Entwurf vorgelegt, wie die vollkommene Einfachheit des göttlichen Willens mit der Hervorbringung von grundsätzlichster Kontingenz in Verbindung gebracht werden kann. Zu Beginn der Erläuterungen seiner eigenen Kontingenztheorie69 hatte Scotus nach der Grundannahme, daß es Kontingentes gibt, gefragt, was die Ursache für Kontingentes sei. Darauf kann er nun resümierend antworten, Gott sei der Grund für Kontingenz. Auf die anschließende Frage, welches Vermögen Gottes für die Hervorbringung von Kontingentem verantwortlich zeichne, hat sich für ihn gezeigt, daß es der göttliche Wille ist, der Kontingentes bewirkt. Nun stellt sich aber die Frage, wie Gottes sicheres und unfehlbares Wissen mit Kontingentem vereinbar ist.70 Da es im Grunde eine Depotenzierung des Phänomens der Kontingenz wäre, lehnt es Scotus ab, Gott aufgrund des ideentheoretischen Ansatzes platonischaugustinischer Prägung alles Kontingente noch vor seiner Existenz wissen zu lassen. Ebenso verweigert er sich der zeittheoretischen Annahme, daß Gott sub specie aeternitatis alles in der Zeit Sukzessive simultan zugänglich sei. Um das Phänomen der Kontingenz zu retten, muß Scotus einen eigenen Weg wählen, der ihn zu seinem Ansatz der Erkenntnis von Possibilien im Status der Neutralität (ut neutra) führt. Das Verhältnis von Intellekt und Wille ist dabei ausschlaggebend. Scotus zieht als ein Beispiel die Anzahl der Sterne heran. Es steht dem göttlichen Willen nicht nur frei, Sterne zu erschaffen oder nicht, sondern auch, ob er eine ungerade oder eine gerade Anzahl von Sternen hervorbringt. Wie sich Gott auch entscheidet, seine Wahl ist kontingent und nicht notwendig, da er in dem Augenblick, wo er Sterne schafft, auch die Freiheit hat, sie nicht zu schaffen. Und wenn er eine gerade Anzahl an Sternen in die Welt setzt, hätte er auch eine ungerade Anzahl von Sternen einsetzten können. Was weiß nun sein Intellekt von der zukünftigen und kontingenten Existenz oder Nichtexistenz einer geraden oder ungeraden Anzahl von Sternen, bevor der Wille sie kreiert (ante actum voluntatis)? Er nimmt die entgegengesetzten Possibilien als logisch mögliche
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Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 53 (ed. Vaticana XVII, 496 f.). Scotus beginnt die Ausführungen seiner eigenen Kontingenztheorie ab Lectura I, dist. 39. qu. 5, n. 38 (ed. Vaticana XVII, 490 ff.). 70 Dabei ist zu beachten, wie die Utrechter Research Group John Duns Scotus in ihrem Kommentar zur Lectura I 39 vermerkt, daß Scotus allein danach fragt, wie die Unwandelbarkeit, Gewißheit und Unfehlbarkeit des göttlichen Wissens logischerseits mit der Kontingenz der Zukunft vereinbar ist, aber nicht, wie Gott Wissen von der Zukunft haben kann. Vgl. John Duns Scotus, Contingency and Freedom. Lectura I 39, Introduction, Translation and Commentary by A. Vos Jaczn., H. Veldhuis, A. H. Loogman-Graaskamp, E. Dekker, N. W. den Bok, Dordrecht/Boston/London 1994, 141/143.
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Alternativen wahr, ohne in diesem Moment das Kriterium der Wahrheit oder Falschheit einzubringen. In diesem Sinne erkennt der göttliche Intellekt zukünftige kontingente Sachverhalte in neutraler Weise. Erst die Aktualisierung einer der gegebenen und logisch zulässigen Possibilien läßt die göttliche Erkenntnis zu einer wahren werden.71 Es obliegt also allein dem Willen, den Intellekt aus seiner neutralen Position angesichts der futura contingentia herauszuholen, er ist gleichsam ein ›Wahrmacher‹ (verificare).72 Scotus’ Erkenntnismodell ante et post actum voluntatis begründet somit eine göttliche Kenntnis der futura contingentia, die eine notwendige Kenntnis des Kontingenten ablehnt73 und darauf beharrt, daß Gott manches auf ebenso kontingente Weise wisse, wie dieses in sich selbst kontingent sei.74 Mit diesen innovativen Überlegungen zu einer Philosophie der Kontingenz hat Scotus nicht weniger als eine »Metaphysik der Möglichkeit« begründet und mit ihr »ein neues Verständnis von Freiheit und Kontingenz, von göttlicher Transzendenz und Geschaffenheit der Welt, von Materie und Individualität eröffnet«.75 Erstmalig ist Kontingenz zu einem zentralen Thema einer Metaphysik geworden.
§ 10 Kontingenz und Freiheit bei Wilhelm von Ockham Während das Pariser Nominalistenstatut, von der Fakultät der Freien Künste 1340 zur Zurückweisung gewisser ockhamistischer Irrlehren erlassen, dem Nominalismus »verderbliche Spitzfindigkeiten« attestiert,76 ist es gerade der »geistige Scharfsinn« der Nominalisten, den Pierre Bayle in seinem Dictionnaire 71
Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 62 (ed. Vaticana XVII, 500): »Et dico quod intellectus divinus offert voluntati suae aliquam complexionem ut neutram, non apprehendens ut veram vel falsam (sicut cum apprehendo ›astra esse paria‹); et si ponatur quod per voluntatem meam possim verificare aliquam complexionem …, prius est apprehensa a me ut neutra, sed tantum ut unum speculabile, – et quando ponitur in esse et in effectu per voluntatem determinatam ad unam partem, tunc apprehenditur ut vera, et prius tantum offerebatur voluntati ut neutra.« 72 Vgl. J. R. Söder, Kontingenz und Wissen, a. a. O., 173–176. 73 Lectura I, dist. 39, qu. 5, n. 69 (ed. Vaticana XVII, 502): »… non est veritas determinata in futuris contingentibus …« 74 Reportatio I A, 39–40. qu. 3, n. 63 (ed. J. R. Söder 257): »Et ideo dico quod Deus ita scit contingenter aliqua sicut ipsa sunt in se contingentia.« 75 L. Honnefelder, Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster 21989, 46. 76 Vgl. das Statutum facultatis artium de reprobatione quorumdam errorum Ockanicorum vom 29. Dezember 1340, abgedruckt in: R. Paqué, Das Pariser Nominalistenstatut. Zur Entstehung des Realitätsbegriffs der neuzeitlichen Naturwissenschaft, Berlin 1970, 8–13.
§ 10 Kontingenz und Freiheit bei Wilhelm von Ockham
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historique et critique hervorhebt.77 Diese beiden Urteile markieren die unterschiedlichen Positionen im Streit zwischen der via antiqua und der via moderna, der noch zu Lebzeiten Ockhams entbrannt und zur Zeit Bayles schon entschieden war. Wilhelm von Ockham steht wie kein anderer für die nominalistische Kritik an der universalienrealistischen Tradition und für die spätmittelalterliche Transformation des klassischen Seinsverständnisses. An seinem Denken läßt sich erstmals die volle Tragweite des Gedankens der Kontingenz ablesen. Ockham steht vollends in der seit der Verurteilung von 1277 einsetzenden Tendenz, den Gottesbegriff vorrangig voluntaristisch zu bestimmen. Seine Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr auf die schöpferische Kraft des göttlichen Intellekts, die eine vernünftige Ordnung des Weltganzen garantiert, sondern es ist die göttliche Allmacht, die es systematisch zu entfalten gilt. Ockham, der die Allmächtigkeit Gottes in seinem gesamten Werk voraussetzt und als zu bedenkenden Faktor einbringt, definiert sie recht knapp zu Beginn des 6. Quodlibets: Gott kann, so führt Ockham aus, gewisse Dinge gemäß seiner ordinierten Macht tun und einige andere gemäß seiner absoluten Macht. Diese Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, als gebe es in Gott real zwei Mächte, eine ordinierte und eine absolute. Denn in Gott gibt es nach außen nur eine einzige Macht, die ganz und gar mit Gott selbst identisch ist. Die Unterscheidung ist aber auch nicht so zu verstehen, daß Gott manches ordiniert machen kann, manches hingegen absolut und nicht geordnet. Denn Gott kann nichts ungeordnet machen.78 Die Passage ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst wird Gott neben der Macht, Gesetzmäßigkeiten zu erlassen und durch die gestiftete Ordnung zu wirken, eine absolute Macht zugesprochen. Gegen den metaphysischen Nezessitarismus ist damit der freie und nicht an Notwendigkeiten gebundene Wille Gottes betont, der auch nicht durch die geschaffene Ordnung begrenzt wird. Diese Opposition zur Limitierung eines metaphysisch dechiffrierten Got-
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Bayle kommt in seinem Artikel über Gregor von Rimini auf die Nominalisten zu sprechen. Gregor, für Bayle einer der subtilsten Scholastiker des 14. Jahrhunderts, habe aufgrund seines geistigen Scharfsinns den Nominalisten und nicht den Universalienrealisten zugeneigt. P. Bayle, Dictionnaire historique et critique (im folgenden zitiert nach der achten, genannt: fünften Auflage, 4 Bde., Amsterdam/Leiden/La Haye/Utrecht 51740) IV, 56: »Ce fut l’un des plus subtils Scholastiques du XIV Siecle, & par ce caractere d’esprit il s’attacha beaucoup plus au Parti des Nominaux, qu’à la Secte des Réaux.« 78 Wilhelm von Ockham, Quodlibeta septem VI, qu. 1 (Opera theologica IX, 585 f.): »Circa primum dico quod quaedam potest Deus facere de potentia ordinata et aliqua de potentia absoluta. Haec distinctio non est sic intelligenda quod in Deo sint realiter duae potentiae quarum una sit ordinata et alia absoluta, quia unica potentia est in Deo ad extra, quae omni modo est ipse Deus. Nec sic est intelligenda quod aliqua potest Deus ordinate facere, et aliqua potest absolute et non ordinate, quia Deus nihil potest facere inordinate.«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
tesbegriffs findet bei Ockham die Formel, Gott sei niemandes Schuldner.79 Zugleich führt die Rede von einer potentia ordinata und einer potentia absoluta nicht zu einer Spaltung des Gottesbegriffs: Es sind zwei verschiedene Weisen, über die eine einheitliche göttliche Macht zu sprechen, nicht aber ist es eine Unterscheidung von zwei realen Machtmöglichkeiten Gottes.80 Schließlich kann die Unterscheidung von absoluter und ordinierter Macht keinen Widerspruch in den Willen Gottes hineintragen, da Gott grundsätzlich nichts ungeordnet (inordinate) tun kann. Wozu dann die Rede von der absoluten Macht Gottes? Sie ist für Ockham notwendig, um die Freiheit des göttlichen Willens zu wahren. Auch wenn Gott durch seine potentia ordinata auf geordnete Weise schöpferisch tätig ist, ist dieser Akt eine freie Entscheidung, die nicht aus der Ordnung abgeleitet werden kann. Gott hat sich nicht so entscheiden müssen, wie er es durch seine ordinierte Macht getan hat. Eben das verbürgt die Absolutheit seiner Macht. Die Rede von der potentia absoluta hebt den Nezessitarismus des göttlichen Handelns auf, den man in der Tradition durch die unterstellte Verwirklichungstendenz des Guten und mit dem Verweis auf den Drang der liebenden Selbstmitteilung dem metaphysisch gedachten Gott attestiert hatte. Ockhams Denken ist von der einen Notwendigkeit beherrscht, vom göttlichen Willen jede Notwendigkeit fernzuhalten. Das Ergebnis ist eine theologisch motivierte Philosophie der Kontingenz. Ihr Kennzeichen ist die Grundsätzlichkeit ihres Hauptgedankens: Kontingenz ist nicht ein Vorkommnis innerhalb des Wirklichen, gleichsam als Enklave innerhalb eines Regelsystems von Notwendigkeitsketten, sondern alles Seiende ist kontingent, da es von Gott aus freien Stücken geschaffen worden ist. Es ist diese Universalisierung des Kontingenzprinzips, dem Ockhams Denken seine epochale Radikalität verdankt. Ockham illustriert die betonte Freiheit des Willens, der sich zwar binden kann, aber nicht von irgend etwas anderem gebundenen wird, auf oftmals spektakuläre Weise. Die Freiheit Gottes gegenüber dem Menschen scheint grenzenlos zu sein: Ohne Unrecht kann Gott aufgrund seiner absoluten Macht auch das Gegenteil mit seiner Schöpfung machen.81 Es obliegt daher den Möglichkeiten Gottes, einen Menschen ohne die geschaffene Liebe (caritate creata), also die in der Taufe ergangene Gnade gemäß der geschaffenen Heilsordnung, zu er-
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Wilhelm von Ockham, Quaestiones in librum quartum Sententiarum, qu. 5 (Opera theologica VII, 45): »… Deus nullius est debitor …« 80 Wilhelm von Ockham, Opus nonaginta dierum, cap. 95 (Opera politica II, 726): »… unica tamen potentia realiter est in Deo, sed locutio est diversa.« 81 Quaestiones in librum quartum Sententiarum, qu. 5 (Opera theologica VII, 45): »… de potentia tamen absoluta potest facere contrarium cum creatura sua sine omni iniuria.«
§ 10 Kontingenz und Freiheit bei Wilhelm von Ockham
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lösen.82 Er ist somit, auch wenn die Heilsordnung grundsätzlich gültig ist, von ihr nicht begrenzt, sondern kann, wenn er es will, kraft seiner absoluten Macht unmittelbar und ohne eine vermittelnde Ordnung tätig sein. Dieses Motiv der Unmittelbarkeit eines in seiner Macht nur durch das Widerspruchsprinzip limitierten göttlichen Willens hat Ockham den Vorwurf eingetragen, es handle sich bei dem von ihm entfalteten Gottesbegriff um einen Willkürgott. Hans Blumenberg hat die Situation der humanen Vernunft angesichts des nominalistischen Gottes als einen ›theologischen Absolutismus‹ beschrieben: Der nominalistische Gott könne »quer durch alle rationalen Sicherheiten und Wertungen hindurchgehen und darin die Möglichkeiten menschlicher Gewißheit vernichten«.83 Der Aufwertung des göttlichen Willens entspreche eine Abwertung der humanen Rationalität, da der willkürliche und somit gleichsam zufällige Willensentscheid Gottes eine Ohnmacht der Vernunft provoziere. Blumenberg erliegt der Versuchung, den nominalistischen Kontingenzbegriff mit dem Akzent der neuzeitlichen Zufälligkeit zu konnotieren,84 und er übersieht, daß der Aufwertung der göttlichen Freiheit eine Aufwertung der humanen Freiheit entspricht.85 Ockham illustriert diese neuartig betonte Freiheit des menschlichen Willens an einem Beispiel, das in seinem spektakulären Charakter der Illustration der göttlichen Freiheit angesichts der möglichen Erlösung eines Menschen ohne geschaffene Liebe nichts nachsteht: Er geht der Frage nach, ob der Mensch sich gegen Gott als das letzte Ziel entscheiden kann. Zunächst bestimmt Ockham den Zusammenhang von Freiheit und Kontingenz anhand der Bedingung des freien Willens. Diejenigen, die einen freien Willen besitzen, haben auch Herrschaft und Macht über ihre Handlungen – und das hat ausdrücklich zur Bedingung, daß Unbestimmtheit und Kontingenz gegeben sind.86 Kontingenz wird somit zur Bedingung der Freiheit. Die Freiheit der humanen 82
Quodlibeta septem VI, qu. 1 (Opera theologica IX, 587): »… dico primo quod homo potest salvari sine caritate creata de potentia Dei absoluta.« 83 H. Blumenberg, Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Kiel 1950, 84. Zum Motiv des theologischen Absolutismus vgl. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 21988, zweiter Teil: »Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung«. 84 Vgl. H. Blumenberg, Artikel »Kontingenz«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, Tübingen 31959, 1793 f. 85 Vgl. meine Auseinandersetzung mit Blumenbergs Deutung des Nominalismus im Rahmen einer Genealogie der Moderne: J. Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg/ München 1998. 86 Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 1, qu. 6 (Opera theologica I, 502): Es gilt, »quod illa quae habent liberum arbitrium habent dominium et potestatem super actus suos; sed hoc non est sine indifferentia et contingentia …«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Selbstverfügung ist das Resultat der kontingenten Verfassung seines Willens, der nicht durch Notwendigkeiten geleitet wird. Ist nun der menschliche Wille von Natur aus (naturaliter) darauf angelegt, Gott als das letzte Ziel zu wollen? Kann der Mensch das Vollkommene und Beseligende ausschlagen? Thomas von Aquin hatte eine ›natürliche Notwendigkeit‹ (necessitas naturalis) für den Willen geltend gemacht, so daß das Streben nach Glückseligkeit aus Notwendigkeit (ex necessitate) der Natur des Willens entspricht.87 Ockham fragt daher, ob der menschliche Wille nur durch Gewalt von dem Anstreben des letzten Ziels abgebracht werden kann oder ob er sich kontingent und frei am letzten Ziel erfreut. Zwar entspricht die Neigung des Willens zum letzten Ziel dem normalen Lauf der Dinge, aber der Wille ist nicht von Natur aus auf das letzte Ziel ausgerichtet und somit determiniert.88 Die Konsequenz ist, daß sich der Wille kontingent und frei am letzten Ziel erfreut, wenn es ihm ganz allgemein aufgewiesen wurde, denn er kann die Glückseligkeit lieben und nicht lieben, und er kann die Glückseligkeit für sich anstreben und nicht anstreben.89 Die Freiheit der Selbstverfügung, wie Ockham ausführt, geht so weit, daß jemand wollen kann, nicht zu existieren, wohl wissend, daß nicht selig zu sein die Folge davon ist, daß man nicht existiert. Also kann jemand nicht selig sein wollen. Folglich ist es ihm möglich, die Glückseligkeit nicht zu wollen. Diese Annahme leuchte ein, wie Ockham an einem Beispiel erläutert: Viele töten sich selbst und setzen sich dem Tod aus – trotz ihres Vernunftgebrauchs, wie Ockham hervorhebt –, sowohl Gläubige, die an das künftige Leben glauben, als auch Ungläubige, die an kein künftiges Leben glauben. Sie wollen folglich nicht existieren.90 Entscheidend ist an dieser Argumentation, daß die Möglichkeit, willentlich das letzte Ziel auszuschlagen, ja sogar die Selbsttötung zu erwägen, nicht mehr eine hypothetische, aber letztlich unverständliche Freiheit ist, die einer verfeh-
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Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 82, art. 1 (ed. Leonina V, 293): »Similiter etiam nec necessitas naturalis repugnat voluntati. Quinimmo necesse est quod, sicut intellectus ex necessitate inhaeret primis principiis, ita voluntas ex necessitate inhaeret ultimo fini, qui est beatitudo …« 88 Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 1, qu. 6 (Opera theologica I, 507): »… dico quod voluntas non naturaliter inclinatur in finem ultimum, nisi accipiendo inclinationem naturalem secundum quod fit secundum communem cursum.« 89 Ebd. (Opera theologica I, 503): »Prima igitur conclusio erit ista quod voluntas contingenter et libere … fruitur fine ultimo ostenso in universali, quia scilicet diligere beatitudinem potest et non diligere, et potest appetere sibi beatitudinem et non appetere.« 90 Ebd. (Opera theologica I, 504): »… sed aliquis potest efficaciter velle non esse, et potest sciri evidenter quod non esse beatum est consequens ad non esse; ergo potest velle non esse beatus, et per consequens nolle beatitudinem. Assumptum patet, quia multi utentes ratione – tam fideles credentes vitam futuram quam infideles nullam vitam futuram credentes – interfecerunt se ipsos et exposuerunt se morti; ergo volebant non esse.«
§ 10 Kontingenz und Freiheit bei Wilhelm von Ockham
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lenden Abirrung gleichkommt. Vielmehr illustriert die vernünftige Möglichkeit, die letzte Vollkommenheit nicht zu wählen, die Freiheit des aus teleologischen Finalvorstellungen entlassenen Willens. Nicht allein der göttliche, auch der menschliche Wille entscheidet kontingent, also ohne den Zwang einer Notwendigkeit. Die reflektierte Freiheit des göttlichen und menschlichen Willens verändert das Verständnis des Wirklichen auf grundsätzliche Weise und läßt Kontingenz zur Grundbestimmung des Seins werden. Wenn Ockham, gleichsam als einen Basissatz, formuliert, Gott sei die erste Ursache von allem,91 so bewegt er sich nur noch scheinbar im Rahmen der schöpfungstheologischen Tradition, tatsächlich verteidigt er in einem Akt von Metaphysikkritik eine neue Unmittelbarkeit des göttlichen Handelns. Die Konsequenz dieses Voluntarismus ist die nominalistische Universalienkritik. Ihr Grundgedanke verneint die Schaffung des Seienden nach dem Vorbild der Ideen im göttlichen Intellekt und vertritt die Individualisierung alles Geschaffenen. Jedes Seiende ist nicht länger Repräsentant einer allgemeinen Idee, sondern als ein Einzelding (res singularis) absolut individuell. Diese Essenz des Nominalismus ist als eine »Metaphysik des Individuums« bezeichnet worden.92 Das Allgemeine ist nichts außerhalb der Seele, und sicherlich ist es auch nicht nichts, sondern es ist etwas in der Seele,93 also ein Resultat der intellektuellen Fähigkeit des Menschen. So schwer es für den Nominalismus ist, die intramentale Existenz des Allgemeinen zu klären, so vehement ist seine Ablehnung, es universalienrealistisch als eine extramentale Entität anzuerkennen. Mit dieser universalientheoretischen Wende ist die Konstituierung der neuzeitlichen Rationalität eingeleitet.94 Diese prämoderne Rationalität nominalistischen Zuschnitts hat auf die Kontingenz alles Seienden zu reagieren. Ockhams Propositionalisierung des Wahrheitsbegriffs, seine Suppositionslogik, sein epistemologisches Modell der intuitiven Erfassung singulärer Gegenstände, seine Metaphysikkritik und seine Ökonomie des ›Rasiermessers‹ lassen sich nur vor diesem Problemhintergrund verstehen. An seinen kirchenpolitischen Schriften läßt sich ablesen, welche Gestaltungsfreiheit Ockham der Kontingenz der Welt entnimmt. Die Macht als Herrschaft (dominium) ist für ihn zwar eine von Gott gegebene, aber zugleich eine durch 91
Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 10, qu. 2 (Opera theologica III, 339): »… voluntas divina est prima causa omnium …« 92 P. Vignaux, Artikel »Nominalisme«, in: Dictionnaire de Théologie Catholique XI, Paris 1931, 717–784, hier 742: »… on voit s’affirmer … une métaphysique de l’individu qui fait peut-être l’essentiel du nominalisme …« 93 Quodlibeta septem V, qu. 13 (Opera theologica IX, 531): »… universale non est aliquid extra animam; et certum est quod non est nihil; igitur est aliquid in anima …« 94 Vgl. J. Goldstein, »Ockhams Beitrag zur modernen Rationalität«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), 112–130.
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
den Menschen zu gestaltende (à Deo, sed per homines).95 Nicht allein die Welt, auch ihre Ordnung ist kontingent. Für die Kirche, auf die Ockham sich bezieht, bedeutet das, daß auch ihre Ordnung von Machtverhältnissen kontingent ist. Je nach Notwendigkeit und Verfassung der Zeit (necessitas & qualitas temporis) 96 ist ihre hierarchische Struktur der Macht zu verändern. Dabei haben sich die vorgenommenen Änderungen der Ordnung am Gemeinwohl aller zu orientieren und sind rational auszuweisen. Damit vollzieht Ockham nicht weniger als eine Entsakralisierung der Macht zugunsten ihrer Anthropologisierung. Die Macht wird zu einem legitimen Gestaltungsmoment des Menschen in einer kontingenten Welt. Sie wird gestaltet durch die rechte Vernunft (recta ratio) als eine Kompetenz der Klugheit (prudentia).97 Mit welcher Konsequenz Ockham die Modalität der Kontingenz mit dem Aspekt der Willensfreiheit verknüpft, läßt sich auch an den Aporien seines Prädestinations-Traktates ablesen. Seit Augustins De praedestinatione sanctorum behandelte die Lehre von der Prädestination die Vorherbestimmung der Erwählung der Heiligen durch Gottes Willen. Diese vorausschauende Festlegung Gottes, daß er die Erwählten erlösen wird, verband sich mit der Frage nach dem sicheren Wissen Gottes von diesem noch zukünftigen Ereignis. Aristoteles hatte im 9. Kapitel von De interpretatione in bezug auf ein zukünftiges Ereignis festgelegt, daß es zwar notwendig ist, daß es entweder eintreten oder nicht eintreten wird, daß es aber kontingent ist, ob es eintreten oder nicht eintreten wird. Die Prädestination Gottes scheint demgegenüber aufgrund der göttlichen Allmacht das Eintreten eines zukünftigen Ereignisses der Notwendigkeit zu überantworten. Nun geht Ockham davon aus, daß sowohl der göttliche als auch der geschaffene Wille in dem Moment, in dem er handelt, kontingent handelt. Sollte die Prädestination diese Kontingenz des Handelns aufheben, wäre die Freiheit aufgehoben. Die Freiheit des Willens ist aber nur dann gewahrt, wenn auch ein von Gott Prädestinierter noch aufgrund ihm möglicher Handlungen verdammt werden kann. Dann kann aber die Prädestination als eine Festlegung Gottes nicht bindend sein. So fragt Ockham, ob der geschaffene, also menschliche Wille dieser Festlegung des göttlichen Willens notwendigerweise folgt oder nicht. Die Festlegung durch den ungeschaffenen, also göttlichen Willen genügt aber nicht für eine deterministische Bindung des geschaffenen Willens, da der geschaffene Wille sich für das Gegenteil dieser Festlegung entscheiden kann.98 95 96 97
Wilhelm von Ockham, III Dialogus II 1, cap. 26 (ed. M. Goldast, 899). III Dialogus I 2, cap. 20 (ed. M. Goldast, 806). Vgl. Quaestiones in librum quartum Sententiarum, qu. 5 (Opera theologica VII, 50), wo Ockham die recta ratio in direktem Bezug zur prudentia sieht: »Et per consequens impossibile est virtutem moralem esse sine recta ratione quae est actus prudentiae.« 98 Wilhelm von Ockham,Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurum contingentium, qu. 1 (Opera philosophica II, 517): »… quia quaero, utrum illam deter-
§ 11 Kontingenz und Möglichkeit bei Nikolaus von Kues
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Somit ist die Freiheit des Willens gegen den Akt der Prädestination, insofern sie als eine Determination verstanden wird, verteidigt. Es scheint, daß für Ockham das menschliche Handeln durch die Prädestination nicht determiniert, sondern vielmehr disponiert wird.99 Nun ist Gott nicht allein allmächtig, sondern auch allwissend. Wenn aber der Akt der Prädestination im strengen Sinne nur als eine Disposition des Erwählten verstanden werden kann, stellt sich die Frage, welchen Status das göttliche Wissen von dem zukünftigen Ereignis der Erlösung haben kann. Das Attribut der Allwissenheit verlangt nach einem notwendigen Wissen des Zukünftigen, die Kontingenz des Zukünftigen vereitelt dies. Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit Ockhams, diese Aporie nicht verdeckt zu haben. Ockham resümiert, »daß es unmöglich ist, auf klare Weise die Art auszudrücken, auf die Gott zukünftig Kontingentes weiß. Dennoch muß man daran festhalten, daß er es nur kontingent weiß.«100 Die Anerkennung dieser Aporie ist eine Verteidigung des errungenen Kontingenzbegriffs.
§ 11 Kontingenz und Möglichkeit bei Nikolaus von Kues Wenn der Gedanke der Kontingenz der Welt als ein Resultat des theologischen Voluntarismus des Spätmittelalters angesehen werden muß, kann es nicht verwundern, daß die Entdeckung des Potentials der Kontingenz für eine Gestaltung des Wirklichen erst allmählich einsetzte. Die universale Kontingenz des Geschaffenen war zunächst zu sehr ein Produkt des göttlichen Handelns, als daß die mit der Kontingenz eröffneten Spielräume des Möglichen auf Anhieb als säkular nutzbar denkbar gewesen wären. Aufschlußreich für eine geistesgeschichtliche Stellung zwischen der Voraussetzung des voluntaristisch inspirierten Kontingenzbegriffs und der Entfaltung seiner Konsequenzen ist das Werk des Nikolaus von Kues. Es setzt auf der einen Seite einen spätmittelalterlichen Kontingenzbegriff wie selbstverständlich voraus, ohne auf der anderen Seite die im Kern schon nachmittelalterlichen Folgerungen für das humane Selbstverständnis zu ziehen. Im Gegenteil: Das Oszillieren seines Denkens zwischen Traditionalität und Modernität belegt die Brisanz des Kontingenzgedankens und gleichsam minationem voluntatis divinae necessario sequatur determinatio voluntatis creatae aut non.« Für Ockham gilt: »… determinatio voluntatis increatae non sufficit, cum voluntas creata possit in oppositum illius determinationis.« (Ebd.) 99 So der Deutungsvorschlag von Dominik Perler, Prädestination, Zeit und Kontingenz, a. a. O., 74. 100 Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurum contingentium, qu. 1 (Opera philosophica II, 517): »Ideo dico quod impossibile est clare exprimere modum quo Deus scit futura contingentia. Tamen tenendum est quod scit contingenter tantum.«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
seine erahnte Sprengkraft am Beginn der möglich gewordenen Einsicht in das Ende der mittelalterlichen Epoche.101 Für Nikolaus von Kues ist die Kontingenz des von Gott Geschaffenen kein zentrales Thema. Die Beiläufigkeit der Erwähnung verrät den Konsens, auf den sich der Cusaner im 15. Jahrhundert bereits zu beziehen vermag. In seiner Schrift De beryllo aus dem Jahre 1458, der nachträglichen Einleitungsschrift in sein Grundlagenwerk De docta ignorantia, findet sich eine Passage, in der Cusanus die Kontingenz des Kreatürlichen hervorhebt: Für alle Werke Gottes, für den Himmel, die Erde und den Menschen, gebe es keinen Grund außer dem, daß der, der sie schuf, es so wollte.102 Das ist gut augustinisch gedacht und wird von Cusanus gegen Platon und Aristoteles gewendet, wie eine andere Stelle in De beryllo zeigt: »Jedes Geschöpf … ist Absicht des allmächtigen Willens. Das wußten weder Platon noch Aristoteles. Denn offensichtlich glaubten beide, der schöpferische Intellekt mache alles aus Naturnotwendigkeit, und daraus folgte ihr ganzer Irrtum.«103 Cusanus erkennt somit durchaus das Neue des universalisierten Kontingenzgedankens, insofern er der mächtigen philosophischen Tradition nicht unmittelbar entstammt. Er weist mit Hilfe dieser Einsicht den metaphysischen Nezessitarismus zurück und gewinnt dadurch die Möglichkeit einer alternativen Bestimmung des Gottes- und Wirklichkeitsbegriffs. Dennoch bleibt die Gesamttendenz seines Denkens – trotz der vielfältigen Modernismen im Werk des Cusaners – traditionsverhaftet. Cusanus nutzt die sich ihm zeitgeschichtlich bietende Möglichkeit einer Reformulierung des Wirklichkeitsbegriffs vor dem Horizont der universalen Kontingenz vorrangig für den Begriff Gottes. Noch die einschneidenden Änderungen im Wirklichkeitsverständnis, etwa die von ihm bereits vor Kopernikus aufgegebene Geozentrik, scheinen zuallererst der Illustration und Betonung der vorausgesetzten Theozentrik zu dienen. War diese Tendenz schon in De docta ignorantia erkennbar, wo sowohl der Lehre von dem Zusammenfall der Gegensätze im Unendlichen
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Das auf verschiedene Tendenzen hin interpretierbare Denken des Cusaners hat zu konträren Deutungen seiner epochenspezifischen Position geführt. So stellt Ernst Cassirer in Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe XIV, 11) Cusanus als den »ersten modernen Denker« vor, während Hans Blumenberg in Die Legitimität der Neuzeit (a. a. O., 560) den Konservatismus des Cusaners als den Versuch deutet, am Ende dieser Epoche »das Mittelalter noch zu retten«. 102 Nikolaus von Kues, De beryllo, n. 51 (Opera omnia XI–1, 58): »Et ita dico cum sapiente ›quod omnium operum dei‹ nulla est ratio, scilicet cur caelum caelum et terra terra et homo homo, nulla est ratio nisi quia sic voluit qui fecit.« 103 De beryllo, n. 37–38 (Opera omnia XI–1, 43): »Omnis igitur creatura est intentio voluntatis omnipotentis. Istud ignorabant tam Plato quam Aristoteles. Aperte enim uterque credidit conditorem intellectum ex necessitate naturae omnia facere, et ex hoc omnis eorum error secutus est.«
§ 11 Kontingenz und Möglichkeit bei Nikolaus von Kues
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(coincidentia oppositorum) als auch der neuen Kosmologie die Funktion zukam, auf Gott als den letzten Fluchtpunkt aller intellektuellen Tätigkeiten des Menschen zu verweisen, so tritt im Alterswerk die Perspektive, Gott als den Inbegriff der Möglichkeit als Können (posse) zu beschreiben, unübersehbar in den Vordergrund.104 Ganz klassisch identifiziert Cusanus in seinem wohl 1460 verfaßten Trialogus de possest Gott mit der absoluten Notwendigkeit, da Gott nicht nicht sein könne.105 Die Welt dagegen kann aufgrund ihrer voluntativen Setzung keine absolute Notwendigkeit beanspruchen. Entscheidend für die cusanische Entfaltung des Möglichkeitsbegriffs ist nun die Absage an die hochscholastische Lehre vom logisch Möglichen (possibile logicum):106 Cusanus kann nicht an einer logischen Eröffnung des Möglichkeitsbegriffs gelegen sein, da sein Gottesbegriff in der Lehre von dem Zusammenfall des Gegensätzlichen und sich Ausschließenden im Absoluten kulminiert und somit das Logische überschreitet. Ebensowenig kommt bei ihm das Mögliche als die vorausliegende Bedingung des Wirklichen in den Blick: Die absolute Möglichkeit, durch die das, was wirklich ist, wirklich sein kann, geht der Wirklichkeit weder voraus noch folgt sie ihr.107 Gemäß seines koinzidentalen Denkansatzes wird das Mögliche vielmehr als das in Gott wirklich Seiende begriffen: »Gleichewig sind reine Möglichkeit, Wirklichkeit und beider Verknüpfung.«108 Die koinzidentale Identifizierung des Möglichen und Wirklichen in Gott erlaubt es Cusanus, den Gottesbegriff unter dem Leitbild des Könnens zu ent-
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Alfons Brüntrup hat das Spätwerk des Cusaners als eine ›posse-Metaphysik‹ resümiert und als die dynamische Tendenz dieser Phase eine Intensivierung des posse-Denkens auszumachen versucht: A. Brüntrup, Können und Sein. Der Zusammenhang der Spätschriften des Nikolaus von Kues, München/Salzburg 1973, 63, 14. 105 Nikolaus von Kues, Trialogus de possest, n. 27 (Opera omnia XI–2, 33): »Est igitur absoluta necessitas, cum non possit non esse.« So tradititionell dies scheint, ist doch die Begründung für die Nichtmöglichkeit des Nichtseins Gottes originär cusanisch: Da Gott als die koinzidale Identität der Gegensätze auch das Nichtsein in sich hat, kann er nicht anders, als auch zu sein: »Nam quomodo posset non esse, quando non-esse in ipso sit ipsum.« (Ebd.) 106 Darauf hat schon August Faust hingewiesen: Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, Bd. 2, Heidelberg 1932, 269. 107 Trialogus de possest, n. 6 (Opera omnia XI–2, 7): »Possibilitas ergo absoluta …, per quam ea quae actu sunt actu esse possunt, non praecedit actualitatem neque etiam sequitur.« 108 Trialogus de possest, n. 6 (Opera omnia XI–2, 7 f.): »Coaeterna ergo sunt absoluta potentia et actus et utriusque nexus.« Vgl. auch Trialogus de possest n. 8 (Opera omnia XI–2, 9): »Cum potentia et actus sint idem in deo, tunc deus omne id est actu, de quo posse esse potest verificari.«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
falten. Die entsprechenden Formeln lauten dafür: Gott ist, was sein kann,109 oder Gott ist das Wirklichsein jedes Möglichseins.110 Als wortschöpferischen Ausdruck für die gedachte Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit im Absoluten bildet Cusanus den Terminus possest, eine Kompilation aus posse und esse. Gott ist alles, was sein kann. Die Welt erscheint demgegenüber als eine dynamische Entfaltung des in Gott Eingefalteten. Cusanus wird hierbei von einer Trinitätsspekulation geleitet: »Was in Gott in koinzideller Einheit identisch ist, Möglichkeit und Wirklichkeit, posse fieri und posse facere, tritt im endlichen Sein auseinander, bleibt jedoch derart aufeinander bezogen, dass die Form des gegenseitigen Bezugs die dynamische trinitarische Struktur Gottes ›imitiert‹.«111 Worauf es an dieser Stelle allein ankommt, ist die latente Marginalisierung des faktisch Wirklichen durch seinen unbedingten Bezug auf die omnipotentia dei. Zwar erfährt alles Faktische aufgrund seines Hervorganges aus dem göttlichen Können die Aufwertung seiner Herkunft, aber zugleich ist ihm die verweisende Funktion auf Gott aufgegeben. Nicht von ungefähr zitiert Cusanus zu Beginn von De possest Paulus (Röm 1, 20), wo es mit Blick auf Gott heißt: »Denn sein Unsichtbares wird von der Schöpfung der Welt her erblickt durch das, was geworden und als solches erkannt ist, so auch seine ewige Kraft und Gottheit.« Die Welt als die Sichtbarmachung des Unsichtbaren – darin kulminiert nicht nur der mittelalterliche, sondern auch noch der cusanische Wirklichkeitsbegriff. Cusanus ist ein mittelalterlicher Theozentriker geblieben, dem die Neudefinitionen des Weltlichen vorrangig dazu dienen, unter prämodernen Bedingungen die Zentralität des Gottesbegriffs zu verteidigen.112 Die Intention seines Werkes ist daher, wie es Hans Blumenberg durchaus treffend formuliert hat, »konservativ ohne restaurative Züge«.113
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Trialogus de possest, n. 7 (Opera omnia XI–2, 8): »Omnia autem quae post ipsum sunt cum distinctione potentiae et actus, ita ut solus deus id sit quod esse potest …« Vgl. De docta ignorantia I, cap. IV (Opera omnia I, 10): »… quare maximum absolute cum sit omne id, quod esse potest, est penitus in actu …« 110 Trialogus de possest, n. 14 (Opera omnia XI–2, 18): »›Ego‹ sum ›deus omnipotens‹, id est sum actus omnis potentiae.« 111 St. Meier-Oeser, »Potentia vs. Possibilitas? Posse! Zur cusanischen Konzeption der Möglichkeit«, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 237– 253, hier 245. 112 Vgl. A. Brüntrup, Können und Sein, a. a. O., 103, wo Brüntrup den Verweischarakter alles Kreatürlichen vor dem Horizont der posse-Metaphysik herausstellt: «Die Endlichkeit und Kontingenz des Geschaffenen in seinem Modus des Werden-Könnens und GewordenSeins wird transparent auf die Unendlichkeit und Absolutheit des Schöpfers hin, der alles Werden bewirkt und alles aus sich selbst hervorbringt.« 113 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 560.
§ 11 Kontingenz und Möglichkeit bei Nikolaus von Kues
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Das prämoderne Potential des universalisierten Kontingenzbegriffs ist damit vertan. Zwar steigert Cusanus den Begriff des Könnens zu einem reinen Können, dem Können selbst (posse ipsum), und er versteht es, dieses Können gegen die klassische Metaphysik des Faktischen hervorzuheben – eben als eine Metaphysik der koinzidalen Identität des Möglichen und Wirklichen –, aber für den Wirklichkeitsbegriff ist damit wenig gewonnen. Zwar ist für ihn das reine Können das Vollkommenste, aber dieses Können ist im vollen Sinne Gott vorbehalten. Die schöpferische Kraft des Menschen illustriert Cusanus dagegen unter anderem an dessen Potenz, die Mathematik hervorgebracht haben zu können.114 Deren transrationale Spekulationen wiederum – der Kreis, der als unendlicher zu einer Geraden wird usf. – verweisen vornehmlich auf Gott. Die konstruktive Kraft der menschlichen Rationalität hat somit noch nicht die Bewältigung einer kontingenten Wirklichkeit zum Ziel, sondern bleibt als ein ›Messen‹ in den traditionellen Ordnungsvorstellungen des Mittelalters gefangen. Die Rationalität bleibt auch als produktive rezeptiv orientiert. Es braucht daher nicht zu überraschen, daß die Kontingenz der Welt als der Totalität des von Gott voluntativ Geschaffenen für Cusanus nicht eine Transformation des Wirklichkeitsverhältnisses impliziert. Es bleibt mehr beim alten als die spektakulären Neuerungen vor allem in der cusanischen Kosmologie glauben machen. Die kontingente Welt ist für Cusanus noch nicht eine Realisierung verschiedener möglicher Welten, sondern noch unangefochten die beste aller Welten und die völlige Ausschöpfung des kreatürlichen Potentials Gottes. Im zweiten Buch von De docta ignorantia hat Cusanus diese Grundannahme auf eine schöne Formel gebracht: »Es ist, als hätte Gott sein ›Es werde‹ gesprochen, und weil kein Gott entstehen konnte, der die Ewigkeit selbst ist, so entstand ein Gott möglichst Ähnliches.«115 Die Kontingenz der Welt besteht allein darin, als Welt nicht mehr als die Welt sein zu können. Gott teilt sich ohne Mißgunst mit, es ist allein die Kontingenz des Geschaffenen, die eine noch vollkommenere Aufnahme des Mitgeteilten vereitelt.116 Mit dieser Annäherung des Weltlichen an das Göttliche hält man den Schlüssel für das Grundmotiv des cusanischen Denkens in den Händen. Impliziert die Kontingenz der Welt bei Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham bereits den Verdacht, die reale Welt sei nur eine der möglichen und nicht die beste, ist Cusanus von dieser Konsequenz weit entfernt. Die Welt ist für ihn noch vollends eine Enthüllung Gottes. Ihre Ausdifferenziert114 115
Vgl. Trialogus de possest, n. 43; De beryllo, n. 55–57. De docta ignorantia II, cap. 2 (Opera omnia I, 68): »… ac si dixisset creator: ›Fiat‹, et quia Deus fieri non potuit, qui est ipsa aeternitas, hoc factum est, quod fieri potuit Deo similius.« 116 Ebd. (Opera omnia I, 68): »Cum igitur Deus absque diversitate et invidia communicet et recipiatur, ita quod aliter et alterius contingentia recipi non sinat, quiescit omne esse creatum in sua perfectione, quam habet ab esse divino liberaliter …«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
heit als Folge der kontingenten Endlichkeit ist eine Vielzahl von Perspektiven, die sich in einem Fluchtpunkt treffen. Daher kann man für Cusanus sagen, daß wir »die Welt in Gott sehen«.117 Das Sichtbare ist die Sichtbarmachung des Unsichtbaren: Das ist der letzte Zusammenfall der Gegensätze, indem Gott in der Welt und die Welt in Gott enthalten ist. Es ist dieses Leitmotiv der coincidentia oppositorum, das den Gedanken der Kontingenz marginalisiert. Die absolute Einheit alles Widerstreitenden in Gott und der unbedingte Bezug der Welt auf diesen Gott konstituiert einen Holismus des Zusammengehörigen, der einen betonten Individualismus des Kontingenten kaum zuläßt. Es ist konsequent, daß Cusanus vor der nominalistischen Entfaltung des Kontingenten als einer radikalen Individuationstheorie zurückschreckt: Es kommt alles auf die entscheidende Einschränkung an, wenn er sagt, daß es nichts im Universum gebe, das sich nicht einer gewissen Einzigartigkeit erfreue.118 Das Einzelne als das Abgrenzbare ist nur die endlich-weltliche Vorstufe zur koinzidentalen Vereinheitlichung in Gott. Hier gilt die treffende Einsicht: »Koinzidenz ist Entspezifizierung des Spezifischen.«119 Cusanus zieht den zeitgeschichtlich präsenten Begriff der Kontingenz zwar heran, ohne ihn jedoch systematisch zu entfalten oder einen Begriff einer kontingenten Wirklichkeit zu entwickeln. Vielleicht, weil er sah, daß sich mit ihm ein ungebrochener Bezug von Welt und Gott nicht aufrechterhalten ließ. Auch dieser Akt der Vermeidung gehört in eine Begriffsgeschichte der Kontingenz.
§ 12 Die Pluralität der Welten als Ausdruck der Kontingenz Im Zuge der spätmittelalterlichen Transformation des klassischen Seinsverständnisses trat der Gedanke der Kontingenz aus seiner Begrenzung als Detailproblem heraus und wurde zum Instrument, die bestehende Welt in Variationen zu denken. Das Potential des entgrenzten Kontingenzgedankens bestand darin, sich nicht allein auf singuläres Seiendes, sondern auf das Sein überhaupt beziehen zu lassen. Die Möglichkeit war denkbar geworden, daß die Welt als Ganzes und nicht mehr nur einzelnes in ihr kontingent sein könnte. Die Grundsätzlichkeit dieser Überlegungen mündete in der Wiederaufnahme einer Diskussion, die von Beginn an die Einheit der Vernunft an die Einzigartigkeit der Welt geknüpft
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K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt am Main 1998,
526. 118
Nikolaus von Kues, De docta ignorantia III, cap. 1 (Opera omnia I, 122): »… ut nihil sit in universo, quod non gaudeat quadam singularitate, quae in nullo alio reperibilis est …« 119 T. Borsche, Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München 1990, 225.
§ 12 Die Pluralität der Welten als Ausdruck der Kontingenz
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hatte: die Frage nach der Pluralität der Welten. Wenngleich die spekulative Annahme mehrerer Welten ein kennzeichnendes Denkmotiv der Renaissance und der frühen Neuzeit ist und die wachsende Pluralitätserfahrung reflektiert, bezieht die Frage nach der pluralitas mundorum ihre gegenüber der Tradition verschärfte Brisanz aus mittelalterlichen Denkzusammenhängen.120 Denn es war die mittelalterliche Systematik eines theologischen Voluntarismus, der die normative Vorgabe in der Frage nach der Mehrzahl der Welten alternativ beantwortete. Die Voraussetzung dafür war eine Neubestimmung des Verhältnisses von Notwendigkeit und Kontingenz. Platon hatte in seinem für die Schöpfungstheologie des gesamten Mittelalters maßgebenden Dialog Timaios die Perfektibilität der Welt an ihre Singularität geknüpft: Als ein durch die Vernunft geordnetes Ganzes ist die Welt aufgrund ihrer Ordnung schön und ein Abbild des vollkommensten Göttlichen. Insofern die Vernunft als das Ordnungsprinzip des Vielfältigen das Mannigfaltige in einer Einheit aufgehoben sein läßt, kann es für Platon nur die eine Welt als die abbildende Entsprechung des Göttlichen geben.121 Die eine Welt ist die beste Welt. Im Umkehrschluß entsteht die Welt aus Notwendigkeit, da das Göttliche als das vollkommen Gute nicht anders kann, als die geschaffene Welt als Gutes zu wollen. Der Gedanke der Bonität läßt die Möglichkeit, das Seiende als Gutes ungeschaffen zu lassen, unwahrscheinlich werden. Gott ist gleichsam moralisch gehalten, die Welt geschaffen zu haben, denn – wie es in der platonischen Vorlage ausdrücklich heißt – könne dem Guten kein Neid (φθóνος) attestiert werden.122 Gott will also nicht nur sich, sondern neidlos auch das andere. So sieht es noch Thomas von Aquin, wenn er aus der göttlichen Selbstbezüglichkeit, wonach Gott sich selbst will, schließt, daß er alles will, was in ihm ist und darum auch das andere als die aktualisierte Potenz.123 Auch Nikolaus von Kues hält mit Selbstverständlichkeit den Aspekt des Neids (invidia) von jeder Schöpfungskreativität fern,124 und noch Spinoza weist es als Mißgunst, die es in Gott
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Einen Überblick über die Tradition der Diskussion um die Pluralität der Welten von der Antike bis in das 18. Jahrhundert bietet: St. J. Dick, Plurality of Worlds. The Origins of the Extraterrestrial Life Debate from Democritus to Kant, Cambridge 1982; für den Zeitraum der Renaissance vgl. W.-D. Stempel/K. Stierle (Hg.), Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, München 1987. 121 Platon, Timaios 30 e–31 b. 122 Timaios 29 e. 123 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I, cap. 75 (ed. Leonina XIII, 215): »Deus, volendo se, vult omnia quae in ipso sunt. Omnia autem quodammodo praeexistunt in ipso per proprias rationes … Deus igitur, volendo se, etiam alia vult.« 124 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, cap. 2 (Opera omnia I, 65): »Quoniam autem ipsum maximum procul est ab omni invidia, non potest esse diminutum ut tale communicare.«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
nicht gebe, zurück, wenn man unterstelle, Gott habe nicht alles geschaffen, was er hätte schaffen können.125 Gegen diese Determination des göttlichen Willens aufgrund der unterstellten Verwirklichungstendenz des Guten begehrte der theologische Voluntarismus auf. Dabei war als leitendes Motiv nicht die Frage bestimmend, ob Gott die Freiheit besessen hat, die Welt nicht zu schaffen – die Faktizität der bestehenden Welt entwertete gleichsam die Brisanz dieser Frage. Vielmehr ging es darum, anhand der Annahme, Gott hätte mehrere Welten schaffen können, die deterministische Korrelation von Gott und Welt zugunsten der freien Potentialität Gottes zu lockern. Die spekulative Annäherung an eine Pluralität der Welten unter strikter Beibehaltung der Annahme der Singularität der bestehenden Welt überwiegt dabei zunächst. So findet sich bei Michael Scotus die Argumentation, Gott könne von sich aus aufgrund seiner potentia absoluta zwar eine andere Welt, ja sogar mehrere Welten oder unendlich viele andere Welten geschaffen haben, aber die Welten wären nicht in der Lage gewesen, geschaffen zu werden.126 Die Begrenzung der Potentialität wurde mit Hilfe einer auf Dauer nicht befriedigenden Lösung ganz der materialen Seite der Welt zugeschrieben. Das entscheidende Dokument, das den Gedanken der Pluralität der Welten aus dem Stadium des absolut Hypothetischen herausholte, ist die Verurteilung der 219 Thesen durch den Pariser Bischof Stephan Tempier im Jahre 1277. Die Schöpfungsfreiheit wird in diesem Dokument über die Schöpfungspotenz definiert. Entsprach bislang der Perfektibilität der Welt ihre Singularität, die einen Schöpfungsdeterminismus nahelegte, spielt die Möglichkeit Gottes, Differentes zu schaffen, gleich in mehreren Thesen eine wichtige Rolle. Nicht in chronologischer, aber in systematischer Steigerung stehen einige der verurteilten Thesen in einem engen Zusammenhang. So verurteilt Tempier in der 55. These zunächst die Behauptung, das erste Prinzip könne nichts hervorbringen, das von ihm verschieden wäre, denn jeder Unterschied zwischen Bewirkendem und Bewirkten entstehe aus der Materie.127 Selbstverständlich, so 125
B. de Spinoza, Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs Welstand, cap. 2 (ed. C. Gebhardt I, 20 f ): »Dat hy niet meer zoud hebben konnen, zoude stryden tegen syn almagtigheid, dat hy niet meer zoude hebben willen, aangezien hy wel konde, smaakt na wangunst, de welke in God, die alle goeten volheid is, geenzins en is.« Dt.: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, auf der Grundlage der Übersetzung von C. Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und hg. von W. Bartuschat, Hamburg 1991, 23 f.: »Daß Er nicht mehr hätte geben können, würde seiner Allmacht widerstreiten. Daß Er nicht mehr hätte geben wollen, obwohl Er es wohl konnte, schmeckt nach Mißgunst, die es in Gott, der voll von aller Güte ist, keinesfalls gibt.« 126 Vgl. P. Duhem, Le système du monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic, Bd. IX, Paris 1958, 365. 127 These 55 (ed. H. Denifle, 546): »Quod primum non potest aliud a se producere; quia omnis differentia, que est inter agens et factum, est per materiam.«
§ 12 Die Pluralität der Welten als Ausdruck der Kontingenz
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die Gegenaussage, kann Gott etwas von ihm Verschiedenes schaffen. In der 32. These wird die Annahme verurteilt, der Intellekt sei numerisch einer für alle.128 Diese These des Averroes, die eine universale Einheit des Intellekts vertrat, hatte alle Individuationstheoretiker gegen sich, ebenso die 27. These, derzufolge Gott nicht mehrere, der Zahl nach verschiedene Seelen machen könne.129 Diese in den Thesen vertretenen und von Tempier verurteilten Tendenzen einer Beschränkung der Schöpfungspotenz des allmächtigen Gottes kulminieren schließlich in der 34. These, die erste Ursache könne nicht mehrere Welten schaffen. Die Verurteilung der Annahme, Quod prima causa non posset plures mundos facere,130 ist eines der zentralen Anliegen des gesamten Verurteilungsdokumentes. Indem es die Beschränkung der Macht Gottes, nur eine Welt schaffen zu können, verurteilt, läßt es die Spekulation über die Mehrzahl der Welten zu einem orthodoxen Gedanken werden. Die Folgen sind von vielen Kommentatoren im Umkreis der neueren Mediaevistik als gravierend angesehen und oftmals zu einer epochalen Zäsur stilisiert worden.131 Für Hans Blumenberg bezeichnet das Verurteilungsdokument mitsamt seiner Fürsprache für die Pluralität der Welten »genau den Zeitpunkt, in dem der Vorrang des Interesses an der Rationalität der Schöpfung und ihrer humanen Intelligibilität umschlägt in die spekulative Faszination durch das theologische Prädikat der absoluten Macht und Freiheit«.132 Das bedeutet nicht weniger als die »Wendung der Scholastik gegen ihre aristotelische Integration«133 und somit die Preisgabe der klassischen Kosmosmetaphysik als eines »Regulativs von Aussagen über die göttliche Macht«.134 Blumenbergs Deutung ist inspiriert von Grant McColley, der die These vorgelegt hatte, seit der Verurteilung von 1277 habe die Macht Gottes die Physik des Aristoteles überschattet.135 Es ist eben diese diagnostizierte Zäsur im rezipierten Aristotelismus, die jenen Neuanfang einer nacharistotelischen Physik 128 129
These 32 (ed. H. Denifle, 545): »Quod intellectus est unus numero omnium …« These 27 (ed. H. Denifle, 545): »Quod Deus non posset facere plures animas in numero.« 130 These 34 (ed. H. Denifle, 545). 131 Vgl. E. Grant, »The effect of the condemnation of 1277«, in: N. Kretzmann/ A. Kenny/J. Pinborg (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 537–539. 132 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 179. 133 H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1975, 555. 134 Ebd., 194. 135 Vgl. G. McColley, »The Seventeenth-century Doctrine of a Plurality of Worlds«, in: Annals of Science 1 (1936), 385–430. Für McColley ist die Verurteilung von 1277 »one of the most interesting events recorded in history«, da sie die theologischen Allmachtsspekulationen freisetzte und den scholastischen Aristotelismus zurückdrängte: »With Saint Bonaven-
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
provozierte, den Pierre Duhem konstatiert: Das Pariser Verurteilungsdokument ist für ihn die »Geburtsstunde der modernen Naturwissenschaft«.136 Derartige Bemessungen des geistesgeschichtlichen Stellenwertes der Verurteilung von 1277 greifen nur dann nicht zu hoch, wenn dieses Ereignis nicht als eine voraussetzungslose Zäsur, sondern vielmehr als eine Verfestigung einer problemgeschichtlichen Tendenz begriffen wird. Der theologische Voluntarismus, der sich nicht zuletzt gegen den metaphysischen Nezessitarismus Avicennas formierte, verteidigte die biblisch verbürgte Auffassung vom freien Willen Gottes. Der Konflikt mit dem scholastischen Aristotelismus war also unausweichlich. Auch in seiner historischen Strahlkraft darf das Verurteilungsdokument nicht unterschätzt werden: Noch knapp zwei Jahrzehnte später, 1296, fordert Gottfried von Fontaines die Korrektur einiger Verurteilungen, wobei es ihm ausdrücklich auch um eine Rehabilitierung des in einigen Thesen mitbetroffenen Thomismus geht.137 Die Autorität der Verurteilung war so groß, daß noch 1325 die dem Thomismus nahen Thesen vom Pariser Bischof Stephanus de Borreto eigens aufgehoben wurden, nachdem Thomas 1323 heilig gesprochen worden war.138 Die These, daß es Gott unmöglich sei, mehrere Welten zu schaffen, war nicht darunter. Der Gedanke einer möglichen Pluralität der Welten blieb akut. Dabei berührte er den Aspekt der Perfektibilität der Welt. Augustinus hatte durch seine antignostische Restauration des Ordnungsgedankens die unbedingte Bonität der Welt für das Mittelalter verbindlich vorgeschrieben. Zwar ist alles Seiende nur ein verweisendes Abbild seines Ursprungs, aber die Welt als Welt ist die beste, die Gott hat schaffen können. So betont Augustinus gegenüber den Manichaeern, das einzelne sei gut (bona), alles zusammen aber sei sehr gut (valde bona), weil aus allem zusammen die bewundernswürdige Schönheit des Alls bestehe.139 Für Duns Scotus gilt bereits die Deckungsgleichheit von Schöpfungspotenz und -realisation nicht mehr, wenn er der Frage nachgeht, ob Gott sowohl andere Welten als auch eine bessere als die bestehende hätte machen
ture and Richard of Middleton, as with Etienne Tempier and Henry of Ghent, the power of God definitely overshadows the physics of Aristotle.« (399 f.) 136 P. Duhem, Études sur Léonard de Vinci II, Paris 1955, 412: »S’il nous fallait assigner une date à la naissance de la Science moderne, nous choisirions sans doute cette année 1277 où l’Évêque de Paris proclama solennellement qu’il pouvait exister plusieurs Mondes …« 137 Gottfried von Fontaines, Quodlibet XII, qu. 5 (ed. J. Hoffmans, 100–105). Thomas von Aquin wird ausdrücklich erwähnt, dessen Lehre aufgrund der von Gottfried genannten Artikel zu Unrecht in sehr schlechtem Ruf gerate (102). 138 Vgl. A. Maier, »Der Widerruf der ›Articuli Parisienses‹ (1277) im Jahr 1325«, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 38 (1968), 13–19. 139 Augustinus, Enchiridion ad Laurentium sive de fide, spe et charitate I, cap. 10 (PL 40, 236): »… sed tamen bona etiam singula: simul vero universa valde bona; quia ex omnibus consistit universitatis admirabilis pulchritudo.«
§ 12 Die Pluralität der Welten als Ausdruck der Kontingenz
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können.140 Der Gedanke lag nahe: Wenn Gott mehrere Welten schaffen kann, wie es das Verurteilungsdokument von 1277 eindrucksvoll vorgab, dann ist es nicht zwingend, daß die verschiedenen Welten nur numerisch, aber nicht qualitativ unterschieden sind. Das mittelalterliche Denken war zu sehr von dem Modell der Seinsstufung bestimmt, als daß die Egalität verschiedener Welten nahelag. Die bloß numerische Pluralität der Welten unter Beibehaltung einer identischen Struktur und Güte wäre gleichsam die sofortige Depotenzierung der erschlossenen Denkmöglichkeit. Die Preisgabe der Singularität der Welt als Konsequenz ihrer optimalen Verfassung ermöglichte dagegen den ungeheuren Gedanken eines Qualitätsgefälles, das die bekannte Welt zu ihren Ungunsten betraf. So ist es auch für Wilhelm von Ockham, der den theologischen Voluntarismus zum Ausgangspunkt seines Nominalismus machte, fast schon selbstverständlich, daß Gott aufgrund seiner Allmacht eine bessere Welt hätte schaffen können.141 Zur Illustration beruft er sich zunächst auf Augustinus und Petrus Lombardus, die die Meinung vertreten hätten, Gott könne einen Menschen ohne Neigung zur Sünde geschaffen haben.142 Zu diesem Ergebnis kommt er auch aufgrund eigener Überlegungen – die Konsequenz ist immerhin, daß es den Menschen als eine von der bestehenden unterscheidbaren Spezies Mensch geben könnte.143 Auch wenn die im Spätmittelalter reformulierte Tradition, eine Pluralität der Welten denken zu wollen, hinsichtlich des Aspekts nicht eindeutig war, ob allein eine numerische Pluralität bei einer Identität ihrer Logizität angenommen werden sollte oder nicht, war mit ihr der ontologische Seinsstillstand für die Neuzeit aufgehoben. Der frühe Kant wird fragen, »ob nicht unter allen möglichen Welten eine Steigerung ohne Ende in den Graden der Vollkommenheit anzutreffen sei, da gar keine natürliche Ordnung möglich ist, über die nicht noch eine vortrefflichere könne gedacht werden«.144 Die Infragestellung der Güte der bestehenden Welt ist die Kehrseite des Gedankens ihrer Kontingenz.
140
Vgl. Johannes Duns Scotus, Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 44, qu. 1 (ed. Wadding X, 744–751). 141 Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 44, qu. 1 (Opera theologica IV, 661): »… Deus posset facere mundum meliorem …« Vgl. A. Maurer, »Ockham on the possibility of a better world«, in: Mediaeval studies 38 (1976), 291–312. 142 Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 44, qu. 1 (Opera theologica IV, 652): »… scilicet quod potest facere mundum alium distinctum specie. Et pro illa parte videtur esse opinio Augustini et Magistri in littera qui dicit: ›Talem potuit Deus fecisse hominem, qui nec peccare posset nec vellet‹.« 143 Ebd. (Opera theologica IV, 653): »… Deus potest facere individuum alterius speciei quam fecit …« 144 I. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (Akademie-Ausgabe II, 153).
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
§ 13 Kontingenz statt Zufall Die problemgeschichtliche Skizze einer möglichen Genealogie des Kontingenzbegriffs hat, ohne auf Vollständigkeit zielen zu können, deutlich zu machen versucht, warum als Hintergrund der frühneuzeitlichen Konsolidierungsprozesse nachmittelalterlicher Rationalismen und Empirismen sorgfältig zwischen Kontingenz und Zufälligkeit unterschieden werden sollte. Fast und ein wenig pointiert könnte man sagen, daß der spätmittelalterlich geformte Begriff der Kontingenz mit Zufall nicht nur nichts zu tun hat, sondern vielmehr sein Gegenteil jenseits der Notwendigkeit bezeichnet. Zwar ist auch der spätmittelalterliche Kontingenzbegriff nicht gänzlich frei von Konnotierungen, die dem Phänomen des grundlosen Zufalls Rechnung tragen – etwa die übernommene Lehre von den Akzidenzien –, aber den Kern der Theorie von der Kontingenz bildet ein Voluntarismus, der Kontingenzen hervorbringt. Kontingenz ist nicht das Resultat eines blinden Zufalls, sondern eines frei wählenden und nicht determinierten Willens. Am Willen Gottes paradigmatisch durchdacht, wird die Welt überhaupt zu etwas Kontingentem. Nur auf diese Weise konnte der Modalität der Kontingenz ihre systematische Randständigkeit genommen werden. Auch dort, wo spekulationswillige Voluntarismen die kontingente Entscheidung aufgrund ihrer Uneinsehbarkeit im Resultat für den Betrachter zu einem zufallsgleichen Ereignis zu machen scheinen, ist noch nicht jene Zufälligkeit systematisch erreicht, für die die Metapher des ›blinden Zufalls‹ steht. Die niemals aufgegebene Grundannahme der Bonität Gottes ließ noch einen Dezisionismus zu einem zwar unverstehbaren, aber doch nicht grundlos zufälligen Akt des göttlichen Willens werden. Solange ein frei über seine Möglichkeiten verfügender Wille hinter der Kontingenz steht, ist sie nicht völlig grundlos. Der Kontingenzbegriff hat sich somit in schwer abgrenzbarer Weise zum Begriff der Möglichkeit entfaltet. Alles kontingente Seiende ist eine Mischung aus Potentialität und Aktualität: Omne ens contingens est compositum ex potentia et actu.145 Schon Boethius unterscheidet nicht zwischen Kontingenz und Möglichkeit, da beides dasselbe bezeichne,146 und noch Thomas von Aquin verwendet die Begriffe Kontingenz und Possibilität in gleichlautenden Formeln.147 Vom Zufall ist also im späten Mittelalter und noch bis weit in die Neuzeit hinein kaum die Rede. Der schwer zu bestimmende und eine eigene Studie erfor145
Diesen scholastischen Standardsatz führt Marha Freundlieb in ihrer Studie zur Entwicklung des Kontingenzbegriffes, a. a. O., 20, an. 146 Boethius, In librum Aristotelis ΠΕΡΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑΣ , ed. sec., V, cap. 12 (ed. C. Meiser II, 382): »… contingere esse et possibile esse idem significat …« 147 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 86, art. 3 (ed. Leonina V, 351): »… contingens est quod potest esse et non esse …«; Sententia super Metaphysicam IX, lect. 3, n. 17 (ed. R. Busa IV, 474): »… sicut dicimus illa possibilia quae contingunt esse et non esse …«
§ 13 Kontingenz statt Zufall
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dernde Übergang vom Kontingenz- zum Zufallsbegriff markiert auf prägnante Weise die Differenz, die zwischen den gegenwärtigen Zufallsreflexionen und dem ihnen vorausliegenden Kontingenzbewußtsein beschriebener Art liegt. Wenn Jaques Monod das evolutive Naturgeschehen als eine Dynamik zwischen den Polen von Notwendigkeit und Zufall beschreibt und die konstitutive Funktion des Zufalls bei evolutiven Entwicklungsschritten in die Metapher vom »roulette de la nature«148 faßt, wird die Distanz zum spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis ebenso deutlich, wie wenn Freud die moderne Allgegenwart des Zufälligen lakonisch in die Einsicht kleidet, »daß eigentlich alles an unserem Leben Zufall ist, von unserer Entstehung an durch das Zusammentreffen von Spermatozoon und Ei, Zufall, der darum doch an der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit der Natur seinen Anteil hat, bloß der Beziehung zu unseren Wünschen und Illusionen entbehrt«.149 Aus dem skizzierten Bewußtsein einer voluntativ erzeugten Kontingenz heraus hätten diese Positionen so nicht formuliert werden können. Nicht von ungefähr stand der Begriff des Zufalls bis weit in die Neuzeit hinein in Mißkredit. »Zufall aber bleibt verhaßt«,150 heißt es bei Goethe, und Hegel – oder sollte man genauer sagen: gerade Hegel – hat darauf insistiert, die philosophische Betrachtung habe »keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen«.151 Der Zufall ist eine Zumutung, mehr noch: »das Wort Zufall ist Gotteslästerung«,152 wie es bei Lessing heißt. Wie mühsam der Begriff des Zufalls auch in der empirischen Naturwissenschaft Fuß faßte, mag man – gerade in Erinnerung an Jaques Monods exemplarischer Herausstellung der Zufalls in der Evolution – daran ablesen, daß sich Darwin, nachdem er die Gesetzmäßigkeit der Abänderung von Arten beschrieben hat, darauf hinweist, er habe »bisher manchmal so gesprochen, als ob die Variationen … auf einen Zufall zurückzuführen wären. Dies ist natürlich eine völlig inkorrekte Ausdrucksweise, aber sie dient dazu, einfach unsere Unwissenheit
148
J. Monod, Le hasard et la nécessité. Essai sur la philosophie naturelle de la biologie moderne, Paris 1970, 138. 149 S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (Gesammelte Werke VIII, 210). 150 J. W. v. Goethe, Pandora, Vers 828 (Weimarer Ausgabe I 50, 335). 151 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte I: Die Vernunft in der Geschichte, Leipzig 1944, 5. Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, daß Hegels Verhältnis zum Zufall trotz dieser rigiden Absage zu differenzieren ist: Hegels Philosophie sei die einzige philosophische Theorie, »die den Begriff des absoluten Zufalls kennt«, indem die Notwendigkeit sich ihre Bedingungen selbst als zufällige setzt. Vgl. D. Henrich, »Hegels Theorie über den Zufall«, in: Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 31981, 157–186, hier 159,163. 152 G. E. Lessing, Emilia Galotti, vierter Aufzug, dritter Auftritt (ed. G. Göpfert II, 181).
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
über die Ursache jeder besonderen Abweichung anzuerkennen.«153 Die Reserviertheit gegenüber der Annahme grundloser Zufälligkeit spiegelt gleichsam die Grundkonstellation des theologischen Voluntarismus unter naturwissenschaftlichen Bedingungen: Den Grund nicht zu kennen, bedeutet noch lange nicht, dem Zufall Terrain zu überlassen. Daher heißt es auch in Wilhelm Traugott Krugs Handbuch der Philosophie von 1828: »Daß es in der Welt keinen Zufall giebt (in mundo non datur casus), d. h. daß alles, was in der erkennbaren Natur geschieht, von gewissen Ursachen abhangt, welchen Satz man auch kurz so ausdrücken kann: Nichts von ungefähr. Weil wir aber den ursachlichen Zusammenhang der Dinge nicht überall einsehn, so erscheint uns manches als ein Ungefähr oder ein Zufall …, was doch kein bloßes Ungefähr oder blinder Zufall (casus purus putus) sein kann.«154 Am ehesten könnte man in der frühen Neuzeit dem wiedererwachenden Atomismus eine moderne Präsenz des Zufallsbegriffs zuzuschreiben versucht sein. Aber auch die Wiederkehr des antiken Epikureismus verhalf dem reinen Zufall keinesfalls zu seiner heutigen Prägnanz und Selbstverständlichkeit. Bei allem Reiz, mit dem Atomismus ein Paradigma mechanischer Naturprozesse und einen Prototyp eines Materialismus in den Händen zu halten, schreckte man vor den Konsequenzen des Zufalls doch zurück. Die Encyclopédie macht das Prinzip des atomistischen Zufalls geradezu lächerlich: »Das Ganze ist zufällig entstanden, das Ganze besteht weiter und die Arten pflanzen sich fort ebenfalls per Zufall: Das ganze wird sich eines Tages zufällig auflösen. Das ganze System läuft darauf hinaus.«155 Kurz und bündig stellt der Atomismus einen »Haufen von Absurditäten« dar, mit dessen Widerlegung sich zu beschäftigen überflüssig wäre.156 Man konnte nicht übersehen, daß er einen reinen Atheismus (un pur athéisme) implizierte und Aporien beherbergte. Aber die Rückseite dieser Kritik enthält eine nur angedeutete Faszination, mit dem Epikureismus gänzlich antiaristotelisch denken zu können. So verteidigt schon Pierre Bayle Epikur als bedeutenden
153
Ch. Darwin, On the Origin of Species, a Facsimile of the First Edition (1859), with an Introduction by E. Mayr, Cambridge/London 151998, 131: »I have hitherto sometimes spoken as if the variations … had been due to chance. This, of course, is a wholly incorrect expression, but it serves to acknowledge plainly our ignorance of the cause of each particular variation.« 154 W. T. Krug, Handbuch der Philosophie und der philosophischen Literatur, a. a. O., Bd. I, 307 f. 155 Art. »Atomisme« (Formey), in: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, ed. D. Diderot & J. le Rond d’Alembert, 35 Bde., Paris 1751–1780 (Nouvelle impression en facsimilé de la première édition: Stuttgart-Bad Cannstatt 1966), I, 823: »Le tout s’est fait par hasard, le tout se continue, & les especes se perpétuent les mêmes par hasard: le tout se dissoudra un jour par hasard: tout le système se réduit là.« 156 Ebd.: »Il seroit superflu de s’arrêter à la réfutation de cet amas d’absurdités …«
§ 13 Kontingenz statt Zufall
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Philosophen, der den Atomismus zu höchstem Ansehen gebracht habe.157 Der funktionale Wert einer Selbstbegründung durch das Zitat erklärt die Akzeptanz gegenüber dem antiken Atomismus, auch wenn er – wie bei Pierre Gassendi – zur Vermeidung der stärksten Aporien umgebaut werden mußte. Solange Gott im Spiel ist, so scheint es, kann dem Zufall keine zentrale Rolle zukommen. Es wäre daher ein durchaus plausibles, wenn auch hier nicht mehr zu entfaltendes Denkmodell, daß erst die Depotenzierung des Gottesbegriffs das Phänomen des Zufalls letztlich freisetzte. Erst im methodischen Atheismus der neuzeitlichen Naturwissenschaften etwa könnte unter Ausschluß der metaphysischen Annahme einer absoluten Erstursache der reine Zufall als Sprung in der Kette der Kausalgeschehen sichtbar werden. Erst die Enttheologisierung der Geschichte könnte dazu geführt haben, die geschichtsentscheidende Funktion des Zufalls herausgestellt haben zu können, da ihr nicht länger ein Telos innewohnt, das alles nach einem Plan göttlicher Vorsehung ablaufen läßt. Erst die postchristliche Anthropologie könnte die Bedingung der Möglichkeit darstellen, das Zufällige an der menschlichen Existenz und vielleicht den Menschen überhaupt als einen Zufall sichtbar zu machen. Daß der tatsächliche Eintritt des Zufälligen in das moderne Bewußtsein komplizierter ist und einem derartigen vereinfachten Schema nicht folgt, kann man an Pascal ablesen. Schon er stellt – genau 250 Jahre vor Freuds Leonardo-Studie von 1910 und noch als christlicher Mystiker – die Zufälligkeit der menschlichen Existenz heraus: »… und Ihr seid nur aufgrund unendlich vieler Zufälle (hasards) … überhaupt auf der Welt. Eure Geburt ergibt sich aus einer Ehe oder vielmehr aus allen Ehen derjenigen, von denen Ihr abstammt. Doch woraus ergeben sich diese Ehen? Aus einem zufälligen Besuch, aus einer Plauderei, aus tausend unverhergesehenen Gelegenheiten.«158 Läßt man einmal die rezeptionsgeschichtliche Wirksamkeit außer acht, gibt es ein alternatives Modell, wie der reine Zufall ein Gegenstand des modernen 157
So Bayle in dem Artikel über Epikur in seinem Dictionnaire historique et critique (51740) II, 366 f.: »Il mit dans une extrême réputation le Systême des atômes.« Diese Wertschätzung des epikureischen Atomismus ist alles andere als selbstverständlich. Bayle spart nicht an Kritik, etwa an der erbärmlichen Methode Epikurs, die menschliche Freiheit zu rechfertigen: »Il n’y a rien de plus pitoiable que la méthode dont Epicure se servoit pour explîquer la liberté des actions humaines.« (374 ff.) Dennoch hält er die Rehabilitierung Epikurs für notwendig. Wenn es jemals einen Grund gab, zuzugestehen, daß die Zeit am Ende der verfolgten Unschuld Gerechtigkeit widerfahren läßt, dann im Falle Epikurs: »Si jamais on a eu sujet de connoître que le tems fait enfin justice à l’innocence opprimée, c’est à l’égard d’Epicure …« (370) 158 B. Pascal, Trois discours sur la condition des Grands I (ed. L. Lafuma, 366): »… et non seulement vous … ne vous trouvez au monde, que par une infinité de hasards. Votre naissance dépend d’un mariage, ou plutôt de tous les mariages de ceux dont vous descendez. Mais d’où ces mariages dépendent-ils? D’une visite faite par rencontre, d’un discours en l’air, de mille occasions imprévues.«
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III. Die Genese des spätmittelalterlichen Begriffs der Kontingenz
Bewußtseins geworden sein könnte: Es war denkbar geworden, daß es den Zufall gibt, weil Gott will, daß es ihn gibt. Nikolaus von Kues hat diese Steigerung des spätmittelalterlichen Kontingenzdenkens bis zu dem Moment der Freisetzung reiner Zufälligkeit in seinem Globusspiel angedeutet. Wirft man eine Handvoll Erbsen mit einem Wurf auf einen ebenen Boden, dann werden sie sich so verhalten, daß keine Erbse sich in gleicher Weise bewegt oder ruht wie die andere, und daß der Ort und die Bewegung bei einer jeden anders ist, dennoch stammt die Andersartigkeit und Verschiedenheit nicht von dem, der alle Erbsen gleichzeitig in gleicher Weise wirft, sondern es ergibt sich so (sed ex contingenti), da es nicht möglich ist, daß sie sich in gleicher Weise bewegen oder an demselben Ort stillstehen.159 Das ließ sich auf die Welt übertragen: Gott entwirft eine Welt, die in sich nicht determiniert ist. Er erschafft alles, auch die Dinge, die anders werden können und veränderlich und vergänglich sind; dennoch schafft er nicht die Andersheit und die Veränderlichkeit und die Vergänglichkeit.160 Das Bild des Cusaners, die Handvoll hingeworfener Erbsen, enthält den Inbegriff des Zufalls, da es das voluntative Moment an den Rand drängt. Es gibt den Zufall in der Welt, da Gott will, daß es in ihr den Zufall gibt. Gott würfelt nicht, aber er läßt würfeln.
159
Nikolaus von Kues, Dialogus de ludo globi II, n. 81 (Opera omnia IX, 100): »Sicut enim plura pisa unica proiectione super planum pavimentum proiecta sic se habent quod nullum pisum aut moveatur aut quiescat aequaliter cum alio et alius sit locus et motus cuiuslibet, tamen illa alteritas et variatio non est a proiciente omnia simul aequaliter, sed ex contingenti, quando non est possibile ipsa aequaltiter moveri aut eodem in loco quiescere.« 160 Ebd. (Opera omnia IX, 99): »Omnia creat Deus, etiam quae alterabilia et mutabilia et corruptibilia; tamen alteritatem et mutabilitatem et corruptionemve non creat.«
IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
§ 14 Kontingente Notwendigkeit Ein wirkungsgeschichtlicher Reiz der cartesischen Philosophie besteht in der vermeintlichen Freiheit, sie nicht immer beim Wort nehmen zu müssen. Die Lizenz des interpretatorischen Spielraums setzt dabei voraus, Descartes habe nicht immer gesagt, was er meine. Dafür gibt es durchaus anführbare Belege. In den – allerdings erst Leibniz zugänglichen – privaten Aufzeichnungen spricht Descartes davon, er trete im Welttheater seiner Zeit nur in der Maske auf.1 Das deckt sich mit dem Motto, das er – Ovid zitierend – in einem Brief Mersenne mitteilt, der habe gut gelebt, der sich gut verborgen habe: benè vixit, benè qui latuit.2 Descartes wird somit zu einem sich verbergenden Akteur auf der Bühne der Welt.3 Für das Reflektieren des Zusammenhangs von Kontingenz und cartesischer Rationalität ist das Motiv der Maskierung insofern bedeutsam, als daß von seiner Einschätzung die Möglichkeit des Einflusses des Kontingenzgedankens auf den Cartesianismus abhängt. Die Wirksamkeit des spätmittelalterlichen Kontingenzbegriffs hat die Präsenz eines voluntaristischen Gottesbegriffs zur Voraussetzung, die eben angenommen werden muß, will man jene Kontingenz, die mit dem reinen Zufall noch nicht deckungsgleich ist, auf die Genese der cartesischen Rationalität beziehen. Nun gibt es aber Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Äußerungen Descartes’ über seinen Gottesbegriff. Auch dies ist nicht ohne Grund, und ein skeptischer Vorbehalt, Descartes hier beim Wort zu nehmen, kann Argumente anführen. So wird das Ziel der cartesischen Metaphysik in den Meditationes de prima philosophia uneindeutig, wenn man sich Descartes’ taktierende Überlegungen vor Augen führt, die er Mersenne offenbart. Er bittet Mersenne,
1
Cogitationes (AT X, 213): »Vt comoedi, moniti ne in fronte appareat pudor, personam induunt: sic ego, hoc mundi theatrum conscensurus, in quo hactenus spectator exstiti, larvatus prodeo.« 2 Brief an Mersenne, April 1634 (AT I, 286). Vgl. Ovid, Tristia III, 4a, 25 (ed. J. B. Hall, 99): »crede mihi, bene qui latuit, bene uixit«. 3 Martin Euringer geht in seinem Buch Zuschauer des Welttheaters. Lebensrolle, Theatermetapher und gelingendes Selbst in der Frühen Neuzeit (Darmstadt 2000, 188 f.) sogar so weit, über Descartes zu behaupten, »daß gerade das bewußte Betrachten des Welttheaters ihn zu der Schaffung seiner Philosophie bringt«, da er sich in die Distanz einer Zuschauerposition flüchten und die Rolle des Akteurs aufgeben wolle.
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
bis zum Erscheinen der Meditationes über seine weiteren Buchpläne zu schweigen, in denen er »ohne irgendein überflüssiges Gerede«4 und »zusammen mit den wahren Gründen«5 die Prinzipien seiner Philosophie vorlegen werde. Darüber voreilig zu reden, hält er für prekär, solange er die offizielle Anerkennung seiner Meditationes nicht hat: »Das könnte auch vielleicht die Genehmigung der Sorbonne verhindern, die ich wünsche und die, wie mir scheint, meinen Absichten äußerst nützen kann: Denn ich will Ihnen sagen, daß dieses bißchen Metaphysik, das ich Ihnen schicke, alle Prinzipien meiner Physik enthält.«6 Geht es Descartes – angesichts der prekären publizistischen Situation von Le Monde nach der Verurteilung Galileis – also im Kern um die Vorbereitung einer Akzeptanz seiner Physik, für die er ›dieses bißchen Metaphysik‹ vorlegt? Und wäre damit der cartesische Gottesbegriff systematisch depotenziert? Gibt es bei ihm nur vorgetragene neben den wahren Gründen? Gilt dies auch für seinen Gottesbegriff ? Immerhin ist die Präsenz des Gottesbegriffs in der cartesischen Philosophie nicht zu übersehen. Sogar seine voluntaristische Bestimmtheit scheint unverkennbar. Die Meditationes beziehen ihre kognitive Dynamik ja gerade aus dem Leitmotiv eines allmächtigen und möglicherweise die menschliche Vernunft täuschenden Gottes. Descartes erläutert dies an einem einfachen Rechenbeispiel: Zunächst scheint es sicher zu sein, daß 2 + 3 = 5 sind, ganz gleich, ob wir schlafen oder wachen. Stellt man die göttliche Allmacht in Rechnung, wird dagegen fraglich, ob Gott nicht bewirken kann, daß 2 + 3 mehr oder weniger als 5 sind.7 Descartes befreit sich aus dieser für die Sicherung seines cogito methodisch wichtigen Reflexion des Möglichen durch einen traditionellen Verweis auf die Güte Gottes: Gott kann nicht täuschen und betrügen wollen, da es eine Unvollkommenheit in ihn hineintragen würde.8 Gott wird als ens perfectissimum zum Garanten der Wahrheit und seine Allmacht zur Motivation des hypothetischen Zweifels, den überwunden zu haben die Leistung der Entfaltung der Idee Gottes sein soll. Trotz einer Argumentation, die der Raffinesse nicht entbehrt, erscheint Descartes’ Gottesbegriff in den Meditationes dennoch hochgradig funktionalisiert und eigentümlich blaß. Bereits der Kunstgriff, daß es im Fortgang des metho-
4
Brief an Mersenne, 11. November 1640 (AT III, 233): »… sans aucune superfluité de discours …« 5 Ebd. (AT III, 233): »… auec les vrayes raisons …« 6 Ebd. (AT III, 233): »Cela pourroit aussi peutestre empescher l’approbation de la Sorbonne, que ie desire, & qui me semble pouuoir extremement seruir à mes desseins: car ie vous diray que ce peu de Metaphysique que ie vous enuoye, contient tous les Principes de ma Physique.« 7 Vgl. Meditationes I (AT VII, 20) und III (AT VII, 35 f.). 8 Meditationes IV (AT VII, 53): »In primis enim agnosco fieri non posse ut ille me unquam fallat; in omni enim fallaciâ vel deceptione aliquid imperfectionis reperitur …«
§ 14 Kontingente Notwendigkeit
101
dischen Zweifels nicht dem möglicherweise täuschenden Gott, sondern dem eigens eingeführten genius malignus obliegt, die Verunsicherung der Vernunft zu forcieren, kommt einer scheinbaren Depotenzierung eines theologischen Voluntarismus gleich. Die für den methodischen Zweifel angeführte Allmacht Gottes scheint in dem Modus eines nicht ganz ernst genommen Zitats der Tradition eingeführt worden zu sein. Es ist daher auf den ersten Blick keinesfalls abwegig, die Bedeutung des Gottesbegriffs für die Konstituierung der cartesischen Subjektivität und Wissenschaft zu marginalisieren oder grundsätzlich in Frage zu stellen. Hiram Caton charakterisiert daher Descartes’ theologische Standpunkte als von der Tradition (old opinion) abhängig, die er durch seine Lehrer kennengelernt habe. Von ihr hebe sich die cartesische Wissenschaft ab, indem Descartes eine vollständige Trennung dieser ›alten Lehrmeinung‹ von den Erfordernissen der neuen Wissenschaft vollziehe.9 Der konstitutive Einfluß der theologischen Grundannahmen Descartes’ auf die von ihm entworfene Wissenschaft wird bei dieser Interpretation geleugnet. Die Reflexionen der Möglichkeiten eines allmächtigen Gottes werden zu einem metaphysischen Problem, von dem es sich allein abzusetzen gilt. Tatsächlich ist die Präsenz des Gottesbegriffs im Cartesianismus mehr als ein nur nicht konsequent überwundener Restbestand überholter Scholastizität. Man darf sich durch die rhetorische Souveränität nicht täuschen lassen, mit der Descartes in den Meditationes die kognitive Unruhe, ob für Gott mathematische Wahrheiten variabel und disponibel sind, entschärft. Franz Brentano hat dies nicht nur klar und deutlich gesehen, sondern zugleich den problemgeschichtlichen Referenzpunkt benannt, wenn er in seinem Vorlesungsmanuskript über die Geschichte der Philosophie der Neuzeit Descartes’ Überlegungen zur Allmacht Gottes resümiert: »… selbst die mathematischen Wahrheiten macht er vom Willen Gottes abhängig. Es wäre Gott möglich gewesen, zu machen, daß der Satz ›Alle Radien eines Kreises sind gleich‹ unwahr wäre. (Nominalismus).«10 Diese Einschätzung ernst nehmen zu müssen, mag überraschen. Sie widerspricht der Grundannahme, daß logische Wahrheiten für die Vernunft verbindliche rationale Konstanten darstellen, ganz gleich, ob es sich um den humanen oder den göttlichen Intellekt handelt. Schon Platon zitiert das Sprichwort, selbst ein Gott kämpfe nicht mit der Notwendigkeit.11 Die Geltung mathematischer Wahrheiten impliziert einen universalen Anspruch, der auch von der göttlichen Allmacht nicht tangiert werden kann. Spinoza erklärt die Annahme für wider9
H. Caton, The Origin of Subjectivity. An Essay on Descartes, New Haven/London 1973,
116 ff. 10
F. Brentano, Geschichte der Philosophie der Neuzeit, aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von K. Hedwig, Hamburg 1987, 16 f. 11 Platon, Nomoi Z 818 a–b.
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
sinnig, Gott könne bewirken, daß aus der Natur des Dreiecks nicht folge, daß dessen drei Winkel zwei rechten Winkeln gleich sind.12 Auch Malebranche widerspricht Descartes’ Überlegungen zur Relativierung ewiger Wahrheiten durch die Allmacht Gottes,13 und Leibniz weist die cartesische Position geradezu empört zurück: »Es scheint, daß Herr Descartes sich nicht genügend über die Natur der Freiheit ausließ, und daß er einen reichlich ungewöhnlichen Begriff von ihr hatte, daß er ihm eine so weite Erstreckung gab, daß selbst die Bejahungen der notwendigen Wahrheiten (vérités nécessaires) freie Handlungen Gottes sein sollten.«14 Die Pointe oder die Zumutung der cartesischen Position besteht für Leibniz nicht darin, notwendige Wahrheiten als von Gott abhängig zu begreifen, sondern sie als von seinem Willen abhängig zu sehen: »Man darf sich indessen nicht, wie einige Philosophen, einbilden, daß die ewigen Wahrheiten (verités éternelles), da sie von Gott abhängen, willkürlich und von seinem Willen abhängig sind, wie Descartes und später Poiret angenommen zu haben scheinen. Das gilt nur von den kontingenten Wahrheiten (verités contingentes), deren Prinzip die Angemessenheit oder die Wahl des Besten ist, während die notwendigen Wahrheiten einzig von seinem Verstande abhängen und dessen innerer Gegenstand sind.«15 Wenn die ewigen Wahrheiten vom göttlichen Intellekt abhängen, ist ihre metaphysische Notwendigkeit aufweisbar, da sie selbst für den göttlichen Intellekt verbindlich sind. Sie sind gleichsam der Inbegriff der Vernünftigkeit. Der göttliche Wille ist solange kein Problem, wie er dem Intellekt untergeordnet bleibt und er nur wollen kann, was der Intellekt ihm als vernünftig vorgibt.
12
B. de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata I, prop. XVII, schol. (ed. C. Gebhardt II, 61 f ). 13 Vgl. A. Le Moine, Des vérités éternelles selon Malebranche, Paris 1936. 14 G. W. Leibniz, Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal II § 186 (Philosophische Schriften, Bd. 2.1, 536): »Il paraît que M. Descartes ne s’expliquait pas assez sur la nature de la liberté et qu’il en avait une notion assez extraordinaire, puisqu’il lui donnait une si grande étendue, jusqu’à vouloir que les affirmations des vérités nécessaires étaient libres en Dieu.« Zu Leibniz’ Kritik an Descartes vgl. L. Devillairs, Descartes, Leibniz. Les vérités éternelles, Paris 1998, 102 ff.; vgl. auch I. Hacking, »Leibniz and Descartes: Proof and Eternal Truths«, in: A. Kenny (Hg.), Rationalism, Empiricism, and Idealism. British Academy Lectures on the History of Philosophy, Oxford 1986, 47–60. 15 G. W. Leibniz, Les principes de la philosophie ou la Monadologie § 46 (Philosophische Schriften, Bd. 1, 458): »Cependant il ne faut point s’imaginer avec quelques uns, que les verités éternelles étant dependantes de Dieu, sont arbitraires et dependent de sa volonté, comme Des-Cartes paroist l’avoir pris et puis Monsieur Poiret. Cela n’est veritable que des Verités contingentes dont le principe est la convenance ou le choix du meilleur, au lieu que les verités necessaires dependent uniquement de son entendement et en sont l’object interne.«
§ 14 Kontingente Notwendigkeit
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Nimmt nun Descartes den spätmittelalterlichen Voluntarismus mit seiner Betonung der Freiheit des allmächtigen Willens so ernst, daß für ihn denkbar wird, daß Gott einen Kreis schaffen kann, in dem nicht alle vom Mittelpunkt zum Kreisumfang gezogenen Linien gleich lang sind? Kann er ein Dreieck schaffen, bei dem die Summe der drei Winkel nicht 180 Grad ist? Kann er einen Berg ohne ein Tal schaffen? Kann er bewirken, daß 1 + 2 nicht 3 ergeben? Während diese Überlegungen in seinen Meditationes ganz dem methodischen Zweifel als einem hypothetischen Verdacht zu entspringen scheinen, äußert sich Descartes in einer Reihe von Briefen ausführlich und eindeutig. So schreibt er 1630 an Mersenne, er werde es in seiner Physik nicht unterlassen, verschiedene metaphysische Fragen zu berühren, besonders diejenige: »Ob die mathematischen Wahrheiten, die Sie ewige nennen, von Gott gestiftet worden sind und gänzlich von ihm abhängen, ebenso wie alles übrige Geschaffene. Es heißt in der Tat von Gott wie von einem Jupiter oder Saturn sprechen und ihn dem Styx und dem Schicksal zu unterwerfen, wenn man sagt, daß diese Wahrheiten unabhängig von ihm sind. Fürchten Sie bitte nicht, überall zu versichern und zu veröffentlichen, daß Gott diese Gesetze in der Natur eingerichtet hat, so wie ein König Gesetze in seinem Königreich stiftet.«16 Wie erläßt ein König Gesetze? Auf den ersten Blick bieten sich keine Anhaltspunkte in den Werken Descartes’, um die Analogie von göttlicher und royaler Machtausübung zu erhellen. Descartes hat keine politische Philosophie vorgelegt, da sie innerhalb seines Rationalismus keinen Ort hat. Sie würde den Bedingungen des Ideals exakter Erkenntnis nicht entsprechen. Unter den Prämissen einer provisorischen Moral folgt Descartes einem pragmatischen Konformismus, der auch seine Vorstellungen von einem nützlichen Staatswesen bestimmt. Dennoch gibt es eine Spur, die zu verfolgen die angeführte Analogie nahelegt. In seinem Briefwechsel mit der Prinzessin Elisabeth von Böhmen kommt Descartes auf Machiavelli zu sprechen. Der Tenor seines Kommentars zum Principe ist zunächst ablehnend.17 So mißbilligt er etwa Machiavellis Maxime,
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Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 145): »Mais ie ne laisseray pas de toucher en ma Physique plusieurs questions metaphysiques, & particulieremant celle-cy: Que les verités mathematiques, lesquelles vous nommés eternelles, ont esté establies de Dieu & en dependent entieremant, aussy bien que tout le reste des creatures. C’est en affait parler de Dieu comme d’vn Iuppiter ou Saturne, & l’assuiettir au Stix & aus destinees, que de dire que ces verités sont independantes de luy. Ne craignés point, ie vous prie, d’assurer & de publier par tout, que c’est Dieu qui a establi ces lois en la nature, ainsy qu’vn Roy establist des lois en son Royausme.« 17 Vgl. den Brief an Elisabeth, September 1646 (AT IV, 485–493). Zu Beginn dieses Briefes schreibt Descartes, er habe den Principe auf Wunsch Elisabeths gelesen. Die Befragung der Analogie von göttlicher und royaler Macht, wie er sie 1630 formuliert, durch einen Seitenblick auf Machiavelli setzt also die Annahme voraus, daß Descartes’ Affinität zu
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
ein Fürst müsse, wenn er sich behaupten wolle, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und er müsse diese Fähigkeit anwenden oder nicht, je nach den Erfordernissen der Notwendigkeit.18 Machiavellis Fürst ist ein gleichsam allmächtiger Herrscher, der – an moralische Maximen nicht gebunden – angesichts der Krise des Staatswesens im Ausnahmezustand eines Neubeginns die Grundlagen für eine spätere Republik legt. Descartes schreckt vor der Amoralität unbedingter Macht zurück, kann sich aber gleichzeitig der Faszination ungebundener Macht nicht entziehen. Die Gerechtigkeit habe unter Herrschern andere Grenzen als unter Privatleuten, führt er aus, und Gott gebe denen recht, denen er die Macht verleiht.19 So erkennt er in Machiavellis allgemeinen Maximen (maximes genérales) den Versuch, Cesare Borgia und dessen besondere Handlungen (actions particulieres) zu rechtfertigen.20 An Machiavellis Discorsi sopra la prima deca ti Tito Livio habe er »nichts Schlechtes bemerkt«, und dessen prinzipielle Vorschrift, seine Feinde gänzlich auszurotten oder aber sie sich zu Freunden zu machen, ohne jemals dem Mittelweg zu folgen, sei zweifellos das Sicherste, wenn man aber keinen Anlaß zur Furcht habe, nicht das Großmütigste.21 Hier scheint jener Rigorismus durch, je nach der Notwendigkeit und Beschaffenheit der Zeit (necessitas & qualitas temporis) und aufgrund einer eingetretenen Ausnahmesituation eine von den herkömmlichen, institutionellen oder moralischen Zwängen befreite Machtausübung zum Zuge kommen zu lassen, wie er seit Aegidius Romanus’ Traktat De ecclesiastica potestate, entstanden um 1302, diskutiert wurde. Aegidius hatte – angesichts des Streits um die Vorherrschaft der päpstlichen oder der kaiserlichen Gewalt – dem Papst eine Vorrangstellung nicht nur in der Kirche zugesprochen, sondern ihn als höchsten Hierarchen (summus hierarcha) auf Erden bezeichnet. Entscheidend ist die Rechtfertigung der plenitudo potestatis durch die Analogie von göttlicher und päpstlicher Macht: So wie Gott über eine ordinierte und eine absolute Macht verfügt (potentia ordinata &
einigen Aspekten einer poltischen Theorie des Souveräns bereits vor der Lektüre des Principe ausgebildet war und in ihr eher einen späten Ausdruck fand. 18 N. Machiavelli, Il Principe XV (Tutte le opere, 280): »Onde è necesario a uno principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono, e usarlo e non l’usare secondo la necessità.« 19 Brief an Elisabeth, September 1646 (AT IV, 487): »… car la iustice entre les Souuerains a d’autres limites qu’entre les particuliers, & il semble qu’en ces rencontres Dieu donne le droit à ceux ausquels il donne la force.« 20 Brief an Elisabeth, November 1646 (AT IV, 531). 21 Ebd. (AT IV, 531): »… & i’ay lû depuis ses discours sur Tite-Liue, où ie n’ay rien remarqué de mauuais. Et son principal precepte, qui est d’extirper entierement ses ennemis, ou bien de se les rendre amis, sans suiure iamais la voye du milieu, est sans doute tousiours le plus sur; mais, lors qu’on n’a aucun suiet de craindre, ce n’est pas le plus genereux.«
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absoluta) und er daher manchmal in den natürlichen Lauf der Dinge eingreifen kann, um Wunder zu bewirken, habe auch der Papst die Macht, unabhängig von bestehenden Ordnungsvorstellungen absolute Macht auszuüben.22 Eine Deutung der Analogie, daß Gott die ewigen Wahrheiten so eingesetzt hat wie ein König Gesetze in seinem Reich stiftet, darf also die Präsenz der Idee eines absoluten Souveräns voraussetzen. Der Gebrauch dieser uneingeschränkten Souveränität ist situativ legitimiert: Grundsätzlich hat sich der Herrscher an Vorgaben der Gerechtigkeit, der Moral, der Religion oder der metaphysischen Ordnung des Politischen zu halten – darauf beharrt Descartes. Wenn es die Situation aber erfordert, darf er maßlos sein, wie bei der akzeptierten Ausrottung der Feinde, wenn man sie nicht zu Freunden machen kann. Die Souveränität des Willens ist in dieser Situation entscheidend. So kann Descartes formulieren, ein König besitze mehr Majestät, wenn er von seinen Untertanen in weniger vertrauter Weise gekannt werde, vorausgesetzt jedoch, daß sie deswegen nicht glauben, ohne König zu sein, und daß sie ihn genügend kennen, um nicht an ihm zu zweifeln.23 Ist man von der grundsätzlichen Güte des Herrschers überzeugt, braucht man seine souveräne Entscheidung nicht zu verstehen. Descartes hält also behutsam an dem traditionellen Ideal der Sittlichkeit der Machtausübung fest, wie es die Fürstenspiegel bis zu Thomas von Aquin formuliert hatten, ohne sich der modernen Idee souveräner Macht zu verschließen. Ist für den weltlichen Herrscher die situative Souveränität gegenüber dem Sittengesetz der Präzedenzfall für die Bestimmung seiner Machtfülle, ist es für Gott seine Unabhängigkeit von den Notwendigkeiten ewiger Wahrheiten. Daher schreibt Descartes an Mersenne: »Man wird ihnen sagen, daß wenn Gott diese Wahrheiten gestiftet hätte, er sie würde ändern können wie ein König seine Gesetze; worauf man mit ja antworten muß …«24 Gott kann also bewirken, daß 2 + 3 = 5 nicht immer gilt, sondern, wenn er es will, 2 + 3 = 6 sind. Macht er es? Das setzt voraus, daß Gottes Wille sich ändern kann. Descartes lenkt zunächst ein, doch die Diktion seiner Sätze verrät das Oszillieren zwischen der ordinierten und der absoluten Macht Gottes, wenn er über die ewigen Wahrheiten sagt:
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Aegidius Romanus, De ecclesiastica potestate III 9 (ed. R. Scholz, 191): »Et quamvis omnia possit, ipse tamen sic administrat res, ut eas proprios cursus agere sinat. Facit tamen Deus aliquando miraculum vel eciam miracula, ut agat preter communem cursum naturae et non agat secundum communes leges naturae inditas. Sic et summus pontifex quantum ad posse, quod est in ecclesia, habet plenitudinem potestatis et potest sine causa secunda, quod potest cum causa secunda …« 23 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 145): »… ainsy qu’vn Roy a plus de maiesté lors qu’il est moins familieremant connu de ses sugets, pourueu toutefois qu’ils ne pensent pas pour cela estre sans Roy, & qu’ils le connoissent assés pour n’en point douter.« 24 Ebd. (AT I, 145 f.): »On vous dira que si Dieu auoit establi ces verités, il les pourroit changer comme vn Roy fait ses lois; a quoy il faut respondre qu’ouy …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
»Aber ich verstehe sie als ewige und unveränderliche. – Und auf gleiche Weise urteile ich über Gott. – Aber sein Wille ist frei. – Ja, seine Macht ist unbegreiflich …«25 Was besagt es hier, Gottes Wille sei frei und unbegreiflich? Der Unbegreiflichkeit seiner freien Entscheidung entspringt jener Dezisionismus, der die markante Eigenschaft eines wahren Souveräns ist. Wir können die Größe Gottes nicht begreifen, auch wenn wir sie kennen,26 also von ihr wissen. Die Möglichkeiten der Macht Gottes entziehen sich der Einsicht durch unsere Rationalität, denn »generell können wir sicher sein, daß Gott alles machen kann, was wir begreifen können, nicht aber, daß er nicht machen könne, was wir nicht begreifen können; denn es wäre Vermessenheit zu denken, daß unser Vorstellungsvermögen einen ebensolchen Umfang habe wie seine Macht«.27 Der unbedingten Macht Gottes ordnet Descartes die Notwendigkeit ewiger Wahrheiten unter. Die Existenz Gottes ist für ihn die erste und ewigste aller Wahrheiten, die sein können, und die einzige, aus der alle anderen hervorgehen.28 Man muß also davon ausgehen, daß die ewigen Wahrheiten, »da Gott eine Ursache ist, deren Macht die Grenzen des menschlichen Verstehens überschreitet, und da die Notwendigkeit dieser Wahrheiten unsere Erkenntnis nicht übersteigt, etwas Geringeres und dieser unbegreiflichen Macht Unterworfenes sind«.29 Gott hängt also in keiner noch so subtilen Weise von ewigen Wahrheiten ab, sondern diese ganz und gar von ihm. Wie die Würde eines Königs dadurch zunimmt, daß die Souveränität seiner Entscheidung die Kriterien ihrer Einsehbarkeit hinter sich läßt, ist die Größe Gottes erst durch die Unabhängigkeit von ewigen Wahrheiten bestimmt. Mersenne muß über die Ausführungen Descartes’ verwundert gewesen sein, denn Descartes wiederholt geradezu energisch: »Was die ewigen Wahrheiten betrifft, so sage ich abermals, daß sie nur wahr 25
Ebd. (AT I, 146): »Mais ie les comprens comme eternelles & immuables. – Et moy ie iuge le mesme de Dieu. – Mais sa volonté est libre. – Ouy, mais sa puissance est incomprehensible …« 26 Ebd. (AT I, 145): »… nous ne pouuons comprendre la grandeur de Dieu, encore que nous la connoissions.« 27 Ebd. (AT I, 146): »… generalemant nous pouuons bien assurer que Dieu peut faire tout ce que nous pouuons comprendre, mais non pas qu’il ne peust faire ce que nous ne pouuons pas comprendre; car ce seroit temerité de penser que nostre imagination a autant d’estendue que sa puissance.« 28 Brief an Mersenne, 6. Mai 1630 (AT I, 150): »… car l’existence de Dieu est la premiere & la plus eternelle de toutes les veritez qui peuuent estre, & la seule d’où procedent toutes les autres.« 29 Ebd. (AT I, 150): »… que puisque Dieu est vne cause dont la puissance surpasse les bornes de l’entendement humain, & que la necessité de ces veritez n’excede point nostre connoissance, qu’elles sont quelque chose de moindre, & de sujet à cette puissance incomprehensible.«
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oder möglich sind, weil Gott sie als wahr oder möglich erkennt, daß sie dagegen von Gott nicht als insofern wahr erkannt sind, als sie etwa unabhängig von ihm wären. Und wenn die Menschen den Sinn ihrer Rede richtig verständen, würden sie niemals ohne Gotteslästerung sagen können, daß die Wahrheit von irgend etwas der Kenntnis, die Gott davon hat, vorausginge. Denn in Gott ist Wollen und Erkennen eins; derart, daß er deswegen, weil er etwas will, dieses auch erkennt, und daß allein deswegen etwas wahr ist. Man darf also nicht sagen, daß wenn Gott nicht wäre, diese Wahrheiten trotzdem wahr sein würden …«30 Die ›ewigen‹ Wahrheiten sind also von Gott eingesetzte Wahrheiten. Sie hängen nicht allein von seinem Intellekt ab, dem sie entstammen, sondern sie sind von seinem Willen abhängig. Es ist also nicht so, daß in Gottes Intellekt in einem Kreis alle vom Mittelpunkt zum Kreisumfang gezogenen Linien gleich lang sind und er dann diese notwendige Wahrheit auch will, sondern sie selbst steht seinem Willen zur Disposition. Daher ist es eine leicht zu übersehende, aber folgerichtige Konsequenz, daß Descartes in der zitierten Briefpassage, in der er das erste Mal auf die notwendigen Wahrheiten zu sprechen kommt, eingangs von den mathematischen Wahrheiten spricht, die Mersenne die ewigen Wahrheiten genannt habe: les verités mathematiques, lesquelles vous nommés eternelles.31 Erst im folgenden übernimmt Descartes diesen Sprachgebrauch, der allgemeinen Gepflogenheit entsprechend, obwohl er im strengen Sinne für ihn unpassend ist. Gott schafft die ewigen Wahrheiten – wie alle Dinge – durch dieselbe Art von Kausalität (in eodem genere causae) als wirkende und totale Ursache (vt efficiens & totalis causa).32 Die Potenz des Souveräns ist unbegrenzt und uneingeschränkt. Gibt es eine Limitierung seiner Macht in dem Sinne, daß er einen Grund gehabt haben muß, die Wahrheiten zu schaffen? Findet sich in diesem Grund ein Restbestand an einer sich anempfehlenden Notwendigkeit? Mersenne fragt in diesem Sinne nach, und Descartes antwortet: »Sie fragen auch, wer Gott genötigt hat, diese Wahrheiten zu erschaffen; und ich sage, daß er ebenso frei gewesen wäre zu bewirken, daß es nicht wahr wäre, daß alle vom Mittelpunkt zum Kreisumfang gezogenen Linien gleich sind, wie dazu, die Welt nicht zu schaffen.«33
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Ebd. (AT I, 149 f.): »Pour les veritez eternelles, ie dis derechef que sunt tantum verae aut possibiles, quia Deus illas veras aut possibiles cognoscit, non autem contra veras à Deo cognosci quasi independenter ab illo sint verae. Et si les hommes entendoient bien le sens de leurs paroles, ils ne pourroient iamais dire sans blaspheme, que la verité de quelque chose precede la connoissance que Dieu en a, car en Dieu ce n’est qu’vn de vouloir & de connoistre; de sorte que ex hoc ipso quod aliquid velit, ideò cognoscit, & ideò tantum talis res est vera. Il ne faut donc pas dire que si Deus non esset, nihilominus istae veritates essent verae …« 31 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 145). 32 Brief (an Mersenne, 27. Mai 1630 ?) (AT I, 151 f.). 33 Ebd. (AT I, 152): »Vous demandez aussi qui a necessité Dieu à creer ces veritez; et ie
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Der Gedanke einer Pluralität der Welten wird von Descartes nicht in der Art vollzogen, daß er behaupten würde, es gäbe mehrere Welten, die sich nicht nur numerisch, sondern auch in ihrer Logizität unterschieden. Aber er schließt die Möglichkeit nicht aus, daß es Gott möglich wäre, eine derartige Pluralität zu schaffen. Er ist frei, die Welt zu schaffen oder nicht. Er ist also frei, die Notwendigkeiten geometrischer Formen zu variieren. Also könnte er, wenn er es wollte, verschiedene Welten mit verschiedenen ewigen Wahrheiten schaffen. Er besitzt die Freiheit dazu, denn »es ist sicher, daß diese Wahrheiten nicht notwendiger mit seinem Wesen verbunden sind als alles andere Geschaffene«.34 Alles Geschaffene ist kein Ausdruck einer inneren Notwendigkeit der göttlichen Intelligibilität, deren Vernunfthaftigkeit gleichsam von selbst zur Emanation drängt, sondern das Resultat eines dezisionistischen Akts. Für die humane Vernunft gilt daher kein analoges Verhältnis zum göttlichen Intellekt, da Gott auch das hätte wollen können, was wir nicht einmal als Möglichkeit zu denken vermögen. Diesem voluntaristisch ausgelegten Gottesbegriff ist Descartes treu geblieben. Noch in späteren Briefen verweist er auf die grenzenlose Macht Gottes, die bewirken könnte, daß die drei Winkel eines Dreiecks nicht zwei rechten gleich sind,35 oder daß Gott ein Berg ohne Tal schaffen oder bewirken könnte, daß 1 + 2 nicht 3 ergeben.36 Er stellt sich damit dezidiert gegen die Tradition, wie sie Thomas von Aquin repräsentierte. Dieser hatte in der Summa contra gentiles betont: »Da die Prinzipien bestimmter Wissenschaften wie der Logik, der Geometrie und der Arithmetik aus den reinen Formalprinzipien der Dinge herzuleiten sind, von denen das Wesen des Dinges abhängt, folgt, daß Gott das diesen Prinzipien Entgegengesetzte nicht bewirken kann: Zum Beispiel, daß die Gattung von der Art nicht aussagbar wäre, oder daß die vom Mittelpunkt zum Kreisumfang gezogenen Linien nicht gleich wären, oder daß ein geradliniges Dreieck nicht drei Winkel hätte, die zwei rechten gleich sind.«37 Für Descartes dagegen ist Gott nicht nur in der Lage gewesen, sich über die principia physica zu stellen, also gegenüber den Naturgesetzmäßigkeiten Souveränität zu beweisen, sondern auch
dis qu’il a esté aussi libre de faire qu’il ne fust pas vray que toutes les lignes tirées du centre à la circonference fussent égales, commes de ne pas creer le monde.« 34 Ebd. (AT I, 152): »… il est certain que ces veritez ne sont pas plus necessairement conjointes à son essence, que les autres creatures.« 35 Vgl. den Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 118). 36 Vgl. den Brief an Arnauld, 29. Juli 1648 (AT V, 224). 37 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, cap. 25 (ed. R. Busa II, 30): »cum principia quarundam scientiarum, ut logicae, geometriae et arithmeticae, sumantur ex solis principiis formalibus rerum, ex quibus essentia rei dependet, sequitur quod contraria horum principiorum deus facere non possit: sicut quod genus non sit praedicabile de specie; vel quod lineae ductae a centro ad circumferentiam non sint aequales; aut quod triangulus rectilineus non habeat tres angulos aequales duobus rectis.«
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über die metaphysischen bzw. logischen Prinzipien, den principia metaphysica bzw. logica.38 Die Parallelität der Beispiele belegt, daß Descartes genau um die Tradition wußte, von der er sich abwendete. Die Nähe zum Voluntarismus des theologischen Nominalismus des Spätmittelalters, die Brentano genau gesehen hat, ist für das Verständnis des Cartesianismus überraschend, aufschlußreich und erst auf den zweiten Blick offensichtlich. Wie ernst Descartes den voluntatiristisch bestimmten Gottesbegriff nimmt, kann man schon daran ablesen, wie er auf die Konfrontation mit Allmachtsparadoxien reagiert. Die Bestimmung der Allmacht Gottes hatte paradoxale Fragen aufgeworfen, wie etwa die, ob Gott etwas schaffen kann, was er nicht geschaffen hat. Als Descartes von Mesland gefragt wird, ob Gott hätte bewirken können, daß die Geschöpfe nicht von ihm abhängig wären,39 antwortet er: »Ich gebe zu, daß es Widersprüche gibt, die so augenscheinlich sind, daß wir sie unserem Geist nicht darstellen können, ohne sie für unmöglich zu halten …«40 Das der Vernunft Unmögliche ist also keineswegs eine Grenze für die göttliche Kreativität. Noch deutlicher wird Descartes gegenüber Burman, der eine spektakuläre und klassisch gewordene Frage nominalistischer Prägung aufwirft: Wilhelm von Ockham hatte die Möglichkeit erwogen, Gott könne fordern, daß ein Mensch oder ein Engel ihn hasse. Dieser von Gott befohlene Akt wäre dann nicht einmal verwerflich.41 Genau in diesem Sinne fragt Burman Descartes, ob Gott seiner Schöpfung hätte verordnen können, ihn zu hassen, und ob er eben diesen Akt des Hassens zu etwas Gutem hätte machen können. Descartes antwortet: »Jetzt vermag er es nicht mehr; was er aber vermocht hätte, wissen wir nicht. Und warum sollte er seinen Geschöpfen dies nicht habe verordnen können?«42 Die Antwort vermag zu überraschen: Gott hätte ein Sittengesetz erlassen können, welches uns vorschriebe, ihn zu hassen. Mit einem Blick auf Francisco
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Vgl. M. D. Wilson, Descartes, London/Henley/Boston 1978, 120–131. Descartes zitiert die Frage von Mesland in seinem Antwortbrief (vom 2. Mai 1644 ?) (AT IV, 119): »Que Dieu auroit pû faire que les creatures ne fussent poínt dependantes de luy.« 40 Ebd. (AT IV, 119): »I’auoüe bien qu’il y a des contradictions qui sont si éuidentes, que nous ne les pouuons representer à nostre esprit, sans que nous les iugions entierement impossibles …« 41 Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum secundum Sententiarum, qu. 15 (Opera theologica V, 342). Zum problematischen Verhältnis von göttlicher Freiheit und Sittengesetz vgl. Th. Kobusch, »Analogie im Reich der Freiheit? Ein Skandal der spätscholastischen Philosophie und die kritische Antwort der Neuzeit«, in: J. A. Aertsen/M. Pickavé (Hg.), »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin/New York 2004, 251–264. 42 Burman (AT V, 160): »Jam non potest; sed quid potuerit, nescimus; et quidni creaturae hoc imperare potuisset?«
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Suárez wird deutlich, warum Descartes’ Position spektakulär ist, auch wenn er die Aktualität der behaupteten Möglichkeit bestreitet. Suárez hatte in seinem 1612 erschienenen juristischen Hauptwerk Tracatus de legibus ac Deo legislatore die unbedingte Gültigkeit des Sittengesetzes anhand des Dekalogs vertreten. Schon bevor Gott das Sittengesetz verkündigt hat, war es als ein innerer Akt (actus immanés) in Gott vorhanden.43 Die entscheidende Frage ist nun auch für Suárez, ob Gott befehlen könne, daß wir ihn zu hassen haben. Er beruft sich bei dieser Frage ausdrücklich auf Ockham, der sie bejaht habe.44 Für Suárez aber ist das Sittliche intrinsisch (intrinsecus) richtig oder intrinsisch verwerflich.45 Es steht also als ein ewiges Gesetz auch für Gott nicht zur Disposition. Denn Gott kann nicht befehlen, daß er des Hasses würdig sei. Dies widerstreitet seiner Bonität. Und er kann auch nicht bewirken, daß es richtig und der Ordnung gemäß wäre, einen Hass auf etwas zu hegen, was der Liebe würdig ist.46 Für Descartes dagegen ist es keine Frage, daß Gott die Macht besessen hat, die universale Gültigkeit sittlicher Normen oder mathematischer Wahrheiten gänzlich anders zu bestimmen. Auch das Sittengesetz ist somit für den Menschen nicht intrinsisch notwendig, sondern im strengen Sinne kontingent: Er findet das Wesen des Guten und Wahren als von Gott bestimmt.47 Damit ist die Möglichkeit ausgeschlossen, Gott könne nach der Einsetzung verbindlicher Notwendigkeiten diese noch einmal ändern, da dies eine Wandelbarkeit in das Wesen Gottes hineintragen würde, die Descartes strikt ablehnt: »Was aber jene Beschlüsse angeht, die von Gott schon gefaßt worden sind, so ist Gott gänzlich unwandelbar, und dies kann auch metaphysisch nicht anders begriffen werden.«48 Gott ist eben nicht nur frei, sondern auch gut.49 Seine Bonität als ein ens perfectissimum schließt den Gedanken einer despotischen Willkür im Umgang mit ewigen Wahrheiten und moralischen Normen aus. Schon Ockham hatte betont, die Unterscheidung einer ordinierten und einer absoluten Macht Gottes trage keine reale Spaltung seiner Potenz in das Wesen 43
F. Suárez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore in decem Libros distributus II, cap. 1, n. 5 (zitiert nach der Erstauflage Coimbra 1612, Reprint: lat./span., 6 Bde., Madrid 1967–1968, I, 101). 44 Tractatus de legibus ac Deo legislatore II, cap. 15, n. 3 (Reprint I, 163). 45 Tractatus de legibus ac Deo legislatore II, cap. 15, n. 4 (Reprint I, 163). 46 Tractatus de legibus ac Deo legislatore II, cap. 15, n. 5 (Reprint I, 164): »… quia non potest Deus facere, vt ipsemet sit odio dignus: nam repugnat eius bonitati: néque etiam potest facere, vt sit rectum, & ordinatum, habere odio rem amore dignam.« 47 Responsiones VI (AT VII, 432): »Sed quantum ad hominem, cùm naturam omnis boni & veri jam a Deo determinatam inveniat …« 48 Burman (AT V, 166): »Quantum autem ad ipsa Dei decreta quae jam facta sunt attinet, in iis Deus est plane immutabilis, nec metaphysice id aliter concipi potest.« 49 Auf diese Balance hat schon Émile Boutroux hingewiesen: Des vérités éternelles chez Descartes, Paris 1927, 86 f.
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Gottes hinein, vielmehr handele es sich um zwei Weisen, über die eine Macht Gottes zu sprechen,50 denn die göttliche Macht sei einheitlich und mit dem göttlichen Wesen identisch.51 Descartes argumentiert auf genau dieselbe Weise, wenn er Burman die Vermittlung von Freiheit und Notwendigkeit zu erläutern sucht: »In metaphysischer Hinsicht aber ist es ganz undenkbar, daß Gott etwas anderes als völlig unwandelbar sein soll. Auch kommt es nicht darauf an, ob jene Beschlüsse von Gott als von ihm unterschiedene hätten gefaßt werden können, wie sich dies auch kaum behaupten lassen dürfte: Denn obwohl Gott in bezug auf alles frei ist, hat er seine Beschlüsse dennoch notwendig so gefaßt, wie er es tat. Hat er doch notwendig das Beste gewollt, wenn er es auch kraft seines eigenen Willens zum Besten gemacht hat. Hier sollte man nicht die Notwendigkeit von der Freiheit in den Beschlüssen Gottes trennen. Und wie sehr er auch im höchsten Grad frei gehandelt hat, hat er zugleich im höchsten Grad notwendig gehandelt. Selbst wenn wir begreifen, daß jene Beschlüsse von Gott als von ihm unterschiedene hätten gefaßt werden können, so begreifen wir das doch nur im Hinblick auf Bezeichnungs- und Wirkungsweise unserer Vernunft, insofern diese uns zwar einen mentalen Unterschied, aber keinen realen zwischen Gottes Beschlüssen und Gott selbst treffen läßt …«52 Dennoch läßt Descartes keinen Zweifel daran, daß Gott nicht der Verwirklichungstendenz seiner Bonität unterliegt, da er erst durch seinen Entscheid festlegt, was als gut anzusehen ist. An der Frage, warum Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt die Welt geschaffen hat und nicht zu einem anderen, läßt sich das erläutern. Malebranche beantwortet sie mit Blick auf die göttliche Weisheit, die die göttliche Macht bestimme: »Zieht man nur die Macht Gottes in Betracht, so hat er die Welt seit ewigen Zeiten erschaffen können, denn er ist nie ohne Macht gewesen; zieht man aber seine Weisheit zu Rate, die sein unantastbares Gesetz ist, so hat er es nicht tun dürfen und infolgedessen hat er es in einem
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Wilhelm von Ockham, Opus nonaginta dierum, cap. 95 (Opera politica II, 726): »…unica tamen potentia realiter est in Deo, sed locutio est diversa.« 51 Ebd. (Opera politica II, 725): »… quia unica potentia est in Deo, immo ipsa unica potentia est unica essentia …« Vgl. auch Ockhams Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 45, qu. 1 (Opera theologica IV, 664): »… nulla penitus est distinctio inter essentiam et voluntatem nec inter voluntatem et intellectum …« 52 Burman (AT V, 166): »Metaphysice autem id aliter intelligi non potest, quàm Deum esse plane immutabilem. Nec refert illa decreta a Deo separari potuisse; hoc enim vix dici debet: quamvis enim Deus ad omnia indifferens sit, necessario tamen ita decrevit, quia necessario optimum voluit, quamvis suâ voluntate id optimum fecerit; non deberet hîc sejungi necessitas et indifferentia in Dei decretis, et quamvis maxime indifferenter egerit, simul tamen maxime necessario egit. Tum etiamsi concipiamus illa decreta a Deo separari potuisse, hoc tamen tantùm concipimus in signo et momento rationis; quod mentalem quidem distinctionem decretorum Dei ab ipso Deo infert, sed non realem …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
gewissen Sinn auch nicht tun können, denn es steht nicht in Gottes Macht, sich selbst zu verleugnen oder die Gesetze zu mißachten, die seine Weisheit ihm vorschreibt.«53 Descartes dagegen sieht Gott durch kein Gesetz der Weisheit limitiert: »Denn er hat zum Beispiel nicht darum gewollt, daß die Welt in der Zeit geschaffen werde, weil er gesehen hat, daß es so besser werde, als wenn sie von Ewigkeit her geschaffen worden wäre …«54 Ganz im Gegenteil, »weil er gewollt hat, daß die Welt in der Zeit geschaffen werde, darum ist es so besser, als wenn sie von Ewigkeit her geschaffen wäre«.55 Da es sich mit dem freien Willen bei Gott ganz anders verhalte als bei uns,56 sind uns seine Beweggründe nicht zugänglich, »und niemals dürfen wir so selbstvergessen sein, uns darauf verstehen zu wollen, Gottes Natur und sein Handeln unserer Vernunfttätigkeit zu unterwerfen«.57 Der oszillierenden Dynamik eines Vexierbildes entsprechend, kann Descartes nicht nur behaupten, Gott habe zwar frei, aber zugleich notwendig gehandelt, sondern eben auch hervorheben, Gott habe das uns Notwendige nicht notwendigerweise gewollt. Die ewigen Wahrheiten sind in diesem Sinne kontingente Wahrheiten: »Und wenn Gott auch gewollt hat, daß einige Wahrheiten notwendige seien, so heißt das nicht, daß er sie notwendigerweise gewollt hat; denn es ist etwas ganz anderes, zu wollen, daß sie notwendig seien, und es notwendigerweise zu wollen oder gezwungen zu sein, es zu wollen.«58 Gott, heißt das, war nicht gezwungen, die notwendigen Wahrheiten, von denen unsere Vernunft ausgeht, einzusetzen, sondern er war frei, es zu tun oder zu lassen oder andere Wahrheiten einzusetzen. Was für die humane Vernunft notwendig ist, wie die geometrischen Gesetzmäßigkeiten eines Dreiecks, ist für Gott kontingent. Was
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N. Malebranche, Traité de la nature et de la grâce I, art. 4, add. (Œuvres Complètes V, 19): »A ne considerer que la puissance de Dieu, il a pû créer le Monde de toute éternité; car il n’a jamais été sans sa puissance. Mais si on consulte sa sagesse, qui est sa loi inviolable, il ne l’a pas dû; & par consequent, en un sens il ne l’a pas pû, car il n’est point au pouvoir de Dieu de se démentir soi-même ou de mépriser les loix que sa sagesse lui prescrit.« 54 Responsiones VI (AT VII, 432): »Nempe, exempli causâ, non ideo voluit mundum creare in tempore, quia vidit melius sic fore, quàm si creasset ab aeterno …« 55 Ebd. (AT VII, 432): »… quia voluit mundum creare in tempore, ideo sic melius est, quàm si creatus fuisset ab aeterno …« 56 Ebd. (AT VII, 431): »Quantum ad arbitrii libertatem, longe alia ejus ratio est in Deo, quàm in nobis.« 57 Burman (AT V, 166): »… et nunquam tantum nobis indulgere aut permittere debemus, ut Dei naturam et operationes nostrae rationi subjiciamus.« 58 Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 118 f.): »Et encore que Dieu ait voulu que quelques veritez fussent necessaires, ce n’est pas à dire qu’il les ait necessairement vouluës; car c’est toute autre chose de vouloir qu’elle fussent necessaires, & de le vouloir necessairement, ou d’estre necessité à le vouloir.«
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für Gott kontingent ist, kann für uns notwendig sein. So wird es die Encyclopédie auf eine Formel bringen: Wir sagen, daß eine kontingente Sache, die Gott vorgesehen hat, notwendig ist.59 Die menschliche Vernunft hat es mit kontingenten Notwendigkeiten zu tun. Was hier wie ein spekulatives Spiel der Perspektive erscheinen mag, fernab jeglicher Relevanz, und was wie ein überkommener Restbestand spätmittelalterlicher Subtilitäten aussieht, der eine periphere Präsenz zu behaupten versucht, ist tatsächlich der innerste Beweggrund für eine Genese des Cartesianismus. Der Variation der denkbaren Perspektiven auf einen schöpferischen Gott entspringt das Grundmotiv der Kontingenz. Es macht Descartes’ uneingeholte Aktualität zu Beginn der Neuzeit aus, daß er ohne eine Abschwächung den modernsten Gedanken des Spätmittelalters nicht nur übernimmt, sondern voraussetzt: die grundsätzliche Kontingenz alles Seienden und seiner Prinzipien. Descartes hat von dieser Einsicht einen für ihn eher selbstverständlichen Gebrauch gemacht. Überhaupt ist er an den radikalsten Allmachtsspekulationen mit ihren Variationen des Möglichen nicht wirklich interessiert. Und das aus zwei Gründen: Erstens läßt Descartes ins Extreme gewendete Fragen, etwa ob es Gott auch freigestanden hätte, nicht zu existieren, nicht zu. Zwar können wir einen Berg nicht ohne ein Tal denken, ohne daß daraus folgt, daß auch irgendwo ein Berg und ein Tal existieren. Daraus, daß wir Gott nicht anders als existierend denken können, folgt dagegen, daß die Existenz von Gott untrennbar ist. Die Notwendigkeit der Sache selbst und nicht unser Denken erlegt uns diesen Schluß auf. Es steht uns nicht frei, Gott ohne Existenz zu denken.60 Zweitens vertritt Descartes insofern einen gemäßigten Voluntarismus, als daß er jeden Eingriff Gottes in die bestehende Welt strikt ablehnt. Die Welt als das Resultat Gottes ist zwar kontingent, aber in ihren kontingenten Notwendigkeiten verläßlich. Aber Descartes steht zugleich für die radikale Position, Gott habe vor der Schaffung der Welt alle Schöpfungsoptionen besessen, ohne auf irgendeine Weise in seiner Wahl bestimmt gewesen zu sein.61 Diese Annahme gipfelt in der Formu-
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Art. »Contingent« (Formey), in: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, a. a. O., IV, 114: »Nous disons encore qu’une chose contingente, que Dieu a prévûe, est nécessaire.« 60 Vgl. Meditationes V (AT VII, 66 f.). Diese Position, Gott nicht ohne seine Existenz denken zu können, ist für Descartes von traditionell verbürgter Eindeutigkeit. Immerhin steht es Gott auch nach Thomas von Aquin nicht frei, nicht existieren zu wollen: »Necessario igitur vult se esse, nec potest velle se non esse.« (Summa contra gentiles I, cap. 80, ed. Leonina XIII, 223). 61 Zur Freiheit Gottes vgl. auch die resümierende Analyse von Jean Laporte, Le Rationalisme de Descartes, nouvelle édition, Paris 1950, 281 ff.
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lierung, die höchste Indifferenz in Gott sei der höchste Beweis für seine Allmacht.62 Der cartesische Voluntarismus speist sich seinem Selbstverständnis nach aus ihm schon traditionell gewordenen Annahmen über die Allmacht Gottes, die unbegrenzt, aber nicht willkürlich sein soll. Zugleich liegt in der »weitesten Relativierung von ›möglich-unmöglich‹, die keine Nachfolge findet«, immerhin »ein Sonderergebnis Descartes’« vor, da ihm zufolge »für ein göttlich-unendliches Denken und allmächtiges Schaffen … der logische Widerspruch keinerlei Schranke«63 darstellen soll. Sartre hat daher den cartesischen Gott als den freiesten aller Götter, die je der menschliche Geist erdacht hat, beschrieben.64 Descartes steht somit einerseits innerhalb einer im Mittelalter einsetzenden Tradition modaltheoretischer Reflexionen über den Zusammenhang von Notwendigkeit und Kontingenz,65 zugleich aber radikalisiert er sie in bezug auf die ewigen Wahrheiten, so daß sich seine Position gegenüber den Zeitgenossen und der nachfolgenden Tradition isoliert. Zum Skeptiker wird Descartes dadurch nicht: Das gedankliche Resultat des cartesischen Voluntarismus ist die Kontingenz alles Notwendigen jenseits der Notwendigkeit Gottes und die Verläßlichkeit des kontingent Notwendigen. Für Descartes bedingt der theologische Voluntarismus, den er vertritt, sowohl eine neu einsetzende Distanz zur Wirklichkeit, die als kontingente nicht aus notwendigen Ideen des göttlichen Intellekts ableitbar und somit noch nicht angemessen erkannt ist, als auch eine neue Distanz zu Gott als dem Schöpfer dieser Wirklichkeit. Es wäre ein Mißverständnis, diesen Prozeß zu dramatisieren. Es besticht vielmehr die souveräne Gelassenheit, mit der Descartes diesen Prozeß 62
Responsiones VI (AT VII, 432): »… summa indifferentia in Deo summum est ejus omnipotentiae argumentum.« 63 I. Pape, Tradition und Transformation der Modalität I, a. a. O., 70 f. 64 J.-P. Sartre, »La Liberté cartesienne«, in: ders. (Hg.), Descartes. 1596–1650, introduction et choix par J.-P. Sartre, Genf/Paris 1946, 9–52, hier 44: »… le Dieu de Descartes est le plus libre de Dieux, qu’a forgés la pensée humaine …« Die Formulierung ist freilich nicht ganz glücklich gewählt, da sie offen läßt, ob dieser freieste Gott auch über die Möglichkeit der Täuschung und Willkür verfügt, was Descartes verneinen würde. Vgl. dazu L. OeingHanhoff, »Descartes’ Lehre von der Freiheit«, in: ders., Metaphysik und Freiheit. Ausgewählte Abhandlungen, hg. von Th. Kobusch und W. Jaeschke, München 1988, 284–301; vgl. auch J. Laporte, »La Liberté selon Descartes«, in: ders., Études d’histoire de la philosophie française au XVIIe siècle, Paris 1951, 37–87, der die göttliche Freiheit bei Descartes einem Vergleich mit der menschlichen unterzieht. 65 Zur Eingebundenheit Descartes’ in die mittelalterliche Tradition modaltheoretischer Überlegungen vgl. L. Alanen/S. Knuuttila, »The Foundations of Modality and Conceivability in Descartes and his Predecessors«, in: S. Knuuttila (Hg.), Modern Modalities. Studies of the History of Modal Theories from Mediaeval Nominalism to Logical Positivism, Dordrecht/ Boston/London 1988, 1–69.
§ 14 Kontingente Notwendigkeit
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einer Distanzierung intendiert und vollzieht, um der anerkannten Distanz von Gott und Welt ein neues rationales Selbstverständnis entsprechen zu lassen.66 Die ewigen Wahrheiten als Grundprinzipien nehmen dabei, wie gezeigt, eine Schlüsselstellung ein, denn deren Kontingenz macht die Wirklichkeit zu etwas Unableitbarem und Gott zu einer uneinsehbaren Größe. Das ehemalige Ideal unbedingter Notwendigkeit läßt sich als die »Uebersetzung der äusseren Einwirkung, die das Ideal auf die Dinge, Gott auf seine Geschöpfe ausübt, in eine möglichst abstrakte logische Sprache«67 verstehen. Die Kontingenz der bedingten Notwendigkeiten dagegen lockert diesen unmittelbaren Bezug von göttlichem Ideal und Wirklichkeit, da die Logizität des Menschen die Schöpfungskraft Gottes nicht einzuholen vermag. Im Oktober 1628 hat Descartes Pierre de Bérulle getroffen, einen Vertreter des in Frankreich erstarkten Augustinismus. Dieser hatte die Ansicht vertreten, die ewigen Wahrheiten seien wie Sonnenstrahlen, die von Gott ausgingen. Sie seien unsere Brücke zu Gott, da sich Gott in ihnen ausdrücke und er seine Schöpfung mit ihrer Hilfe erleuchte.68 Descartes schreibt dagegen im Mai 1630 an Mersenne, er begreife die ewigen Wahrheiten nicht als Sonnenstrahlen, die aus Gott ausströmen.69 Die Differenz im Metapherngebrauch signalisiert nicht weniger als die Unvereinbarkeit zweier theologisch fundierter Wirklichkeitsverständnisse. Diese Differenz markiert exakt jene Abkehr, die die cartesische Philosophie vollziehen sollte. Sie war damit weder allein, noch war sie die erste, aber sie vergrößerte die Bruchstelle und beschleunigte die Auseinanderdrift zweier geistesgeschichtlicher Kontinente der gedachten Welt: der alten und der neuen.
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Vgl. H. Frankfurt, »Descartes on the Creation of the Eternal Truths«, in: The Philosophical Review 86 (1977), 36–57, hier 54 f.: »The liberation of reason is to be advanced in two ways. First, the assertion that the eternal truths do not belong to God’s essence removes a serious impediment to our confidence that we can understand them fully … Secondly, and more important, the assertion that reality as it is in itself may be in principle unintelligible to us exempts reason from having to regard itself as a competitor of transrational modes of access to truth.« Frankfurt geht so weit, Descartes die Erwägung der Möglichkeit zu unterstellen, »that the world is not inherently rational« (54). Descartes ist aber nicht an der Annahme einer Irrationalität der Welt interessiert, sondern an dem Aufweis der Kontingenz der rationalen Konstanten. Einen Versuch, durch eine Kritik an Frankfurt der cartesischen Position das Bizarre zu nehmen, hat E. M. Curley vorgelegt: »Descartes on the Creation of the Eternal Truths«, in: The Philosophical Review 93 (1984), 569–597. 67 É. Boutroux, Die Kontingenz der Naturgesetze, übersetzt von J. Benrubi, Jena 1911, 164. 68 Vgl. St. Gaukroger, Descartes. An Intellectual Biography, Oxford 1995, 207. 69 Brief (an Mersenne, 27. Mai 1630 ?) (AT I, 152), wo es über die veritez eternelles heißt: »… lesquelles ie ne conçoy point émaner de Dieu, comme les rayons du Soleil …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
§ 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz Die Präsenz des spätmittelalterlichen Voluntarismus im Denken Descartes’ mag aufgewiesen sein, ohne daß sich ohne weiteres daraus eine Einschätzung ergibt, ob sie auch für die Ausbildung der cartesischen Rationalität konstitutiv gewesen ist. Historische Identitäten beherbergen immer anachronistische Ungleichzeitigkeiten, deren Wechselwirkungen oftmals schwer zu bestimmen sind. So war Newton ein leidenschaftlicher Alchemist – hat aber diese Neigung zur Magie die Herausbildung seiner modernen Physik begleitet? 70 So mag man zu dem Zugeständnis bereit sein, daß Descartes als der idealisierte Begründer einer nachmittelalterlichen Epoche »wahrscheinlich ein frommer und gewissenhafter Anhänger seiner Kirche«71 gewesen ist. In einem Brief an Mersenne weist er darauf hin, die Lehre der Konzilien über die heiligen Sakramente stimmten mit seiner Philosophie überein, und er denke, die Philosophie würde zurückgewiesen, wenn sie mit dem Glauben zusammenstieße.72 Man mag das für Rhetorik und die Frömmigkeit für eine aufgesetzte Maske halten.73 Die implizite Distanz der cartesischen Philosophie zur theologischen Tradition ist zweifellos in vielen Details unübersehbar, aber eine völlige Mißachtung der von Descartes intendierten grundsätzlichen Vereinbarkeit von Theologie und Philosophie hätte Descartes’ Beteuerung gegen sich: »Und ich schwöre Ihnen, in aller Ernsthaftigkeit, daß ich es glaube, wie ich es schreibe.«74 Ist aber die cartesische Rationalität in nachweisbarer Abhängigkeit von ihrem Gottesbegriff oder unabhängig von ihm entfaltet worden? Und selbst wenn man eine Dependenz der cartesischen Philosophie von ihren theologischen Grundannahmen erwägt: Hat die Annahme, daß Gott in seiner Allmacht die ewigen Wahrheiten wie ein König erlassen hat, überhaupt erkennbare Konsequenzen für die Integrität der humanen Vernunft?
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Vgl. B. J. T. Dobbs, The Janus faces of genius. The role of alchemy in Newton’s thought, Cambridge 1991. 71 R. Specht, René Descartes, Reinbek bei Hamburg 81998, 31. Zu den unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Philosophie im 17. Jahrhundert vgl. N. Jolley, »The relation between theology and philosophy«, in: D. Garber/M. Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1998, Vol. I, 363–392. 72 Brief an Mersenne, 31. März 1641 (AT III, 349): »Vous verrez que i’y accorde tellement auec ma Philosophie ce qui est determiné par les conciles touchant le St Sacrament …; en sorte que ie croy qu’on l’auroit reietée, comme repugnante a la foy …« 73 Bereits La Mettrie unterstellt Descartes in seinem L’homme machine (Œuvres philosophiques I, 347) die Anwendung einer stilistischen List, um die Theologen ein Gift schlucken zu lassen: »… une ruse de style, pour faire avaler aux théologiens un poison …« 74 Brief an Mersenne, 31. März 1641 (AT III, 349): »Et ie vous iure serieusement que ie le croy, ainsy que ie l’escris.«
§ 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz
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Mögen auch die ewigen Wahrheiten für Gott kontingent sein, für uns sind sie notwendig und unwandelbar. Die Verbindlichkeit rationaler Konstanten scheint die Spekulation über ihre Einsetzung in einem freien Akt göttlichen Willens zu depotenzieren. Die methodisch autonome Rationalität der modernen Wissenschaft könnte daher versucht sein, die nominalistisch inspirierten Allmachtsspekulationen für ein besonderes Kapitel der Metaphysik oder der theologischen Schöpfungslehre zu halten und problemgeschichtlich zu historisieren. Denn man kann durchaus fragen, ob das Problem der Kontingenz in der modernen Naturwissenschaft seit Galilei und Newton überhaupt noch eine Rolle spielt, da die Mathematisierung der Natur die kausale Begrifflichkeit eliminiert und durch ein funktionales Denken in Abhängigkeiten ersetzt habe, das mit Kausalbeziehungen nichts mehr zu tun hat.75 Die Frage nach einer letzten Ursache der Gültigkeit notwendiger Gesetzmäßigkeiten erscheint dann als ein Spezialproblem der Metaphysik oder der Theologie außerhalb der Zuständigkeit der Naturwissenschaft. Für Descartes gilt dies nicht. Es ist bereits bemerkenswert, daß er Mersenne gegenüber geäußert hat, er wolle auf die Frage nach der Gültigkeit mathematischer Wahrheiten und ihrer Abhängigkeit vom göttlichen Willen im Rahmen seiner Physik zu sprechen kommen.76 Es ist kein Zufall, daß Descartes’ Auseinandersetzung mit den notwendigen Wahrheiten zu der Zeit stattfindet, in der er an dem Manuskript von Le Monde arbeitet. Die konsequente Rationalisierung der Naturphilosophie setzt für ihn eine Reflexion der Kontingenz der Grundprinzipien der Natur voraus. Noch in den späteren Principia philosophiae sagt er über die allgemeine Einrichtung der ganzen sichtbaren Welt: »Um hierüber richtig zu philosophieren, ist zweierlei hauptsächlich zu beachten. Zum einen haben wir auf die unendliche Macht und Güte Gottes zu achten und uns nicht zu scheuen, seine Werke so groß, so schön und vollendet wie möglich anzusehen; vielmehr müssen wir uns vorsehen, daß wir nicht Schranken, die wir nicht bestimmt erkannt haben, bei ihnen annehmen und uns so die Macht des Schöpfers nicht erhaben genug denken. Zum anderen
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Vgl. E. Ströker, »Kontingenz und Faktizität in wissenschaftstheoretischer Perspektive«, in: G. v. Graevenitz/O. Marquard (Hg.), Kontingenz, a. a. O., 109–116, hier 112: »Funktionale Wenn-dann-Beziehungen sind keineswegs so etwas wie quantitativ-exakt gefaßte kausale Weil-darum-Beziehungen, sondern von diesen sinnverschieden. Ihr kategorialer Unterschied macht vielmehr eine der grundlegenden Differenzen zwischen vorneuzeitlicher und der seit dem 18. Jahrhundert ›klassisch‹ gewordenen wissenschaftlichen Naturerklärung aus.« Zur Präsenz des Kontingenten auch in der modernen Wissenschaft vgl. E. Scheibe, »Die Zunahme des Kontingenten in der Wissenschaft«, in: Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), 1–13. 76 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 145).
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
haben wir uns davor zu hüten, uns selbst zu überschätzen.«77 Die Reflexion des Auseinanderfallens von göttlicher Schöpfungskreativität und humaner Verstandeskapazität soll zur cartesischen Grundbedingung gehören, über die Natur ›richtig zu philosophieren‹. Die Beachtung des theologischen Voluntarismus wird dadurch zu einer Grundbedingung des cartesischen Rationalismus. Nun hatte der theologische Voluntarismus des Spätmittelalters am Paradigma des Wunders die Möglichkeit erwogen, ob Gott kraft seiner potentia absoluta in den natürlichen Lauf der Dinge eingreife. An Berkeley läßt sich ablesen, wie naheliegend der Gedanke eines möglichen Eingriffs Gottes in die Natur der Welt war. In seinem 1710 erschienenen Treatise concerning the Principles of Human Knowledge vertritt Berkeley einerseits eine Konstanz der Naturabläufe, räumt aber andererseits wie selbstverständlich Gott die Möglichkeit ein, Erscheinungen außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der Dinge hervorzubringen.78 An manchen Stellen klingt es nun, als ob auch Descartes dies nicht ausschließe, wenn er etwa Gott als die erste und totale Ursache von allem beschreibt und darauf hinweist, man könne nichts ohne den göttlichen Willen verstehen.79 Die Betonung der göttlichen Erstursache bei gleichzeitiger Marginalisierung der Zweitursache wäre das konsequenteste Modell einer Abhängigkeit der Natur vom göttlichen Willen. Aber Descartes schließt die Möglichkeit einer Durchbrechung der von Gott gestifteten Naturgesetzmäßigkeiten nach deren Schaffung kategorisch aus: Es gibt keine Wunder.80 Die Universalität der Gültigkeit von Naturkonstanten, die Descartes voraussetzt, kann man an seiner Annahme ablesen, daß auch in mehreren Welten, die Gott hätte schaffen können, die gleichen Prinzipien als Naturgesetze (les Loix de la Nature) gelten würden. Die Naturgesetze sind so universal, »daß, selbst wenn Gott mehrere Welten geschaffen hätte, es keine einzige geben könnte, in
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Principia III 1–2 (AT VIII–1, 80): »De quâ ut rectè philosophemur, duo sunt inprimis observanda. Unum, ut attendentes ad infinitam Dei potentiam & bonitatem, ne vereamur nimis ampla, & pulchra, & absoluta ejus opera imaginari; sed è contrà caveamus, ne si quos fortè limites, nobis non certò cognitos, in ipsis supponamus, non satis magnificè de Creatoris potentiâ sentire videamur. Alterum, ut etiam caveamus, ne nimis superbè de nobis ipsis sentiamus.« 78 G. Berkeley, A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, n. 63 (The Works I, 293): »It may indeed on some occasions be necessary that the Author of nature display His overruling power in producing some appearance out of the ordinary series of things.« 79 Brief an Elisabeth, 6. Oktober 1645 (AT IV, 314): »… mais Dieu est tellement la cause vniuerselle de tout, qu’il en est en mesme façon la cause totale; & ainsy rien ne peut arriuer sans sa volonté.« 80 Monde VII (AT XI, 48): Es gelte, »que Dieu n’y fera jamais aucun miracle …«
§ 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz
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der sie nicht beobachtet würden«.81 Da sie, wenn es unzähligen Welten gäbe, aus ein und derselben Materie bestehen müßten, gibt es für Descartes schließlich doch nur eine Welt.82 Diese Aussagen belegen, daß Descartes unbedingt an der Universalität kontingent-notwendiger Naturgesetze in der geschaffenen Welt und an der Singularität der Welt festhält. Die materielle Welt hängt – wie alles Geschaffene – zwar davon ab, daß Gott sie in einem Akt der creatio continua erhält, ihre Dynamik dagegen folgt gestifteten, immanenten Gesetzen: »Denn daraus allein, daß er so fortfährt, sie zu erhalten, folgt mit Notwendigkeit, daß es in ihren Teilen mehrere Veränderungen geben muß, welche nicht, wie mir scheint, im eigentlichen Sinne der Tätigkeit Gottes zugeschrieben werden können. Weil sie sich nicht ändert, schreibe ich sie der Natur zu; und die Regeln, denen zufolge diese Veränderungen stattfinden, nenne ich Naturgesetze.«83 Vieles spricht dafür, daß die Herausbildung des modernen Begriffs des Naturgesetzes dem Vorbild des ›natürlichen Gesetzes‹ (lex naturalis), also dem Sittengesetz, folgte.84 Es ist zunächst die unbedingte Verbindlichkeit der von Gott erlassenen sittlichen Normen, die paradigmatisch eine Idee der möglichen Verläßlichkeit der bewegten Natur bot. Die universale Gültigkeit der Naturgesetze hat also in der uneingeschränkten Gültigkeit moralischer Vorschriften ihr Vorspiel. Gott greift nicht in die Gesetzmäßigkeiten der Natur ein, nachdem er sie gestiftet hat. Er leistet, wie Descartes es ausdrückt, der Natur seinen gewöhnlichen Beistand (son concours ordinaire a la Nature) und läßt sie nach den Gesetzen wirken, die er ihr gegeben hat (la laisser agir suiuant les Loix qu’il a establies).85 Das kann aber nach dem zuvor Ausgeführten dennoch nicht besagen, daß Gott nicht eine Welt mit gänzlich anderen Naturgesetzmäßigkeiten hätte schaffen können. Schon Thomas von Aquin hatte die Kontingenz der göttlichen Ordnung herausgestellt: Mag auch der Lauf der Dinge für die Dinge, die jetzt sind, festgelegt sein, ist doch die göttliche Macht und Weisheit an diesen Lauf nicht gebunden. 81
Discours V (AT VI, 43): »… qu’encore que Dieu auroit creé plusieurs mondes, il n’y en sçauroit auoir aucun, où elles manquassent d’estre obseruées.« 82 Principia II 22 (AT VIII–1, 52): »… atque omnio, si mundi essent infiniti, non posse non illos omnes ex unâ & eâdem materiâ constare; nec proinde plures, sed unum tantùm, esse posse …« 83 Monde VII (AT XI, 37): »Car de cela seul, qu’il continuë ainsi de la conserver, il suit, de necessité, qu’il doit y avoir plusieurs changemens en ses parties, lesquels ne pouvant, ce me semble, estre proprement attribuez à l’action de Dieu, parce qu’elle ne change point, je les attribuë à la Nature; & les regles suivant lesquelles se font ces changemens, je les nomme les Loix de la Nature.« 84 Vgl. dazu und zur Eingriffsmöglichkeit Gottes in die von ihm geschaffene Welt: R. Specht, »Naturgesetz und Bindung Gottes«, in: J. P. Beckmann/L. Honnefelder/ G. Schrimpf/G.Wieland (Hg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1987, 409–423. 85 Discours V (AT VI, 42).
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Wenn auch kein anderer Lauf für die Dinge, die jetzt sind, gut und passend wäre, kann Gott doch andere Dinge schaffen und ihnen eine andere Ordnung auferlegen.86 Was bedeutet es also für Descartes, wenn er postuliert, man habe bei dem richtigen Philosophieren über die Natur die Allmacht und Güte Gottes zu bedenken und jede Selbstüberschätzung des Menschen zu vermeiden? Was kann es für eine Naturphilosophie bedeuten, die Allmacht Gottes in Rechnung stellen zu müssen, wenn doch die Abläufe der Natur nach festen Gesetzmäßigkeiten ablaufen? Die Gesetzmäßigkeiten der Natur haben für Descartes den Status kontingenter Notwendigkeiten. Die Kontingenz des Notwendigen respektiert die Freiheit Gottes. Die Folge ist eine Entkopplung humaner Rationalität von der göttlichen Intellektualität. Hatte Augustinus in platonischer Lesart die Ordnung als das Mittel definiert, mit dem Gott alles tue,87 lag darin impliziert, diese Ordnung sei vernünftig. Wenn die Vernunft des Menschen in der göttlichen Vernunft aufgrund eines unterstellten Analogieverhältnisses prinzipiell zu lesen vermag, ist die Erfassung der Natur grundsätzlich ein nur nachträglicher Anwendungsfall der erfaßten Ideen. Da Gott vollkommene geometrische Formen denkt, die als ewige Wahrheiten auch dem menschlichen Geist eingegeben sind, war es unter dieser metaphysischen Annahme nur konsequent, für die Bewegung der erhabenen Sterne vollkommene Kreisbahnen anzunehmen, auch wenn jeder Versuch einer nachträglichen empirischen Bestätigung mathematische Komplikationen heraufbeschwor. Descartes hingegen weist anhand der paradigmatischen Überlegungen zur Materie die Idee zurück, man könne aus der bloßen Vernunft die Größe der Materieteile, die Schnelligkeit ihrer Bewegung und die Kreise, die sie beschreiben, ableiten, »weil Gott dies auf unzählige Arten einrichten konnte, und welche er davon ausgewählt hat, kann nur die Erfahrung lehren. Wir können deshalb jede beliebige annehmen, vorausgesetzt, daß alles daraus Abgeleitete voll und ganz mit der Erfahrung übereinstimmt«.88 Der Unmöglichkeit, die Welt über einen Zugriff auf Gottes schöpferische Ideen zu dechiffrieren, entspricht die Freiheit, die Welt mit einer humanen Ra-
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Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 25, art. 5, ad. 3 (ed. Leonina IV, 297): »Ad tertium dicendum quod, licet iste cursus rerum sit determinatus istis rebus quae nunc sunt, non tamen ad hunc cursum limitatur divina sapientia et potestas. Unde, licet istis rebus quae nunc sunt, nullus alius cursus esset bonus et conveniens, tamen Deus posset alias res facere, et alium eis imponere ordinem.« 87 Augustinus, De ordine I, X 28 (CCSL 29, 103): »Ordo est, inquit, per quem aguntur omnia, quae deus constituit.« 88 Principia III 46 (AT VIII–1, 101): »… quia potuerunt ista innumeris modis diversis à Deo temperari, & quemnam prae caeteris elegerit, sola experientia docere debet. Jamque idcirco nobis liberum est, quidlibet de illis assumere, modò omnia, quae ex ipso consequentur, cum experientiâ consentiant.«
§ 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz
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tionalität zu erfassen und zu gestalten. Es ist die Kontingenz der Welt und der Prinzipien, die sie beherrschen, die Descartes nach einer Wissenschaft suchen läßt, welche Kenntnisse ermöglicht, »die von großem Nutzen für das Leben sind« – sein Ziel ist daher, »statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische zu finden«.89 In diesem Zusammenhang spekuliert Descartes über das Potential einer pragmatischen Wissenschaft, die uns zu »Herren und Eigentümern der Natur« (maistres & possesseurs de la Nature) 90 machen könnte. Dabei handelt es sich um eine durch den späteren Erfolg der technischen Manipulation der Natur oftmals aus dem cartesischen Kontext genommene und überbewertete Formel,91 orientiert sich das utopische Potential des Cartesianismus doch vornehmlich an den Möglichkeiten einer verbesserten Medizin. Nimmt man diese Formel als den Inbegriff einer modernen Naturbeherrschung, die Descartes’ Erwartungen weit hinter sich gelassen hat, ist man versucht, die eigentliche Pointe dieser Formel zu übersehen: Sie ist weniger Ausdruck einer prometheischen Weltbeherrschung als vielmehr eine erste Auslotung des gewonnenen Spielraums in einer kontingenten Welt. Sie spiegelt dabei die spätmittelalterlichen Versuche einer Legitimation von Herrschaft, wie sie angesichts des Streits um die Macht des Kaisers und des Papstes akut geworden war. Erscheint in ihnen das dominium als die von Gott dem Menschen übertragene Befugnis zur Macht, sich in einer nachparadiesischen Welt gestalterisch Strukturen der Macht zu schaffen,92 ist es im Cartesianismus die Macht der Rationalität, die nach Prinzipien vorgeht, deren Notwendigkeit der Kontingenz des schöpferischen Willens Gottes unterliegen. Versucht man einmal nicht, das utopische Potential des Cartesianismus zu bestimmen, sondern den Wirklichkeitsbegriff, den er voraussetzt, wird eine doppelte Distanz unübersehbar, die das szientistische Verhalten bestimmt: Der gewachsenen Distanz zur Verstehbarkeit Gottes entspricht eine reflektierte Distanz zur Realität. Bei Descartes drückt sich das als ein Abbau des teleologischen Weltverständnisses durch Kritik an einem theologisch inspirierten Anthropozentrismus aus. Erst diese Kritik legt die Fundamente für eine neue Wissenschaft 89
Discours VI (AT VI, 61 f.): »Car elles« – die allgemeinen Grundbegriffe der Physik – »m’ont fait voir qu’il est possible de paruenir a des connoissances qui soient fort vtiles a la vie, & qu’au lieu de cete Philosophie speculatiue, qu’on enseigne dans les escholes, on peut trouuer vne pratique …« 90 Ebd. (AT VI, 62). 91 André Glucksmann hat vielleicht nicht ganz unrecht, wenn er in seiner Studie Descartes c’est la France (Paris 1987, 226) aus der Formulierung, daß derartige Kenntnisse uns zu Herren und Eigentümern der Natur machen könnten, eine ironische Distanzierung Descartes’ vom Eroberungs- und Beherrschungswahn seiner Zeit herausgelesen hat. 92 Vgl. W. Stürner, Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987; G. Mensching (Hg.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter, Würzburg 2003.
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
frei, die jede Selbstüberschätzung des Menschen in der von Gott geschaffenen Welt zurückweist. Eine anthropozentrische Selbstüberschätzung läge dann vor, »wenn wir annähmen, alle Dinge seien bloß unseretwegen von ihm geschaffen, oder wenn wir glauben würden, den Zweck bei der Erschaffung der Welt durch die Kraft unserer Einsicht begreifen zu können. Denn wenn es auch im Sittlichen zu sagen fromm ist, daß alles von Gott unseretwegen gemacht ist, um dadurch zu größerem Dank und Liebe zu ihm veranlaßt zu werden, und wenn dies in gewissem Sinne auch richtig ist, da wir von allen Dingen für uns irgendeinen Gebrauch machen können, wäre es auch nur, um unseren Verstand in ihrer Betrachtung zu üben und Gott aus seinen wundervollen Werken zu ahnen: so ist es doch unwahrscheinlich, daß alles nur für uns und zu keinem anderen Zweck gemacht worden ist. Und in der Physik würde diese Voraussetzung lächerlich und verkehrt sein, weil ohne Zweifel vieles existiert oder früher existiert hat und schon vergangen ist, was kein Mensch je gesehen oder erkannt hat, und was ihm niemals einen Nutzen gewährt hat.«93 Der Anfang der cartesischen Wissenschaft ist der Vollzug eines nachmittelalterlichen Realitätsverständnisses durch die Kritik daran, »daß wir uns unmerklich eingeredet haben, die Welt sei nur für uns gemacht und alle Dinge gebührten uns«.94 Diese Teleologiekritik setzt sich in der cartesischen Anthropologie fort. Für Descartes ist der Mensch nur noch gewissermaßen nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen.95 Galt noch für Thomas von Aquin, daß sich die Gottähnlichkeit des Menschen in der Freiheit seines Willens und in dem Gebrauch seines Intellekts zeigt,96 ist der Mensch für Descartes allein aufgrund seiner Willensfreiheit
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Principia III 2–3 (AT VIII–1, 81): »… si res omnes propter nos solos ab illo creatas esse fingeremus; vel tantùm, si fines quos sibi proposuit in creando universo, ingenii nostri vi comprehendi posse putaremus. Quamvis enim in Ethicis sit pium dicere, omnia à Deo propter nos facta esse, ut nempe tantò magis ad agendas ei gratias impellamur, ejusque amore incendamur; ac quamvis etiam suo sensu sit verum, quatenus scilicet rebus omnibus uti possumus aliquo modo, saltem ad ingenium nostrum in iis considerandis exercendum, Deumque ob admiranda ejus opera suspiciendum: nequaquam tamen est verisimile, sic omnia propter nos facta esse, ut nullus alius sit eorum usus; essetque planè ridiculum & ineptum id in Physicâ consideratione supponere; quia non dubitamus, quin multa existant, vel olim extiterint, jamque esse desierint, quae nunquam ab ullo homine visa sunt aut intellecta, nunquamque ullum usum ulli praebuerunt.« 94 Brief an Unbekannt, März 1638 (AT II, 37): »… que nous nous sommes insensiblement persuadez que le monde n’estoit fait que pour nous, & que toutes choses nous estoient deües.« 95 Meditationes III (AT VII, 51): »Sed ex hoc uno quòd Deus me creavit, valde credibile est me quodammodo ad imaginem & similitudinem ejus factum esse …« 96 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, cap. 46.
§ 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz
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gleichsam ein Abbild und Gleichnis Gottes.97 Es ist allein der freie Wille, der eine Ähnlichkeit des Menschen mit Gott begründet. Gegenüber Burman konturiert Descartes diese Aussage, indem er betont, der Wille des Menschen sei größer und Gott ähnlicher als der Verstand.98 Gegenüber der intellektuellen Kraft Gottes ist das Erkenntnisvermögen des Menschen schwach und eingeschränkt (tenuis & circumscriptus).99 In dieser behutsamen Einschränkung, allein gewissermaßen und gleichsam ein Abbild Gottes zu sein, spiegelt sich die nachmittelalterliche Entteleologisierung des Wirklichkeitsverhältnisses durch eine Kritik an Finalursachen.100 Aristoteles hatte der Scholastik die Lehre von der causa finalis bereitgestellt,101 und das scholastische Denken hatte die teleologische Grundannahme, daß alles, was geschieht, ein Telos hat, ein Ziel, zu dessen Zweck es geschieht, konsequent schöpfungstheologisch ausgebaut. Da Gott dem Voluntarismus gemäß, den Descartes teilt, kontingenterweise die Welt als eine von mehreren möglich gewesenen Welten geschaffen hat, negiert dieses Moment der Kontingenz die vernünftige Dechiffrierbarkeit einer Schöpfungstheologie. Es ist damit nicht gesagt, daß Gott mit der kontingent geschaffenen Welt kein Ziel vor Augen hat, aber es ist die Kontingenz seiner Entscheidung, die eine Ableitung von Teleologien aus einer urstiftenden Notwendigkeit vereitelt. Die Loslösung von einem Denken in Finalursachen ist der Eintritt in die Welt der cartesischen Wissenschaft von der Natur: »Wir wollen uns auch nicht damit aufhalten, die Ziele zu untersuchen, die Gott sich bei der Schaffung der Welt gesetzt hat, und wollen aus unserer Philosophie die Untersuchung der Finalursachen gänzlich verbannen …«102 Daß dieser Prozeß einer Entteleologisierung nicht als ein Verlust begriffen werden mußte, zeigt Bacons Bemerkung, das Denken in Finalursachen sei steril, wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert.103 Dabei war die Absage, die Natur als von teleologischen Finalursachen bestimmt zu denken, weder unumstritten noch plausibel. Robert Boyle führt in seinem ausdrücklich anti97
Meditationes IV (AT VII, 57): »Sola est voluntas, sive arbitrii libertas, quam tantam in me experior, ut nullius majoris ideam apprehendam; adeo ut illa praecipue sit, ratione cujus imaginem quandam & similitudinem Dei me referre intelligo.« 98 Burman (AT V, 159): »In eo igitur major est voluntas intellectu et Deo similior.« 99 Meditationes IV (AT VII, 57). 100 Vgl. St. Nadler, »Doctrines of explanation in late scholasticism and in the mechanical philosophy«, in: D. Garber/M. Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1998, Vol. I, 513–552. 101 Vgl. Aristoteles, Physica Β 3, 194 b 32–195 a 3; Metaphysica ∆ 2, 1013 a 32 f. 102 Principes I 28 (AT IX–2, 37): »Nous ne nous arresterons pas aussi à examiner les fins que Dieu … s’est proposé en creant le monde, & nous rejeterons entierement de nostre Philosophie la recherche des causes finales …« 103 F. Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum III, cap. 5 (The Works I, 571): »Nam Causarum Finalium inquisitio sterilis est, et tanquam virgo Deo consecrata nihil parit.«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
cartesianischen Essay A Disquisition about the Final Causes of Natural Things von 1688 den Beweis einer Notwendigkeit, Teleologien vorauszusetzen: Das Auge sei offensichtlich für das Sehen gemacht. Die Vollkommenheit seiner Funktionsweise sei ein klarer Beweis teleologischer Strukturen, und ihre Beobachtung sei ein deutlicher Hinweis auf die Existenz Gottes.104 Walter Charleton lobt in seinem Buch The Darknes of Atheism von 1652 die Weisheit des Schöpfers, die Distanz der Erde zur Sonne so passend bestimmt zu haben: Wäre die Sonne näher an der Erde, würde auf ihr alles verbrennen, wäre sie weiter entfernt, wäre es auf ihr zu kalt.105 Beseitigt man die Annahme von teleologischen Finalursachen, entsteht jene Unwahrscheinlichkeit des Wirklichen, daß es – in der Konsequenz der modernen Naturwissenschaft gesehen – ein Zufall gewesen ist, der die sensiblen Lebensbedingungen auf der Erde gestiftet haben soll. Es ist ein konsequent entfalteter Cartesianismus, wenn Fontenelle als Kopernikaner im Anschluß an seine Darstellung der cartesischen Wirbeltheorie und der Erläuterung der Entstehung unseres Planetensystems die Konsequenz zieht, daß der bloße Zufall (le seul hasard) der jeweiligen Stellung der Planeten oft über das ganze Geschick entscheidet, das einem zuteil werden soll.106 Ganz so weit ist Descartes selbst noch nicht. Denn ihm geht es nicht um die Einführung des Zufalls in die Naturphilosophie, sondern um die Beseitigung der Ketten von Notwendigkeiten, die das Verstehen der Natur metaphysisch leiten und binden. Der Preis dafür ist die Last eines ideentheoretischen Gottesbeweises, da seine Physik zu einer Vereitelung eines kosmologischen Gottesbeweises führt. Nun stellt die nachteleologische Wirklichkeit eine epistemologische Herausforderung dar, die eine neue Wissenschaft erfordert, denn, wie es Francis Bacon formuliert, der »Bau des Weltalls … erscheint seiner Struktur nach dem Geist des Menschen, der es betrachtet, wie ein Labyrinth, wo überall unsichere Wege, täuschende Ähnlichkeiten zwischen Dingen und Merkmalen, krumme und verwickelte Windungen und Verschlingungen der Eigenschaften sich zei104
R. Boyle, A Disquisition about Final Causes of Natural Things: Wherein it is inquired, wether, and (if at all) with what Cautions, a Naturalist should admit them? (The Works V, 398). Diese teleologische Zweckmäßigkeit läßt sich für Boyle auch im kosmologischen Maßstab denken. So verteidigt er die Annahme: »That the sun, moon, and other coelestial bodies, excellently declare the power and wisdom, and consequently the glory of God; and were some of them, among other purposes, made to be serviceable to man.« (444) 105 W. Charleton, The Darknes of Atheism Dispelled by the Light of Nature. A Physico-Theologicall Treatise, London 1652 (Reprint: Bristol 2002), 57 f. Vgl. R. S. Westfall, Science and Religion in Seventeenth-Century England, 1958, Neuauflage: The University of Michigan Press 1973. 106 B. de Fontenelle, Entretiens sur la pluralité des mondes, vierter Abend (Œuvres complètes II, 52): »… tant il est vrai que le seul hasard de la situation décide souvent de toute la fortune qu’on doit avoir!«
§ 15 Die Wirklichkeit der Kontingenz
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gen«.107 Auch Descartes kennt die drohende Überforderung der Vernunft durch die Mannigfaltigkeit des Wirklichen, wenn er darauf hinweist, der Bereich des Möglichen der Natur sei so groß und weit und die angewendeten Prinzipien ihrer Erfassung seien so einfach und allgemein.108 Das gilt selbst für geometrische Figuren: »Nehmen wir als Beispiel ein Dreieck, ein ganz einfaches Ding, wie es scheint, dessen adäquate Erkenntnis wir scheinbar ganz leicht erlangen können; nichtsdestoweniger können wir das nicht. Denn wenn wir auch alle Attribute, die wir begreifen können, an ihm beweisen, wird dennoch, sei es in tausend Jahren, ein anderer Mathematiker mehr Eigenschaften an ihm entdecken, so daß wir niemals sicher sind, all jene erfaßt zu haben, die eben daran erfaßt werden könnten.«109 Die Simplizität des Beispiels aufgrund der unmittelbaren Anschaulichkeit eines Dreiecks – im Gegensatz etwa zu einem Tausendeck, welches unsere Anschauungskraft übersteigt – unterstreicht die Grundsätzlichkeit des epistemologischen Vorbehalts gegenüber der Erkennbarkeit kontingenter Notwendigkeiten. Dadurch wird Descartes nicht zu einem Skeptizisten, aber die Utopie klarer und deutlicher Erkenntnis wird relativiert. Die Distanz zum metaphysisch nicht dechiffrierbaren Gott provoziert eine neue Distanz zur Wirklichkeit, der man sich nicht länger durch eine Introspektion des göttlichen Intellekts annähern kann. So revolutionär die aus diesem Distanzgewinn abgeleiteten Anforderungen für eine humane Rationalität auch sein sollten, in seinen theologischen Fundamenten konnte sich Descartes durchaus als einen traditionellen Denker begreifen. Es ist eben keinesfalls nur eine Rhetorik der Ängstlichkeit, wenn er darauf hinweist, es werde keinerlei Schwierigkeiten geben, die Theologie seiner Art des Philosophierens anzupassen.110 Bereits die Unterstellung, die Theologie habe sich anzupassen und nicht etwa die Philosophie, bezeichnet die souveräne Gelassenheit, die einen Bruch mit der Theologie gar nicht intendiert. Bereits bei Thomas von Aquin hat oder hätte
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F. Bacon, Instauratio Magna, Praefatio (The Works I, 129): »Aedificium autem hujus universi structura sua, intellectui humano contemplanti, instar labyrinthi est; ubi tot ambigua viarum, tam fallaces rerum et signorum similitudines, tam obliquae et implexae naturaram spirae et nodi, undequaque se ostendunt.« 108 Vgl. Discours VI (AT VI, 64): »Mais il faut aussy que i’auouë, que la puissance de la Nature est si ample et si vaste, & que ces Principes sont si simples & si generaux …« 109 Burman (AT V, 151 f.): »E. g., sumamus triangulum, rem, ut videtur, simplicissimam, et quam facillime adaequare posse videremur; sed nihilominus illum adaequare non possumus. Etiam si enim nos omnia quae possumus concipere attributa in illo demonstremus, nihilominus vel post mille annos alius mathematicus in illo plures proprietates deteget, sic ut nos nunquam certi simus nos omnia illa comprehendisse, quae de eâ re comprehendi poterant.« 110 Brief an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 295): »Il n’y aura, ce me semble, aucune difficulté d’accomoder la Theologie à ma façon de philosopher …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Descartes lesen können, daß das Gut der ganzen Welt nur von Gott erfaßt wird, der Mensch dagegen stets nur auf ein besonderes Gut ausgerichtet sein kann und wir wohl den Willen Gottes im allgemeinen, aber nicht im einzelnen wissen können.111 Descartes hatte die Separierung der Zuständigkeiten mit dem Effekt einer Autonomisierung der Sphäre des Humanen nur zu verstärken, aber nicht zu erfinden. Mit Blick auf das späte Mittelalter konnte er sich als einen theologischen Traditionalisten verstehen.
§ 16 Die Inventur des Wirklichen Es war eine der wesentlichen Entdeckungen der frühen Neuzeit, daß es Neues zu entdecken gab. Für die Veränderung des Wissenschaftsbegriffs und für die Erwartungs- und Aufmerksamkeitshaltung gegenüber dem für wirklich Gehaltenen war diese Einsicht zunächst prägender als die Entdeckungen selbst. Die Systeme des Wissens erwiesen sich als reformbedürftig, da es Neues zu wissen und da es neues Wissen gab. Die Inventur des Wirklichen war noch nicht abgeschlossen, sondern hatte gerade erst begonnen. Den Grund für diese epistemische Anspannung und kognitive Unruhe, die auch der cartesischen Philosophie anzumerken ist, hat man sich anschaulich zu machen, denn man greift zu kurz, wenn man in der cartesischen Methodologie allein den Versuch sieht, sichere Erkenntnisse zu garantieren. Zugleich reflektiert sie das Aufkommen neuer Entdeckungen und arbeitet an einer Ökonomie der Wissenschaften angesichts der Überschwemmung der klassischen Wissenssysteme durch die Erweiterung der Kenntnisse. Pomponius Mela hatte in seinem 43/44 n. Chr. entstandenen Werk De chorographia eine Beschreibung des Erdkreises unternommen und darin die nicht unbekannte, aber unerkannte Region als situs incognitus bezeichnet.112 Dieser Terminus für die zwar nicht unentdeckten, aber aufgrund klimatischer Verhältnisse unbewohnten und unzugänglichen Regionen konnte erst unter frühneuzeitlichen Bedingungen sein Verheißungspotential entfalten. Seit Petrarca 1335 in Avignon die von Heiric von Auxerre im 9. Jahrhundert in Auftrag gegebene Abschrift von De chorographia eingesehen hatte 111
Thomas von Aquin, Summa theologiae I–II, qu. 19, art. 10 (ed. R. Busa II, 383 f.): »bonum autem totius universi est id quod est apprehensum a deo, qui est universi factor et gubernator … apprehensio autem creaturae, secundum suam naturam, est alicuius boni particularis proportionati suae naturae.« Ebd., ad 1: »Ad primum ergo dicendum quod volitum divinum, secundum rationem communem, quale sit, scire possumus … sed in particulari nescimus quid deus velit.« 112 Pomponius Mela, De chorographia libri tres I 4. Ich zitiere den Abdruck in: Pomponius Mela, Kreuzfahrt durch die Alte Welt, zweisprachige Ausgabe von Kai Brodersen, Darmstadt 1994.
§ 16 Die Inventur des Wirklichen
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und wiederum abschreiben ließ, blieb der Text präsent und damit der Hinweis auf eine Leerstelle des Wissens angesichts der unternommenen Erfassung des Wirklichen. Der terra incognita, wie es inzwischen hieß, konnte eine konstitutive Stelle für die methodische Erfassung des Wirklichen innerhalb der Organisation der Wissenschaft zugewiesen werden. Francis Bacon hat die bereits bei Pomponius Mela beschriebene Metapher der Säulen des Herkules113 zur Illustration seines Programms erhoben, die – als die Meeresenge bei Gibraltar – das Ende der bekannten Welt symbolisierten. Das Titelkupfer seiner Instauratio magna zeigt Schiffe, die die Säulen des Herkules passieren und somit die Grenzen der alten und bekannten Welt überschreiten.114 Die terra incognita war nicht länger das zwar Entdeckte, aber nicht Angeeignete an der Peripherie der Aufmerksamkeit, sondern sie markierte das Programm einer Wirklichkeitseinstellung, die Entdeckungen nicht nur zu bewältigen, sondern herbeizuführen suchte. Es ist diese epochale Differenz, daß Wissen nicht nur gesammelt und organisiert, sondern erweitert werden muß, die das historische Selbstbewußtsein der frühen Neuzeit herauszubilden half. Schon Montaigne weist darauf hin, »wieviel reichhaltiger und vielgestaltiger die Welt ist, als die Alten oder wir selbst zu durchschauen vermochten«,115 und Kepler rügt angesichts der neuen astronomischen Kenntnisse jene Philosophen, »die da mit sehenden Augen lieber blind seyn dann unserer jetzigen Zeit die Ehr gönnen und bekennen wollen daß wir etwas mehrers erfahren und erlebt dann Aristoteles und andere alte«.116 Fontenelle, Sekretär der Pariser Académie des sciences, bemerkt, ein Gelehrter seines Jahrhunderts besitze das zehnfache Wissen eines Gelehrten aus dem Jahrhundert des Augustus,117 und Pascal findet für diesen Anspruch der Modernen gegenüber dem tradierten Wissen der Alten die prägnante Formel, »die Wahrheit muß immer den Vorrang haben, wenn sie auch erst vor kurzem entdeckt wurde«.118 113
Pomponius Mela beschreibt die Schaffung der Meeresenge bei Gibraltar durch Herkules, der den fortlaufenden Gebirgskamm geteilt und dadurch dem Ozean Zugang zum Mittelmeer ermöglicht habe, in De chorographia I 27. 114 Zum Motiv des grenzüberschreitenden plus ultra vgl. E. Rosenthal, »Plus ultra, Non plus ultra, and the Columnar Device of Charles V«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 34 (1971), 204–228. 115 M. de Montaigne, Essais III 13 (ed. A. Thibaudet/M. Rat, 1049): »… combien le monde est plus ample et plus divers que ny les anciens, ny nous ne penetrons …« 116 J. Kepler, Außführlicher Bericht von dem newlich im Monat Septembri und Octobri diß 1607. Jahrs erschienenen Haarstern oder Cometen und seinen Bedeutungen (Gesammelte Werke IV, 61). 117 B. Fontenelle, Digression sur les anciens et les modernes (Œuvres complètes II, 363): »Un savant de ce siècle-ci contient dix fois un savant du siècle d’Auguste …« 118 B. Pascal, Préface sur le Traité du vide (ed. L. Lafuma, 232): »… la vérité doit toujours avoir l’avantage, quoique nouvellement découverte …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Sucht man nach einer exemplarischen Illustration des Neuen im 17. Jahrhundert, kann man sich an dem orientieren, was diesem selbst das Sensationellste war: die Entdeckung neuer Sterne. Sie markiert die Herausforderung, eine Inventur des Wirklichen durchzuführen, präziser als alle übrigen Entdeckungen. Immerhin führte sie zu einer Infragestellung der Notwendigkeit dieses in seiner Dignität noch unangefochtenen und in seinem numerischen Bestand als erfaßt angesehenen Seinsbereiches. Die Entdeckung neuer Sterne markierte sowohl einen Aufbruch in ein neues Wirklichkeitsverhältnis als auch einen Abbau der überkommenen Tradition. Die prinzipielle Vollständigkeit des Seienden war ein zwar brüchiger, aber doch auch verteidigter Konsens der antik-mittelalterlichen Tradition. Ihr entsprach eine zumindest prinzipiell mögliche Erkennbarkeit des Weltganzen. Das vorrangige Explikationsmodell dieser metaphysisch geleiteten Vollständigkeitsannahme unter der Zusatzannahme einer vollständigen Präsenz des Wirklichen war der Sternenkosmos. Vor allem Platon hatte diesen Zusammenhang für die Tradition bis in das hohe Mittelalter und darüber hinaus in die frühe Neuzeit verbindlich gemacht. In der Weltentstehungsrede des Timaios beschreibt er die Ordnung alles Seienden als von Notwendigkeit und Vernunft bestimmt.119 Das gilt auch für die Sterne. So sind die Planeten auf ihre festen und vollkommenen Bahnen um die Erde gesetzt worden, damit ihr Gleichlauf die von der Bewegung abhängig gedachte Zeit garantiert.120 Die Fixsterne dagegen sind unwandelbar, göttlich und gleichmäßig über den Himmel verteilt.121 Die Ordnung des ganzen Weltalls offenbart sich in den Zahlenverhältnissen, die das Geschaffene miteinander verbindet, und in den geometrischen Bestimmungen etwa der Planetenumläufe, die vollkommenen Kreisbahnen folgen.122 Auch Aristoteles hebt hervor, daß am Himmel nichts durch Zufall geschieht.123 Mehr noch: Für ihn sind die Sterne so notwendig, daß wir für den Fall, daß wir sie nicht sähen, zwar nichts über ihre Beschaffenheit wüßten, wohl aber von der Notwendigkeit ihrer Existenz ausgingen.124 Für den Zufall läßt die translunare Ordnung als Ausdruck und Inbegriff einer vernünftigen Notwendigkeit keinen Raum, nicht einmal, wie man folgern muß, bei der Anzahl der Sterne. Noch Dante hat Kontingenz nur im sublunaren Raum zugelassen.125 Ein Eindringen des Nichtnotwendigen in den stellaren Bereich ist daher für die Reflexion der Kontingenz von unüberbietbarer Prägnanz und indiziert die Tragweite des gewandelten Seinsverständnisses. 119 120 121 122 123 124 125
Platon, Timaios 48 a. Timaios 38 c–39 e. Timaios 40 b. Timaios, 35 a–36 d; 39 a–d. Aristoteles, Physica II 5, 196 b. Aristoteles, Metaphysica VII 16, 1041 a. Dante spricht in der Divina commedia, Paradiso XVII, 37 f. (ed. G. Vandelli, 762) von
§ 16 Die Inventur des Wirklichen
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Im März 1610 erschien in Venedig Galileis Schrift Sidereus Nuncius. Sie war eine Sensation, faßte sie doch Galileis erste Entdeckungen mit dem gerade entwickelten Fernrohr zusammen. Sie enthielt nicht nur Beschreibungen der Mondoberfläche, die sich in der Vergrößerung als keinesfalls glatt, sondern vielmehr zerfurcht zeigte, sondern vor allem die Entdeckung der vier Jupitermonde. Damit war die Anzahl der Himmelsobjekte im bereits kopernikanisch gedachten Sonnensystem schlagartig erhöht. Damit nicht genug: Der Blick durch das Fernrohr offenbarte eine unübersehbar große Anzahl neuer Sterne. Bereits beim Anblick des Sternbildes des Orion ist Galilei »überwältigt« (obrutus) von der »ungeheuren Menge« (ingens frequentia) an Sternen, er schätzt sie auf mehr als fünfhundert.126 Was dem früheren Eindruck nach ein kosmischer Nebel zu sein schien, etwa die Milchstraße, offenbart sich Galilei bei genauerem Hinsehen als dichte Ansammlung von ganzen Sternenhaufen. Die Anzahl der darin enthaltenen kleinen Sterne gilt ihm als »völlig unerforschlich«.127 Das Auftauchen neuer Himmelsobjekte war zum Inbegriff einer zu schärfenden Aufmerksamkeit gegenüber der wahrnehmbaren Wirklichkeit geworden. Bereits 1572 war im Sternbild der Kassiopeia ein neuer Stern sichtbar gewesen, der 1574 wieder verschwand. Descartes erwähnt dieses Ereignis in den Principia philosophiae.128 1604 erschien im Ophiuchus neben Saturn, Jupiter und Mars, ein vierter, sehr heller Stern. Für Kepler ist das Auftauchen dieses neuen Sternes »nit ein gemein ding … sondern ein grosses wunder«,129 da es den Kenntnisstand, den Hipparch und Ptolemäus und alle nachfolgenden Mathematici besaßen, überbietet. Zugleich konkretisierte der astronomische Fortschritt die Kritik an der Tradition und am Aristotelismus als dominantem Interpretationsmodell kosmischer Vorgänge. Man griffe daher zu kurz, wollte man in Galileis kleiner Schrift von 1610, die von den ersten Ergebnissen einer durch das Fernrohr technisch gesteigerten astronomischen Optik berichtet, allein ein denkwürdiges Dokument der Astronomiegeschichte sehen. Sie repräsentiert vielmehr in nuce den grundlegenden Schritt vom antik-mittelalterlichen zur Notwendigkeit eines neuzeitlichen Realitäts- und Rationalitätsbegriffs. Hält man sich vor Augen, daß die Kosmologie ein in der Tradition bis weit in die Neuzeit hinein dominantes Explikationsmoder Kontingenz als den Zufälligkeiten, die sich nicht weiter erstrecken als wie die irdische Materie, an der der Mensch teilhat: »La contingenza, che fuor del quaderno / della vostra matera …« 126 G. Galilei, Sidereus Nuncius (ed. Nazionale III–1, 76, 78). 127 Ebd. (ed. Nazionale III–1, 78): »… sed exiguarum multitudo prorsus inexplorabilis est.« 128 Principia III 104 (AT VIII–1, 152). 129 J. Kepler, Gründtlicher Bericht von einem ungewohnlichen Newen Stern wellicher im October ditz 1604. Jahrs erstmahlen erschienen (Gesammelte Werke I, 397).
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
dell metaphysischer Annahmen war, dann sollte der Umbruch im ehrwürdigen Gegenstandsbereich der Sternenwelt für eine fundamentale Verschiebung aller Rationalitätsstandards stehen. Denn es war die empirische Entdeckung neuer Planeten und Sterne, die die Marginalisierung der platonisch-aristotelischen Eidetik in der frühen Neuzeit eingeleitet hat. Das unausgesprochen vorausgesetzte ›Sichtbarkeitspostulat‹ des antiken Wirklichkeitsverständnisses war als ein Irrtum überführt, jeglicher Realismus hat seitdem als unabgeschlossen zu gelten: »Wie viele Wesen haben wir mit den Fernrohren entdeckt, Wesen, die für unsere vorherigen Philosophen überhaupt nicht existierten!«130 Die technische Verlängerung der als unbedingt endlich begriffenen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen forcierte den Zusammenbruch des alten Weltbildes. Erst das mit einem Teleskop »bewaffnete Auge«, wie Kant die technische Erweiterung unserer sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit nennt,131 hat gesehen, was zuvor existent, aber als Phänomen unerschlossen gewesen war. Die Geschichte der Technik in der Neuzeit sollte diese Erweiterung der Realität als Gegenstand der Erkenntnis fortschreiben. Von Descartes ist bekannt, daß er, im Alter von fünfzehn Jahren, an seiner Schule La Flèche an einer Feier teilnahm, die 1611 zu Ehren der Entdeckung der Jupitermonde durch Galilei begangen wurde.132 Trotz der noch vorherrschend scholastischen Ausbildung waren die Jesuiten von La Flèche den astronomischen Erkenntnissen ihrer Zeit gegenüber aufgeschlossen. Descartes, der sich als Repräsentant der Leitidee eines radikalen Neuanfangs entsprechend kritisch gegenüber allen Traditionen und ihrer Vermittlung gab, erinnerte sich im privaten Rückblick an die Jesuitenschule mit uneingeschränktem Lob.133 Das muß nicht als Höflichkeit verstanden werden. In seinem Werk Le Monde ou Traité de la lumière kommt Descartes auf die Wahrnehmbarkeit der Sterne zu sprechen, und es zeigt sich, daß Galileis technische Sichtbarmachung des Ungesehenen, die er in La Flèche kennengelernt hatte, bereits zum theoretisch reflektierten Bestandteil des cartesischen Wirklichkeitsbegriffs geworden ist.134
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B. Pascal, Pensées 782–266 (ed. L. Lafuma, 600): »Combien les lunettes nous on-elles découvert d’êtres qui n’étaient point pour nos philosophes d’auparavant!« 131 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, erster Teil, erstes Buch, § 5 (Akademie-Ausgabe VII, 135). 132 Vgl. St. Gaukroger, Descartes, a. a. O., 59. 133 Vgl. Brief an Unbekannt, 12. September 1638 (AT II, 377 ff.). Im Discours dagegen betont er, er habe sich von der Unterdrückung durch seine Lehrer befreien wollen, um die scholastische Philosophie zu überwinden (Discours I, AT VI, 9). 134 Descartes besaß ein ausdrückliches Bewußtsein über den Zusammenhang einer technisierten Wissenschaft und ihren bahnbrechenden Ergebnissen. In einem Brief an Mersenne ( Januar 1630, AT I, 113) weist er darauf hin, die exakte Feststellung der Position der Sterne erfordere aufgrund der irritierenden Strahlenbrechung so genaue Instrumente und
§ 16 Die Inventur des Wirklichen
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Descartes kommt auf die Sterne zu sprechen, als er anhand ihrer Sichtbarkeit seine Theorie des Lichts erläutert. Da für ihn die Lichtstrahlen reflektierbar, vermischbar, ablenkbar oder durch Brechung beeinflußbar sind, ist die Zahl der Sterne für ihn nicht exakt festzustellen. Denn aufgrund der beschriebenen Eigenschaften des von einem Stern ausgehenden Lichtes sei es möglich, daß ein und derselbe Stern für uns als Betrachter an verschiedenen Positionen erscheinen kann.135 Damit nicht genug. Der größte Teil der Sterne ist für Descartes – als Folge seiner Theorie des Lichts – überhaupt nicht sichtbar.136 War das Überraschende an Galileis Nutzung des Fernrohres die Erwartungshaltung, durch dieses technische Instrument das Bekannte nicht nur genauer erkennen zu können, sondern darüber hinaus Neues zu erkunden, so ist nicht nur die Entdeckung der neuen Jupiter-Monde – an die Descartes in Le Monde eigens erinnert137 –, sondern vor allem die ins Unermeßliche wachsende Zahl potentieller Erkenntnisobjekte bei Descartes zu einem kritischen Leitmotiv der Erkennbarkeit von Wirklichem geworden. Was die Annahme einer unzähligen Anzahl von möglichen Erkenntnisobjekten revolutionär macht, ist die Verabschiedung des Paradigmas der Konvertibilität von Sein und Maß, Maß und Schönheit, Erhabenheit und Erkennbarkeit. Für die theologisch inspirierte Tradition galt die alttestamentarische Formel aus Weisheit (11, 20), wonach Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat: omnia mensura et numero et pondere disposuisti.138 Die Himmel, heißt es im 19. Psalm, rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament. Aber auch für die nichtchristliche Tradition der Antike galt eine Synonymität von Seins- und Erkenntnisprinzip, die in der Kategorie des Maßes ihren Ausdruck und in der Ethik des rechten Maßes ihre konsequente Entfaltung fand. Nun gab es in der theologischen Tradition immer – wenn auch mehr oder weniger betont – die mögliche Überbietung des Seienden durch die Macht Gottes, so daß das mensura-Prinzip an der Schöpfungsfähigkeit Gottes seine Grenze fand, aber es ist ein neuer Gedanke, daß nicht nur die Macht Gottes, sondern die tatsächliche Wirklichkeit maßlos im Sinne einer unsere Erkenntnisfähigkeit sprengenden Vielfalt sein sollte. Für unser Erkenntnisvermögen, so
so exakte Berechnungen, daß noch niemand sie habe untrüglich bestimmen können: »Mais ces choses là requierent des instrumens si iustes, & des supputations si exactes, que ie n’ose esperer que personne du monde ait encore pû determiner cela assurément …« 135 Monde XV (AT XI, 106). 136 Monde XV (AT XI, 107). 137 Monde X (AT XI, 72). 138 Vgl. I. Peri, »Omnia mensura et numero et pondere disposuisti: Die Auslegung von Weish 11, 20 in der lateinischen Patristik«, in: A. Zimmermann (Hg.), Mensura. Mass, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 16/1), Berlin/New York 1983, 1–21.
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Descartes, sei die Anzahl kleiner Teilchen, aus denen alles zusammengesetzt ist, unendlich (infinit): Allein das allerkleinste Sandkorn enthalte davon mehrere Millionen.139 Was Descartes mit seiner Annahme unzählbarer Sterne und Teilchen innerhalb eines Sandkornes hinter sich läßt, ist die Vorstellung einer auf die menschliche Erkenntnisfähigkeit abgestimmte Wirklichkeit. Die Wirklichkeit überbietet den Menschen. Nicht ohne Geschick relativiert Descartes die Stellung des Menschen auch im theologischen Weltentwurf, indem er die Unzählbarkeit der Sterne und Sandkörner mit der Zahl der Engel vergleicht, um herauszustellen, daß die Unermeßlichkeit als zu lobende Eigenschaft der Schöpfung anzusehen sei: »Wenn die heilige Schrift an verschiedenen Stellen von der unzählbaren Menge der Engel spricht, bestätigt sie voll und ganz diese Meinung: Denn wir glauben, daß die geringsten Engel unvergleichlich viel vollkommener sind als die Menschen.«140 Die Maßlosigkeit des Seienden verändert das Selbstverständnis der Rationalität. Dabei ist es gar nicht entscheidend, ob das Seiende tatsächlich maßlos ist oder nur die Fassungskraft der menschlichen Erkenntnisfähigkeit übersteigt. Es ist das sich in der Wirklichkeit erweisende plus ultra, das in der spekulativen Anwendung der Rationalität dazu dient, die Tradition hinter sich zu lassen und eine ›neue Welt‹ zu erfassen und zu entwerfen. Entscheidend für die Genese dieser neuen Welt ist der Einbruch der Kontingenz in die Systeme der Notwendigkeitsannahmen. Allein die prinzipielle Unsicherheit gegenüber der Anzahl der Sterne markiert diese elementare Kontingenzerfahrung. In einer Welt der Notwendigkeit kann es schon eine quantitative Unschärfe für die Rationalität nicht geben. Spinozas absoluter Nezessitarismus fordert daher völlig konsequent, wenn es in der Natur eine bestimmte Zahl von Individuen gebe, es notwendigerweise eine Ursache geben müsse, warum genau diese Zahl von Individuen und warum nicht mehr und nicht weniger da seien: Wenn in der Welt zwanzig Menschen da wären, so genüge es nicht, die Ursache der menschlichen Natur im allgemeinen zu zeigen, sondern es sei nötig, die Ursache zu zeigen, warum weder mehr noch weniger als zwanzig da sind, da es notwendig von einem jeden eine Ursache geben muß, warum er da ist.141 Diese Position eines metaphysischen Nezessitarismus ist bereits als eine Reaktion auf die frühneuzeitli139 140
Monde III (AT XI, 12). Brief an Chanut, 6. Juni 1647 (AT V, 56): »Lors que l’Ecriture sainte parle en diuers endroits de la multitude innombrable des Anges, elle confirme entierement cette opinion: car nous iugeons que les moindres Anges sont incomparablement plus parfait que les hommes.« 141 B. de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata I, prop. VIII, schol. 2 (ed. C. Gebhardt II, 50 f.): »His positis sequitur, quòd, si in naturâ certus aliquis numerus individuorum existat, debeat necessariò dari causa, cur illa individua, & cur non plura, nec pauciora exi-
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che Erosion des Notwendigen zu verstehen. Wenn auch unter den modernen Bedingungen das individuelle Seiende noch nicht als das Resultat eines Zufalls verstanden wurde, nimmt doch die Angabe der Ursachen des Seienden innerhalb des Wirklichen einen zunehmend hypothetischen und modellhaften Charakter an. Bereits das platonisch-aristotelische Kosmosmodell, das für das Mittelalter Klassizität beanspruchen konnte, enthielt Momente der unentdeckten Kontingenz. Selbst wenn man annimmt, daß die Anzahl der Sterne keinem Wandel unterliegt, sondern Teil eines festgefügten translunaren Seinsbestandes ist, bleibt zu klären, warum es eine gerade oder eine ungerade Anzahl von ihnen gibt. Um dieses Faktum am Rande der erhabenen Dignität nicht dem Zufall zu übereignen, ließe sich vielleicht noch ein Hinweis auf ein optimales Zahlenverhältnis mit Verweischarakter innerhalb eines maßvollen Systems denken. Was ist aber mit der Bewegungsausrichtung der Himmelskörper auf ihren Bahnen? Zwar soll diese Bewegung vollkommen gleichmäßig und erhaben sein, aber ein unerkanntes Moment der Kontingenz besteht in der nicht ableitbaren oder aufweisbaren Notwendigkeit, in welche Richtung sich die Himmelskörper bewegen. Das gilt noch für die moderne Einsicht in die Eigenrotation von Himmelskörpern.142 Es sind diese unmerklichen Momente der Kontingenz, die in der frühen Neuzeit durch die Entdeckung neuer Sterne in ein Stadium der aufdringlichen Sichtbarkeit überführt werden. Das kosmische Gesamtsystem bietet nicht länger ein Erläuterungsmodell metaphysisch fundierter Teleologien. Für diesen Teleologieabbau reicht es, wenn man über den bis weit in die Neuzeit hinein erhabenen Erkenntnisgegenstand der Sterne nicht zu sagen weiß, aus welchem Grund wie viele von ihnen existieren und ob wir alle vorhandenen überhaupt auch nur zu sehen imstande sind. Ebenso vermag man keinen wissenschaftlich vertretbaren Grund für das Auftauchen neuer Sterne anzugeben. Hatte die biblische Erzählung die Geburt Christi mit dem Erscheinen eines neuen Sternes illustriert, der in der theologischen Deutung den Seinsbestand ebenso durchbricht, wie der
stunt. Si … in rerum naturâ 20 homines existant …, non satis erit … causam naturae humanae in genere ostendere; sed insuper necesse erit, causam ostendere, cur non plures, nec pauciores, quam 20 existant; quandoquidem … uniuscujusque debet necessariò dari causa, cur existat.« 142 Bernulf Kanitscheider hat in seinem Buch Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur (Darmstadt 1993, 156) auf das »unreduzierbare restliche Zufallselement« innerhalb aller Welterklärung verwiesen und es anhand der Rotationsbewegung von Himmelskörpern illustriert: »Daß die Erde im Rahmen der Entstehung des Sonnensystems eine Rotationsbewegung erhielt, hängt sicher mit dem ursprünglichen Drehimpuls der Gaswolke zusammen, aus dem Sonne und Planetenkranz entstanden sind. Aber der Erhaltungssatz für den Drehimpuls legt keineswegs die Richtung der Rotation fest.«
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Erlöser die Kontinuität der Geschichte unterbrechen soll, bleiben der frühneuzeitlichen Astronomie stellare Veränderungen unerklärlich. Die Entdeckung neuen Wissens veränderte den Status des bekannten Wissens und provozierte eine methodische Sichtung und Reorganisation der Wissenschaften. Gleichsam als ein Reflex auf erste partikulare Neuerungen im Wissensbestand, die es zu integrieren galt, wurde der Gedanke einer notwendigen und möglichen Universalität der Wissenschaft auf nachmittelalterliche Weise virulent. Da die Welt nicht mehr als ein geordneter Seinsbestand zu begreifen war, den abschließend zu kennen prinzipiell für möglich gehalten worden war, bedurfte es eines universalen Regelverfahrens, wie Wissen von Wirklichem errungen, gesichert und geordnet werden kann. Descartes’ Regulae ad directionem ingenii und der Discours de la méthode sind Spätwerke dieser Reorganisationsbemühung. Ihnen liegt der Versuch voraus, das vorhandene Wissen in einer Universalwissenschaft verfügbar zu machen: als eine Polyhistorie, durch Kompendien oder als enzyklopädisches Wissen – kurz: als eine Topica universalis.143 In diesen Universaltopiken – etwa bei Rudolph Agricola, Petrus Ramus oder Johann Heinrich Alsted – wurde das vorhandene Wissen zu einem homogenen Geltungsfeld, das durch die methodische Ausweisung von Örtern organisiert und überschaubar gemacht werden sollte. Der Topik, lange Zeit Element der Rhetorik, kam dabei ein neuer epistemischer Rang zu, da man in ihr die Möglichkeit der Anordnung des Wissens zum Zweck seiner Verfügbarkeit erkannte. Spätestens seit Bartholomäus Keckermanns Systema logicae144 stand für diese universale Zusammenstellung des Wissens der Begriff ›System‹ bereit. Das System im universaltopischen Sinn ist die methodisch geleitete Inventur des Wissens für den Zweck seiner Verfügbarkeit. Das operative Verfahren, mit dem topisch bestimmten Feld des Wissens umzugehen, hatte bereits Cicero vorgegeben. Es hat zwei Aspekte: die inventio und das judicium.145 Das Auffinden und Beurteilen von Wissensbeständen sollte im Rahmen der Universaltopik eine neue Übersichtlichkeit unter den nachmittelalterlichen Bedingungen transformierter Wirklichkeitsbestimmungen schaffen. Ohne Zweifel waren die Universaltopiken darin innovativ, daß sie ihre Ordnung nicht einer metaphysisch explizierten Einsicht in die Schöpfung zu entnehmen suchten. Da das Beurteilen bereits ein konstitutiver Akt der Materialsammlung 143
Vgl. W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983. 144 Keckermanns Systema logicae erschien 1600 in Hannover. Auch andere seiner Werke prononcierten den Systemcharakter ebenfalls bereits im Titel: Systema ethicae (London 1607), Systema physicum (Danzig 1610), Systema astronomiae (Hanau 1611). 145 Cicero, Topica II 6 (ed. K. Bayer, 8): Jede sorgfältige Methode des Erörterns habe zwei Teile, »unam inveniendi, alteram iudicandi«.
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war, folgte das System des Wissens einem inhärenten Prinzip. Die Universaltopiken waren geordnete Sätze und Prädikationen. Als Satzwissenschaften unterwarfen sie das Wissen einer notwendigen Kohärenz. Damit war zugleich ihre Leistungsfähigkeit und Limitierung bestimmt, wie Francis Bacon urteilte. Er forderte eine Sachhaltigkeit der Invention, eine Ausrichtung der Wissenschaft auf die Natur (investigare rem).146 Die Universaltopiken als Verwalterinnen von Satzwahrheiten waren zwar tendenziell ›universal‹ ausgerichtet, aber doch eher statisch konstituiert. Erweiterungen bedeuteten Vervollständigungen, nicht mehr. Bacon dagegen reagiert auf die Einsicht, daß das Wirkliche noch gar nicht erkannt ist. Sein Versuch, eine nachmittelalterliche Wissenschaft von den Dingen zu begründen, hat das reflektierte Wissen von der Unabgeschlossenheit der Welteinsicht zur Voraussetzung. Man könne hoffen, daß die Natur noch vieles Vortreffliche verborgen halte, was mit dem bisher Erfundenen keine Verwandtschaft und Ähnlichkeit habe, sondern weit von den Wegen der Einbildungskraft entfernt liege und noch nicht entdeckt worden sei.147 Auch Descartes’ erste Regel zur Ausrichtung der Erkenntniskraft enthält diesen Imperativ der Offenheit gegenüber dem noch Unerkannten, wenn es dort heißt, es müsse das Ziel der wissenschaftlichen Studien sein, die Erkenntniskraft darauf auszurichten, daß sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringe.148 Gegenüber allem, was vorkommt oder begegnet (omnibus quae occurrunt) aufgeschlossen sein – in dieser Formulierung scheint eine gewandelte Erwartungshaltung gegenüber dem zu Wissenden durch. In einem Brief an Mersenne beschreibt Descartes sein Wissenschaftsprojekt als von einer den Erkenntnisobjekten gegenüber offenen Methode bestimmt, wenn er darauf hinweist, er brauche sein Vorhaben nicht mehr zu ändern, da alles, was er an Neuem lernen werde, diesem dienlich sei.149 Das erwartete Neue ist als Vorkommnis der cartesischen Rationalität integriert: Es kann unsere Kenntnis des Wirklichen verändern, nicht aber die Methode ihrer Aneignung. In Les Météores versucht er exemplarisch anhand der Erklärung der Regenbogen zu belegen, daß die Anwendung seiner neuen Methode zu Erkenntnissen führt, die in den
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Vgl. F. Bacon, Novum Organum I 129. Novum Organum I 109 (The Works I, 208): »Itaque sperandum omnino est, esse adhuc in naturae sinu multa excellentis usus recondita, quae nullam cum jam inventis cognationem habent aut parallelismum, sed omnino sita sunt exra vias phantasiae; quae tamen adhuc inventa non sunt…« 148 Regulae I (AT X, 359): »Studiorum finis esse debet ingenij directio ad solida & vera, de ijs omnibus quae occurrunt, proferenda judicia.« 149 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 138): »Mais ce qui m’assure que ie ne changeray plus de dessein, c’est que celuy que i’ay maintenant est tel que, quoy que i’apprene de nouueau, il m’y pourra seruir …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Büchern, die wir besitzen, nicht enthalten waren.150 Die neue Methode dient nicht allein einer neuen Sicherung alter Wissensbestände, sondern einer Hervorbringung neuer Einsichten, die das Wissen der Tradition übertrifft. Unverkennbar ist, daß sich die Aufgabe des Judiciums verschärft hat. Hier ist nicht mehr von einem Abwägen, Befürworten oder Verwerfen die Rede, sondern von der Härte eines eindeutigen Verifikationsverfahrens. Bestand die Universaltopik in einer Inventur des Wissens, verlangt die Unabgeschlossenheit der Welterfassung nach einer Inventur des Wirklichen. Eine universaltopische Zusammenschau und Ordnung des Wissensbestandes entsprach nicht mehr der Einsicht in die sukzessiv zu leistende Arbeit eines Etappenrealismus. Damit ist das Motiv der Durchsicht der Wissensbestände nicht preisgegeben. Zur Vervollständigung der Wissenschaft sei es nötig, das, was zum cartesischen Vorhaben gehört, Stück für Stück in kontinuierlicher und ununterbrochener Bewegung des Denkens durchzumustern und es in einer hinreichenden und geordneten Aufzählung zusammenzufassen.151 Die Durchmusterung (perquisitio) bleibt eine kritische Durchsicht von für wahr angenommenen Prädikationen. Eine methodische Pointe der cartesischen Methodik der Wissensabsicherung besteht darin, im Judicium nur eine Eindeutigkeit der Zustimmung zu verlangen: Bestehen auch nur Zweifel an der Richtigkeit einer Annahme, ist sie auszuschließen, auch wenn ihre Falschheit nicht nachgewiesen werden kann. Zugleich besticht die cartesische Inventur des Wissens von Wirklichem durch ihre operative Offenheit gegenüber dem Unentdeckten: Ihre Universalität ist eine des Prüfverfahrens, nicht eine Vollständigkeit eines topischen Feldes im Sinne einer enzyklopädischen Kompilation. Veränderte das Auftreten eines qualitativ neuen Wissens das traditionelle topische Wissenssystem so grundsätzlich, daß das Geltungsfeld erweitert werden mußte, bleibt das cartesische Judicium als methodisches Verfahren unverändert. Dabei erhält der Akt der Invention, das Auffinden des Wissbaren, eine neue Bewertung. War noch für Petrus Ramus das Judicium der hauptsächlichste und vornehmste Teil der ars,152 gilt es nunmehr, nicht allein das Gewußte zu verwalten, sondern das erst noch zu Wissende aufzufinden. Der wissenschaftlich zu beherrschende Wissensbestand wird prospektiv geöffnet.
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Météores VIII (AT VI, 325): »… par la methode dont ie me sers, on peut venir a des connoissances que ceux dont nous auouns les escrits n’ont point euës.« 151 Regulae VII (AT X, 387): »Ad scientiae complementum oportet omnia & singula, quae ad institutum nostrum pertinent, continuo & nullibi interrupto cogitationis motu perlustrare, atque illa sufficienti & ordinatâ enumeratione complecti.« 152 P. Ramus, Dialecticae Institutiones, Paris 1543, Blatt 19, zweite Seite: »Vdicium sequitur, pars artis maxima, nobilissimaque …«
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Da die Inventur des Wirklichen nicht mit alten Methoden zu leisten ist, gehört das Selbstverständnis des Neuen konstitutiv zum Cartesianismus. Ausdrücklich sieht sich Descartes im späten Rückblick als ein »Autor einer neuen Philosophie« (autheur d’vne nouuelle Philosophie).153 Darin teilt Descartes das Selbstbewußtsein seiner Zeitgenossen, die an der Begründung einer neuen Wissenschaft interessiert sind.154 Dieser Neubegründungswille hat sich in den in der frühen Neuzeit oftmals auffindbaren Metaphern vom Neubau niedergeschlagen, wenn etwa Bacon für die Illustration seiner neuen Wissenschaft zu dem Bild greift, er lege im menschlichen Geist den Grundstein für einen heiligen Tempel nach dem Modell der Welt.155 Im gleichen Bild versucht Descartes das Alte durch ein Untergraben seiner Fundamente zusammenstürzen zu lassen und das abgerissene Haus durch einen Neubau zu ersetzen.156 Das traditionelle Wissen, so läßt er Eudoxus in seinem Dialog über die Recherche de la vérité ausführen, sieht er als ein mißratenes Haus an, dessen Fundamente nicht fest sind. Er wisse kein besseres Mittel, um Abhilfe zu schaffen, als es ganz abzureißen und ein neues aufzubauen. Er wolle nicht zu jenen ungeschickten Handwerkern gehören, die bloß alte Arbeiten ausbessern, weil sie sich neue nicht zutrauen.157 Das Neuartige der cartesischen Philosophie läßt sich bestimmen, wenn man die Fluchtlinien der zwei bislang skizzierten Ausgangspunkte – die Unabgeschlossenheit der Wirklichkeitsaneignung und die defizitäre Verfassung der traditionellen Wissenssysteme, dieses Neue systematisch zu integrieren – konvergieren läßt: Im Kern ist der Cartesianismus »angestrengte Wachsamkeit« (laboriosa vigilia).158 Dieses mühsame Wachsein rechnet mit allem. Es kennt die Wahrheit nicht als eine sich gleichsam von selbst aufdrängende und nur priva-
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Brief an Freinshemius, Juni 1649 (AT V, 362). Vgl. auch die abwägenden Äußerungen zur Neuheit seiner Philosophie im Discours VI (AT VI, 77). 154 Steven Shapin hebt dieses Modernitätsbewußtsein der Autoren des späten 16. und des 17. Jahrhunderts in seinem Buch The Scientific Revolution (Chicago/London 1996, 5) ausdrücklich hervor: »They identified themselves as ›moderns‹ set against ›ancient‹ modes of thought and practice.« Die Konstatierung eines Innovationsbewußtseins zu Beginn der Neuzeit ist daher nicht allein eine Projektion einer späten Moderne, die ihre Anfänge glorifiziert. 155 F. Bacon, Novum Organum I 120 (The Works I, 214): »… sed templum sanctum ad exemplar mundi in intellectu humano fundamus.« 156 Vgl. Meditationes I (AT VII, 18), Discours II (AT VI, 13). 157 Recherche (AT X, 509): »… & je la tiens pour quelque maison mal bastie, de qui les fondemans ne sont pas assurés. Je ne sçay point de meilleur moyen pour y remedier, que de la jetter toute par terre, & d’en bastir une nouvelle; car je ne veux pas estre de ces petits artisans, qui ne s’employent qu’à raccomoder les vieux ouvrages, pour ce qu’ils se sentent incapables d’en entreprendre de nouveaux.« 158 Meditationes I (AT VII, 23).
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
tierbare Eigenschaft des Seins, sondern was als wahr zu gelten hat, ist der Mühe der philosophischen Reflexion abgerungen. Die angestrengte Wachsamkeit ist willentlich forcierte Aufmerksamkeit. Diese »mühevolle Unternehmung«159, diese »gewaltige Aufgabe«160 illustriert Descartes am Ende der Ersten Meditation, wo er den Begriff der laboriosa vigilia einführt, mit der Gegenüberstellung von Traum und Wachheit,161 so daß die angestrengte Wachsamkeit die stets gefährdete Überwindung des Schlafs der Vernunft ist. Wenn sich dem Cartesianismus ein inhärenter Imperativ entnehmen läßt, dann diese Aufforderung, die Mühe der Wachsamkeit auf sich zu nehmen. Die laboriosa vigilia ist der Widerspruch zu einer faulen Vernunft (ratio ignava), von der Kant sagen wird, ihr Fehler bestünde darin, daß durch sie der Mensch »seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begiebt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe«.162 Die laboriosa vigilia ist die ins Programmatische gesteigerte Form dessen, was sich bei Descartes als Theorie der Aufmerksamkeit findet. Für sie entscheidend ist ihre voluntative Bestimmung: Im Kontext der cartesischen physiologischen Theorie kommt den Lebensgeistern (esprits animaux), die von der Zirbeldrüse aus wie aus einer überströmenden Quelle in das gesamte Gehirn und über die Nerven in den übrigen Körper strömen, die Funktion zu, die Verbindung von Leib und Seele zu erläutern.163 Der Wille hat nun die Kraft, die Hirndrüse so zu bewegen und auszurichten, daß die Lebensgeister zu einer bestimmten Stelle des Gehirns strömen, was einer Fokussierung der Aufmerksamkeit gleichkommt.164 Das Resultat ist die Möglichkeit einer besonderen Reflexion und Aufmerksamkeit (une reflexion & attention particuliere), auf die der Wille den Verstand verpflichten kann (à laquelle nostre volonté peut tousjours obliger nostre entendement).165 Welche Tragweite dem Aspekt der angestrengten Aufmerksamkeit im cartesischen Rationalismus zukommt, kann man daran ablesen, daß Descartes die Aufmerksamkeit zu einer der Bedingungen macht, die erfüllt sein müssen, um eine klare Perzeption zu garantieren: Eine Perzeption ist für ihn klar, wenn sie dem
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Ebd. (AT VII, 23): »Sed laboriosum est hoc institutum …« Ebd. (AT VII, 17): »… sed ingens opus esse videbatur …« Zum Problem einer Unterscheidung von Wirklichem und Geträumten vgl. D. Blumenfeld, »Can I Know That I Am Not Dreaming?«, in: M. Hooker (Hg.), Descartes. Critical and Interpretive Essays, Baltimore/London 1978, 234–255; B. Williams, Descartes. The Project of Pure Enquiry, Harmondsworth 1978, 309–313. 162 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 717 f. (Akademie-Ausgabe III, 454). 163 Vgl. Homme (AT XI, 139 ff.) 164 Vgl. Passions I, art. 43, II, art. 70. 165 Passions II, art. 76 (AT XI, 385).
§ 16 Die Inventur des Wirklichen
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aufmerksamen Geist gegenwärtig und offenkundig ist.166 Das Ideal klarer und distinkter Erkenntnis ist ohne eine angestrengte Aufmerksamkeit nicht zu erfüllen. In der laboriosa vigilia ist die auf die gesamte Wissenschaft übertragene Verpflichtung zur willentlichen Aufmerksamkeit zusammengefaßt, um dem Schlaf des Vorurteils, des unzureichenden und unabgeschlossenen Wissens und der Beruhigung durch die normative Tradition zu entgehen. Erkenntnis wird als eine voluntativ bestimmte Tätigkeit definiert, deren rezeptiver Charakter marginalisiert wird. Der Komparativ der Aufmerksamkeit reagiert auf die Verunsicherung über das, was als wirklich zu gelten hat. Die Bereitschaft, »die Dinge mit Aufmerksamkeit zu betrachten«,167 wird zur Eintrittsbedingung in die Philosophie des Cartesianismus. Sie macht den Entschluß verbindlich, »durch eine aufmerksame und oft wiederholte Meditation«168 die Last der Irrtümer abzubauen. Für den Meditierenden sind die klaren und distinkten Urteile verläßlich, denn »er weiß, daß er sich in ihnen nicht täuscht, weil er ja auf sie acht gibt«169 und ihnen somit Aufmerksamkeit schenkt. Daß in dem Imperativ der Aufmerksamkeitssteigerung ein durchaus spezifisches Moment der frühneuzeitlichen Selbstauffassung der theoretischen Einstellung verdichtet ist, kann man daran ablesen, daß er nicht allein unter den Prämissen eines Rationalismus formulierbar gewesen ist. Auch Locke verweist auf das Spektrum möglicher Aufmerksamkeitsgrade, das von einem traumlosen Schlaf über eine betrachtende Aufmerksamkeit (attention) gegenüber sich selbst darbietenden Ideen, die vom Gedächtnis registriert werden, bis zur »angespannten Aufmerksamkeit« (intention) reicht.170 Bei dieser angespannten Aufmerksamkeit richtet sich der Geist »mit vollem Ernst« (with great earnestness) auf eine bestimmte Idee, die er von allen Seiten zu betrachten sucht, ohne sich von dem gewöhnlichen Andrang anderer Ideen ablenken zu lassen.171 Darin wird ein
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Vgl. Principia I 45 (AT VIII–1, 22), wo Descartes die klare Perzeption definiert: »Claram voco illam, quae menti attendenti praesens & aperta est …« (Hervorhebung J.G.) 167 Réponses II (AT IX–1, 123): »… considerer les choses auec attention …« Ausdrücklich betont Descartes an dieser Stelle, er wende sich in den Meditationes allein an diejenigen, die zu dieser Aufmerksamkeit bereit seien. 168 Méditations IV (AT IX–1, 49): »… par une meditation attentiue & souuent reiterée …« 169 Burman (AT V, 148): »… scit se in iis non falli, qoniam ad ea attendit …« 170 J. Locke, An Essay concerning Human Understanding II, ch. 19, § 1 (ed. P. H. Nidditch, 227). Nidditch erläutert den Terminus intention in seinem Glossar durch die Umschreibungen mental application or effort, es ist eine anspannende (straining) Aufmerksamkeit mit der Eigenschaft der Verstärkung (intensification) der Aufmerksamkeit (843). Sie ist somit eine angespannte Aufmerksamkeit, eine laboriosa vigilia. 171 Ebd. (ed. P. H. Nidditch, 227): »When the mind with great earnestness … fixes its
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
Motiv sichtbar, das auch für Descartes’ laboriosa vigilia bestimmend ist: Ist die angespannte Aufmerksamkeit zugleich eine Fokussierung als Eingrenzung und somit eine Limitierung des zu Bewältigenden, so gilt auch für die angestrengte Wachsamkeit, sich der methodischen Disziplin unterzuordnen, nicht alles auf einmal, sondern manches nach und nach einer erarbeiteten Sicherheit der Erkenntnis durch eine kontinuierliche ›Durchmusterung‹ des Wissens – wie es die siebte Regel der Regulae empfiehlt – zuzuführen. Die gewandelte Erwartungshaltung gegenüber der Wirklichkeit und dem Wissen von ihr ist nachmittelalterlich. Es ist daher keine rhetorische Floskel, wenn Descartes den prospektiven Charakter seiner neuen Wissenschaft formuliert: »In diesem Sinn möchte ich gern wissen lassen, daß das wenige, was ich bisher gefunden habe, fast nichts ist verglichen mit dem, was ich noch nicht weiß und das entdecken zu können ich die Hoffnung nicht aufgebe …«172 Die Entdeckung neuer Sterne durch das technische Hilfsmittel des Fernrohrs ist die idealtypische Präzisierung dieser Erwartungshaltung und des Selbstbewußtseins einer Naturphilosophie, die Neues auf neue Weise zu erforschen sich aufgerufen sieht. Descartes spricht von den »wunderbaren Fernrohren« (merueilleuses lunettes) und proklamiert den mit ihnen verbundenen Erkenntnisfortschritt, denn »wir haben mit ihnen mehr neue Sterne am Himmel und andere neue Dinge auf der Erde entdeckt, als wir vorher sehen konnten: So trägt unser Blick viel weiter, als unsere Väter es sich vorstellen konnten. Sie scheinen uns den Weg zu einer viel größeren und vollkommeneren Kenntnis der Natur eröffnet zu haben, als sie sie hatten.«173 Dabei indiziert gerade dieser technisch erzeugte Vorsprung vor der Tradition die noch einzulösende Reorganisation der entdeckenden Wissenschaften. Schon für Bacon war es ein Ärgernis, daß die neueren Entdeckungen »weder durch die Philosophie noch durch die rationalen Künste …, sondern durch Zufall und bei Gelegenheit«174 gemacht worden sind. Auch Descartes moniert, daß die neueren Entdeckun-
view on any Idea, considers it on all sides, and will not be called off by the ordinary sollicitation of other Ideas, it is that we call Intention, or Study …« 172 Discours VI (AT VI, 66): »Comme, en effect, ie veux bien qu’on sçache que le peu que i’ay appris iusques icy, n’est presque rien, a comparaison de ce que i’ignore, & que ie ne desespere pas de pouuoir apprendre …« 173 Dioptrique I (AT VI, 81): »… nous ont desia découuert de nouueaus astres dans le ciel, & d’autres nouueaus obiets dessus la terre, en plus grand nombre que ne sont ceus que nous y auions veus auparauant: en sorte que, portant nostre veüe beaucoup plus loin que n’auoit coustume d’aller l’imagination de nos peres, elles semblent nous auoir ouuert le chemin, pour paruenir a vne connoissance de la Nature beaucoup plus grande & plus parfaite qu’ils ne l’ont eue.« 174 F. Bacon, Novum Organum I 109 (The Works I, 208): »… nec per philosophiam aut artes rationales …, sed casu et per occasionem …«
§ 16 Die Inventur des Wirklichen
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gen, die durch das Fernrohr möglich wurden, nicht das Resultat einer rationalen Methode darstellen: »Es gereicht unseren Wissenschaften nicht zur Ehre, daß diese so nützliche und so wunderbare Erfindung zunächst nur durch Versuch und Zufall gemacht wurde.«175 Wissen soll erzeugtes Wissen sein, nicht gefundenes. Die Inventur des Wirklichen als einer Sichtung des Wissbaren, die das Wissen der Tradition grundsätzlich in Frage stellt und zu überbieten sucht, ist zu einem Langzeitprogramm der Moderne angesichts einer nicht mehr notwendigen, sondern kontingenten Wirklichkeit geworden. Diese Inventur droht die Vernunft stets zu überfordern, da das zu Wissende unbegrenzt scheint. »Außerdem kann unser Geist nicht ohne Schwierigkeit und Ermüdung auf alles achthaben«,176 sodaß die laboriosa vigilia zur generationenübergreifenden Gemeinschaftsanstrengung wird. Im Kern provoziert die Leitidee einer angestrengten Wachsamkeit, die die Reaktion auf eine kontingente Welt darstellt, eine transformierte Anthropologie. Daß für Descartes der Mensch nur noch gleichsam ein Abbild Gottes ist, ist der dafür schon erwähnte Antrieb. Konsequent äußert sich Descartes gegenüber Burman, es genüge für den Philosophen, wenn er den Menschen daraufhin betrachte, wie er in seiner natürlichen Verfassung beschaffen ist. Er habe seine Philosophie so abgefaßt, daß sie überall, und sei es bei den Türken, akzeptiert werden könne.177 Deutlicher läßt sich die philosophische Abkehr von der theologischen Tradition nicht auf den Punkt bringen. Der Mensch ist für Descartes als ein Mittleres zwischen Gott und dem Nichts gestellt.178 Spezifisch wird diese Metapher für den Cartesianismus erst, wenn man die mittelalterliche Seinshierarchie nicht mehr mitdenkt, die dem Seienden nicht nur seinen Rang durch den zugewiesenen Ort im vertikalen Gefüge zumaß, sondern auch die Ausrichtung vorgab. Descartes dagegen nimmt die vertikale Lesart allein zum Anlaß, die Irrtumsfähigkeit des Menschen zu überdenken – mehr nicht. Er wechselt gleichsam durch sein Inventarisierungsprogramm die Orientierung, indem er die Horizontale zum Spielraum des Menschen macht. Die horizontale Bewegung ist die des Odysseus und des Kolumbus. Sie übersteigt nicht mehr die bestehende Welt, sondern verbleibt in ihr. Schon Dante spricht
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Dioptrique I (AT VI, 81 f.): »Mais, a la honte de nos sciences, cete inuention, si vtile & si admirable, n’a premierement esté trouuée que par l’experience & la fortune.« 176 Principia I 73 (AT VIII–1, 37): »Praeterea mens nostra non sine aliquâ difficultate ac defatigatione potest ad ullas res attendere …« 177 Burman (AT V, 159): »… sufficit modo Philosophus hominem consideret, prout in naturalibus sui juris est; et ego ita scripsi meam philosophiam, ut ubique recipi possit, vel etiam apud Turcas …« 178 Méditations IV (AT IX–1, 43): »… ie suis comme vn milieu entre Dieu & le neant …«
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IV. Angestrengte Wachsamkeit: Der Imperativ des Cartesianismus
vom »großen Meer des Seins« (gran mar dell’essere),179 auf dem es zu segeln gelte. Nicht allein Gott, auch die Welt wird zu etwas unermeßlich Großem, das es zu erforschen gilt. Mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber dem, was gewußt werden kann, wird zu einem Akt der Fahrlässigkeit, denn »es gibt eine Menge von Dingen, die mit dem natürlichen Licht gewußt werden können, über die aber noch nie jemand nachgedacht hat«.180 Die angespannte Aufmerksamkeit ist in einer kontingenten Welt zugleich Absicherung und Neugierde.
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Dante Alighieri, La divina commedia, Paradiso I, 113 (ed. G. Vandelli, 615). Brief an Mersenne, 16. Oktober 1639 (AT II, 598): »… il y a quantité de choses qui peuuent estre connues par la lumiere naturelle, ausquelles iamais personne n’a encore fait de reflexion.«
V. Spekulative Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
§ 17 Eine zweite Schöpfung: Kosmogonie und Rationalität Es ist eine der Schwächen der Rezeption, mitunter von der faktischen Chronologie der Publikationsgeschichte nachhaltig beeindruckbar zu sein. Für die philosophische Aneignung des Cartesianismus gilt dies ganz besonders. Der Discours de la méthode und die Meditationes de prima philosophia sind so unangefochten in das Zentrum der Aufmerksamkeit des philosophiegeschichtlichen Bewußtseins gerückt, daß erst die Rekonstruktion der intellektuellen Biographie Descartes’ den Stellenwert der zu Lebzeiten unveröffentlichten Schrift Le Monde rehabilitiert hat. Dieses Werk, an dem Descartes intensiv zwischen 1630 und 1633 gearbeitet hat, sollte aus drei Teilen bestehen: Unter dem Titel Le Monde ou Traité de la lumière präsentierte Descartes zunächst seine Physik, die eine Theorie des Lichts und des Kosmos enthält, der Traité de l’homme enthielt als zweiter Teil seine Physiognomie des menschlichen Körpers, und den Abschluß sollte eine Metaphysik der Seele bilden.1 In Absetzung von der Wirkungsgeschichte der cartesischen Schriften hat man sich vor Augen zu führen, daß Le Monde in seiner Gesamtkonzeption die systematische Hauptanstrengung Descartes’ ausmacht.2 Nach dem Entschluß, das bis zu den Ausführungen über die menschliche Physiognomie vorangetriebene Manuskript aufgrund der Verurteilung Galileis zurückzuhalten, erscheinen zunächst der Discours und dann die separat vorgelegten Überlegungen zur Metaphysik Gottes und der Seele in den Meditationes, die nicht zuletzt auch die Akzeptanz seiner Physik vorbereiten sollten. Zwar publiziert Descartes anschließend seine naturphilosophischen Anschauungen in den Principia philosophiae, aber diese späte Physik macht das philosophische Interesse an Le Monde nicht überflüssig, da Descartes’ erste Physik eine spekulative Kosmogonie enthält, die er so in den Principia nicht wiederholt hat. Nun mag die philosophische Aufmerksamkeit bei den naturphilosophischen Schriften Descartes’ geneigt sein, nachzulassen. Das mag darin begründet liegen, daß zwar die metaphysischen Überlegungen Descartes’ weit in die Neu1
Vgl. den inhaltlichen Aufriß von Le Monde, den Descartes im fünften Teil vom Discours de la méthode gibt (AT VI, 41–60 f.). 2 Das stellt Stephen Gaukroger in seiner Biographie Descartes. An Intellectual Biography (Oxford 1995, 226) zu Recht ausdrücklich fest: »Le Monde and L’Homme together constitute the most ambitious systematic project that Descartes ever undertook and, for all its many flaws, it is a brilliant achievement.«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
zeit hinein gewirkt haben, die Positionen der cartesischen Physik dagegen rasch als überholt gelten mußten. Für die philosophische Erfassung des cartesischen Wirklichkeits- und Rationalitätsbegriffs ist die Verifizierbarkeit der entsprechenden physikalischen Hypothesen aber kein entscheidendes Kriterium. Eine genealogische Untersuchung des Cartesianismus hat dessen Physik auch dort als zeitgeschichtlichen Beleg des sich konstituierenden Rationalismus zu betrachten, wo sie offensichtlich unhaltbar ist. Dies gilt bei Descartes schon insbesondere deshalb, weil seine Physik von metaphysischen und theologischen Annahmen nicht zu trennen ist.3 Seit Hesiod ist die Kosmogonie ein Teilstück der Theogonie. Darin liegt das Potential begründet, mit einer Kosmogonie, die über den Status des Spekulativen nicht hinauskommen wird, metaphysische Implikationen zu verbinden. So beweist etwa Platons Weltentstehungslehre im Timaios als implizites Ziel die Bonität der Welt. Und noch der vorkritische Kant wird am kosmischen Aufbau und an seiner Genese die Existenz Gottes abzulesen versucht sein.4 Auch für Descartes ist die Kosmogonie keine reine Physik. Sie enthält vielmehr eine spekulative Inauguration der cartesischen Rationalität, und sie reagiert dezidiert auf die Wirklichkeitsmodelle des scholastischen Aristotelismus und des spätmittelalterlichen Voluntarismus mit seinen Allmachtsspekulationen. Den systematischen Mehrwert der cartesischen Physik hatte Hans Blumenberg im Blick, als er die cartesische Kosmogonie als das Paradigma der Selbstkonstitution bezeichnet hat.5 Man kann an diese Einsicht anknüpfen, ohne das Interpretament teilen zu müssen, die cartesische Kosmogonie diene einer humanen Selbstbehauptung der Vernunft gegen die vermeintlichen Zumutungen eines voluntaristischen Gottes. Dieses Oppositionsmodell suggeriert, Descartes habe den spätmittelalterlichen Gottesbegriff als eine zu überwindende Zumutung begriffen. Tatsächlich aber zieht Descartes die Konsequenz aus dem Resultat einer kontingenten Welt, indem er den voluntaristischen Schöpfungsakt zitiert und kopiert, um die kontingente Rationalität zu inaugurieren. Nun gehört das Zitat ohnehin zu den Selbstbegründungsmitteln der Neuzeit. Seine entlastende Funktion ist unübersehbar: Es eröffnet einen Spielraum des Denkens, den der Zitierende nicht eröffnen muß, den er aber nutzen kann, um über ihn hinauszugehen. So ist die Abgrenzung von Vorausliegendem in prekären Situationen möglich, indem eine Kritik an dem zu Überwindenden nicht unmittelbar geübt werden muß. Die Renaissance der verschiedenen anti3
Vgl. G. Rodis-Lewis, »From Metaphysics to Physics«, in: St. Voss (Hg.), Essays on the Philosophy and Science of René Descartes, Oxford/New York 1993, 242–258. 4 Vgl. I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, 2. Teil, 8. Hauptstück (Akademie-Ausgabe I, 331–347). 5 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 234 ff.
§ 17 Eine zweite Schöpfung: Kosmogonie und Rationalität
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ken Schulen in der frühen Neuzeit erklärt sich durch diese Funktion des Zitats und läßt sich nicht allein durch den Tatbestand der einsetzenden Wiederentdeckung und Wiedergewinnung antiker Texte durch Übersetzung erklären, da diese Rezeption bereits eine neu erweckte Bereitschaft zur Aneignung voraussetzt. Das nachmittelalterlich bestimmend gewordene Interesse, den scholastischen Aristotelismus zu überwinden, macht zu einem guten Teil die Attraktivität des Neoplatonismus, des Neoatomismus und des Neostoizismus in der frühen Neuzeit aus. Descartes’ Invektiven gegen die Tradition überhaupt und seine Intention, durch einen methodischen Rigorismus das Material des Historischen zu entwerten, vereiteln die Möglichkeit des Zitats von Traditionen zur Begründung oder Absicherung der cartesischen Rationalität. Auch wenn er hin und wieder zu dem rhetorischen Stilmittel greift, sich bei allen Neuerungen seiner Philosophie mit traditionellen Positionen einig zu wissen,6 vermeidet er prinzipiell das ausdrückliche Zitat. Das verhindert nicht, daß durch sein Werk die Vorlagen, die sich nicht verleugnen lassen, zuweilen durchscheinen. Es ist signifikant für den Neuerungswillen des Cartesianismus, daß sich Descartes auf keine einzelne kontingente Tradition bezieht, sondern die biblische Erzählung der Entstehung der Welt als Vorlage nutzt: Descartes’ spekulative Kosmogonie einer unbegrenzten Welt zitiert die biblische Schöpfungsgeschichte der Genesis.7 Grundsätzlicher läßt sich durch ein Zitat die Schaffung einer neuen Welt der Rationalität nicht einleiten. Wie ernst Descartes die biblische Vorlage, auf die er sich bezieht, genommen hat, läßt sich aus späteren Äußerungen ersehen. So erwähnt er gegenüber Mersenne die Absicht, die Publikation seiner Physik mit einer Erklärung des ersten Kapitels der Genesis einzuleiten8 – schon Mersenne hatte mit den Quaestiones celeberrimae in Genesim (Paris 1623) einen Kommentar zur Genesis vorgelegt. Gegenüber Burman erklärt Descartes, er habe sich früher in der Erklärung des Buches Genesis versucht, es aber aufgegeben.9 Dennoch konnte er den Schöpfungsakt als Zitat übernehmen und spekulativ nutzen: Die neuartige Rationalität der physikalischen Welt wird behauptet, indem in einer
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So unterläßt er es nicht, am Ende seiner antiaristotelischen Physik in den Principia philosophiae (IV, 200; AT XIII–1, 323) darauf hinzuweisen, er habe zur Beschreibung der körperlichen Natur kein Prinzip verwendet, das nicht Aristoteles und alle Philosophen früherer Jahrhunderte anerkannt hätten. 7 Bereits Étienne Gilson hat auf die Nähe von Descartes’ spekulativer Kosmogonie zur biblischen Schöpfungsgeschichte – trotz aller Differenzen – hingewiesen: R. Descartes, Discours de la Méthode, Texte et Commentaire par Étienne Gilson, Paris 1925, 51976, 379– 381: »Il y a donc, malgré d’irréductibles oppositions de détail, un accord d’ensemble, voulu et prémédité, entre Le Monde et la Genèse …« (381) 8 Brief an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 296). 9 Burman (AT V, 168 f ).
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
neuen Schöpfungsgeschichte die Bedingungen ihrer Geltung spekulativ entworfen werden. Die Welt der cartesischen Rationalität ist das Resultat einer zweiten Schöpfung. Das Interesse gilt daher im folgenden nicht den einzelnen Positionen der hinlänglich bekannten cartesischen Physik, sondern ihrer Funktion für die Einsetzung der cartesischen Rationalität. Indem Descartes für die Inauguration der Rationalität als dem Prinzip der Welterfassung den biblischen Schöpfungsakt zitiert, konnte ihm das Moment der Kontingenz sowohl der Welt als auch ihrer Rationalität nicht verborgen bleiben. Im Gegenteil: Die Schaffung der Bedingung rationaler Erkennbarkeit der Natur durch eine spekulative Erzählung, die der biblischen Genesis nachgebildet ist, spiegelt den kontingenten Status der ewigen Wahrheiten. In dieser Welt gelten sie, und sie garantieren diese Rationalität. Die spekulative Inauguration rationaler Konstanten durch eine erzählte Schöpfungstat markiert ihre Kontingenz und den Beginn ihrer Gültigkeit. Die Schaffung einer neuen rationalen Welt durch eine spekulative Kosmogonie bezieht sich zwar, was den modalen Status dieser Welt der Rationalität angeht, paradigmatisch auf die biblische Schöpfungsgeschichte, positioniert sich zugleich aber abgrenzend von dem, was Descartes als scholastischen Aristotelismus und als kreationistische Allmachtsspekulationen vor Augen hatte. Eine Konturierung seines eigenen Ansatzes macht daher – gleichsam als Sichtbarmachung der unteren Schrift des cartesianischen Palimpsests – den Umweg einer Skizzierung dieser beiden Vorlagen erforderlich. Erst vor dem Hintergrund der aristotelischen und der kreationistischen Tradition kann Descartes’ alternativer Entwurf einer weder endlichen noch unendlichen, sondern unbegrenzten Welt an Prägnanz gewinnen: Seine Kosmogonie ist die Initiation eines Gültigkeitsraums für die Rationalität in einer Welt der Kontingenz. Descartes bedarf der spekulativen Erzählung der Genesis einer rationalen Welt, da er durch sie die grundlegende Wende seiner Philosophie illustrieren kann: Die Rationalität folgt nicht mehr der Ordnung der Welt, sondern sie überträgt ihre eigene Ordnung auf die Welt. Um diese neue Ordnung der Vernunft durchzusetzen und die traditionelle Ordnung der Welt zu entkräften, bedarf es einer Grundsätzlichkeit, wie sie eine Kosmogonie bietet. Durch das Zitat der biblischen Schöpfungsgeschichte erschafft Descartes »eine andere, ganz neue Welt« (vn autre tout nouveau Monde),10 eine Welt des Cartesianismus.
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Monde VI (AT XI, 31).
§ 18 Aristotelische Topologie und die Aporie der Endlichkeit
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§ 18 Aristotelische Topologie und die Aporie der Endlichkeit Ist es möglich, am Ende der Welt die Hand auszustrecken? Diese Frage des Pythagoreers Archytas brachte die Aporie eines endlichen Raumes für die antike Welt zum Ausdruck.11 Denn wie sollte die Begrenzung gedacht werden? Wenn der Raum dasjenige ist, in dem sich alle materiellen Gegenstände vorfinden, wie soll dann die begrenzende Wirkung eines endlichen Raumes auf einen Gegenstand an der Grenze des Raumes denkbar sein? Ist er die Bedingung der Möglichkeit alles materiell Seienden oder ist er selbst etwas Seiendes? Limitiert die Endlichkeit des Raumes die Möglichkeiten einer Welt, sich gleichsam raumgreifend zu verwirklichen? Unter dem Gesichtspunkt der Potenz ist die Endlichkeit anstößig. Doch auch die Annahme eines unendlichen Raumes ist nicht ohne Aporien. Sobald die Wirklichkeit als eine machina mundi verstanden wird, als ein Regelwerk ineinandergreifender, teleologisch aufeinander abgestimmter Wirkungszusammenhänge, wird die Vorstellung einer Unendlichkeit des Raumes suspekt, da alle Wirkungen als endliche erfaßt werden. Die Unendlichkeit des Raumes führt gleichsam zu einer gedanklichen Überdehnung derjenigen Weltvorstellung, für die erst mit der Erfindung des mechanischen Uhrwerks die adäquate Metapher gefunden worden ist – es sei denn, man nimmt ein endliches Regelwerk kosmischer Zusammenhänge innerhalb eines unendlichen Raumes an. Aber für ein perfektes System geschlossener Wirkungskreisläufe mag die Unwandelbarkeit in der Zeit ein letztes Ideal sein, die Unendlichkeit des Raumes dagegen ist überflüssig. Der Vorteil der räumlichen Endlichkeit ist ein eindeutiger Gewinn an Plausibilität endlicher Wirkungszusammenhänge. Die Frage, ob die Welt über einen endlichen oder einen unendlichen Raum verfügt, ist in der Tradition verschieden, aber stets mit Nachdruck vertreten worden.12 Der Raum konnte als ein Explikationsmodell von Ordnungsvorstellungen genutzt werden, die als normative Strukturvorgaben die Ausrichtung und das Selbstverständnis der Rationalität mitzubestimmen vermochten. Daß die vertikale Dignitätsskala im geozentrischen und endlichen Weltbild Ausdruck einer anagogischen Metaphysik sein konnte, ist dafür ebenso ein Beleg wie der Umstand, daß sich die emphatische Metaphysik einer Umwertung der Werte bei 11
Die Fragmente der Vorsokratiker 47, A 24 (ed. H. Diels/W. Kranz I, 421). Lukrez hat das Bild von der Grenzüberschreitung am Ende der Welt noch in seiner Nachdrücklicheit gesteigert: Hatte Archytas dem über die Grenze hinaus Tastenden einen Stock in die Hand gegeben, wird bei Lukrez aus dem Stock eine geschleuderte Lanze (De rerum natura I 968 ff.). 12 Einen Überblick über die Geschichte des Raumbegriffs von Hesiod bis in die Moderne bietet A. Gosztonyi, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, 2 Bde., Freiburg/München 1976.
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Giordano Bruno das Modell eines unendlichen Kosmos zur Illustration wählen konnte. Dabei hatten es die unterschiedlichen Nutzbarmachungen mit dem gleichen Problem zu tun, daß sowohl die Annahme eines endlichen als auch eines unendlichen Raumes nicht frei von Aporien war, die rational nicht zu bewältigen sind. Endlichkeit war sowenig denkbar wie Unendlichkeit. Es ist daher für die Entfaltung der cartesischen Rationalität von entscheidender Bedeutung, daß Descartes in Le Monde den endlichen Raum der aristotelischen Physik hinter sich läßt, ohne sich für die Annahme eines unendlichen Raumes auszusprechen. Diese scheinbare Unentschiedenheit ist die Folge einer Umkehrung des Begründungsverhältnisses: Nicht mehr die endliche oder unendliche Raumvorstellung als Explikationsmittel differierender Kosmologien hat bestimmenden Einfluß auf das Verständnis von Rationalität, sondern die dem Selbstverständnis nach posttraditionelle Rationalität entwirft als Explikationsmodell ihrer selbst einen souverän bestimmten Raum als Vorgabe einer modernen Physik. In Anlehnung an die Genesis entwirft Descartes in einem zweiten Schöpfungsakt eine Welt der cartesischen Rationalität, der ein kontingent bestimmter Geltungsraum zugemessen wird. Die ›neue Welt‹ des Cartesianismus ist eine Welt der neuen Rationalität. Die Inauguration der cartesischen Rationalität entspringt gleichsam einem voluntativen Akt, der schöpferisch einen Raum ihrer Verbindlichkeit aufspannt. Ihr Paradigma der Selbstkonstitution ist die Kosmogenese. Die aristotelische Topologie und die Unendlichkeitsspekulationen machten dabei die Erbschaft der Tradition aus, die es für den cartesischen Versuch einer Neubegründung der Rationalität auszuschlagen galt. Da Descartes seine Auseinandersetzung mit Aristoteles und den Unendlichkeitsentwürrfen des spekulativen Kreationismus spätmittelalterlicher Herkunft zumeist verdeckt geführt hat, bedarf es zunächst einer Konturierung dieser Kontroverse und einer Skizzierung des Problemgehaltes der endlichen und unendlichen Welt. Für Aristoteles ist der Raum vor allem durch die Eigenschaft bestimmt, Ort (τóπος) zu sein. Die Welt als Kosmos ist demnach ein Ensemble von Orten. Nachdem er in der Kategorienschrift die Ortsangabe als eine der zehn Grundkategorien eingeführt hat,13 entfaltet Aristoteles in der Physik ∆ 1–5 seine Topologie eines endlichen Raumes. Gäbe es einen leeren und unendlichen Raum, könne nicht von Oben, Unten oder Mitte gesprochen werden, seine Leere sei ontologisch gesehen etwas Nichtseiendes, das folglich weder die Möglichkeit der Bewegung als Ortsveränderung noch überhaupt die Entfaltung von Unterschieden biete.14 Die aristotelische Topologie, die gegen Demokrit gewendet ist, da sie den Raum weder als unbegrenzt noch als ein Vakuum ansieht, bestimmt
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Aristoteles, Categoriae 4, 2 a 1 f.; 6, 4 b 25. Aristoteles, Physica ∆ 8, 215 a 6–9.
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den Raum zunächst axiomatisch als den jeweiligen Ort in bezug auf den Gegenstand, der sich an ihm befindet: Der Ort ist das unmittelbar Umfassende für das sich an diesem Ort Befindende; er ist von dem Gegenstand, der diesen Ort einnimmt, zu unterscheiden und ist weder größer noch kleiner als dieser. Er ist von dem Gegenstand ablösbar und bietet die Möglichkeit der Unterscheidung von oben und unten. Jeder Körper strebt seinem natürlichen Ort zu – und das entweder nach oben oder nach unten.15 Für den Ort sind die körperlichen Gegenstände konstitutiv, er ist nicht etwa ursprünglich und von ihnen unabhängig, sondern nur in bezug auf sie funktional denkbar.16 »Ein so verstandener Begriff physischen Ortes wird mithin zu etwas nur Funktionalem, in jeder Weise von beliebig ansetzbarer Konstellation Abhängigem, das je nur dort auftritt und auftreten kann, wo Diskontinuität in der Natur in Erscheinung tritt, also eben an Stellen naturgegebener, auffindbarer – und im Normalfall ganz trivialer – Absetzung von Körpern gegeneinander. Insofern ist Ort nur eine die Gesamtheit aller natürlichen Körper begleitende Strukturbestimmung.«17 Es macht zugleich die Stärke und die Schwäche des aristotelischen Raumbegriffs aus, als Topologie gänzlich auf die Erfordernisse der Erfassung einer prozessualen Physis hin formuliert worden zu sein. Das von der Physik rational erfaßbare Naturgeschehen ist eine Abfolge von geordneten Bewegungen. Ort und Bewegung sind daher im aristotelischen Denken strikt aufeinander bezogen. Ohne die Ortsveränderungen von Gegenständen würde man nach Aristoteles die Frage nach dem Ort gar nicht stellen.18 Nun hat Aristoteles das systematische Begriffspaar Ort und Bewegung nicht nur regional zur Erklärung einzelner Naturabläufe angewendet, sondern auch universal zur Charakterisierung des Kosmos. Zwei Spezifika fallen dabei auf. Zum einen ist es die Lehre von den »natürlichen Orten« (ο,κεοι τóποι), die die Setzung eines isotropen und absoluten Raumes verhindert. Der aristotelische Raum ist für die in ihm befindlichen Gegenstände keine gleichsam neutrale Bedingung der Möglichkeit ihrer potentiellen Bewegungen, sondern er besitzt als Ort ausdrücklich eine gewisse Kraft.19 Im sublunaren Bereich, der für Aristoteles die Region der irdischen und vergänglichen Veränderungen ist, bewegen sich zum Beispiel die einfachen Elemente für den Fall, daß sie nicht an ihrem natürlichen Ort sind, gemäß der ›Anziehungskraft‹ ihres Ortes. So bewegt sich das Feuer als das Leichte nach oben, die Erde als das Schwere sucht ihren natürPhysica ∆ 4, 210 b 32–211 a 6. H. G. Zekl, Topos. Die aristotelische Lehre vom Raum. Eine Interpretation von Physik, ∆ 1–5, Hamburg 1990, 172 f. 17 Ebd., 173. 18 Physica ∆ 4, 211 a 12 f. 19 Physica ∆ 1, 208 b 10 f. 15 16
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lichen Ort unten auf.20 Trotz der Schwierigkeit von Richtungsangaben innerhalb eines kugelförmigen Raumes ist diese Scheidung von ›oben‹ und ›unten‹ aufgrund der Annahme von natürlichen Orten für Aristoteles also grundsätzlich signifikant belegt. Die Annahme, daß den verschiedenen Elementen eine spezifische Lokalisierung im Weltganzen zukommt, erinnert an Platons Ausführungen im Timaios.21 Dort hatte Platon die Dynamik der bewegten Elemente so beschrieben, daß auf Dauer Gleichartiges zueinanderfindet. Diese Affinität der sich gleichenden Elemente ist treffend als eine ›selektive Gravitation‹ beschrieben worden.22 Diese Natürlichkeit der Ausrichtung bewegter Körper im Raum übernahm Aristoteles. Im Gegensatz zur unübersichtlichen Bewegungsvielfalt der einzelnen Gegenstände in der sublunaren Region ist die translunare Kreisbewegung der konzentrischen Kugelschalen um die ruhende Erde als kosmischen Mittelpunkt vollkommen und überschaubar. An dieser Himmelsmechanik ist die rationale Nachvollziehbarkeit ihrer Kinetik bestechend, solange die sinnliche Wahrnehmung nicht durch den Versuch einer exakt-mathematischen Astronomie überboten und irritiert wird. Die Prägnanz des aristotelischen Kosmos und seine Attraktivität für das theologische Mittelalter bestand in der Möglichkeit, das Weltganze als einen endlichen und kausalen Mechanismus zu begreifen, der zuletzt von einem externen Garanten – dem unbewegten Beweger oder dem christlichen Schöpfergott – abhängt. Die Endlichkeit des Raumes war somit die Bedingung dafür, das Ganze rational erfassen und das heißt: empirisch nachvollziehen und metaphysisch deuten zu können. Der Welt als einem endlichen System entsprach die Annahme einer Totalpräsenz des Wirklichen im Modus unbehinderter Zugänglichkeit. Es ist offenkundig, daß das aristotelische Modell eines endlichen Kosmos im Rahmen seiner Topologie Aporien enthält, die kosmologische Neuentwürfe provozierten: Aristoteles hatte das Problem nicht befriedigend lösen können, daß seiner Definition nach ein Ort das Umfassende eines Körpers sein soll, die äußerste Himmelsphäre aber nicht einen sie noch einmal umfassenden Ort beanspruchen konnte, da sie sonst eben nicht das Äußerste wäre.23 Insofern der Ort gleichsam als ein Gefäß für den Gegenstand aufgefaßt werden kann, gibt es für das Äußerste kein Äußeres mehr, obwohl die äußerste Himmelssphäre als bewegt gedacht werden soll und die Bewegung hier eine Ortsveränderung zu sein hätte. Kopernikus hat als erster die aristotelische Verbindung von Raum und Bewegung aufgekündigt, indem er zum einen die Frage nach der Endlichkeit Physica ∆ 1, 208 b 19–22. Platon, Timaios 52 d – 53 c. M. Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt 1960, 14. 23 Physica ∆ 5, 212 b 20–22. 20 21 22
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oder Unendlichkeit des Raumes unentschieden sein läßt,24 zum anderen aber den Stillstand der äußersten Fixsternschale als Konsequenz seiner Reform reklamierte.25 Somit bleibt die erste und oberste Fixsternschale des kopernikanischen Systems ein Ort des Alls, der für die Bewegung und Stellung aller übrigen Sterne einen festen Bezugspunkt darstellt.26 Der Aufbruch der frühen Neuzeit als eine Abwendung von mittelalterlichen Vorgaben und eine Aufkündigung eines vorrangig theologisch motivierten Rezeptionsverhältnisses antiken Denkens läßt sich als eine Reihe von Grenzüberschreitungen erfassen. Die Aufgabe der Endlichkeit des Raumes gehört dazu. Für das theologische Mittelalter war das aristotelische Raumkonzept attraktiv gewesen, da es die Möglichkeit bot, die eindeutige Ausrichtung von Oben und Unten im Sinne einer Dignitätsskala zu nutzen und die Orte in ihrer Bedeutsamkeit zu differenzieren. Albertus Magnus konnte daher denjenigen, die die Natur des Ortes nicht untersuchen, vorwerfen, sie würden sündigen.27 Obwohl die Veränderung der Raumvorstellung dazu prädestiniert zu sein scheint, allein ein Lehrstück der kosmologischen Wissenschaftsgeschichte abzugeben, indiziert sie vielmehr eine grundlegende Veränderung des Wirklichkeitsverhältnisses. Die astronomische Neufassung des Raumbegriffs ist daher die Spätphase einer theologisch-philosophischen Neuorientierung. Sie entsprang nicht zuerst astronomischen und somit physikalischen Überlegungen, sondern diese wurden erst plausibel vor dem Hintergrund eines spekulativen Kreationismus. Durch ihn entstand gleichsam ein Bedarf an Unendlichkeit.
§ 19 Kreationistische Metaphysik und der Bedarf an Unendlichkeit Endlichkeit war eine entscheidende Grundannahme des aristotelischen Systems der Natur. Die Bewegungsabläufe im kosmischen Ganzen sollten auf eindeutige Ursachen zurückführbar und dadurch erkennbar sein. Da eine natürliche Bewegung sich nicht selbst verursachen kann und die Annahme unendlich vieler Ursachen für unendlich viele Bewegungen ihre Denkbarkeit limitiert, postuliert Aristoteles die Notwendigkeit eines Ersten Bewegenden. Nur für dieses 24
Nicolaus Copernicus, De revolutionibus libri sex I, cap. 8 (Gesamtausgabe II, 15): »Sive igitur finitus sit mundus, sive infinitus, disputationi physiologorum dimittamus …« 25 Ebd. (Gesamtausgabe II, 14): »At iuxta illud axioma physicum, quod infinitum est, pertransiri nequit, nec ulla ratione moveri: stabit necessario caelum.« 26 De revolutionibus I, cap. 10 (Gesamtausgabe II, 20): »Prima et suprema omnium, est stellarum fixarum sphaera se ipsam et omnia continens: ideoque immobilis: nempe universi locus, ad quem motus et positio ceterorum omnium siderum conferatur.« 27 Albertus Magnus, De natura loci, cap. 1 (Opera omnia V–2, 1): »Quod naturam loci scire oportet in scientia naturali et quod peccant, qui de ipso non quaerunt.«
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erste Prinzip soll gelten, daß es nicht bewegt wird, sondern sich selbst in Bewegung setzt und die Erstursache für alle weiteren Bewegungen im Naturgeschehen ist.28 Der Begriff der Unendlichkeit ist diesem Modell fremd. Erst dem scholastischen Aristotelismus ist der Gedanke vertraut, daß Gott nicht nur vollkommen, sondern auch unendlich ist, wie es bei Thomas von Aquin heißt: perfectus et infinitus.29 Diese Unendlichkeit Gottes war bezogen auf seine Schöpfungsmacht und nicht räumlich gemeint, dennoch hing mit ihr die Frage einer endlichen oder unendlichen Welt unmittelbar zusammen. Sollte Gott in seiner unendlichen Allmacht eine endliche Welt geschaffen haben? Für Thomas ist es noch der aristotelisch gedachte Zusammenhang von Form und Materie, der die Annahme von Unendlichem und somit auch von einer unendlichen Welt verhindert.30 Die Form als das gestaltende Prinzip ist zugleich das limitierende Moment im materiellen Schöpfungsprozeß. Sie ist die Determinierung und Begrenzung einer maßlosen Materie. Die Macht Gottes, so Thomas, ist zwar unendlich, aber sie kann nichts Unerschaffenes schaffen, was ein Widerspruch in sich wäre; daher kann er nichts schlechthin Unendliches schaffen.31 Dennoch sollten die spezifisch theologischen Anforderungen an das aristotelische System des Kosmos eine imaginäre Erweiterung des endlichen Kosmos nahelegen. Bereits der von Thomas als infinit gedachte Gott ließ die Frage aufkommen, ob sich seine Allgegenwart auf den endlichen Kosmos begrenzen ließ.32 So ist es etwa für Thomas Bradwardine in seiner um 1344 verfaßten Schrift De causa Dei contra Pelagium eine selbstverständliche Annahme, daß Gott notwendigerweise überall ist: in der ganzen Welt und jenseits der realen Welt in einer imaginären unendlichen Leere.33 Schon Hugo von St. Victor war im 12. Jahrhundert Aristoteles, Physica Θ 5, 256 a 4 – 256 b 1. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 7, art. 1 (ed. Leonina IV, 72): »… manifestum est, quod ipse Deus sit infinitus et perfectus.« 30 Vgl. Summa theologiae I, qu. 7, art. 2. (ed. Leonina IV, 74): »… manifestum est quod omne existens in actu, habet aliquam formam: et sic materia eius est terminata per formam.« Das gestaltende Zusammenspiel von Form und Materie hat die Limitierung als begrenzende Festlegung zum Prinzip. Zwar ist die Materie fast unendlich formbar (infinitum secundum quid), aber eben nur fast. 31 Summa theologiae I, qu. 7, art. 2, ad 1 (ed. Leonina IV, 74): »Sicut ergo Deus, licet habeat potentiam infinitam, non tamen potest facere aliquid non factum (hoc enim esset contradictoria esse simul); ita non potest facere aliquid infinitum simpliciter.« 32 Vgl. M. Enders, »Zur Begriffsgeschichte der Allgegenwart und Unendlichkeit Gottes im hochmittelalterlichen Denken«, in: J. A. Aertsen/A. Speer (Hg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 25), Berlin/New York 1998, 335–347. 33 Thomas Bradwardine, De causa Dei contra Pelagium et de virtute causarum I, cap. 5 (London 1618, Reprint: Frankfurt am Main 1964, 177): »Prima, quòd Deus essentialiter & praesentialiter necessariò est ubique, nedum in mundo, & in eius partibus uniuersis: Veru28 29
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der Frage nachgegangen, an welchem Ort sich die Engel befinden. Sie sind für Hugo im Himmel geschaffen, aber nicht im coelum firmamentum, sondern im coelum empyreum, das eine Sphäre jenseits der astronomischen Himmel darstellt.34 Diese nicht unumstrittene, ergänzte Sphäre wurde bis zu ihrer Entmächtigung durch die frühneuzeitliche Naturwissenschaft eine Standardannahme, wie man an der Selbstverständlichkeit ablesen kann, mit der etwa Nikolaus von Oresme die Ergänzung des aristotelischen Stufenkosmos übernimmt.35 Für ihn befinden sich jenseits der äußersten kosmischen Schale die corpora glorificata: die Engel, aber auch die Seele Marias.36 Auch wenn es sich dabei um unkörperliche Objekte handelt – also um corpora supernaturalia, denen man, wie im Fall der Engel, eine materia spiritualis zuschrieb –, bedeutete die theologische Einführung des Empyreums eine erste Relativierung des aristotelischen und somit endlichen Kosmos.37 Es war eine Frage der spekulativen Konsequenz, die Entgrenzung des aristotelischen Kosmos auch in bezug auf körperliche Gegenstände einzuleiten. Zum einen, gleichsam als ein Zwischenschritt, verlangte die Verortung der Auferstandenen nach einer Akzeptanz der Möglichkeit körperlicher Objekte jenseits des Himmels. Denn die Auferstanden, die über einen Körper verfügen, können sich nach Oresme in der Leere jenseits des Himmels aufhalten.38 Aristoteles hatte die Annahme ausdrücklich abgelehnt, es könne die Masse irgendeines Körpers außerhalb der Himmel sein oder dorthin gelangen, da es jenseits der kosmischen
metiam extra mundum in situ seu vacuo imaginario infinito.« Vgl. E. Grant, »Medieval and Seventeenth-Century Conceptions of an Infinite Void Space beyond the Cosmos«, in: Isis 60 (1969), 39–60. 34 Hugo von St. Victor, Summa Sententiarum septem tractatibus distincta, tract. II, cap. 1 (PL 176, 81): »Nec appellamus hic coelum firmamentum quod secunda die factum est, sed coelum empyreum; id est, splendidum quod statim repletum est angelis …« 35 Nicole Oresme, Le Livre du ciel et du monde II, cap. 1, fol. 66 a (ed. A. D. Menut/ A. J. Denomy, 270): »… et est possible que par le premier celum il entent le ciel invisible qui est appellé empireum …« 36 Le Livre du ciel et du monde IV, cap. 10, fols. 200 a–200 b (ed. A. D. Menut/A. J. Denomy, 720). 37 Oresme ist allem Anschein nach der erste Philosoph der Pariser Schule des 14. Jahrhunderts, der für seine Konzeption von Raum und Zeit den Boden der aristotelischen Vorgaben zumindest teilweise verlassen hat. So resümiert Jürgen Sarnowsky seine instruktiven Überlegungen zur Pariser Schule des 14. Jahrhunderts: J. Sarnowsky, »›Si extra mundum fieret aliquod corpus …‹ Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellungen der ›Pariser Schule‹ des 14. Jahrhunderts«, in: J. A. Aertsen/A. Speer (Hg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 25), Berlin/New York 1998, 130– 144. 38 Le Livre du ciel et du monde IV, cap. 11, fol. 201 b (ed. A. D. Menut/A. J. Denomy, 724).
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Grenze weder Raum noch eine Leere noch Zeit gebe.39 Die Annahme eines Vakuums jenseits der körperlichen Welt war dagegen seit der Verurteilung von 1277 möglich geworden, hatte der Bischof Tempier doch in der 49. These die Annahme verurteilt, Gott könne den Himmel nicht in einer geradlinigen Bewegung bewegen, da er dann ein Vakuum zurückließe.40 Es sind zuerst die übernatürlichen Wesen, wie etwa die Engel und die durch Gottes Macht Auferstandenen, die systematisch einen Ort jenseits des endlichen kosmischen Systems beanspruchen und somit die gleichsam dogmatisierte Endlichkeitsannahme des Aristotelismus aufweichen. Doch auch im Rahmen der traditionellen Physik jenseits supernaturalistischer Annahmen wurde das traditionelle Endlichkeitsdogma brüchig. Johannes Buridan etwa, der strikt aristotelisch die Annahme eines leeren Raumes jenseits des Himmels ablehnt, vertritt in seinem Physik-Kommentar ausdrücklich die Ansicht, ein Mensch könne jenseits der letzten kosmischen Sphäre durchaus seinen Arm bewegen, da sich mit der Körperlichkeit der Raum gleichsam aufspanne. So argumentiert auch Marsilius von Inghen, da durch das Ausstrecken des Armes ein Raum außerhalb des Himmels entstehe.41 Damit ist eine zumindest punktuelle Erweiterung des endlichen Kosmos durch einen physikalischen Körper als möglich gedacht. Eine grundlegende Entgrenzung des aristotelischen Kosmos war damit freilich nicht zu erzielen, auch nicht durch die Annahme einer Leere jenseits der Himmelssphären. Es oblag vielmehr der spekulativen Entfaltung der Schöpfungsallmacht, eine Entgrenzung des Kosmos konsequent denkbar zu machen.42 Marcellus Stellatus Palingenius formulierte in seinem Lehrgedicht Zodiacus vitae43 die entscheidende Frage, die die Beschränkung der Kreativität Gottes zur Aristoteles, De caelo Α 9, 278 b 35–279 a 16. These 49 (ed. H. Denifle, 546): »Quod Deus non possit movere celum motu recto. Et ratio est, quia tunc relinqueret vacuum.« 41 Vgl. J. Sarnowsky, »›Si extra mundum fieret aliquod corpus …‹ Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellungen der ›Pariser Schule‹ des 14. Jahrhunderts«, in: J. A. Aertsen/A. Speer (Hg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, a. a. O., 134. 42 Zur Verflechtung von theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Motiven beim Übergang vom geschlossenen Weltbild des Mittelalters zur Raumvorstellung Leibniz’ und Newtons vgl. die instruktive Studie von Alexandre Koyré, From the Closed World to the Infinite Universe, Balitmore 1957. Vgl. auch die umfassende Studie von Edward Grant, Much ado about nothing. Theories of space and vacuum from the Middle Ages to the Scientific Revolution, Cambridge 1981. 43 Palingenius ist wahrscheinlich das Pseudonym für den Autor Pier Angelo Manzoli (ca. 1500–1543), dessen theologisch-kosmologisches Lehrgedicht Zodiacus vitae 1534 in Venedig gedruckt wurde. 1560 und 1565 erschien eine englische Übersetzung von Barnabe Googe. Das durchaus populäre Werk ist allein im 16. Jahrhundert in etwa 30 Ausgaben erschienen. Eine neuere Einordung von Palingenius’ Lehrgedicht in die frühneuzeitliche 39 40
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Aporie werden ließ: »Why hath not God created more?« Und er fährt fort: »… because he had not skill / How more to make, his cunning staied and broken of his will?«44 Die Rhetorik der Frage markiert die Distanz zu dem als kreationistisch gehemmt empfundenen Aristotelismus mittelalterlicher Prägung. Die Antwort fällt entsprechend aus: »We must believe is nothing vaine since Godliest is the same: / This God what so ever he could doe alluredly did frame, / Least that his vertue were in vaine, and never should ly hid. / But since he could make endlesse things, it must be thaught he did, / And all his power therein emploied so that there did remaine, / In him no kinde of power or force that idle were or vaine.«45 Die Verwendung des Begriffs des Unendlichen im Plural erscheint leichtfertig und verrät den programmatischen Impuls des Lehrgedichts. Systematisch zu entfalten und argumentativ zu stützen vermag Palingenius den Gedanken einer uneingeschränkten Schöpfungskreativität Gottes nicht. Daher bleibt auch bei ihm die Welt noch ein endliches Ganzes. Er zieht sich auf die aristotelische Position zurück, daß alle Körper endlich seien, nimmt aber jenseits der Grenzen des Himmels ein unendliches körperloses Licht an.46 Die weltliche Welt ist in ihrer Endlichkeit eingebettet in ein unendliches Licht Gottes, in welchem die Göttlichkeit des absoluten Raumes, von der Newton sprechen sollte,47 auf analoge Weise vorweggenommen ist. Palingenius, der »erste Autor der Epoche, der sich im Lehrgedicht mit theologischen und philosophischen Fragen in moderner Weise beschäftigt hatte«,48 machte noch vor Giordano Bruno deutlich, daß die kreationistische Allmachtsspekulation auf Dauer nicht mit dem tradierten Lehrgut des Christentums ver-
Rezeption von Epikur und Lukrez bietet A. Kreutz, Poetische Epikurrezeption in der Renaissance. Studien zu Marullus, Pontanus und Palingenius, Dissertation, Universität Bielefeld o. J. 44 Marcellus Palingenius, The Zodiake of Life, liber XII: Pisces (ich zitiere den FaksimileNachdruck der Ausgabe von 1576 in der Übersetzung von B. Googe, Delmar/New York 1976, die Orthographie wird von mir behutsam modernisiert; Zitat: 228). 45 Ebd. (Faksimilie-Nachdruck, 229). 46 Ebd. (Faksimilie-Nachdruck, 229): »Because above the Skies no kinde of body we do place, / But light most pure …« 47 Newton hatte in den Opticks or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light (London 1704) den absoluten Raum als das sensorium Gottes bezeichnet, diesen Ausdruck allerdings zurückzuziehen versucht, indem er die entsprechende Seite des Erstdrucks auszutauschen anordnete. Dies gelang zumindest bei der lateinischen Fassung der Opticks (London 1706) nicht, so daß Leibniz sich ausführlich mit der Vorstellung des absoluten Raumes als eines göttlichen Sensoriums auseinandersetzte. Vgl. dazu: I. Schneider, Isaac Newton, München 1988, 110–117. 48 G. Roellenbeck, Das epische Lehrgedicht Italiens im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, München 1975, 203.
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einbar war. So hat Pierre Bayle ihm in seinem Dictionnaire historique et critique einen Standpunkt äußerster Freiheit (extrême liberté) bescheinigt.49 Daß die frühneuzeitliche Entgrenzung der endlichen Welt ihren Anfang in derartigen kreationistischen Spekulationen nahm und dabei von pythagoreischen Grundannahmen einer ›mystischen Mathematik‹ einer unendlichen Kugel oder einer sphaera infinita geleitet wurde, läßt sich besonders an Nikolaus von Kues und Giordano Bruno nachvollziehen.50 Der Cusaner ist der entscheidende Protagonist einer frühneuzeitlichen Entgrenzung der endlichen Welt unter noch mittelalterlichen Vorzeichen. Der Ausgangspunkt für eine Aufgabe der aristotelischen Endlichkeitsvorstellung ist für Cusanus das Mißverhältnis der schöpferischen Kraft Gottes und der endlichen Welt als das Ergebnis der Schöpfungstat. Gleich zu Beginn des zweiten Buches von De docta ignorantia formuliert Cusanus die theologische Grundprämisse seiner Kosmologie: Es gibt nichts, was die göttliche Macht einschränkt.51 Die Konsequenz liegt auf der Hand: Warum soll Gott sich mit einem so endlichen Kosmos begnügt haben? Da die Welt – theologisch gedacht – ein Selbstausdruck Gottes zu sein hat, wird ihre Entgrenzung zu einer Annäherung an das göttliche Maximum: Es ist, als hätte Gott sein »Es werde« gesprochen, und weil kein Gott entstehen konnte, der die Ewigkeit selbst ist, entstand ein Gott möglichst Ähnliches – jedes Geschöpf wird dadurch gleichsam zu einer endlichen Unendlichkeit (infinitas finita) oder zu einem geschaffenen Gott (deus creatus).52 Es gehört zur Besonderheit des cusanischen Denkens, den spätmittelalterlichen Voluntarismus als Grundinterpretament der Gotteslehre angenommen und darauf zugleich mit einer Aufwertung der Welt aufgrund ihrer Annäherung an das Göttliche reagiert zu haben. Limitiert wird die Aufwertung der Welt allein durch die begrenzenden Möglichkeiten der Welt, ein Vollkommenes zu werden: Die Erweiterung des Alls ins Unendliche scheitert an der Potenz des weltlichen Seins und der Materie, zu etwas Unendlichem geformt zu werden.53 Es ist daher,
49 So Bayle in seinem Artikel über Palingenius in seinem Dictionnaire historique et critique (51740) III, 577. 50 Dieser Zusammenhang ist ausführlich dargestellt worden von D. Mahnke, Unendli-
che Sphäre und Allmittelpunkt, Halle 1937 (Reprint: Stuttgart-Bad Cannstadt 1966). Für Mahnke sind Cusanus und Bruno die »originellsten Erneuerer der mathematischen Mystik der Neupythagoreer in der Renaissance« (48). 51 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, cap. 1 (Opera omnia I, 64): »Nihil est itaque dabile, quod divinam terminet potentiam …« 52 De docta ignorantia II, cap. 2 (Opera omnia I, 68) »Quoniam ipsa forma infinita non est nisi finite recepta, ut omnis creatura sit quasi infinitas finita aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hoc melius esse possit; ac si dixisset creator: ›Fiat‹, et quia Deus fieri non potuit, qui est ipsa aeternitas, hoc factum est, quod fieri potuit Deo similius.« 53 De docta ignorantia II, cap. 1 (Opera omnia I, 65): »Quare, licet in respectu infinitae
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wie es Cusanus in eine Formel bringt, privativ unendlich (privative infinitum).54 Die Auffassung von der Begrenztheit des Weltlichen aufgrund der begrenzten Potenz des Materiellen, als etwas Unendliches aktualisiert zu werden, ist nicht neu, aber der Gedanke der Ausschöpfung des Möglichen bis an die Grenze des nur privativ Unendlichen ist bahnbrechend. Die Entgrenzung der räumlichen Welt bis zur annähernden Unendlichkeit war das eigentlich Revolutionäre an der cusanischen Kosmologie, nicht die daraus resultierende Forderung, die Erde befinde sich nicht im Mittelpunkt der Welt55 und nicht in völliger Ruhe.56 Die Aufgabe der Geozentrik beinhaltete vor dem Hintergrund einer Tradition, die in der Mittelpunktstellung der Erde eine Degradierung sah,57 zugleich eine Aufwertung der Erde zu einem edlen Stern (terra stella nobilis).58 Diese Aufwertung der Wohnstätte des Menschen entsprach nur konsequenterweise der von Cusanus vertretenden Anthropozentrik, nach der der Mensch im Anschluß an Hermes Trismegistos ein zweiter Gott sei.59 Nur die Größe Gottes hält diese theologische Anthropologie noch in Grenzen: Gott ist der Mittelpunkt der Welt.60 Die Preisgabe der als eine Bestätigung humaner Ansprüche verstandenen Geozentrik war nicht nur aufgewogen, sondern vorbereitet durch eine in einer Theozentrik fußenden Anthropozentrik bzw. einer anthropozentrischen Theozentrik.
Dei potentiae, quae est interminabilis, universum posset esse maius: tamen resistente possibilitate essendi aut materia, quae in infinitum non est actu extendibilis, universum maius esse nequit …« 54 Ebd. (Opera omnia I, 65). 55 De docta ignorantia II, cap. 11 (Opera omnia I, 100): » … terra non est centrum mundi …« 56 De docta ignorantia II, cap. 11 (Opera omnia I, 102): » … manifestum est terram moveri …« 57 Allein die stoische Tradition hat in der Geozentrik eine implizite Auszeichnung des Menschen gesehen. Noch Montaigne dagegen hat in seinen Essais (II 12, ed. A. Thibaudet/ M. Rat, 429) der vertikalen Dignitätsskala folgend von dem Schlamm und Dreck der Erde (la bourbe et le fient du monde) als der Heimstätte des Menschen sprechen können. Zu der negativen Konnotierung der Geozentrik vgl. R. Brague, »Geozentrismus als Demütigung des Menschen«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1994), 2–25. 58 De docta ignorantia II, cap. 12 (Opera omnia I, 105). 59 Nikolaus von Kues, De beryllo, n. 7 (Opera omnia XI–1, 9): »Quarto adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum deum.« Vgl. De coniecturis II, cap. 14, n. 143 (Opera omnia III, 143), wo der Cusaner vom Menschen als einem zwar nicht absoluten, aber menschlichen Gott spricht: »Homo enim deus est, sed non absolute, quoniam homo; humanus est igitur deus.« 60 De docta ignorantia II, cap. 11 (Opera omnia I, 101): »Qui igitur est centrum mundi, scilicet Deus benedictus, ille est centrum terrae et omnium sphaerarum atque omnium, quae in mundo sunt …«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
Es ist der metaphysische Charakter dieser Spekulationen, der den Versuch, Cusanus in die direkte Vorgeschichte des Kopernikus einzureihen, scheitern läßt. Die cusanische Kosmologie ist von astronomischen Fragestellungen weitgehend unbeeindruckt geblieben, folgt sie doch in ihrer Struktur und ihren Konsequenzen vielmehr der Mathematico-Theologie des ersten Buches von De docta ignorantia. Von daher ist auch der Unendlichkeitsbegriff, den Cusanus auf sein kosmologisches Modell anwendet, kein Resultat physikalischer, astronomischer oder empirischer Überlegungen, sondern es ist die Affinität des Unendlichen zum Symbolischen, auf die es Cusanus ankommt. Seinen ursprünglichen Ort hat der Begriff des Unendlichen im Denken des Cusaners daher zunächst in seinem Umgang mit geometrischen Figuren: Der unendliche Kreis wird zur Geraden, das Dreieck ist in einen Kreis oder eine Kugel überführbar. Diese symbolischen Aufweise eines Zusammenfalls der Gegensätze als transrationale Operationen bedienen sich einer ›Meta-Mathematik‹, die die geometrischen Figuren gleichsam ins Unendliche ›zerdehnt‹.61 Auch die Übertragung des Attributs des Unendlichen auf den kosmischen Raum ist von dieser auf Gott verweisenden Symbolik bestimmt.62 Im Vergleich zur modernen astro-physikalischen Kosmologie ist die Raumvorstellung des Cusanus gleichsam ›meta-kosmologisch‹, da die privative Unendlichkeit des Raumes zum einen die allmächtige Schöpfungspotenz Gottes und zum anderen die Güte der Welt als maximale Realisierung des Aktualisierbaren aufweisen sollte. Die annähernde Unendlichkeit der Welt ist daher für Cusanus nicht vorrangig ein Postulat für eine angenommene räumliche Struktur des Wirklichen, sondern eine Aussage über die Qualität der Welt. Als die Realisierung des maximal Möglichen, ohne Gott sein zu können, ist die Welt die beste aller möglichen Welten.63 Vielleicht war es gerade die theologisch-spekulative Ausrichtung seiner Kosmologie, die es ermöglichte, daß Cusanus zu den ersten Denkern gehört, die den traditionell gewordenen Dualismus von aristotelischer oder atomistischer Raumtheorie hinter sich lassen. Beide Raumtheorien spielen bei Cusanus keine Rolle. Damit war ein Spielraum gleichsam nebenbei und unbeabsichtigt eröffnet, dessen Nutzbarkeit die Virulenz der cusanischen Raumvorstellung in seiner Rezeptionsgeschichte ausmachen sollte.
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So die treffende Charakterisierung von K. Flasch, Nikolaus von Kues, a. a. O., 171 f. Vgl. C. F. v. Weizsäcker, »Die Unendlichkeit der Welt. Eine Studie über das Symbolische in der Naturwissenschaft«, in: ders., Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 121976, 118– 157. 63 Vgl. De docta ignorantia II, cap. 1 (Opera omnia I, 65), wo Cusanus von dem privat unendlichen Universum sagt, es sei von der besten Art, die die Bedingung seiner Natur zuließe: »Ipsum autem non est actu nisi contracte, ut sit meliori quidem modo, quo suae naturae patitur conditio.«
§ 19 Kreationistische Metaphysik und der Bedarf an Unendlichkeit
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Man mag an Cusanus jenen traditionskritischen Impuls vermissen, der in der Folgezeit unweigerlich mit der Entgrenzung der aristotelisch-scholastischen Welt verbunden wird. Schon bei Giordano Bruno findet sich dagegen ein von Cusanus inspirierter Gebrauch des Unendlichkeitsbegriffs, der bei ihm eine programmatische Verwendung findet.64 Wie Cusanus vertritt Bruno den schöpfungstheologischen Symbolismus, das unendliche Weltall sei das entsprechende Resultat der göttlichen und unendlichen Potenz.65 Dieser Gedanke ist für Brunos Kosmologie so zentral, daß er Eingang gefunden hat in die Prozeßakten, wobei die Undenkbarkeit der Endlichkeit durch die Umkehrung der Argumentation noch gesteigert wird: Gottes Wesen wäre endlich, hätte er nicht tatsächlich etwas Unendliches und unendlich Vieles hervorgebracht – Natura Dei est finita, si non producit de facto infinitum, aut infinita.66 Fast wörtlich übernimmt Bruno die Grundthese eines ungehemmt schöpferischen Gottes, wie Palingenius sie formuliert hatte. Ausdrücklich kommt Bruno lobend auf Palingenius zu sprechen,67 und obwohl er sich im achten Buch von De immenso et innumerabilibus kritisch auf einige Thesen des Zodiacus vitae einläßt, stimmt er grundsätzlich mit Palingenius in der Frage überein, welchen Grund wir haben sollen, glauben zu wollen oder zu glauben zu können, die göttliche Wirkungskraft (divina efficacia) sei müßig.68 Der entscheidende Unterschied, der zu Cusanus besteht, ist das Kapital, das Bruno aus dem Gedanken der Unendlichkeit der Welt schlägt. Damit ist nicht allein der von ihm gesuchte Konflikt mit der christlichen Dogmatik gemeint, indem er dem inkarnatorischen Heilszentrismus eines Gottes in der Welt eine pantheistische Verbindung von Kosmos und Göttlichkeit als Göttlichkeit der Welt entgegenstellt.69 Vielmehr kommt es Bruno auf die Eröffnung der humanen Selbstbestimmungspotentiale durch die Vernunft an. Der unendliche Raum
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Zum Einfluß des Cusaners auf Bruno vgl. St. Meier-Oeser, Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989, 231–281. 65 Bruno läßt im ersten Dialog von De l’infinito, universo e mondi der Unendlichkeit Gottes die Unendlichkeit des Weltalls entsprechen. Die entscheidende Frage ist für ihn, welcher Grund uns glauben machen sollte, daß das Wirkende, das ein unendlich Gutes schaffen kann, es endlich schafft: »Qual raggione vuole che vogliamo credere, che l’agente che può fare un buono infinito, lo fa finito?« (Dialoghi italiani, 383) 66 A. Mercati, Il sommario del processo di Giordano Bruno, Vatikan 1947, 113. 67 Vgl. G. Bruno, Oratio valedictoria (Opera latine conscripta I–1, 17), wo Palingenius in einem Atemzug mit Cusanus und Kopernikus genannt wird. 68 G. Bruno, De l’infinito, universo e mondi I (Dialoghi italiani, 380): »… perché vogliamo o possiamo noi pensare che la divina efficacia sia ociosa?« 69 Bruno verwendet dafür im dritten Dialog seiner Schrift Spaccio de la bestia trionfante die prägnante Formel natura est deus in rebus (Dialoghi italiani, 776).
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ist für ihn eine Befreiung, da nun die Vernunft nicht länger in den Fesseln der erdichteten, acht, neun oder zehn Himmelssphären und ihrer Beweger gefangen sei.70 Der unendliche Raum wird zum programmatischen Synonym für einen Antiaristotelismus, der sich zwar der Zitate eines Atomismus bedient,71 aber über diesen Dualismus weit hinausgeht. Brunos Bedarf an Unendlichkeit entstammt der frühneuzeitlichen Tendenz einer Entlimitierung des Möglichen, welche gleichsam beiläufig, aber notwendigerweise eine Kritik der als hemmend erfahrenen Tradition beinhaltete. So kann auch Descartes folgern, eine unbegrenzte Ausdehnung des Weltalls mache die durch die Religion begründete Vorrangstellung des Menschen unglaubwürdig: Gott allein ist demnach der Endzweck und die Ursache des Weltalls.72 Wir hätten auf unsere Winzigkeit (à nostre petitesse) und auf die Größe aller erschaffenen Dinge (à la grandeur de toutes les choses creées) zu achten, ohne sie in ihrem Bezug auf die göttliche Allmacht in eine Kugel einzuschließen (sans les enfermer en vne boule), wie es diejenigen täten, die die Welt als begrenzt auffassen.73 Die Unbegrenztheit seines Vermögens sei desto besser zu erkennen, je größer wir seine Werke einschätzten.74 Erst vor dem skizzierten Hintergrund der Tradition verlieren derartige Aussagen ihre Beiläufigkeit und gewinnen an systematischer Schwere. Sie illustrieren nicht weniger als den Wandel des Wirklichkeitsverständnisses aufgrund einer veränderten Metaphysik. Descartes hat daher nicht aus dem Blickwinkel der Physik, sondern vor dem Hintergrund der kreationistischen Spekulationen seine eigene Raumtheorie entfaltet. Sie war ihm wichtig, da sie einer Inauguration der cartesischen Rationalität diente.
§ 20 Spekulative Unbegrenztheit als der imaginäre Raum der cartesischen Rationalität Descartes wußte um die Brisanz einer naturphilosophischen Raumkonzeption jenseits des von der Tradition Verbürgten. Während seiner Arbeit an Le Monde ou Traité de la lumière, die als erste Schrift seine Konzeption des kosmischen Raumes
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G. Bruno, La cena de le ceneri I (Dialoghi italiani, 34): »Non è piú impriggionata la nostra raggione coi ceppi de’ fantastici mobili e motori otto, nove e diece.« 71 Bruno verweist im zweiten Dialog von De l’infinito, universo e mondi ausdrücklich auf Epikur, um seine Annahme einer Unendlichkeit der Welt zu stützen. 72 Brief an Chanut, 6. Juni 1647 (AT V, 53 f.): »Mais il est dit … que c’est Dieu seul qui est la cause finale, aussi bien que la cause efficiente de l’Vniuers …« 73 Brief an Chanut, 1. Februar 1647 (AT IV, 609). 74 Brief an Elisabeth, 6. Oktober 1645 (AT IV, 315): »… mais d’autant que nous estimons les oeuures de Dieu estre plus grands, d’autant mieux remarquons nous l’infinité de sa puissance …«
§ 20 Unbegrenztheit als Raum der cartesischen Rationalität
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enthält, fragt er in einem Brief an Mersenne, ob es aus der Sicht der Religion Verbindliches in der Frage der Ausdehnung geschaffener Körper, ihrer Endlichkeit oder Unendlichkeit, und der Existenz real geschaffener Körper innerhalb dessen, was ›imaginäre Räume‹ genannt wird, gebe.75 Die Erwähnung der espaces imaginaires verrät, daß er um die Diskussion der extrakosmischen Räume und Gegenstände wußte. Sie wurde besonders in den jesuitischen Coimbra-Kommentaren zur aristotelischen Physik im 16. Jahrhundert geführt, jenen jesuitischen Kommentaren, deren man sich auch zu Descartes’ Zeit in La Flèche bediente. War die Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit des Raumes seit dem Spätmittelalter Gemeingut aller kosmischen Entwürfe, betonte die Rede vom ›imaginären‹ Raum dagegen zum einen, daß dieser sinnlich nicht wahrnehmbar sei, und zum anderen, daß er – wie es ein anonymer Kommentator der Coimbra-Schule definiert – nicht dreidimensional gedacht werden soll.76 Es ist der Raum Gottes jenseits des aktuellen Raumes, der aufgrund der undenkbaren Einschränkbarkeit Gottes den kosmisch aktuellen Raum übersteigt. Zu diesem, den aktuellen Raum transzendierenden Raum einer göttlichen ›Verortung‹ tritt die Vorstellung hinzu, Gott könne, wenn er es kraft seiner absoluten Macht wolle, in diesen imaginären Raum hinein – und damit außerhalb des kosmischen Raumes – Dinge schaffen.77 Da nicht denkbar ist, warum Gott in seiner Allmacht nicht einen Stein in das Nichts hinein schaffen können soll, also in einen Raum, der nicht real und kein Seiendes ist, ist im Umkehrschluß undenkbar, warum Gott nicht in diesem transkategorialen Raum sein soll.78 Wenn Gott aber eine Allgegenwart attestiert werden muß, dann hat er auch jenseits des kosmischen Himmels zu existieren, weil er von
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Brief an Mersenne, 18. Dezember 1629 (AT I, 86): »Et a propos de cecy, ie vous prie me mander s’il n’y a rien de determiné en la religion, touchant l’estendue des choses creées, sçauoir si elle est finie ou plutost infinie, et qu’en tous ces pais qu’on appele les espaces imaginaires il y ait des cors creés & veritables …« 76 Anonymus, Commentariorum Collegii Conimbricensis Societatis Iesu in octo libros Physicorum Aristotelis Stagiritae VIII, cap. 10, qu. 2, col. 518, Köln 1602, folgende Zitate nach: E. Grant, »Medieval and Seventeenth-Century Conceptions of an Infinite Void Space beyond the Cosmos«, in: Isis 60 (1969), 39–60, 52 f.: »Primum sit: hoc spatium non esse veram quantitatem trina dimensione praeditam …« In einem Brief an Chanut vom 6. Juni 1647 setzt Descartes die ›imaginären Räume‹ ausdrücklich mit jenen Räumen, die nicht über die drei Dimensionen verfügen, gleich (AT V, 52). Er bewegt sich damit strikt innerhalb der Entwürfe der Coimbra-Kommentatoren. 77 Commentariorum Collegii Conimbricensis Societatis Iesu in octo libros Physicorum Aristotelis Stagiritae VIII, cap. 10, qu. 2, col. 519: »… et extra mundum recipi queant si illic a Deo creantur …« 78 Ebd.: »… inficiamur non posse Deum esse in nihilo, id est, in spatio quod ens reale et positivum non est alioqui nec lapis divina virtute extra coelum esse posset.«
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keinem Ort ausgeschlossen sein kann, weder von einem wahren noch von einem imaginären.79 Die Rede von dem imaginären Raum beinhaltete demnach keinesfalls die Annahme eines unendlichen Kosmos, im Gegenteil. Erst die Endlichkeit der Welt provozierte unter der Prämisse einer Allgegenwart Gottes die Erweiterung des ihm zuweisbaren Raumes über den weltlichen Raum hinaus. Da Gott nicht allein in der endlichen Welt sein kann, muß er auch jenseits des kosmischen Raumes gedacht werden können, und somit muß der extramundane Raum spezifizierbar sein: im Sinne des imaginären Raumes. Descartes’ Frage an Mersenne, ob es eine verbindliche Raumkonzeption gebe, die die Religion – und man darf hinzufügen: die Kirche – vertrete, offenbart den Umstand, daß es keinen selbstverständlichen Konsens mehr gab, auf den sich zu berufen oder von dem sich abzusetzen selbstverständlich möglich war. Immerhin hatte Augustinus die Einbildung unendlicher Räume, in die hinein die Welt geschaffen worden sei, als töricht zurückgewiesen, da es außerhalb der Welt keinen Raum gebe.80 Die neuen Raumkonzeptionen widersprachen somit ausdrücklich der normativen Tradition. Nicht ohne Grund hat Descartes in einem späteren Brief an Chanut seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß der Kardinal Nikolaus von Kues und andere Gelehrte die Welt als unendlich angenommen haben, ohne dafür jemals von der Kirche getadelt worden zu sein.81 Die Annahme unendlicher oder imaginärer Räume widersprach zwar der theologischen Tradition, entsprach aber der Logik einer kreationistischen Allmachtslehre. Es war genau diese Abhängigkeit von einem schöpfungstheologischen Kontext, der in der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft zu Vorbehalten gegenüber den Unendlichkeitsannahmen führte, da die postulierte Unendlichkeit Resultat metaphysischer Annahmen jenseits einer empirischen Überprüfbarkeit war. Für Kepler ist es gewiß, daß die Welt endlich ist, gleichsam als ein ausgehöhlter Raum, der sich von der Grenze her zur Sonne und den Planeten
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Ebd.: »Est extra coelum quia a nullo seu vero seu imaginario loco excludi potest.« Vgl. De civitate Dei XI, cap. 5 (PL 41, 321), wo Augustinus den Spekulanten entgegenhält, es seien nur törichte menschliche Gedanken, sich unendliche Räume einzubilden, während es in Wirklichkeit keinen Raum außerhalb der Welt gebe, und es sei zu antworten, daß es ebenso töricht sei, wenn Menschen sich vergangene Zeiten göttlicher Untätigkeit ausdenken, während es doch keine Zeit vor der Welt gebe: »Quod si dicunt inanes esse hominum cogitationes quibus infinita imaginantur loca, cum locus nullus sit praeter mundum; respondetur eis, isto modo inaniter homines cogitare praeterita tempora vacationis Dei, cum nullum tempus sit ante mundum.« Damit ist die Kontingenz der Welt in Raum und Zeit behauptet. 81 Brief an Chanut, 6. Juni 1647 (AT V, 51): »En premier lieu, ie me souuiens que le Cardinal de Cusa & plusieurs autres Docteurs ont supposé le monde infiny, sans qu’ils ayent iamais esté repris de l’Eglise pour ce suiet …«
§ 20 Unbegrenztheit als Raum der cartesischen Rationalität
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hin erstreckt. Alles übrige sei Metaphysik.82 Giordano Bruno ist für ihn daher der unglückliche (infelix) Vertreter einer metaphysisch inspirierten Unendlichkeitskonzeption.83 Da für Kepler der Gedanke noch fremd ist, daß es Sterne geben kann, die wir nicht sehen können, verbietet sich ihm die Annahme, die sichtbaren Fixsterne in eine unendliche Ferne zu setzen: Nichts, was sichtbar ist, ist von uns durch eine unendliche Entfernung getrennt.84 Bei Keplers astronomischer Metaphysikkritik war noch soviel Metaphysik im Spiel, daß das Sichtbarkeitspostulat, nach dem alles, was wirklich ist, auch wahrnehmbar ist, unangefochten bleibt und repräsentativ für eine Proportionalität von Welt und Verstandeskapazität steht. Keplers Haupteinwand gegen die Annahme einer Unendlichkeit ist allerdings so einfach wie gravierend: Wir können sie nicht denken. Es gibt keine unendliche Welt, da ein unendliches Maß nicht gedacht werden kann – quia infinita mensura cogitatur nunquam.85 Galilei argumentiert ähnlich. In seinem Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo läßt er Salviati die Frage stellen, ob die Vorstellungskraft des Menschen ausreiche, sich die Größe des Weltalls vorzustellen, die er für so gewaltig halte, und ob – wenn er sie begreife – seine Fassungskraft weiter reiche als die Allmacht Gottes und sie sich daher etwas Größeres vorzustellen imstande sei, als Gott zu schaffen fähig ist.86 Das ist keine bloße Rhetorik. So wie die Einbildungskraft an der Auffassung von Zahlen, sobald man zu Tausenden von Millionen gelangt, irre werde und sich kein Bild mehr machen könne, so geschehe es auch bei der Auffassung von Ausdehnungen und Entfernungen.87 Die Unendlichkeit entzieht
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J. Kepler, De stella nova in pede Serpentarii, cap. 21 (Gesammelte Werke I, 256): »Est igitur certum, introrsum versus Solem et Planetas finitum esse mundum, et quodammodo excavatum. Quod reliquum est, Metaphysica superstruat.« 83 Ebd. (Gesammelte Werke I, 253). 84 J. Kepler, Epitome Astronomiae Copernicae I, pars 2 (Gesammelte Werke VII, 45): »Nullum igitur visibile distat à nobis infinito intervallo.« 85 De stella nova in pede Serpentarii, cap. 21 (Gesammelte Werke I, 257). So argumentiert auch Hobbes: Da es vom Unendlichen kein Phantasma gebe, können wir es uns nicht vorstellen. Daher fällt für Hobbes die Frage nach der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Welt in die Zuständigkeit der Theologen – rational ist sie nicht einzuholen. Vgl. Elementorum philosophiae, sectio prima: De corpore IV, cap. 26 (Opera philosophica I, 334 ff.). 86 G. Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Dritter Tag (ed. Nazionale VII, 394): »E finalmente io ti domando, oh uomo sciocco: Comprendi tu con l’immaginazione quella grandezza dell’ universo, la quale tu giudichi poi esser troppo vasta? se la comprendi, vorrai tu stimar che la tua apprensione si estenda più che la potenza divina, vorrai tu dir d’immaginarti cose maggiori di quelle che Dio possa operare?« 87 Ebd. (ed. Nazionale VII, 394): »… sì come nell’ apprension de’ numeri, come si comincia a passar quelle migliaia di milioni, l’immaginazion si confonde nè può più formar concetto, così avvengar ancora nell’ apprender grandezze e distanze immense …«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
sich der rationalen Verfügbarkeit. Es ist eben ein gravierender Unterschied, eine Unendlichkeit zu postulieren oder sie zu denken. Da aber auch die Endlichkeit der Welt nicht denkbar ist, läßt sich an Galilei das Dilemma der rationalen Raumdefinition ablesen. Weder sein Gesprächspartner Simplicio noch irgend jemand habe je bewiesen, daß die Welt endlich und von bestimmter Gestalt sei und nicht etwa unendlich und unbegrenzt.88 In einen Brief an Francesco Ingoli aus dem Jahr 1624 resümiert Galilei seine Unentschiedenheit, es sei noch ungeklärt und werde für das menschliche Wissen immer so bleiben, ob das Universum endlich oder unendlich ist.89 Descartes versucht das Problem zu umgehen. In den Principia philosophiae, die einen Teil seiner unveröffentlichten Überlegungen zur Kosmologie enthalten, wie er sie in Le Monde entfaltet hatte, proklamiert er gleich zu Beginn: »Wir werden uns deshalb nicht mit Streitigkeiten über das Unendliche ermüden.«90 Das Unendliche übersteige, wie vieles andere auch, unsere Fassungskraft, und Descartes vergleicht es mit den Mysterien der Fleischwerdung und der Dreieinigkeit.91 Galilei argumentiert in einem Brief an Fortunio Liceti in der gleichen Weise, indem er die unbegreifbare Unendlichkeit etwa mit der Prädestination, dem freien Willen oder derartigen Fragen vergleicht, auf die nur die Heilige Schrift und die göttliche Offenbarung eine Antwort geben könnten.92 Descartes ist ausdrücklich nicht an einer kreationistischen Bestimmung des Unendlichkeitsbegriffs interessiert. Überhaupt vermeidet er den Unendlichkeitsbegriff, da er für ihn aporetisch besetzt und rational nicht einholbar ist: Fragen wie ›Ist die Hälfte einer unendlichen Linie ebenfalls unendlich‹ oder ›Ist die unendliche Zahl gerade oder ungerade‹ gelte es zu vermeiden.93 Descartes 88
Ebd. (ed. Nazionale VII, 347): »… essendo che nè voi nè altri ha mai provato se il mondo sia finito e figurato, o pure infinito e interminato …« 89 G. Galilei, Lettera a Franceso Ingoli in risposta alla Disputatio de situ et quiete Terrae, 1624 (ed. Nazionale VI, 529): »E non sapete voi ch’ è ancora indeciso (e credo che sarà sempre tra le scienze umane) se l’universo sia finito o pure infinito?« 90 Principia I 26 (AT VIII–1, 14): »Ita nullis unquam fatigabimur disputationibus de infinito.« 91 Principia I 25 (AT VIII–1, 14). 92 G. Galilei, Brief an Fortunio Liceti vom 24. September 1639 (ed. Nazionale XVIII, 106): »Ma questa«, nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit des Weltalls, »è una di quelle questioni per avventura inesplicabili da i discorsi umani, simile forse alla predestinazione, al libero arbitrio, et ad altre, nelle quali le Sacre Pagine e le divine asserzioni sole piamente ci possono quietare.« Natürlich kann man die demütige Haltung Galileis gegenüber den Offenbarungswahrheiten für ein rhetorisches Stilmittel halten. Man sollte aber nicht übersehen, daß die Unendlichkeit, die er mit den Offenbarungswahrheiten vergleicht, für ihn ein rationales und nicht ein dogmatisches Problem ist. Ihre Undenkbarkeit findet sich durch den Vergleich durchaus angemessen illustriert. 93 Vgl. Principia I 26.
§ 20 Unbegrenztheit als Raum der cartesischen Rationalität
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lehnt die Verwendung des Unendlichkeitsbegriffs im Kontext rationaler Bestimmungen von Weltlichem ab, da er das Potential der Rationalität übersteigt. Er spricht allein vom ›Unbegrenzten‹ und reserviert den Unendlichkeitsbegriff für Gott.94 Damit zieht er gleichsam einen Schlußstrich unter die kreationistischen Spekulationen und eliminiert den Begriff des Unendlichen aus den rationalen Operationen, da er ihm eine Exklusivität zuweist, die ihn aus den übrigen operativen Diskursen der Rationalität heraushält. Zugleich verpflichtet sich Descartes nicht auf das alte Weltbild eines endlichen Kosmos, da der Terminus des Unbegrenzten alle Innovationen der frühneuzeitlichen Kosmologie zuläßt, ohne spekulative Konsequenzen ziehen zu müssen. So spricht nichts dagegen, die Fixsterne »in eine beliebige ungeheure Entfernung«95 zu setzen, ohne die Größe des Raumes definitorisch exakt bestimmen zu müssen. Die Differenz zwischen dem ›Unbegrenzten‹ und dem ›Unendlichen‹ ist gravierend und bestimmt das Potential der Rationalität, mit der die Fassungskraft übersteigenden Größe umzugehen: Zwischen ›unendlich‹ und ›unbegrenzt‹ bestehe ein bemerkenswerter Unterschied, »denn um zu behaupten, daß eine Sache unendlich ist, muß man irgendeinen Grund haben, der sie als unendlich erkennbar macht, wie man ihn nur für Gott allein haben kann; um aber zu sagen, daß sie unbegrenzt ist, braucht man keinen Grund zu haben, aus dem man beweisen könnte, daß sie Grenzen hat«.96 Nicht ohne argumentatives Geschick grenzt sich Descartes von kreationistischen Spekulationen ab, indem er sie nicht zu widerlegen sucht, sondern einen Perspektivenwechsel vollzieht, der eine Verschiebung des Themenschwerpunktes nach sich zieht. Das Leitmotiv ist nicht länger eine Entfaltung des Unendlichen als ein Attribut der göttlichen Allmacht, sondern der Ausgangspunkt der Reflexion ist die Endlichkeit der humanen Rationalität, für die das Unendliche – jenseits der metaphysischen Bestimmung Gottes – keinen angemessenen Gegenstand darstellt. Im Rahmen seiner Kosmogonie, die Descartes funktional für eine Inauguration seiner Rationalität nutzt, kann er freizügig zugestehen, daß die Welt – theologisch betrachtet – von Anfang an in aller Vollkommenheit geschaffen worden ist, daß in ihr die Sonne, die Erde, der Mond und die Sterne existiert haben, und daß es auf der Erde nicht nur Samen von Pflanzen, sondern diese selbst gab, und daß auch Adam und Eva nicht als Kinder geboren, sondern erwachsen 94
Principia I 27 (AT VIII–1, 15): »Haecque indefinita dicemus potiùs quàm infinita: tum ut nomen infiniti soli Deo reservemus …« Vgl. auch Principia II 21. 95 Principia III 7 (AT VIII–1, 82): »… ad quantumlibet immensam distantiam …« 96 Brief an Chanut, 6. Juni 1647 (AT V, 51): »… car, pour dire qu’vne chose est infinie, on doit auoir quelque raison qui la fasse connoistre telle, ce qu’on ne peut auoir que de Dieu seul; mais pour dire qu’elle est indefinie, il suffit de n’auoir point de raison par laquelle on puisse prouuer qu’elle ait des bornes.«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
geschaffen worden sind. So lehre es die christliche Religion und, so fügt Descartes als Zugeständnis hinzu, die natürliche Vernunft.97 Zur Erkenntnis der Natur sei es jedoch besser, ihre Genese zu beobachten: »Dagegen ist es zur Kenntnis der Pflanzen und Menschen besser, ihre allmähliche Entstehung aus den Samen zu beobachten, als so, wie sie Gott am Anfang der Welt geschaffen hat: Können wir daher gewisse Prinzipien entdecken, die einfach und leicht faßbar sind, und aus denen, wie aus dem Samen, die Gestirne und die Erde und alles, was wir in der sichtbaren Welt antreffen, abgleitet werden kann, wenn wir auch wissen, daß sie so nicht entstanden sind, so werden wir doch auf diese Weise ihre Natur besser erklären, als wenn wir sie nur so, wie sie jetzt sind, beschreiben.«98 Der Entwurf einer Genesis der Welt nach rationalen Prinzipien ist nicht länger die Explikation des göttlichen Schöpfungsdenkens. Die Beschreibung der Welt folgt rationalen Prinzipien, die nicht mehr theologisch kodiert sind. Hatte die Tradition aus der aristotelischen Philosophie und der Theologie, wie es Samuel von Pufendorf formuliert, »einen mischmasch gemachet, so man Theologiam Scholasticam nennet«,99 vollzieht sich bei Descartes eine epistemologische Trennung von Zuständigkeiten. Dieser im späten Mittelalter einsetzende Ablösungsprozeß der Philosophie von normativen Vorgaben der theologischen Weltdeutung ist für die frühe Neuzeit so prägnant wie bekannt. Nicht übersehen werden sollte allerdings, wie Descartes diese Separierung durchführt. Das von ihm in seiner Kosmogonie zu Beschreibende stellt Descartes als »eine andere, ganz neue Welt« (vn autre tout nouveau Monde) 100 in Aussicht – ein Pathos, das man eher von Francis Bacon kennt. Diese andere und ganz neue Welt ist eine Welt der neuen Rationalität. Ihre Inauguration geschieht in einem Akt der Spekulation, den Descartes im sechsten Kapitel von Le Monde durchführt und den es ausführlich zu zitieren lohnt. Er beginnt: »Erlauben Sie also für kurze 97
Principia III 45 (AT VIII–1, 99 f.): »Non enim dubium est, quin mundus ab initio fuerit creatus cum omni suâ perfectione: ita ut in eo & Sol & Terra & Luna, & Stellae extiterint; ac etiam in Terrâ non tantùm fuerint semina plantarum, sed ipsae plantae; nec Adam & Eva nati sint infantes, sed facti sint homines adulti. Hoc fides Christiana nos docet, hocque etiam ratio naturalis planè persuadet.« 98 Ebd. (AT VIII–1, 100): »Sed nihilominus, ut ad plantarum vel hominum naturas intelligendas, longè melius est considerare, quo pacto paulatim ex seminibus nasci possint, quàm quo pacto à Deo in primâ mundi origine creati sint: ita, si quae principia possimus excogitare, valde simplicia & cognitu facilia, ex quibus tanquam ex seminibus quibusdam, & sidera & Terram, & denique omnia quae in hoc mundo aspectabili deprehendimus, oriri potuisse demonstremus, quamvis ipsa nunquam sic orta esse probè sciamus, hoc pacto tamen eorum naturam longè meliùs exponemus, quàm si tantùm, qualia jam sint, describeremus.« 99 S. v. Pufendorf, Samuelis Pufendorfii Unvorgreifflich Bedencken über der Deputirten von der Priesterschafft requeste wegen abschaffung der Cartesianischen Philosophie, a. a. O., 433. 100 Monde VI (AT XI, 31).
§ 20 Unbegrenztheit als Raum der cartesischen Rationalität
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Zeit Ihrem Denken, diese Welt zu verlassen, um eine andere, ganz neue aufzusuchen, die ich in Ihrer Gegenwart in den imaginären Räumen entstehen lasse. Die Philosophen sagen uns, daß diese Räume unendlich sind; und sie müssen wohl daran geglaubt haben, denn sie selbst haben sie ja geschaffen. Aber damit diese Unendlichkeit uns nicht hinderlich und lästig wird, versuchen wir nicht, bis zum Äußersten zu gehen; treten wir nur soweit ein, daß wir alle Geschöpfe aus den Augen verlieren können, die Gott vor fünf- oder sechstausend Jahren schuf. Und nachdem wir dort an einer bestimmten Stelle haltgemacht haben, nehmen wir an, Gott schüfe um uns herum soviel Materie, daß unsere Einbildungskraft darin keine leere Stelle mehr wahrnehmen könnte, wohin sie sich auch immer wende.«101 Diese Passage ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Zunächst wird in aller Höflichkeit durch einen spekulativen Kunstgriff die Normativität der theologischen und biblisch verbürgten Weltdeutung depotenziert. Dann zieht Descartes für den paradigmatischen Bruch mit der Welt als einem endlichen System zwar den geläufigen Terminus der imaginären Räume heran, ohne ihm aber eine besondere systematische Funktion zuzuweisen, die über eine Entgrenzung des endlichen Kosmos hinausgeht. Die Rede von den imaginären Räumen bleibt unterbestimmt, und sie ist nicht länger von einer Explikation der Allgegenwart Gottes motiviert. Der von Materie erfüllte Raum ist nicht unendlich, aber doch so groß, daß er die Reichweite der humanen Rationalität übersteigt und damit eine universale Gültigkeit für die endliche Vernunft verbürgt. Descartes führt das aus, indem er den zu denkenden Raum größer sein läßt als die jeweilige Setzung durch die Einbildungskraft: »Obgleich das Meer nicht unendlich ist, können diejenigen, die sich auf hoher See auf einem Schiff befinden, ihren Blick scheinbar bis ins Unendliche ausdehnen; und gleichwohl gibt es noch Wasser jenseits der Reichweite ihrer Augen. So können wir, obgleich sich unsere Einbildung bis zum Unendlichen auszudehnen scheint und diese neue Materie nicht als unendlich angenommen wird, dennoch unterstellen, daß sie Räume ausfüllt,
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Ebd. (AT XI, 31 f.): »Permettez donc pour vn peu de temps à vostre pensée de sortir hors de ce Monde, pour en venir voir vn autre tout nouveau, que je feray naistre en sa presence dans les espaces imaginaires. Les Philosophes nous disent que ces espaces sont infinis; & ils doivent bien en estre crûs, puisque ce sont eux-mesmes qui les ont faits. Mais afin que cette infinité ne nous empesche & ne nous embarasse point, ne tâchons pas d’aller jusques au bout; entrons-y seulement si avant, que nous puissions perdre de veuë toutes les creatures que Dieu fist il y a cinq ou six mille ans; & aprés nous estre arrestez là en quelque lieu déterminé, supposons que Dieu crée de nouveau tout autour de nous tant de matiere, que, de quelque costé que nostre imagination se puisse estendre, elle n’y apperçoive plus aucun lieu qui soit vuide.« Die Zeitangabe über das Alter der Welt ist keine rhetorische Untertreibung. Noch in einem späten Brief an Chanut vom 6. Juni 1647 wiederholt er sie (AT V, 53).
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die sehr viel größer sind als diejenigen, die wir uns vorgestellt haben. Und erlauben wir selbst unserer Einbildungskraft nicht, sich so weit auszudehnen, wie sie vermöchte, damit es nichts in alledem gibt, woran Sie etwas tadeln könnten, sondern halten wir sie ganz absichtlich innerhalb eines bestimmten Raumes, der nicht größer sei als zum Beispiel die Entfernung von der Erde bis zu den ersten Sternen des Firmaments. Nehmen wir an, die Materie, die Gott geschaffen haben wird, erstrecke sich sehr weit nach allen Seiten darüber hinaus, bis zu einer unbestimmten Entfernung.«102 Es kommt Descartes auf die unbestimmte Entfernung (distance indéfinie) an. Daß er mit ihr operiert, mag in dem Vorteil begründet sein, daß Spekulationen über astronomische Distanzen auch in einem als endlich gedachten kosmischen System nicht sanktioniert waren, da die Bibel keine Aussagen über kosmische Entfernungen enthält und daher auch die Theologie, im Gegensatz zum angenommen Alter der Welt, keine verbindlichen Entfernungen – etwa der Erde zu den Fixsternen – vorschrieb. Indem Descartes die geschaffene Materie über die von der Einbildungskraft angesetzte Distanz der Sterne am Firmament hinausgehen läßt, gelangt er – den Streit um die konkurrierenden Weltmodelle eines endlichen oder unendlichen Kosmos umgehend – zu jener unbestimmten Entfernung, die dem Raum keine Unendlichkeit, aber eine Unbegrenztheit zuweist. Hatte Cusanus den Kosmos als privativ unendlich (privative infinitum) beschrieben und damit den Begriff der Unbegrenztheit antizipiert, den Begriff der Unendlichkeit aber Gott vorbehalten, geht Descartes scheinbar ähnlich, doch perspektivisch anders vor. Während Cusanus den Kosmos bis an die Unendlichkeit Gottes heranreichen läßt, genügt es Descartes, wenn der Raum die von der Einbildungskraft angesetzte Größe übersteigt. Damit ist ein Raum spekulativ konstituiert, in dem sich die Rationalität bewegt. Er hat stets ein wenig größer zu sein als der rationale Entwurf von ihm. Er ist ein kontingenter Geltungsraum, den Descartes aufspannt, um der Rationalität eine Homogenität der epistemischen Bedingungen zuzuweisen. Bei Galilei findet sich ein vergleichbarer Akt, der Vernunft einen homogenen Geltungs-
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Monde VI (AT XI, 32): »Bien que la mer ne soit pas infinie, ceux qui sont au milieu sur quelque vaisseau, peuvent estendre leur veuë, ce semble, à l’infiny; & toutesfois il y a encore de l’eau au delà de ce qu’ils voyent. Ainsi, encore que nostre imagination semble se pouvoir estendre à l’infiny, & que cette nouvelle matiere ne soit pas supposée estre infinie: nous pouvons bien toutesfois supposer, qu’elle remplit des espaces beaucoup plus grands que tous ceux que nous aurons imaginé. Et mesme, afin qu’il n’y ait rien en tout cecy, où vous puissez trouver à redire, ne permettons pas à nostre imagination de s’estendre si loin qu’elle pourroit; mais retonons-la tout à dessein dans vn espace déterminé, qui ne soit pas plus grand, par exemple, que la distance qui est depuis la Terre jusques aux principales étoiles du Firmament; & supposons que la matiere que Dieu aura creée, s’estend bien loin au delà de tous costez, jusques à vne distance indéfinie.«
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raum zuzuschreiben, wenn er in seinem Dialog über die Weltsysteme Salviati zu Simplicio in bezug auf den Weltaufbau sagen läßt: »Nehmt also ein Blatt und einen Zirkel. Dieses weiße Papier sei die unermeßliche Ausdehnung des Weltalls, in die Ihr seine Teile verteilen und ordnen könnt, wie die Vernunft es Euch vorschreiben wird.«103 Auch hier wird ein Geltungsraum aufgespannt, und die glatte Flächigkeit des Blatt Papiers kann, obwohl von Galilei kaum intendiert, als Metapher für die Homogenität der störungsfreien Geltung der Vernunft genommen werden. Aber Galilei ist weit davon entfernt, diesen inaugurativen Akt systematisch auszureizen. Dafür ist die zitierte Stelle zu beiläufig und ihr Sinn zu eindeutig explikatorisch. Dennoch ist an ihr durch Vergleich ablesbar, inwiefern Descartes den Typus einer derartigen Inauguration radikalisiert und exponiert. Das rationale Deutungsmuster der Welt wird von Descartes anthropozentrisch entworfen, gerade weil die Wirklichkeit nicht mehr teleologisch auf den Menschen abgestimmt ist. Bereits die gewählte räumliche Erstreckung des unbegrenzten Kosmos ist anthropozentrisch konditioniert. Unendlich ist für Descartes nur Gott. Er vermeidet es, etwa in kosmischen Dimensionen vom Unendlichen zu sprechen, »um das Wort ›unendlich‹ nur für Gott zu reservieren, weil wir in ihm allein in jeder Hinsicht nicht bloß keine Grenzen finden, sondern auch positiv erkennen, daß er keine hat …«104 Auch in dem Gespräch mit Burman kommt Descartes auf die in den Principia vertretene Ablehnung der Unendlichkeitskonzeptionen zu sprechen und wiederholt seine erkenntnistheoretische Abkehr von schöpfungstheologischen Spekulationen: »Was uns betrifft, so sehen wir, daß die Natur jener Dinge«, also die Unendlichkeitsannahmen in bezug auf die Welt usf., »unsere Kräfte übersteigt, und daß wir aufgrund unserer endlichen Begrenztheit jene denkend nicht zu erfassen vermögen …«105 Die Aufspannung eines unbegrenzten Geltungsraumes der Rationalität verweist somit auf die Universalität ihres Anspruchs, ohne der Hybris einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Der unbegrenzte Raum wird zur Metapher für einen formulierten Rationalitätsanspruch. Die cartesische Rationalität ist daher ein gewählter Anthropozentrismus und nicht mehr ein unterstellter. Die humane Rationalität bestimmt das Paradigma, nach der die neue Welt geschaffen wird. Diejenigen, die diesem Paradigma einer anthropozentrischen Rationalität fol103
G. Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Dritter Tag (ed. Nazionale VII, 350): »Pigliate dunque un foglio e le seste: e sia questa carta bianca l’immensa espansione dell’ universo, nella quale voi avete a distribuire ed ordinar le sue parti conforme a che la ragione vi detterà.« 104 Principia I 27 (AT VIII–1, 15): »… tum ut nomen infiniti soli Deo reservemus, quia in eo solo omni ex parte, non modò nullos limites agnoscimus, sed etiam positivè nullos esse intelligimus …« 105 Burman (AT V, 167): »Ibi quod attinet, videmus earum rerum naturam nostras vires superare, et nos qua finiti sumus, illa comprehendere non posse …«
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gen, »werden von all dem, was in dieser neuen Welt entstehen kann, Beweise a priori besitzen können«.106 Die neue Welt wird zu einem Inbegriff des Rationalen, insofern es die Welt des Menschen ist.
§ 21 Die Rationalität der ›Neuen Welt‹: Ein Atomismus ohne Atome Der erste Akt der Rationalität besteht darin, den Begriff der Materie nach dem Ideal evidenter Erkenntnis zu formen. Der cartesische Materiebegriff ist daher der paradigmatische Inbegriff einer rationalen Verstehbarkeit innerhalb der Physik. Descartes will Materie grundsätzlich als einen wirklichen Körper (vn vray corps) verstanden wissen, der vollkommen fest (parfaitement solide) ist.107 Descartes betont, es handele sich nicht um die materia prima der Tradition, die man so sehr ihrer Formen und Qualitäten beraubt habe, daß nichts an ihr übriggeblieben sei, was klar verstanden werden könne.108 Der aristotelische Hylemorphismus hatte die Materie nicht als etwas autonom Existierendes, sondern als die Möglichkeit reiner Bestimmbarkeit angesehen, sie also in eine strikte Abhängigkeit von der sie bestimmenden Form gesetzt. Trotz ihres Reichtums an Potentialität, beliebig formbar zu sein, ließ ihre mangelnde Aktualität sie als etwas Defizitäres erscheinen. Die Materie verbleibt bei Descartes dagegen nicht länger in einem Status reiner Potentialität, sondern sie ist bereits etwas Aktuelles. Ihre Beschaffenheit definiert Descartes innerhalb seiner kosmogenetischen Spekulation mit Blick auf ihre epistemologische Eindeutigkeit: »Da wir uns nun einmal die Freiheit nehmen, diese Materie nach unserer Phantasie zu erfinden, lassen wir ihr … eine Natur zukommen, in der es überhaupt nichts gibt, das nicht ein jeder so vollständig wie möglich erkennen könne.«109 Ihr soll nichts anhaften, »von dessen Natur man sagen könnte, es gebe darin etwas, das nicht von jedermann evident erkannt werden könnte«.110 Sie zeichnet sich allein dadurch aus, ausgedehnt, teilbar und bewegt zu sein. Sie besitzt keinerlei Qualitäten – die
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Monde VII (AT XI, 47): Diejenigen, die cartesischen Wahrheiten und Regeln hinreichend zu untersuchen wissen, »pourront avoir des demonstrations à Priori, de tout ce qui peut estre produit en ce nouveau Monde«. 107 Monde VI (AT XI, 33). 108 Ebd. (AT XI, 33): »Et ne pensons pas aussi d’autre costé qu’elle soit cette Matiere premiere des Philosophes, qu’on a si bien dépoüillée de toutes ses Formes & Qualitez, qu’il n’y est rien demeuré de reste, qui puisse estre clairement entendu.« 109 Ebd. (AT XI, 33): »Or puisque nous prenons la liberté de feindre cette matiere à nostre fantaisie, attribuons luy … vne nature en laquelle il n’y ait rien du tout que chacun ne puisse connoistre aussi parfaitement qu’il est possible.« 110 Ebd. (AT XI, 33): Sie soll nichts besitzen, »en la nature de laquelle on puisse dire qu’il y ait quelque chose qui ne soit pas évidemment connu de tout le monde«.
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Annahme von Qualitäten wird mit dem Argument zurückgewiesen, Qualitäten seien erklärungsbedürftig.111 Die Materie als der Urstoff der Welt wird auf die Bedingung eindeutiger Erkennbarkeit reduziert. Ihre Quantität ist ihre wahre Form und ihre Essenz (sa vraye Forme & son Essence).112 Die Abgestimmtheit der aktuellen Materie auf die Grundbedürfnisse humaner Rationalität findet ihre Entfaltung in der prinzipiellen Mathematisierbarkeit ihrer quantitativen und dynamischen Eigenschaften. Wenige Grundgesetze reichen Descartes aus, etwa die komplexen Annahmen zur Bewegung eines Körpers, wie sie die Scholastik formuliert hatte, hinter sich zu lassen: Jeder einzelne Teil der Materie verharrt solange immer im selben Zustand, bis das Zusammentreffen mit anderen ihn zwingt, ihn zu verändern.113 Wenn ein Körper einen anderen anstößt, kann er ihm keine Bewegung übertragen, wenn er nicht zur gleichen Zeit ebensoviel von seiner eigenen Bewegung verliert, und er kann ihm auch keine davon entziehen, ohne daß die seinige sich ebensosehr vermehrt.114 Wenn ein Körper sich bewegt, wenngleich seine Bewegung sich meistens in gekrümmter Linie vollzieht und er niemals eine andere als in irgendeiner Form kreisförmige vollziehen könnte, strebt doch jeder seine Teile für sich immer danach, seine Bewegung geradlinig fortzusetzen.115 Der epistemologische Idealfall der cartesischen Physik ist der unbehindert sich geradlinig bewegende Körper, da nur diese Bewegung »vollkommen einfach« (entierement simple) 116 und unmittelbar verstehbar ist. Aus diesen Grundregeln kann Descartes die Komplexität der Welt ableiten. Die kleinsten Materieteilchen verbinden sich zu drei Elementen: zu dem Feuer, das eine feinste Flüssigkeit darstellt, zu der Luft, das eine sehr feine Flüssigkeit ist, und zu der Erde, die als eine im Vergleich eher unbewegliche Materieverbindung begriffen wird.117 Da die Materie den Raum restlos ausfüllt und die
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Monde V (AT XI, 25 f.): »… je vous diray que ces Qualitez me semblent avoir ellesmesmes besoin d’explication …« 112 Monde VI (AT XI, 36). 113 Monde VII (AT XI, 38): »La premiere est: Que chaque partie de la matiere, en particulier, continuë toujours d’estre en vn mesme estat, pendant que la rencontre des autres ne la contraint point de le changer.« 114 Ebd. (AT XI, 41): »Je suppose pour seconde Regle: Que, quand vn corps en pousse vn autre, il ne sçauroit luy donner aucun mouvement, qu’il n’en perde en mesme temps autant du sien; ny luy en oster, que le sien ne s’augmente d’autant.« 115 Ebd. (AT XI, 43 f.): »J’ajouteray pour la troisiéme: Que, lors qu’vn corps se meut, encore que son mouvement se fasse le plus souvent en ligne courbe, & qu’il ne s’en puisse jamais faire aucun, qui ne soit en quelque façon circulaire, … toutesfois chacune de ses parties en particulier tend toujours à continuer le sien en ligne droite.« 116 Ebd. (AT XI, 45). 117 Vgl. Monde V (AT XI, 24 f.).
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Materie in Bewegung ist, ergibt sich ein hydrodynamisches Kontinuum, dessen Prozesse mechanistisch erfaßt werden können. So beschreibt Descartes das Planetensystem als einen Wirbel der Himmelsmaterie, in den hinein die Planeten gebettet sind.118 Descartes’ mechanisches Weltbild hat in seiner Geschlossenheit kaum überdauert. Evangelista Torricelli gelingt bereits 1643 die Annäherung an die experimentelle Schaffung eines Vakuums, einer technisch realisierbaren Möglichkeit, die Otto von Guericke 1653/54 vollziehen wird. Newton wird die Wirbeltheorie Descartes’ rigoros ablehnen und überwinden. Dennoch stellt Descartes’ Physik mehr dar als ein überwundenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Für das Verständnis der Genese der cartesischen Rationalität ist sie unverzichtbar. Denn sie markiert eine folgenschwere Entscheidung angesichts einer problemgeschichtlich gewachsenen Alternative. Diese historische Tiefenschicht der cartesischen Physik wird durch ihren hypothetischen Charakter und somit durch die Illusion ihrer Voraussetzungslosigkeit verdeckt. Der philosophisch bedeutungsvolle Schritt der cartesischen Physik – deren Gewicht nicht nach der Gültigkeitsdauer ihrer Annahmen bemessen werden kann – wird erst offenbar, wenn man den theologischen Voluntarismus als die Voraussetzung ernst nimmt, auf den – je auf seine Weise – der materialistische Neoatomismus und der cartesische Rationalismus reagieren. Schon Descartes’ Materiebegriff ist nicht voraussetzungslos, sondern radikalisiert die nominalistische Kritik am aristotelischen Hylemorphismus. Ockham hat bereits – als Konsequenz seiner Universalienkritik – darauf bestanden, daß der Materie eine wahrhaft aktuelle Existenz zukommt und sie daher ein actus und keine potentia ist.119 Sie ist also nicht reine Potenz, die erst durch die Verbindung mit der forma aktualisiert wird, sondern sie ist unabhängig von der sie formenden Idee aktuell: Der Urstoff ist eine entitas actualis. Der Ockhamsche Nominalismus geht also davon aus, »daß der erste Stoff etwas tatsächlich Vorhandenes ist, das eine Dienlichkeitsfunktion gegenüber allen substantialen Formen hat«.120 So überraschend diese Aufgabe des aristotelischen Materie-Form-Schemas auch auf den ersten Blick zu sein scheint, so liegt sie doch ganz auf der Linie der voluntaristisch betonten Schöpfungsfreiheit Gottes. Der nominalistischen Ablehnung extramentaler Universalien entspricht eine Schöpfungstheologie, die allein Singuläres hervorbringt. Die Abhängigkeit der Materie von der sie bestim118 119
Principia III 30 (AT VIII–1, 92). Wilhelm von Ockham, Brevis summa libri physicorum I, cap. 2 (Opera philosophica VI, 19): »… materia est vere existens in actu …«; Summula philosophiae naturalis I, cap. 10 (Opera philosophica VI, 183): »… materia est actus …, igitur materia non est potentia.« 120 S. Moser, Grundbegriffe der Naturphilosophie bei Wilhelm von Ockham. Kritischer Vergleich der Summulae in libros physicorum mit der Philosophie des Aristoteles, Innsbruck 1932, 47.
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menden Form stellte eine letzte Barriere für die ungehinderte Schöpfungsmacht Gottes dar, wenn die Formen den autonomen Status platonischer Ideen besitzen, den selbst der schöpferische Gott zu berücksichtigen hat.121 Die spätere Diskussion der ewigen Wahrheiten hat ihr Vorspiel in der Auseinandersetzung um die ewigen Formen als den idealen Vorbildern für eine notwendige Schöpfung materieller Gegenstände. Erst die aktuelle Materie jenseits des Hylemorphismus ist – ein wenig paradox formuliert – reine Potenz. Von diesem nacharistotelischen Materiebegriff aus läßt sich die Attraktivität des Neoatomismus, den Pierre Gassendi vehement vertreten hat, verstehen. Poggio Bracciolini hatte 1417 eine Abschrift von Lukrez’ De rerum natura entdeckt, 1473 wurde sie gedruckt. Zwar bot der Atomismus auf Anhieb eine Alternative zum scholastischen Aristotelismus, besaß aber den Makel des Aporetischen und Anrüchigen aufgrund seines impliziten Atheismus. Für Gassendi als einen katholischen Priester war der epikureische Atomismus daher durchaus »a strange choice«.122 Auch wenn der Atomismus eine untergründige Präsenz im Mittelalter nie verloren haben sollte,123 gewinnt er erst wieder vollends an Aktualität als Korrespondenzmodell zum theologischen Voluntarismus. Gassendis theologische Grundvoraussetzung seiner atomistischen Physik ist die Allmacht Gottes.124 Gott ist nicht allein die höchste Bonität, sondern auch die höchste Liberalität.125 Als Autor der Natur ist er an die Gesetze der Natur 121
Vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 21983, 54: »Der Rückgang der Scholastik auf die metaphysischen und naturphilosophischen Schriften des Aristoteles brachte neben den Vorzügen der dogmatischen Systematisierung unter anderen Schwierigkeiten auch die, daß mit der Lehre von den substantiellen Formen ein immanenter Platonismus Platz griff, der die bestehende Natur als die einzig mögliche gleichsam kanonisierte. Es wurde schwieriger, die Welt aus dem Gedanken Gottes hervorgehen zu lassen.« Die Kritik an den substantiellen Formen war demnach eine Konsequenz des theologischen Voluntarismus. 122 M. J. Osler, »Ancients, Moderns, and the History of Philosophy: Gassendi’s Epicurean Project«, in: T. Sorell (Hg.), The Rise of Modern Philosophy. The Tension between the New and Traditional Philosophies from Machiavelli to Leibniz, Oxford 1993, 129–143, hier 133. Zur Präsenz des Neoatomismus im 17. Jahrhundert vgl. Ch. Meinel, »Early Seventeenth-Century Atomism. Theory, Epistemology, and the Insufficiency of Experiment«, in: Isis 79 (1988), 68–103. 123 Vgl. den Nachweis von B. Pabst, Atomtheorien des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1994. 124 Vgl. M. J. Osler, Divine will and the mechanical philosophy. Gassendi and Descartes on contingency and necessity in the created world, Cambridge 1994, 48–56. Zum Nominalismus Gassendis und zu dem Zusammenhang von Nominalismus und Materialismus vgl. O. R. Bloch, La Philosophie de Gassendi. Nominalisme, matérialisme et métaphysique, La Haye 1971, 110–147, 155–171. 125 P. Gassendi, Syntagma philosophicum, pars secunda: Physica, sect. I., lib. IV, cap. 4 (Opera omnia I, 309): »Deus itaque, vt est summè bonus, ita & summè liber est …«
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nicht gebunden.126 Die Natur wird vollends zum Resultat seines freien Willens: Es gibt nichts im Universum, das Gott nicht vernichten kann, nichts, was er nicht hervorbringen kann, nichts, was er nicht ändern kann, selbst in sein qualitatives Gegenteil.127 Eine atomistisch gedachte Materie wird zum Inbegriff des verfügbaren Materials für Gottes Schöpfungskreativität. Darin liegt die theologische Attraktivität der atomistischen Welt für Gassendi. Die von keinen intelligiblen Formen bedrängte Materie in der Gestalt elementarer Atome ist reine Disponibilität. Der theologische Voluntarismus hat bei Gassendi im Atomismus sein physikalisches Äquivalent gefunden. Es ist unübersehbar, daß diese theologische Aneignung den antiken Atomismus bis zur Unkenntlichkeit umformt. Die Atome werden bei Gassendi gleichsam ›getauft‹.128 Die voluntaristischen Grundannahmen der Weltentstehung vereiteln nicht das schöpfungstheologische Fazit, daß die Welt eine vollkommen geordnete ist: Alles, was in der Welt ist, macht Ordnung deutlich und offenbart, daß die Welt ein höchst geordnetes Gefüge ist.129 In diesem Gefüge ist für den Zufall kein Platz. Gipfelte der epikureische Atomismus in der clinamen-Theorie, also dem ersten und zufälligen Zusammenprall der Atome als dem Initialakt der Weltentstehung, treibt Gassendi der geordneten Welt den Zufall wieder aus. Das wahre Schicksal ist das Zusammenfallen von Ereignissen, die, obwohl vom Menschen unvorhersehbar, von Gott vorhergesehen sind und die durch eine Serie von schicksalhaften Ereignissen miteinander verbunden sind.130 Auf den ersten Blick ist Descartes ein entschiedener Gegner von Gassendis Atomismus. Gassendi hatte die Möglichkeit einer reinen Leere (Inane purum), eines Vakuums, das von der Welt abgeschlossen ist (separatúmque extra Mundum), ausdrücklich angenommen.131 Es ist das vacuum separatum, in das hinein die Welt
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Syntagma philosophicum, pars secunda: Physica, sect. I., lib. III, cap. 1 (Opera omnia I, 234): »Quippe Author Naturae legibus Naturae non adstringitur …« 127 Syntagma philosophicum, pars secunda: Physica, sect. I., lib. IV, cap. 4 (Opera omnia I, 308): »Nam, cùm vniuersè nulla sit res, quam Deus non possit destruere; nulla, quam non producere; nulla, quam non variis, etiam oppositis qualitatibus immutare …« 128 So das passende Bild von Reiner Tack, Untersuchungen zum Philosophie- und Wissenschaftsbegriff bei Pierre Gassendi (1592–1655), Meisenheim am Glan 1974, 146. 129 Syntagma philosophicum, pars secunda: Physica, sect. I., lib. IV, cap. 2 (Opera omnia I, 294): »… omnia … quae in Mundo sunt, clamant ordinem, declarántque Mundum esse ordinatissimam compagem.« 130 Syntagma philosophicum, pars tertia: Ethica, lib. III, cap. III (Opera omnia II, 840): »Fortunam verò concursum, vel euentum esse, qui cùm improuisus hominibus sit, prouisus tamen à Deo fuerit; & ipsi causarum, seu Fati serieri innexus.« 131 Syntagma philosophicum, pars secunda: Physica, sect. I., lib. II, cap. 2 (Opera omnia I, 189).
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geschaffen sein soll. Auch in der Welt gibt es, wie experimentell bald bewiesen werden sollte, kleine Vakua als leere Zwischenräume zwischen der Materie. Descartes lehnt dies strikt ab. Es ist für ihn nicht weniger unmöglich, daß es einen leeren Raum gibt, als daß es einen Berg ohne Tal gibt.132 Die vollständige Ausgefülltheit des Raumes mit Materie ergibt sich aus dem zweiten Widerspruch gegen die atomistischen Grundannahmen, indem Descartes die prinzipielle unendliche Teilbarkeit der Materiepartikel – im Gegensatz zum unteilbaren Atom – behauptet. Zwischen den Materieteilchen gibt es keine materiefreien Zwischenräume, da es stets feinere Materie gibt, die alles vollständig ausfüllt. Die Ausdehnung des Raumes ist von der Ausdehnung der Körper nicht verschieden.133 Trotz dieser Distanz zum Atomismus teilt Descartes mit Gassendi die theologische Grundannahme der Bedeutung des göttlichen Voluntarismus für die Physik. Er glaube nicht, daß die Essenzen der Dinge und jene mathematischen Wahrheiten, die man über sie erkennen kann, von Gott unabhängig sind.134 Damit wird, was kaum überraschen kann, die Kontingenz der für uns notwendigen Wahrheiten auf die epistemologische Konstitution der physikalischen Gegenstände übertragen. So kontingent die ewigen Wahrheiten aufgrund der Freiheit des sie erlassenden göttlichen Willens sind, so kontingent sind die Wesenseigenschaften der Körper. Angesichts der Präsenz theologischer Grundannahmen für die Konstitution der cartesischen Physik braucht es nicht zu verwundern, daß auch die Annahme unteilbarer Atome mit Blick auf Gottes Macht zurückgewiesen wird: Selbst wenn wir annähmen, Gott habe bewirken wollen, daß gewisse Teile der Materie nicht weiter geteilt werden könnten, so würde man sie doch nicht im eigentlichen Sinne unteilbar nennen können. Denn selbst wenn Gottes Geschöpfe sie nicht teilen könnten, so könne er sich selbst doch diese Macht, sie zu teilen, nicht nehmen. Denn es ist unmöglich, daß er seine eigene Macht vermindert.135 Wo für Gassendi der Atomismus aufgrund der Disponibi-
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Brief an Mersenne, 15. November 1638 (AT II, 440): »… dont la raison est que ie croy qu’il n’est pas moins impossible qu’vn espace soit vuide, qu’il est qu’vne montagne soit sans valée.« 133 Principia II 16 (AT VIII–1, 49): »Vacuum autem philosophico more sumptum … dari non posse manifestum est, ex eo quòd extensio spatii … non differat ab extensione corporis.« 134 Responsiones V (AT VII, 380): »… ita ego non puto essentias rerum, mathematicasque illas veritates quae de ipsis cognosci possunt, esse independentes a Deo …« 135 Principia II 20 (AT VIII–1, 51): »Quin etiam si fingamus, Deum efficere voluisse, ut aliqua materiae particula in alias minores dividi non possit, non tamen illa propriè indivisibilis erit dicenda. Ut etenim effecerit eam à nullis creaturis dividi posse, non certè sibi ipsi ejusdem dividendae facultatem potuit adimere: quia fieri planè non potest, ut propriam suam potentiam imminuat …«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
lität der Materie zum Korrespondenzmodell zum theologischen Voluntarismus wird, kritisiert Descartes nicht zu Unrecht, daß die Annahme prinzipiell unteilbarer Materieteilchen eben der Grundannahme der Allmacht Gottes widerspricht. Gassendi hätte nun seinerseits einwenden können, daß Descartes bei der Weigerung, ein mögliches Vakuum anzunehmen, in die Falle der Inkonsequenz gelaufen ist. Denn warum soll Gott nicht einen leeren Raum schaffen können? Und tatsächlich scheint Descartes, der von der Lehre von den espaces imaginaires als den von Gott hervorgebrachten leeren Räumen, in denen sich die Welt befindet, ja wußte, für einen kleinen Moment zu zögern, wenn er überraschenderweise sagt, er wolle nicht behaupten, daß es überhaupt keinen leeren Raum in der Natur gibt.136 Diese Einschränkung ist im Werk Descartes’ singulär und für die cartesische Physik nicht tragfähig geworden. Aber Descartes hätte angesichts seines Gottesbegriffs Grund gehabt, sie länger als nur einen kleinen Augenblick lang ernst zu nehmen. Statt dessen zitiert er in seiner Fabel über die Weltentstehung die Ausgangssituation der biblischen Schöpfungsgeschichte, um die Genese der Rationalität der materiellen Welt zu erzählen. Descartes läßt in seiner spekulativen Kosmogonie Gott die Materie, mit der er den entworfenen Raum ausgefüllt hat, in größere und kleinere Partitionen teilen und in Bewegung setzen. Das Resultat ist eine Welt ohne Ordnung und Maß, vielmehr das »konfuseste und verworrenste Chaos, das Dichter beschreiben könnten«.137 Wie Gott die ewigen Wahrheiten, die die rationalen Konstanten unserer Vernunft bestimmen, kontingent erlassen hat, ordnet sich nun das Chaos nach den gewöhnlichen Naturgesetzen (les loix ordinaires de la Nature),138 die Gott der Welt vorgeschrieben hat. Die Welt bildet sich nach rationalen, aber kontingenten Gesetzmäßigkeiten. Hatte Gassendi betont, Gott sei als Autor der Natur an ihre Gesetze nicht gebunden, schließt Descartes sein Eingreifen in die Natur nach der Schöpfung aus und limitiert seine Aktivität auf den Akt der Erhaltung der Welt. Descartes argumentiert also ganz klassisch mit dem Modell der Selbstbeschränkung Gottes. Angesichts der schöpfungstheologischen Spekulationen, wie sie seit dem Spätmittelalter verbreitet waren, ist Descartes’ Kunstgriff, Gottes Allmacht nach der creatio ex nihilo auf die creatio continua zu beschränken – ausdrücklich hebt Des-
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Monde IV (AT XI, 20): »Au reste, je ne veux pas assurer pour cela qu’il n’y a point du tout de vuide en la Nature …« Dieser Einschränkung entspricht die Erwägung, daß es, wenn überhaupt, am ehesten in den festen Körpern ein Vakuum geben könne, nicht in den flüssigen (AT XI, 17). 137 Monde VI (AT XI, 34): »… vn Cahos, le plus confus & le plus embroüillé que les Poëtes puissent décrire …« 138 Ebd. (AT XI, 34).
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cartes hervor, Gott fahre fort, die Welt in derselben Weise zu erhalten, wie er sie geschaffen hat139 – nicht ohne eine ironische Kommentierung geblieben. Pascal schreibt über die cartesische Lösung einer Selbstbeschränkung Gottes: »Das kann ich Descartes nicht verzeihen; er hätte gerne in seiner ganzen Philosophie Gott nicht bemüht; aber er kam doch nicht umhin, ihn einen Schnipser machen zu lassen, um die Welt in Bewegung zu setzen; danach hat er nichts mehr mit Gott zu tun.«140 Das ist richtig und falsch. So sehr Descartes daran gelegen ist, nach der Weltschöpfung die Prozesse der Natur immanent und ohne jeden weiteren Einfluß Gottes ablaufen zu lassen, so ist die Annahme einer derart sich selbst überlassenen Welt direkter Ausdruck einer voluntaristischen Schöpfungstheologie, die überhaupt erst plausibel machen soll, warum das mechanistische Regelwerk der Welt funktioniert. Aus dem Blickpunkt des Atomismus betrachtet, mußte auch für Descartes die reale Ordnung der Welt eine theoretische Aporie darstellen, da es unwahrscheinlich zu sein scheint, daß die Welt durch Zufall ihre Ordnung und die Gesetzmäßigkeit ihrer Hervorbringung erhalten hat. Erst ein sie konstituierender Wille verbürgt die Konsistenz ihrer immanenten Rationalität. Aufgrund ihrer Konsistenz, die genealogisch auf Gottes Willen zurückgeführt wird, ist ein Eingriff Gottes in die Naturabläufe der Welt ebensowenig nötig, wie eine Variation der ewigen Wahrheiten unserer Vernunft wahrscheinlich ist. Ohne Gott würde also nicht allein Descartes’ »ganzes metaphysisches und erkenntnistheoretisches Gebäude sogleich zusammenbrechen«,141 sondern auch die Plausibilität seiner Physik, denn »nicht nur ist sie durch die Reflexion auf Gott allererst möglich geworden, sondern sie kann auch ohne den Rückgriff auf Gott nichts erklären«.142 Pascal sieht also zu Recht, daß Descartes Gott aus dem Naturgeschehen heraushalten will, aber er übersieht, warum. Es ist der Versuch der Sicherung einer immanenten Naturhaftigkeit der Welt gerade angesichts der Mächtigkeit Gottes. Daß man aus der Sicht Descartes’ nicht einen möglichen Eingriff Gottes in die Natur annehmen muß, um einen Beleg für seine Macht finden zu können, kann man an Francis Bacon ablesen. Für ihn hat sich Gott zum einen in der Heiligen Schrift, zum anderen in der Natur offenbart: In den Schriften findet sich sein Wille ausgedrückt, in den Kreaturen seine Macht.143 Allein die Fak139
Monde VII (AT XI, 37): Descartes geht dort in bezug auf die Welt davon aus, »que Dieu continuë de la conserver en la mesme façon qu’il a creée«. 140 B. Pascal, Pensées II 77 (ed. L. Brunschvicg, 360 f.): »Je ne puis pardonner à Descartes; il aurait bien voulu, dans toute sa philosophie, pouvoir se passer de Dieu; mais il n’a pu s’empêcher de lui faire donner une chiquenaude, pour mettre le monde en mouvement; après cela, il n’a plus que faire de Dieu.« 141 D. Perler, René Descartes, München 1998, 188. 142 R. Specht, René Descartes, a. a. O., 99. 143 F. Bacon, Valerius Terminus of the Interpretation of Nature with the Annotations of Her-
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tizität der Schöpfung ist Ausdruck der Macht Gottes. Und der Ausschluß der spekulativen Möglichkeit einer Wirksamkeit Gottes in der Natur, die über die reine Erhaltung der Welt hinausgeht, eröffnet dem Menschen das Potential seiner Weltgestaltung. Er übernimmt, nach Bacon, die schöpferische Rolle in einer von Gott unangetasteten Welt. Die Voraussetzung für die Erschließung des Gestaltungspotentials der Natur ist gerade ihre Autonomie – und wie Descartes es formuliert: ihre mechanische Selbständigkeit – nach dem Akt ihrer Schöpfung. War für Ficino die Natur noch das »niederste Werkzeug der göttlichen Vorsehung«,144 wird das kausal-mechanische Weltbild bei Descartes zum Inbegriff einer entteleologisierten Natur. Die Kontingenz des Weltmechanismus machte die Vorstellung obsolet, die feststellbare Regelhaftigkeit des Naturgeschehens sei ein unmittelbarer Ausdruck einer göttlichen Vorsehung. Das ließ die Idee der Maschine zum paradigmatischen Explikationsmodell für autonome, aber durch Gesetzmäßigkeiten geregelte Abläufe werden. Descartes hat den Aspekt des Kontingenten beim hypothetischen Gebrauch der Metapher der machina mundi klar erkannt. Die Maschine – und sei es in ihrer Totalität als die Weltmaschine – ist der präziseste Ausdruck der Kontingenz der Ordnung der Welt, da zum Inbegriff des Maschinellen gehört, daß das gleiche Resultat auf verschiedene Weisen erzeugt werden kann: »Wenn man auch vielleicht auf diese Weise erkennt, wie alle Naturkörper haben entstehen können, so darf man daraus doch nicht folgern, daß sie wirklich so gemacht sind. Denn derselbe Künstler kann zwei Uhren fertigen, die beide die Stunden gleich gut anzeigen und sich äußerlich ganz gleichen, aber innerlich doch aus sehr verschiedenen Verbindungen der Räder bestehen, und so hat unzweifelhaft auch der höchste Werkmeister, Gott, alles Sichtbare auf mehrere verschiedene Arten hervorbringen können, ohne daß es dem menschlichen Geist möglich wäre zu erkennen, welches der ihm zur Verfügung stehenden Mittel er hat anwenden wollen, um sie zu schaffen.«145
mes Stella (The Works III, 221): »…laying before us two books or volumes to study if we will be secured from error; first the Scriptures revealing the will of God, and then the creatures expressing his power …« 144 Marsilio Ficino, Argumentum Marsilii Ficini in dialogum primum de Legibus, vel de Legum latione, ad Laurentium Medicem, in: Omnia divini Platonis opera tralatione Marsilii Ficini, Basel 1546, 743 f.: »… si natura quae nihil aliud est quàm infimum divinae providentiae instrumentum…« Zitiert nach: K. Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. I, a. a. O., 310. 145 Principia IV 204 (AT VIII–1, 327): »At quamvis fortè hoc pacto intelligatur, quomodo res omnes naturales fieri potuerint, non tamen ideò concludi debet, ipsas revera sic factas esse. Nam quemadmodum ab eodem artifice duo horologia fieri possunt, quae, quamvis horas aequè bene indicent, & extrinsecus omnino similia sint, intus tamen ex valde dissimili rotularum compage constant: ita non dubium est, quin summus rerum opifex omnia illa, quae videmus, pluribus diversis modis potuerit efficere …« Die französischen Principes IV
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Hier zeigt sich nun der doppelte Boden der kosmogenetischen Fabel, die Descartes erzählt. Im Sinne des Zitats der Genesis schreibt Descartes Gott die Einrichtung der Naturgesetze zu, nach denen sich das ursprüngliche Chaos ordnet. Aber es ist für jeden Leser offensichtlich, daß es die cartesische Rationalität ist, die in den Naturgesetzen ihren Ausdruck findet. Die cartesische Rationalität ist eine zureichende Rationalität. Ihre Physik unterstellt der Welt eine rationale Ordnung, die ihre Wahrscheinlichkeit durch den pragmatisch erzielbaren Effekt der Naturbeherrschung – etwa in der Medizin – gewinnt: »Dies wird auch zum Nutzen für das Leben genügen«,146 und es gilt die Erwartung, daß es sich doch »kaum ergeben könnte, daß so vieles zusammenstimmt, wenn sie«, die Prinzipien der Physik, »falsch wären«.147 Die mechanistische Beschreibbarkeit autonomer Naturabläufe macht die Attraktivität aus, die der atomistische Materialismus auf das 17. Jahrhundert auszuüben vermochte. Hinzu kam die Universalität seiner Anwendbarkeit. Es konnte nicht allein die anorganische Natur mechanistisch decodiert werden, sondern auch die belebten Organismen wurden als Maschinen interpretiert. Und darüber hinaus war selbst das abstrakte Staatswesen mit materialistischen Grundannahmen ausdeutbar: So kann Hobbes etwa innerhalb seiner politischen Theorie den Menschen als das ›Material‹ (matter) und als den ›Konstrukteur‹ (artificer) des künstlichen Staatswesens beschreiben,148 und Justus Lipsius hat die unter den Menschen tobenden Kriege mit dem Kampf der Elemente verglichen.149 Auch die cartesische Welt zitiert in ihrer physikalischen Gestalt den wiederaufgekommenen Atomismus. Obwohl Descartes den Sonderweg der Leugnung eines Vakuums einschlägt – er schreibt einmal, außer ihm stelle sich wohl jeder ein Vakuum vor150 – und eine Unteilbarkeit der Atome ausschließt, ist seine Nähe zum atomistischen Weltmodell größer, als es aufgrund seiner ausdrücklichen Ablehnung den Anschein haben mag. Auch seine Welt aus in Bewegung
204 (AT IX–2, 322) fahren ergänzend fort: »…sans qu’il soit possible à l’esprit humain de connoistre lequel de tous ces moyens il a voulu employer à les faire.« 146 Principia IV 204 (AT VIII–1, 327): »Hocque etiam ad usum vitae sufficiet …« 147 Principia IV 205 (AT VIII–1, 328): »…vix potuisse contingere, ut tam multa simul cohaerent, si falsa essent …« 148 Th. Hobbes, Leviathan, Introduction (ed. R. Tuck, 10). Samuel I. Mintz hat in seinem Buch The Hunting of Leviathan. Seventeenth-Century Reactions to the Materialism and Moral Philosophy of Thomas Hobbes, Cambridge 1962, 30, die materialistische Grundbedinung der politischen Anthropologie auf einen Satz verdichtet: »Man, for Hobbes, is in the first place a mechanism of matter in motion.« 149 Vgl. G. Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/New York 1978, 93. 150 Brief an Mersenne, Oktober oder November 1631 (AT I, 228): »… car supposant du vuide, comme tout le monde l’imagine …«
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gesetzten und verschieden großen Materieteilchen, den Korpuskeln, teilt mit dem Atomismus das überraschende Verhältnis von Einfachheit und Komplexität: Aus den einfachen Prinzipien der Naturgesetze resultieren die komplexesten Gebilde, wie der kosmische Wirbel der Himmelsmaterie, der die Mechanik unseres Sonnensystems bestimmt, oder die Maschine unseres organischen Körpers. Bereits Kurd Lasswitz hat die Raffinesse Descartes’ erkannt, den Atomismus, den er in Paris ausführlich kennengelernt hatte und der dort am 4. September 1624 bei Todesstrafe verboten wurde, aus seinen theologischen Überlegungen heraus abzulehnen, ohne sein funktionales Erklärungspotential gänzlich preiszugeben. Denn durch den cartesischen Materiebegriff wird die »Individualisierung der sinnlich wahrnehmbaren Körper möglich und alle Hilfsmittel der Atomistik sind … gewonnen: beliebig kleine und beliebig gestaltete Teilchen von verschiedener Geschwindigkeit, und ein Stoff, der bald als Bewegung bewirkend, bald einfach als Raum erfüllend und die Bewegung nicht beeinflussend sich benutzen läßt«.151 Paradox formuliert kann man also sagen, Descartes vertrete einen Atomismus ohne Atome.
§ 22 Der Geltungsanspruch der neuen Rationalität An dieser Stelle der Überlegungen ist die cartesische Urstiftung physikalischer Evidenz durch die Einführung eines rationalistischen Materiebegriffs im Rahmen einer spekulativen Kosmogonie auf ihren Geltungsanspruch zu befragen. Ist die dabei gesuchte Nähe zur Erzählung der biblischen Genesis Ausdruck einer rhetorischen Vorsicht? Eine derartige Zurückstufung des Geltungsanspruchs des kosmologischen Entwurfs übersähe, daß Descartes’ Vorsicht gegenüber einem drohenden Konflikt mit der theologischen Lehrtradition vielmehr in das Zugeständnis eingeflossen ist, die Welt sei ja tatsächlich in einem einzigen Akt vollendet geschaffen worden.152 Die vorgelegte Kosmogonie ist dagegen das spekulative Wagnis, das Descartes eingeht. Descartes bewegt sich dabei argumentativ zwischen verschiedenen Modellen von Geltungsansprüchen physikalischer Theorien, deren Beachtung seine spekulative Inauguration rationalistischer Erstevidenz physischer Körper konturiert. Descartes selbst bestimmt den Darstellungsstatus seiner spekulativen Kosmogonie eher vage als den einer ›Fabel‹ (vne Fable).153 Man ist versucht, dieser
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K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, Bd. II: Höhepunkt und Verfall der Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahrhunderts, Hamburg/Leipzig 1890, 71. 152 Principia III 45 (AT VIII–1, 99): »Non enim dubium est, quin mundus ab initio fuerit creatus cum omni suâ perfectione …« 153 Monde V (AT XI, 31).
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Charakterisierung kein großes Gewicht beizumessen. Immerhin aber bezeichnet Descartes auch die Darstellung seiner neuen Methode, die er im Discours de la méthode vorzustellen unternimmt, als eine Fabel.154 Das rhetorische Moment ist unübersehbar: Die Suggestion der Anschaulichkeit wird mit der Leichtigkeit des Hypothetischen verbunden. Die Fabel hat etwas Traumwandlerisches oder Tagträumerisches. So schreibt er in seinen Briefen einmal, er habe im Schlaf Fabeln erdacht, bei denen er seine Träumereien des Tages (mes réveries du iour) mit denen der Nacht vermische.155 Ein anderes Mal umschreibt er die Aufforderung, das Manuskript von Le Monde zu publizieren, als die Anfrage, er solle seine Träumereien veröffentlichen.156 Den Versuch einer astronomischen Erfassung der kosmischen Bewegungsabläufe stellt er als ein wissenschaftliches Ansinnen dar, das die Fähigkeit des menschlichen Geistes zwar übersteigt, von dem er dennoch träumt.157 So kann Descartes den Begriff ›Fabel‹ in einem Satz mit dem der ›Einbildungen‹ (imaginations) verwenden.158 Einmal verwendet er die Bezeichnung Fabel sogar ausdrücklich zur Kennzeichnung einer von ihm strikt abgelehnten Irrlehre.159 Trotz dieser scheinbaren Vieldeutigkeit kommt der Fabel die Funktion einer grundsätzlichen Hypothese zu. Eine Fabel ist, genauer betrachtet, gleichsam eine Steigerung des Hypothetischen: Descartes kann zu der Formulierung greifen, etwas sei »als eine reine Hypothese oder sogar als eine Fabel« zu nehmen.160 Diese Grundsätzlichkeit und Tragweite der erzählten Fabel findet sich in dem Porträt Descartes’ wieder, das Jan Baptist Weenix zwischen 1647 bis 1649, vielleicht auch aus dem Gedächtnis kurz nach Descartes’ Tod, gemalt hat.161 Das Gemälde zeigt Descartes mit einem Buch in den Hän-
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Discours I (AT VI, 4). Ohne es so zu nennen, erzählt Descartes in einem Brief an einen Unbekannten vom März 1638 (AT II, 39–41) eine weitere Fabel, um den Leser an den Gedanken zu gewöhnen, den Körper des Tieres als einen Automaten zu begreifen. Allerdings ist für Descartes ein Tier kein rein mechanisches Produkt, da er keinem Tier Leben oder Empfindung abspricht (Brief an Morus, 5. Februar 1649, AT V, 278): »… vitam enim nulli animali denego …; nec denego etiam sensum …« 155 Brief an Balzac, 15. April 1631 (AT I, 198 f.). 156 Brief an Huygens, Juni 1639 (AT II, 552). 157 Brief an Mersenne, 10. Mai 1632 (AT I, 252). 158 Brief an Brasset, 23. April 1649 (AT V, 350). 159 Es handelt sich dabei um die von Descartes in einem Brief an Meyssonnier vom 29. Januar 1640 (AT III, 20) referierte Theorie im Kontext der Species-Lehre, im Urin der von tollwütigen Hunden gebissenen Menschen erschienen Bilder kleiner Hunde – das habe er immer für eine Fabel gehalten. 160 Brief an Mesland, (Mai 1645 ?) (AT IV, 217): »… pour vne pure hypothese ou mesme pour vne fable …« 161 Vgl. R. J. Ginnings, The Art of Jan Baptist Weenix and Jan Weenix, Dissertation, University of Delaware 1970, 44 f., 154.
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den, das die Inschrift Mundus est fabula erkennen läßt. Voltaire wird entsprechend formulieren, die cartesische Philosophie sei nicht mehr als ein geistreicher Roman (un roman ingénieux).162 Doch welchen Wahrheitsstatus hat das im Gewand der Fabel Erzählte? Descartes hatte sich zwischen den Traditionen eines Fiktionalismus, eines Konjekturalismus und eines Probabilismus zu verorten. Die mangelnde Präzision des rhetorischen Kunstgriffs verweist vielleicht auf die systematischen Schwierigkeiten, den theoretischen Geltungsanspruch seines kosmologischen Modells exakt zu bestimmen. So sehr man sich daran gewöhnt hat, Descartes als einen AntiFiktionalisten, Anti-Konjekturalisten und Anti-Probabilisten zu sehen, also als jemanden, der gegen hypothetische Fiktionen, Mutmaßungen und theoretische Wahrscheinlichkeiten die absolute Gewißheit klarer und deutlicher Erkenntnis zu sichern sucht, so ist sein tatsächliches Verhältnis zu den Spielarten theoretischer Geltungsansprüche vielschichtiger. Daß es ihm um eine Bestimmung des Geltungsanspruchs gehen muß, legt die Kennzeichnung seines kosmologischen Modells als Hypothese nahe. Descartes bringt den Begriff der Hypothese ausdrücklich ins Spiel, nachdem er in den Principia philosophiae im Anschluß an seinen eingeführten Materiebegriff einen kopernikanischen Kosmos entwirft, der aus einer Wirbelbewegung hervorgegangen sein soll – »ich wünsche, daß das, was ich schreiben werde, nur als eine Hypothese genommen wird, die vielleicht weit von der Wahrheit entfernt ist«.163 Dennoch sei der Nutzen der Hypothese unverkennbar, wenn denn alle ihre Ergebnisse mit der Erfahrung übereinstimmen, »denn wenn es so wäre, wird sie uns für das Leben gerade soviel Nutzen wie die Wahrheit selbst bringen, da man sich ihrer genauso wird bedienen können, um die natürlichen Ursachen zu bestimmen, um alle Wirkungen, die man nur will, hervorzubringen«.164 Angesichts dieser Äußerung liegt es nahe, Descartes eine fiktionalistische Verwendung der Hypothesen zur ›Rettung der Phänomene‹ (σ.ζειν τà φαινóµενα), wie es seit Platon heißt,165 zuzuschreiben. Seit der antiken Astronomie sollte die Unterstellung mathematischer Hypothesen die Phänomene ›retten‹,
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Voltaire, Lettres philosophiques XIV (ed. R. Pomeau, 94). Principes III 44 (AT IX–2, 123): »… je desire que ce que j’écriray soit seulement pris pour vne hypothese, laquelle est peut estre fort éloignée de la verité …« 164 Ebd. (AT IX–2, 123): »… car si cela se trouue, elle ne sera pas moins vtile à la vie que si elle estoit vraye, pource qu’on s’en pourra seruir en mesme façon pour disposer les causes naturelles à produire les effets qu’on desirera.« 165 Die Formel von der Rettung der Phänomene geht auf den Neuplatoniker Simplikios zurück, der sie im 6. Jahrhundert n. Chr. Platon zugeschrieben hat. Platon habe den Astronomen die Aufgabe gestellt, die erscheinenden Planetenbewegungen zu retten. Vgl. Simplicius, In Aristotelis de Caelo commentaria (ed. J. L. Heiberg, 488, Zeile 23 f.).
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die aufgrund unerklärter Unregelmäßigkeiten auffällig geworden waren. So ging die antike Metaphysik von der absoluten Regelmäßigkeit und Kreisförmigkeit der Planetenbewegungen aus. Da ihre sichtbaren Bewegungen der metaphysischen Annahme aber nicht entsprachen, sollte eine Unterstellung einer theoretischen Annahme – eben eine Hypothese (πóθεσις) –, die wahre Regelmäßigkeit ihrer Bewegungen aufzeigen.166 Fiktional wurde die Verwendung derartiger Hypothesen, als sie, ohne mit einem Wahrheitsanspruch versehen zu werden, Phänomene zugunsten ihrer instrumentellen Nutzbarkeit erklärbar machen sollten. So konnte etwa eine heliozentrische Hypothese – die unter dem Gesichtspunkt der Fiktionalität eine ›reine Hypothese‹ war – für die Kalenderberechnung Akzeptanz finden, ohne als wahr gelten zu müssen. Ein Astronom habe, wie es in dem Brief eines Zeitgenossen Keplers heißt, sein Ziel erreicht, wenn er Hypothesen aufstellt, denen die Welt der Erscheinungen so genau wie möglich entspricht. Daraus folge dennoch nicht, daß sich die Wahrheit der Dinge sofort nach den Hypothesen jedes Künstlers richte.167 Die kritische Konsequenz eines fiktionalen Hypothesengebrauchs hat Johann Heinrich Lambert formuliert, wenn er resümiert, die Astronomie sei so unerschöpflich, »daß wir uns nothwendig mit Hypothesen begnügen müssen, und nun nur soviel einsehen, wie diese Hypothesen nach und nach weiter ausgebreitet und zusammengesetzter gemacht werden müssen. Sie gehen durch unzählige Stuffen näher zum Wahren, und mit jeder Stuffe fängt ein neuer Maaßstab von Raum und Zeit an…«168 Die unaufhebbare Distanz zur Wahrheit, die den kompensatorischen Gebrauch hypothetischer Annäherungen im Modus der Fiktion erforderlich macht, offenbart sich in der Einsicht, daß »auch die Ordnung der Planeten als erdichtet anzusehen« sei, und man habe »ein- für allemale zu schliessen, daß die wahre Ordnung die allerzusammengesetzteste ist, und von uns nie erreicht werden wird«.169 Descartes behandelt die astronomischen Entwürfe von Ptolemäus, Kopernikus und Tycho Brahe ausdrücklich als drei verschiedene Hypothesen, also als Annahmen, die nicht als wahr, sondern nur als geeignete Erklärungen der Phä-
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Vgl. J. Mittelstrass, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962. 167 Matthias Hafenreffer in einem Brief an Johannes Kepler vom 12. April 1598, in: J. Kepler, Gesammelte Werke XIII, 202–204, hier 203: »Mathematicum enim, finem suum consequutum arbitror, si tales exhibeat hypotheses, quibus φαινóµενα quam exactissimè respondeant … Nec tamen consequitur, vniuscujusque Artificis Meditatis hypothesibus, rerum veritatem confestim conformarj.« 168 J. H. Lambert, Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues, Augsburg 1761, 18. Brief, 264. 169 Ebd., 19. Brief, 281.
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nomene angesehen werden.170 Er betont, er weiche mit seinem eigenen kosmischen Modell sowohl von Kopernikus als auch von Brahe ein wenig ab, da er der Erde alle Bewegung abspreche; er wolle deshalb eine Hypothese aufstellen, die, einfacher als alle anderen, zum Verständnis der Erscheinungen und zur Erforschung ihrer natürlichen Ursachen am besten geeignet sei. Er erhebe aber nicht den Anspruch, daß seine Hypothese gänzlich der Wahrheit entspreche, da er sie nur als Hypothese gelten lasse möchte.171 Das situative Umfeld dieses fiktionalen Gebrauchs von Hypothesen durch Descartes sind die Principia philosophiae, die nach der Verurteilung Galileis um rhetorische Vorsicht bemüht sind. Für Le Monde dagegen hatte Descartes immerhin in Aussicht gestellt, alle Phänomene der Natur, also die ganze Physik, erklären zu wollen.172 Die Einführung der Materie innerhalb seiner spekulativen Kosmologie generiert eine epistemische Eindeutigkeit, die zwar im Rahmen der metaphysischen Erwägungen eines täuschenden Gottes erschüttert zu werden vermag, die zunächst aber im Rahmen der Physik nur schwer mit einem latent skeptischen Vorbehalt eines frühneuzeitlichen Gebrauchs fiktionaler Hypothesen in Übereinstimmung bringbar zu sein scheint. Wenn es sich also im Kontext der Principia philosophiae um einen rhetorischen Gebrauch fiktionaler Hypothesen handelt, der offen läßt, was angesichts des Drucks der Repression offengelassen werden muß, stellt sich die Frage, ob es sich bei dem hypothetischen Akt einer spekulativen Kosmogonie in Le Monde um eine Mutmaßung, um eine Vermutung, also um eine konjekturale Hypothese handelt. Sowohl die Konnotation als auch die Tradition der konjekturalen Hypothese ist grundsätzlich anders als die der fiktionalen. Sie geht im Kontext neuzeitlicher Reflexion der Limitierungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf Cusanus zurück. In seiner Schrift über die Mutmaßungen – De coniecturis, unmittelbar im Anschluß an De docta ignorantia verfaßt und spätestens 1444 abgeschlossen – führt Cusanus, zum Teil korrektivisch, den Gedanken gelehrter Unwissenheit weiter. Hatte die docta ignorantia – eine Formel, derer sich auch Descartes bedient173 –
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Principia III 15 (AT VIII–1, 85): »In quem finem inventae sunt ab Astronomis tres diversae hypotheses, hoc est, positiones, quae non ut verae, sed tantùm ut phaenomenis explicandis idonae, considerantur.« 171 Principia III 19 (AT VIII–1, 86): »Quapropter ego, in hoc tantùm ab utroque dissentiens, quòd omnem motum veriùs quàm Tycho, & curiosiùs quàm Copernicus, sim Terrae detracturus: illam hîc proponam hypothesin, quae omnium simplicissima, & tam ad phaenomena intelligenda, quàm ad eorum causas naturales investigandas accommodatissima esse videtur: ipsamque tantùm pro hypothesi, non pro rei veritate haberi velim.« 172 Brief an Mersenne, 13. November 1629 (AT I 70): »… et au lieu d’expliquer vn Phaenomene seulemant, ie me suis resolu d’expliquer tous les Phaenomenes de la nature, c’est a dire toute la Physique.« 173 Vgl. den Brief an Regius, 4. Januar 1642 (AT III, 506).
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das Wissen des eigenen Nichtwissens in den Vordergrund der Reflexion gestellt, entfaltet De coniecturis das Potential der Vermutung als eine »bejahende Feststellung, die in der Andersheit an der Wahrheit partizipiert«.174 Der Akt der Vermutung als die Teilhabe an der Wahrheit unter der Limitierung der unaufhebbaren Differenz zu ihr ist der schöpferische Ausdruck des humanen Geistes. Die Pointe des cusanischen Entwurfs besteht in dem Versuch, die Endlichkeit und Unschärfe der menschlichen Erkenntnis durch das Potential der Vermutung zu kompensieren. Denn in der entwerfenden Verwendung seiner Begriffe wird der Mensch schöpferisch. Durch die kognitive Parallelaktion zur Schöpfungskreativität Gottes wird der Mensch selbst zu einem Gott, zwar nicht im absoluten Sinn, da er ja ein Mensch ist, aber doch zu einem »menschlichen Gott«.175 Diese Aufwertung des menschlichen Intellekts stellt sich dem skeptischen Verdacht entgegen, dessen Unfähigkeit, die entscheidende Wahrheit unmittelbar zu erfassen, könne die Einheit der Geistmetaphysik zerrütten. Die Aufwertung der schöpferischen Endlichkeit und die Rehabilitierung der intellektuellen Vermutung dienen der Sicherung einer Verbundenheit des Distanzierten. Wenn die Parallelität der göttlichen Weltproduktion und der humanen Begriffseinsetzung gesichert ist, »tritt das Schlimmste nicht ein«, wie Kurt Flasch es formuliert hat: »Unsere Konzepte behalten dann Weltkontakt, irgendwie. Unser Denken ist eine Parallelaktion, wie auch immer.«176 Descartes versucht den aufgrund der wissenden Unwissenheit drohenden Dissens zwischen göttlicher und humaner Intellektualität nicht zu vermeiden, da er ihn voraussetzt. Ist für Cusanus der menschliche Geist (mens) ein hohes Abbild Gottes (alta dei similitudo),177 so daß sich in dem Akt der den Graben des Nichtwissens überspringenden Vermutung göttliche Aktivität spiegelt, geht Descartes dagegen von einem intellektuellen Schisma aus: Der Mensch ist nur noch gleichsam ein Abbild Gottes.178 Er ist es nicht in Hinsicht auf sein intellektuelles, sondern nur noch in Hinsicht auf sein voluntatives Vermögen. Ist für Cusanus die menschliche Natur in ihrer Einheit – man kann sagen: als Geist – eine »auf menschliche Weise eingeschränkte Unendlichkeit«,179 ist für Descartes die
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Nikolaus von Kues, De coniecturis I, cap. 11, n. 57 (Opera omnia III, 58): »Coniectura igitur est positiva assertio, in alteritate veritatem, uti est, participans.« 175 De coniecturis II, cap. 14, n. 143 (Opera omnia III, 143): »Homo enim deus est, sed non absolute, quoniam homo; humanus est igitur deus.« 176 K. Flasch, Nikolaus von Kues, a. a. O., 148. 177 De coniecturis I, cap. 1, n. 5 (Opera omnia III, 7). 178 Meditationes III (AT VII, 51): »Sed ex hoc uno quòd Deus me creavit, valde credibile est me quodammodo ad imaginem & similitudinem ejus factum esse …« 179 De coniecturis II, cap. 14, n. 144 (Opera omnia III, 144): »Nam humanitas unitas est, quae est et infinitas humaniter contracta.«
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menschliche Rationalität die kontingente Notwendigkeit einer universalen Endlichkeitsform. Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen der cusanischen Intellektualtheologie, deren Spezifikum in der kopulativen Akzeptanz des für die ratio Widersprüchlichen besteht, und der cartesischen Rationalität, die jede Überdehnung ins Unendliche vermeidend einen homogenen Raum methodisch garantierter Gewißheiten sichern will, spiegelt sich in der cartesischen Kosmogonie ein cusanisches Motiv. Für Cusanus ist der menschliche Geist die Form der mutmaßlichen Welt, so wie Gott die Form der realen Welt ist. Der Mensch ›fabriziert‹ eine rationale Welt, die er ausfaltet.180 Diesen Aspekt einer aktiv entwerfenden Subjektivität radikalisiert der Cartesianismus unter anderen Vorzeichen. Sowohl Cusanus als auch Descartes konnten von Raimundus Lullus die Idee einer ars generalis übernehmen. Während die allgemeine Kunst der Mutmaßung aber die Annäherung an das Unendliche zum Ziel hat, macht sich die universale Rationalität die Annäherung an die Welt zur Aufgabe. Bedient sich nun der cartesische Distanzabbau zur unübersichtlich gewordenen Wirklichkeit einer kosmogenetischen Hypothese im Sinne einer gesetzten Wahrscheinlichkeit? Dann wäre Descartes’ Spekulation probabilistisch inspiriert. Das probabilistische Verständnis von Hypothesen war seit dem 14. Jahrhundert durch die Kasuistik der Moraltheologie bestimmt und spätestens seit dem Thomas-Kommentar von Bartholomäus von Medina – die Expositio D. Thomae Aquinatis I/II erschien 1577 – weit verbreitet. Der Probabilismus reagierte auf die Möglichkeit, daß in einer kontingenten Handlungssituation keine moralische Notwendigkeit zu erlangen ist. Für diesen Fall mangelnder Eindeutigkeit und versagender Normativität des Gesetzes – ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht (lex dubia non obligat) – vertritt der Probabilismus die Freiheit des moralischen Subjekts, das Wahrscheinliche wählen zu dürfen. Die Aufwertung der Freiheit der moralischen Wahl ging so weit, daß der ›Minus-Probabilismus‹ das weniger Wahrscheinliche als legitim wählbar werden ließ. Die Rehabilitierung des nur Wahrscheinlichen ließ sich auf naturphilosophische Aspekte übertragen.181 Die Frage nach der Legitimität der Hypothese des nur Wahrscheinlichen bestimmte den Umgang mit dem astronomischen Modell seit Kopernikus. Descartes’ Annahme eines unbegrenzten Raumes scheint auf den ersten Blick probabilistisch zu argumentieren, da die Hypothese der Unbe-
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De coniecturis I, cap. 1, n. 5 (Opera omnia III, 7 f.): »Coniecturalis itaque mundi humana mens forma exstitit uti realis divina … ita quidem rationalis mundi explicatio, a nostra complicante mente progrediens, propter ipsam est fabricatricem.« 181 Vgl. B. Nelson, »›Probabilisten‹, ›Anti-Probabilsten‹ und die Suche nach Gewißheit im 16. und 17. Jahrhundert«, in: ders., Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, übers. von M. Bischoff, Frankfurt am Main 1977, 165–171.
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grenztheit einen rationalen Spielraum in einer Frage eröffnet, für die Gewißheit nicht zu erlangen ist. Doch erst in Abgrenzung von den fiktionalistischen, konjekturalistischen und probabilistischen Entwürfen seiner Zeit kommt die Novität der cartesischen Rationalität vollends in den Blick. Der aufgespannte Raum der neuen Welt inauguriert die neue Rationalität, indem ihr ein Zuständigkeitsbereich zugewiesen wird. Descartes’ spekulative Kosmogonie eines nicht unendlichen, aber unbestimmt großen Weltraums gehört daher nicht mehr allein und nicht einmal vorrangig in die Wissenschaftsgeschichte frühneuzeitlicher Raumvorstellungen, sondern sie dokumentiert die philosophische Souveränität nachmittelalterlicher Selbstbegründungen humaner Rationalität. Daher gibt es zwar innerhalb dieser Welt der gesetzten Rationalität Fiktionen, Hypothesen und Mutmaßungen, die Setzung dieser rationalen Welt ist aber weder eine Fiktion, noch eine Hypothese oder eine Mutmaßung, sondern eine spekulative Inauguration der humanen Rationalität. Es ist die entscheidende Frage, ob es in dieser Welt der Rationalität um Wahrheitsansprüche gehen kann oder ob allein eine Kohärenz der vernünftigen Urteile zu behaupten ist. Immerhin hatte Descartes, wie bereits erwähnt, behauptet, daß man auf rationale Weise zwar erkennen könne, wie alle Naturkörper haben entstehen können, aber man dürfe daraus doch nicht folgern, daß sie wirklich so gemacht worden sind. Wie ein Künstler zwei Uhren anfertigen könne, die gleich funktionieren, doch innerlich gänzlich unterschiedlich seien, so habe unzweifelhaft auch der höchste Werkmeister, Gott, alles, was wir sehen, auf mehrere verschiedene Arten hervorbringen können.182 Gott hat also alle Dinge auf verschiedene Weise schaffen können, »ohne daß es dem menschlichen Geist möglich wäre zu erkennen, welches der ihm zur Verfügung stehenden Mittel er hat anwenden wollen, um sie zu schaffen«.183 Descartes betont so sehr die Kontingenz des Erkennbaren, daß sich der Verdacht verstärkt, eine Kohärenz der Urteile sei das Maximum dessen, was zu erreichen ist. Dafür scheint eine Stelle in den Responsiones zu sprechen, in der Descartes sich allem Anschein nach für eine defensive Rationalität ausspricht, die absolute Wahrheitsansprüche nicht geltend machen kann: »Was kümmert es uns denn, wenn einer sich einbildet, daß all das, von dessen Wahrheit wir so fest überzeugt sind, Gott oder einem Engel als falsch erscheint und also im absoluten Sinn falsch ist? Was besorgt uns diese absolute Falschheit, da wir überhaupt nicht an sie glauben und nicht den geringsten Zweifel haben? Wir gehen nämlich von einer so festen Überzeugung aus, daß sie auf keine Weise erschüttert werden
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Principia IV 204 (AT VIII–1, 327). Principes IV 204 (AT IX–2, 322): »… sans qu’il soit possible à l’esprit humain de connoistre lequel de tous ces moyens il a voulu employer à les faire.«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
kann; diese Überzeugung ist offensichtlich genau dasselbe wie die vollkommenste Gewißheit.«184 Diese Stelle ist in mehrfacher Hinsicht uneindeutig, ja fast unstimmig. Was will Descartes überhaupt sagen? Zunächst lenkt er den Blick auf die Möglichkeit, jemand könne den Konsens des von uns für wahr Gehaltenen dadurch in Frage stellen, daß er sich vorstellt, diese Wahrheiten erschienen Gott oder einem Engel als falsch. In diesem Stadium des Arguments besteht das Problem also zunächst in dem Umgang mit einem an den Gewißheiten zweifelnden Spekulanten. Dann aber scheint Descartes von dem Problem auszugehen, das sich einstellt, wenn unsere Wahrheiten für Gott oder einen Engel tatsächlich falsch sind. Auch dann, so sein Fazit, sei unsere Wahrheit nicht erschütterbar. Aber worauf zielt Descartes ab? Ist die Stelle, wie Harry Frankfurt meint, ein Beleg dafür, daß Descartes auf absolute Wahrheitsansprüche verzichtet und prinzipiell nur noch von der Möglichkeit kohärenter Urteile ausgeht?185 Bewegt sich die defensive Rationalität also allein in einem ihr kohärenten Geltungsraum? Oder will Descartes lediglich – wie Dominik Perler vorschlägt – illustrieren, mit welcher unbedingten und unerschütterlichen Überzeugung Urteile gewußt werden, wenn ihre absolute Wahrheit erwiesen ist?186 Beide Deutungen sind nicht falsch, greifen aber zu kurz. Weder vertritt Descartes eine herkömmliche Kohärenztheorie, noch illustriert er allein den Modus sicheren Wissens. Da es für Descartes keine von Gott unabhängigen und somit ewigen Wahrheiten gibt, ist die Wahrheit, die wir erfassen können, für uns zugleich kontingent und notwendig. Im Discours führt Descartes aus, unsere Vernunft sage uns, »daß all unsere Vorstellungen oder Begriffe irgendeine Grundlage in der Wahrheit haben müssen; denn es wäre nicht möglich, daß Gott, der höchst vollkommen und höchst wahrhaftig ist, sie uns ohne eine solche Grundlage eingepflanzt hat«.187 Das ist offensichtlich behutsam formuliert: Unsere Vorstellungen und 184
Responsiones II (AT VII, 145): »Quid enim ad nos, si fortè quis fingat illud ipsum, de cujus veritate tam firmiter sumus persuasi, Deo vel Angelo falsum apparere, atque ideo, absolute loquendo, falsum esse? Quid curamus istam falsitatem absolutam, cùm illam nullo modo credamus, nec vel minimum suspicemur? Supponimus enim persuasionem tam firmam ut nullo modo tolli possit; quae proinde persuasio idem plane est quod perfectissima certitudo.« 185 H. G. Frankfurt, Demons, Dreamers, and Madmen. The Defense of Reason in Descartes’s Meditations, Indianopolis/New York 1970, 179: »What he suggests is that if something that is perfectly certain may be absolutely false, then the notions of absolute truth and absolute falsity are irrelevant to the purposes of inquiry. His account makes it clear that the notion or truth that is relevant is a notion of coherence.« 186 D. Perler, Repräsentation bei Descartes, Frankfurt am Main 1996, 245 f. 187 Discours IV (AT VI, 41): »… que toutes nos idées ou notions doiuent auoir quelque fondement de verité; car il ne seroit pas possible que Dieu, qui est tout parfait & tout veritable les eust mises en nous sans cela.«
§ 22 Der Geltungsanspruch der neuen Rationalität
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Begriffe von der Welt entbehren nicht der Grundlage in der Wahrheit. Unser Wahrheitsverständnis hängt dabei unmittelbar von Gott ab, da Gott es in uns eingepflanzt hat. Wir können die Natur erkennen, da Gott sie geschaffen, die in ihr gültigen Naturgesetzte erlassen und in unseren Geist die zu ihrer Erkenntnis nötigen Begriffe eingepflanzt hat.188 Diese apriorischen Begriffe erscheinen, wie es Cassirer ausgedrückt hat, als »Siegel, die der Urheber unseres Daseins uns eingedrückt und aufgeprägt hat«.189 Verbürgt diese Dependenz die Erkennbarkeit absoluter Wahrheit durch den Menschen? Offensichtlich nicht, denn die Irrtumsfähigkeit des Menschen ist so augenscheinlich, daß sie das epistemologische Reformprogramm des Cartesianismus ja gerade nötig macht. Die cartesische Preisgabe einer strikten Analogizität von göttlichem und humanem Intellekt verhindert einen unmittelbaren Zugriff auf göttlich garantierte Wahrheiten. Im Grunde verfügen wir allein über Grundbegriffe (notions primitives), die uns eingepflanzt sind, die eine Erkennbarkeit eines Gegenstandes ermöglichen, aber nicht erschöpfen. Damit gewinnt die zitierte Stelle aus den Responsiones an Transparenz. Es ist nicht falsch, Descartes eine Kohärenztheorie zu unterstellen. Aber diese Kohärenz der Urteile ist eine von Gott gestiftete. Das, was wir als Wahrheit erkennen können, ist wahr, weil Gott in uns die Bedingungen unserer Erkenntnisfähigkeit festgelegt hat. Damit ist nicht gesagt, daß das Erkannte auch tatsächlich
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Descartes erläutert im fünten Teil des Discours (AT VI, 41), daß er auf sichere Gesetze aufmerksam geworden sei, die Gott der Natur gegeben und von denen er unserer Seele Begriffe eingedrückt habe: »… que i’ay remarqué certaines loix, que Dieu a tellement establies en la nature, & dont il a imprimé de telles notions en nos ames …« 189 E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit I (Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe II, 417). Cassirer fährt fort: »So mündet der wissenschaftliche Rationalismus Descartes’ an diesem Punkte unmittelbar in die Mystik ein.« Wenngleich der Begriff der ›Mystik‹ ein wenig irreführend sein mag, ist doch die Abhängigkeit des Wahrheitsbegriffs vom Entscheid Gottes treffend charakterisiert. Ein weiteres Moment der nichtrationalen Konstituierung humaner Rationalität in der Gestalt der Wissenschaft stellen die drei Träume dar, die Descartes in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1619 hatte. Sie stehen in Zusammenhang mit Descartes’ Notiz, er habe am 10. November in einem Zustand großer Erregung für eine wunderbare Wissenschaft die Fundamente entdeckt: »X. Novembris 1619, cùm plenus forem Enthousiasmo, & mirabilis scientiae fundamenta reperirem …« (Opuscules, AT X, 179) Die Träume folgen zwar auf die Entdeckung – und leiten sie nicht etwa ein –, aber Descartes hat sie selbst als für sein Leben wegweisend charakterisiert. Dabei ist es für einen Rationalisten durchaus pikant, durch Träume zu seinem Lebensweg gefunden zu haben. – Eine Rekonstruktion der Träume bietet der Biograph Adrien Baillet, der noch Zugriff auf heute verschollene Notizbücher Descartes’ besaß: La Vie de Monsieur Des-Cartes (Paris 1691, Bd. I, 81–86); ebd. (81) findet sich jene Notiz, Descartes sei an jenem 10. November von dem Gedanken ergriffen worden, »d’avoir trouvé … les fondemens de la science admirable«.
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
so ist, wie wir es erkennen. Aber der Status der Gewißheit des von uns sicher Erkannten ist unbedingt. Auch für den Fall, daß das Erkannte tatsächlich und in absoluter Wahrheit anders ist und von unserer Erkenntnis abweicht, erkennen wir es mit einer für uns unbedingten Gewißheit. Sollte also eine für uns gültige Wahrheit im absoluten Sinn für Gott oder einen Engel falsch sein, ist unsere Kohärenz der für uns wahren Urteile nicht tangiert, da wir gar nicht anders können, als die uns von Gott vorgeschriebene Wahrheit nach den uns eingepflanzten Prinzipien zu erkennen. Unsere feste Überzeugung (firma persuasio) in bezug auf erkannte Wahrheiten gleicht der vollkommensten Gewißheit, nicht mehr und nicht weniger. Es ist die Kontingenz der für uns notwendigen Wahrheit, die die Kenntnis absoluter Wahrheit relativiert. Der Mensch entfaltet die Kohärenz seiner Weltwahrnehmung nach den von Gott eingepflanzten apriorischen Prinzipien. Der erzähltechnischen Uneindeutigkeit der kosmogenetischen Fabel, die Descartes in Le Monde vorträgt, wohnt eine systematische Präzision inne: Einmal ist es der Mensch, der aktiv mit seiner Phantasie einen unbegrenzten Raum aufspannt, dann ist es Gott, der in diesen Raum hinein die Materie erschafft, von der Descartes zugleich aber sagt, der Mensch erfände sie gemäß seiner Phantasie. Schließlich ordnet sich diese Materie nach den Notwendigkeiten der Naturgesetze, die Gott erlassen hat. So ungenau muß die Fabel erzählt werden, um das cartesische Verständnis der abhängigen Souveränität der humanen Rationalität exakt abbilden zu können.
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus Descartes war Kopernikaner. Das wird leicht übersehen oder unterschätzt. Die gängige Unaufmerksamkeit gegenüber dem cartesischen Kopernikanismus beruht auf zwei systematischen Vorentscheidungen: Zum einen wird der Kopernikanismus, wie er von Descartes etwa in Le Monde oder den Prinicpia philosophiae vertreten wird, als eine rein naturwissenschaftlich relevante Positionierung ohne fundierenden Einfluß auf seinen methodischen Rationalismus verstanden. Zum anderen verleitet das marginale Auftauchen des cartesischen Kopernikanismus zu einer Geringschätzung seiner Bedeutung für die Herausbildung der cartesischen Philosophie. Nach wie vor scheint Ernst Cassirers Einschätzung zu gelten, es sei möglich, »das Gesamtwerk Descartes’ zu beschreiben, es historisch zu rekonstruieren und philosophisch zu analysieren, ohne dabei der Kopernikanischen Hypothese zu gedenken und ihr eine bevorzugte Stellung zu geben«.190 Beide Thesen und der aus ihnen resultierende Konsens sind fragwürdig. Zum einen ist Descartes’ Versuch einer neuen Beschreibung der Welt in Le Monde weitaus mehr als die explikatorische Anwendung einer unabhängig von ihr 190
E. Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Hamburg 1995, 55.
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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begründeten Rationalität auf den Bereich der Natur. Vielmehr enthält diese unterschätzte Schrift eine spekulative Inauguration einer neuen Rationalität. Sie ermöglicht Einblicke in den Realitätsbegriff, dem zu entsprechen die cartesische Rationalität konzipiert worden ist. Zum anderen ist nicht nur für diese Schrift der Kopernikanismus konstitutiv, wie Descartes mit Blick auf die Annahme der Erdbewegung in einem Brief an Mersenne im November 1633 betont: »… und ich gestehe, daß, wenn sie falsch ist, alle Grundlagen meiner Philosophie es ebenfalls sind, denn jene wird durch diese evident bewiesen. Und sie ist derart mit allen Teilen meiner Abhandlung verbunden, daß ich sie nicht herauslösen könnte, ohne das Übrige gänzlich zu schädigen.«191 Ist hier mit der Philosophie nur die Naturphilosophie gemeint? Den Eindruck könnte man gewinnen, wenn man Descartes’ sieben Jahre späteren Brief an Mersenne hinzunimmt, in dem er schreibt, »daß mich bisher nichts daran gehindert hat, meine Philosophie zu veröffentlichen als das Verbot der Bewegung der Erde, das ich nicht von ihr trennen kann, weil meine ganze Physik davon abhängt«.192 Aber bereits der gleichsam synonyme Gebrauch von ma Philosophie und ma Physique spricht gegen eine Einengung des cartesischen Kopernikanismus auf eine rein naturwissenschaftliche Position jenseits philosophischer Relevanz. Vielmehr begreift Descartes die Philosophie als die Grunddisziplin, in die er seine Physik – als seine Naturphilosophie – integriert. Daher enthalten seine Meditationen auch die Grundprinzipien seiner Physik, und die Principia philosophiae, die die Grundlagen seiner Physik publik machen, beginnen mit einer Zusammenfassung seiner metaphysischen Grundpositionen. Es spricht daher vieles dafür, daß Descartes mit den angesprochenen Grundlagen seiner Philosophie (tous les fondements de ma Philosophie) tatsächlich nicht nur seinen naturwissenschaftlichen Entwurf im Blick hat, sondern die Rationalität überhaupt, derer er sich bedient. Das würde heißen, daß der Cartesianismus sich als ein kopernikanisch inspirierter Rationalismus versteht, für dessen Realismus der hypothetische Gebrauch von Modellen grundsätzlich geworden ist. Wie sich zeigen läßt, hat Descartes die kopernikanische Wende in der Tat als eine Hypothese verstanden und damit jenen Strang der Kopernikus-Rezeption verstärkt, der für die moderne Naturwissenschaft ausschlaggebend sein sollte. Dabei ist es durchaus fraglich, ob Kopernikus selbst seine astronomische Reform als das Angebot eines hypothetischen Modells verstanden wissen wollte. Da gute Gründe 191
Brief an Mersenne, Ende November 1633 (AT I, 271): » … & ie confesse que s’il est faux, tous les fondemens de ma Philosophie le sont aussi, car il se demonstre par eux euidemment. Et il est tellement lié auec toutes les parties de mon Traitté, que ie ne l’en sçaurois détacher, fans rendre le reste tout defectueux.« 192 Brief an Mersenne, Dezember 1640 (AT III, 258): »…que rien ne m’a empesché iusques icy de publier ma Philosophie, que la deffense du mouuement de la Terre, lequel ie n’en sçaurois separer, à cause que toute ma Physique en dépend …«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
dagegen sprechen, wie zu zeigen sein wird, spiegelt sich in der kopernikanischen Wende und ihrer frühneuzeitlichen Rezeption der nominalistische Wegestreit. Die Diskrepanz zwischen Kopernikus und den Kopernikanern ist dabei eine zwischen Reform und Revolution. Was Kopernikus auf den ersten Blick mit Descartes verbindet, ist die Scheu, sein naturwissenschaftliches Hauptwerk zu veröffentlichen. Seit 1497 hatte er astronomische Beobachtungen unternommen, über drei Jahrzehnte später, im Herbst 1529 oder im Frühjahr 1530, beginnt er mit der endgültigen Niederschrift, die wohl 1532 beendet ist. Doch erst 1543 erscheint, auf Drängen seines Schülers Joachim Rheticus, in Nürnberg die erste Ausgabe von De revolutionibus orbium coelestium. Es ist nicht leicht auszumachen, was der Antrieb für das Zurückhalten des Manuskripts über ein Jahrzehnt war: die Vorsicht angesichts der Neuartigkeit seiner Lehre – obwohl Papst Clemens VII. 1533 durchaus wohlwollend auf das Referieren der kopernikanischen Hauptthesen durch Johann Albert Widmanstadt reagiert hat – oder die Unzufriedenheit über die Ausführung seiner astronomischen Reform. Eindeutiger ist der Antrieb, der ihn zur Reform veranlaßte. In seiner Vorrede, die Kopernikus Papst Paul III. gewidmet hat, findet sich die entscheidende Formel, die als Motivation der kosmologischen Wende ausgemacht werden kann: Angesichts der Unsicherheit der mathematischen Überlieferung in bezug auf die Berechnung der Bewegungen »erfaßte mich Unwillen darüber, daß keine unangreifbarere Berechnung der Bewegungen der Weltmaschine, die um unseretwillen vom besten und genauesten Werkmeister gebaut ist, den Wissenschaftlern glücken wollte, die doch sonst auch die kleinsten Einzelheiten dieses Erdkreises so sorgsam ausforschen«.193 Es ist die Formel von der Welt, die um unseretwillen geschaffen worden ist – mundus propter nos conditus –, auf die es hier ankommt.194 In ihr aktualisiert sich die stoische Tradition, das Weltgefüge als einen teleologisch eingerichteten Kosmos zu begreifen und ihm einen Anthropozentrismus der göttlichen Vorsorge an die Seite zu stellen, wie er sich in dem Begriff der Vorsehung (πρóνοια) verdichtet hat. Schon Nikolaus von Kues hatte den Versuch unternommen, ein nachptolemäisches Weltbild unter Beibehaltung einer teleologischen Anthropologie zu entfalten. Wie
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Nicolaus Copernicus, De revolutionibus, Praefatio ad Pontificem Paulum III (Gesamtausgabe II, 4): »Hanc igitur incertitudinem mathematicarum traditionum, de colligendis motibus sphaerarum orbis, cum diu mecum revolverem, coepit me taedere, quod nulla certior ratio motuum machinae mundi, qui propter nos, ab optimo et regularissimo omnium opifice, conditus esset, philosophis constaret, qui alioqui rerum minutissimarum respectu eius orbis, tam exquisite scrutarentur.« 194 Zu Herkunft und Bedeutungswandel der kopernikanischen Weltformel vgl. H. Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt am Main 1965, 52–99.
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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Kopernikus behauptete er die Erdbewegung – manifestum est terram moveri195 – und ihre Exzentrik – terra non est centrum mundi 196 –, ohne auf die Annahme einer göttlichen Vorsehung zu verzichten: Alles ist in Gottes Vorsehung eingeschlossen – totum in Dei providentia implicitum fuit.197 Die Preisgabe der Geozentrik bedeutete unter humanistischen Voraussetzungen also keinesfalls eine Schwächung des menschlichen Selbstverständnisses. Immerhin resultierte aus der Exzentrik der Erde ihre Aufwertung im Vergleich mit den anderen Himmelskörpern. War die Erde im aristotelischen System als das Zentrum des kosmischen Gefüges – wie alles Sublunare – mit dem Stigma behaftet, von den vollkommenen Sternen und von ihrem göttlichen unbewegten Beweger am weitesten entfernt und von niederer Qualität zu sein, so beseitigte die Exzentrik diese Diskrepanz. Die Erde ist selbst ein edler Stern – terra stella nobilis.198 Für Kopernikus verbinden sich mit der Annahme einer teleologisch bestimmten Wirklichkeit die Forderung der Präzision der kosmologischen Weltmaschine und der Anspruch auf ihre theoretische Nachvollziehbarkeit. Es ist der wohl auch platonisch inspirierte Werkmeister (opifex), der eine machina mundi eingerichtet hat, die den Skandal einer nur ungenauen mathematischen Erfaßbarkeit nicht verträgt. Die kopernikanische Wende soll diesen Mißstand beseitigen und damit die Geordnetheit der Welt gemäß dem Strukturprinzip der Mathematik erneut aufweisen. Dabei hilft die bereits von Pico della Mirandola und Nikolaus von Kues eingeleitete »humanistische Idealisierung der Weltmitte«,199 die anthropologischen Implikationen des geozentrischen Weltbildes zu wahren: Der Mensch hat es nicht mehr nötig, sich in der Mitte der Welt zu befinden, da die Leistungskraft seiner konstruktiven Vernunft beweist, daß er die Mitte der Welt ist. Es ist diese Kontinuitätsschicht unterhalb des offenkundigen Bruchs mit dem ptolemäischen Weltbild, die jene Aussagen ernst zu nehmen und nicht als Rhetorik abzuschwächen gebietet, in denen Kopernikus ausdrücklich die Leistung der Tradition anerkennt. In seinem Brief gegen Werner beharrt er darauf, daß den Aufzeichnungen der Alten zu vertrauen sei, was Johannes Werner aus Nürnberg in seiner Schrift De motu octavae sphaerae bestritten hatte. Der vermiedene Bruch mit der Tradition, trotz der aufgegebenen Geozentrik, wird durch die Identität der Tradition gewährleistet, in die sich Kopernikus ausdrücklich stellt: Mißtraue
195 196 197 198 199
Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, cap. 11 (Opera omnia I, 102). De docta ignorantia II, cap. 11 (Opera omnia I, 100). De docta ignorantia I, cap. 22 (Opera omnia I, 44). De docta ignorantia II, cap. 12 (Opera omnia I, 105). Hans Blumenberg hat mit dieser treffenden Formel die Idealisierung der Anthropozentrik durch den Humanismus bezeichnet, welche dadurch auf die Geozentrik zu verzichten vermochte: H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1975, 237 ff.
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
man den Aufzeichnungen der Alten, müsse man auch den eigenen Beobachtungen weniger Glauben schenken.200 Für Kopernikus basiert seine kosmologische Wende nicht auf einem Bruch mit der Tradition, sondern auf ihrer entschiedenen Fortsetzung. Auffallend ist dabei der von Kopernikus konstatierte Vorteil, im Gegensatz zu den Alten auf eine inzwischen lange Tradition der Beobachtung zurückblicken zu können. Die kopernikanische Reform ist daher der eine möglich gewordene Fortschritt. Und wenn es stimmt, daß der vorausgesetzte Realitätsbegriff stoisch-humanistisch und nicht etwa nominalistisch inspiriert ist, dann hat der eine Fortschritt auch der letzte zu sein, da mit ihm das Weltbild restauriert ist, welches in Auflösung begriffen zu sein schien. Es ist daher mehr als ein rhetorischer Autoritätsbeleg, wenn Kopernikus unmittelbar im Anschluß an seine stoisch inspirierte Formel von einer dem Menschen zugedachten Welt Cicero zitiert, bei dem er den Hinweis gefunden habe, Nicetus habe als erster die Meinung vertreten, die Erde bewege sich, und er habe dann bei Plutarch gefunden, noch andere hätten sich dieser Position angeschlossen.201 Kopernikus überwindet nicht die Tradition, sondern schöpft ihr Potential aus. Der kopernikanischen Wende fehlt daher dem Selbstverständnis nach der Charakter des hypothetischen Modells, dem immer auch das Moment der potentiellen Austauschbarkeit und der theoretischen Distanz zur Realität anhaftet. Sie soll die eine, notwendige und möglich gewordene Reform sein, nicht der Beginn der Anwendung verschiedener konkurrierender kosmologischer Modelle. Zwar trägt die seit 1514, vielleicht auch schon 1509 im Umlauf befindliche Schrift über die kopernikanischen Hauptthesen den Titel De Hypopthesibus motuum coelestium a se constitutis Commentariolus, aber dieser Titel der nur als Abschrift kursierenden Kurzfassung seiner Reform stammt offenkundig nicht von Kopernikus. Im Commentariolus spielt der Hypothesenbegriff keine Rolle, und er wird auch in den Revolutiones nur im Hinblick auf die Grundsätze und Voraussetzungen (prin-
200
Vgl. Nicolaus Copernicus, Epistola Coppernici contra Wernerum, in: ders., Das neue Weltbild, lat./dt., übersetzt, hg. und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von H. G. Zekl, Hamburg, 1990, 38–56, hier 56, wo Kopernikus sich direkt gegen den Mißtrauensantrag von Johannes Werner (1468–1522) wendet, der behauptet hatte, die Beobachtungen der Alten, insbesondere die des Timochares, blieben hinter seinen gegenwärtigen Beobachtungen weit zurück und seien daher unzuverlässig: Wenn er meine, man dürfe deren Aufzeichnungen nicht trauen, was bliebe dann übrig, als daß man auch seinen eigenen Beobachtungen weniger Glauben schenke? – »At dum existimat illorum annotationibus non fidendum, quid aliud restat, quam ut suis quoque observationibus minus credatur?« 201 De revolutionibus, Praefatio ad Pontificem Paulum III (Gesamtausgabe II, 4): »Ac reperi quidem apud Ciceronem primum, Nicetum sensisse terram moveri. Postea et apud Plutarchum inveni quosdam alios in ea fuisse opinione …« Der Name Nicetus (auch Nicetas) ist durch Hiketas zu korrigieren.
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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cipia & assumptiones) der Alten gebraucht, ohne daß ihm ein modernes Potential attestiert wird. Für die Annahme, Kopernikus habe seine Wende nicht als eine Hypothese abzuschwächen und so gegen mögliche, auch kirchliche Kritik zu schützen versucht, spricht der Umstand, daß das Motiv der rhetorischen Abschwächung allein im wohl nicht von Kopernikus autorisierten Vorwort des Andreas Osiander vertreten wird. Es sei nicht notwendig, heißt es dort, daß die von Kopernikus gemachten Voraussetzungen wahr seien, sie müßten nicht einmal wahrscheinlich sein, sondern es reiche, wenn sie eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Berechnung darstellten.202 Derartige Relativierungen des offensichtlich uneingeschränkt vertretenen Wahrheitsanspruches fehlen in den Revolutiones völlig. Darin stimmt Kopernikus mit Newton überein, der es angesichts der von Galilei begonnenen und von ihm konsequent fortgeführten Mathematisierung der Physik ablehnte, Hypothesen aufzustellen: hypotheses non fingo.203 Das methodische Operieren mit Hypothesen im Sinne von theoretischen Variationen zu einem Problem ist noch für den gesamten epistemologischen Realismus der frühen Neuzeit eine Herausforderung, der sich ihre Protagonisten erst nach und nach und im Widerstreit annehmen sollten. Auf Kopernikus scheint, wenn die skizzierte Deutung seiner astronomischen Wende zutreffend sein sollte, Werner Heisenbergs Antwort auf die Frage, wie man eine Revolution macht, anwendbar zu sein: indem man versucht, »so wenig wie möglich zu ändern«.204 Kopernikus ist der Idealfall eines konservativen Reformers, der das Neue denkt, um das Alte zu bewahren. Es ist darauf hingewiesen worden, daß Kopernikus mit seiner Reform vor allem die gleichförmige Kreisbewegung im Sonnensystem zu retten und damit eine spezifisch griechische Sichtweise der Astronomie zu erfüllen versuchte.205 Für die mögliche Inte-
202
A. Osiander, Ad lectorem de hypothesibus hvius operis (De revolutionibus), in: N. Copernicus, Das neue Weltbild, a. a. O., 60–63, hier 60: »Neque enim necesse est, eas hypotheses esse veras, immo ne verisimiles quidem, sed sufficit hoc unum, si calculum observationibus congruentem exhibeant …« 203 I. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, 3. Auflage 1726, liber III, Scholium generale, 530 (ed. A. Koyré/I. B. Cohen II, 764). Was nicht aus den Erscheinungen abzuleiten ist, ist für Newton als Hypothese zu bezeichnen, und Hypothesen haben, ob sie nun metaphysisch oder physikalisch oder über okkulte Eigenschaften oder mechanisch sind, in der Experimentalphysik keinen Platz: »Quicquid enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est; & hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occultarum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non habent.« (Ebd.) 204 W. Heisenberg, »Änderungen der Denkstruktur im Fortschritt der Wissenschaft«, in: ders., Schritte über Grenzen, a. a. O., 239–251, hier 249. 205 Vgl. J. Mittelstrass, Die Rettung der Phänomene, a. a. O., 197.
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
gration des kopernikanischen Weltmodells in eine durch Traditionen verbürgte Weltsicht spricht auch der Umstand, daß die Geschichte der Rezeption in Kopernikus keinesfalls immer den Neuerer gesehen hat. Seine kosmologische Wende ließ sich als eine Rückkehr zu den Lehren der Pythagoreer verstehen, wodurch seine Reform einer Wiederaufnahme des Alten gleichkäme. Tatsächlich finden sich bei Kopernikus Verweise auf die pythagoreische Annahme, daß sich die Erde im Kreis um ein Zentralfeuer bewege.206 Der im Kopernikanismus vorhandene Pythagoreismus lieferte für die Rezeption den entscheidenden Traditionsvermerk, der die astronomische Innovation als eine Restauration begreifbar machte. So hat es schon Tommaso Campanella in seiner Metaphysica verstanden,207 und noch Johann Christoph Gottsched sah sich vor die Aufgabe gestellt, das Neue des kopernikanischen Weltmodells eigens herauszuarbeiten: »Sollte dieser neue Weltbau«, so fragt sich Gottsched, »wo die Sonne den Mittelpunct einnimmt, die Erde aber mit den übrigen Planeten in die Runde läuft, nicht vielmehr der pythagorische Weltbau heißen?«208 Erst die Differenz, daß Kopernikus, im Gegensatz zu den Mutmaßungen der Pythagoreer, den heliozentrischen Weltbau »zuerst mit astronomischen Beweisen unterstützet, und zur Gewißheit gebracht«209 hat, sichert ihm die historische Ausnahmestellung. Die kopernikanische Wende ließ sich aber auch als ein revolutionärer Umsturz und Traditionsbruch deuten. Sie schien exakt die frühneuzeitliche Kritik am überkommenen Aristotelismus mitsamt seiner Geozentrik zu repräsentieren. Es ist dieser herauslesbare Wille zur Innovation, der den Kopernikanismus für Descartes attraktiv machte. Es gibt ein ideengeschichtliches Bindeglied zwischen Kopernikus und Descartes, welches anzeigt, wie früh das drängend gewordene Anliegen einer astronomischen Neuorientierung mit dem Pathos einer souveränen Neubegründung des humanen Selbstverständnisses verbunden worden ist. Gemeint sind dabei nicht die kosmologischen Schriften Giordano Brunos, die der frühen Neuzeit das mögliche Pathos der kopernikanischen Reform im Sinne eines befreienden Umsturzes erschlossen haben, sondern die Schrift De perenni motu terrae von Celio Calcagnini.210 206
Vgl. De revolutionibus, Praefatio ad Pontificem Paulum III (Gesamtausgabe II, 4); ebd., I, cap. 5 (Gesamtausgabe II, 11). 207 Vgl. T. Campanella, Universalis philosophiae seu metaphysicarum rerum iuxta propria dogmata, Paris 1638 (Reprint: Turin 1961), wo Campanella in pars III, liber XI, cap. XV den art. 1 diesem Bezug ausdrücklich widmet: »Sententia Nicolai Copernici de mundi constructione, & motibus caelestibus renouata ex antiquis Pythagoreis.« 208 J. Chr. Gottsched, Gedächtnißrede auf den unsterblich verdienten Domherren in Frauenburg Nicolaus Copernicus als den Erfinder des wahren Weltbaues, Leipzig 1743, 37. 209 Ebd., 38. 210 Abgedruckt in: F. Hipler, »Die Vorläufer des Nikolaus Coppernicus insbesondere Celio Calcagnini«, in: Mitteilungen des Coppernicus-Vereins für Wissenschaft und Kunst zu Thorn, Heft 4, Thorn 1882, 49–80.
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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Dieser Traktat über die Erdbewegung erschien erstmals in Basel 1544, ein Jahr nach den Revolutiones. Calcagnini, der nicht von Kopernikus gewußt haben muß, lehrt darin die Rotation der Erde unter Beibehaltung der Geozentrik. Die Konsequenz ist der Stillstand der Sonne, der Planeten und vor allem des Fixsternhimmels und somit eine völlige Umkehrung der Bewegungsverhältnisse des aristotelischen Systems. Entscheidend ist nun, daß Calcagnini seinen astronomischen Entwurf in einer Weise metaphorisch deutet, die Kopernikus offensichtlich ferngelegen hat: Er beruft sich auf Archimedes, der im Rahmen der Möglichkeiten seiner Mechanik, mit Hilfe der Hebelwirkung große Lasten zu heben, davon gesprochen hatte, man möge ihm nur einen festen Punkt bieten, dann könne er die ganze Welt von der Stelle bewegen.211 Die potentielle Beweglichkeit der Erde wird für Calcagnini zum Argument für seinen Vorschlag einer Erdrotation. Zugleich interpretiert er damit seinen astronomischen Entwurf als einen theoretischen Kraftakt. Die angenommene Erdrotation wird zur Verkörperung eines gewollten und nicht nur erlittenen Traditionsbruchs. Hier entsteht das Potential, eine astronomische Reform als den Ausgangspunkt einer neuen Positionierung des Menschen gegenüber der Wirklichkeit zu deuten und umgekehrt den Wandel eines Realitätsbegriffs astronomisch zu illustrieren. Für ersteres steht Giordano Bruno, der den Kopernikanismus als einen Befreiungsschlag verstand, für letzteres steht Kant, der seine Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich mit der kopernikanischen Wende verglichen hat. Es kann daher nicht überraschen, daß auch Descartes Aspekte seines Realitätsbegriffs und sein Verhältnis zur Tradition in einen expliziten Bezug zur kopernikanischen Wende gesetzt hat. Diese Reform hat für ihn durch die Auseinandersetzungen um Galilei bereits an Schärfe gewonnen und ist zum Signum für einen grundsätzlichen Bruch mit der Tradition geworden. Es ist daher keine rhetorische Überheblichkeit, sondern eine präzise Umschreibung des intendierten Innovationspotentials seiner Philosophie, wenn er sich an exponierter Stelle auf Archimedes beruft: »Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das Geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist.«212 Der Vergleich zielt natürlich auf das cogito, das als ausdehnungslose Substanz einem Punkt gleicht und in seiner minimalsten Evidenz der Selbstgewißheit unerschütterlich sein soll. Nicht oft hat Descartes seinem
211
Vgl. H. Blumenberg, »Der archimedische Punkt des Celio Calcagnini«, in: E. Hora/ E. Keßler (Hg.), Studia Humanitatis. Ernesto Grassi zum 70. Geburtstag, München 1973, 103–112. 212 Meditationes II (AT VII, 24): »Nihil nisi punctum petebat Archimedes, quod esset firmum & immobile, ut integram terram loco dimoveret; magna quoque speranda sunt, si vel minimum quid invenero quod certum sit & inconcussum.«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
Vertrauen auf das immense Innovationspotential seiner neuen Philosophie so unverhohlen Ausdruck verliehen.213 Der unausgesprochene Kopernikanismus als Hintergrund des ArchimedesVergleichs ist leicht zu übersehen. Descartes hat bereits seinen kosmologischen Entwurf in Le Monde zu Papier gebracht, als er in den Meditationen jenen Vergleich anstellt. Der in Le Monde enthaltene Kopernikanismus bietet den Hintergrund für eine angemessene Lesart des ausdrücklichen Bezugs auf Archimedes. Der entscheidende Aspekt ist dabei das mit Kopernikus virulent werdende Phänomen der Perspektivität. Das bedeutet, daß für Descartes das Moment der Bewegung der Erde für sich genommen keinesfalls das Wichtigste am Kopernikanismus ist, obwohl es im Zuge der Verurteilung Galileis auf spektakuläre Weise in den Mittelpunkt gerückt worden war. In Le Monde vertritt Descartes die Bewegung der Erde aufgrund der aufgegebenen Geozentrik und der favorisierten Heliozentrik. Ihm scheint es dabei aber nicht vorrangig um die Bewegung der Erde im Sinne ihrer Eigenrotation zu gehen, sondern um die Implikationen und Konsequenzen einer Exzentrik, die zuallererst eine Überwindung des vorkopernikanischen und somit für Descartes hauptsächlich aristotelisch-scholastischen Weltentwurfes bedeuten. Wenn Descartes daher in den publizierten Principia philosophiae die Eigenbewegung der Erde als Rotation um ihre Achse vermeidet, so ist das nicht nur ein Akt der Absicherung gegenüber kirchlicher Kritik. Die Erde, so sagt er dort, bewege sich nicht selbst, sondern ruhe innerhalb des bewegten und flüssigen Himmels, mit dem sie sich fortbewege. Sie gleiche daher einem Schiff auf dem Meer, das sich selbst nicht fortbewegt, aber vielleicht dennoch unbemerkt mit den ungeheuren Wassermassen fortbewegt werde.214 Es geht Descartes allem Anschein nach allein um den Aspekt, die Erde nicht mehr als den Mittelpunkt des rational zu erfassenden Weltsystems anzusehen. Anders ist es nicht zu verstehen, daß er in dem genannten und eingangs zitierten Brief an Mersenne die Grundlagen seiner Philosophie von der Bewegung der Erde abhängig macht. Denn mit der Bewegung der Erde verbindet sich jene Exzentrizität, die erst das Potential der Perspektivität erschließbar machen sollte. Die kopernikanische Wende war selbst ein Paradebeispiel für einen Perspektivenwechsel: Das kosmische System wird nicht mehr aus der naheliegenden Perspektive der Anschauung, sondern aus der Perspektive der mathematischen Rationalität erfaßt. Der Standpunkt der rationalen Konstruktion erzwingt eine Sicht auf das Sonnensystem, das der sinnlichen Wahrnehmung widerspricht. Descartes sollte es sich 213
Bereits in einem Brief an Ferrier vom 18. Juni 1629 (AT I, 13 ff.) stellt Descartes das Innovationspotential seiner Methode heraus: Entweder seien alle seine Regeln falsch, oder er werde ihm – Ferrier – die Mittel zur Ausführung größerer Dinge geben, als dieser erhoffe. 214 Principia III 26 (AT VIII–1, 89 f.).
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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eigens zum Programm machen, unser Denken von den Sinnen wegzuführen.215 Insofern sind Descartes’ Methodentraktate gleichsam Angebote der Einübung in ungewohnte Perspektiven. Der Perspektivenwechsel gehört daher zur methodischen Einübung der nachmittelalterlichen Rationalität, überkommene Ordnungsvorstellungen zu überwinden. Das Mittelalter war bis hin zur theologischen Anthropozentrik geozentrisch konstituiert. Das Seiende war auch in seiner kosmischen Ausgestaltung hierarchisch gestuft, der jeweils natürliche Ort hatte von der Metaphysik bis hin zur Gesellschaftsordnung einen normativen Charakter. Es ist daher weitaus mehr als eine Aufklärung über astronomische Größenverhältnisse, wenn Descartes ausführlich auf die Diskrepanz zwischen sinnlicher Einschätzung und realistischer Faktizität eingeht: Nur vordergründig erscheint die Erde größer als alle übrigen Körper der Welt, tatsächlich ist zwar der Mond kleiner, die Sonne aber größer als die Erde.216 Dieser Vergleich dient dazu, den entscheidenden Gedanken vorzubereiten und die Folgen des Perspektivenwechsels ansichtig zu machen: Von der Ausdehnung des Weltalls her betrachtet ist die Erde kleiner als ein Sandkorn im Hinblick auf ein Gebirge.217 Sie ist nicht mehr als ein Punkt.218 Das ist die völlige Umkehrung nicht nur der Sehgewohnheit, sondern auch der zentristischen Teleologie, da die Erde aus dieser möglichen Perspektive heraus gleichsam an die Peripherie gedrängt wird: »Ich gebe zu, daß dies unglaublich scheint, wenn man sich nicht an die Betrachtung der Größe Gottes gewöhnt hat, und wenn man die Erde als den vornehmsten Teil der Welt und als die Wohnung des Menschen, für welchen alles andere geschaffen worden ist, ansieht; den Astronomen aber, die schon wissen, daß sie im Vergleich zu dem Himmel nur ein Punkt ist, wird dies weniger wunderbar erscheinen.«219
215
Méditiations, Abregé (AT IX–1, 9): Descartes setzt auf den methodischen Zweifel, der auch durch den Gewißheitsverlust seit der kopernikanischen Wende gestärkt wird, »pour accoûtumer nostre esprit à détacher des sens«. 216 Principia III 5 (AT VIII–1, 82). 217 Brief an Chanut, 6. Juni 1647 (AT V, 56): »… la terre est plus petite au regard de tout le Ciel, que n’est vn grain des sable au regard d’vne montagne …« 218 Brief an Elisabeth, 3. November 1645 (AT IV, 334): »… que la terre n’est … que comme vn point …« Giordano Bruno hatte diesen Vergleich, gleichsam metaphysisch überspannt, vorweggenommen, wenn er im ersten Dialog von De l’infinito, universo e mondi erwägt, die Größe des kosmischen Weltkörpers (corpo universale) – also des Weltalls –, der uns so groß und weit erscheine, sei angesichts der göttlichen Gegenwart nichts als ein Punkt, ja geradezu ein Nichts: sei es nicht schimpflich, nicht zu denken, »che questo corpo, che a noi par vaste e grandissimo, al riguardo della divina presenza non sia che un punto, anzi un nulla?« (Dialoghi italiani, 377) 219 Principia III 40 (AT VIII–1, 97 f.): »Quod fateor incredibile videri posse, magnalia Dei considerare non assuetis, & Terram ut praecipuam partem universi, ac domicilium homi-
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
Die Relativität der Perspektive wird zum Abbau der normativen Tradition. Dieser Gedanke hatte Kopernikus noch fern gelegen. Für ihn bestätigte sich die Teleologie, in die der Mensch durch Gott gestellt war, durch die rationale Erschließung der vorgegebenen Wirklichkeitsstruktur, erkennbar am Beispiel des astronomischen Weltgefüges. Die Vernunft, die diesen vertrackten kosmischen Aufbau zu ergründen vermochte, war der Fluchtpunkt dieser Teleologie, die sich nicht mehr unmittelbar und anschaulich an einem kosmischen Ordnungsgefüge ablesen ließ. Die Diskrepanz zwischen Kopernikus und Descartes und die zwischen beiden liegende theoretische Verschärfung des Kopernikanismus besteht in der cartesischen Ablehnung, mit der neuen Reform die Rettung des alten Realitätsbegriffs zu verbinden. Im Gegenteil: Für ihn wird der Kopernikanismus zur Nötigung einer neuen Konstitution des Weltbegriffs auf dem Fundament der Subjektivität. Kopernikus’ Annahme, die Welt sei vom göttlichen Werkmeister um unseretwillen geschaffen, findet bei Descartes ihre Umkehrung, wenn er darauf beharrt, wir dürften weder annehmen, alle Dinge seien von Gott bloß unseretwegen geschaffen, noch wären wir in der Lage, den Zweck bei der Erschaffung der Welt einsehen zu können.220 Die Leistungen der Vernunft kompensieren nicht den Verlust der geozentrischen Mittelpunktsstellung, aber der Mensch habe kein Recht sich darüber zu beklagen, daß Gott wolle, daß dem Menschen nicht die vorzüglichste und vollkommenste Rolle in der Welt zukommt.221 Ausführlich bestreitet Descartes die Exklusivität des Menschen unter dem Gesichtspunkt des Kopernikanismus in einem Brief an Chanut vom 6. Juni 1647: »Was die Vorrechte betrifft, die die Religion dem Menschen zuschreibt, und die als schwierig zu glauben erscheinen, wenn die Ausdehnung des Weltalls als unbegrenzt angenommen wird, so verdienen sie einige Erläuterung. Denn obgleich wir sagen können, daß alle erschaffenen Dinge für uns gemacht sind, insofern wir irgendeinen Nutzen aus ihnen ziehen können, weiß ich dennoch nicht, ob wir zu glauben genötigt sind, daß der Mensch der Zweck der Schöpfung sei. Es ist aber gesagt, daß alles im Hinblick auf Gott selbst geschaffen worden ist, daß Gott allein der Endzweck ebenso wie die wirkende Ursache des Weltalls ist …«222 Die Herausnahme des Menschen aus einem teleologischen
nis, propter quem caetera omnia facta sint, spectantibus; sed Astronomis, qui jam omnes sciunt illam ad coelum comparatam instar puncti esse, non ita mirum videri debet.« 220 Principia III 2 (AT VIII–1, 80 f.): Der Mensch würde sich überschätzen, »si res omnes propter nos solos ab illo creatas esse fingeremus; vel tantùm, si fines quos sibi proposuit in creando universo, ingenii nostri vi comprehendi posse putaremus.« 221 Meditationes IV (AT VII, 61): »Et nullum habeo jus conquerendi quòd eam me Deus in mundo personam sustinere voluerit, quae non est omnium praecipua & maxime perfecta.« 222 Brief an Chanut, 6. Juni 1647 (AT V, 53 f.): »Pour les prerogatiues que la Religion attribuë à l’homme, & qui semblent difficiles à croire, si l’étenduë de l’Vniuers est suposée
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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Endzweck und die Uneinsehbarkeit der Notwendigkeit, aus der heraus die Welt geschaffen sein mag, erweist die Kontingenz der Realität. Diese Kontingenz erfordert eine neue Art von Rationalität. Der feste Punkt des Archimedes, auf den Descartes sich bezieht und der nötig ist, um die Erde von der Stelle zu bewegen, ist das ausdehnungslose und unkörperliche Selbstbewußtsein des cogito, das den Ausgangspunkt für eine rationale Betrachtung der Realität bietet. Descartes’ Rationalismus ist somit ein methodisch geübter Perspektivismus: Nicht mehr die Wirklichkeit mit ihrer Ordnung als der strukturellen Präsenz Gottes bestimmt, was der Mensch ist, sondern das Subjekt, das anfangs weltlos ist und sich der Wirklichkeit erst vergewissern muß, wird zum Ausgangspunkt eines rationalen Entwurfs von Wirklichkeit. Wie die zentralperspektivische Malerei der Renaissance die Räumlichkeit ihrer Bilder nicht mehr durch künstlerisches Geschick zu erzeugen versuchte, sondern mit Hilfe der mathematischen Methode rational konstruierte, so wird der Standpunkt des Subjekts als Ausgang der egologischen Perspektivität zum archimedischen Punkt der Wirklichkeitsbewältigung.223 Daß der Aspekt des Perspektivismus für die cartesische Rationalität tatsächlich eine große Rolle spielt und nicht im Status einer eher unverbindlichen Grundsatzüberlegung verbleibt, läßt sich an einem Detail der cartesischen Ideenlehre belegen. In der Dritten Meditation erläutert Descartes, daß die Ideen keine Abbilder der Gegenstände sind. Sie sind also den Gegenständen nicht ähnlich. Da kein striktes Abbildungsverhältnis besteht, gibt es von einem Gegenstand auch nicht nur eine Idee. Von der Sonne, so erläutert Descartes, hätten wir eine aus den Sinnen geschöpfte Idee, die sie uns als sehr klein präsentiere. Eine aus den Kenntnissen der Astronomie gebildete Idee der Sonne stelle sie uns als groß vor, wonach sie um ein Vielfaches größer sei als die Erde. Sind die beiden Ideen von der Sonne gleichrangig? Descartes verneint dies, denn »die Vernunft überzeugt mich, daß jene Idee ihr am meisten unähnlich ist, die am unmittelbarsten von ihr herzukommen scheint«.224 Es gibt also eine Rivalität unter den repräsentierenden Ideen, die den aufgeklärten Perspektivismus zur kritischen Methode macht. Immerhin war auch die vorkopernikanische Idee vom Weltaufbau scheinbar
indefinie, elles meritent quelques explication. Car, bien que nous puissions dire que toutes les choses creées sont faites pour nous, en tant que nous en pouuons tirer quelques vsage, ie ne sçache point neantmoins que nous soyons obligez de croire que l’homme soit la fin de la Creation. Mais il est dit que omnia propter ipsum (Deum) facta sunt, que c’est Dieu seul qui est la cause finale, aussi bien que la cause efficiente de l’Vniuers …« 223 Vgl. A. Horn, »Das Experiment der Zentralperspektive. Filippo Brunelleschi und René Descartes«, in: W. F. Niebel/A. Horn/H. Schnädelbach (Hg.), Descartes im Diskurs der Neuzeit, Frankfurt am Main 2000, 9–32. 224 Meditationes III (AT VII, 39): »… ratio persuadet illam ei maxime esse dissimilem, quae quàm proxime ab ipso videtur emanasse.«
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V. Kosmogonie als Inauguration einer kontingenten Rationalität
durch die Evidenz der Sinneswahrnehmung gestützt, während erst die Korrektur durch das astronomische Wissen eine angemessene Idee des Sonnensystems erbracht hat. Das Prinzip des Zweifels ist die entscheidende Neutralisierung einer traditionellen Perspektive und die methodische Depotenzierung des normativen Auftretens der Tradition zugunsten einer Neubegründung und -organisation des Wissens. Nicht von ungefähr bezieht Descartes die Metapher des archimedischen Punktes in seiner Recherche de la vérité auf den Akt des Zweifelns: Eudoxus verspricht in diesem fiktiven Dialog seinem Gesprächspartner Poliander, er werde, indem er von dem umfassendsten Zweifel als von einem festen und unbeweglichen Punkt ausgehe, die Erkenntnis Gottes, seiner selbst und aller Dinge der Welt entfalten.225 Dem Vergleich fehlt die Eleganz, welche die Illustration des cogito durch den archimedischen Punkt ausmacht, da der methodische Zweifel nur als etwas Prozessuales verstanden werden kann. Er ist eher ein Programm als ein fixierbarer Punkt. Dennoch liegt der Vergleich für Descartes auf der Hand: Der Zweifel – und nicht nur der universale Zweifel, von dem er an dieser Stelle zuspitzend spricht – ist von der gleichen Selbstevidenz wie das Denken (cogitatio) und die Existenz (existentia).226 In dieser Evidenz der untrügbaren Selbsttätigkeit der Vernunft liegt die Nähe auch des Zweifels zur Metapher vom Punkt des Archimedes begründet. Es ist offensichtlich, daß Descartes ein anderes Verhältnis zur Hypothese hat als Kopernikus. Descartes erkennt die Vorläufigkeit des kopernikanischen Entwurfs, da er die Alternativentwürfe und Korrekturen, die in Reaktion auf Kopernikus entwickelt worden sind, durch die einsetzende zeitliche Distanz zur kopernikanischen Wende zur Kenntnis zu nehmen in der Lage ist. Es wäre leichtfertig, Descartes’ Vermeidung eines strikten Wahrheitsanspruches allein als taktische Vorsicht deuten zu wollen. Denn mit der Sukzession der astronomischen Entwürfe ist der entscheidende Schritt des frühneuzeitlichen Kopernikanismus vollzogen: Das rationale Instrument der hypothetischen Realitätsannäherung ist das Modell. Es repräsentiert den Wissensstatus des Wahrscheinlichen. Moses Mendelssohn hat diesen reduzierten Wahrheitsanspruch des Modells anhand des Kopernikanismus illustriert, wenn er darauf hinweist, das kopernikanische Weltgebäude werde »jetzt durchgehends für wahrscheinlicher erkannt, als das alte ptolomäische«.227 Die Realitätsmodelle stehen dabei in einer Konkurrenz
225
Recherche (AT X, 515): »Hac enim universali ex dubitatione, veluti è fixo immobilique puncto, Dei, tuî ipsiusmet, omniumque, quae in mundo dantur, rerum cognitionem derivare statui.« 226 Ebd. (AT X, 524): »Jam verò iis rebus, quae isto modo clarae sunt & per se cognoscuntur, dubitatio, cogitatio, & exsistentia adnumerari possunt.« 227 M. Mendelssohn, Gedanken von der Wahrscheinlichkeit (Gesammelte Schriften I, 161).
§ 23 Der cartesische Kopernikanismus
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zueinander: »Man kann also gewisser massen den Grad der Wahrscheinlichkeit bestimmen, den das neue Weltgebäude vor den alten voraus hat.«228 Im Gegensatz zur Konstitution eines Weltbildes als idealtypische Zusammenfassung aller Annahmen über die Wirklichkeit in einer Epoche hat das Operieren mit Modellen die Vorläufigkeit des geltenden Realitätsbegriffs oder zumindest die Vorläufigkeit von Teilaspekten dieses Realitätsbegriffs systematisch verarbeitet. Das Aufkommen von Realitätsmodellen ist die Entsprechung auf den Totalitätsverlust und die Kontingenz des Wirklichen. Beides gehört zur theoretischen Voraussetzung der Neuzeit: Obwohl die Welt die Totalität des Erfahr- und Denkbaren darstellt, ist sie selbst nicht erfahrbar und auf einen abschließenden Begriff zu bringen. Die neuzeitliche Rationalität reagiert mit dem Instrument des Modells auf die Annahme der Kontingenz der Welt im Sinne ihrer Nichtnotwendigkeit und potentiellen Variabilität. Es ist darauf hingewiesen worden, daß das Modell als wissenschaftstheoretisches und methodologisches Prinzip erst in der nominalistischen Tradition für die exakte Naturwissenschaft eine grundsätzliche Bedeutung erlangen konnte – und dabei sei eine anonym wirkende Ontologie des Nominalismus zu konstatieren.229 Das Modell als erkenntnisorganisierendes Prinzip wird von den frühneuzeitlichen Autoren also ausdrücklich nicht im platonischen Sinne gebraucht. Das Modell ist nicht die ideelle Vorlage einer Realisation. Der Gebrauch des Modells ist nicht mehr bestimmt von der leitenden Vorstellung, es beinhalte die Essenz eines Seienden in transempirischer Weise und das schon vor dessen Aktualisierung, sondern das Prinzip des Modells wird mit einer experimentellen Rationalität, mit einer Unsicherheit gegenüber der zu erkennenden Realität und einem hypothetischen Entwurf von ihr, konnotiert. Der Gebrauch von Modellen markiert den Beginn des Bewußtseins von der Unumgänglichkeit eines Etappenrealismus. In ihm dokumentiert sich die reflektierte Distanz zur Realität. Er ist kontrollierte Spekulation.
228 229
Ebd. Vgl. den von F. Kaulbach verfaßten ersten Teil des Artikels »Modell«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie VI, 45–47.
VI. Meditative Anthropogenese: Das cogito zwischen Kontingenz und Notwendigkeit
§ 24 Eine zweite Schöpfung: Die rationale Geburt des neuen Menschen Descartes ist ein Meister des zweiten Anfangs. Seine kosmogenetische Fabel als Zitat der Schöpfungsgeschichte inauguriert mit spekulativer Leichtigkeit eine Physik, die den Prinzipien der cartesischen Rationalität gehorcht. So gelingt es Descartes, dem grundlegenden Wandel des Wirklichkeitsverhältnisses Rechnung zu tragen, wie er sich seit dem Spätmittelalter abgezeichnet hat. Eine Voraussetzung für die Transformation des mittelalterlichen Seinsverhältnisses ist die – bei Descartes völlig undramatische – Reflexion der neu wahrgenommenen Distanz zum ehemals analogen Gott und die Betonung seiner Schöpfungsfreiheit. Die Bedingung für ein entsprechend epochales Resümee ist der kritische Vorbehalt gegen einen vermeintlich naiven Realismus, der davon ausgehen zu können meinte, die Erkenntniskapazität des Menschen sei auf die intellektuelle Anforderung durch die zu erkennende Welt abgestimmt. Die neu gewonnene Souveränität ist eine Folge der Distanz, die Übernahme der Last der zu bewältigenden Inventur des Wirklichen ihre Bedingung. Descartes macht in keinem Augenblick den Eindruck, als ob er sich nicht zutraue, die neuen Anforderungen glänzend erfüllen zu können. Dennoch muß er bemerkt haben, daß die von ihm ohne Zögern akzeptierten Modernitätsbedingungen einen schwerwiegenden Konflikt beherbergten: Von den epistemologischen Unwägsamkeiten in einer kontingenten Welt auszugehen, bedeutet einen Schöpfungstadel zu riskieren. Wenn die tradierten Wissensbestände so marode sind, daß ein grundlegender Neuanfang, wie ihn die kosmogenetische Fabel illustriert, nötig geworden ist, wie läßt sich dann überhaupt angesichts einer noch nicht außer Kraft gesetzten Schöpfungslehre rechtfertigen, daß der Mensch so irren kann? Die Welt als eine von Gott geschaffene ist für Descartes gut. »Dennoch sehe ich, daß Gott es leicht hätte einrichten können, daß ich mich trotz Freiheit und beschränkter Erkenntnis niemals irrte: wenn er nämlich entweder meinem Verstand einen klaren und deutlichen Begriff von allem verliehen hätte, welches ich jemals erwägen würde, oder wenn er es auch nur meinem Gedächtnis so fest eingeprägt hätte, daß ich über keine Sache jemals ein Urteil fällen darf, die ich nicht klar und deutlich verstehe, daß ich dies niemals vergessen könnte.«1
1
Meditationes IV (AT VII, 61): »Video tamen fieri a Deo facile potuisse, ut, etiamsi
206
VI. Meditative Anthropogenese
Der Irrtum wird zu einem Problem der Theodizee: 2 Descartes stellt »die Schwierigkeit in bezug auf die Ursache der Irrtümer«3 in einen direkten Zusammenhang mit der Bonität der Schöpfung. Er nimmt grundsätzlich an, »daß Gott die Welt sehr vollkommen geschaffen hat«.4 Wie kommt es dann zu den Irrtümern im menschlichen Wissen? Descartes sagt in bezug auf die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen: »Sodann entdecke ich in mir ein gewisses Urteilsvermögen, das ich sicherlich, wie auch alles übrige in mir, von Gott erhalten habe; und da jener mich nicht täuschen will, gab er mir sicherlich nicht ein solches Vermögen, daß ich, solange ich es richtig verwende, mich je irren könnte.«5 Das ist umständlich formuliert, und die mangelnde Eleganz läßt den Problemdruck erkennen, der das Denken antreibt. Dabei geht es Descartes vor allem darum, die Genese der Irrtümer nicht Gott anlasten zu müssen. Es gibt Irrtümer – davon geht Descartes offensichtlich aus –, aber es ist nicht Gott, der uns täuscht und somit die Irrtümer verursacht. Auch kann er uns kein Urteilsvermögen gegeben haben, das sich irrt, solange wir es recht gebrauchen. Wenn Gott uns nicht täuscht und er nicht die Ursache für unsere unübersehbaren Irrtümer ist, muß er uns aber ein Urteilsvermögen gegeben haben, das sich prinzipiell täuschen kann. Wie aber kann sich dieses Urteilsvermögen täuschen? Gebrauchen wir es überhaupt in angemessener Weise? Die Situation scheint verfahren zu sein: Wir müssen uns täuschen können, damit Gott entlastet ist. Aber wenn unser Erkenntnisvermögen zu irrtumsanfällig ist, fällt der Tadel auf Gott zurück. Zunächst finden sich bei Descartes scheinbar ausweichende Äußerungen: Er gehe nicht davon aus, daß Gott immer das mache, was er als das Vollkommenste kenne, und es scheine ihm nicht, daß ein endlicher Geist darüber urteilen könne.6 Da er wisse, daß seine Natur sehr schwach und begrenzt, die Natur Gottes aber immens, unbegreiflich und unendlich manerem liber, & cognitionis finitae, nunquam tamen errarem: nempe si vel intellectui meo claram & distinctam perceptionem omnium de quibus unquam essem deliberaturus indidisset; vel tantùm si adeo firmiter memoriae impressisset, de nullâ unquam re esse judicandum quam clare & distincte non intelligerem, ut nunquam ejus possem oblivisci.« 2 Auf den Zusammenhang von Irrtum und Theodizee ist wiederholt hingewiesen worden. Vgl. E. Cassirer, »Descartes’ Wahrheitsbegriff«, in: ders., Philosophie und exakte Wissenschaft, Frankfurt am Main 1969, 62–89, hier 84; M. D. Wilson, Descartes, a. a. O., 140. 3 Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 113): »… la difficulté … touchant la cause des erreurs …« 4 Ebd. (AT IV, 113): »… que Dieu ait creé le monde tres-parfait …« 5 Meditationes IV (AT VII, 53 f.): »Deinde experior quandam in me esse judicandi facultatem, quam certe, ut & reliqua omnia quae in me sunt, a Deo accepi; cùmque ille nolit me fallere, talem profecto non dedit, ut, dum eâ recte utor, possim unquam errare.« 6 Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 113): »Ie ne sçache point auoir determiné que Dieu fait toûiours ce qu’il connoist estre le plus parfait, & il ne me semble pas qu’vn esprit finy puisse iuger de cela.«
§ 24 Eine zweite Schöpfung: Die rationale Geburt des neuen Menschen
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sei,7 scheint Descartes auf ein traditionelles Bonitätsgefälle zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf zu rekurrieren. Angesichts der Erfahrung, »unzähligen Irrtümern« unterworfen zu sein,8 droht die bis dahin plausible Differenz zwischen dem perfekten und dem geschaffenen Sein aber an Akzeptanz zu verlieren. Descartes greift daher zu einer Lösung in zwei Schritten. Zunächst verteidigt er die Bonität der menschlichen Vermögen. Das Erkenntnisvermögen ist bei aller Begrenztheit grundsätzlich gut, »weil ich nämlich keinen Grund vorbringen kann, durch den ich beweisen könnte, daß Gott mir ein größeres Erkenntnisvermögen hätte geben müssen, als er es getan hat«.9 Auch der Wille ist gut. Es ist allein der Wille oder die Freiheit der Entscheidung, die er in sich als so groß erfahre, daß er die Idee keiner größeren erfasse, so sehr, daß es vor allem die Freiheit sei, aufgrund derer er verstehe, daß er ein gewisses Bild und Gleichnis Gottes darstelle.10 Das Erkenntnisvermögen ist für den Menschen ausreichend und der Wille sogar gottähnlich. »Daraus ersehe ich, daß weder die Kraft des Wollens, die ich von Gott habe, für sich betrachtet die Ursache meiner Irrtümer ist, sie ist nämlich höchst weitreichend und in ihrer Art vollkommen, noch auch die Kraft des Verstehens, denn was auch immer ich verstehe: Da ich es von Gott habe, daß ich verstehe, verstehe ich es ohne Zweifel richtig, und hierin kann ich mich nicht täuschen.«11 Der Irrtum, so die ermöglichte Lösung, ist nicht das Resultat des Verstandes oder des Willens, sondern ihres mißlingenden Zusammenspiels. »Woraus also entstehen meine Irrtümer? Doch allein wohl daraus, daß ich, da der Wille sich weiter erstreckt als der Verstand, den Willen nicht innerhalb derselben Grenzen halte, sondern ihn auch bis zu den Dingen ausdehne, die ich nicht verstehe; und da er bei diesen Dingen unentschieden ist, wendet er sich leicht vom Wahren und Guten ab, und so irre und sündige ich.«12 Descartes gelingt es angesichts des heraufziehenden Theodizeeproblems, die Bonität des Verstandes und des Willens zu wahren und doch ihrem Wechselspiel 7
Meditationes IV (AT VII, 55): »Cùm enim jam sciam naturam meam esse valde infirmam & limitatam, Dei autem naturam esse immensam, incomprehensibilem, infinitam …« 8 Ebd. (AT VII, 54): »… experior me … innumeris erroribus esse obnoxium …« 9 Ebd. (AT VII, 56): »… quia nempe rationem nullam possum affere, quâ probem Deum mihi majorem quàm dederit cognoscendi facultatem dare debuisse …« 10 Ebd. (AT VII, 57). 11 Ebd. (AT VII, 58): »Ex his autem percipio nec vim volendi, quam a Deo habeo, per se spectatam, causam esse errorum meorum, est enim amplissima, atque in suo genere perspecta; neque etiam vim intelligendi, nam quidquid intelligo, cùm a Deo habeam ut intelligam, procul dubio recte intelligo, nec in eo fieri potest ut fallar.« 12 Ebd. (AT VII, 58): »Unde ergo nascuntur mei errores? Nempe ex hoc uno quòd, cùm latius pateat voluntas quàm intellectus, illam non intra eosdem limites contineo, sed etiam ad illa quae non intelligo extendo; ad quae cùm sit indifferens, facile a vero & bono deflectit, atque ita & fallor & pecco.«
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VI. Meditative Anthropogenese
die Genese der Irrtümer anzulasten. Damit ist der zweite Schritt seiner Lösung ermöglicht: Wenn die von Gott gegebenen Vermögen grundsätzlich gut sind und allein ihr Zusammenwirken Ursache der unzähligen Irrtümer ist, denen der Mensch unterliegt, muß eben dieses Zusammenspiel von Grund auf reformiert werden. Die Erkenntniskraft ist neu auszurichten – wie es bereits in den Regulae ad directionem ingenii heißt – und mit dem voluntativen Vermögen angemessen auszubalancieren. Der skizzierte Problemdruck läßt dabei keine kleine Lösung zu, wie schon die religiösen Konnotierungen anzeigen: Der Irrtum als Sünde – er ist die Verunreinigung des Menschen, die Verfehlung und die Schuld der Unaufmerksamkeit. Nimmt man die religiösen Konnotationen für einen Moment beim Wort, wird der Blick frei für das zweite cartesische Schöpfungsvorhaben, das zwingend aus der rationalen Kosmogenese folgt: eine meditative Anthropogenese. Die Meditationes de prima philosophia sind vieles, vor allem aber eines: die Schaffung eines neuen Menschen. Die Erzählung der Genesis ist auch hier, wie schon bei der Fabel der cartesischen Weltentstehung, leitend. Bereits die Struktur der Meditationes weist auf diese Nähe hin: Den sechs Tagen der Schöpfung entsprechen sechs Meditationen.13 Daß dieses Schema für eine Reinigung und Neuschaffung des Intellekts naheliegend war, zeigt schon sein Gebrauch bei Bonaventura. In seinem Itinerarium mentis in Deum, dem Pilgerweg des Geistes zu Gott, durchläuft der menschliche Geist sechs Stufen bis zur Vereinigung mit Gott, die siebte Stufe – in Exerzitientagen gezählt der Sonntag – gönnt dem Pilger die Ruhe des göttlichen Friedens ohne Anstrengung des Geistes.14 Wer ein derartiges meditatives Sechstagewerk durchläuft, wird gleichsam neu geboren: Descartes sieht ein, daß er einmal im Leben alles von Grund auf umstürzen und von den ersten Grundlagen an neu anfangen muß, wenn er in den Wissenschaften etwas Festes und Bleibendes schaffen will.15 Die Epoché des kognitiven Lebens ist der radikale Neuanfang. Descartes hat darauf hingewiesen, er wolle mit den Meditationes diejenigen ansprechen, »die sich die Mühe geben wollen, mit mir ernsthaft zu meditieren (mediter) und die Dinge mit Aufmerksamkeit (auec attention) zu betrachten«.16 Er
13
Vgl. A. Oksenberg Rorty, »The Structure of Descartes’ Meditations«, in: dies. (Hg.), Essays on Descartes’ Meditations, Berkeley/Los Angeles/London 1986, 1–20. 14 Vgl. L. Oeing-Hanhoff, »René Descartes: Die Neubegründung der Metaphysik«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen: Philosophie der Neuzeit I, Göttingen 31997, 35–73, zur Nähe Descartes’ zu Bonaventura ebd., 44. 15 Meditationes I (AT VII, 17): »… ac proinde funditus omnia semel in vitâ esse evertenda, atque a primis fundamentis denuo inchoandum, si quid aliquando firmum & mansurum cupiam in scientiis stabilire …« 16 Réponses II (AT IX–1, 123): »… qui se voudront donner la peine de mediter auec moy serieusement & considerer les choses auec attention …«
§ 24 Eine zweite Schöpfung: Die rationale Geburt des neuen Menschen
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habe aus diesem Grund lieber Meditationen geschrieben als Abhandlungen oder Quaestiones.17 Noch nie habe er bemerkt, daß man mittels der Disputationen, die man in den Schulen ausübe, irgendeine Wahrheit entdeckt habe, die man zuvor nicht kannte.18 Descartes fordert stattdessen vom Leser – im Rahmen seiner Philosophie der angestrengten Wachsamkeit – ernsthafte Aufmerksamkeit, die über die gelehrte Disputation hinausgeht. Die Grundsätzlichkeit des Ziels bedingt die Intentions- und Qualitätsdifferenz zur Tradition der akademischen Praxis: Die nötige Reform ist mit verschulten Mitteln nicht zu machen. Descartes versucht durch eine metaphysische Meditation das Niveau zu heben und nicht, es zu entspannen. Sein metaphysisches Hauptwerk ist ein philosophisches Exerzitienbuch.19 Eine derartige Interpretation muß vage erscheinen und sich dem Verdacht ausgesetzt sehen, daß ein philosophisches Hauptwerk der frühen Neuzeit auf unzulässige Weise einer theologisch konditionierten Exerzitienpraxis angenähert wird. Nun ist es ein oftmals übersehener Aspekt, daß Descartes als Schüler von La Flèche mit den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola in Berührung gekommen ist.20 Eine Rekonstruktion der Umstände seiner Schulzeit von 1606 bis 1614 läßt den Schluß zu, daß Descartes mit den ignatianischen Übungen vertraut gewesen sein muß.21 Unstrittig waren die Übungen des Ignatius in La Flèche unmittelbar präsent. So veröffentliche François Veron 1608 ein Manuale sodalitatis, das den Studierenden das ignatianische Denken näherbringen sollte. In jedem Studienjahr war für die Studenten die Teilnahme an einer achttägigen Kurzform der Exerzitien vorgesehen.22 Selbst für den Fall, daß Descartes von diesen Exerzitien aufgrund seiner körperlichen Konstitution befreit worden sein sollte, darf seine Vertrautheit mit der Struktur der Exerzitien angenommen
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Ebd. (AT IX–1, 123): »Ce qui a esté la cause pourquoy i’ay plutost écrit des Meditations que des disputes ou des questions, comme font les Philosophes …« 18 Discours VI (AT VI 69): »Et ie n’ay iamais remarqué non plus, que, par le moyen des disputes qui se pratiquent dans les escholes, on ait découuert aucune verité qu’on ignorast auparauant …« 19 Vgl. L. J. Beck, The Metaphysics of Descartes. A Study of the Meditations, Oxford 1965, 28–38; Z. Vendler, »Descartes’ Exercises«, in: Canadian Journal of Philosophy 19 (1989), 193– 224. Schon Gilson hat auf die Nähe der Meditationes zu religiösen Übungen und zur asketischen Disziplinierung der Gedanken hingewiesen: E. Gilson, Études sur le rôle de la pensée médiévale dans la formation du système cartésien, Paris 41975, 186 f. 20 Die Studie von Roger Ariew, John Cottingham und Tom Sorell Descartes’ Meditations. Background source materials (Cambridge 1998) geht auf Ignatius von Loyola nicht ein. 21 Vgl. A. Thomson, »Ignace de Loyola et Descartes. L’influence des exercises spirituels sur les oeuvres philosophiques de Decartes«, in: Archives de Philosophie 35 (1972), 61–85. 22 C. de Rochemonteix, Un Collège de Jésuites aux XVIIe & XVIIIe Siècles. Le Collège Henri IV de La Flèche, Le Mans 1889, Bd. II, 140 f.
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VI. Meditative Anthropogenese
werden. So kann er in seinem Brief an Jacques Dinet darauf verweisen, seine Philosophie sei von einem Autor entwickelt, der von dem gleichen Geist wie der Gesellschaft der Jesuiten bestimmt sei.23 Tatsächlich ist es schwer, einige strukturelle Parallelen zwischen den ignatianischen Exercitia spiritualia24 und den cartesischen Meditationes zu übersehen. Ignatius empfiehlt für die Geistlichen Übungen strikte Abgeschiedenheit,25 die Descartes für den ungestörten Fortgang seiner Reflexionen sowohl im Discours erwähnt als auch in den Meditationes ausdrücklich wählt.26 Die Exercitia fordern vom Teilnehmer seinen »ganzen Einsatz und seinen freien Willen«.27 Dieser Anspruch deckt sich mit dem eingangs zitierten Hinweis, Descartes habe die Meditationes für diejenigen geschrieben, »die sich die Mühe geben wollen, mit mir ernsthaft zu meditieren«.28 Um Aussicht auf Erfolg zu haben, ist zu Beginn der Exerzitien eine Indifferenz gegenüber allen geschaffenen Dingen einzunehmen,29 um durch eine Unterscheidung der Geister (discretio spirituum) 30 frei wählen zu können. Auch die Meditationes fordern eine Indifferenz gegenüber
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Die Stelle findet sich in dem Brief an Dinet, der bekannt ist unter dem Titel Admodum Reverendo Patri, Patri Dinet, Societatis Jesu, Praepositio provinciali per Franciam, Renatus Des Cartes S. D. (AT VII, 564): »Nam sane, si profecta esset ab Authore qui eodem spiritu quo tota vestra Societas regeretur …« Dinet war Lehrer in La Flèche und als solcher auch für Pierre Bourdin verantwortlich, von dem die siebten Einwände gegen die Meditationes stammen. Eine apologetische Tendenz der von Descartes angeführten Nähe zu Ignatius ist offensichtlich, muß aber die Äußerung nicht ausschließlich bestimmen. 24 Die ignatianischen Exerzitien liegen als spanische Fassung vor, die dem Autographen folgt, und als lateinische Versio vulgata. Ich zitiere sie nach dem Abdruck in den Monumenta Historica Societatis Iesu, Bd. 100, series secunda, Bd. 1, nova editio, hg. von J. Calveras und C. de Dalmases, Rom 1969. 25 Ignatius von Loyola, Exercitia spiritualia, n. 20, n. 79 (MHSI 100, 160/162, 208). 26 Discours II (AT VI, 11); Meditationes I (AT VII, 17 f.). Die Abgeschiedenheit ist gleichsam zu einem Topos für die Art des cartesischen Philosophierens geworden. So kann Pierre Bayle in seinem Artikel über den anticartesianischen Cartesianer Spinoza im Dictionnaire historique et critique (51740, IV, 257) schreiben, Spinoza habe solchen Gefallen daran gefunden, zu meditieren und seine Meditationen in Form zu bringen, daß er seinem Geist nur wenig Zeit zur Erholung gab und manchmal ein ganzes Vierteljahr verstreichen ließ, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen: »… & il se plaisoit tellement à méditer, & à mettre en ordre ses méditations … qu’il ne donnoit que très-peu de tems à recréer son esprit, & qu’il laissoit quelquefois passer trois mois tout entiers sans mettre le pied hors de son logis.« 27 Exercitia spiritualia, n. 5 (MHSI 100, 146): »… totum studium et arbitrium suum …« 28 Réponses II (AT IX–1, 123). 29 Exercitia spiritualia, n. 23 (MHSI 100, 164/166): »Quapropter debemus absque differentia nos habere circa res creatas omnes …« 30 Die discretio bildet ab n. 313 den Kern der Exercitia.
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dem tradierten Wissen, »weil sie einen von Vorurteilen völlig freien Geist verlangen«.31 Sowohl den ignatianischen Exerzitien als auch den cartesischen Meditationen geht es nicht darum, die Anerkennung einzelner Postulate oder für wahr gehaltener Sätze zu erreichen, sondern im Teilnehmenden eine grundsätzliche Neuausrichtung zu bewirken. Für Ignatius ist das Ziel eine spirituelle Erneuerung durch eine Entscheidung zu einem auf Gott ausgerichteten Leben, Descartes strebt eine kognitive Erneuerung im Sinne einer Befreiung vom Bann des Irrtums an. Die Grundsätzlichkeit der Wahl bestimmt die Exercitia als eine nicht notwendigerweise zu wiederholende Exerzitienform. Im Gegensatz zu anderen Meditationsformen – wie etwa De imitatione Christi von Thomas a Kempis – sind die Exerzitien zeitlich begrenzt und besitzen den Charakter der prinzipiellen Einmaligkeit. Diese temporäre Prägnanz übernimmt Descartes, wenn er zu Beginn der Meditationes einmal im Leben (semel in vitâ) alles von Grund auf umstoßen und neu beginnen möchte. Für Ignatius wie Descartes ist ein methodisch durchstrukturiertes Vorgehen vorrangig. Es wird oft übersehen, daß die ignatianischen Übungen einen der ersten frühneuzeitlichen Methodentraktate darstellen. Erbauliches oder Mystisches fehlt in ihnen fast ganz. Sie wollen nichts anderes sein als eine methodische Anweisung zur spirituellen Erfahrung und Ausrichtung. Descartes konnte diesen Primat der Methode – nicht nur, aber auch – von Ignatius übernehmen und seinem Rationalismus dienstbar machen. Nun mag man das methodische Moment für nicht spezifisch genug halten, um die Annahme einer Analogie zwischen beiden Autoren zu bekräftigen – auch andere Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sind unter dem Einfluß strikt methodischer Vorstellungen verfaßt worden. Ihnen fehlt aber ein Spezifikum, das die Originalität der ignatianischen Exercitia und der cartesischen Meditationes ausmacht: der methodisch integrierte Widerpart im Fortgang der Reflexionen. Bei Descartes ist es der genius malignus, den er gegen Ende der Ersten Meditation einführt. Ihm kommt die Funktion zu, den Glauben an die für wahr gehaltenen Einsichten permanent in Frage zu stellen, da er die Macht besitzt, uns zu täuschen. Seine Funktion als Widerpart unserer Evidenzen treibt die letzte Gewißheit des cogito erst hervor. Der cartesische genius malignus ist als der Kunstgriff beschrieben worden, durch den »Descartes den theologischen Absolutismus der Allmacht in die philosophische Hypothese des trügerischen Weltgeistes transformiert« und somit das frei gewählte «Experiment der Vernunft mit sich selbst«32 begründet habe. In dieser Deutung wird übersehen, daß bereits Ignatius vom bösen Geist spricht. Es gibt nach Ignatius dreierlei Gedanken in uns: Zum einen gibt es den Gedan31
Meditationes, Epistola (AT VII, 4): »… quia requirunt mentem a praejudiciis plane liberam …« 32 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 208 f.
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ken, der aus uns stammt. Dann aber gibt es auch zwei andere, die von außen kommen: »der eine, der vom guten Geist kommt, und der andere vom bösen«.33 Die Funktion des widerstreitenden bösen Geistes wird gleichsam zu einer Person verdichtet: Der Feind (el enemigo) ist der in den Übungen an mehreren entscheidenden Stellen wiederkehrende Verführer.34 Trotz seiner destruktiven Intention ist seine konstitutive Funktion für die Herausbildung des Gewissens bei der durch den Feind versuchten Person unübersehbar.35 Eine vergleichbare Funktion nimmt der methodisch forcierte Zweifel bei Descartes ein. Die Einführung eines genius malignus muß daher nicht zwingend als eine Transformation eines voluntaristischen Gottesbegriffs gesehen werden, sondern ist durchaus – in einem weitesten Sinne – in die Tradition der monastischen Unterscheidung der Geister aufgrund der Versuchungen durch einen bösen Geist einzuordnen, wie man sie schon bei Gregor von Nyssa, Bernhard von Clairvaux oder Johannes Gerson findet.36 Descartes hat, wenn man so will, die moralische Versuchung in eine epistemologische transformiert. Daß er es nicht bei der Idee eines täuschenden Gottes beläßt, sondern den trügerischen Geist einführt, läßt sich durch den funktionalen Mehrgewinn erklären: Gott taugt nicht zum Gegenspieler, da er nicht ohne Bonität zu denken ist. Es bedarf eines genius malignus – oder wie in Goethes Faust: eines Mephistopheles –, um einen geeigneten Widerpart zu haben. Bei Ignatius wie Descartes ist eine Neuordnung des voluntativen und intellektuellen Lebens das Ziel. Die Disziplinierung des unbändigen Willens ist dafür eine Voraussetzung, und von dem Erreichen einer moralischen oder epistemologischen Gewißheit hängt die Neubegründung der gleichsam neugeschaffenen Person ab: »Wie Descartes die ungewissen Überzeugungen, zuletzt die möglichen Täuschungen durch den genius malignus abarbeiten muß, so muß Ignatius die ungeordnete Anhänglichkeit der Seele, zuletzt ihren bösartigen Eigenwillen abarbeiten. Der eine gelangt zur Gewißheit des Bewußtseins, der andere zur Gewißheit des Gewissens.«37 Damit ist in den Blick gekommen, was Descartes von Ignatius übernehmen konnte. Man muß durch den Verweis auf Ignatius nicht die Originalität der cartesischen Meditationes in Frage stellen, da ihre Nähe zu den Exercitia keine
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Exercitia spiritualia, n. 32 (MHSI 100, 172): »… el vno que viene del buen espíritu, y el otro del malo …« 34 Vgl. Exercitia spiritualia, n. 12, n. 314, n. 324, n. 325, n. 326. 35 Vgl. K. Ruhstorfer, Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola, Freiburg/Basel/Wien 1998, 252 f. 36 Vgl. H. Rahner, »›Werdet kundige Geldwechsler‹. Zur Geschichte der Lehre des heiligen Ignatius von der Unterscheidung der Geister«, in: F. Wulf (Hg.), Ignatius von Loyola. Seine geistliche Gestalt und sein Vermächtnis. 1556–1956, Würzburg 1956, 301–341. 37 K. Ruhstorfer, Das Prinzip ignatianischen Denkens, a. a. O., 97 f.
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Abhängigkeit ist, sondern eher eine von Ignatius inspirierte Spiegelung.38 Was Descartes den Exercitia vielleicht am ehesten verdankt, sind die beschriebenen strukturellen Vorgaben – wie die Konzeption der Meditationen in Tageseinheiten – und die Grundidee, durch philosophische Exerzitien eine grundsätzliche Neuausrichtung des Menschen, gleichsam seine Neuschöpfung, zu erreichen. Für Descartes bieten daher die Meditationen, die sich von Quaestionen oder Disputationen ausdrücklich absetzen sollen, die Form, eine Inauguration der humanen Rationalität innerhalb der Metaphysik durchzuführen, nachdem er diese Inauguration innerhalb der Physik durch seine kosmogenetische Fabel geleistet hat. Die zweite Schöpfung als die Geburt des rationalen Menschen geschieht durch die Rationalität selbst: Die cartesische Epoché besteht in der Entscheidung, sich gänzlich nach der Rationalität auszurichten. Darin besteht sicherlich eine Hauptdifferenz zu Ignatius, dessen stringente Methodik zwar der Rationalität nicht entbehrt, sie aber nicht zum Ziel hat.39 Hatten die ignatianischen Exerzitien das Ziel, die Entscheidung zu begünstigen, sich ganz vom Willen Gottes bestimmen zu lassen und als psychisches Merkmal der Entschiedenheit die Erfahrung des Trostes zu ermöglichen, geben die cartesischen Meditationes gleichsam ein säkularisiertes Pendant ab: Sie sollen zu einer »intellektuellen Erlösung«40 verhelfen. Waren die Exercitia eine »Arbeit am Menschen«,41 der sich als ein Geschaffener zu verstehen hat,42 sind die Meditationes selbst eine philoso-
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W. J. Stohrer, »Descartes and Ignatius Loyola: La Flèche and Manresa Revisited«, in: Journal of the History of Philosophy 17 (1979), 11–27, hier 26: »The Cartesian-Ignatian relation seems to be a flexible bond suggesting analogy and adaptation, rather than a unity grounded in univocity or identity.« 39 Gottfried Maron urteilt in seiner Studie Ignatius von Loyola. Mystik – Theologie – Kirche, Göttingen 2001, 225, mit Blick auf Descartes: »Innerhalb des gesamten kirchlichen Bereichs dürfte Ignatius von Loyola durch seinen Orden, durch die Exerzitien und die Kollegien einer der bedeutendsten und wirkungsvollsten Lehrer menschlicher Rationalität an der Schwelle der Neuzeit gewesen sein, dessen Auswirkungen auf die neuzeitliche Geistesgeschichte noch kaum in den Blick genommen worden sind.« So weit auch die strukturellen Analogien zwischen Ignatius und Descartes reichen mögen, ist es kaum zulässig, im cartesischen Rationalismus eine konsequente Weiterentwickling der der ignatianischen Methode impliziten Rationalismen zu sehen. Descartes hatte die ignatianischen Rationalismen nicht zu entfalten, sondern sie dienten ihm allenfalls dazu, die Idee eines Neuanfangs mitzubestimmen und zu formen. Dieser Neuanfang ist – bei aller Herkünftigkeit – ein Sprung und keine Fortsetzung. 40 H. G. Frankfurt, Demons, Dreamers, and Madmen, a. a. O., 4: »Descartes’s aim is to guide the reader to intellectual salvation by recounting his own discovery of reason and his escape thereby from the benighted reliance on his senses, which had formerly entrapped him in uncertainty and error.« 41 Vgl. G. Maron, Ignatius von Loyola, a. a. O., 202–216. 42 Das »Prinzip oder Fundament« (principium sive fundmentum) der Exercitia beginnt auf
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phische Erschaffung eines neuen Menschen für »eine andere, ganz neue Welt«.43 Die Bedingung für die Ausbildung der Idee eines derartigen Neuanfangs ist die Kontingenz der Situation.
§ 25 Die Kontingenz der Situation und das reinigende Instrument des Zweifels Eine Situation ist das Resultat einer Lage, in der man sich befindet, und der Freiheit, auf sie zu reagieren.44 Es zeichnet die cartesischen Meditationen aus, in einem besonderen Maß ein Bewußtsein für die philosophische Relevanz der Situation zu besitzen. Bereits für den Discours waren die kontingenten Ereignisse von Descartes’ Biographie ein bestimmendes Strukturmoment der Erzählung. Gipfelte die Anschaulichkeit der Beschreibung zu Beginn des zweiten Teils in der Erwähnung der warmen Stube, in die sich Descartes angesichts des hereinbrechenden Winters in der Nähe von Ulm zurückgezogen hatte, um sich in aller Muße »mit meinen Gedanken zu unterhalten«,45 so kehrt diese Situation in der Ersten Meditation wieder, wenn Descartes den Ofen erwähnt, vor dem er sich, mit einem Wintermantel bekleidet, zurückgezogen hat. Man mag das für Illustrationen eines philosophischen Plaudertons halten, tatsächlich ist es mehr: Es verdeutlicht das in Situationsbeschreibungen eingeflossene Bewußtsein von der konstitutiven Kraft vorgefundener oder gewählter Konstellationen für das Philosophieren. Wie ist aber nun die problemgeschichtliche Situation beschaffen, die für die cartesischen Meditationen verbindlich ist? Auf welche Art von Vorgaben reagieren sie? Und wie tun sie es? Der wohl erste Eindruck, der sich bei der Lektüre der Meditationes einstellt, sieht in den cartesischen Reflexionen eine Auseinandersetzung mit skeptischen Motiven. Angesichts des Zweifels an der Gewißheit bisheriger Erkenntnisse scheint sich die Modernität des cartesischen Neuanfangs aus der Tradition des Skeptizismus zu speisen.46 Es kann kaum bezweifelt werden, daß der seit der Renaissance wiedererstarkte antike Skeptizismus Descartes’ prägnante Weise mit der Feststellung: »El hombre es criado« bzw. »Creatus est homo« (n. 23, MHSI 100, 164). 43 Vgl. Monde VI (AT XI, 31), wo Descartes von vn autre tout nouveau Monde spricht. 44 Vgl. J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, (11943) Paris 1987, 544: »… la situation, produit commun de la contingence de l’en-soi et de la liberté, est un phénomène ambigu …« 45 Discours II (AT VI, 11): »… de m’entretenir de mes pensées …« 46 R. H. Popkin, »Scepticism and Modernity«, in: T. Sorell (Hg.), The Rise of Modern Philosophy. The Tension between the New and Traditional Philosophies from Machiavelli to Leibniz, Oxford 1993, 15–32, hier 23: »Descartes made the sceptical problems central to presenting his own ›new‹ philosophy.«
§ 25 Die Kontingenz der Situation und das Instrument des Zweifels
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Aufmerksamkeit gefunden haben dürfte.47 Sein skeptizistisches Programm, in sich zu gehen und einmal alles von Grund auf anzuzweifeln, findet sich in der 1581 erschienenen Schrift Quod nihil scitur des Skeptikers Franciscus Sanchez vorgezeichnet. Sanchez konnte als ein Repräsentant der neu angeeigneten antiken Skepsis angesehen werden – Pierre Bayle nennt ihn un grand Pyrrhonien48 –, und Descartes dürfte seine Schrift gekannt haben. Womöglich hat er sie während seiner Zeit in La Flèche gelesen, oder er könnte während seines Aufenthaltes in Frankfurt zur Krönung Kaiser Ferdinands II. im Jahr 1619 auf die ein Jahr zuvor in Frankfurt erschienene Neuauflage von Quod nihil scitur gestoßen sein.49 Er gebe zu, so Sanchez zu Beginn seiner Schrift, daß einige Schatten der Wahrheit von einigen Leuten widergespiegelt worden seien, aber er finde keine, welche ein Fundament für ein unvoreingenommenes und absolutes Urteil über Dinge biete. So habe er sich in sich gekehrt; er habe begonnen, alles in Zweifel zu ziehen und die Dinge so zu untersuchen, als hätte noch nie jemand etwas über sie gesagt, welches die angemessene Methode sei, Wissen zu erlangen.50 Aristoteles als Repräsentant der Tradition – der Gott der scholastischen Wissenschaft, wie Montaigne ironisierend sagt51 – wird regelrecht vorgeführt: Nachdem Sanchez einige Positionen des Aristoteles referiert hat, fragt er: »Nennst du dies Wissen? Ich nenne es Unwissen.«52 Descartes hat also durchaus zu Recht darauf hingewiesen, er habe in der Ersten Meditation keine von ihm erfundenen Zweifel, sondern vorher von den
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Maßgeblich für die Aufarbeitung des frühneuzeitlichen Skeptizismus ist die Studie von Richard H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley/Los Angeles/London 1979. Vgl. auch R. H. Popkin/Ch. B. Schmitt (Hg.), Scepticism from the Renaissance to the Enlightenment, Wiesbaden 1987. 48 P. Bayle, Artikel »Sanchez (François)«, in: Dictionnaire historique et critique (51740) IV, 133. Sanchez ist für Bayle bereits in den Rang eines Repräsentanten der Skepsis und eines Kritikers der selbstgefälligen Wissenschaften aufgestiegen: »Le Traité Quod nihil scitur représente ingénieusement & subtilement la vanité de ce qu’on appelle Sciences …« (134) 49 Vgl. H. Gouhier, Les premières pensées de Descartes, Paris 1958, 116. 50 F. Sanches, Quod nihil scitur (ed. E. Limbrick/D.F.S. Thomson, 92): »Vmbras quasdam fateor veritatis referebant aliqui: nullum tamen inueni, qui quid de rebus iudicandum sincere, absoluteque proferret. Ad me proinde memetipsum retuli; omniaque in dubium reuocans, ac si a quopiam nil unquam dictum, res ipsas examinare coepi: qui verus est sciendi modus.« 51 Vgl. M. de Montaigne, Essais II 12 (ed. A. Thibaudet/M. Rat, 521), wo Montaigne ausführt, Aristoteles sei der Gott der scholastischen Wissenschaft, dessen Lehre uns als oberstes Gesetz diene, und doch sei sie vielleicht ebenso falsch wie irgendeine andere: »Le Dieu de la science scholastique, c’est Aristote … Sa doctrine nous sert de loy magistrale, qui est à l’avanture autant fauce qu’une autre.« 52 Quod nihil scitur (ed. E. Limbrick/D.F.S. Thomson, 99): »An tu hoc scire vocas? Ego nescire.«
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Skeptikern vorgetragene dargestellt.53 Dennoch war die Nähe des Cartesianismus zum Skeptizismus so unübersehbar, daß Martin Schoock in seinem Buch Admiranda methodus, in Utrecht 1643 erschienen, Descartes ohne Einschränkung als einen Skeptiker darstellen konnte.54 Diese von Descartes’ Widersacher Gisbert Voetius inspirierte Schrift übersah keinesfalls, daß es das Ziel der cartesischen Meditationen war, den Zweifel der Skeptiker zu beseitigen,55 indem sichere Gewißheiten aufgewiesen werden. Aber die Infragestellung der Sinneserkenntnis und die untauglichen Argumente gegen die Skeptiker führten nach Schoocks Ansicht unweigerlich zu einem Skeptizismus und Atheismus. Nimmt man den Skeptizismus als das bestimmende Moment der cartesischen Ausgangssituation, könnte man versucht sein, den methodisch forcierten Zweifel bei Descartes als einen unmittelbaren Reflex auf die Lehre von der Allmacht Gottes zu begreifen. Die Radikalität des Zweifels auch an dem, was zunächst als evident erscheint, würde sich dann aus der Annahme speisen, daß die göttliche Allmacht über den Notwendigkeiten einer logischen oder metaphysischen Wahrheit steht und dadurch jede vernünftige Gewißheit für den Menschen bezweifelbar ist. Wenn Gott sich nicht an das Widerspruchsprinzip zu halten hat, scheint die Bedingung der Möglichkeit humaner Vernunft zerstört zu sein. Mit dieser »konstruierten Möglichkeit, auch die Vernunft zu bezweifeln«, hätte der Zweifel »eine Radikalität erreicht, die unüberbietbar ist«, und die »Ausweitung der Möglichkeit um einer uneingeschränkten göttlichen Allmacht willen« hätte »Konsequenzen, derentwegen kein Philosoph sonst so weit gegangen ist wie Descartes«.56 Es wäre ein theologischer Voluntarismus des Spätmittelalters, der dem von der frühen Neuzeit angeeigneten antiken Skeptizismus eine ungekannte Schärfe verliehen hätte, da so gesehen Descartes »mit der Radikalisierung der nominalistischen potentia absoluta zur Hypothese des genius malignus die Infragestellung der Gewißheit … verschärft«57 hätte. Doch Descartes scheut den bodenlosen Zweifel. Er möchte nicht »den Irrtum, aus dem die Sekte der Skeptiker besteht, nämlich den übermäßigen Zweifel«,58 angelastet bekommen. Seine durchaus weitgehende Bereitschaft, der Allmacht Gottes zum Zeitpunkt der Schöpfung Möglichkeiten jenseits unserer Denk-
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Notae (AT VIII–2, 367): »… ista omnia tanquam dubia, quae non à me primùm fuerunt inventa, sed à Scepticis dudum decantata …« 54 Vgl. Th. Verbeek (Hg.), René Descartes et Martin Schoock. La Querelle d’Utrecht, textes établis, traduits et annotés par Th. Verbeek, préface de J.-L. Marion, Paris 1988. 55 In den Objectiones VII (AT VII, 550) hebt Descartes hervor, er habe als erster den Zweifel aller Skeptiker zerstört: »… Scepticorum dubitationem omnium primus everti …« 56 H. Poser, René Descartes. Eine Einführung, Stuttgart 2003, 60. 57 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 223. 58 Objectiones VII (AT VII, 549): »… unum illum errorem, in quo Scepticorum secta consistit, nempe nimiam dubitationem …«
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barkeit zu attestieren, dient keinesfalls der Infragestellung aktueller rationaler Konstanten, sondern dem Aufweis der Kontingenz ihrer Notwendigkeit.59 Auch wenn er kurz in der Ersten Meditation von der Möglichkeit eines trügerischen Gottes spricht, wandelt er ihn doch umgehend in einen bösen Dämon, einen genius malignus, um. Diese Umbesetzung entspringt keinem Akt der Pietät, sondern verdeutlicht den eindeutig funktionalen Aspekt des Versuchers, der den methodischen Zweifel antreiben soll. Der cartesische Skeptizismus besitzt nicht allein einen methodischen, sondern mehr noch einen hochgradig instrumentellen Charakter. Er zeugt daher nicht von einer existentiellen Unruhe. Thomas Reid hat die Ansicht vertreten, Descartes habe niemals seine eigene Existenz tatsächlich in Frage gestellt; er habe uns nur Glauben machen wollen, daß er durch das cogito, ergo sum das Delirium des Zweifelns hinter sich gelassen hat.60 Wenn sich der cartesische Zweifel aber nicht aus voluntaristischen Allmachtsspekulationen ableiten können lassen soll, woher bezieht er dann den Impuls seiner unüberbietbaren Wirksamkeit in den Meditationen? Erst wenn man dem sanften Zwang widersteht, aufgrund der schlagkräftigen Plausibilität in dem deus malignus oder dem genius malignus die experimentelle Übersetzung des spätmittelalterlichen Gottesbegriffs zu sehen, wird der Blick frei für die Situation, aus der heraus der instrumentalisierte Zweifel seine Motivation bezieht. Die cartesische Ausgangssituation wird zunächst durch zwei Kontingenzen bestimmt: die Kontingenz der Tradition und die Kontingenz der Leib-Seele-Verbindung. Darüber hinaus wird der Anfang des cartesischen Rationalismus von der Kontingenz der Situation als Situation bestimmt. Geht man diese drei Aspekte der Reihe nach durch, wird die läuternde Funktion eines methodisch eingesetzten Skeptizismus erkennbar, der die Situation nicht ausmacht, sondern die Reaktion auf sie darstellt. Das, was Descartes und seine Zeitgenossen als tradiertes Wissen vor Augen hatten, war vornehmlich ein scholastischer Aristotelismus.61 Die Kritik an ihm ist ein Grundzug der sich neu formierenden Philosophie und Wissenschaft. Hatte bereits Petrarca an der Übermacht des scholastischen Aristotelismus kritisiert, einige seiner Zeitgenossen verehrten Aristoteles wie einen Gott,62 läßt Gior59 60
Vgl. § 14. Th. Reid, An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (11764), ch. I, sect. 3 (Philosophical Works I, 100): »Des Cartes, indeed, would make us believe that he got out of this delirium by this logical argument, Cogito, ergo sum; but it is evident he was in his senses all the time, and never seriously doubted of his existence …« 61 Zum aristotelisch dominierten Lehrplan der philosophischen Ausbildung in La Flèche vgl. R. Ariew, Descartes and the last Scholastics, Ithaca/London 1999, 9. 62 Vgl. R. Imbach, »Virtus illiterata. Zur philosophischen Bedeutung der Scholastikkritik in Petrarcas Schrift ›De sui ipsius et multorum ignorantia‹«, in: J. A. Aertsen/M. Pickavé (Hg.), »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, a. a. O., 84–104.
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dano Bruno im zweiten moralischen Dialog Cabala del cavallo pegaseo Aristoteles sich dafür entschuldigen, daß er soviel Dummheit verbreitet habe. Hatte sich schon bei Montaigne die Kritik an der Tradition zu einer generellen Kritik am Bücherwissen gesteigert, wenn er von den »bücherbeladenen Eseln«63 spricht, die – anstatt sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen – das Wissen aus alten Büchern beziehen, so kann auch Descartes vorgeben, er besitze keine Bücher, und wenn er welche hätte, würde er sehr die Zeit bereuen, die er mit ihrer Lektüre verbrächte.64 Francis Bacon führt im Rahmen seiner Kritik an den die Menschen beherrschenden Vorurteilen an, es gebe Idole, welche in den Geist des Menschen aus den verschiedenen dogmatischen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen eingedrungen seien.65 In diesem Sinne ist auch für Descartes die Tradition vor allem eines: eine Quelle von Vorurteilen. Die Situation, in der sich der Cartesianismus vorfindet, ist somit nicht von der Tradition der Skepsis bestimmt, sondern von einer Skepsis gegenüber der Tradition. Die epistemologische Ausgangssituation ist ein Skandal: Sowohl die Meditationes als auch die Principia und Le Monde beginnen dezidiert in ihren ersten Sätzen mit einer Skizzierung von falschen Urteilen, in die wir verstrickt sind. Das Ausmaß ist so horrend, daß die Anthropologie davon in einem Grad betroffen ist, daß sie zu einem Fall der Theodizee wird. Der Discours beginnt scheinbar optimistisch, wenn Descartes den gesunden Verstand (le bon sens, bona mens) als die bestverteilte Sache der Welt beschreibt. Die Ironie folgt auf dem Fuße, »denn jedermann glaubt, so wohl damit versehen zu sein, daß selbst einer, der in allen anderen Dingen nur sehr schwer zu befriedigen ist, für gewöhnlich nicht mehr davon wünscht, als er besitzt«.66 Im Gespräch mit Burman erläutert er diese Stelle und kann den Spott kaum verbergen, denn »alle gefallen sich in ihren Ansichten, und so viele Köpfe es gibt, so viele Meinungen. Und eben das versteht der Autor hier unter dem ›Vermögen, richtig zu urteilen‹.«67 Damit
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M. de Montaigne, Essais I 26 (ed. A. Thibaudet/M. Rat, 177): »… des asnes chargez de livres …« 64 Brief an Mersenne, 10. Mai 1632 (AT I, 251): »… & comme vous sçauez que ie n’ay point de liures, & encore que i’en eusse, que ie plaindrois fort le temps que i’emploirois à les lire …« An Elisabeth schreibt er in einem Brief vom 3. November 1645 (AT IV, 330), es komme selten vor, daß er auf vernünftige Überlegungen in Büchern stoße: »Il m’arriue si peu souuent de rencontrer de bons raisonnemens … dans le liures que ie consulte …« 65 F. Bacon, Novum Organum I 44 (The Works I, 164): »Sunt denique Idola quae immigrarunt in animos hominum ex diversis dogmatibus philosophiarum …« 66 Discours I (AT VI, 1 f.): »… car chascun pense en estre si bien pouruû, que ceux mesme qui sont les plus difficiles a contenter en toute autre chose, n’ont point coustume d’en desirer plus qu’ils en ont.« 67 Burman (AT V, 175): »… omnibus arrident suae sententiae, et quot capita tot sensus. Et hoc per bonam mentem hîc intelligit auctor.«
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ist ein szientistischer Atomismus unverbundener und ungesicherter Meinungen diagnostiziert, der nicht einzelne Lehren, sondern die gesamte Tradition deklassiert. Schon auf der Schule habe er gelernt, »daß man sich nichts so Sonderbares und Unglaubliches ausdenken kann, was nicht schon von irgendeinem Philosophen behauptet worden wäre«.68 Während er sich außerhalb der rhetorisch zugespitzten Traditionsschelte durchaus positiv über La Flèche äußert,69 stilisiert er werkintern die Tradition zu einem Tollhaus und Kuriositätenkabinett. Die cartesische Traditionskritik gewinnt dabei ihre Schärfe durch die modale Beurteilung der Wissensbestände. Für Descartes stellen die vorgefundenen Traditionsbestände eine kontingente Faktizität dar, da sie nicht der Notwendigkeit einer gesicherten Methode nach dem Vorbild der Mathematik entstammen. Das Wissen der Tradition beruht auf Urteilen vor ihrer angemessenen Prüfung (ante sufficiente examine). Descartes spricht nicht von der traditio oder der historia, nur gelegentlich von der Schulphilosophie: der Philosophie de l’Ecole. Dennoch nutzt er das schon von Augustinus verwendete Modell, die menschlichen Lebensalter in eine Analogie zu Epochen der Weltgeschichte zu setzen, allerdings in denkbar reduziertester Form: Die gesamte Tradition vor der erwachsenen Ernsthaftigkeit der cartesischen Wissenschaft im Sinne einer laboriosa vigilia wird zur ›Kindheit‹ oder ›Jugend‹. Unsere Irrtümer entstammen »den schlechten Vorurteilen unserer Kindheit« (des faux préiugez de nostre enfance) 70 und der Schwäche – wie die Erste Meditation beginnt –, in der Jugend zuviel Falsches als Wahres zugelassen zu haben. So findet sich Descartes durch das in der Kindheit Gelernte »in Zweifel und Irrtümer verstrickt«.71 Die Geschichtlichkeit der Philosophie und ihre Präsenz als Tradition wird bei Descartes nur innerhalb der enggeführten Metaphorik der Lebensalter ausdrücklich, um die Bereitschaft zu erhöhen, sich von den ›Jugendsünden‹ loszusagen und somit die Notwendigkeit einer Revolution der Wissenschaften auf das handhabbarere Maß der willentlichen Epoché innerhalb des eigenen Lebens reduzieren zu können. Damit findet das cartesische Programm des radikalen Neubeginns, einmal im Leben alles von Grund auf umzustoßen, seinen Anschluß an die ignatianische Exerzitienpraxis, durch ein Examen der eigenen Triebkräfte eine grundlegende Neuausrichtung des eigenen Lebens zu erreichen. 68
Discours II (AT VI, 16): »… qu’on ne sçauroit rien imaginer de si estrange & si peu croyable, qu’il n’ait esté dit par quelqu’vn des Philosophes …« 69 Vgl. Brief an Unbekannt, 12. September 1638 (AT II, 377 ff.). 70 Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 114). Vgl. auch den Brief an Launay, (22. Juli 1641 ?) (AT III, 420), in dem Descartes die ersten Urteile unserer Kindheit und der gewöhnlichen Philosophie zuordnet: »… les premiers iugemens que nous auons faits dés nostre enfance, & depuis aussi la Philosophie vulgaire …« 71 Discours I (AT VI, 4): »… ie me trouuois embarassé de tant de doutes & d’erreurs …«
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Wie sich der von einem Exerzitienmeister Geführte von den Sünden seines bisherigen Lebens lossagen soll, so verlangt der cartesische Rationalismus die Abkehr von der Geschichte des Wissens. Diese Geschichte, die Descartes ohne Differenzierung als ›Schulphilosophie‹ zusammenfaßt, ist ihm im Grunde nicht einmal eine Diskussion wert, da er sich in der Lage sieht, sie mit leichter Hand wegzuwischen: »Was die Schulphilosophie betrifft, so halte ich sie wegen der Verschiedenheiten ihrer Meinungen keinesfalls für schwer widerlegbar, denn man kann leicht alle Grundlagen umstürzen, über die sie sich untereinander einig sind; und danach erscheinen alle ihre besonderen Streitigkeiten als albern.«72 Das Programm des cartesischen Rationalismus ist das eines aktiven Vergessens, Teil einer ars oblivionis.73 Descartes hat das Verhältnis des Rationalismus zur Geschichte in der Bemerkung zusammengefaßt, »daß für die Wissenschaften insgesamt überhaupt kein Gedächtnis nötig ist«.74 Die tabula rasa ist das Ideal des Cartesianismus, die rigorose Inventur der vorgefundenen Wissensbestände das Zugeständnis, daß es unbedingte Anfänge nicht gibt. Fortan sollen allein diejenigen Tatbestände als gesicherte Erkenntnisse gelten, denen angesichts der methodischen Prüfung eine notwendige Zustimmung nicht verwehrt werden kann. Damit wird die Memoria überkommener Wissensbestände überflüssig, wie er bei der Erläuterung der Differenz von Historie und Wissenschaft kenntlich macht: »Unter Historie verstehe ich all das, was schon gefunden und in Büchern enthalten ist. Unter Wissenschaft aber die Kenntnis, alle Fragen zu lösen und so mit eigenem Fleiß all das zu erfinden, was vom menschlichen Geist in dieser Wissenschaft erfunden werden kann; wer diese hat, bedarf nicht sonderlich viel an Fremden, er wird recht eigentlich autark genannt.«75 Cartesischer Rationalismus ist die Überwindung kontingenten Wissens durch die Schaffung notwendigen Wissens. Man mag Zweifel anmelden, ob Descartes unausdrücklich die Modalität der Kontingenz tatsächlich schon auf die Geschichte angewendet hat. Das Sein ist
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Brief an Mersenne, 11. November 1640 (AT III, 231 f.): »Pour la Philosophie de l’Ecole, ie ne la tiens nullement difficile à refuter, à cause des diuersitez de leurs opinions; car on peut aisement renuerser tous les fondemens desquels ils sont d’accord entr’eux; & cela fait, toutes leurs disputes particulieres paroissent ineptes.« 73 Vgl. H. Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, 79–83. Ein äußerlicher Beleg für dieses aktive Vergessen ist die notorische Verschwiegenheit Descartes’ gegenüber den ihn inspirierenden Quellen: Descartes zitiert nicht. 74 Cogitationes (AT X, 230): »… patet nullâ opus esse memoriâ ad scientias omnes …« 75 Brief an Hogelande, 8. Februar 1640 (AT III, 722 f.): »Per Historiam intelligo illud omne quod jam inventum est, atque in libris continetur. Per Scientiam verò, peritiam quaestiones omnes resolvendi, atque adeo inveniendi propriâ industriâ illud omne quod ab humano ingenio in eâ scientiâ potest inveniri; quam qui habet, non sane multum aliena desiderat, atque adeo valde proprie ατáρκης appellatur.«
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für ihn kontingent. Wird ihm aber auch schon die Geschichte in einem modernen Sinn zu einem Inbegriff der Kontingenz, da sie weder einer göttlichen Vorsehung folgt, noch von einer absoluten Vernunft beherrscht wird? So weit wird man nicht gehen müssen, aber die generelle Infragestellung des gesamten tradierten Wissens durch den Hinweis, es sei auf falschen Fundamenten aufgebaut worden, impliziert den Vorwurf der Kontingenz des Wissens. Das bislang erworbene Wissen, so Descartes, gleiche einem mißratenen Haus, dessen Fundamente nicht fest sind.76 Er vergleicht das tradierte Wissen auch mit alten Städten, deren Straßenführung krumm und uneben und deren Häuser im Ensemble unproportional seien. Den Grund dafür sieht er darin, »daß sie eher der Zufall (la fortune) so verteilt hat und nicht die Absicht vernünftiger Menschen«.77 Das tradierte Wissen ist okkasionell. Führt man sich das von Descartes entworfene Szenario tradierten Wissens vor Augen, ist es eher die Kontingenz der Wissensbestände als das Wissen um skeptizistische Probleme, von denen die Meditationes angetrieben werden. Spätestens seit der kopernikanischen Wende haben die tradierten Urteile der Tradition ihre normative Kraft eingebüßt, da alles, was sie als Erkenntnis ausgeben, auch anders sein könnte. Wir stehen somit zur Tradition in einem kontingenten Verhältnis: Sie ist das hinter uns Liegende, ohne daß ihre Faktizität den Anspruch einer verbindlichen Notwendigkeit erheben könnte. Schon Sanchez hat seine philosophischen Kontemplationen mit einer Art von Medizin verglichen,78 so daß man seinen Ansatz einen konstruktiven Skeptizismus nennen könnte. Für Descartes hat der radikale, methodische und instrumentalisierte Zweifel – von den ignatianischen Exerzitien inspiriert – einen purgativen Charakter. Der cartesische Zweifel ist so gesehen eine Form von Kontingenzbewältigung. Damit ist das inspirierende Moment einer voluntaristischen Gottesvorstellung nicht geleugnet, aber doch in die zweite Reihe verwiesen. Descartes bedient sich ihrer, ohne von ihr ausschließlich bestimmt zu sein. Um die Fruchtbarkeit eines instrumentellen Skeptizismus angesichts einer problematisch gewordenen Tradition zur Kenntnis nehmen zu können, bedarf es zunächst einer Bestimmung seiner Konnotierung. Die erwähnten Deutungen, die den genius malignus aus einem theologischen Despotismus ableiten, argumentieren im Grunde mit einem Katastrophenmodell: Es ist der übermächtige Gott, dessen uneingeschränkte Möglichkeiten die Erhaltungsbedingungen der humanen Vernunft destruieren und eine Ohnmacht provozieren. Das Procedere der skeptischen Einwände ist demnach die bestürzende Zurkenntnisnahme der 76
Recherche (X, 509). Dort sagt Descartes über das tradierte Wissen: »… je la tiens pour quelque maison mal bastie, de qui les fondemans ne sont pas assurés.« 77 Discours II (AT VI, 12): »… que c’est plutost la fortune, que la volonté de quelques hommes vsans de raison, qui les a ainsi disposez.« 78 F. Sanches, Quod nihil scitur (ed. E. Limbrick/D.F.S. Thomson, 94).
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Erosion eigener Gewißheiten. Erst im cogito-Argument kann das Wegbrechen von Verläßlichkeiten aufgehalten und durch einen mühsamen Beweis der Güte Gottes allmählich umgekehrt werden, indem das Terrain des Wissens neu abgesichert wird. Diese Konnotierung des frühneuzeitlichen Skeptizismus als Bedrohung legitimer Erkenntnisansprüche ist aber so wenig zwingend, wie die kopernikanische Wende als eine Weltbildkatastrophe angesehen werden muß. Symbolisierte der Kopernikanismus für die frühneuzeitlichen Autoren vielmehr den Triumph über die Tradition, so kommt auch dem Skeptizismus eine Neubegründungsfunktion zu. Bei Giordano Bruno findet sich das euphorische Moment eines instrumentalisierten Zweifels exemplarisch ausgedrückt. In seinem Dialog Spaccio de la bestia trionfante von 1584 schildert Giordano Bruno auf satirische Weise den Versuch der griechischen Götter, durch eine Reform des Himmels eine moralische Wende herbeizuführen. Die klassischen Sternenbilder seien – und der Mnemotechniker Bruno argumentiert hier mit der repräsentierenden Idee des Bildes – Ausdruck unmoralischer Handlungen, Verstrickungen und Geschichten. Sie seien vom Himmel zu entfernen, damit geläuterte Tugendbegriffe ihren Platz einzunehmen vermöchten. Die Reform der Moral ist somit im noch entfernt platonisch verstandenen Verhältnis von Sternenwelt und Normativität eine Reinigung des Inneren des Menschen und des äußeren Himmels als Verkörperung des Moralischen. Im Fortgang der Geschichte von der Erneuerung der Moral wird Orion vom Himmel auf die Erde geschickt, um die Menschen glauben zu machen, weiß sei schwarz, das Gute sei schlecht, das Erkennen sei Blindheit usf. Damit kehrt scheinbar das Motiv des spätmittelalterlichen Voluntarismus wieder, demzufolge der allmächtige Gott als die mögliche Quelle kaum durchschaubarer Täuschungen zu erwägen ist. Tatsächlich steht Orion für einen gleichsam allmächtigen Herrscher: für Petrus und damit für den römischen Papst. Ignatius von Loyola formuliert ausdrücklich mit Blick auf die Kirche: »Wenn sie von etwas, das unseren Augen weiß erscheint, definiert, daß es schwarz sei, müssen wir ebenfalls aussagen, daß es schwarz sei.«79 Im Gegensatz dazu ist an dem von Bruno verwendeten Motiv der Täuschung entscheidend, daß der Zweifel an dem für gewiß Gehaltenen zur Aufklärung und Befreiung, ja zur Bedingung der Möglichkeit eines moralischen Neuanfangs wird. Erst durch die völlige Infragestellung des Wertekanons wird der Weg zu einer moralischen Grundsatzreform frei. Es gehört zu Brunos systematischer Schwäche, nicht angeben zu können, wie sich nach der Destruktion der nor-
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Ignatius von Loyola, Exercitia spiritualia, n. 365 (MHSI 100, 412): »… si quid, quod oculis nostris apparet album, nigrum illa esse difinierit, debemus itidem quod nigrum sit pronuntiare.«
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mativen, aber korrumpierten Wertvorstellungen neue Moralvorstellungen verbindlich sollen einführen lassen. Aber an diesem Beispiel wird deutlich, worin der Reiz des funktionalisierten Zweifels bestehen kann: Er ist das Instrument, eine tabula rasa zu schaffen. Descartes ist nicht an einer moralischen, aber an einer epistemologischen Erneuerung interessiert. Die faktische Publikationsgeschichte der cartesischen Werke, die im allgemeinen Bewußtsein die Skeptizismen des Discours und der Meditationes als einen Anfang des cartesischen Denkens verankert hat, überdeckt, daß Descartes seine Physik bereits formuliert hat, bevor er beginnt, die Metaphysik durch einen instrumentalisierten Zweifel zu reformulieren. Es ist für Descartes kein nebensächliches Ziel, durch seine metaphysischen Meditationen der seit der Verurteilung von Galilei prekär gewordenen Publikation von Le Monde Boden zu bereiten. Aufschlußreich ist jene Passage aus einem Brief an Mersenne, auf die bereits hingewiesen wurde: »… und ich will Ihnen unter uns sagen, daß diese sechs Meditationen sämtliche Grundlagen meiner Physik enthalten. Man darf es aber bitte nicht sagen, denn diejenigen, die Aristoteles begünstigen, würden dann vielleicht mehr Schwierigkeiten machen, sie zu billigen. Und ich hoffe, daß diejenigen, die sie lesen, sich unmerklich an meine Prinzipien gewöhnen und ihre Wahrheit einsehen werden, ehe sie bemerken, daß sie die des Aristoteles zerstören.«80 Deutlicher wird man die instrumentalisierte Funktion des Zweifels als Methode der Traditionskritik nicht vor Augen bekommen. In seinem Dialog La Recherche de la vérité bezeichnet Descartes die Zweifel als Gespenster und Trugbilder (fantosmes & vaines images),81 vor denen man nur so lange Angst habe, bis man sich ihnen nähere. Diese metaphorische Entspannung der Bedrohlichkeit des Zweifels findet seine Ergänzung in dem Hinweis, er wolle von dem universalen Zweifel »als von einem festen und unbeweglichen Punkt«82 – also im Sinne des Archimedes – Gebrauch machen. Der cartesische Zweifel der Meditationes ist weniger Selbstausdruck des von Ungewißheiten geplagten Autors als vielmehr ein Instrument des philosophischen Exerzitienmeisters, den Leser von der Macht der Tradition zu befreien.83 Die Meditationes sind eine
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Brief an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 297 f.). Recherche (AT X, 513). Recherche (AT X, 515): »… veluti è fixo immobilique puncto …« Vgl. R. H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, a. a. O., 177: »The basis for a complete scepticism was provided in order to shock the audience and get them to seek for absolute certainty.« Descartes greift im sechsten Teil des Discours (AT VI, 67) zur Illustration seiner skeptizistischen Traditionskritik auch zu der martialischen Metapher, man habe Schlachten zu schlagen, wenn man versuche, all die Schwierigkeiten und Irrtümer zu besiegen, die uns daran hindern, zur Erkenntnis der Wahrheit vorzustoßen: »Car c’est veritablement donner des batailles, que de tascher a vaincre toutes les difficultez & les
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»skeptische Therapie«.84 Sie sind gleichsam ein Purgatorium, das durch philosophische Meditationen von der Sünde des Irrtums befreien und einen neuen Menschen ermöglichen soll. Es ist kein Zufall, daß dieser neue Mensch kein Empirist ist. Um es sein zu können, hätte Descartes den Sinnen mehr Vertrauen schenken müssen, aber für ihn sind die Sinne trügerisch.85 Gleichsam in Analogie zur Schelte an der Tradition, für ihn ein Dickicht widersprüchlicher Meinungen, ist für ihn die sinnliche Wahrnehmung oftmals recht dunkel und verworren.86 Der umfassende Zweifel auch an der Sinneswahrnehmung hat daher zum Ziel, »daß er uns von allen Vorurteilen befreit und einen sehr leichten Weg erschließt, um den Geist von den Sinnen wegzuführen«.87 Descartes’ Kritik an der sinnlichen Wahrnehmung orientiert sich nicht an trügerischen Einzelfällen, auf die die skeptische Tradition stets hingewiesen hatte, sondern sie stellt die Sinnlichkeit grundsätzlich unter einen Generalverdacht. Das ist zunächst unverständlich. Zum einen steht der cartesischen Skepsis das Diktum der aristotelischen Tradition entgegen, daß nichts im Intellekt sein kann, das nicht zuvor in den Sinnen war: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Warum und wie soll dann der Geist von den Sinnen weggeführt werden? Und zum anderen behauptet die wohl schon von Nicolaus von Autrecourt antizipierte Tradition des Empirismus – allen täuschenden Einzelfällen zum Trotz – gerade eine Gewißheit der sinnlichen Akte, wenn Nicolaus darauf beharrt, »daß ich mit Evidenz der Gegenstände der fünf Sinne und meiner Akte sicher bin«.88 Diese Apologie der Sinne findet bei Locke seine pointierte Fortsetzung, wenn er gegen Descartes formuliert, der menschliche Geist sei wie ein unbeschriebenes Blatt ohne Schriftzeichen, frei von allen Ideen (white Paper, void of all Characters, without any Ideas).89 Erst die Erfahrung begründe unsere gesamte Erkenntnis erreurs, qui nous empeschent de paruenir al la connoissance de la verité …« Der methodische Zweifel ist Descartes’ Waffe. 84 Vgl. D. Garber, »Semel in vita: The Scientific Background to Descartes’ Meditations«, in: A. Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Descartes’ Meditations, Berkeley/Los Angeles/London 1986, 81–116, 91, wo Garber die Funktion des cartesischen Zweifels als »skeptical therapy« resümiert und betont, »that the Meditations must be read not merely as a philosophical project to defeat skepticism but, more generally, as an epistemological preparation for science.« 85 Vgl. die Beispiele, die Descartes in der Sechsten Meditation bringt (AT VII, 76 f.). 86 Meditationes VI (AT VII, 80): »… quoniam ista sensuum comprehensio in multis valde obscura est & confusa …« 87 Meditationes, Synopsis (AT VII, 12): »… quòd ab omnibus praejudiciis nos liberet, viamque facillimam sternat ad mentem a sensibus abducendam …« 88 Nicolaus von Autrecourt, Epistole: Prima epistola ad Bernardum (ed. R. Imbach/D. Perler, 12): »… quod sum certus evidenter de obiectis quinque sensuum et de actibus meis …« 89 J. Locke, An Essay concerning Human Understanding II, ch. 1, § 2 (ed. P. H. Nidditch, 104).
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und fülle das leere Blatt mit dem Material des Denkens. Es ist also keinesfalls selbstverständlich oder sogar naheliegend, in Kenntnis von Neoskeptizismen und angesichts von Erfahrungsunzuverlässigkeiten eine programmatische Wegführung des Geistes von den Sinnen zu fordern. Es sind nun sicherlich verschiedene Gründe, die den cartesischen Rationalismus zu einer fundamentalen Empirismuskritik geführt haben, auf einen kommt es an dieser Stelle besonders an: Im Rahmen des cartesischen Leib-Seele-Dualismus vereitelt die Kontingenz der Leibhaftigkeit des Menschen, daß sinnlich vermittelte Eindrücke von Wirklichem den Status notwendiger Erkenntnisse erreichen. Es ist die Unaufhebbarkeit der leiblichen Kontingenz, die die generelle Infragestellung der sinnlichen Wahrnehmung fundiert. Diese Interpretation scheint umgehend in einer Sackgasse zu enden. In einem Brief an Regius betont Descartes, der Mensch sei als ein Kompositum aus Leib und Geist real und substantiell eine Einheit und somit ein ens per se und kein ens per accidens.90 Die Leibhaftigkeit ist demnach kein kontingentes Faktum, sondern Bestandteil einer notwendigen Einheit von Körper und Geist. Doch das Verhältnis beider ist differenzierter, als es diese Stelle in dem Brief an Regius zunächst erscheinen läßt. Descartes ist gezwungen, deren Relation oszillierend zu beschreiben. Grundsätzlich bilden Geist und Körper eine enge Einheit: Die Seele ist mit dem ganzen Körper verbunden,91 und das auf eine Weise, »daß ich in meinem Körper nicht nur anwesend bin wie ein Seemann auf einem Schiff anwesend ist, sondern daß ich mit ihm sehr eng verbunden und gleichsam vermischt bin, so sehr, daß ich mit ihm eine Einheit bilde«.92 Auf der anderen Seite ist der Unterschied zwischen dem Körper als einer ausgedehnten und dem Geist als einer denkenden Substanz so groß, daß Descartes betont, nach der Idee, die wir von Gott haben, und die äußerst verschieden von all denen ist, die wir von den geschaffenen Dingen besitzen, kenne er keine zwei
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Brief an Regius, Januar 1642 (AT III, 493), in dem Descartes Regius als Vertreter seiner Philosophie an der Utrechter Universität angesichts der Angriffe durch Gisbert Voetius instruiert und ihm diktiert, welche cartesische Position er privat und öffentlich einnehmen soll: »Atque omnino vbicumque occurret occasio, tam priuatim quàm publicè, debes profiteri te credere hominem esse verum ens per se, non autem per accidens, & mentem corpori realiter & substantialiter esse vnitam …« 91 Vgl. Passions I, art. 30. 92 Meditationes VI (AT VII, 81): »… me non tantùm adesse meo corpori ut nauta adest navigio, sed illi arctissime esse conjunctum & quasi permixtum, adeo ut unum quid cum illo componam.« Descartes hat dieses Beispiel bereits im fünften Teil des Discours (AT VI, 59) gebracht, die Wiederholung unterstreicht dessen Bedeutung. Vielleicht setzt er sich bewußt von Jacopo Zabarella ab, den er gekannt haben wird: John Herman Randall hat darauf hingewiesen, daß sich die Metapher, nach der der Geist den Leib lenkt wie ein Steuermann sein Schiff, bereits bei Zabarella in dessen Schrift De rebus naturalibus (Venedig
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anderen in der gesamten Natur, die so verschieden sind, wie jene beiden.93 Wir besitzen eine Seele, die eine Einheit ohne anzunehmende Seelenteile bildet.94 Das führt zu dem gravierenden Unterschied, »daß der Körper seiner Natur nach stets teilbar, der Geist hingegen gänzlich unteilbar ist«.95 So kommt Descartes zu dem Argument der Unsterblichkeit der Seele, da unsere Seele ihrer Natur nach vollkommen unabhängig vom Leib und somit nicht mit ihm zu sterben bestimmt ist.96 Für ihn »ist gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann«.97 Descartes betont also beides: die enge Einheit und die strikte Unterschiedenheit von Körper und Geist, ihre funktionale Homogenität und substantielle Heterogenität. Das hat in der Auseinandersetzung mit diesem dualistischen Modell vor allem zu der Frage geführt, wie gedacht werden kann, daß zwei völlig verschiedene Substanzen sich beeinflussen können und ob die cartesischen Kausalitätsvorstellungen in diesem Punkt und überhaupt die Annahme eines Dualismus überzeugen.98 Descartes selbst hat die Wechselwirkung von Körper und Geist einerseits im Rahmen seiner Physiologie mit Hilfe der Annahme von Lebensgeistern (esprits animaux) und ihrem Einwirken auf die Zirbeldrüse zu erläutern versucht. Er scheint andererseits deren funktionale Einheit in Analogie zum aristotelischen Hylemorphismus gedacht zu haben, ohne freilich dessen metaphysischen Grundannahmen zu teilen.99 An dieser Stelle kommt es allein auf den modalen Status der Verbindung von Körper und Geist an. Zwar ist der Mensch als Mensch eine notwendige Verbin1590, liber XXVII, cap. 3) findet; siehe E. Cassirer/P. O. Kristeller/J. H. Randall (Hg.), The Renaissance Philosophy of Man, Chicago 1948, 261. 93 Brief an de Launay, (22. Juli 1641 ?) (AT III, 421): »… en forte qu’aprés l’idée que nous auons de Dieu, qui est extremement diuerse de toutes celles que nous auons des choses creées, ie n’en sçache point deux en toute la nature, qui soient si diuerses que ces deux là.« 94 Passions I, art. 47 (AT XI, 364): »Car il n’y a en nous qu’une seule ame, & cette ame n’a en soy aucune diversité de parties …« 95 Meditationes VI (AT VII, 85 f.): »… quòd corpus ex naturâ suâ sit semper divisibile, mens autem plane indivisibilis …« 96 Discours V (AT VI, 59): »… que la nostre«, unsere Seele, »est d’vne nature entierement independante du cors, & par consequent, qu’elle n’est point suiette a mourir auec luy …« 97 Meditationes VI (AT VII, 78): »… certum est me a corpore meo revera esse distinctum, & absque illo posse existere.« 98 Vgl. R. Specht, Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966; A. Beckermann, Descartes’ metaphysischer Beweis für den Dualismus, Freiburg/München 1986. 99 Auf Descartes’ Hylemorphismus hat Paul Hoffman hingewiesen: »The Unity of Descartes’s Man«, in: The Philosophical Review 95 (1986), 339–370; vgl. auch D. Perler, Repräsentation bei Descartes, a. a. O., 127–130.
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dung von Körper und Geist und insofern ein ens per se: Seine Seele kann nicht anders als durch ein Wunder (non potest sine miraculo) von seinem Körper getrennt sein.100 Aber zugleich – und auch diese Stelle findet sich in einem instruierenden Brief an Regius – stellt Descartes fest, »daß, wenn wir den Leib für sich betrachten, wir ausdrücklich nichts in ihm wahrnehmen, aufgrund dessen er verlangt, mit der Seele vereint zu sein, so wie wir nichts in der Seele wahrnehmen, weswegen sie mit dem Leib verbunden sein muß, was der Grund ist, warum ich … sagte, daß sie«, die Verbundenheit beider, »gewissermaßen akzidentell, nicht daß sie absolut akzidentell ist«.101 Der Leib als eine res extensa und der Geist als eine res cogitans sind zwar faktisch zu einer engen Einheit verbunden, wenn sie einen Menschen konstituieren, aber keine der beiden Substanzen besitzt eine intrinsische Verwiesenheit auf die andere. Man könnte in dieser Auffassung allein ein Zugeständnis an die göttliche Erhaltung der Seele als eine anima separata nach dem Tod sehen, der eine notwendige Bindung an den irdischen Körper im Weg stünde. Doch Descartes’ bemerkenswerte Position impliziert darüber hinaus eine Bestimmung des modalen Verhältnisses der Leib-Seele-Relation. Führt man sich vor Augen, daß Descartes den Menschen zugleich als ein ens per se und in einem gewissen Sinn als ein ens per accidens beschreiben kann, ergibt sich folgende modale Konsequenz: Es ist zwar für das Menschsein aufgrund der freien Bestimmung durch Gott notwendig, daß er ein Kompositum aus Körper und Geist ist, aber da keine intrinsische Dependenz besteht, muß der Geist nicht notwendig mit dieser Art von Körper verbunden sein. Die prinzipielle Leibhaftigkeit des Menschen ist aufgrund des göttlichen Willens zwar für ihn notwendig, aber der konkrete Leib ist kontingent. Die Kontingenz des Leibes des real existierenden Menschen ist also nicht allein im Sinne einer Individualontologie zu entfalten. Es geht nicht darum, daß jeder Mensch einen eigenen, nicht übertragbaren Leib besitzt. Descartes’ Metaphorik hilft hier weiter: Wenn er von dem menschlichen Körper spricht, redet er von der »Maschine unseres Körpers« (la machine de nostre corps).102 Er analysiert
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Brief an Regius, Mitte Dezember 1641 (AT III, 461). Ebd. (AT III, 461): »… quod, considerantes corpus solum, nihil planè in eo percipiamus, propter quod animae vniri desideret; vt nihil in animâ, propter quod corpori debeat vniri; & ideo … dixi, esse quodammodo accidentarium, non autem absolutè esse accidentarium.« 102 Passions I, art. 7 (AT XI, 331); zur Metapher des Körpers als Maschine vgl. auch die Ausführungen im Discours V (AT VI, 55–59). Eine eingehende Untersuchung zum mechanistischen Organismusmodell mit Blick auf neuere Diskussionen bietet M. Schneider, Das mechanistische Denken in der Kontroverse. Descartes’ Beitrag zum Geist-Maschine-Problem, Stuttgart 1993.
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die Teile, »welche die Maschine des menschlichen Körpers bilden«.103 Dabei ist es Gott, der unseren Körper wie eine Maschine gefertigt hat.104 Die Metapher der Maschine impliziert zweierlei. Offenkundig betont sie zunächst die Autonomie physiologischer Abläufe – ein Beispiel ist das Schließen der Augen bei einem plötzlichen und scheinbaren Schlag.105 Descartes interpretiert den Körper so sehr als einen Automaten, »daß, auch wenn gar kein Geist in ihm existierte, er doch alle Bewegungen besäße, die jetzt in ihm nicht durch die Herrschaft des Willens und daher auch nicht durch den Geist entstehen«.106 Das medizinische Interesse an der Option, durch eine Erfassung der gleichsam technischen Reguliertheit physiologischer Vorgänge Einfluß auf die gesetzmäßigen Abläufe zu gewinnen, ist unübersehbar. So kann Descartes formulieren, die Erhaltung der Gesundheit sei zu jeder Zeit das Hauptziel seiner Studien gewesen,107 und alles bisher medizinisch Mögliche sei nur wenig angesichts dessen, was an Möglichkeiten noch zu erwarten sei.108 Doch man griffe zu kurz, in der Metapher von der Maschine allein ein pragmatisches Interesse ausgedrückt zu sehen und Descartes als einen Vorläufer von La Mettries materialistischem L’homme machine zu begreifen. Im Rahmen der spekulativen Kosmogonie hatte sich gezeigt, daß der Gebrauch des Begriffs der Maschine – etwa eines Uhrwerks – einen Kontingenzvermerk besitzt.109 So ist eine bestimmte Funktion notwendigerweise zu gewährleisten, wenn eine Uhr eine Uhr sein soll. Ein Uhrmacher kann aber durchaus verschiedene Uhren anfertigen, die in ihrem Aufbau und mechanischen Ablauf differieren und zugleich die Aufgabe, die Zeit anzuzeigen, gleichermaßen erfüllen. Das frühneuzeitliche Paradigma der Maschine reflektiert die Kontingenz der mechanischen Lösungsmöglichkeiten angesichts der Notwendigkeit einer Funktionserfüllung. Gott hatte bei der Einrichtung einer mechanischen Welt verschiedene Möglichkeiten, die Dinge zu schaffen, »ohne daß es dem menschlichen Geist möglich wäre zu erkennen, welches der ihm zur Verfügung stehenden Mittel er hat anwenden wollen, um sie zu schaffen«.110 Mit mechanischen Modellen zu operieren, ist 103 104 105 106
Recherche (AT X, 517): »… quae machinam humani componunt corporis …« Burman (AT V, 163): »Deus corpus nostrum fabricavit ut machinam …« Passions I, art. 13. Meditationes VI (AT VII, 84): »… ut, etiamsi nulla in eo mens existeret, eosdem tamen haberet omnes motus qui nunc in eo non ab imperio voluntatis nec proinde a mente procedunt …« 107 Brief an den Marquis de Newcastle, Oktober 1645 (AT IV, 329): »La conseruation de la santé a esté de tout temps le principal but de mes études …« 108 Discours VI (AT 61–63). Als Inbegriff des medizinischen Fortschritts nennt Descartes die Lebensverlängerung. 109 Vgl. § 21. 110 Principes IV 204 (AT IX–2, 322): »… sans qu’il soit possible à l’esprit humain de connoistre lequel de tous ces moyens il a voulu employer à les faire.«
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daher ein Akt rational begründeter Spekulation. Konsequenterweise stellt Descartes auch die Beschreibung des menschlichen Körpers als einer Maschine als hypothetisch dar, wenn er zu Beginn des Traité de l’homme den menschlichen Körper als eine Statue – oder als eine Maschine – beschreibt, die Gott unserem Körper möglichst ähnlich erschafft. In dieser Erzählung hat die kosmogenetische Fabel ihr anthropogenetisches Pendant gefunden. Wenn also der Mensch notwendigerweise ein Kompositum aus Geist und Körper darstellt, ohne die Notwendigkeit, daß er diese Art von Körper besitzt, ist die Beschreibung des Leibes als einer Maschine der adäquate Ausdruck dafür. So gilt für Descartes, »daß der menschliche Körper … lediglich durch eine gewisse Konfiguration von Gliedern und anderen derartigen Akzidenzien zusammengesetzt ist«.111 Wenn die Metapher der Maschine verschiedene Optionen einer Funktionserfüllung repräsentiert, hätte Gott uns, die wir notwendigerweise einen Körper besitzen müssen, um Mensch zu sein, auch einen anderen Leib zuweisen können. Aufgrund dieser Variabilität besitzt unser faktischer Körper keine intrinsische Affinität zu unserem Geist, sondern steht, obwohl eng mit ihm verbunden, mit ihm in einer kontingenten Relation. Läßt sich das auch umkehren? Kann man im Sinne Descartes’ auch sagen, unser Leib hätte einen anderen Geist zugewiesen bekommen können? Descartes erwägt diese Möglichkeit nicht. Im Gegensatz zum kontingenten Leib ist die res cogitans für ihn eine notwendige Konstante, denn »der menschliche Geist besteht nicht in dieser Weise aus irgendwelchen Akzidenzien, sondern ist eine reine Substanz: Auch wenn nämlich alle seine Akzidenzien sich ändern, weil er etwa andere Dinge versteht, andere Dinge will, andere Dinge empfindet etc., so wird deswegen dennoch nicht der Geist selbst ein anderer …«112 Der für uns schon fast zufälligen Zusammensetzung unseres Körpers steht der Geist in seiner notwendigen Eigenschaft als denkende Substanz gegenüber. Während der teilbare Körper, dem prinzipiell auch zusätzliche Gliedmaßen hätten zukommen können, aufgrund seiner akzidentellen Bestimmung partikular und nicht für alle Situationen ausgerüstet ist, ist die Vernunft ein »Universalinstrument, das bei allen Gelegenheiten zu Diensten steht«.113 Zwar sind die Prinzipien, denen unsere Vernunft unterliegt, nicht absolut notwendig, sondern kontingent notwendig – für Descartes gibt es keine ewigen Wahrheiten im strikten Sinn, und Gott hätte andere Notwendigkeiten für uns erlassen können. Aber der res cogitans als einer 111
Meditationes, Synopsis (AT VII, 14): »Sed corpus humanum … non nisi ex certâ membrorum configuratione aliisque ejusmodi accidentibus esse conflatum …« 112 Ebd. (AT VII, 14): »… mentem … humanam non ita ex ullis accidentibus constare, sed puram esse substantiam: etsi enim omnia ejus accidentia mutentur, ut quòd alias res intelligat, alias velit, alias sentiat, etc., non idcirco ipsa mens alia euadit …« 113 Discours V (AT VI, 57): »…vn instrument vniuersel, qui peut seruir en toutes sortes de rencontres …«
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reinen Substanz kommt die Notwendigkeit zu, immer eine denkende Substanz zu sein, »sodaß es mir leichter sein würde zu glauben, die Seele höre auf zu existieren, wenn man sagt, sie höre zu denken auf, als zu begreifen, daß sie ohne Gedanken sei«.114 Er setze keinen anderen Unterschied zwischen der Seele und ihren Gedanken als zwischen einem Stück Wachs und den verschiedenen Gestalten, die es annehmen kann.115 Die zwingende Kontinuität ihrer Tätigkeit – »ich glaube, daß die Seele immer denkt«116 – ist eine Bestimmung, die in ihrer Reinheit die Tätigkeit des Leibes übertrifft. Zwar ist auch der Leib nicht ohne eine Kontinuität von Vitalfunktionen denkbar, aber sie sind endlich, während die Seele unsterblich ist. Der Leib bestimmt somit in einem besonderen Maße und auf unmittelbare Weise die Situation, der der Geist in seiner Verbindung mit ihm ausgesetzt ist. Unser Leib impliziert auf eine besondere Weise eine Präsenz der Kontingenz, »denn wir können uns keinen neuen Körper bauen«,117 der seine Limitierungen – Descartes erwähnt die Begrenztheit der Sehkraft – überwindet. Die Seele ist als eine geschaffene zwar keine absolut notwendige, doch aber eine gleichsam notwendige Substanz. Ebenso ist der Mensch als ein Kompositum aus Leib und Seele eine notwendige Verbindung beider, aber die Art der dem Menschen von Gott zugewiesenen Leibhaftigkeit ist kontingent. Daher läßt sich präzisierend sagen, daß nicht allein der menschliche Körper akzidentell bestimmt ist, sondern auch das Faktum des Substanzendualismus als eine kontingente Setzung Gottes hinzunehmen ist. Gegenüber Burman illustriert Descartes die Kontingenz des Menschen als einem nichtnotwendigen Kompositum durch eine Spekulation darüber, was Gott möglicherweise jenseits dieser Erde im Weltall geschaffen haben mag: »Wissen wir, ob er nicht noch anderen Geschöpfen ganz verschiedener Art, anderen Lebewesen, sozusagen Menschen oder dem Menschen wenigstens analoge Wesen dort einen Platz zugewiesen hat? Vielleicht können dort körperlose Seelen oder andere Geschöpfe leben, deren Natur uns entgeht.«118 Descartes nimmt wie selbstverständlich die
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Brief an Gibieuf, 19. Januar 1642 (AT III, 478): »… en sorte qu’il me seroit plus aisé de croire que l’ame cesseroit d’exister, quand on dit qu’elle cesse de penser, que non pas de conceuoir qu’elle fust sans pensée.« 115 Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 113): »Ie ne mets autre difference entre l’ame & ses idées, que comme entre vn morceau de cire & les diuerses figures qu’il peut receuoir.« 116 Brief an Gibieuf, 19. Januar 1642 (AT III, 478): »… ie croy que l’ame pense tousiours …« 117 Dioptrique VII (AT VI, 148): »… car nous ne sçaurions nous faire vn nouueau cors …« 118 Burman (AT V, 168): »Quid scimus annon alias creaturas specifice distinctas, alias vitas, et, ut ita dicam, homines, aut saltem homini analogos in iis posuerit? Forsan in illis possunt vivere animae separatae aut aliae creaturae, quarum natura nos fugit.«
§ 25 Die Kontingenz der Situation und das Instrument des Zweifels
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nominalistischen Spekulationen auf, nach denen Gott den Menschen als eine andere Spezies hätte schaffen können.119 Zwar ist in dieser Welt das Menschsein von Gott als ein Substanzendualismus definiert worden, aber das schließt nicht aus, daß es Varianten des Menschseins gibt, die unserem Begriff nach zwar keine Menschen sind, aber doch eine analoge Spezies. Die Bestimmtheit des Menschen wird dadurch zu etwas Kontingentem, da sein Menschsein auch einer alternativen ontologischen Definition unterliegen könnte. Aus der Perspektive der Schöpfungsmöglichkeiten Gottes ist die Zusammensetzung des Menschen kontingent, da die Verbindung von Körper und Geist nicht notwendig und von Dauer ist: »Kontingent aber ist die Einheit dessen, was durch kein unauflösliches Verhältnis verbunden ist, wie wenn wir sagen, daß ein Körper beseelt, ein Mensch bekleidet sei …«120 Die Kontingenz des Menschen in seiner Strukturiertheit als Spezies ist alternativlos hinzunehmen. Der Dualismus von Leib und Seele – aus der Sicht Gottes etwas Kontingtes – ist für den Menschen eine kontingente Notwendigkeit, da Gott den Menschen als ein solches Kompositum geschaffen hat. Es ist aufschlußreich, daß der Substanzendualismus, der für die Rezeptionsgeschichte oftmals ein Ärgernis, zumindest ein Problem war, für Descartes im Grunde kein Problem darstellt. Burman fragt ihn, auf welche Weise denn der Körper auf die Seele einwirken könne und umgekehrt die Seele auf den Körper, da doch beide von ganz andersartiger Natur seien. Descartes antwortet auf dieses Kernproblem der cartesischen Anthropologie: »Das ist sehr schwer zu erklären, aber es genügt hier die Erfahrung, die hierbei so klar ist, daß sie auf keine Weise bestritten werden kann …«121 Die Dinge, die der Vereinigung von Seele und Körper zugehören, ließen sich, so schreibt er an die Prinzessin Elisabeth von Böhmen, nur dunkel durch das Begriffsvermögen allein, auch nicht durch das von der Vorstellungskraft unterstützte Begriffsvermögen erkennen, sondern sie würden sehr klar durch die Sinne erkannt. Daher komme es, daß diejenigen, die niemals philosophieren und sich nur ihrer Sinne bedienen, nicht daran zweifeln, daß die Seele den Körper bewegt und daß der Körper auf die Seele einwirkt.122
119
Vgl. Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, dist. 44, qu. 1 (Opera theologica IV, 653): »… Deus potest facere individuum alterius speciei quam fecit …« 120 Regulae XII (AT X, 421): »Contingens verò est illarum vnio, quae nullâ inseparabili relatione conjunguntur: vt cùm dicimus, corpus esse animatum, hominem esse vestitum …« 121 Burman (AT V, 163): »Hoc explicatu difficillimum; sed sufficit hîc experientia, quae hîc adeo clara est, ut negari nullo modo possit …« 122 Brief an Elisabeth, 28. Juni 1643 (AT III, 691 f.): »… et enfin, les choses qui appartiennent à l’vnion de l’ame & du corps, ne se connoissent qu’obscurement par l’entendement seul, ny mesme par l’entendement aidé de l’imagination; mais elles se connoissent tresclairement par les sens. D’où vient que ceux qui ne philosophent iamais, & qui ne se seru-
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VI. Meditative Anthropogenese
So schwer der Substanzendualismus von Leib und Seele zu denken ist, so selbstverständlich macht er die Situation aus, von der wir auszugehen haben. Das Mißtrauen gegen die sinnliche Wahrnehmung ist der akzidentellen Beschaffenheit des Leibes als einem notwendigen Kompositum des Menschen geschuldet. Den Geist von den Sinnen abzubringen bedeutet daher, die Kontingenz der Leibhaftigkeit zu bewältigen. Der Rationalismus ist daher eine korrigierende Therapie: »Und die metaphysischen Gedanken, die das reine Begriffsvermögen üben, dienen dazu, uns den Begriff der Seele vertraut zu machen; das Studium der Mathematik … gewöhnt uns daran, sehr deutliche Begriffe vom Körper zu bilden …«123 Die Meditationes sind die metaphysischen Exerzitien, durch eine Unterscheidung der Substanzen den Willensentschluß zu bekräftigen, das wissenschaftliche Leben streng rational auszurichten. Die alltägliche Selbstverständlichkeit, mit der unser Geist von sinnlichen Wahrnehmungen ausgeht, ist analog zur Präsenz des schulphilosophischen Wissens die Ausgangssituation, von deren Vorläufigkeit auszugehen und auf die korrektivisch zu reagieren sich der Cartesianismus die Freiheit nimmt. Es ist die Kontingenz der Situation als Situation, daß der Rationalismus keine tabula rasa vorfindet, sondern erst mühsam zu schaffen hat. Der Kontingenz der immer schon vorausliegenden Situation ist die Einsicht geschuldet, daß es nur eine willentliche Epoché sein kann, einmal im Leben alles von Grund auf umzustoßen und neu zu beginnen. Dieser Anfang mag aufgrund der maroden Tradition und der Skeptizismen angesichts der Unzuverlässigkeit der Sinne, wie es die kopernikanische Wende illustriert hat, begünstigt worden sein. Im letzten ist er selbst kontingent. Da er – wie die ignatianischen Exercitia spiritualia – auf einen Willensentscheid zurückgeht – bei Ignatius auf den Willen Gottes, bei Descartes auf den menschlichen Willen –, bedarf dieser Anfang einer konsequenten, aber auch behutsamen Leitung, wie Descartes sie innerhalb seiner metaphysischen Meditationen anzubieten versucht. Die Neuschaffung des rationalen Menschen orientiert sich dabei an der Reflexion des bestimmendsten Moments der reinen Substanz: an dem cogito, ergo sum. Es ist die Hartnäckigkeit der Situation als bestimmender Einfluß, daß sie sich ebensowenig restlos beseitigen läßt wie die untere Schrift eines Palimpsests. Daher kehrte die überwunden geglaubte Kontingenz der Situation schon bald als die ärgerliche Präsenz der Tradition wieder.
ent que de leurs sens, ne doutent point que l’ame ne meuue le corps, & que le corps n’agisse sur l’ame …« 123 Ebd. (AT III, 692): »Et les pensées Metaphysiques, qui exercent l’entendement pur, seruent à nous rendre la notion de l’ame familiere; & l’étude des Mathematiques … nous acoutume à former des notions du corps bien distinctes …«
§ 26 Das augustinische und das cartesische cogito
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§ 26 Das augustinische und das cartesische cogito Kein Satz der cartesischen Philosophie ist so klassisch wie das ›Ich denke, also bin ich‹. Descartes selbst hat dieses Je pense, donc je suis als das erste Prinzip seiner Philosophie bezeichnet.124 Nun ist es mit ersten Prinzipien in einer Welt der Kontingenz so eine Sache. Welchen Notwendigkeitsstatus hat dieses cogito, ergo sum, wenn doch schon für die sogenannten ewigen Wahrheiten gilt, daß sie kontingent notwendig sind, da Gott sie auch anders hätte schaffen können? Ist mit diesem Prinzip unerschütterlicher Selbstgewißheit der in der Zweiten Meditation gesuchte archimedische Punkt gefunden, um die Kontingenz der Welt fortzuwälzen? Ist es ein Ausgangspunkt unbedingter Notwendigkeit, oder hat auch dieses cogito es mit der Kontingenz, vielleicht sogar mit Kontingenzen zu tun? Auffällig ist zunächst, daß das cartesische cogito nicht so voraussetzungslos zu sein scheint, wie es präsentiert wird. Für den Neubegründungswillen des Cartesianismus ist es geradezu ein Ärgernis, daß ausgerechnet die entscheidende Selbstvergewisserung des ego cogito, ergo sum als traditionsverhaftet erscheint. Die Formel, die mehr als alles andere den Inbegriff des Cartesianismus repräsentiert, droht sich bei genauerem Hinsehen als eine Kopie zu erweisen. Die Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs wird eingeholt von der Kontingenz, in eine kontingente Tradition eingebettet zu sein, die hinter sich lassen zu können als illusionär offenkundig wird. Denn schon den Zeitgenossen Descartes’ ist aufgefallen, daß die cartesische cogito-Formel scheinbar Vorgaben des Augustinus aufnimmt.125 Aus heutigem Rückblick wird mitunter von einem augustinischen cogito gesprochen,126 und für Charles Taylor ist Descartes »in vieler Hinsicht durch und durch Anhänger Augustins« und dem »Strom der wiederbelebten augustinischen Frömmigkeit zuzurechnen«.127 Descartes erwähnt Augustinus bei der Vorstellung seines cogito-Arguments in seinen publizierten Schriften nicht. Dennoch wußte er frühzeitig um die Nähe zu Augustinus, wie an seiner Korrespondenz mit Mersenne abzulesen ist. Durch einen nicht überlieferten Brief Mersennes war Descartes schon zur Zeit des Discours auf eine Passage bei Augustinus aufmerksam gemacht geworden. Es handelt sich dabei, wie aus einem späteren Brief ersichtlich wird,128 um das Kapitel 26 von De civitate Dei XI. Auf eine Stelle in De trinitate, die dem cartesischen Je 124 125 126
Discours IV (AT VI, 32). Vgl. H. Gouhier, Cartésianisme et augustinisme au XVIIe siècle, Paris 1978. Schon Léon Blanchet spricht in seinem Buch Les antécédents historiques du »Je pense, donc je suis«, Paris 1920, durchgängig von einem »Cogito augustinien«. 127 Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übersetzt von J. Schulte, Frankfurt am Main 1994, 262. 128 Brief an Mersenne, Dezember 1640 (AT III, 261).
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VI. Meditative Anthropogenese
pense, donc je suis gleiche, hat ihn Andreas Colvius hingewiesen.129 Auch Antoine Arnauld entdeckte Ähnlichkeiten der cartesischen Philosophie mit den Schriften Augustins und machte Descartes auf das zehnte Kapitel von De Trinitate X aufmerksam.130 Descartes allerdings setzt sich frühzeitig von Augustinus ab, da er selbst von seiner Formel ›Ich denke, also bin ich‹ einen anderen Gebrauch mache als Augustinus im Rahmen seiner Überlegungen.131 In einem späteren Brief reduziert er die Nähe zu Augustinus auf den Umstand, die ihm mitgeteilten Stellen im Werk Augustins könnten dazu dienen, seine eigene Meinung zu bestätigen (authoriser).132 Mit der Frage, ob sich bei Augustinus ein Proto-cogito findet oder nicht, scheint die Identität des Cartesianismus an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen zu sein. In der Metapher des Palimpsests muß sich der Cartesianismus fragen lassen, inwiefern die Tradition als die untere Schrift unverkennbar durchscheint und als kontingente Vorgabe zurückkehrt. Augustinus hat gleich an mehreren Stellen den cartesischen Selbstvergewisserungsversuch antizipiert. In De beata vita wird der skeptische Navigius durch die entscheidende Frage, ob er wenigstens wisse, ob er lebe, zu der sicheren Einsicht gebracht, daß er zumindest das wisse.133 Im zweiten Buch von De libero arbitrio ringt Augustinus seinem Dialogpartner Evodius das Zugeständnis ab, es sei sicher, daß er existiere, aber diese Sicherheit habe er nur, wenn er lebe.134 In den Soliloquia stellt die personifizierte Ratio Augustinus die Frage: »Du, der du dich zu kennen wünschst, weißt du, daß du existierst?« Augustinus antwortet: »Ich weiß es.« Und auf die Frage, woher er es wisse, antwortet er: »Ich weiß es nicht.« Dann stellt die Ratio die Frage »Weißt du, daß du denkst?« Augustins Antwort: »Ich weiß es.« »Dann ist es wahr, daß du denkst«, folgert die Ratio. »Es ist wahr«, antwortet Augustinus.135 129
Vgl. den Brief Descartes’ an Colvius vom 14. November 1640 (AT III, 247; zur Frage nach dem Adressaten des Briefes und der Datierung vgl. AT X, 578), in dem sich Descartes für den Hinweis auf Augustinus bedankt. 130 Brief von Arnauld an Descartes, 3. Juni 1648 (AT V, 186). 131 Vgl. den Brief, den Descartes am 6. oder zwischen dem 8. und 12. Juni 1637 an Mersenne schrieb (AT I, 376; fälschlicherweise auf den 25. Mai datiert, siehe AT I, Appendice, 669), dem zu entnehmen ist, daß Mersenne Augustinus erwähnt hatte und der die besagte Distanzierung enthält: »… il ne me semble pas s’en seruir à mesme vsage que ie fais …« 132 Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 113). 133 Augustinus, De beata vita, cap. 2, 7 (PL 32, 963): »Scisne, inquam, saltem te vivere? Scio, inquit.« 134 Augustinus, De libero arbitrio II, cap. 3, 7 (PL 32, 1243): »Ergo quoniam manifestum est esse te, nec tibi aliter manifestum esset, nisi viveres, id quoque manifestum est, vivere te …« 135 Augustinus, Soliloquia II, cap. 1, 1 (PL 32, 885): »R. Tu qui vis te nosse, scis esse te?
§ 26 Das augustinische und das cartesische cogito
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In De vera religione empfiehlt Augustinus demjenigen, der nicht einsehe, was er sage, und zweifle, ob es wahr sei, er solle prüfen, »ob du auch daran zweifelst, daß du es bezweifelst; und wenn es unzweifelhaft ist, daß du zweifelst, so untersuche, woher die Gewißheit kommt«.136 In De civitate Dei geht Augustinus ausführlich dem Moment der Selbstgewißheit noch im Moment des Zweifelns nach und folgert: »Denn wenn ich mich täusche, bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich nicht täuschen; also bin ich, wenn ich mich täusche. Da ich demnach bin, wenn ich mich täusche, wie sollte ich mich dann darin täuschen, daß ich bin, wenn doch sicher ist, daß ich bin, wenn ich mich täusche?«137 In De trinitate wird der Zweifel an der eigenen Existenz geradezu unsinnig: »Wer möchte jedoch zweifeln, daß er lebe, sich erinnere, einsehe, wolle, denke, wisse und urteile? Auch wenn man nämlich zweifelt, lebt man, wenn man zweifelt, erinnert man sich daran, woran man zweifelt; wenn man zweifelt, sieht man ein, daß man zweifelt; … wenn man zweifelt, denkt man … Wenn also jemand an allem anderen zweifelt, an all dem darf er nicht zweifeln, daß, wenn es alles dies nicht gäbe, er an keiner Sache zu zweifeln vermöchte.«138 Es gibt für Augustinus also keinen Zweifel an der eigenen Existenz, »da gewiß ist, daß auch der, der sich täuscht, lebt«.139 Es ist das innerste Wissen (intima scientia), durch das wir wissen, daß wir leben.140 Führt man sich diese Stellen vor Augen, mag man geneigt sein, Pascal zuzustimmen, für den das Je pense, donc je suis gleichermaßen ein Resultat des cartesischen wie des augustinischen Geistes war, wobei Augustinus das gleiche wie Descartes zwölf Jahrhunderte früher gesagt habe.141 In einer Kontinuität dieser
A. Scio. R. Unde scis? A. Nescio … R. Cogitare te scis? A. Scio. R. Ergo verum est cogitare te. A. Verum.« 136 Augustinus, De vera religione, cap. 39, 73 (PL 34, 154): »Aut si non cernis quae dico, et an vera sint dubitas, cerne saltem utrum te de iis dubitare non dubites; et si certum est te esse dubitantem, quaere unde sit certum …« 137 Augustinus, De civitate Dei XI, cap. 26 (PL 41, 340): »Si enim fallor, sum. Nam qui non est, utique nec falli potest; ac per hoc sum, si fallor. Quia ergo sum si fallor, quomodo esse me fallor, quando certum est me esse, si fallor?« 138 Augustinus, De trinitate X, cap. 10, 14 (PL 42, 981): »Vivere se tamen et meminisse, et intelligere, et velle, et cogitare, et scire, et judicare quis dubitet? Quandoquidem etiam si dubitat, vivit; si dubitat unde dubitet, meminit; si dubitat, dubitare se intelligit; … si dubitat cogitat … Quisquis igitur aliunde dubitat, de his omnibus dubitare non debet; quae si non essent, de ulla re dubitare non posset.« 139 De Trinitate XV, 12, 21 (PL 42, 1073): »… quoniam certum est etiam eum qui fallitur vivere …« 140 Ebd. (PL 42, 1074): »Intima scientia est qua nos vivere scimus …« 141 B. Pascal, Opuscules III (ed. L. Brunschvicg, 192 f.): »›Je pens donc je suis‹, sont en effet les mêmes dans l’esprit de Descartes et dans l’esprit de saint Augustin, qui a dit la même chose douze cents ans auparavant.«
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VI. Meditative Anthropogenese
Einschätzung wird auch heute noch Augustinus als der »Erfinder des Arguments, das wir unter der Bezeichnung ›Cogito‹ kennen«, begriffen, »denn er war der erste, der den Standpunkt der ersten Person zur Grundlage unserer Suche nach der Wahrheit gemacht hat«.142 Man könnte versucht sein, es dabei bewenden zu lassen und die protocartesischen Selbstgewißheitsreflexionen Augustins als ein Stück modernes Subjektbewußtsein jenseits der Neuzeit anzusehen, das von Descartes wieder aufgenommen wurde. Die augustinischen Zeitreflexionen besitzen ja einen vergleichbaren Modernitätsvermerk. Aber Descartes hat sich, wie erwähnt, eindeutig von Augustinus abgegrenzt. Der Gleichklang der Formeln soll ihm zufolge nicht über einen unterschiedlichen Gebrauch hinwegtäuschen. Nimmt man für einen Moment die von ihm in diesem Zusammenhang gemachte Bemerkung beim Wort, er habe keineswegs die Veranlagung derer, die wünschten, daß ihre Meinungen als neu erscheinen,143 hat man Anlaß, in Descartes’ Distanzierung von Augustinus nicht allein einen Versuch zu sehen, im Streit um ideengeschichtliches Urheberrecht Ansprüche geltend zu machen. Könnte Descartes mit seiner Distanzierung recht haben? Und für den Fall, daß es so wäre: Worin besteht die Originalität des cartesischen cogito-Arguments? Vergleicht man die Selbstgewißheitsreflexionen von Augustinus und Descartes, fällt zunächst eine Differenz der Extension auf. Während Augustinus seine Argumentation mit einer gewissen Weite oder Unschärfe vorträgt, ist Descartes an einer äußerst enggeführten Reflexionsformel gelegen. So spricht Augustinus in De beata vita, in De libero arbitrio und in De trinitate davon, der Skeptiker wisse zumindest, daß er lebe (vivere). In De libero arbitrio, in den Soliloquia und in De civitate Dei betont Augustinus, der Zweifelnde wisse zumindest, daß er sei (esse). Und in den Soliloquia stellt er heraus, daß der Befragte wisse, daß er denkt (cogitare). In De beata vita muß der befragte Skeptiker zugeben, er sei sich nicht allein des Lebens, sondern auch seines Leibes gewiß. Dabei spricht Augustinus sowohl von der Gewißheit von Leben und Leib (corpus & vita) als auch von der Gewißheit von Leib und Seele (corpus & anima).144 Die leichten Variationen der antiskeptischen Argumentation belegen, daß Augustinus nicht zu einer verbindlichen Formel gefunden hat. Dafür spricht allein der Umstand, daß er seine Selbstgewißheitsreflexionen, grammatikalisch gesehen, an einigen Stellen in der ersten Person und an anderen Stellen in der zweiten Person vorträgt. Wo er zur formelhaften Verdichtung greift, kann er die Selbstreflexion auch in der dritten Person entfalten: »Jeder, der einsieht, daß
142 143
Ch. Taylor, Quellen des Selbst, a. a. O., 245. Brief an Mesland, (2. Mai 1644 ?) (AT IV, 113): »Car ie ne suis nullement de l’humeur de ceux qui desirent que leurs opinions paroissent nouuelles …« 144 De beata vita, cap. 2, 7 (PL 32, 963).
§ 26 Das augustinische und das cartesische cogito
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er zweifelt, sieht etwas Wahres ein und ist sich dessen, was er einsieht, auch gewiß.«145 Descartes ist demgegenüber offensichtlich an einer Formelhaftigkeit der Selbstgewißheitsreflexion gelegen, die – aufgrund des methodisch universalisierten Zweifels – nur in der ersten Person vorgetragen werden kann. Dennoch ist auffällig, daß auch er nicht über eine, sondern über zwei Formeln verfügt: Im Discours von 1637 findet sich die gleichsam klassische Variante: »Ich denke, also bin ich« (ie pense, donc ie suis).146 Sie wird in der von Descartes autorisierten lateinischen Fassung, die 1644 in Amsterdam erschien, beibehalten, allerdings wird das ›Ich bin‹ durch ein ›oder ich existiere‹ ergänzt: Ego cogito, ergo sum, sive existo.147 In den Meditationes von 1641 dagegen heißt es: »Ich bin, ich existiere; das ist gewiß« (Ego sum, ego existo; certum est).148 Diese Formel, die auf das scheinbar schlußfolgernde ergo verzichtet, hatte Descartes bereits in den Regulae verwendet, wenn er dort ausführt, es könne jeder intuitiv mit dem Geist erfassen, daß er existiert, daß er denkt.149 Gibt es einen Vorrang einer Formel vor der anderen? Auf den ersten Blick nicht, denn die Formel des Discours bleibt unverändert in der lateinischen Fassung der Principia von 1644 erhalten (ego cogito, ergo sum) 150 und wird in deren französischen Fassung von 1647 wiederholt (Ie pense, donc ie suis).151 Auch in der Recherche de la vérité par la lumière naturelle – die Entstehungszeit dieses unvollendeten Manuskripts ist umstritten – verwendet Descartes die Formel cogito, ergo sum.152 Obgleich Descartes mitunter an den übersetzten Texten Veränderungen vornimmt und Hinzufügungen macht, behält die französische Fassung der Meditationen von 1647 die Formel Ie suis, i’existe: cela est certain153 bei. Es handelt sich also um eine Koexistenz zweier Formeln. Das mag überraschen, soll es sich doch immerhin um die Begründung des einen letzten Prinzips der Philosophie handeln. Wenn man das Faktum der Erläuterungsbedürftigkeit einer Koexistenz zweier Selbstgewißheitsformeln vernachlässigt, ist nicht zu übersehen, daß Descartes an einer unbedingten Engführung seiner Argumentation gelegen ist. Ihm ist ge-
145
De vera religione, cap. 39, 73 (PL 34, 154 f.): »Omnis qui se dubitantem intelligit, verum intelligit, et de hac re quam intelligit certus est …« 146 Discours IV (AT VI, 32). 147 Dissertatio IV (AT VI, 558). 148 Meditationes II (AT VII, 27). 149 Regulae III (AT X, 368): »Ita vnusquisque animo potest intueri, se existere, se cogitare …« 150 Principia I 7 (AT VIII–1, 7). 151 Principes I 7 (AT IX–2, 27). 152 Recherche (AT X, 523). 153 Méditations II (AT IX–1, 21).
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VI. Meditative Anthropogenese
wiß, daß er ist, daß er existiert und – in der klassischen Formel – daß er, wenn er denkt, gewiß sein kann, daß er ist. Nun bedeutet cogito für Descartes nicht allein das, was nur ungenau mit »Denken« übersetzt wird. Unter cogito versteht er jeden geistigen Denkakt. Eine denkende Substanz, eine res cogitans, ist für ihn: »Etwas, was zweifelt, versteht, bejaht, verneint, will, nicht will, sich auch etwas vorstellt und empfindet.«154 Das cogito beinhaltet also nicht allein kognitive Akte, sondern auch voluntative und affektive. Dennoch operiert das cogito-Argument allein mit geistigen Akten. Mit dem cogito-Argument ist keine Gewißheit über den eigenen Leib gewonnen. Es ist für Descartes unzulässig, zu sagen: »Ich spaziere, also bin ich« (ego ambulo, ergo sum).155 Es hat den Anschein, daß Augustinus dieser Formel durchaus hätte zustimmen können.156 Kann man das Spazierengehen nicht als eine Lebensäußerung annehmen, die zur Voraussetzung hat, daß man existiert? Aber Augustinus hat in den Soliloquia verneint, daß man mit vergleichbarer Gewißheit wissen kann, daß man sich bewegt.157 Trotz der angeführten Stelle, in der Augustinus eine Selbstgewißheit des eigenen Leibes für evident hält, scheint er unmittelbare Selbstgewißheit doch eher für mentale Akte zu reservieren.158 Aber auch für intramentale Gewißheiten setzen Augustinus und Descartes eine differierende Extension an. Für Augustinus läßt sich nicht allein das Bewußtsein der eigenen Existenz gegen skeptische Anfechtungen absichern, sondern auch logische oder mathematische Wahrheiten: So ist es für ihn nicht möglich, daran zu zweifeln, daß 3 x 3 = 9 ergibt.159 Descartes dagegen erwägt zumindest, ob Gott in seiner Allmacht mathematische Wahrheiten zu durchbrechen vermag.160 Es ist ein entscheidender Unterschied, daß Descartes sich im cogito, ergo sum nur einer einzigen Gewißheit sicher ist: der Gewißheit der eigenen Existenz. Augustins Argumentation begründet dagegen gleich eine spezifische Reihe von Erkenntnisansprüchen.161 154
Meditationes II (AT VII, 28): »Res cogitans. Quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, & sentiens.« 155 Responsiones V (AT VII, 352). 156 Vgl. J. Hintikka, »Cogito, Ergo Sum: Inference or Performance«, in: The Philosophical Review 71 (1962), 3–32, hier 23: »I do not see any way in which Augustine could have denied that ambulo, ergo sum or video, ergo sum are as good inferences as cogito, ergo sum …« 157 Soliloquia II, cap. 1, 1 (PL 32, 885): »R. Moveri te scis? A. Nescio.« 158 Christoph Horn hat in seinem Beitrag »Welche Bedeutung hat das Augustinische Cogito« in dem von ihm herausgegebenen Kommentarband zu Augustinus. De civitate dei (Klassiker Auslegen. Hg. von O. Höffe, Bd. 11, Berlin 1997, 109–129) darauf hingewiesen, daß Augustinus in De trinitate zu dem, was der Geist von sich weiß, ausschließlich mentale Akte zählt: se meminisse, intelligere, velle, cogitare, scire und iudicare (117). 159 Vgl. Augustinus, Contra Academicos III, cap. 10, 25 (CCSL 29, 49). 160 Vgl. Meditationes III (AT VII, 35 f.). 161 So die Charakterisierung von Augustins Argumentationsziel durch Bruce Stephen Bubacz, »St. Augustine’s ›Si Fallor, Sum‹«, in: Augustinian Studies 9 (1978), 35–44, hier 43,
§ 26 Das augustinische und das cartesische cogito
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Während also die antiskeptischen Argumente Augustins in einem gewissen Sinne weiter gefaßt sind, fokussiert Descartes die absicherbare Gewißheit auf einen archimedischen Punkt. Wo ihm an unbedingter Stringenz gelegen ist, scheint Augustinus eher situativ herausgefordert auf skeptische Argumente zu reagieren. Die offensichtlichen Inkongruenzen der von Augustinus eingenommenen Positionen – ›Ich weiß sicher, daß ich einen Leib habe, aber ich weiß nicht sicher, daß ich mich bewege‹ – erklären sich daher am ehesten durch eine von Descartes unterscheidbare Intention. Man könnte es auch die differierende Position der Selbstgewißheitsreflexionen im Gesamtwerk nennen. Für Descartes ist das cogito-Argument von zentraler Bedeutung, Augustinus dagegen hat die Reflexion der eigenen Selbstgewißheit keinesfalls zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht. Während Descartes das cogito gegen den von ihm selbst methodisch forcierten Zweifel setzt, reagiert Augustinus auf die akademische Skepsis, die ihm letztlich fremd geblieben ist.162 Und während die Extension der Gewißheitsreflexion bei Augustinus weiter gefaßt ist als bei Descartes, ist die Radikalität des Zweifels deutlich schwächer ausgeprägt, denn es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß Augustinus weder die Existenz Gottes in Frage stellt noch von einem täuschenden Gott ausgeht.163 Die Radikalitätsdifferenz ist unübersehbar. Augustinus trägt daher seine Gewißheitsreflexionen, die sich am ehesten in dem ›Denn wenn ich mich täusche, bin ich‹ (Si enim fallor, sum) aus De civitate Dei XI, cap. 26 zu einer Formel verdichtet haben, im Grunde hypothetisch vor, während Descartes kategorisch argumentiert.164 Sind also die Parallelen zwischen dem augustinischen und dem cartesischen cogito allein oberflächlich? Sicherlich nicht. Beide sind an einer Absicherung evidenter Selbstgewißheit interessiert. Beide suchen die erste Gewißheit in einer reflexiv abgesicherten Innerlichkeit, und beide verteidigen das Moment der Selbstgewißheit auch für den Fall des Getäuschtseins. Auch wenn ich mich täusche, kann ich mich nicht darüber täuschen, daß ich – auch als ein mich Täuschender – bin. Sicherlich antizipiert das augustinische Si enim fallor, sum am ehesten den cartesischen Gedankengang und bezeichnet am genauesten den Berührungspunkt beider Positionen. Christoph Horn hat diese Parallele als die bei beiden
dem zufolge das si fallor, sum »supports a specific series of knowledge claims«. Vgl. M. J. Coughlan, »›Si Fallor, Sum‹ Revisited«, in: Augustinian Studies 13 (1982), 145–149, der von einer »infinitely recurring series of knowledge claims« spricht (149). 162 In den Confessiones V, cap. 14, 25 begründet Augustinus seine kurzfristige Annäherung an die akademische Skepis mit dem Wunsch, den Manichäismus, von dem er selbst bestimmt gewesen ist, zu überwinden. 163 J. A. Mourant, »The Cogitos: Augustinian and Cartesian«, in: Augustinian Studies 10 (1979), 27–42, hier 35. 164 Ebd., 32.
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VI. Meditative Anthropogenese
Autoren vorausgesetzte »transzendentale Bedingung der Täuschungsmöglichkeit«165 bezeichnet. Dennoch sind weitere Unterschiede im Gebrauch der Selbstgewißheitsformeln nicht zu übersehen. Es besteht nicht allein eine Differenz in der Extension und Intention der Argumentation, sondern auch in der implizierten Logizität. Es ist unverkennbar, daß Augustinus für die Plausibilität seines Gedankenganges dessen hohe Logizität in Anspruch nimmt. So kann man seine Argumentation etwa auf zwei prägnante Weisen zusammenfassen. Die erste Variante läßt sich spiegelbildlich entfalten: (1) (2) (3)
Wenn ich denke, bin ich. Ich denke. Ich bin.
Oder: (1’) (2’) (3’)
Wenn ich mich täusche, bin ich. Ich täusche mich. Ich bin.
Die zweite Möglichkeit, Augustins logische Argumentation zu rekonstruieren, lautet: (1’’) Wenn ich mich täusche, bin ich. (2’’) Wenn ich mich nicht täusche, bin ich. (3’’) Entweder täusche ich mich oder ich täusche mich nicht. Also: (4’’) Ich bin.166 Es ist sicherlich eine Schwäche der logischen Rekonstruktion der Argumentationsstruktur, daß sie das unmittelbare Evidenzmoment der Selbsterfassung an den Rand zu drängen droht. Augustinus hat ausdrücklich von dem innersten Wissen (intima scientia) gesprochen – und es ist auszuschließen, daß er damit die Zustimmung zu einem Syllogismus gemeint hat. Denn Augustinus steht nicht in der Tradition der aristotelischen Begriffslogik mit ihrer Syllogistik, sondern in der Tradition der stoischen Aussagenlogik.167 Er unterscheidet präzise die Gültigkeit logischer Regeln und somit die Gültigkeit einer logischen Schluß-
165 166
Ch. Horn, Augustinus, München 1995, 86. So die Formalisierung des Argumentationsganges von Gareth B. Matthews, Thought’s Ego in Augustine and Descartes, Ithaca/London 1992, 31 f. 167 Vgl. Th. G. Bucher, »Zur formalen Logik bei Augustinus«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 29 (1982), 3–45.
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folgerung von der Wahrheit der gefolgerten Sätze. Und ausdrücklich betont er, es stimme meistens, daß die Menschen jene Wahrheiten, zu deren Kenntnis die Logik erlernt wird, leichter – da intuitiv – erfassen, als dies über das verwickelte und spitzfindige Studium der Regeln gelingt.168 Die Selbstgewißheit ist daher nicht zuerst ein Resultat einer logischen Schlußfolgerung. Der logische Aufweis, daß man an seiner Existenz nicht zu zweifeln habe, verdeutlicht vielmehr formal etwas, das unmittelbar als wahr erkannt werden kann. Daher unterscheidet Augustinus ein ›sich kennen‹ (se nosse) von einem ›sich erkennen‹ (se cogitare).169 Das se nosse bezeichnet den Zustand des nach Selbsterkenntnis suchenden Geistes, der dennoch ein unreflektiertes Selbstverhältnis besitzt, während sich der sich erkennende Geist in sein eigenes Blickfeld gerückt hat. Dennoch ist die logische Struktur der Argumentation für Augustinus von hoher Bedeutung, da er zur Widerlegung der akademischen Skepsis argumentieren will und nicht allein auf eine unmittelbare Selbsterfassung verweisen möchte.170 Folgerichtig entfaltet Augustinus seine Argumentation im Duktus des fiktiven Dialogs, der sich einer logischen Argumentation bedient. Dem ersten Anschein nach läßt sich auch Descartes’ Formel cogito, ergo sum syllogistisch aufschlüsseln: (1) (2) (3)
Alles, was denkt, ist. Ich denke. Also bin ich.
Aber Descartes hat die Möglichkeit ausdrücklich ausgeschlossen, das cogito, ergo sum als einen Syllogismus zu verstehen: Wenn wir wahrnehmen, daß wir denkende Dinge sind, so ist das ein gewisser Grundbegriff, der aus keinem Syllo-
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Augustinus, De doctrina christiana II, cap. 37, 55 (CCSL 32, 70): »Quamquam plerumque accidat, ut facilius homines res eas assequantur, propter quas assequendas ista discuntur, quam talium praeceptorum nodosissimas et spinosissimas disciplinas.« 169 Vgl. De trinitate X, cap. 3, 5 und XIV, cap. 6, 8. 170 Gareth B. Matthews hat in seinem Beitrag »Si Fallor, Sum«, in: R. A. Markus (Hg.), Augustine. A Collection of Critical Essays, New York 1972, 151–167, die These vertreten, Augustinus sei im Gegensatz zu Descartes nicht an einem Argument gelegen: »Augustine’s si fallor, sum is thus not an argument, or part of an argument, intended to establish that one exists. Since Descartes’s cogito, ergo sum is such an argument (or perhaps the union of two such arguments), Augustine’s reasoning is basically, and not just incidentally, different from Descartes’s.« (161) Augustins si fallor, sum ist nicht ausschließlich ein Argument im Sinne eines logischen Aufweises, aber diese Formel ist sicherlich doch zumindest auch als eine logische Schlußfolgerung gemeint. Das cogito-Argument läßt sich nicht auf den logischen Argumentationsgehalt reduzieren, da Descartes jede Schlußfolgerung als Existenzbeweis strikt ablehnt.
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gismus geschlußfolgert wird.171 Wie noch zu zeigen sein wird, geht Descartes vielmehr von einer einfachen Intuition des Geistes (mentis intuitus) aus, von einer unmittelbaren Selbsterfassung des Denkens, welche keines Beweisverfahrens bedarf.172 Das cogito, ergo sum stellt kein Schlußverfahren dar. Zwischen Augustinus und Descartes besteht somit im Hinblick auf die Logizität der Gewißheitsreflexion eine zweifache Differenz. Zum einen verstehen sie unter Logik Verschiedenes: Descartes hat die aristotelische Syllogistik im Blick, Augustinus die stoische Aussagenlogik, auf deren Implikationen noch einzugehen sein wird. Zum anderen führt Augustinus die erfahrbare Gewißheit ausdrücklich einer logischen Argumentation zu, während Descartes dies strikt vermeidet. Die Differenz wird also im Kern durch eine gegensätzliche Wertschätzung der Logik bestimmt. Augustinus hat die Philosophie als eine Trias beschreiben können: Sie beinhaltet für ihn die Naturphilosophie im Hinblick auf die Natur, die rationale Philosophie im Hinblick auf die Lehre – also die Logik – und die Ethik im Hinblick auf den Nutzen.173 Und wie seine Ausführungen im zweiten Buch von De doctrina christiana zeigen, mißt er der Logik ohne Zweifel eine wichtige Bedeutung zu. Descartes dagegen vergleicht die Philosophie mit einem Baum, dessen Wurzel die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen: auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik.174 Von der Logik ist nicht die Rede. Man könnte geneigt sein, bereits an dieser Stelle Descartes in der Einschätzung zuzustimmen, daß er – trotz des verblüffenden Gleichklangs der Selbstgewißheitsreflexionen – von den verwendeten Formeln ›einen anderen Gebrauch macht‹, wie er es formuliert hat. Aber ließe sich dem nicht entgegenhalten, daß Augustinus zwar seine Argumentation und das zu erzielende Resultat weiter faßt, aber dennoch in dem einen Punkt mit Descartes übereinstimmt, daß es eine unmittelbare und untäuschbare Selbsterfassung der eigenen Existenz gibt? Liegt hier nicht eine Schnittmenge vor, die Augustinus doch zum eindeutigen Vorläufer des cartesischen cogito-Arguments macht?
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Responsiones II (AT VII, 140): »Cùm autem advertimus nos esse res cogitantes, prima quaedam notio est, quae ex nullo syllogismo concluditur …« 172 Vgl. dazu die Ausführungen im § 27. 173 De civitate Dei XI, cap. 25 (PL 41, 339): »… naturalis propter naturam, rationalis propter doctrinam, moralis propter usum …« 174 Diese Beschreibung findet sich in dem Brief an Picot, dem Übersetzer der Principia ins Französische, den Descartes zugleich als Vorwort begriffen wissen wollte (AT IX–2, 14): »Ainsi toute la Philosophie est comme vn arbre, dont les racines sont la Metaphysique, le tronc est la Physique, & les branches qui sortent de ce tronc sont toutes les autres sciences, qui se reduisent à trois principales, à sçauoir la Medecine, la Mechanique & la Morale …«
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Ohne eine grundsätzliche Nähe in diesem Punkt gänzlich in Abrede stellen zu wollen, übersieht der Blick auf diese mögliche Identität doch die letzte Spezifität der Differenz. Um dieser entscheidenden Differenz Prägnanz zu verleihen, gilt es, den konstitutiven Hintergründen Aufmerksamkeit zu schenken. Während die augustinische Reflexion der Selbstgewißheit vor einem affirmativ angenommenen platonischen bzw. neuplatonischen Hintergrund formuliert wird, setzt sich das cartesische cogito-Argument von einem aristotelischen Hintergrund ab.175 Das ist kein geistesgeschichtliches Detail. Es nicht zu beachten hieße, den Schlüssel für das Verständnis der prinzipiellen Differenz aus der Hand zu geben. Die differierenden und hochspezifischen Hintergründe generieren prinzipiell unterschiedliche Konzeptionen des Geistes und der Bedeutung seiner Selbstvergewisserung. Augustinus geht von einer strikten Analogie von göttlichem und menschlichem Geist aus. Beide sind trinitarisch verfaßt. Es ist also eine an der göttlichen Trinität orientierte Metaphysik des Geistes, die die Selbstauffassung des Menschen bestimmt. Demnach ist jeder einzelne Mensch – der zwar nicht in bezug auf alles, was zu seiner Natur gehört, aber in bezug auf den Geist ein Bild Gottes genannt wird – eine Person und in seinem Geist Bild der Dreieinheit.176 So kann Augustinus in den Confessiones mit der Formel operieren, der Mensch sei in seiner geistigen Trinität eine Einheit aus Sein, Wissen und Wollen (esse, nosse & velle).177 Eine Formel, die er in De trinitate durch Erinnerung, Einsicht und Wille (memoria, intelligentia & voluntas) bestimmt sein läßt178 oder auch durch Geist, Liebe und Erkenntnis (mens, amor & notitia).179 Mag Augustinus auch beim Vortrag seiner Selbstgewißheitsreflexionen auf eine schlüssige Formel verzichtet haben, so greift er doch auf das trinitarische Modell zurück. So erschließt sich die Struktur einer Aussage, wenn er etwa formuliert: »Denn wir sind, wissen, daß wir sind, und lieben dieses unser Sein und Wissen.«180 Noch die Aufzählung der philosophischen Disziplinen als Naturphilosophie, Logik und Ethik folgt eher der Struktur des trinitarischen Schemas als einer inhärenten Notwendigkeit. 175
In seiner Begründung, warum die Parallelen zwischen dem augustinischen und dem cartesischen Reflexionsgang als im Grunde nur oberflächlich anzusehen sind, hat Nigel Abercrombie in dem Kapitel »Saint Augustine and the Cartesian Metaphysics« seines Buches Saint Augustine and French Classical Thought (a. a. O.) bereits auf die differierenden Hintergründe hingewiesen (vgl. ebd., 90). 176 De trinitate XV 7, 11 (PL 42, 1065): »Quapropter singulus quisque homo, qui non secundum omnia quae ad naturam pertinent ejus, sed secundum solam mentem imago Dei dicitur, una persona est, et imago est Trinitatis in mente.« 177 Confessiones XIII 11, 12 (PL 32, 849). 178 De trinitate X 11, 18 (PL 42, 983). 179 De trinitate IX 4, 4 (PL 42, 963). 180 De civitate Dei XI, cap. 26 (PL 41, 349): »Nam et sumus, et nos esse novimus, et id esse ac nosse diligimus.«
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Augustinus vertritt somit die Konzeption einer unmittelbaren Selbsterfassung des endlichen Geistes. Dabei ist die göttliche Trinität dem Anschauungsvermögen der mens humana zwar entzogen, aber der menschliche Geist hat in seiner Endlichkeit Zugang zum Bild Gottes, das er – der menschliche Geist – selbst ist.181 Die sich vollziehende Selbstreflexion des menschlichen Geistes in seiner trinitarischen Verfaßtheit als Geist, Erkenntnis und Liebe ist es, die eine gespiegelte Erkenntnis Gottes ermöglicht. Descartes war sich dieser Konzeption bewußt. In einem Brief an Andreas Colvius resümiert er, daß Augustinus die Gewißheit unseres Seins zu beweisen suche, um dann zu zeigen, daß es ein Bild der Trinität in uns gebe, und zwar in der Weise, daß wir dadurch, daß wir sind, wissen, daß wir sind, und daß wir dieses Sein und dieses Wissen, das in uns ist, lieben.182 Bereits die Ungenauigkeit, daß Descartes an dieser Stelle von irgendeinem Bild der Trinität (quelque image de la Trinité) in uns spricht, ist kaum einer unterstellten Nachlässigkeit anzulasten, sondern ist vielmehr als ein erster Distanzvermerk zu verstehen. Tatsächlich kommt es Augustinus auf die innertrinitarische Struktur des menschlichen Geistes an, denn die Extension des von ihm Aufgewiesenen erklärt sich daraus: Der menschliche Geist, der sich seiner selbst vergewissert, erfaßt in diesem Akt nicht allein sich selbst, sondern überschreitet diese Endlichkeit durch den Akt des reflektierten Wissens – ich bin nicht nur, sondern ich weiß auch, daß ich bin – und vollendet diesen Schritt durch die liebende Zuwendung zu sich und dadurch zu Gott. Die augustinische Gewißheit ist daher kein archimedischer Punkt, sondern eine dynamische Trinität. Die Gewißheit des si fallor, sum ist keine letzte Gewißheit im Sinne eines isolierbaren Ausgangspunktes, sondern eine Zwischenetappe innerhalb des kognitiv-voluntativen Selbstbezugs des Geistes. Bei aller Differenz von Gott und Mensch ist die Selbsterkenntnis des Menschen implizite Gotteserkenntnis.183 Die reine Selbstgewißheit des Subjekts 181
So beschreibt Johannes Brachtendorf in seiner eindringlichen Studie das innovative Moment der augustinischen Geistphilosophie: J. Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in »De Trinitate«, Hamburg 2000, 317. 182 Brief an Colvius, 14. November 1640 (AT III, 247). 183 Vgl. J. Brachtendorf, »Der menschliche Geist als Bild des trinitarischen Gottes – Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten«, in: ders. (Hg.), Gott und sein Bild – Augustins De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, 155–170, hier 166: »Das fundamentale Selbstverhältnis konkurriert nicht mit dem Verhältnis zu Gott, sondern ist dessen Möglichkeitsbedingung. Nur weil der Geist sich immer seiner selbst erinnert, sich immer denkt und liebt, ist er ein Selbst, das sich auf anderes als sich selbst richten und sich dieses zueignen kann. Nur ein in sich selbstbezügliches Wesen wie der menschliche Geist vermag sich überhaupt auf der Ebene diskursiven Bewußtseins Gott zuzuwenden, sich Gottes zu erinnern und ihn zu lieben. Tut er dies tatsächlich, dann werden auch die äußere memoria, die cogitatio und die äußere voluntas zur Vollkommenheit
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hat für Augustinus im Grunde nur einen geringen Wert. Augustinus geht von einer unauflöslichen Einheit von Selbst- und Gotteserkenntnis aus, er will nur zweierlei wissen: Gott und die Seele.184 Während sich Descartes im Anschluß an die Gewißheit des cogito, ergo sum seines Gottesbegriffs versichert, um wahre Urteile über die Welt möglich sein zu lassen, liegt eine Garantie für einen authentischen Bezug auf das extramental Wirkliche nicht in Augustins Interesse. Für Augustinus ist es von einer Gewißheit zur nächsten gleichsam nur ein kleiner Schritt. Dessen Leichtigkeit könnte man dadurch erklären, daß die Gewißheiten wie in einer Emanation auseinander hervorgehen. Descartes dagegen braucht innerhalb seiner Meditationes immerhin zwei Anläufe, um sich überhaupt auch nur der Existenz Gottes sicher zu sein. Während Descartes von einem vorrangig epistemologischen Interesse geleitet wird, ist Augustins antiskeptische Gewißheitsreflexion in der antiken Tradition einer Selbstbezüglichkeit des Geistes verwurzelt, wie sie von der spekulativen Metaphysik entworfen worden ist und die nicht zuletzt ethisch motiviert ist. Augustinus orientiert sich wesentlich an Plotin, der die antiken Traditionen der Geistmetaphysik aufgenommen und fortgeführt hatte.185 Von ihm übernimmt Augustinus auch die triadische Explikationsform, derer er sich durchgängig bedient – es ist keineswegs abwegig anzunehmen, daß Augustinus an der Entfaltung seiner Trinitätsspekulation im Rahmen seiner Geisttheorie mehr interessiert war als an der Absicherung einer antiskeptischen Gewißheit.186 Der Konstitutionshintergrund für die augustinischen Selbstgewißheitsreflexionen ist somit eindeutig platonisch-neuplatonisch bestimmt. Das Ziel der Selbstvergewisserung ist dabei von einer eudaimonistischen Ethik bestimmt. Noch die Funktion der Logik, die seinen Selbstgewißheitsreflexionen einen argumentativen Ausdruck verleihen soll, folgt dem stoischen Ideal, der Ausrichtung des Lebens nützlich zu sein und ist somit ebenfalls im Kern ethisch konditioniert. Die Evidenz der Selbstgewißheit ist nicht Absicherung, sondern der erste Schritt der Vervollkommnung und eine moralische Anforderung. Descartes setzt sich in dem bereits angeführten Brief an Colvius von Augustinus ab, indem er darauf hinweist, er bediene sich des Gedankens – des cogito, ergo sum –, um kenntlich zu machen, daß das Ich, das denkt, eine immaterielle gelangen und zum Bild werden. Dies ist aber nur möglich, weil die innere Dreiheit immer schon imago dei ist.« 184 Soliloquia I, cap. 2, 7 (PL 32, 872): »Deum et animam scire cupio.« 185 Vgl. dazu Ch. Horn, »Selbstbezüglichkeit des Geistes bei Plotin und Augustinus«, in: J. Brachtendorf (Hg.), Gott und sein Bild, a. a. O., 81–103. 186 Vgl. J. A. Mourant, »The Cogitos: Augustinian and Cartesian«, a. a. O., 37: »I refer to the fact that Augustine seems to be as much concerned with the discovery of the images of the Trinity in the mind of man as he is with the discovery of certitude and that ultimately such certitude is a reflection of the images of the Trinity in the human mind.«
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Substanz sei, die nichts Körperliches an sich habe.187 Diese Abgrenzung ist ungeschickt und enthält doch einen entscheidenden Hinweis. Es trifft sicherlich nicht zu, daß Augustinus nicht auch an der Selbstgewißheit eines immateriellen Ichs interessiert ist.188 Zwar stellt für ihn, wie erwähnt, auch die Vergewisserung der eigenen Leibhaftigkeit kein ernsthaftes Problem dar, aber der Fokus seiner Argumentation liegt eindeutig bei der Selbstgewißheit einer geistigen Entität. Aber Descartes’ Abgrenzung offenbart, daß er vor einem aristotelischen Hintergrund denkt, dem der Aspekt der Relation letztlich fremd ist. Die aristotelische Substanz ist als autonom zu begreifen, ihre Relation zu anderen Substanzen ist im Grunde marginal. Erst mit dem Eintritt des christlichen Denkens in die Ontologiegeschichte war »eine eminente Aufwertung der Relation« verbunden, die unter anderem die »kategoriale Monopolstellung« der Substanz bei Aristoteles in Frage stellte.189 Während sich für Augustinus die trinitarische Relation als ein Grundmodell zur Entschlüsselung des Wirklichen bewährt, verteidigt Descartes, der ansonsten als Antiaristoteliker firmiert, die uneingebundene Gewißheit des cogito als einen archimedischen Punkt. Während für Augustinus die eine Gewißheit zu dem Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Gewißheiten wird, minimiert Descartes den Geltungsraum abgesicherter Gewißheit, den er ohne eine metaphysische Indienstnahme des ebenfalls erst noch abzusichernden Gottesbegriffs nicht zu überschreiten vermag. Ihm ist das Denken in Relationen fremd, da er zum einen als dessen Inbegriff Lulls Kombinationsmethodik vor Augen hat, die er aufs Schärfste ablehnt. Zum anderen, und das ist entscheidend, kündigt er die Analogie von göttlichem und menschlichem Geist auf, da der Mensch für ihn nur noch gleichsam ein Abbild Gottes ist. Er gleicht ihm allein im voluntativen Vermögen, nicht im intellektuellen. Die Selbsterfassung des Ichs im cogito ist daher nichts anderes als eben die Selbsterfassung des Ichs im cogito. Descartes’ Abgrenzung von Augustinus ist argumentativ eher unbeholfen. Der Hinweis, er mache einen anderen Gebrauch von seinem cogito, ergo sum als Augustinus von den gleichklingenden Formeln, ist für eine klare Bestimmung der Differenz zu allgemein. Die Bestimmung des vorrangigen Zieles der Gewißheitsreflexion, das Ich als eine immaterielle Substanz aufzuzeigen, suggeriert, daß Augustinus an grundsätzlich anderem interessiert sei. Dabei dürfte Descartes mit den für ihn relevanten Textstellen Augustins durchaus vertraut gewesen sein. Der spätere Leser nimmt eher amüsiert zur Kenntnis, wenn Descartes an Colvius schreibt, er sei eigens in die örtliche Bibliothek gegangen, um die von 187
Brief an Colvius, 14. November 1640 (AT III, 247): »… au lieu que ie m’en sers pour faire connoistre que ce moy, qui pense, est vne substance immaterielle, & qui n’a rien de corporel …« 188 Vgl. L. Hölscher, »Die Geistigkeit der Seele. Augustins Argumente in De Trinitate«, in: J. Brachtendorf (Hg.), Gott und sein Bild, a. a. O., 127–136. 189 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, a. a. O., 77.
§ 27 Die erste Notwendigkeit und die Kontingenzen des cogito
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Colvius angemerkte Augustinus-Stelle nachzulesen190 – ein schönes Beispiel öffentlich fingierter Unkenntnis. Dennoch ist die Differenz zwischen der augustinischen und der cartesischen Selbstgewißheitsreflexion so gravierend, daß man Descartes’ Abgrenzung zustimmen kann. Er hatte recht, ohne angeben zu können, warum.
§ 27 Die erste Notwendigkeit und die Kontingenzen des cogito Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Philosoph seine Argumente für überzeugend hält. Es kommt aber nicht oft vor, daß er sie als unwiderlegbar ansieht. Für Descartes ist das gegen den skeptischen Zweifel gewendete cogito, ergo sum unbezweifelbar. Der Satz Ego sum, ego existo ist für Descartes, sooft er ihn ausspricht oder er von seinem Geist begriffen wird, »notwendigerweise wahr« (necessario esse verum).191 Für eine Verhältnisbestimmung von Kontingenz und Rationalität im cartesischen Denken ist der modale Status dieser existentiellen Selbstgewißheit des cogito von hoher Prägnanz. Ist hier eine Notwendigkeit gefunden, die der Kontingenz trotzt? Überbietet diese Notwendigkeit den Status kontingenter Notwendigkeit, den die ewigen Wahrheiten besitzen? Zeigt das cogito, ergo sum eine absolute Notwendigkeit an? Ist es das Refugium des Notwendigen in einer Welt der Kontingenz, oder hat es auch diese Gewißheit mit Kontingenzen zu tun? Die meistdiskutierte Formel des Cartesianismus soll im folgenden allein auf diesen Aspekt hin befragt werden. Die Auseinandersetzung mit Augustinus hat bereits gezeigt, daß Descartes das cogito, ergo sum nicht im Sinne eines Schlußverfahrens verstanden wissen will. Die in diesem Sinn präzisere Formel ego sum, ego existo; certum est, die Descartes in den Meditationes verwendet, unterstreicht das. Der Zusammenhang von ›Ich denke‹ und ›Ich bin‹ ist für Descartes unmittelbar und untrüglich evident und muß nicht erst durch einen logischen Schluß aufgewiesen werden. Die Gewißheit des cogito, ergo sum basiert auf einem präreflexiven Wissen, wie Sartre hervorgehoben hat.192 Descartes weist darauf in seiner Erwiderung auf kritische Einwände unmißverständlich hin: »Es ist freilich wahr, ›niemand kann gewiß sein, daß er denkt und daß er existiert, wenn er nicht weiß, was Denken und Existenz ist‹. Dies braucht aber kein reflexives Wissen zu sein oder ein Wissen, das durch ein Beweisverfahren erworben worden ist, und noch weit weniger ein Wissen vom reflexiven Wissen, durch das man sein Wissen erkennt und weiter 190 191 192
Brief an Colvius, 14. November 1640 (AT III, 247). Meditationes II (AT VII, 25). J.-P. Sartre, L’être et le néant, a. a. O., 20: »… il y a un cogito préréflexif qui est la condition du cogito cartésien …«
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sein Wissen vom Wissen und so weiter ins Unendliche, kann es doch ein solches Wissen niemals über eine Sache geben. Es reicht völlig aus, daß er dies durch jene innere Erkenntnis weiß, die der reflexiven immer vorausgeht und die allen Menschen bezüglich des Denkens und der Existenz so angeboren ist, daß … wir nicht anders können, als sie zu haben. Wenn daher irgendjemand bemerkt, daß er denkt und daß daraus folgt, daß er existiert, dann kann er nicht umhin, beides ganz zu wissen, so daß er, auch wenn er vielleicht vorher niemals gefragt hat, was Denken und Existenz ist, darin ganz zufriedengestellt ist.«193 Das cogito, ergo sum ist also eine in die reflexive Ausdrücklichkeit transformierte präreflexive Gewißheit. Descartes läßt keinen Zweifel daran, daß an dieser Evidenz kein Zweifel möglich sein soll.194 Das ego cogito, ergo sum ist daher für ihn die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse.195 Der Rigorismus des Zweifels schlägt um in die Entspanntheit der absoluten Evidenz im Augenblick. Dazu ist distanzlose Unmittelbarkeit nötig. Hobbes hat Descartes die Verkennung eines infiniten Regresses unterstellt, da Descartes behaupte, daß man beim cogito, ergo sum denke, daß man denkt. Es sei aber ganz unmöglich, daß jemand denkt, daß er denkt.196 Die Existenzgewißheit des cogito wäre das Resultat einer reflexiven Distanz, die einzunehmen aber nicht möglich ist, da ich zwar denken kann, daß ich gedacht habe und denken kann, daß ich denken werde, aber ein aktueller Denkakt kann nicht einen aktuellen Denkakt zum Inhalt haben. Descartes verteidigt gegen Hobbes seine Position, daß ein Gedanke nicht Gegenstand eines Gedankens sein kann.197 Damit ist die Unmittelbarkeit der Existenzgewißheit des Denkenden gewahrt.
193
Responsiones VI (AT VII, 422): »Verum quidem est neminem posse esse certum se cogitare, nec se existere, nisi sciat quid sit cogitatio, & quid existentia. Non quòd ad hoc requiratur scientia reflexa, vel per demonstrationem acquisita, & multo minus scientia scientiae reflexae, per quam sciat se scire, iterumque se scire se scire, atque ita in infinitum, qualis de nullâ unquam re haberi potest. Sed omnino sufficit ut id sciat cognitione illâ internâ, quae reflexam semper antecedit, & quae omnibus hominibus de cogitatione & existentiâ ita innata est, ut … non possimus tamen reverâ non habere. Cùm itaque quis advertit se cogitare, atque inde sequi se existere, quamvis fortè nunquam antea quaesiverit quid sit cogitatio, nec quid existentia, non potest tamen non utramque satis nosse, ut sibi in hac parte satisfaciat.« 194 Nach Andreas Kemmerling ist für Descartes aber auch die eigene Existenz bezweifelbar. Vgl. A. Kemmerling, »Die Bezweifelbarkeit der eigenen Existenz«, in: A. Kemmerling/H.-P. Schütt (Hg.), Descartes nachgedacht, Frankfurt am Main 1996, 80–122. 195 Principia I 7 (AT VIII–1, 7): »… haec cognitio, ego cogito, ergo sum, est omnium prima & certissima …« 196 Objectiones III (AT VII, 172–174). 197 Responsiones III (AT VII, 175): »… unam cogitationem non posse esse subjectum alterius cogitationis.«
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Die unbedingte Evidenz der Reflexion cogito, ergo sum kann als die Einsicht in den performativen Selbstwiderspruch begriffen werden, aktiv die eigene Existenz zu bezweifeln: ›Ich bin nicht.‹198 Die Verneinungen von ›Ich denke‹ und ›Ich bin‹ sind pragmatisch selbstvernichtend oder selbstfalsifizierend.199 Ein Ich kann nicht sinnvollerweise sagen ›Ich bin abwesend‹ oder ›Ich bin ein anderer‹. Das Ich als der Inbegriff der Subjektivität kann nicht zu sich selbst in Distanz treten. Zu dieser Unmittelbarkeit gehört die Distanzlosigkeit zwischen dem scheinbaren Schluß vom Denken auf das Sein im ›Ich denke, also bin ich‹. Der Reiz einer analytischen Bestimmung des Zusammenhangs der Relata ›Ich‹ und ›Denken‹ und ›Sein‹ liegt auf der Hand, aber man sollte die Pointe des cartesischen Arguments nicht übersehen, daß das cogito, ergo sum »ein in sich selbst kreisender Gedanke«200 ist. Die Gewißheiten des ›Ich denke‹ und des ›Ich bin‹ sind nicht auseinanderzuhalten, denn »es ist gerade die Natur des Bewußtseins, daß es ›als Zirkel‹ existiert. Man kann das so ausdrücken: Jede bewußte Existenz existiert als Bewußtsein, zu existieren.«201 Es ist gerade die Distanzlosigkeit der Relata, die jene Evidenz generiert, auf die es Descartes ankommt. Anders gesagt: Sobald die Reflexionsformel ego cogito, ergo sum selbst wieder reflektierend seziert wird, um etwa ihren Wahrheitsgehalt aufzuzeigen, hat man ihr Scheitern unterstellt, da sie unbezweifelbar, selbst-verifizierend und selbst-evident sein soll,202 kurz: evident wahrheitsautonom.203 Wenn es tatsächlich die Pointe der cartesischen Argumentation sein sollte, daß im cogito, ergo sum zwei untrügliche Gewißheiten: die des denkenden Ichs und des existierenden Ichs, eher zusammenfallen als in einem Ableitungsverhältnis stehen, handelt es sich bei dem cogito, ergo sum um eine Reflexionsformel, für die eine »Verschmelzung von Prämisse und Konklusion«204 maßgeblich ist. Man könnte auch sagen, daß es sich bei der Formel cogito, ergo sum gar nicht um einen Ausdruck einer Beziehung zwischen zwei Behauptungen handelt.205 Vielmehr erfolgt eine nicht-diskursive, unmittelbare Erfassung einer Selbstgewißheit, »und
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Vgl. J. Hintikka, »Cogito, Ergo Sum: Inference or Performance«, in: The Philosophical Review 71 (1962), 3–32, hier 15 ff. 199 B. Williams, Descartes, a. a. O., 74: »The denials of ›I am thinking‹ an ›I exist‹ are … pragmatically self-defeating or self-falsifying …« 200 A. Kemmerling, Ideen des Ichs. Studien zu Descartes’ Philosophie, Frankfurt am Main 1996, 99. 201 J.-P. Sartre, L’être et le néant, a. a. O., 20: »… c’est la nature même de la conscience d’exister ›en cercle‹. C’est ce qui peut s’exprimer en ces termes: toute existence consciente existe comme consciente d’exister.« 202 D. Perler, René Descartes, a. a. O., 143. 203 Vgl. A. Kemmerling, Ideen des Ichs, a. a. O., 88 f. 204 Ebd., 98. 205 Vgl. B. Williams, Descartes, a. a. O., 76.
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auch, wenn jemand sagt: ›Ich denke, also bin ich, oder existiere ich‹, so leitet er die Existenz nicht aus dem Denken durch einen Syllogismus ab, sondern er erkennt etwas durch sich selbst Bekanntes durch eine einfache geistige Anschauung«.206 Durch das cogito, ergo sum gewinnt man also eine Gewißheit, die man bereits besitzt. Die cartesischen Reflexionen dienen nicht dazu, diese Gewißheit allererst herzustellen, sondern aus ihrer Hintergründigkeit herauszuholen. Da sie präreflexiv gegeben ist, bedarf es keines deduktiven Beweisverfahrens, sondern einer aufmerksamen, aber dennoch einfachen geistigen Anschauung (mentis intuitus). In den Regulae hat Descartes erläutert, was eine Intuition ausmacht: »Unter ›Intuition‹ verstehe ich … ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das, was wir erkennen, überhaupt kein Zweifel zurückbleibt; oder, was dasselbe ist, eines reinen und aufmerksamen Geistes unbezweifelbares Begreifen, welches allein aus dem Licht der Vernunft entspringt und welches sogar zuverlässiger ist als die Deduktion, weil einfacher …«207 Für eine geistige Anschauung ist die unbedingte Selbstevidenz des Gegebenen entscheidend. Descartes greift zur Metapher des Lichts, um die Präsenz der Wahrheit zu illustrieren. In dieser Metaphorik steht das Licht für »das Eindringliche, es schafft in seiner Fülle jene überwältigende, unübersehbare Deutlichkeit, mit der das Wahre ›heraustritt‹, es erzwingt die Unentziehbarkeit der Zustimmung des Geistes«.208 Die distanzlose Unmittelbarkeit dieses Erkennens ist für Descartes nur mit der Einsicht in mathematische Sachverhalte vergleichbar: »So kann jeder intuitiv mit dem Verstand erfassen, daß er existiert, daß er denkt, daß ein Dreieck von nur drei Linien, daß die Kugel von einer einzigen Oberfläche begrenzt ist und Ähnliches …«209 Es genügt die Aufmerksamkeit des Geistes, um diese Wahrheiten zu erfassen. Die Angespanntheit der angestrengten Wachsamkeit (laboriosa vigilia) schlägt um in entspannte Einsicht. Im Kontext des cogito, ergo sum gibt es für Descartes nichts zu definieren. Es gehöre vielleicht zu den größten Irrtümern, die in den Wissenschaften begangen werden, definieren zu
206
Responsiones II (AT VII, 140): »… neque etiam cùm quis dicit, ego cogito, ergo sum, sive existo, existentiam ex cogitatione per syllogismum deducit, sed tanquam rem per se notam simplici mentis intuitu agnoscit …« 207 Regulae III (AT X, 368): »Per intuitum intelligo … mentis purae & attentae tam facilem distinctumque conceptum, vt de eo, quod intelligimus, nulla prorsus dubitatio relinquatur; seu, quod idem est, mentis purae & attentae non dubium conceptum, qui à solâ rationis luce nascitur, & ipsâmet deductione certior est, quia simplicior …« 208 H. Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung«, in: Studium Generale 10 (1957), 432–447, hier 433. 209 Regulae III (AT X, 368): »Ita vnusquisque animo potest intueri, se existere, se cogitare, triangulum terminari tribus lineis tantùm, globum vnicâ superficie, & similia …«
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wollen, was man nur zu begreifen brauche.210 Das Denken und die Existenz lassen sich durch sich selbst (per se) begreifen. »Es wäre ja vergeblich, wenn wir einem Blinden definieren wollten, was Weiß ist, damit er es auffasse, wo man doch bloß die Augen zu öffnen und das Weiße zu sehen braucht, um es zu erkennen. Ebenso muß man bloß zweifeln und denken, um zu wissen, was Zweifeln und Denken ist. Dies lehrt uns alles, was wir davon wissen können; und es erklärt mehr als selbst die exaktesten Definitionen.«211 Wahrheit ist für Descartes ein »so transzendental klarer Begriff« (vne notion si transcendentalement claire),212 daß man keine Mittel hätte zu erfahren, was sie ist, wenn man sie nicht von Natur aus kennen würde.213 Daher gleicht die reflektierte Existenzgewißheit des Denkenden einem testimonium internum, einer Art inneren Beglaubigung.214 Das Ich legt reflektierend Zeugnis von seiner Existenz ab. Ungeachtet der Frage, ob die Gewißheitsreflexion in der von ihm vertretenen Form tatsächlich zwingend ist, hat Descartes innerhalb seiner impliziten Auseinandersetzung mit der Kontingenz ein für ihn wichtiges Ziel erreicht: Er hat eine unumstößliche Notwendigkeit aufgewiesen. Für alle kognitiven Akte des Zweifelns, Verstehens, Bejahens, Verneinens, Wollens, Nicht-Wollens, des sich Vorstellens und des Empfindens soll gelten, daß es notwendigerweise wahr ist, daß derjenige, der diese Akte vollzieht, existiert, wenn er sie vollzieht. Über den Wahrheitsgehalt des Gedachten ist damit noch nichts gesagt, denn es kann sein, daß ich etwas falsch verstehe, mir etwas Falsches vorstelle oder mich in einer Empfindung täusche. Aber auch das falsche Verstehen, Vorstellen oder Empfinden kann mich nicht in der Einsicht täuschen, daß ich bin, wenn ich denke. Bereits Thomas von Aquin hatte formuliert, daß niemand dem Gedanken zustimmen könne, daß er nicht existiert, da er wahrnehme, wenn er irgendetwas denke, daß er ist.215 Descartes scheint einen Schritt weiter zu gehen.
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Recherche (AT X, 524): »Imò fortasse praecipuis, qui in scientiis committi possint, erroribus eorum accensendus error est, qui id, quod concipi tantummodo debet, definire volunt …« 211 Ebd. (AT X, 524): »Ita ut, sicuti frustra quid sit album esse definiremus, ut, qui planè nihil videret, quid esset caperet, & velut oculos tantùm aperire & album videre, ut id sciamus, oportet: ita etiam ad cognoscendum quid sit dubitatio, quid cogitatio, dubitandum duntaxat vel cogitandum est. Hoc nos omne id, quod de eo scire possumus, docet; imò plura, quàm vel exactissimae definitiones, explicat.« 212 Brief an Mersenne, 16. Oktober 1639 (AT II, 597). 213 Ebd.: »… on n’en auroit point pour apprendre ce que c’est que la verité, si on ne la connoissoit de nature.« 214 Recherche (AT X, 524). 215 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De veritate, qu. 10, art. 12, ad. 7 (ed. Leonina XXII–2, 342): »… nullus potest cogitare se non esse cum assensu: in hoc enim ipso quod cogitat aliquid percipit se esse.«
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VI. Meditative Anthropogenese
Nicht allein dem Gedanken ›Ich existiere nicht‹ muß notwendigerweise die Zustimmung verweigert werden, sondern jede Art von Gedanken verweist auf die unhintergehbare Notwendigkeit der eigenen Existenzgewißheit. Es scheint somit nicht einmal erforderlich zu sein, daß ein Gedanke ›vernünftig‹ ist, um die Existenz des Denkenden zu beglaubigen. Hatte Foucault die These vertreten, der Wahnsinn sei vom zweifelnden Subjekt ausgeschlossen, »da ich als Denkender nicht wahnsinnig sein kann«,216 verteidigt Derrida eben diese Radikalisierung dessen, was alles unter dem cogito verstanden werden müsse, denn »der Akt des Cogito gilt sogar, wenn ich wahnsinnig bin, sogar wenn mein Denken durch und durch wahnsinnig ist. Es gibt einen Wert und einen Sinn des Cogito wie der Existenz, die der Alternative eines determinierten Wahnsinns und einer determinierten Vernunft entgehen.«217 Nun mag man fragen, welchen reflektierten Gewißheitsstatus ein Wahnsinniger über seine Existenz haben kann, wenn eine vernünftige Performation ausgeschlossen ist. Andererseits hat Sartre mit Blick auf Descartes’ cogito-Reflexionen darauf bestanden, daß Wissen nicht bedeuten muß, über das Wissen zu verfügen, daß man weiß.218 Ein Wahnsinniger könnte demnach intuitiv seiner Existenz sicher sein, ohne je zu dem durch Reflexionen bekundeten Wissen seiner Existenz vorzudringen. Für die Bestimmung des Zusammenhangs von Kontingenz und Rationalität ist der Grenzfall des Wahnsinns nicht entscheidend. Er illustriert vielmehr, wenn man auch dem wahnsinnigen cogito eine Existenzgewißheit zu attestieren bereit ist, die untrügliche Evidenz des präreflexiven Selbstbewußtseins, aus der sich der unbedingte Notwendigkeitsanspruch des cogito, ergo sum ergibt. Sind nun aus diesem notwendigerweise wahren Reflexionsgang Kontingenzen grundsätzlich ausgeschlossen? Ist das seiner Existenz gewisse cogito der Inbegriff des Notwendigen? Offensichtlich nicht. Die Notwendigkeit des cogito-Arguments bietet zwar eine unumstößliche Gewißheit innerhalb einer kontingenten Welt und einer Welt der Kontingenz, ohne daß aber die Kontingenz selbst getilgt werden könnte. Es gilt daher das Augenmerk auf das zu richten, was im Akt des cogito notwendig wird und was kontingent bleibt. Die mangelnde ontologische Subsistenz des Ichs und seine prekäre temporale Konstitution verdeutlichen das. Descartes liegt viel daran, in seinen Ausführungen, denen er den Anschein der
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M. Foucault, Histoire de la folie à l’âge classique, Paris 1972, 57: »… parce que moi qui pense, je ne peux pas être fou …« 217 J. Derrida, »Cogito et histoire de la folie«, in: ders., L’écriture et la différence, Paris 1967, 51–97, hier 85 f.: »… l’acte du Cogito vaut même si je suis fou, même si ma pensée est folle de part en part. Il y a une valeur et un sens du Cogito comme de l’existence qui échappent à l’alternative d’une folie et d’une raison déterminées.« 218 J.-P. Sartre, L’être et le néant, a. a. O., 19.
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Mühelosigkeit zu geben bemüht ist, vom cogito auf die res cogitans überzugehen. Er erklärt: »Aber was bin ich also? Ein denkendes Ding.«219 Mit dem Selbstverständnis des cogito, das sich als eine res cogitans begreift, wird seine Kontingenz offenbar, »denn mein Denken erlegt den Dingen keinerlei Notwendigkeit auf«.220 Es ist daher zwar notwendig, daß ich bin, wenn ich denke, aber daß es mich überhaupt als denkende Substanz gibt, wird dadurch nicht notwendig. Das cogito verfügt zwar über eine notwendige Gewißheit seiner Existenz, kann aber seine Existenz an sich nicht als notwendig begreifen. Die Selbstgewißheit der res cogitans ist notwendig, nicht die res cogitans. Für die res cogitans ergibt sich daraus im Moment der Reflexion des cogito, ergo sum eine zweischneidige Situation. Das denkende Ich ist in diesem Moment auf sich gestellt – »die Gegenwart des cogito behauptet sich ganz allein«, wie Levinas hervorgehoben hat, »sei es auch nur für einen Augenblick, für den Zeitraum eines cogito«.221 Zugleich kann das Ich die Bedingung einer Notwendigkeit seiner Fortdauer nicht erfüllen. »Da nämlich jede Zeit des Lebens in unzählige Teile geteilt werden kann, wobei die einzelnen Teile von den übrigen auf keine Weise abhängen, folgt aus der Tatsache, daß ich kurz vorher gewesen bin, nicht, daß ich nun sein muß …«222 Die Kontingenz der eigenen Fortdauer wird zur Limitierung des Geltungszeitraums des cogito-Arguments. Die Gewißheit der eigenen Existenz wird zu einer punktuellen Gewißheit angesichts der Abgründe jenseits des aktuellen Moments. Descartes betont daher, die Gewißheit des Satzes Ego sum, ego existo gelte, »sooft er von mir ausgesprochen oder vom Geist begriffen wird«.223 Selbst wenn ich sicher sein kann, daß ich in dem Augenblick bin, in dem ich ›Ich denke‹ sage, folgt daraus nicht, daß ich sicher sein kann, im nächsten Moment zu sein, so daß ich auch dann ›Ich denke‹ werde sagen müssen, um die Sicherheit erneut zu gewinnen. Es ist diese »atomistische Theorie der Zeit, nach der jeder Augenblick eines Seienden kontingent gegenüber dem vorhergehenden und dem folgenden ist«,224 die Descartes auf das Konzept der creatio continua zurückgreifen läßt. Die
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Meditationes II (AT VII, 28): »Sed quid igitur sum? Res cogitans.« Meditationes V (AT VII, 66): »… nullam enim necessitatem cogitatio mea rebus imponit …« 221 E. Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l’Extériorité, La Haye 1961, 25: »… le présent du cogito … se soutient tout seul – ne fût-ce que pendant un instant, l’espace d’un cogito.« 222 Meditationes III (AT VII, 48 f.): »Quoniam enim omne tempus vitae in partes innumeras dividi potest, quarum singulae a reliquis nullo modo dependent, ex eo quòd paulo ante fuerim, non sequitur me nunc debere esse …« 223 Meditationes II (AT VII, 25): »… quoties a me profertur, vel mente concipitur …« 224 H. Blumenberg, »Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976, 144–207, hier 148.
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Schaffung des Seienden aus dem Nichts, die creatio ex nihilo, bestimmt demnach den ontologischen Status des Geschaffenen als den einer defizitären Subsistenz. Daher muß der schöpferische Akt Gottes in jedem Moment der Fortdauer aufs Neue bestätigt werden: durch eine creatio continua. Da nun Descartes in sich keine Kraft ausmacht, durch die er selbst bewirken kann, daß er auch im nächsten Moment existieren wird, wird er nicht sein, »wenn mich nicht irgendeine Ursache gewissermaßen in diesem Moment von neuem erschafft, d. h. mich erhält«.225 Gott ist für Descartes daher ausdrücklich die Ursache der geschaffenen Dinge nicht nur in bezug auf ihr Werden, sondern auch in bezug auf ihr Sein.226 Gassendi hat die unbedingte Kontingenz der Fortdauer des Geschaffenen abzuschwächen versucht, indem er Descartes entgegengehalten hat, Descartes besäße eine selbsterhaltende Kraft in sich, aufgrund derer er vermuten könne, daß er auch im folgenden Zeitpunkt sein werde. Allerdings gelte das »nicht mit Notwendigkeit und ohne jeden Zweifel, weil jene Kraft oder natürliche Beschaffenheit in Dir … sich nicht so weit erstreckt, daß sie jede verderbliche Ursache von innen oder von außen fernhält«.227 Es gibt für Gassendi also ein natürliches Beharrungsvermögen des Seienden, welches erst durch eine destruierende Ursache aufgehoben wird. Descartes kann dem nicht zustimmen. Gassendi bemerke nicht, wenn er sage, er sei eine ausreichende selbsterhaltende Kraft in uns, wenn sie nicht korrumpiert werde, daß er dem Geschaffenen die Vollkommenheit des Schöpfers beilege, weil es dann doch unabhängig von etwas anderem im Sein beharre. Auch schreibe er dem Schöpfer die Unvollkommenheit des Geschaffenen zu, weil Gott durch eine positive Handlung nach dem Nichtseienden (in non ens) streben müsse, wenn er einmal bewirken wolle, daß wir aufhören zu sein.228 Die Fortdauer der Schöpfung ist somit für Descartes in keiner Weise selbstverständlich, garantiert oder notwendig. Die creatio continua wird zum Inbegriff der Kontingenz, da Gott nicht gezwungen ist, seine Schöpfung in jedem Moment ihrer möglichen Fortdauer zu bestätigen. Descartes macht seine Ontologie
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Meditationes III (AT VII, 49): »… nisi aliqua causa me quasi rursus creet ad hoc momentum, hoc est me conservet.« 226 Responsiones V (AT VII, 369): »… Deus est causa rerum creatarum, non modò secundùm fieri, sed etiam secundùm esse …« 227 Objectiones V (AT VII, 301 f.): »… non tamen necessariò aut indubie, quia illa tua vis seu naturalis constitutio … eò non extenditur, ut omnem causam corrumpentem, seu internam, seu externam, arceat.« 228 Responsiones V (AT VII, 370): »Cùmque ais, vim esse in nobis, quae ut perseveremus praestare sufficiat, nisi corrumpens causa superveniat, non advertis te creaturae tribuere perfectionem creatoris, quòd nempe independenter ab alio in esse perseveret, ac creatori imperfectionem creaturae, quòd nempe per positivam actionem tendere debeat in non ens, si quando velit efficere ut esse desinamus.«
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auf radikale Weise von einem theologischen Voluntarismus abhängig, den er aber – trotz seiner Radikalität – für geläufig hält. Wenn Gassendi seine Position nicht teile, lehne er ab, »was alle Metaphysiker als offenkundig bestätigen«.229 Nur auf den ersten Blick scheint die cartesische Physik dagegen den Körpern ein immanentes Beharrungsvermögen zuzusprechen. In der ersten Regel von Le Monde führt Descartes aus, jeder einzelne Teil der Materie verharre solange im selben Zustand, wie das Zusammentreffen mit anderen ihn nicht zwinge, ihn zu verändern. Seine Größe werde nicht kleiner, wenn er nicht geteilt werde, seine runde oder eckige Gestalt ändere sich nicht ohne Zwang, er bleibe an der Stelle und werde sie nicht verlassen, wenn er nicht von dort vertrieben werde, und wenn er begonnen habe, sich zu bewegen, werde er immer mit gleicher Kraft fortfahren, bis er angehalten oder verzögert werde.230 Doch der Eindruck eines autonomen Beharrungsvermögens täuscht. Zwar strebt ein Körper gemäß der Naturgesetze danach, im Zustand der Ruhe zu bleiben oder eine Bewegung fortzusetzen. Dennoch »muß man sagen, daß Gott allein der Urheber aller Bewegungen ist, die es auf der Welt gibt«,231 und »man muß notwendigerweise denken, daß er sie beständig in derselben Weise fortfahren läßt«.232 Gott ist dabei nicht allein die allgemeine Ursache (la cause vniuerselle), sondern auch die totale Ursache (la cause totale) 233 von allem, »und deshalb muß er immer in die Wirkung einfließen, um sie zu erhalten«.234 Ein Körper hat also nicht von sich aus die Kraft, einen anderen Körper in Bewegung zu versetzen oder in seinem eigenen Bewegungszustand zu verharren. Damit bestreitet Descartes nicht die physikalische Annahme, daß die Fähigkeit oder das Vermögen eines Körpers, sich selbst zu bewegen – eine Fähigkeit, die Descartes zufolge in einem Körper vorhanden ist – sehr wohl ganz oder zum Teil auf einen anderen Körper übergehen kann.235 Aber dieser Vorgang ist nicht denkbar, ohne daß Gott soviel Bewegung bei der Übertragung in der Materie erhält, wie er im ersten Moment der Schöpfung in die Materie hineingegeben hat.236 Der Körper partizipiert also
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Ebd. (AT VII, 369): »… quam Metaphysici omnes ut manifestam affirmant …« Vgl. Monde VII (AT XI, 38). Ebd. (AT XI, 46): »… il faut dire, que Dieu seul est l’Autheur de tous les mouvemens qui sont au monde …« 232 Ebd. (AT XI, 43): »… il faut necessairement penser, qu’il leur fait toujours continuer la mesme chose.« 233 Brief an Elisabeth, 6. Oktober 1645 (AT IV, 314). 234 Responsiones V (AT VII, 369): »… ideoque debet semper eodem modo influere in effectum, ut eundem conservet.« 235 Monde III (AT XI, 11). 236 Brief an Morus, August 1649 (AT V, 403 f.): »Vis autem mouens potest esse ipsius Dei conseruantis tantumdem translationis in materiâ, quantum à primo creationis momento in eâ posuit …«
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VI. Meditative Anthropogenese
an einem Bewegungsvermögen, das er von Gott empfangen hat und welches dieser als dauernd wirksame Ursache der Bewegung erhält.237 Wenn ein Körper sich streng genommen nicht aus eigener Kraft zu bewegen vermag, kann eine res cogitans aus eigener Kraft denken? Die Frage ist keinesfalls abwegig. Gegenüber der Prinzessin Elisabeth von Böhmen erklärt Descartes: »Es stimmt zwar, daß nur der Glaube allein uns lehrt, was Gnade ist, durch welche Gott uns zu einer übernatürlichen Glückseligkeit erhebt, aber die Philosophie allein genügt, um zu erkennen, daß in den Geist eines Menschen nicht der geringste Gedanke einzutreten vermöchte, dessen Eintritt Gott nicht will und nicht von aller Ewigkeit her gewollt hat.«238 Ist das denkende Ich noch Herr seiner selbst, wenn Gott vorherbestimmt hat, was es als Gedanken zu haben überhaupt in der Lage ist? Descartes’ Ausführungen zu den Bewegungen von Körpern helfen, diese auf Anhieb überraschende Äußerung zu deuten. Gott, so führt Descartes wie bereits gesehen aus, ist allein der Urheber aller Bewegungen, die es auf der Welt gibt, insofern sie bestehen und – so fügt er hinzu – insofern sie geradlinig sind (entant qu’ils sont droits).239 Er ist also für die Erhaltung der bewegenden Kraft an sich verantwortlich, die ihrer Natur nach auf eine konstante Bewegung eines Körpers zielt. Daher gilt, »daß es aber die verschiedenen Anordnungen der Materie sind, die sie unregelmäßig und gekrümmt machen. So wie die Theologen uns lehren, daß Gott ebenfalls der Urheber all unserer Handlungen ist, insofern sie sind und insofern sie einen gewissen Wert besitzen, daß es aber die verschiedenen Neigungen unseres Willens sind, die sie tugendlos machen können.«240 Genau wie Gott grundsätzlich die gleichförmige Bewegung von Körpern eingesetzt hat, aber gesetzmäßig bestimmte Abweichungen zuläßt, hat er dem Menschen die Fähigkeit zu Handeln verliehen, auch wenn er damit die willentliche Sünde in Kauf nimmt. Ebenso hat Gott die Prinzipien unseres Denkens festgelegt – im Sinne der für uns geltenden ›ewigen Wahrheiten‹ –, auch wenn damit kein konkreter Gedanke festgelegt ist. In der Weise, wie Gott den Körpern 237
Zum Prinzip der Erhaltung der innerweltlichen Bewegung durch Gott vgl. D. Garber, Descartes’ Metaphysical Physics, a. a. O., 204–210. 238 Brief an Elisabeth, 6. Oktober 1645 (AT IV, 314): »Il est vray qu’il n’y a que la foy seule, qui nous enseigne ce que c’est que la grace, par laquelle Dieu nous éleue a vne beatitude surnaturelle; mais la seule Philosophie suffit pour connoistre qu’il ne sçauroit entrer la moindre pensée en l’esprit d’vn homme, que Dieu ne veuille & ait voulu de toute eternité qu’elle y entrast.« 239 Monde VII (AT XI, 46). 240 Ebd. (AT XI 46 f.): »… mais que ce sont les diverses dispositions de la matiere, qui les rendent irreguliers & courbez. Ainsi que les Theologiens nous apprennent, que Dieu est aussi l’Autheur de toutes nos actions, entant qu’elles sont, & entant qu’elles ont quelque bonté; mais que ce sont les diverses dispositions de nos volontez, qui les peuvent rendre vicieuses.«
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den Impuls zur geradlinigen Bewegung gegeben hat, scheint er dem menschlichen Geist grundsätzliche Einsichten mitgegeben zu haben. Die Existenzgewißheit des menschlichen Geistes entsteht dadurch, daß er dies durch jene innere Erkenntnis weiß, die der reflexiven immer vorausgeht und »die allen Menschen bezüglich des Denkens und der Existenz so angeboren ist, daß … wir nicht anders können, als sie zu haben«.241 Die Reflexion des cogito zieht somit zwei evidente Einsichten nach sich: die untrügliche Gewißheit des denkenden Ichs im Moment des cogito und die Kontingenz des Ichs als eine nicht aus eigener Kraft erhaltungsfähige res cogitans. Das cogito erfaßt somit die Notwendigkeit der eigenen Existenzgewißheit und die Kontingenz seiner Existenz. Der Gewißheitsautonomie begegnet eine Schöpfungs- und Erhaltungsabhängigkeit: Ich bin, werde ich aber auch sein? Wie ist die Evidenz der eigenen Existenz im Übergang von einem Moment zum nächsten zu sichern? »Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. Wie lange aber? Offenbar solange ich denke; denn vielleicht könnte es auch geschehen, daß ich, wenn ich mit jedem Denken aufhörte, sofort ganz und gar aufhörte zu sein.«242 Das ununterbrochene Denken ist die Bedingung der Fortdauer der Existenzgewißheit. Auch wenn Descartes dem Ich keine ontologische Notwendigkeit zu verleihen vermag, versucht er dennoch, zumindest die punktuelle Existenzgewißheit behutsam auszudehnen und abzusichern. Nun wird auch deutlich, warum ihm an der Einführung einer res cogitans gelegen sein muß. Der Begriff der res cogitans unterstreicht durch seine suggestive Kraft nicht allein die Faktizität des Ichs als etwas Denkendes – »ich bin aber ein wirklich und wahrhaftig existierendes Ding«243 –, sondern es kommt auf die Überführung des prozessual zu wiederholenden und performativen ›Ich denke‹ in den Status ›Ich bin eine denkende Substanz‹ an: »Aber … soviel ist gewiß, daß ein Denken nicht möglich ist ohne ein denkendes Ding, wie überhaupt eine Tätigkeit oder ein Akzidens nicht möglich ist ohne eine Substanz, der dies innewohnt.«244 Vom cogito gelangt Descartes zunächst zum Begriff der res, um dann von der substantia zu sprechen. »Da wir nun aber die Substanz nicht unmittelbar aus sich selbst erkennen, sondern nur daraus, daß sie Subjekt bestimmter Tätigkeiten ist«,245 erkennen wir
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Responsiones VI (AT VII, 422): »… quae omnibus hominibus de cogitatione & existentiâ ita innata est, ut … non possimus tamen reverâ non habere.« 242 Meditationes II (AT VII, 27): »Ego sum, ego existo; certum est. Quandiu autem? Nempe quandiu cogito; nam forte etiam fieri posset, si cessarem ab omni cogitatione, ut illico totus esse desinerem.« 243 Ebd. (AT VII, 27): »Sum autem res vera, & vere existens …« 244 Responsiones III (AT VII, 175 f.): »Sed … certum est cogitationem non posse esse sine re cogitante, nec omnino ullum actum, sive ullum accidens, sine substantiâ cui infit.« 245 Ebd. (AT VII, 176): »Cùm autem ipsam substantiam non immediate per ipsam cognoscamus, sed per hoc tantùm quòd sit subjectum quorundam actuum …«
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VI. Meditative Anthropogenese
die geistige Substanz gleichsam nur über den Umweg ihrer Akte. Entscheidend ist aber die durch die Substantialität verbürgte Permanenz dieser subjektiven Aktivität. Es ist die substantielle Kontinuität der geistigen Tätigkeit – »ich glaube, daß die Seele immer denkt«246 –, die die Nichtnotwendigkeit des cogito als einer geistigen Substanz kompensieren soll. Das Ich des cogito ist ontologisch gesehen nicht notwendig, aber wenn es ist, soll es notwendigerweise denkend sein und somit permanent prinzipiellen Zugang zur eigenen existentiellen Gewißheit und kognitiven Identität haben. Auf die Konnotation des Begriffs der Substanz als etwas Beharrendem kommt es hier an. Gassendi hatte Descartes gegenüber eingewendet, der Schlaf würde das Denken unterbrechen. Ebenso würde ein Kind im Mutterleib noch nicht denken.247 Descartes antwortet mit Blick auf die konstante Tätigkeit der Seele scheinbar lapidar: »Aber warum sollte sie nicht immer denken, da sie eine denkende Substanz ist?«248 Die kontingente geistige Substanz ist so determiniert, daß sie notwendigerweise permanent über die Bedingung verfügt, die zur Erfüllung der existentiellen Selbstgewißheit nötig ist. Die res cogitans als ein permamentes Denken ist keine notwendige Substanz. Descartes läßt keinen Zweifel daran, daß es für ihn strenggenommen nur eine Substanz gibt: »Unter ›Substanz‹ können wir nur ein Ding verstehen, das so existiert, daß es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf. Und eine Substanz, die durchaus keines anderen Dinges bedarf, kann man nur als einzige denken, als Gott. Alle anderen aber können, wie wir einsehen, nur mit Gottes Beistand existieren. Deshalb gebührt der Name Substanz Gott und den übrigen Dingen nicht in gleichem Sinn, ›univok‹, wie man in den Schulen sagt, das heißt, es gibt keine deutlich einzusehende Bedeutung dieses Wortes, welche Gott und den Geschöpfen gemeinsam wäre.«249 Die res cogitans als Substanz ist nicht notwendig, da das Denken ihr keine Notwendigkeit aufzuerlegen vermag. Sie bleibt kontingent. Die Existenz des cogito ist somit die notwendige Gewißheit einer kontingenten Substanz.
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Brief an Gibieuf, 19. Januar 1642 (AT III, 478): »… ie croy que l’ame pense tousiours …« 247 Objectiones V (AT VII, 264). 248 Responsiones V (AT VII, 356): »Sed quidni semper cogitaret, cùm sit substantia cogitans?« 249 Principia I 51 (AT VIII–1, 24): »Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quàm rem quae ita existit, ut nullâ aliâ re indigeat ad existendum. Et quidem substantia quae nullâ planè re indigeat, unica tantùm potest intelligi, nempe Deus. Alias verò omnes, non nisi ope concursûs Dei existere posse percipimus. Atque ideò nomen substantiae non convenit Deo & illis univocè, ut dici solet in Scholis, hoc est, nulla ejus nominis significatio potest distinctè intelligi, quae Deo & creaturis sit communis.«
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Trotz der notwendigen Wahrheit seiner Existenzreflexion hat es das cogito mit der grundlegendsten Kontingenz zu tun: der Kontingenz seiner selbst. Aber nicht nur der ontologische Status seiner selbst als Substanz ist kontingent, auch die Bewußtseinsinhalte des cogito jenseits des cogito, ergo sum sind nicht notwendig. Denn wenn das Denken den Dingen keine Notwendigkeit auferlegt, sind die gedachten Gegenstände als Inhalte des Denkens kontingent. Zwar ist das cogito sich gewiß, durch die Denkakte Denkinhalte zu haben, aber es kann nicht ohne weiteres auf deren extramentale Existenz schließen. Die Existenz einer Welt jenseits des Ichs ist nicht notwendig, auch wenn es notwendig ist, daß das Ich existiert, wenn es Denkinhalte hat, »denn wenn auch, wie ich vorher bemerkt habe, das, was ich empfinde oder mir einbilde, außerhalb meiner vielleicht nichts ist, so bin ich doch dessen gewiß, daß jene Modi des Denkens, die ich Sinnesempfindungen und Einbildungen nenne, sofern es sich nur um Modi des Denkens handelt, in mir sind«.250 Das cogito hat die Gewißheit, durch die Denkakte Bewußtseinsinhalte zu haben, mehr nicht. Sie sind außerhalb des Bewußtseins ›vielleicht nichts‹. Es ist gleichfalls kontingent, welche Bewußtseinsinhalte das cogito besitzt. Das »zufällige Fürmich der einzelnen Akte«251 die Inhalte repräsentieren, generiert zunächst nur das Identitätsbewußtsein des Ichs, das diese Akte hervorbringt. Selbst von der momentanen Gewißheit des einen Aktes zum nächsten ist es kein leichter Weg, selbst wenn der Bewußtseinsinhalt von gleicher Evidenz zu sein scheint wie das cogito, ergo sum. Descartes vergleicht, wie bereits gesehen, das intuitive Erfassen der Tatsache, daß ich existiere und denke, mit dem Erfassen des Dreiecks als ein von drei Linien Begrenztes. Die Existenzgewißheit läßt sich aber so wenig zu der Einsicht erweitern, daß ich existiert habe und existieren werde, wie die Kenntnis des Dreiecks zu einem selbstverständlichen Habitus wird: »Wenn ich … die Natur eines Dreiecks betrachte, dann erscheint es mir … sicherlich höchst evident, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind, und solange ich auf den Beweis dieses Satzes achte, kann ich nicht nicht glauben, daß es wahr ist; aber sobald ich mein Augenmerk von jenem Beweis abgewandt habe, kann es dennoch leicht geschehen, daß ich zweifle, ob es wahr sei, so sehr ich mich auch erinnere, es bisher höchst klar erkannt zu haben …«252
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Meditationes III (AT VII, 34 f.): »… ut enim ante animadverti, quamvis illa quae sentio vel imaginor extra me fortasse nihil sint, illos tamen cogitandi modos, quos sensus & imaginationes appello, quatenus cogitandi quidam modi tantùm sunt, in me esse sum certus.« 251 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 27 (Husserliana I, 96). 252 Meditationes V (AT VII, 69 f.): »Sic … cùm naturam trianguli considero, evidentissime quidem mihi … apparet ejus tres angulos aequales esse duobus rectis, nec possum non credere id verum esse, quamdiu ad ejus demonstrationem attendo; sed statim atque men-
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VI. Meditative Anthropogenese
Die Situation des cogito ist prekär: Das denkende Ich ist sich seiner Existenz mit Notwendigkeit sicher. Alles andere ist offen: Ob das Ich mit Sicherheit gewesen ist, ob es sein wird, ob es über einen Körper verfügt, ob es eine Welt gibt, ob die Denkinhalte der res cogitans wahr sind, ob den gedachten extramentalen Gegenständen ein tatsächliches Sein zukommt, ob es andere Subjekte gibt und schließlich: ob ein Gott existiert. Das cogito ist in dem Moment der Reflexion cogito, ergo sum weltabgewandt, gottlos und sich selbst in der Einschätzung seiner Bewußtseinsinhalte fremd. Der Preis der ersten metaphysischen Sicherheit ist die Isolation. »Das cogito … bezeugt die Trennung.«253 Der Ausweg aus dieser mißlichen Lage kann für Descartes nur darin bestehen, den Modalitätsstatus des noch Unsicheren zu prüfen. Während die res cogitans als Substanz, die Bewußtseinsinhalte und die Welt als extramentales Sein kontingent sind, bietet die Notwendigkeit der Existenz Gottes, die aus seiner Idee zwingend folgen soll, für Descartes eine Möglichkeit, den drohenden Solipsismus zu überwinden. Er muß daher prüfen, ob es Gott gibt und ob er ein Betrüger sein kann – »solange ich das nämlich nicht weiß, scheint es, daß ich niemals über irgendetwas anderes völlig gewiß sein kann«.254 Gegen die Übermacht der Kontingenz hilft nur eine weitere Notwendigkeit.
§ 28 Die Kontingenz der res cogitans und die zweite Notwendigkeit Wenn auch die Moderne nicht gänzlich das Urheberrecht an dem Gedanken vom Tod Gottes beanspruchen kann,255 ist die Abstinenz von der Gewißheit, ob Gott existiert, im Fortgang der cartesischen Meditationen modernitätsverheißend. So ist dieses Stadium der Reflexion auch nicht ohne eine dramatisierende Zuspitzung beschrieben worden: Descartes nehme die »Nichtexistenz Gottes als Hypothese an, um die Existenz des denkenden Wesens als archimedischen Fixpunkt zu sichern«, und so habe sich »die Hypothese von der Nichtexistenz oder seines ›Todes‹ … zur Wahrheit der Neuzeit entwickelt«.256 Aber Descartes argumentiert behutsamer. Er geht nicht von der Hypothese der Nichtexistenz Gottes aus, sondern er läßt zunächst offen, ob Gott existiert. tis aciem ab illâ deflexi, quantumvis adhuc recorder me illam clarissime perspexisse, facile tamen potest accidere ut dubitem an sit vera …« 253 E. Levinas, Totalité et Infini, a. a. O., 24: »Le cogito … atteste la séparation.« 254 Meditationes III (AT VII, 36): »… hac enim re ignoratâ, non videor de ullâ plane certus esse unquam posse.« 255 Vgl. O. Pluta, »›Deus est mortuus.‹ – Nietzsches Parole ›Gott ist tot!‹ in einer Geschichte der Gesta Romanorum vom Ende des 14. Jahrhunderts«, in: F. Niewöhner/O. Pluta (Hg.), Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance, Wiesbaden 1999, 239–270. 256 U. Schultz, Descartes, Hamburg 2001, 207 f.
§ 28 Die Kontingenz der res cogitans und die zweite Notwendigkeit
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Das seiner eigenen Existenz gewisse cogito verfügt über eine Vielzahl an Ideen, ohne aber unmittelbar etwas über den Existenzstatus des von ihnen Repräsentierten zu wissen, »zum Beispiel wenn ich einen Menschen oder eine Chimäre oder den Himmel oder einen Engel oder Gott denke«.257 Die Existenz Gottes bleibt so lange ungewiß, bis die Idee Gottes aufmerksam geprüft und die Existenz des von ihr Vorgestellten bewiesen worden ist. Solange das nicht der Fall ist, unterscheidet sich das Vorkommen der Idee Gottes im Bewußtsein nicht von der Idee einer Chimäre – beides sind zunächst gleichwertige modi cogitandi. Insofern nimmt Descartes die hypothetische Nichtexistenz Gottes in Kauf, solange der Status der verschiedenen Ideen im unklaren bleibt, aber er setzt sie nicht voraus. Auf diese Differenz kommt es an, da sie ein Licht auf die cartesische Argumentationsstrategie wirft. Sobald man geneigt ist, die Absicherung des cogito als einen gleichsam prometheischen Akt der Eigenmächtigkeit zu deuten, verwischt man die eigentliche Kontur der cartesischen Metaphysik. Die Notwendigkeit der Existenz Gottes stellt das Pendant zur notwendigen Gewißheit des reflektierenden Ichs dar. Ihr Verhältnis ist das einer unbedingten Komplementarität. Die Gewißheit des cogito mit einer Autonomie des Subjekts zu verwechseln hieße, jene modale Dualität zu mißachten, auf die es ankommt. Wie sich gezeigt hat, ist zwar die Gewißheit des ›Ich denke, also bin ich‹ notwendig, aber nicht die Existenz der res cogitans. Das Wissen um die eigene Existenz im Moment des Denkens ist somit eine notwendige Gewißheit eines kontingenten Seienden. Die komplementäre Idee eines notwendigen Seienden ergibt sich für Descartes zwingend aus dieser Erfassung des eigenen modalen Status der Kontingenz, die sich als Defizite vollkommener Notwendigkeit bemerkbar machen: »Denn wie könnte ich verstehen, daß ich zweifle oder begehre, das heißt, daß mir etwas fehlt und daß ich nicht ganz und gar vollkommen bin, wenn in mir keine Idee eines vollkommeneren Seienden wäre, so daß ich durch Vergleich mit ihm meine eigenen Mängel erkennen würde?«258 Um die eigene Endlichkeit zu erfassen, bedarf es allein der Idee eines vollkommenen Wesens, auch wenn dessen Existenz noch nicht bewiesen ist. Dennoch scheint es für Descartes nur ein kleiner Schritt von der Idee Gottes zur Annahme seiner Existenz zu sein. In den frühen, nicht publizierten Regulae ad directionem ingenii formuliert er das Verhältnis der eigenen Endlichkeit und der Notwendigkeit der Existenz eines vollkommenen Wesens ohne den argumen-
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Meditationes III (AT VII, 37): »… ut cùm hominem, vel Chimaeram, vel Coelum, vel Angelum, vel Deum cogito …« 258 Meditationes III (AT VII, 45 f.): »Quâ enim ratione intelligerem me dubitare, me cupere, hoc est, aliquid mihi deesse, & me non esse omnino perfectum, si nulla idea entis perfectioris in me esset, ex cujus comparatione defectus meos agnoscerem?«
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tativen Beweiszwang der Meditationes und somit gleichsam ungeschützt – man könnte auch sagen, er plaudere das Betriebsgeheimnis seiner Metaphysik aus: »Ich bin, also ist Gott« (sum, ergo Deus est).259 Damit ist zwar viel behauptet und nichts bewiesen, aber gerade die entspannte Formulierung des ihm Selbstverständlichen offenbart den metaphysischen Grundgedanken Descartes’: Das Kontingente kann nicht ohne ein Notwendiges sein. Für den meditativ gereinigten Geist wäre das selbstverständlich: »Was Gott betrifft, so würde ich sicherlich nichts eher und nichts leichter erkennen als ihn, wenn nicht mein Denken mit Vorurteilen überladen wäre …«260 In der Logik dieser Verwiesenheit des Kontingenten auf ein absolut Notwendiges folgt Descartes dem bedeutendsten metaphysischen Entwurf des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit: den Disputationes metaphysicae des Francisco Suárez. Dieses 1597 erschienene und im 17. Jahrhundert einflußreichste metaphysische Lehrbuch, nach dem auch Descartes in La Flèche studiert hat, präsentiert in der 28. Disputation modale Explikationen des Seienden in der Form grundsätzlicher Disjunktionen. Suárez unterscheidet – der scotischen Metaphysik folgend – Seiendes durch sich und Seiendes durch ein anderes (ens a se & ens ab alio), Seiendes als reine Aktualität und bloße Potentialität (ens actuale & ens potentiale), ungeschaffenes und geschaffenes Sein (ens increatum & creatum), wesensmäßiges und teilhabendes Sein (ens per essentiam & ens per participationem) und notwendiges und kontingentes Sein (ens necessarium & contingens).261 Am ursprünglichsten ist für Suárez aber eine andere Disjunktion, denn »die erste und wesentlichste Einteilung des Seienden ist die in Endliches und Unendliches« (finitum & infinitum).262 Descartes setzt mit dieser Disjunktion ein, wenn er im Fortgang der Dritten Meditation beginnt, die Idee Gottes zu prüfen. Die Unendlichkeit Gottes ist die erste modale Bestimmung, die er nennt: »Unter dem Namen ›Gott‹ verstehe ich eine gewisse Substanz, die unendlich, unabhängig, in höchstem Maße intelligent und in höchstem Maße mächtig ist und von der sowohl ich als auch alles andere, das existiert, falls etwas anderes existiert, erschaffen wurde.«263 Die Gewißheit des cogito besitzt somit, insofern sie die Reflexion der eigenen Kontingenz nicht aufhebt, sondern fördert, einen ihr immanenten Verweischarakter, der durch das methodische Programm des Zweifels nicht negiert, sondern 259 260
Regulae XII (AT X, 421). Meditationes V (AT VII, 69): »Quod autem ad Deum attinet, certe nisi praejudiciis obruerer … nihil illo prius aut facilius agnoscerem …« 261 F. Suárez, Disputationes metaphysicae 28, sect. 1 (ed. C. Berton XXVI, 2–6). 262 Disputationes metaphysicae 28 (ed. C. Berton XXVI, 1): »… primam et maxime essentialem divisionem entis esse in finitum et infinitum …« 263 Meditationes III (AT VII, 45): »Dei nomine intelligo substantiam quandam infinitam, independentem, summe intelligentem, summe potentem, & a quâ tum ego ipse, tum aliud omne, si quid aliud extat, quodcumque extat, est creatum.«
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allein in seiner Wirkung vorübergehend aufgehoben wird. Levinas hat das bei seiner Charakterisierung des methodischen Zweifels genau gesehen: Descartes besitze die Idee des Unendlichen, er könne im voraus die Rückkehr der Bejahung hinter der Verneinung absehen.264 Der Atheismus ist für Descartes daher, wie er dem Leser der Meditationes in Aussicht stellt, leicht zu überwinden. Dessen Argumente kämen dadurch zustande, »daß entweder Gott menschliche Affekte angedichtet werden oder unserem Geist soviel Kraft und Weisheit angemaßt wird, daß wir zu bestimmen und zu begreifen versuchen, was Gott machen kann und soll; so sehr, daß diese Argumente, sofern wir uns nur daran erinnern, daß unsere Geisteskräfte als endlich anzusehen sind, Gott aber als unbegreiflich und unendlich, uns keine Schwierigkeiten bereiten werden«.265 Der unendliche Gott ist unbegreiflich und daher im strengen Sinn ein Gegenüber. Die Idee des unendlichen Gottes im endlichen Bewußtsein kann daher kein Objekt des Denkens sein, wie die übrigen repräsentierenden Ideen. »Der Bezug des endlichen cogito auf das Unendliche Gottes besteht«, wie Levinas in seiner Descartes-Interpretation hervorhebt, »nicht in einer bloßen Thematisierung Gottes. Für jedes Objekt kann ich durch mich selbst aufkommen, ich enthalte sie. Die Idee des Unendlichen ist für mich kein Objekt. Das ontologische Argument liegt darin, daß sich dieses ›Objekt‹ in Sein, in Unabhängigkeit von mir wandelt. Gott, das ist der Andere.«266 Man kann sagen, daß die Verwiesenheit des endlichen Seienden auf einen unendlichen Gott gleichsam die metaphysische Selbstverständlichkeit des cartesischen Denkens ausmacht. Mag aber außerhalb des strengen Argumentationsduktus der Meditationes eine Formulierung wie sum, ergo Deus est aufgrund der metaphysischen Hintergrundannahmen für Descartes durchaus Plausibilität besitzen, so reicht diese Formel angesichts des methodischen Zweifels nicht aus, um das cogito aus seiner Isolation zu befreien, verfügt doch das Ich als eine kontingente res cogitans zunächst nur über die Idee des unendlichen Gottes.
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E. Levinas, Totalité et Infini, a. a. O., 66: »C’est qu’en fait il possède l’idée de l’infini, peut mesurer à l’avance le retour de l’affirmation derrière la négation.« 265 Vgl. Meditationes, Praefatio (AT VII, 9): »… quod vel humani affectus Deo assingantur, vel mentibus nostris tanta vis & sapientia arrogetur, ut quidnam Deus facere possit ac debeat, determinare & comprehendere conemur; adeo ut, modò tantùm memores simus mentes nostras considerandas esse ut finitas, Deum autem ut incomprehensibilem & infinitum, nullam ista difficultatem sint nobis paritura.« 266 Totalité et Infini, a. a. O., 186: »La référence du cogito fini à l’infini de Dieu ne consiste pas en une simple thématisation de Dieu. De tout objet je rends compte par moimême, je les contiens. L’idée de l’infini ne m’est pas objet. L’argument ontologique gît en la mutation de cet ›objet‹ en être, en indépendance à mon égard. Dieu, c’est l’Autre.«
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VI. Meditative Anthropogenese
Um nun der von ihm gleichsam selbstverständlich vorausgesetzten Annahme, daß dem kontingenten Sein ein absolut notwendiges entsprechen muß, im Rahmen der Meditationes eine argumentativ ausgewiesene Tragfähigkeit attestieren zu können, untersucht er die Verschiedenheit der Ideen. Er teilt die in unserem Bewußtsein vorkommenden Ideen in drei Gruppen auf: Es gibt angeborene Ideen (ideae innatae), erworbene Ideen (ideae adventitiae) und selbst gemachte Ideen (ideae a me ipso factae).267 Während die präreflexive Selbstgewißheit als ein inneres Wissen der denkenden Substanz angeboren ist, wie Descartes ausführt,268 stellt die Idee der Sonne eine durch Sinneswahrnehmung erworbene Idee dar. Die Idee eines Einhorns dagegen ist eine selbst gemachte Idee, der keine extramentale Realität entspricht. Es ist nun nicht ohne weiteres selbstverständlich, um welche Art von Idee es sich bei der Idee Gottes handelt. Descartes erwägt die Möglichkeit, daß alle Ideen ihm von außen zukommen, oder daß alle angeboren oder daß alle gemacht sind.269 So hypothetisch es ist, daß Gott eine durch Sinneswahrnehmung erworbene Idee sein könnte, so gilt es doch aufmerksam zu prüfen, ob Gott nicht als eine von uns gemachte Idee im Sinne eines Phantasieproduktes verstanden werden muß. Um diesen Verdacht zu entkräften, fragt Descartes nach der Verursachung von Ideen. Ist es möglich, daß der Mensch sich selbst die Idee eines vollkommenen, ihn übersteigenden Wesens geschaffen hat? In seiner Antwort auf diese Fragen macht Descartes, wie Bernard Williams es ausdrückt, einen »plötzlichen Sprung vorwärts« (a sudden jump forward),270 da er von einer so folgenreichen wie unselbstverständlichen Annahme ausgeht: »Es ist nun aber durch die natürliche Erleuchtung offenkundig, daß es mindestens ebensoviel Realität in der wirkenden und vollständigen Ursache wie in der Wirkung dieser Ursache geben muß. Denn woher, frage ich, sollte die Wirkung ihre Realität erhalten, wenn nicht von der Ursache? Und wie könnte die Ursache sie ihr geben, wenn sie sie nicht selbst besäße? Hieraus folgt aber, daß nicht etwas aus dem Nichts, als auch, daß das, was vollkommener ist – das heißt, was eine größere Realität in sich enthält – nicht aus dem weniger Vollkommenen entstehen kann.«271 Die Voraussetzung dieser Argumentation entspricht einer Akzeptanz 267 268 269
Meditationes III (AT VII, 37 f.). Responsiones VI (AT VII, 422). Meditationes III (AT VII, 38): »Vel forte etiam omnes esse adventitias possum putare, vel omnes innatas, vel omnes factas …« 270 B. Williams, Descartes, a. a. O., 135. 271 Meditationes III (AT VII, 40 f.): »Jam verò lumine naturali manifestum est tantumdem ad minimum esse debere in causâ efficiente & totali, quantum in ejusdem causae effectu. Nam, qaesto, undenam posset assumere realitatem suam effectus, nisi a causâ? Et quomodo illam ei causa dare posset, nisi etiam haberet? Hinc autem sequitur, nec posse aliquid a nihilo fieri, nec etiam id quod magis perfectum est, hoc est quod plus realitatis in se continet, ab eo quod minus.«
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der mittelalterlichen Lehre von Realitäts- oder Seinsgraden. Diese hierarchisch gestufte Ontologie, so Descartes, enthalte gewisse Begriffe, die die Gewohnheit des Denkens ihm vertraut und offenkundig gemacht habe.272 Das Vollkommenere enthält demnach mehr Realität als das Unvollkommenere. Hobbes mochte dem nicht zustimmen: »Was will Descartes überhaupt mit ›mehr Realität‹ sagen? Verträgt die Realität das Mehr und Weniger?«273 Descartes antwortet darauf knapp und ein wenig ungehalten: »Auch habe ich zur Genüge erklärt, inwiefern die Realität ein Mehr und Weniger verträgt, insofern nämlich, als die Substanz mehr Sache ist als der Modus. Aber wenn es reale Eigenschaften gibt, oder unvollständige Substanzen, so sind sie mehr Sache als die Modi, aber weniger als die vollkommenen Substanzen. Gibt es aber schließlich eine unendliche und unabhängige Substanz, so ist sie mehr Sache als die endliche und abhängige. Und dies alles ist aus sich selbst heraus bekannt.«274 Die Gereiztheit verrät die Selbstverständlichkeit, mit der Descartes von den modalen Disjunktionen scotischer Prägung, wie er sie bei Suárez kennengelernt hatte, Gebrauch macht. Wenn es Seiendes durch sich und Seiendes durch ein anderes gibt, Seiendes als reine Aktualität und bloße Potentialität oder wesensmäßiges und teilhabendes Sein, dann liegt für Descartes die Annahme von Seinsgraden auf der Hand, insofern es sich nicht allein um kognitive, sondern um ontologische Disjunktionen handelt. Dabei unterscheidet er einerseits die hierarchische Anordnung der Kategorien – etwa ›Substanz‹, ›Attribut‹, ›Modus‹ –, andererseits die Hierarchie innerhalb der Kategorie der Substanz aufgrund zu differenzierender Grade ihrer Unabhängigkeit. Die Hierarchisierung geht dabei so weit, den Begriff der Substanz im strengen Sinn allein für die seinsautarke Substanz zuzulassen, so daß für alle geschaffenen Substanzen gilt, daß sie nur in einem uneigentlichen Sinn Substanzen sind.275 Mit welcher Selbstverständlichkeit Descartes von der Annahme einer derartigen Seinsstufung ausgeht, kann man daran ablesen, daß er sie auch auf die Gegebenheitsweise unmittelbarer und wahrer Erkenntnis anwendet: auf die Evidenz. Dabei ist es keineswegs naheliegend, der Evidenz als einer selbstlegitimierenden Präsenz des Offenkundigen eine Differenzierung in Graden zuzusprechen. Man
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Brief an Vatier, 22. Februar 1638 (AT I, 560): »… certaines notions, que l’habitude de penser m’a rendu familieres & euidentes …« 273 Objectiones III (AT VII, 185): »Praeterea consideret denuo D. C. quid velit dicere plus realitatis. An realitas suscipit magis & minus?« 274 Responsiones III (AT VII, 185): »Satique explicui quomodo realitas suscipiat plus & minus: ita nempe ut substantia sit magis res quàm modus; atque si dentur qualitates reales, vel substantiae incompletae, sunt magis res quàm modi, sed minùs quàm substantiae completae; ac denique, si detur substantia infinita & independens, est magis res quàm finita & dependens. Haecque omnia per se sunt notissima.« 275 Vgl. Principia I 51 (AT VIII–1, 24).
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VI. Meditative Anthropogenese
könnte es für evident halten, auf das Phänomen der Evidenz den Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten anwenden zu müssen: Entweder ist etwas evident, oder es ist nicht evident – tertium non datur. Die Gewißheit der Evidenz hat demnach keine Grade – certitudo evidentie non habet gradus.276 Descartes sieht das anders. Hatte bereits Bacon von »Graden der Gewißheit« (certitudinis gradus) 277 gesprochen, gibt es auch für Descartes nicht allein die Evidenz der klaren und distinkten Erkenntnis, sondern etwas kann auch sehr klar und sehr distinkt (tres clairement & tres distinctement) 278 gegeben sein. Die Evidenz kennt bei ihm den Komparativ, da etwas klarer und gewisser (plus claire & plus certaine) 279 zu sein vermag, aber auch den Superlativ, wenn etwas im höchsten Grad klar und deutlich (maxime clara & distincta) 280 ist. Die Erkenntnisse der Selbstgewißheit des cogito und der Existenz Gottes sind der Inbegriff des Untrüglichen, so daß diese Einsichten als die »allergewissesten und evidentesten« (omnium certissimae & evidentissimae) 281 gelten dürfen. Unterschiede der Evidenz sind offenkundig. Die Evidenz des durch die Sinne Wahrgenommenen hält einer Prüfung kaum stand, erweist sich die sinnliche Wahrnehmung für Descartes doch oftmals als dunkel, verworren und somit trügerisch. So ist der geozentrische Aufbau des Sonnensystems durch die Sinne evident vermittelt, aber dennoch falsch. Die Mathematik dagegen hat es mit klaren und evidenten Gegenständen (raisons certaines & euidentes) 282 zu tun. Angesichts ihrer zwingenden Evidenz spricht Descartes zwar einerseits etwa von der Metaphysik der Geometrie (la Metaphysique de la Geometrie),283 ohne ihr aber andererseits den Grad einer letzten Evidenz zuzubilligen. Er verlasse sich nicht so weit darauf, um irgend etwas mit ihrer Hilfe Gefundenes als sicher hinzustellen, ehe er es nicht auch durch die Berechnung geprüft oder einen geometrischen Beweis dafür aufgestellt habe.284 Auch die Evidenz der mathematischen Wahrheit entlastet nicht von der Mühe der angestrengten Aufmerksamkeit, der laboriosa vigilia. Descartes, der die Reorganisation der Wissenschaften strikt dem
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Nicolaus von Autrecourt, Epistole: Secunda epistola ad Bernardum (ed. R. Imbach/ D. Perler, 16). 277 F. Bacon, Novum Organum, Praefatio (The Works I, 151). 278 Discours IV (AT VI, 38). 279 Discours V (AT VI, 41). 280 Meditationes III (AT VII, 46). 281 Meditationes, Synopsis (AT VII, 16). 282 Discours II (AT VI, 19). 283 Brief an Mersenne, 9. Januar 1639 (AT II, 490). 284 Ebd. (AT II, 490): »… mais ie ne m’y sie point tant, que d’assurer aucune chose de ce que i’ay trouué par son moyen, auant que ie l’aye aussy examiné par le calcul, ou que i’en aye fait vne demonstration Geometrique.«
§ 28 Die Kontingenz der res cogitans und die zweite Notwendigkeit
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Ideal der Mathematik unterwirft, kann daher auch sagen, er sei der Mathematik und Geometrie müde.285 Rationale Evidenz im Sinne des Klaren und Distinkten ist somit ein Paradigma der cartesischen Wissenschaft, welche zureichende, aber keine unbedingte Gewißheit schafft. Sie gewinnt erst an Tragfähigkeit, wenn eine metaphysische Gewißheit (vne certitude metaphysique) 286 aufgewiesen worden ist: »Wüßten wir aber nicht, daß alles Reale und Wahre in uns von einem vollkommenen und unendlichen Wesen stammt, so hätten wir, unsere Ideen möchten so klar und deutlich sein, wie sie wollten, keinen Grund, der uns die Gewißheit gäbe, sie besäßen die Vollkommenheit, wahr zu sein.«287 Die metaphysische Gewißheit soll in der Existenz Gottes bestehen, einer Existenz mit absoluter Notwendigkeit. Gemäß des auf die Ideenlehre angewendeten Paradigmas der Seinsstufung ist es für Descartes ausgeschlossen, daß ein weniger vollkommenes Wesen die alleinige Ursache für die Idee des vollkommensten Wesens sein kann. Denn jede Ursache einer Idee muß mindestens über so viel formale, also aktuelle Realität verfügen, wie die Idee als Wirkung objektiven, also repräsentativen Gehalt besitzt. Da für Descartes eine Ursache nicht einen geringeren Realitätsgrad haben kann als die Wirkung, ist es für ihn unmöglich, daß eine unvollkommene formale Realität die Ursache für die Idee eines vollkommenen Gottes als einer objektiven Realität sein kann: Der Mensch besitzt nicht so viel formale Realität, wie die Idee von Gott objektive Realität enthält. Als eine geschaffene Substanz übersteigt es seine Möglichkeiten, eine ungeschaffene Substanz zu erfinden.288 »Und daher muß aus dem eben Gesagten geschlossen werden, daß Gott notwendigerweise existiert.«289 Da der Mensch nicht die Ursache für die Idee Gottes sein kann, muß sie als eine angeborene Idee von Gott stammen: »Und in der Tat ist es keine Überraschung, daß Gott mir bei meiner Erschaffung diese Idee eingegeben hat, damit sie gleichsam das Zeichen sei, das der Handwerker auf seinem Werk aufgedrückt hat …«290 Der
285
Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 139): »… mais ie suis si las des Mathematiques …«; Brief an Mersenne, 11. Oktober 1638 (AT II, 401): »… ie suis las de … Geometrie …« 286 Discours IV (AT VI, 38). 287 Discours IV (AT VI, 39): »Mais si nous ne scauions point que tout ce qui est en nous de reel & de vray, vient d’vn estre parfait & infini, pour claires & distinctes que fussent nos idées, nous n’aurions aucune raison qui nous assurast, qu’elles eussent la perfection d’estre vrayes.« 288 Vgl. D. Perler, Descartes, a. a. O., 187–202. 289 Meditationes III (AT VII, 45): »Ideoque ex antedictis, Deum necessario existere, est concludendum.« 290 Meditationes III (AT VII, 51): »Et sane non mirum est Deum, me creando, ideam illam mihi indidisse, ut esset tanquam nota artificis operi suo impressa …«
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VI. Meditative Anthropogenese
so entfalteten Idee Gottes entspricht für Descartes der höchste Grad an Evidenz, denn »wir können nun daraus, daß wir in uns die Idee Gottes haben, in der jede denkbare Vollkommenheit enthalten ist, auf evidenteste Weise schließen, daß diese Idee von irgendeiner Ursache abhängt, in der jene ganze Vollkommenheit ebenfalls ist, nämlich in dem wirklich existierenden Gott«.291 Der kontingenten Endlichkeit entspricht eine notwendige Unendlichkeit, und der evidentesten Gewißheit des denkenden Ichs im cogito, ergo sum entspricht die evidenteste Gewißheit der Existenz Gottes. Es sind diese zwei offenkundigen Notwendigkeiten, auf denen die cartesische Metaphysik beruht. Darin ähnelt sie dem Wunsch Augustins, Gott und die Seele kennen zu wollen – Deum et animam scire cupio.292 Auch Descartes hebt hervor, daß alle, denen Gott den Gebrauch der Vernunft gegeben habe, verpflichtet seien, sie hauptsächlich auf den Versuch zu verwenden, Gott und sich selbst zu erkennen.293 Das cartesische Subjekt ist nicht auf sich allein gestellt oder in einem modernen Sinn souverän, »sondern es muß ohne Einschränkung geschlossen werden, daß allein daraus, daß ich existiere und in mir eine gewisse Idee eines höchst vollkommenen Seienden, das heißt Gott, ist, auf höchst evidente Weise bewiesen wird, daß auch Gott existiert«.294 Die Differenz zu Augustinus besteht zum einen darin, daß Descartes sich seines Gottes erst sicher sein kann, nachdem er sich seiner selbst vergewissert hat.295 Das hätte Augustinus so nicht formulieren können, da für ihn die Wertlosigkeit reiner Selbsterkenntnis ohne ein Begreifen der göttlichen Präsenz im Menschen offenkundig ist. Zum anderen braucht Descartes diese beiden Gewißheiten, die hauptsächlich (principalemant) zu kennen seien, als Fundament für weitere Erkenntnisse, da das erste Prinzip des cogito, ergo sum dazu allein nicht ausreicht.296 291
Responsiones I (AT VII, 105): »… eâdemque ratione, cùm habeamus in nobis ideam Dei, in quâ omnis perfectio cogitabilis continetur, evidentissime inde concludi potest, istam ideam ab aliquâ causâ pendere, in quâ omnis illa perfectio etiam sit, nempe in Deo revera existente.« 292 Augustinus, Soliloquia I, cap. 2, 7 (PL 32, 872). 293 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 144): »Or i’estime que tous ceus a qui Dieu a donné l’vsage de cete raison, sont obligés de l’employer principalemant pour tascher a le connoistre, & a se connoistre eus-mesme.« 294 Meditationes III (AT VII, 51): »… sed omnino est concludendum, ex hoc solo quòd existam, quaedamque idea entis perfectissimi, hoc est Dei, in me sit, evidentissime demonstrari Deum etiam existere.« 295 Descartes betont in den Regulae XII (AT X, 422), er könne zwar aus seiner Existenz zuverlässig auf das Dasein Gottes schließen, jedoch nicht aus dem Dasein Gottes auch seine Existenz gewiß machen: »… vt quamvis ex eo quòd sim, certò concludam Deum esse, non tamen ex eo quòd Deus sit, me etiam existere licet affirmare.« 296 In einem Brief an Clerselier, Juni oder Juli 1646 (AT IV, 444), weist Descartes darauf hin, es sei keine Bedingung, daß man in einer Weise auf das erste Prinzip zurückgehen
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Auch wenn es Descartes im Duktus der Argumentation auf die unbedingte Notwendigkeit der aufgewiesenen Gewißheit ankommt, macht er nicht die modale Disjunktion von Kontingenz und Notwendigkeit zum Ausgangspunkt, sondern die von Endlichkeit und Unendlichkeit. Er folgt darin Suárez, da er nun, nach dem Beweis der Existenz Gottes, mit der Unendlichkeit die Vollkommenheit verknüpfen und den Verdacht eines täuschenden Gottes abweisen kann, »denn in jeder Täuschung oder in jedem Betrug findet man etwas von einer Unvollkommenheit«.297 Das hätte sich aus einem dominanten Begriff des notwendigen Gottes nicht so leicht ableiten lassen. Dennoch hat man die Kontingenz als ein die Argumentation antreibendes Moment zu verstehen. Denn aus ihr folgt die mangelnde ontologische Subsistenz der res cogitans, da für Descartes die Selbständigkeit eines endlichen, unvollkommenen und kontingenten Seienden undenkbar ist. Descartes erläutert diesen Umstand unter Verwendung des Begriffs der Kraft: »Daher muß ich mich nun selbst fragen, ob ich irgendeine Kraft besitze, durch die ich bewirken kann, daß ich, der ich jetzt bin, auch etwas später sein werde: Denn da ich nichts anderes bin als eine denkende Sache, oder da ich nun zumindest genau nur von diesem Teil meiner selbst handle, der eine denkende Sache ist, wäre ich mir ohne Zweifel dessen bewußt, wenn eine solche Kraft in mir wäre. Aber ich erfahre, daß es keine gibt, und eben daraus erkenne ich mit höchster Evidenz, daß ich von irgendeinem von mir verschiedem Seienden abhänge.«298 Als einen Hintergrund dieser Argumentation darf man das physikalische Grundprinzip ansehen, daß alles Bewegte von einem anderen bewegt wird: Omne quod movetur, ab alio movetur. Ein Gegenstand verfügt diesem Paradigma zufolge über keine eigene Kraft, aus der heraus er sich autonom zu bewegen vermag. Die Abhängigkeit des denkenden Ichs von einem vollkommenen Sein besitzt für Descartes die gleiche Prägnanz wie die Behauptung, »daß Gott allein der Urheber aller Bewegungen
müsse, daß alle anderen Propositionen auf dieses reduziert und durch dieses bewiesen werden können. Es reiche aus, daß dieses Prinzip dazu diene, mehrere Prinzipien zu finden: »I’adioute aussi que ce n’est pas vne condition qu’on doiue requerir au premier principe, que d’estre tel que toutes les autres propositions se puissent reduire & prouuer par luy, c’est assez qu’il puisse seruir à en trouuer plusieurs …« 297 Meditationes IV (AT VII, 53): »… in omni enim fallaciâ vel deceptione aliquid imperfectionis reperitur …« 298 Meditationes III (AT VII, 49): »Itaque debeo nunc interrogare me ipsum, an habeam aliquam vim per quam possim efficere ut ergo ille, qui jam sum, paulo post etiam sim futurus: nam, cùm nihil aliud sim quàm res cogitans, vel saltem cùm de eâ tantùm meî parte praecise nunc agam quae est res cogitans, si quae talis vis in me esset, ejus proculdubio conscius essem. Sed & nullam esse experior, & ex hoc ipso evidentissime cognosco me ab aliquo ente a me diverso pendere.«
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VI. Meditative Anthropogenese
ist, die es auf der Welt gibt«.299 Der Undenkbarkeit eines autonomen Vermögens der Körper zur Bewegung entspricht die Undenkbarkeit eines autonomen Beharrungsvermögens von Seiendem im Sein. Schon Suárez hatte die Formel ›Alles, was bewegt wird, wird von einem anderen bewegt‹ metaphysisch auszuweiten und von ihrem physikalischen Kontext zu befreien versucht. Er verallgemeinert die Formel zu ›Alles, was geschieht, geschieht durch ein anderes‹ (Omne quod fit, ab alio fit) oder zu ›Alles, was hervorgebracht wird, wird von einem anderen hervorgebracht‹ (Omne quod producitur, ab alio producitur).300 Die Voraussetzung, »daß nichts sich selbst bewirken kann«,301 hat einen Gottesbeweis zur Folge: »Jedes Seiende ist entweder gemacht oder nicht gemacht oder ungeschaffen; aber es können nicht alle Seienden, die es im Universum gibt, gemacht worden sein; also ist es notwendig, daß es ein nicht gemachtes oder ungeschaffenes Seiendes gibt.«302 Die modalen Disjunktionen entfalten ihre zwingende Beweiskraft, wenn man die Voraussetzung anerkennt, daß sie nicht allein kognitive Disjunktionen sind, sondern Differenzierungen, mit denen sich alles Seiende beschreiben läßt. Teilt man diese Annahme, unterliegt man dem Zwang der notwendigen Argumentation. »Das heißt, wenn ich die Schärfe meines Geistes auf mich selbst richte, dann verstehe ich nicht nur, daß ich eine Sache bin, die unvollständig ist und abhängig von anderem, eine Sache, die auf indefinite Weise nach immer größeren und besseren Dingen strebt; sondern ich verstehe zugleich auch, daß jener, von dem ich abhänge, alle diese größeren Dinge in sich hat, nicht nur auf indefinite und potentielle, sondern wirklich auf infinite Weise, und daß er also Gott ist. Und die ganze Kraft des Arguments liegt darin, daß ich erkenne, daß es nicht möglich ist zu existieren mit einer solchen Natur, wie ich sie habe, nämlich mit der Idee Gottes in mir, wenn nicht auch Gott wirklich existiert …«303
299
Monde VII (AT XI, 46): »… que Dieu seul est l’Autheur de tous les mouvemens qui sont au monde …« Vgl. § 27. 300 F. Suárez, Disputationes metaphysicae 29, sect. 2, n. 20 (ed. C. Berton XXVI, 27). 301 Ebd. (ed. C. Berton XXVI, 27): »… quod nihil potest efficere se …« 302 Disputationes metaphysicae 29, sect. 2, n. 21 (ed. C. Berton XXVI, 27): »… omne ens aut est factum, aut non factum, seu increatum; sed non possunt omnia entia, quae sunt in universo, esse facta; ergo necessarium est esse aliquod ens non factum, seu increatum.« 303 Meditationes III (AT VII, 51 f.): »… hoc est, dum in meipsum mentis aciem converto, non modo intelligo me esse rem incompletam & ab alio dependentem, remque ad majora & majora sive meliora indefinite aspirantem; sed simul etiam intelligo illum, a quo pendeo, majora ista omnia non indefinite & potentiâ tantùm, sed reipsâ infinite in se habere, atque ita Deum esse. Totaque vis argumenti in eo est, quòd agnoscam fieri non posse ut existam talis naturae qualis sum, nempe ideam Dei in me habens, nisi revera Deus etiam existeret …«
§ 28 Die Kontingenz der res cogitans und die zweite Notwendigkeit
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Offensichtlich spielt in diesem Beweisgang die modallogische Disjunktion von Kontingenz und Notwendigkeit die entscheidende Rolle. Für Descartes ist sie bedeutsamer als die Unterscheidung von Unendlichem und Endlichem, die Suárez favorisiert hatte und der Descartes zunächst gefolgt war. Descartes’ Argumentation zielt darauf, dem Geist die Zustimmung abzuringen, daß er das Dasein Gottes »nicht nur als möglich oder kontingent, sondern als gänzlich notwendig und ewig«304 erfaßt – eine der wenigen Stellen, an denen Descartes den Terminus der Kontingenz ausdrücklich verwendet. An Descartes’ zweitem Gottesbeweis in der Fünften Meditation läßt sich der systematische Primat der Modalität der Notwendigkeit klarer ablesen, da dort die Existenz Gottes aus dem Begriff des ens necessarium zwingend folgen soll. Descartes hat seinem ersten Gottesbeweis in der Dritten Meditation den Vorzug gegeben, denn er enthalte sein wichtigstes Argument zum Beweis der Existenz Gottes.305 Das mag seinen Grund darin haben, daß der ideentheoretische Gottesbeweis der Dritten Meditation in seiner Art als traditionsunabhängiger und neuartig erscheinen konnte, während der zweite Gottesbeweis sich mühsam von der Vorlage Anselms von Canterbury abzusetzen hatte. Dennoch fehlt auch ihm nicht die argumentative Raffinesse. Anselm hatte die Denkbarkeit der Nichtexistenz Gottes durch das Argument bestritten, der Begriff Gottes stelle ihn als etwas vor, »über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann« (quo nihil maius cogitari possit).306 Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, existiere so wahrhaft, daß sein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden könne.307 Auch Descartes beginnt seinen Beweisgang zunächst mit der Zurückweisung der Möglichkeit, Gottes Nicht-Sein sei denkbar. Denn bei genauer Betrachtung zeige sich, »daß die Existenz vom Wesen Gottes so wenig abgetrennt werden kann als vom Wesen des Dreiecks der Umstand, daß die Größe seiner drei Winkel zwei rechte beträgt«.308 Existenz und Essenz sind bei Gott nicht zu unterscheiden, sie fallen zusammen. Soll auch der Existenzbeweis Gottes so zwingend sein wie ein mathematischer Beweis, so übersieht Descartes doch nicht den Einwand, daß aus dem
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Principia I 14 (AT VIII–1, 10): »… non possibilem & contingentem tantùm … sed omnino necessariam & aeternam …« 305 Meditationes, Synopsis (AT VII, 14): »… meum praecipuum argumentum ad probandum Dei …« 306 Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 2 (Opera omnia I, 101). 307 Ebd., cap. 3 (Opera omnia I, 103): »Sic ergo vere est aliquid quo maius cogitari non potest, ut nec cogitari possit non esse.« 308 Meditationes V (AT VII, 66): »… non magis posse existentiam ab essentiâ Dei separari, quàm ab essentiâ trianguli magnitudinem trium ejus angulorum aequalium duobus rectis …«
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VI. Meditative Anthropogenese
Umstand der Denkbarkeit des Dreiecks nicht folgt, daß in der Welt auch ein Dreieck existiert. Die Notwendigkeit seines Wesens verbürgt nicht die Notwendigkeit seiner Existenz. Die Existenz von Dreiecken ist kontingent, wenn es aber Dreiecke gibt, sind sie notwendigerweise so, wie sie ihre Definition vorstellt. Während es Dreiecke geben kann, ist die Existenz Gottes dagegen für Descartes notwendig, »denn es steht mir nicht frei, Gott ohne Existenz zu denken«.309 Der Grund dafür liegt in der nicht bezweifelbaren Vollkommenheit Gottes: Gott, der über alle Vollkommenheiten verfügt, muß auch über die Vollkommenheit der Existenz verfügen, die den Status der Potentialität überragt. Wie dem Begriff des Dreiecks entnommen werden kann, daß es über drei Seiten verfügt, folgt aus dem Begriff des vollkommenen Gottes, daß er existiert. Wann immer der Begriff Gottes gedacht wird, können wir nicht anders, als seine Existenz mitzudenken. Gassendi hat dem entgegengehalten, daß Existenz weder eine Vollkommenheit Gottes noch irgendeiner anderen Sache sei.310 Auch Caterus hat Descartes entschieden widersprochen. Er steht in der Tradition der Kritik an Anselms Gottesbeweis, die von Gaunilo von Marmoutiers eröffnet und von Thomas von Aquin fortgesetzt wurde.311 Caterus entgegnet Descartes: »… auch wenn angenommen wird, daß das höchste, vollkommene Wesen schon durch seinen Namen Existenz bedingt, so folgt doch nicht, daß diese Existenz in der Natur etwas Aktuelles ist. Es folgt nur, daß mit dem Begriff von einem vollkommenen Wesen der Begriff von Existenz untrennbar verbunden ist.« 312 Vom Begriff des vollkommenen Wesens läßt sich daher nicht auf dessen Existenz schließen. Es ist interessant, wie Descartes auf diesen Einwand reagiert: Er lenkt zunächst ein, indem er das Zugeständnis macht, der Begriff der Vollkommenheit allein reiche für seinen Beweisgang nicht aus. »Wenn ich aber erwäge, daß in der Idee des höchst vollkommenen Körpers die Existenz enthalten ist, da es nämlich eine größere Vollkommenheit ist, in Wirklichkeit und im Verstand zu sein als nur im Verstand, kann ich daraus nicht schließen, daß jener höchst vollkom-
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Ebd. (AT VII, 67): »… neque enim mihi liberum est Deum absque existentiâ … cogitare …« 310 Objectiones V (AT VII, 323): »… neque in Deo, neque in ullâ aliâ re existentia perfectio est …« 311 Vgl. Gaunilo von Marmoutiers, Quid ad haec respondeat quidam pro insipiente, abgedruckt als Anhang zu Anselms Proslogion (Opera omnia I, 125–129); Thomas von Aquin: Summa contra gentiles I, cap. 10–11, Summa theologiae I, qu. 2, art. 1, ad. 2. In der Fortsetzung dieser Tradition hat Kant das, was er den ontologischen Gottesbeweis nennt, in der Kritik der reinen Vernunft (A 592 ff, B 620 ff ) einer Kritik unterzogen und abgelehnt. 312 Objectiones I (AT VII, 99): »… etiamsi detur ens summe perfectum ipso nomine suo importare existentiam, tamen non sequitur ipsammet illam existentiam in rerum naturâ
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mene Körper existiert, sondern nur, daß er existieren kann …«313 Da die Idee der höchsten Vollkommenheit im Grunde ein Resultat der Steigerung verschiedener Qualitäten ist, mangelt es ihr an der notwendigen Klarheit und Distinktheit. Sie kann dem Verdacht nicht entgehen, bloß eine vom Verstand zusammengefügte Idee zu sein. Nimmt man nun statt eines Körpers (corpus) eine Sache (res) und schreibt ihr alle Vollkommenheiten zu, wird man auch dann angesichts der Frage, ob man dieser Sache eine Existenz zuschreiben kann, zunächst zweifeln. Dann aber setzt Descartes in seinen Überlegungen zu einem Sprung an, indem er eine Umbesetzung vornimmt: Solange die Existenz Gottes aus dem Begriff der höchsten Vollkommenheit geschlossen werden soll, entgeht der angestrebte Existenzbeweis nicht der möglichen Anzweifelbarkeit, und die Argumentation tritt auf der Stelle. Geschickt beschränkt sich Descartes daher auf eine einzige Vollkommenheit Gottes: die der Allmacht. »Und wenn wir aufmerksam prüfen, ob dem höchst mächtigen Wesen das Dasein zukommt und was für eines, werden wir klar und distinkt erfassen können, zunächst, daß ihm das mögliche Dasein zukommt, wie auch allen übrigen Dingen, von denen eine distinkte Idee in uns ist, auch denen, die bloß von unserem Verstand erdichtet werden. Sodann können wir seine Existenz als eine mögliche nur denken, indem wir zugleich, seine ungeheure Macht beachtend, erkennen, daß es durch seine eigene Kraft existieren kann, und deshalb werden wir zweitens schließen, daß es wirklich existiert und von Ewigkeit her existiert hat …«314 Als entscheidend für die Akzeptanz dieser Position erweist sich die Beantwortung der Frage, was es heißt, ›durch seine eigene Kraft zu existieren‹. Ist der höchst mächtige Gott die eigene Ursache für seine Existenz? Plotin hatte in bezug auf das Eine davon gesprochen, es sei Ursache seiner selbst (α0τιον 1αωτο2),315 um die Notwendigkeit des Einen herauszustellen. Arnauld betont actu quid esse, sed tantùm cum conceptu entis summi conceptum existentiae inseparabiliter esse conjunctum.« 313 Responsiones I (AT VII, 118): »Si verò considerem in ideâ corporis summe perfecti contineri existentiam, quia nempe major perfectio est esse in re & in intellectu, quàm tantùm esse in intellectu, non inde possum concludere corpus illud summe perfectum existere, sed tantummodo posse existere …« 314 Ebd. (AT VII, 119): »Atqui, si attente examinemus an enti summe potenti competat existentia, & qualis, poterimus clare & distincte percipere primò illi saltem competere possibilem existentiam, quemadmodum reliquis omnibus aliis rebus, quarum distincta idea in nobis est, etiam iis quae per figmentum intellectûs componuntur. Deinde, quia cogitare non possumus ejus existentiam esse possibilem, quin simul etiam, ad immensam ejus potentiam attendentes, agnoscamus illud propriâ suâ vi posse existere, hinc concludemus ipsum revera existere, atque ab aeterno extitisse …« 315 Plotin, Enneades VI, 8, 14, 41 (ed. P. Henry/H.-R. Schwyzer III, 260). Vgl. Th. Kobusch, »Bedingte Selbstverursachung. Zu einem Grundmotiv der neuplatonischen Tradition«, in: Th. Kobusch/B. Mojsisch/O.F. Summerell (Hg.), Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus, Amsterdam 2002, 155–173.
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VI. Meditative Anthropogenese
nun aber gegenüber Descartes, es sei für ihn am offenkundigsten, daß sich auf keine Weise etwas so zu sich selber verhalten kann, wie die wirkende Ursache zur Wirkung.316 Diesem Vorwurf, er begreife Gott als causa sui, begegnet Descartes, indem er die Relation von Ursache und Wirkung unterläuft. Gott ist auf andere Weise sich selbst gegenüber seinsmächtig, wie er bereits Mersenne gegenüber hervorgehoben hat, »weil die Unermeßlichkeit seiner Natur die Ursache oder der Grund ist, weshalb er keiner Ursache bedarf, um zu existieren«.317 Durch seine eigene Kraft zu existieren bedeutet für Descartes also nicht, die eigene Ursache für die eigene Existenz zu sein. Gott geht nicht als eine bewirkende Ursache seiner bewirkten Existenz voraus. So antwortet er Arnauld, »daß Gott durch sich ›positiv und gleichsam durch eine Ursache‹ ist«.318 Streng genommen wird Gott also weder durch sich selbst hervorgebracht noch durch irgendeinen positiven Einfluß einer bewirkenden Ursache erhalten.319 Durch die Seinsmächtigkeit Gottes, unverursacht zu sein, hat Descartes eine scharfe modale Trennung Gottes von allem geschaffenen Sein erreicht. Jede verursachte Existenz ist nicht notwendigerweise verursacht, so daß sie als kontingent zu begreifen ist. Allein für Gott gilt das nicht. Da er sich in seiner Existenz nicht verursachen kann oder muß, gilt nur für ihn, daß er notwendig ist. Descartes kommt es also in seinem zweiten Gottesbeweis auf den Begriff des ens necessarium an, dessen zentrale Stellung im Beweisgang die Differenz zu Anselm markiert.320 Beschränkt man sich bei der Beurteilung der cartesischen Gottesbeweise allein auf das, was Descartes glauben konnte erreicht zu haben, ergibt sich folgendes Bild: Descartes hat zwei Gottesbeweise vorgelegt, die ihrer argumentativen Struktur nach nicht allein, aber doch in zentraler Weise der modalen Disjunktion von Kontingenz und Notwendigkeit verpflichtet sind. Scheint zunächst der zweite Gottesbeweis in der Fünften Meditation der architektonischen Eleganz der Meditationes zu widersprechen, da der argumentative Aufwand in einem proportionalen Mißverhältnis zur meditativen Evidenz der Existenzgewißheit Gottes zu geraten droht, so ist doch die Logik eines doppelten Gottesbeweises
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Objectiones IV (AT VII, 213 f.): »… cùm evidentissimum mihi sit, nihil ullo modo erga seipsum esse posse, quod est causa efficiens erga effectum.« 317 Responsiones II (AT VII, 165): »… sed quia ipsa ejus naturae immensitas est causa sive ratio, propter quam nullâ causâ indiget ad existendum.« 318 Responsiones IV (AT VII, 231): »… quòd Deus sit a se positive, & tanquam a causâ …« 319 Ebd. (AT VII, 232): »Ille vero probat Deum a se non produci, nec conservari, per positivum aliquem causae efficientis influxum …« 320 Das hat Dieter Henrich, dem die vorgelegten Überlegungen zum ontologischen Gottesbeweis wichtige Anregungen verdanken, klar herausgearbeitet: D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960, 10–22.
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zwingend. Der posteriorische Gottesbeweis geht von der Erfahrung der eigenen Kontingenz aus, der apriorische von der absoluten Notwendigkeit des ens necessarium. Während die Reflexion der Kontingenz die unabstreifbare Abhängigkeit von einer nichtkontingenten Notwendigkeit betont, erschließt sich für Descartes die Notwendigkeit der Existenz Gottes nicht allein aus dem umstrittenen Attribut der Vollkommenheit, sondern vielmehr aus der Allmächtigkeit Gottes. Mit den von ihm für gültig gehaltenen Gottesbeweisen und dem cogito-Argument hat Descartes angesichts der universalen Kontingenz alles Geschaffenen zwei Notwendigkeiten verteidigt. So spektakulär es ist, die Existenz des cogito als erste Gewißheit anzuerkennen, der die Gewißheit der Existenz Gottes folgt, und so umstritten die Argumentationsfolge ist, der Kritiker eine Zirkularität vorgeworfen haben,321 so sicher konnte Descartes davon ausgehen, ein Fundament gewonnen zu haben, auf dem sich – wie er es in der Sechsten Meditation unternimmt – eine sichere Kenntnisnahme dessen, was nicht das cogito und nicht Gott ist, aufbauen läßt: die Erkenntnis der Welt. Es muß nicht allein Arroganz sein, wenn Descartes an Mersenne schreibt, die Metaphysik sei »eine Wissenschaft, die fast niemand versteht«.322 Vielleicht hat Descartes – auch aufgrund der erhobenen Einwände – gesehen, daß seiner Metaphysik jene Leichtigkeit abgeht, die der präreflexiven Selbstgewißheit des cogito und selbst deren Reflexion zukommen soll und die in der anfänglichen Formel sum, ergo Deus est noch durchscheint. Nun ist Leichtigkeit kein Qualitätsmerkmal, aber es besteht die Gefahr, daß der argumentative Aufwand die angestrebte Gleichursprünglichkeit der Gottesgewißheit fraglich werden läßt. Zum Vergleich: Thomas von Aquin hat für seine fünf Gottesbeweise in der Summa theologiae etwa eine moderne Druckseite benötigt. Auf eine dem cogito, ergo sum vergleichbare unmittelbare Evidenz der Existenz Gottes muß es Descartes aber ankommen, um dem drohenden Solipsismus zu entgehen. Nimmt man den Terminus ›Solipsist‹ in seiner anfänglichen Doppeldeutigkeit, die die pseudonyme Monarchia solipsorum des Lucius Cornelius Europaeus von 1645
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Der Vorwurf der Zirkularität weist auf den Umstand hin, daß Descartes die Klarheit und Distinktheit als ein Wahrheitskriterium eingeführt hat, bevor er die Existenz eines nicht täuschenden Gottes bewiesen hat. Er muß aber die Existenz eines untrügerischen Gottes bewiesen haben, um von der Verläßlichkeit des Kriteriums der Klarheit und Distinktheit ausgehen zu können. Um Gott als einen untrügerischen beweisen zu können, macht er nun aber von diesem Kriterium Gebrauch, bevor es durch den Beweis abgesichert ist. Auf das Problem der Zirkularität hat bereits Arnauld hingewiesen (AT VII, 214); zur gegenwärtigen Diskussion vgl. W. Doney (Hg.), Eternal Truths and the Cartesian Circle. A Collection of Studies, New York/London 1987. 322 Brief an Mersenne, 27. August 1639 (AT II, 570): »… vne science que presque personne n’entendt …«
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VI. Meditative Anthropogenese
bietet,323 ist das cartesische Subjekt, sofern es von Gott getrennt bleibt, weder in der Lage, allein (solus) zu bestehen, noch wie eine Sonne (sol) die Welt zu erleuchten. Der Aufweis der zweiten elementaren Notwendigkeit geschieht daher unter der Bedingung äußerster Anspannung. Immerhin ist Descartes das für ihn unerhörte Wagnis eingegangen, von der unumstößlichen ersten Notwendigkeit der Existenzgewißheit des cogito auszugehen, bevor die Existenz Gottes als zweite Notwendigkeit bewiesen ist. Erst die metaphysischen Anstrengungen des aufmerksamsten Geistes sichern dem cartesischen Rationalismus die Existenz Gottes und somit das Fundament der Welterkenntnis. Die Evidenz des Notwendigen und der Zugang zu ihr drohen in ein Spannungsverhältnis zu geraten, denn so offenkundig die Existenz Gottes sein soll, so aufwendig ist ihr Beweis im Argumentationsduktus der Meditationes. Descartes wird Burman empfehlen, man solle sich nicht zu lange mit diesen metaphysischen Fragen beschäftigen, es genüge die Kenntnis der Zusammenfassung im ersten Buch der Principia philosophiae. Man solle das metaphysische Wissen einmal allgemein erfassen, dann genüge die Erinnerung daran.324 Die Metaphysik ist eben nur ein Teilprojekt einer Rationalität, die sich nicht um ihren pragmatischen Nutzen bringen lassen will. Die metaphyischen Reflexionen sind für den Geist eine unerläßliche Reinigung – »ich gestehe aber, daß sie den meinigen ermüden«.325
§ 29 Kontingenter und absoluter Rationalismus Die Genese des cartesischen Rationalismus bezog aus der bereits zur Tradition verdichteten Reflexion der Kontingenz einen konstitutiven Impuls. Der Rationalismus cartesischer Prägung formulierte sich im Angesicht der Kontingenz des von Gott geschaffenen Seins und der kontingent-notwendigen Prinzipien, die Gott diesem Sein vorgeschrieben hat. Ewige Wahrheiten gibt es nicht im strikten Sinne des Wortes, und die Notwendigkeit des cogito, das die Kontingenzen der geschichtlichen Situation und der Leibhaftigkeit des Menschen ausgleichen soll, bleibt selbst nicht frei von Kontingenzen. Zwar ist die menschliche Vernunft ein 323
Vgl. K.-H. Gerschmann, »Zur Geschichte des Terminus Solipsismus«, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century (Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightenment. Münster 23–29 July 1995), Oxford 1996, 511–516. Mit den Solipsi waren die Jesuiten gemeint, deren absolutistische Selbstherrlichkeit ironisiert werden sollte. Vgl. dazu auch Gerschmanns Ausführungen: »Endstation Selbstsucht. Über den Anfang und das Ende der Utopie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 12. 1993, N 6. 324 Vgl. Burman (AT V, 165). 325 Brief an Chanut, 1. Februar 1647 (AT IV, 613): »… mais ie auoüe qu’elles lassent le mien …«
§ 29 Kontingenter und absoluter Rationalismus
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»Universalinstrument« (vn instrument vniuersel),326 aber das bedeutet nicht, daß sie so, wie wir sie erfassen, auch absolut notwendig ist. Es bedeutet auch nicht, daß die Kontingenz des von der Vernunft Bewältigten aufgehoben wird. Das konnte kaum unwidersprochen bleiben: Es liege in der Natur der Vernunft, die Dinge nicht als kontingente, sondern als notwendige zu betrachten, entgegnet Spinoza.327 Ein vergleichender Blick auf diesen Einspruch aus der Schule des Cartesianismus vermag die Bedeutung der Kontingenz für den cartesischen Rationalismus auf eigene Weise zu konturieren. Spinozas Kritik an Descartes ist schonungslos. Descartes und Bacon, der in die Kritik gleich miteingeschlossen wird, haben ihm zufolge drei Fehler begangen: »Der erste und größte Irrtum besteht darin, daß sie so weit von der Erkenntnis der ersten Ursache und des Ursprungs aller Dinge abgeirrt sind. Der zweite, daß sie die wahre Natur des menschlichen Geistes nicht erkannt haben. Der dritte, daß sie die wahre Ursache des Irrtums niemals erfaßt haben.«328 Grundsätzlicher konnte eine Kritik am Cartesianismus nicht ausfallen. Die Vorwürfe geben einen Leitfaden für einen Vergleich ab, der die unterschiedliche Präsenz des Kontingenzgedankens befragt. Descartes’ Metaphysik besitzt eine triadische Struktur, deren Relationen kontingent sind. Gott als die vollkommene und notwendige Substanz hat die beiden Substanzen der res cogitans und der res extensa auf kontingente Weise willentlich hervorgebracht. Auch die Dependenz dieser beiden kontingenten Substanzen erscheint in ihrer Verbundenheit als kontingent, da zwar der Mensch als eine unio mentis et corporis notwendigerweise aus beiden zusammengesetzt sein muß, aber es ist nicht notwendig, daß er diese Form von Leibhaftigkeit zugewiesen bekommen hat, die ihm aktuell eigen ist. Mochte die kontingente Relation der göttlichen Substanz zu den beiden von ihm geschaffenen Substanzen vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Modalitätsreflexionen allgemeine Akzeptanz finden, wurde die communicatio mentis et corporis als ein von Descartes nur unbefriedigend gelöstes Problem begriffen. Sein theoretischer Ansatz, der Geist könne über die Vermittlung der Lebensgeister, ausgehend von der Zirbeldrüse, auf den gänzlich anders beschaffenen Körper einwirken, kann die distinctio mentis et corporis anscheinend nicht überbrücken – ironisch hat Ryle von dem »Gespenst in der Maschine« (the Ghost in the Machine) gespro-
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Discours V (AT VI, 57). B. de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata II, prop. 44 (ed. C. Gebhardt II, 125): »De naturâ Rationis non est res, ut contingentes, sed, ut necessarias, contemplari.« 328 B. de Spinoza, Epistola 2, an Oldenburg (ed. C. Gebhardt, IV, 8): »Primus itaque, & maximus est, quòd tam longè à cognitione primae causae, & originis omnium rerum aberrârint. Secundus, quòd veram naturam humanae Mentis non cognoverint. Tertius, quòd veram causam erroris nunquam assecuti sint …«
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VI. Meditative Anthropogenese
chen.329 Der Occasionalismus stellt die eine Lösungsmöglichkeit für dieses Problem dar, indem Gott die Aufgabe zugewiesen wird, durch ein unmittelbares Eingreifen bei Gelegenheit (occasio) die Verbindung zwischen beiden getrennten Substanzen herzustellen und ein Einwirken aufeinander zu ermöglichen.330 Kant wird diesen Vorschlag, die »berüchtigte Frage« nach der Verbindung von Geist und Körper zu beantworten, als das Modell der »übernatürlichen Assistenz« bezeichnen.331 Die andere Lösungsmöglichkeit, dem Dualismus zu begegnen, ist die Reduktion der Substanzen und deren Verdichtung zu einem Monismus. Während Descartes im Zentrum seiner Metaphysik die Faktizität der Substanzendifferenz als nicht weiter ableitbar oder in ihrer Notwendigkeit aufweisbar akzeptiert, vereinfacht Spinoza den Substanzenpluralismus, indem er konstatiert, daß eine Substanz nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht werden kann.332 Damit bleibt die göttliche Substanz gleichsam für sich, sie kann ihre Substantialität nicht schöpferisch vermitteln: »Außer Gott kann keine Substanz sein und keine begriffen werden.«333 Die vorherigen Substanzen der res cogitans und der res extensa werden zu Attributen der göttlichen Substanz.334 Bereits Descartes hatte in den Principa formuliert, aus jedem Attribut werde die Substanz erkannt.335 So kann ihm Spinoza folgen, wenn er unter einem Attribut das versteht, was der Verstand an der Substanz als deren konstituierende Essenz wahrnimmt.336 Gott, oder die aus unendlichen Attributen bestehende Substanz,337 enthält die Attribute als Wesensmerkmale. Sie sind keine hervorgebrachten Produkte göttlichen Schaffens: Gott bringt keine Attribute hervor, er ist vielmehr attributiv
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G. Ryle, The Concept of Mind, New York 1949, 15 f. Der Occasionalismus ist als Reaktion auf den cartesischen Leib-Seele-Dualismus im 17. Jahrhundert vor allem durch Nicolas Malebranche populär geworden. Seine Vorgeschichte reicht aber im arabisch-islamischen Denken bis in das 8. Jahrhundert zurück. Vgl. D. Perler/U. Rudolph, Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000. 331 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 392 und 390 (Akademie-Ausgabe IV, 245, 244). 332 Ethica I, prop. 6 (ed. C. Gebhardt II, 48): »Una substantia non potest produci ab aliâ substantiâ.« 333 Ethica I, prop. 14 (ed. C. Gebhardt II, 56): »Praeter Deum nulla dari, neque concipi potest substantia.« 334 Ethica II, prop. 1 (ed. C. Gebhardt II, 86): »Cogitatio attributum Dei est, sive Deus est res cogitans.« Ebd., prop. 2: »Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa.« 335 Principia I 53 (AT VIII–1, 25): »Et quidem ex quolibet attributo substantia cognoscitur …« 336 Ethica I, def. 4 (ed. C. Gebhardt II, 45): »Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantiâ percipit, tanquam ejusdem essentiam constituens.« 337 Ethica I, prop. 11 (ed. C. Gebhardt II, 52): »Deus, sive substantia constans infinitis attributis …«
§ 29 Kontingenter und absoluter Rationalismus
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gegliedert. Die Produktivität Gottes, die Unendliches auf unendliche Weise (infinita infinitis modis) 338 schafft, erfüllt sich in der Hervorbringung der Modi: Als unmittelbaren und unendlichen Modus bezeichnet Spinoza das unter einem göttlichen Attribut Existierende, etwa der unbedingt unendliche Verstand, an dem sämtliche Formen endlichen Verstandes partizipieren, oder Bewegung und Ruhe als einem unmittelbar unendlichen Modus, an dem sämtliche ausgedehnten Körper teilhaben. Dagegen ist ein vermittelter unendlicher Modus keine unter einem Attribut existierende Totalität, sondern eine Struktur oder Form, die das gleichbleibende »Angesicht des ganzen Universums, das zwar in unendlichen Modi sich ändert, aber immer dasselbe bleibt«,339 garantiert. Während die unendlichen Modi unveränderlich und ewig sind, grenzt Spinoza von ihnen die endlichen Modi ab. Als besondere Dinge (res particulares) sind die endlichen Modi nichts als Affektionen oder Modi der Attribute Gottes.340 Als von Gott hervorgebrachte Dinge schließt ihr Wesen nicht ihre Existenz notwendig ein.341 Bereits an diesen nur skizzierten Grundbestimmungen der Metaphysik Spinozas wird deutlich, daß sie die Kontingenz systematisch marginalisiert. Müssen die geschaffenen Dinge nach Descartes als kontingent angesehen werden, da sie aufgrund des freien göttlichen Willens auch nicht oder anders sein könnten, ist für Spinoza die Spezifität einer res, also ihre Washeit, notwendigerweise von Gott bestimmt worden.342 »Es gibt in der Natur nichts Kontingentes, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise da zu sein und zu wirken.«343 Das gilt auch für die Schaffung der Welt. In einem Brief an Hugo Boxel weist Spinoza die Annahme strikt zurück, Gott hätte aufgrund der Freiheit seines Willens die Schaffung der Welt auch unterlassen können. Die Annahme einer derartigen Freiheit des göttlichen Willens kommt für ihn einer Anerkennung des Zufalls als Schöpfungsprinzip gleich. Daß die Welt aber per Zufall entstanden sein könnte, ist für ihn eine Absurdität: »Darum sage ich, …
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Ethica I, prop. 16 (ed. C. Gebhardt II, 60). Epistola 64, an Schuller (ed. C. Gebhardt IV, 278): »… facies totius Universi, quae quamvis infinitis modis variet, manet tamen semper eadem …« 340 Ethica I, prop. 25, coroll. (ed. C. Gebhardt II, 68): »Res particulares nihil sunt, nisi Dei attributorum affectiones, sive modi …« 341 Ethica I, prop. 24 (ed. C. Gebhardt II, 67): »Rerum à Deo productarum essentia non involvit existentiam.« 342 Ethica I, prop. 26 (ed. C. Gebhardt II, 68): »Res … à Deo necessariò sic fuit determinata …« 343 Ethica I, prop. 29 (ed. C. Gebhardt II, 70): »In rerum naturâ nullum datur contingens, sed omnia ex neceßitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum, & operandum.«
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VI. Meditative Anthropogenese
daß die Welt eine notwendige Wirkung der göttlichen Natur und daß sie nicht durch Zufall entstanden ist.«344 War seit dem Spätmittelalter der freie Wille Gottes der Inbegriff des kontingenzstiftenden Prinzips, nimmt Spinoza diesen Primat einer voluntaristischen Gotteslehre zurück. Die Annahme, daß es Gottes Wille sei, der schöpferisch aus dem Fundus der Möglichkeiten auswählt und neben dem Aktualisierten ungenutzte Möglichkeiten zurückläßt, wird für Spinoza unsinnig, da alles »nicht durch Freiheit des Willens oder durch ein unbedingtes Gutdünken, sondern durch Gottes unbedingte Natur oder unendliche Macht«345 entschieden und geregelt wird. Die Übertragung des menschlichen Verhältnisses von Intellekt und Wille auf das Wesen Gottes ist für Spinoza gänzlich falsch.346 Die Attribute und Modi sind nicht Ausdruck von Gottes Wahl, sondern von seiner Wesensnatur. Der Wille kann daher nicht eine freie, sondern nur eine notwendige Ursache genannt werden,347 so daß Gott nicht aus Willensfreiheit wirkt.348 Hatte Descartes Gott mit einem König vergleichen können, der der Natur ihre Gesetzmäßigkeiten vorschreibt,349 weist Spinoza ausdrücklich diese Analogisierung als blanken Anthropomorphismus zurück.350 Die Ordnung des Seins ist daher nicht kontingent, sondern notwendig. Während Descartes betont, daß er – bei allem, was er schreibe – nicht der Ordnung der Gegenstände folge, sondern allein der der Vernunftgründe351 und er daher vorrangig an »eine Ordnung für alle Gedanken, die dem menschlichen Geist kommen können«,352 denkt, rehabilitiert Spinoza das Prinzip der Ordnung metaphysisch: »Die Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind.«353 Der Gott Spinozas verfügt über keinen dem Intellekt gegenüber gleich344
Epistola 54, an Hugo Boxel (ed. C. Gebhardt IV, 252): »Dico igitur … Mundum Divinae Naturae necessarium effectum eumque fortuitò non esse factum.« 345 Ethica I, Appendix (ed. C. Gebhardt II, 77): »… non … ex libertate voluntatis, sive absoluto beneplacito, sed ex absolutâ Dei naturâ, sive infinitâ potentiâ.« 346 Vgl. Ethica I, prop. 17, schol. (ed. C. Gebhardt II, 61 ff.). 347 Ethica I, prop. 32 (ed. C. Gebhardt II, 72): »Voluntas non potest vocari causa libera, sed tantùm necessaria.« 348 Ebd., coroll. 1 (ed. C. Gebhardt II, 73): »Deum non operari ex libertate voluntatis.« 349 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 145). 350 Ethica II, prop. 3, schol. (ed. C. Gebhardt II, 87 f.). 351 Brief an Mersenne, (24. Dezember 1640 ?) (AT III, 266): »Et il est à remarquer, en tout ce que i’écris, que ie ne suis pas l’ordre des matieres, mais seulement celuy des raisons …« 352 Brief an Mersenne, 20. November 1629 (AT I, 80): »… vn ordre entre toutes les pensées qui peuuent entrer en l’esprit humain …« 353 Ethica I, prop. 33 (ed. C. Gebhardt II, 73): »Res nullo alio modo, neque alio ordine à Deo produci potuerunt, quàm productae sunt.«
§ 29 Kontingenter und absoluter Rationalismus
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berechtigten Willen, der zwischen Schöpfungsoptionen zu wählen weiß. Die Ordnung des Seins ist keine kontingente Faktizität, sondern der Inbegriff einer metaphysischen Notwendigkeit: Wenn die Dinge von anderer Natur hätten sein oder auf andere Weise zum Wirken hätten bestimmt werden können, so daß die Ordnung der Natur eine andere wäre, so hätte demnach auch die Natur Gottes eine andere sein können als sie jetzt ist, und so müßte jene andere auch da sein, und demnach könnte es zwei oder mehrere Götter geben, was absurd ist.354 Das Sein wird aus dem göttlichen Intellekt erschlossen, so daß Spinoza eine universale Intelligibilität zurückgewinnt. Die Natur alles Gewordenen ist nicht eine kontingente Faktizität, sondern die Natur wird gottgleich: Deus sive natura. Der cartesische Ansatz, den Aufbau einer Welt abgesicherter Erkenntnisse bei der untrüglichen Evidenz des cogito beginnen zu lassen, macht für Spinoza folglich den ersten und größten Irrtum des cartesischen Systems aus. Die Nachgeordnetheit der Gotteserkenntnis, die die Gewißheit des cogito voraussetzt und im Kern nicht viel mehr ist als ein Beweis seiner Existenz, bedingt die falsche metaphysische Perspektive des Cartesianismus, da für Spinoza alles, was ist, in Gott ist, und nicht ohne Gott sein oder begriffen werden kann.355 Es ist eine programmatische Korrektur am Cartesianismus, daß Spinoza seine aus fünf Teilen bestehende Ethik mit Bestimmungen des göttlichen Wesens beginnen läßt und erst im zweiten Teil auf den menschlichen Geist zu sprechen kommt. Wie wenig dies Zufall sein kann, belegt auch der gegenüber dem Cartesianismus kritische Traité de la nature et de la grâce von Malebranche, dessen erster Artikel des ersten Discours mit dem Wort ›Dieu‹ beginnt.356 In den Meditationes ergreift im ersten Satz der Icherzähler das Wort. Aus dieser für Spinoza verkehrten Perspektive ergibt sich der zweite Vorwurf, den er dem Cartesianismus macht: Aufgrund des metaphysischen Anthropozentrismus wird das Wesen des menschlichen Geistes nicht angemessen erkannt.357 Das cartesische Subjekt erlangt durch die Gewißheitsreflexion des cogito, ergo sum einen gleichsam garantierten Selbstbesitz, während für Spinoza die Essenz des Menschen aus gewissen Modi der göttlichen Attribute besteht,358 so daß
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Ethica I, prop. 33, dem. (ed. C. Gebhardt II, 73): »Si itaque res alterius naturae potuissent esse, vel alio modo ad operandum determinari, ut naturae ordo alius esset; ergo Dei etiam natura alia posset esse, quàm jam est; ac proinde illa etiam deberet existere, & consequenter duo, vel plures possent dari Dii, quod est absurdum.« 355 Ethica I, prop. 15 (ed. C. Gebhardt II, 56): »Quicquid est, in Deo est, & nihil sine Deo esse, neque concipi potest.« 356 N. Malebranche, Traité de la nature et de la grâce I, art. 1 (Œuvres Complètes V, 12). 357 Zur Anthropologie Spinozas vgl. die umfassende Studie von Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992. 358 Ethica II, prop. 11, dem. (ed. C. Gebhardt II, 94): »Essentia hominis à certis Dei attributorum modis constituitur …«
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der menschliche Geist als ein Teil des unendlichen göttlichen Verstandes begriffen wird.359 Hat sich das cartesische Ich erst eigens der Existenz Gottes zu versichern, hat der menschliche Geist nach Spinoza eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes,360 da er über die beiden Attribute der Ausdehnung und des Denkens, an denen er als Modi teilhat, Zugang zu ihr hat. Zwar bleibt die menschliche Erkenntnis Gottes, der über unendlich viele Attribute verfügt, auf diese beiden Attribute begrenzt,361 zu ihnen aber hat er der Möglichkeit nach einen intuitiven Zugang. Der Irrtum ist daher für Spinoza das Resultat einer falsch eingenommenen Perspektive, die sich nicht von der ersten Ursache her bestimmen läßt. Descartes hatte den Irrtum als das Resultat eines undisziplinierten Willens beschrieben, der vorschnell sinnliche Eindrücke zu Urteilen über die Dinge werden läßt. Der cartesische Rationalismus erhebt daher den korrektivischen Anspruch der Vernunft auf eine Urteilshoheit, die die Sinnlichkeit und den Willen in ihre Schranken weist. Die Diagnose und die Therapie sind Anforderungen, die das Subjekt aus sich selbst heraus und an sich selbst zu leisten vermag. Spinozas Theorie des Irrtums ist radikaler: »Ich sage ausdrücklich, daß der Geist weder von sich selbst noch von seinem Körper noch von den anderen Körpern eine adäquate, sondern nur eine konfuse … Erkenntnis habe, so oft er die Dinge nach der gewöhnlichen Ordnung der Natur wahrnimmt, das heißt so oft er von außen, nämlich durch zufällig begegnende Dinge, bestimmt wird, dieses oder jenes zu betrachten …«362 Es ist das Diktat der zufälligen Erkenntnis, das vereitelt, die Dinge selbst nicht als kontingente, sondern als notwendige zu erfassen. Um dies zu leisten, sind sie sub specie aeternitatis zu betrachten.363 Die angemessene Darstellungsweise des rationalistischen Systems ist für Spinoza folglich die geometrische Methode. Seit der Euklid-Ausgabe Euclidis Elementorum Libri XV des Mathematikers Clavius aus dem Jahr 1574 wurde die
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Ethica II, prop. 11, coroll. (ed. C. Gebhardt II, 94): »Hinc sequitur Mentem humanam partem esse infiniti intellectûs Dei …« 360 Ethica II, prop. 47 (ed. C. Gebhardt II, 128): »Mens humana adaequatam habet cognitionem aeternae, & infinitae essentiae Dei.« 361 Vgl. Epistola 64, an Schuller (ed. C. Gebhardt IV, 277 f.): »Apparet itaque Mentem humanam, sive Corporis humani ideam praeter haec duo nulla alia Dei attributa involvere, neque exprimere.« 362 Ethica II, prop. 29, schol. (ed. C. Gebhardt II, 114): »Dico expressè, quòd Mens nec sui ipsius, nec sui Corporis, nec corporum externorum adaequatam, sed confusam tantùm … cognitionem habeat, quoties ex communi naturae ordine res percipit, hoc est, quoties externè, ex rerum nempe fortuito occursu, determinatur ad hoc, vel illud contemplandum …« 363 Ethica II, prop. 44, coroll. 2 (ed. C. Gebhardt II, 126): »De naturâ Rationis est res sub quâdam aeternitatis specie percipere.«
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geometrische Methode als das genetische Verfahren der Demonstration verstanden, etwas aus der Perspektive der bewirkenden Ursache her zu betrachten. Hatte Spinoza diesen Ansatz, etwas more geometrico zu verstehen, bereits in seiner Schrift Renati Des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I, & II, More Geometrico demonstrata von 1663 auf den Cartesianismus angewendet, wird er in seiner intendierten universalen Stringenz für die Ethik grundlegend. Descartes hingegen hat für seine Meditationes die geometrische Methode abgelehnt.364 Während Spinoza auf die kognitive Evidenz seiner Postulate, Axiome und Lehrsätze setzt, hält Descartes dagegen, daß bei metaphysischen Gegenständen nichts so große Mühe mache, als die ersten Begriffe klar und distinkt zu erfassen.365 Wenn sie ganz allein hingestellt würden, könnten Kritiker sie leicht leugnen.366 Zweifellos macht die mangelnde Eigenevidenz etlicher Sätze der Ethica eine ihrer Schwächen aus. So behauptet Spinoza: Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden. Dabei kann es nicht als selbstverständlich angesehen werden, was es ontologisch heißen kann, etwas sei ›in Gott‹. Die Differenzen zwischen dem Rationalismus Descartes’ und Spinozas gewinnen noch an Prägnanz, wenn man ihre ethischen Implikationen miteinander vergleicht. Dabei wird sichtbar, daß Descartes rational auf die Herausforderung der Kontingenzerfahrung reagiert, während Spinoza diese durch einen metaphysischen Nezessitarismus zu überwinden sucht. Ethik steht für den cartesischen Rationalismus nicht im Zentrum seines Interesses. Gegenüber Burman erklärt Descartes salopp: »Der Autor schreibt nicht gern Ethisches.«367 Das kann zwei Gründe haben: Zum einen drohen öffentlich vertretene moralphilosophische Positionen für Descartes wegen der Verleumdungen durch seine Kritiker gefährlich zu werden. Aufgrund der prekären Lage seiner unveröffentlichten Physik nach der Verurteilung Galileis ist er daran interessiert, weiteren Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen und will daher die Belange der Moral den Herrschern überlassen.368 Zum anderen kann das Fehlen einer ausgearbeiteten Ethik darauf hinweisen, daß sie innerhalb der cartesischen Rationalität keinen sicheren Ort hat.
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Nur auf Nachfrage hat Descartes in den Zweiten Erwiderungen seine Metaphysik nach geometrischer Methode vorgestellt (AT VII, 160–170). 365 Responsiones II (AT, VII 157): »Contrà verò in his Metaphysicis de nullâ re magis laboratur, quàm de primis notionibus clare & distincte percipiendis.« 366 Ebd. (AT, VII 157): »… atque si solae ponerentur, facilè a contradicendi cupidis negari possent.« 367 Burman (AT V, 178): »Auctor non libenter scribit ethica …« 368 Diese Begründung für die Weigerung, eine ausgearbeitete Ethik vorzulegen, nennt Descartes in den beiden Briefen an Chanut vom 1. November 1646 (AT IV, 536) und vom 20. November 1647 (AT V, 86 f.).
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Letzterem scheint zunächst zu widersprechen, daß Descartes in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe der Principia die Moral als den Abschluß der Wissenschaften beschrieben hat. In der »höchsten und vollkommensten Moral, die eine vollständige Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt und den letzten Grad der Weisheit darstellt«,369 kommen die Wissenschaften zu ihrer Vollendung. Sollte Descartes die Ausformulierung seiner Ethik also allein aus den erstgenannten Gründen unterlassen haben? Das ist kaum wahrscheinlich, müßten sich doch zumindest Andeutungen und Ausblicke auf diese Ethik in seinen Schriften finden lassen. Sämtliche Äußerungen, die Descartes zur Moralphilosophie gemacht hat, gehen aber nicht über das Maß einer provisorischen Moral (vne morale par prouision),370 wie er sie nennt, hinaus. Dazu gehören die vier im Discours vorgestellten Maximen: erstens die Gesetze und Sitten der Gesellschaft, in der man lebt, zu achten, zweitens in seinen Handlungen fest und entschlossen zu sein, drittens sich in die Umstände zu fügen und eher seine Wünsche zu ändern als die Weltordnung, viertens seinen Fähigkeiten nach zu leben, um zufrieden sein zu können.371 Diese Grundsätze sind so allgemein wie die Forderung, man solle das Leben lieben, ohne den Tod zu fürchten.372 Die Vakanz einer ausgearbeiteten Moral wird auch nicht von den Reflexionen über die Affekte in den Passions de l’âme aufgehoben, wenn Descartes dort etwa fordert, das Begehren sei zu regeln, darin bestehe der hauptsächliche Gebrauch der Moral.373 Die Methode der Disziplinierung der Affekte ist rationalistisch, denn wenn wir immer alles tun, was uns unsere Vernunft gebietet, werden wir niemals Grund zur Reue haben.374 Der Hintergrund dieser Rationalisierung der moralischen Maximen ist unverkennbar neostoizistisch bestimmt. Descartes verweist in seinem Briefwechsel mit der Prinzessin Elisabeth von Böhmen wiederholt auf Senecas De vita beata.375 Die Vorläufigkeit der cartesischen Moral, die durch stoisch inspirierte Maximen überbrückt wird, gewinnt gerade durch die Affinität nicht zu den
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Prinicipes, Preface (AT IX–2, 14): »… la plus haute & la plus parfaite Morale, qui, presupposant vne entiere connoissance des autres sciences, est le dernier degré de la Sagesse.« 370 Discours III (AT VI, 22). 371 Discours III (AT VI, 22–28). 372 Brief an Mersenne, 9. Januar 1639 (AT II, 480): »… & l’vn de poins de ma morale est d’aymer la vie sans craindre la mort.« 373 Passions II, art. 144 (XI, 436): »… c’est particulierement ce Desir que nous devons avoir soin de regler; & c’est en cela que consiste la principale utilité de la Morale.« 374 Brief an Elisabeth, 4. August 1645 (AT IV, 266): »… si nous faisons tousiours tout ce que nous dicte nostre raison, nous n’aurons iamais aucun suiet de nous repentir …« 375 Vgl. die Briefe an Elisabeth vom 21. Juli 1645 (AT IV, 251 ff.), vom 4. August 1645 (AT IV, 263 ff.) und vom 18. August 1645 (AT IV, 271 ff.).
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kosmologischen, sondern zu den anthropologischen Lehrstücken der Stoa als der Begründung einer vernünftigen und säkularen Moral an Transparenz: Der frühneuzeitliche Neostoizismus entwickelt sich »im Anschluß an die spätscholastische Kontingenzkrise und an die geschichtliche Kontingenz-Erfahrung des 16. Jahrhunderts zwecks deren Überwindung. Neustoizismus ist folglich als eine Anstrengung aufzufassen, die den universalen Naturzustand und die organische Einheitsvorstellung nicht mehr in dem gleichen Sinne intendiert, wie dies die antike Stoa getan hat.«376 Er versucht vielmehr »im Anschluß an die Erfahrung der Kontingenz und Bedrohlichkeit seitens der Welt, der Natur und der Menschen zu einer rational-natürlichen Ordnung allererst vorzudringen«.377 Verlangt die Reflexion der Kontingenz eine neue Absicherung humanen Wissens durch eine Reformierung der Wissenschaften, gilt es im Bereich der Moral gleichsam zu improvisieren. Es ist nur verständlich, daß sich die Improvisation nicht gänzlich neu entwirft, sondern sich einiger Versatzstücke der Tradition bedient. Der zeitgenössische Inbegriff des tugendhaften Ideals, der honnête homme,378 erweist sich entsprechend nicht als ein Resultat der erneuerten Rationalität, sondern als ein allgemeiner Imperativ der sittlichen Kultivierung. Der habitus eines derart gebildeten und kultivierten Menschen ist das Ziel einer moralisch zu festigenden Person, die ihre Noblesse der Kraft der natürlichen Vernunft »ohne Zuhilfenahme der Religion oder der Philosophie« verdankt, wie es im Untertitel der Recherche de la vérité par la lumière naturelle heißt. Der honnête homme ist das Ideal der souveränen Beherrschung eines Verhaltenskodex, der auf Begründungen gerade verzichtet. Der Inbegriff verfeinerter und moralisch integerer Umgangsformen springt für das Ausbleiben einer rationalen Ethik in die Bresche. Die cartesische Ethik bleibt offensichtlich eine provisorische, da ihr Gegenstandsbereich aus kontingenten Situationen besteht, die nicht in eine Notwendigkeit überführt werden können. Descartes, der sonst nie zitiert, zitiert Seneca, da er aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Rationalismus zur Moral im Grunde nicht viel zu sagen hat.379 Eine noch geringere Rolle spielt für ihn die politische Theorie, der gegenüber er sein Desinteresse offen bekundet hat.380
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G. Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit, a. a. O., 29. Ebd. Zum Ideal der honnêteté im 17. Jahrhundert vgl. den Beitrag »Die Theorie der Honnêteté« von Roger Zuber in J.-P. Schobinger (Hg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 2: Frankreich und Niederlande, erster Halbband, Basel 1993, 154–166. 379 Es ist also nicht, wie Alfred Klemmt in seiner Studie Descartes und die Moral (Meisenheim am Glan 1971, 166) bedauert, »ein unersetzlicher Verlust, daß Descartes seine Moralphilosophie nicht in einem eigenen Werk systematisch dargelegt hat«, sondern diese Vakanz ist – trotz aller sporadischen Äußerungen – im Rahmen des Cartesianismus konsequent. 380 Es ist nach Descartes nicht einmal möglich, genau zu bestimmen, bis wohin uns die
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Letztlich erscheint die Moral selbst als etwas Kontingentes, auf das es sich allein empfiehlt, mit fester Entschlossenheit zu reagieren. »Mein … Grundsatz war, in meinen Handlungen so fest und entschlossen zu sein wie möglich und den zweifelhaftesten Ansichten, wenn ich mich einmal für sie entschlossen hätte, nicht weniger beharrlich zu folgen, als wären sie ganz gewiß. Hierin imitierte ich die Reisenden, die, wenn sie sich in einem Wald verirrt finden, nicht umherlaufen und sich bald in diese, bald in jene Richtung wenden, noch weniger an einer Stelle verbleiben, sondern so geradewegs wie möglich immer in derselben Richtung marschieren und davon nicht aus unbedeutenden Gründen abweichen sollten, obschon es vielleicht am Anfang allein der Zufall (le hasard seul) gewesen ist, der ihre Wahl bestimmt hat: Denn so werden sie, wenn sie nicht genau dahin kommen, wohin sie wollten, wenigstens am Ende irgendeine Gegend erreichen, wo sie sich wahrscheinlich besser befinden als mitten im Wald.«381 Die moralische Ausrichtung wird – zumindest der Tendenz nach – inhaltsleer, wenn das Festhalten auch an Zweifelhaftem einer nachträglichen Korrektur vorgezogen wird. Ein moralischer Vorsatz wird als kontingent erfaßt, da er keine intrinsische Verpflichtung zu enthalten scheint. Angesichts der nicht notwendigen moralischen Normen, deren Kontingenz durch die zu akzeptierenden kulturellen Unterschiede in der ersten moralischen Maxime des Discours betont wird, hilft nur die Entschlossenheit der gewählten Handlungen weiter. Das ist nicht viel. Descartes scheint das gesehen zu haben, da er einmal darauf hinweist, daß er sich gelegentlich auch damit beschäftige, an die besonderen Fragen der Mo-
Vernunft befiehlt, uns für die Öffentlichkeit zu interessieren. Es handle sich dabei aber auch um keine Angelegenheit, in der es notwendig wäre, sehr exakt zu sein. Es reiche, seinem Gewissen zu folgen: »I’auoüe qu’il est difficile de mesurer exactement iusques ou la rasion ordonne que nous nous interessions pour le public; mais aussy n’est ce pas vne chose en quoy il foit necessaire d’estre fort exact: il suffit de satisfaire a la conscience …« (Brief an Elisabeth, 6. Oktober 1645, AT IV, 316). In diesen knappen Ausführungen hat man die cartesische Einstellung zur Politik vor Augen: latentes Desinteresse, Abwertung der Wissenschaftlichkeit der politischen Theorie und die Empfehlung eines individuellen Wohlverhaltens. 381 Discours III (AT VI, 24 f.): »Ma … maxime estoit d’estre le plus ferme & le plus resolu en mes actions que ie pourrois, & de ne suiure pas moins constanment les opinions les plus douteuses, lorque ie m’y serois vne fois determiné, que si elles eussent esté tres assurées. Imitant en cecy les voyasgeurs qui, se trouuant esgarez en quelque forest, ne doiuent pas errer en tournoyant, tantost d’vn costé, tantost d’vn autre, ny encore moins s’arester en vne place, mais marcher tousiours le plus droit qu’ils peuuent vers vn mesme costé, & ne le changer point pour de foibles raisons, encore que ce n’ait peutestre esté au commencement que le hasard seul qui les ait determinez a le choisir: car, par ce moyen, s’il ne vont iustement où ils desirent, ils arriueront au moins a la fin quelque part, où vraysemblablement ils seront mieux que dans le milieu d’vne forest.«
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ral zu denken.382 Immerhin entsteht aus diesem Interesse ein »kleiner Traktat über die Natur der Passionen der Seele« (vn petit Traitté de la Nature des Passions de l’Ame).383 Die Differenz zu Spinozas Ethik läßt sich auf einen Satz bringen: Descartes erwartet nicht, daß Rationalität glücklich macht. Die Seele kann für Descartes zwar ihre eigenen Freuden haben, was aber die betrifft, die sie mit dem Körper gemein hat, so hängen diese gänzlich von den Leidenschaften ab, so daß die Menschen, die am meisten von ihnen bewegt werden, auch fähig sind, am meisten die Süße dieses Lebens zu genießen, wie auch die am meisten seine Bitterkeit erfahren können, wenn sie diese nicht richtig anzuwenden wissen und das Schicksal gegen sie ist.384 Die Passionen der Seele als Gefühle oder Affekte sind demnach alle von Natur aus gut,385 sie sind nur angemessen zu beherrschen. Nicht die Erkenntnisse der Rationalität, sondern die geordneten Affekte ermöglichen ein angenehmes und glückliches Leben. Descartes’ provisorische Moral entspringt einer moderat rationalisierten Ethik. Spinoza dagegen hat keine Ethik, die er rational zu begründen sucht: Seine Rationalität ist die Ethik. Oder anders gesagt: Sein Rationalismus stellt den Inbegriff einer Ethik dar.386 Spinoza geht es, wenn er vom zweiten Teil seiner Ethica an auf den Menschen zu sprechen kommt, um die Erkenntnis des Geistes und seiner höchsten Glückseligkeit (ejus’que summae beatitudinis).387 Diese Glückseligkeit stellt sich ein, wenn die Dinge sub specie aeternitatis betrachtet werden. Dadurch wird die kontingente Sicht auf die Dinge durch eine notwendige Sicht ersetzt: »Die Dinge werden von uns auf zweierlei Weisen als wirklich begriffen: entweder insofern wir sie bezogen auf eine gewisse Zeit und einen
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Brief an Chanut, 15. Juni 1646 (AT IV, 442): »… ie m’arreste aussi quelquefois à penser aux questions particulieres de la Morale.« 383 Ebd. (AT IV, 442). 384 Passions III, art. 212 (AT XI, 488): »Au reste, l’ame peut avoir ses plaisirs à part; mais pour ceux qui luy sont communs avec le corps, ils dependent entierement des Passions, en sorte que les hommes qu’elles peuvent le plus emouvoir, sont capables de gouster le plus de douceur en cette vie. Il est vray qu’ils y peuvent aussi trouver le plus d’amertume, lors qu’ils ne les sçavent pas bien employer, & que la fortune leur est contraire.« 385 Passions III, art. 211 (AT XI, 485): »… elle sont toutes bonnes de leur nature …« 386 Vgl. R. Wiehl, Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre, Hamburg 1983 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften 1, 1982/83, Heft 4), 3: »Diese Ethik erscheint nicht nur als eine gewisse Konsequenz, sie stellt sich nicht nur als Teilstück eines umfassenden metaphysischen Systems dar. Vielmehr ist sie nichts anderes als die Metaphysik selbst und so identisch mit dem Ganzen der theoretisch-praktischen Vernunfterkenntnis. Sie ist metaphysische Ethik und ethische Metaphysik.« 387 So in der Vorbemerkung zum zweiten Teil der Ethica (ed. C. Gebhardt II, 84).
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gewissen Ort existierend begreifen, oder sofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend betrachten.«388 Durch die Betrachtung der Notwendigkeit der Dinge aus der Perspektive des göttlichen Seins entsteht die größte Ruhe des Geistes (summa Mentis acquiescentia),389 und ihr entspringt die geistige Liebe zu Gott. In diesem amor Dei intellectualis findet die Ethik Spinozas ihr letztes Ziel. Der menschliche Geist als ein ewiger Modus des Denkens (aeternus cogitandi modus) 390 läßt die Kontingenz der weltlichen Situation hinter sich und findet in einer gewissen Konsubstantialiät mit dem göttlichen Sein den Frieden und das Glück der Notwendigkeit. Spinozas Rationalismus ist daher ein absoluter.391 Er geht von der Notwendigkeit des Absoluten aus, um von ihm alles weitere ableiten zu können. In seiner Protoethik kann Spinoza die Funktionsweise der Vernunft noch in einer Metaphorik umschreiben, die ihr eine anagogische Funktion zuweist: Der vermittelnde Vernunftschluß ist »wie eine Treppe, auf der wir nach dem gewünschten Platz emporsteigen«.392 In seiner reifen Ethik wird das oberste Prinzip intuitiv vom Geist erfaßt, und »diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee der formalen Wesenheit einiger Attribute Gottes fort bis zu der adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge«.393 Die angemessene Erkenntnis der Dinge erzeugt die Tilgung ihrer Kontingenz durch die Erfassung ihrer Notwendigkeit. Die Ethik Spinozas unternimmt daher eine Einweisung in eine Geistmetaphysik, deren Erkenntnisse Glück bedeuten. Die Ausgeglichenheit des Geistes wird zum Indikator für seinen rechten Gebrauch: Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst.394 Die absolute Rationalität
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Ethica V, prop. 29, schol. (ed. C. Gebhardt II, 298 f.): »Res duobus modis à nobis ut actuales concipiuntur, vel quatenus easdem cum relatione ad certum tempus, & locum existere, vel quatenus ipsas in Deo contineri, & ex naturae divinae necessitate consequi concipimus.« 389 Ethica V, prop. 27 (ed. C. Gebhardt II, 297). 390 Ethica V, prop. 40, schol. (ed. C. Gebhardt II, 306). 391 Bereits Martial Gueroult hat in seiner Studie Spinoza (2 Bde., Hildesheim/New York 1968/1974, Bd. I, 9) den »absoluten Rationalismus« (rationalisme absolu) als das wesentliche Kennzeichen des Spinozismus herausgestellt. 392 B. de Spinoza, Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs Welstand, cap. 26 (ed. C. Gebhardt I, 109): »… als een trap, langs de welke wy na de gewenste plaats opklimmen …« 393 Ethica II, prop. 40, schol. 2 (ed. C. Gebhardt II, 122): »Atque hoc cognoscendi genus procedit ab adaeqatâ ideâ essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum.« 394 Ethica V, prop. 42 (ed. C. Gebhardt II, 307): »Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus …«
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bewirkt eine Vergöttlichung des Geistes. Unsere ganze Erkenntnis, also unser höchstes Gut, hängt nicht so sehr von der Erkenntnis Gottes ab, sondern besteht vielmehr ganz und gar in ihr.395 Der läuternde Impuls der Ethica wird somit sichtbar. Unser Geist verhält sich aktiv und passiv; insofern er adäquate Ideen hat, handelt er notwendigerweise, insofern er inadäquate Ideen hat, leidet er notwendigerweise.396 Die menschliche Unfähigkeit, die Affekte zu beherrschen und zu beschränken, kommt für Spinoza einer Knechtschaft gleich,397 zumal jedes Ding durch Zufall (per accidens) die Ursache einer Freude, einer Trauer oder einer Begierde sein kann.398 Die Rationalität einer Metaphysik des Notwendigen ist das therapeutische Mittel gegen diese Knechtschaft zur Erlangung der Freiheit des Geistes. Denn sofern der Geist alle Dinge als notwendig erkennt, hat er eine größere Macht über die Affekte oder leidet weniger unter ihnen.399 Versuchte Descartes, durch eine Rationalisierung des Menschen die Wissenschaften zu erneuern und ihre pragmatische Handhabe zu erweitern, geht es Spinoza um eine Verbesserung des Charakters des Menschen durch die Einsicht in seine Teilhabe am Göttlichen.400 Zwar sind auch bei Spinoza neostoizistische Momente in seiner Ethik unverkennbar, wenn er ihren Nutzen darin sieht, den Fügungen des Schicksals mit Gleichmut zu begegnen. Aber diese Standhaftigkeit ist letztlich keine moralische Stärke, sondern rechte Einsicht, da alles nach dem ewigen Beschluß Gottes mit derselben Notwendigkeit folgt, wie aus dem Wesen des Dreiecks folgt, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind.401 Sollte ein metaphysisches System die umstrittene Konvertibilität der Transzendentalien ›Wahrheit‹ und ›Schönheit‹ für sich beanspruchen können, dann der absolute Rationalismus Spinozas. Diesem System mit der »milden Unwiderstehlichkeit der Argumentation«402 ist ein metaphysischer Glanz eigen, der 395
B. de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, cap. 4 (ed. C. Gebhardt III, 60): »… atque adeo tota nostra cognitio, hoc est, summum nostrum bonum, non tantum a Dei cognitione dependet, sed in eadem omnino consistit …« 396 Ethica III, prop. 1 (ed. C. Gebhardt II, 140): »Mens nostra quaedam agit, quaedam verò patitur, nempe quatenus adaequatas habet ideas, eatenus quaedam necessariò agit, & quatenus ideas habet inadaequatas, eatenus necessariò quaedam patitur.« 397 Ethica IV, Praefatio (ed. C. Gebhardt II, 205): »Humanam impotentiam in moderandis, & coërcendis affectibus Servitutem voco …« 398 Ethica III, prop. 15 (ed. C. Gebhardt II, 151): »Res quaecunque potest esse per accidens causa Laetitiae, Tristitiae, vel Cupiditatis.« 399 Ethica V, prop. 6 (ed. C. Gebhardt II, 284): »Quatenus Mens res omnes, ut necessarias intelligit, eatenus majorem in affectûs potentiam habet, seu minùs ab iisdem patitur.« 400 Vgl. D. Garrett, »Spinozas’s ethical theory«, in: ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge 1996, 267–314. 401 Vgl. Ethica II, prop. 49, schol. (ed. C. Gebhardt II, 136). 402 W. Schmidt-Biggemann, »Veritas particeps Dei. Der Spinozismus im Horizont my-
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seinesgleichen sucht. Es ist die intendierte Perfektion einer Architektur des Rationalen, die selbstgenügsam die Unwiderstehlichkeit der Formvollendung auf ihrer Seite zu haben versucht.403 Dennoch offenbaren gerade die Aporien des Spinozismus, daß sich die Kontingenz nicht tilgen läßt. Gegen das Licht als Metapher der Wahrheit sind die Restbestände der Kontingenz und die Defizite der Argumentation die Verschattungen des Systems. So fehlt dem Spinozismus eine adäquate Theorie des Individuellen. Es war die Leistung des schöpfungstheologischen Voluntarismus, die Modalität der Kontingenz als einen Distanzvermerk des Geschaffenen zum Absoluten durchgesetzt zu haben. Gott, der anderes zu seiner Vollkommenheit nicht braucht, hat anderes aus freiem Willen und ohne Notwendigkeit als Kontingentes geschaffen. Das Defizitäre des Kontingenten wurde durch die bestätigende Faktizität seiner Existenz ausgeglichen. Zwar betont auch Spinoza, daß das Wesen des Menschen keine notwendige Existenz einschließt – nach der Ordnung der Natur kann es ebensowohl geschehen, daß dieser oder jener Mensch existiert, als daß er nicht existiert.404 Wenn er aber existiert, resultiert seine Existenz nicht aus einer kontingenten Entscheidung Gottes, sondern »alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise da zu sein und zu wirken«.405 Während der Mensch für Descartes zwar notwendigerweise aus zwei voneinander verschiedenen Substanzen besteht, ohne daß diese faktische Verbindung selbst in ihrer Aktualität notwendig ist – man kann sagen, daß Gott den Menschen so zu sein definiert hat –, soll der Parallelismus der beiden Modifikationen zweier göttlicher Attribute, der Geistigkeit und der Räumlichkeit, notwendig sein, ohne es ausgewiesenermaßen sein zu können. Spinoza gibt das Modell eines schöpfungstheologischen Voluntarismus für eine Individuationstheorie preis, indem er das voluntative Moment im Absoluten bestreitet und dem aus dem Absoluten Hervorgegangenen eine zureichende Autonomie verweigert. So konstituiert sich der Mensch nicht, wie bei Descartes, aus zwei bedingt beharrungsfähigen Substanzen, sondern das Wesen des Menschen
stischer und rationalistischer Theologie«, in: ders., Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, 117–149, hier 128. 403 Dagegen hat Robert Schnepf in seiner Studie Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas (Würzburg 1996, 128–134) auf den dialogischen und somit diskussionsoffenen Charakter des ordo geometricus hinzuweisen versucht. 404 Ethica II, ax. 1 (ed. C. Gebhardt II, 85): »Hominis essentia non involvit necessariam existentiam, hoc est, ex naturae ordine, tam fieri potest, ut hic, & ille homo existat, quàm ut non existat.« 405 Ethica I, prop. 29 (ed. C. Gebhardt II, 70): »… omnia ex neceßitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum, & operandum.«
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besteht aus gewissen Modifikationen der Attribute Gottes.406 Zwar attestiert Spinoza dem Singulären ein Streben nach Selbsterhaltung, doch dieser conatus perseverandi407 kann als die gleichsam in den Dingen inkorporierte Invarianz des Göttlichen verstanden werden, er impliziert aber keinen autonomen Seinsstatus des Nichtabsoluten. Das Singuläre wird so sehr von der absoluten Notwendigkeit her gedacht und definiert, daß es vom Göttlichen gleichsam assimiliert wird oder dem Sog der Angleichung erliegt. Pierre Bayle hat dies polemisch moniert: »Deshalb reden nach dem System Spinozas alle diejenigen schlecht und falsch, die sagen ›Die Deutschen haben zehntausend Türken getötet‹, es sei denn, sie meinen ›Der in Deutsche modifizierte Gott hat den in zehntausend Türken modifizierten Gott getötet‹; und so haben alle Sätze, durch die man ausdrückt, was die Menschen einander zufügen, keinen anderen wahren Sinn als diesen: ›Gott haßt sich selbst, er bittet sich selbst um Gnade und schlägt sie aus; er verfolgt sich, er tötet sich, er frißt sich auf, er verleumdet sich, er schickt sich selbst aufs Schafott‹, usf.«408 Wenn alles aus dem Absoluten Hervorgegangene nichts als Modi der unendlichen Substanz sind, droht eine Entweltlichung des vom Absoluten Abhängigen. Wenn sich die Distanz zwischen dem Absoluten und dem Endlichen nicht modal beschreiben läßt, wird die Absolutheit des Absoluten ausgreifend, wenn alles, was existiert, in Gott ist.409 Es fehlt dem Spinozismus auch deshalb eine adäquate Theorie des Singulären, weil er den Hervorgang des Vielen aus dem Einen nicht stringent zu erläutern vermag. Im theologischen Voluntarismus war die Schaffung des Vielen das Resultat einer freien Willensentscheidung. Zwar konnte diese aufgrund der Nichtdechiffrierbarkeit eines Willens nicht eingesehen werden, aber sie war nicht grundlos. Auf eine Notwendigkeit, aus der mit Notwendigkeit Notwendiges hervorgeht, kann dieser explikatorische Vorteil nicht angewendet werden. Spinoza vermag nicht transparent zu machen, warum und wie aus der einen notwendigen Substanz die Vielheit der Modi hervorgegangen sein soll, wenn
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Ethica II, prop. 10, coroll. (ed. C. Gebhardt II, 93): »Hinc sequitur essentiam hominis constitui à certis Dei attributorum modificationibus.« 407 Vgl. Ethica III, prop. 4–8 (ed. C. Gebhardt II, 145–148). 408 P. Bayle, Artikel »Spinoza«, in: Dictionnaire historique et critique (51740) IV, 261, Anmerkung N 4): »Ainsi dans le Systême de Spinoza tous ceux qui disent les Allemans ont tué dix mille Turcs, parlent mal & faussement, à moins qu’ils n’entendent, Dieu modifié en Allemans a tué Dieu modifié en dix mille Turcs: & ainsi toutes les phrases, par lesquelles on exprime ce que font les hommes les uns contre les autres, n’ont point d’autre sens véritable que celui-ci, Dieu se hait lui-même; il se demande des graces à lui-même, & se les refuse; il se persecute, il se tue, il se mange, il se calomnie, il s’envoie sur l’échafaut, etc.« 409 Ethica I, prop. 15 (ed. C. Gebhardt II, 56): »Quicquid est, in Deo est …« Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt am Main 1966, 19: Der Spinozismus »läuft ohnehin auf absolute Weltvernichtung hinaus«.
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VI. Meditative Anthropogenese
denn diese Vielheit nicht kontingent sein darf. Zwar verursacht das Absolute die Vielfalt, aber die Vielfalt »ist nicht Folge des Absoluten, die sich aus einem Selbstbezug des Absoluten ergeben könnte«, so »daß das Wie des Hervorgehens nicht anzugeben ist«.410 Obgleich der Spinozismus, der zunächst durch Bayles Artikel im Dictionnaire historique et critique in Mißkredit geraten war, seit der Rehabilitierung durch Lessing als die »Vollendung des Cartesianismus«411 aufgefaßt werden konnte, offenbart der Vergleich, daß hier – bei aller Abhängigkeit – doch vielmehr zwei konkurrierende Philosophien vorliegen, die nicht in das Schema einer Steigerung gezwängt werden können. Der Spinozismus verkörpert weder den Komparativ noch die Aporien beseitigende Variation des Cartesianismus. Spinozas absoluter Rationalismus ist holistisch und basiert auf einer Metaphysik prinzipieller Notwendigkeit. Er ist explanatorisch, da er auf jede Frage, warum etwas ist und so ist, wie es ist, eine befriedigende Antwort zu geben in Aussicht stellt.412 Die cartesische Rationalität dagegen versteht sich als operativ, da sie das methodische Instrument der Vernunft darstellt, durch rationalisierte Standards über Kriterien der adäquaten Wirklichkeitsbewältigung zu verfügen. Sie ist die Antwort auf die Reflexionen der Kontingenz. Spinozas Programm einer intendierten Reinigung der Metaphysik des Absoluten von den Verschmutzungen der Kontingenz läßt sich abschließend auch an seinem signifikanten Verhältnis zur Tradition erläutern. Hatte sich Descartes’ Traditionskritik auf die Schulphilosophie begrenzt, scheut Spinoza vor einer spektakulären historisch-kritischen Bibelexegese nicht zurück. In seinem Tractatus theologico-politicus durchforstet er die biblische Tradition auf noch Haltbares und inzwischen zu Verwerfendes. Der Inbegriff eines normativen Traditionalismus wird den Anforderungen der Vernunft unterstellt. So »habe ich mir fest vorgenommen, die Schrift von neuem mit unbefangenem und freiem Geist zu prüfen und nichts von ihr anzunehmen oder als ihre Lehre gelten zu lassen, was ich nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte«.413 Die biblische Offenbarung kommt vor das Tribunal der Vernunft. Der rationale Leser der
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W. Bartuschat, »Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten«, in: H. Radermacher/P. Reisinger/J. Stolzenberg (Hg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer, Bd. 2, Stuttgart 1990, 99–121, hier 120. 411 G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (ed. H. Glockner XIX, 411). 412 Auf den explanatorischen Charakter von Spinozas Rationalismus hat Jonathan Bennett hingewiesen: »Spinoza’s metaphysics«, in: D. Garrett (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge 1996, 61–88. 413 Tractatus theologico-politicus, Praefatio (ed. C. Gebhardt III, 9): »… sedulo statui, Scipturam de novo integro et libero animo examinare, et nihil de eadem affirmare, nihilique tanquam ejus doctrinam admittere, quod ab eadem clarissime non edocerer.«
§ 29 Kontingenter und absoluter Rationalismus
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biblischen Schriften muß feststellen, daß wir bei den meisten Stellen den Sinn der Schrift gar nicht kennen oder nur ohne Gewißheit faseln.414 Die Attraktivität des Spinozismus sollte gerade darin bestehen, das Absolute zu rationalisieren und vom Offenbarungsdenken zu befreien. Die Vermeidung biblischer Bestimmungen, wie etwa die jüdische Vorstellung eines willentlich agierenden Gottes, und die pantheistische Transformierung des Absoluten ermöglichen die Unabhängigkeitserklärung von der Tradition: »Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen.«415 So formuliert es Lessing als bekennender Spinozist. Die traditionsunabhängige Entfaltung des Rationalismus als System ist dabei der Inbegriff der Unabhängigkeit. Dabei dringt die Kontingenz als der Schatten der scheinbar klaren Begriffe in das System ein. Rainer Specht hat auf den Umstand hingewiesen, daß zentrale Termini der Philosophie Spinozas, wie ›Existenz‹, ›Wesenheit‹ oder ›Affekte‹ unvermeidbar durch Lehrtraditionen vorbelastet und daher vieldeutig sind. Die Mehrdeutigkeit wird dadurch verstärkt, daß Spinoza für unterschiedliche Dinge wie die Unendlichkeit Gottes, die Attribute oder die unendlichen Modi ohne Unterschied den Ausdruck infinitum verwendet.416 Das System der metaphysischen Notwendigkeit ist in sich nicht notwendig. Doch auch wenn eine eindeutige Begrifflichkeit gewährleistet werden könnte, ist die Grenze eines noch so perfekten Systems nicht zu überschreiten, worauf Pascal hingewiesen hat: Wenn man die Untersuchung immer weiter vorantreibt, führt er aus, kommt man zwangsläufig zu ursprünglichen Wörtern (mots primitifs), die man nicht mehr definieren kann, und zu Prinzipien, die so klar sind, daß man keine anderen mehr finden kann, die noch klarer sind und zu deren Beweis dienen können. Dies zeigt, daß die Menschen einer natürlichen und unabänderlichen Ohnmacht preisgegeben sind, die sie daran hindert, irgendeine Wissenschaft in einer ganz vollendeten Ordnung zu behandeln.417
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Tractatus theologico-politicus, cap. 7 (ed. C. Gebhardt III, 111): »… nos verum Scripturae sensum plurimis in locis vel ignorare, vel sine certitudine hariolari.« 415 So eine Äußerung Lessings nach: F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (ed. K. Hammacher/W. Jaeschke I–1, 16). 416 R. Specht, »Baruch Spinoza«, in: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie I, München 31994, 338–359 (Anm. 531), hier 341 f. 417 B. Pascal, De l’esprit géometrique et de l’art de persuader (ed. L. Lafuma, 350): »Aussi, en poussant les recherches de plus en plus, on arrive nécessairement à des mots primitifs qu’on ne peut plus définir, et à des principes si clairs qu’on n’en trouve plus qui le soient davantage pour servir à leur preuve. D’où il paraît que les hommes sont dans une impuissance naturelle et immuable de traiter quelque science que ce soit, dans un ordre absolument accompli.«
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VI. Meditative Anthropogenese
Descartes hat ein ausdrückliches Bewußtsein von der limitierenden Kontingenz der Termini und ihrer historischen Bedingtheit. So übernimmt er Begriffe, »die mir am besten zu passen scheinen«,418 mehr nicht. Überhaupt hat Descartes auf die Welt der Kontingenz nicht mit einem System reagiert.419 Seine Rationalität ist ein operatives Verfahren, das ereignisoffen über abgesicherte Kriterien der Überprüfung verfügt, mehr nicht.
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Regulae III (AT X, 369): »… quae mihi videntur aptissima …« Dagegen hat Reinhard Lauth in seiner Studie Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie (Stuttgart-Bad Cannstatt 1998) die Ausbildung eines »Systems des endlichen Erkennens« (99) als das Ziel des Cartesianismus ausgemacht. Descartes habe »als erster Philosoph schöpferisch erfaßt …, was Philosophie als System sein muß« (217), nämlich im »transzendentalen Sinne ein System der Erkenntnisse ihres Gegenstandes« (218). Lauths Interpretation geht allerdings nur auf, wenn man zu entfalten bereit ist, was Descartes selbst nicht erreicht hat: Zwar habe er ein System »angesteuert« (9), dennoch »trotz aller Teilerkenntnisse, Vermutungen und Vorstöße in dieser Richtung das System (im vollen Wortsinne) des endlichen Wissens … nicht erkannt« (105). Die cartesische Philosophie wird erst dann als ein System lesbar, wenn man Konsequenzen zieht, die sich Descartes »nicht gänzlich klargemacht hat« (67).
VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
§ 30 Das Ordnen der Gedanken »Endlich sehe ich Land, ich eile ans Ufer«,1 schreibt Descartes in seinem frühen Traktat über Musik. Löst man diese Metapher aus ihrem Umfeld, vermag sie auch die Situation nach den metaphysischen Meditationen zu illustrieren. Sich seiner selbst und der gütigen Existenz Gottes sicher, kann sich Descartes der Aneignung des Wissens über die Welt zuwenden. Das rettende Ufer, das Descartes nach den Unsicherheiten des Zweifels betritt, ist dem eigenen Selbstverständnis nach neu entdecktes Land. Doch mit welcher Methode wird es erkundet? Wie ist durch eine rationale Vermessung eine geistige Landkarte des neuen Kontinents zu generieren? Wie verläßlich sind die Koordinaten unserer Rationalität, wenn es sich durch das noch ungesicherte Terrain zu bewegen gilt? Nimmt man Descartes’ Einschränkung ernst, der Mensch sei nur noch gleichsam ein Abbild Gottes, muß das Auswirkungen auf den Status der Methodologie des Erkennens und auf die Erkenntnis selbst haben. Wenn die Erkenntniskraft des Menschen hinter der unfaßbaren Schöpfungspotenz Gottes zurückbleibt, ist die prinzipielle Erkennbarkeit der von Gott geschaffenen Welt zwar dennoch garantiert, aber doch zunächst unbestimmt. Einerseits gibt es für Descartes keinen Zweifel daran, daß wir sie erfassen können. Die subtilste Form der Infragestellung des Wirklichkeitsbezugs, ob Gott eine evidente Wahrnehmung eines nicht-existenten Gegenstandes verursachen könnte, weist Descartes strikt zurück.2 Wenn wir Wirkliches erkennen, können wir nach den metaphysischen Meditationen sicher sein, daß wir Wirkliches täuschungsfrei erkennen. Andererseits hat es der aus den meditativen Exerzitien entlassene neue Mensch mit einer Wirklichkeit zu tun, die einer von ihm einsehbaren teleologischen Fundierung im göttlichen Intellekt entbehrt. Am Beginn der cartesischen Methodologie und Epistemologie steht daher eine Selbstbeschränkung, wenn der menschliche Geist in seinen intellektuellen Möglichkeiten hinter die göttliche Macht zurückfällt. Für eine adäquate Erkenntnis eines geschaffenen Seienden wäre der Besitz
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Compendium XIII (AT X, 140): »Iamque terram video, festino ad littus …« Der Einwand in den Objectiones VI (AT VII, 415 f.) bestand in der Überlegung, ob Gott nicht den Verurteilten im Fegefeuer allein die Wirklichkeit des Feuers suggerieren könnte, ohne daß es tatsächlich existiert. Descartes weist eine derartige intramentale und supernaturalistisch erzeugte Täuschung strikt zurück: Responsiones VI, (AT VII, 428).
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
einer Gott vergleichbaren Intellektualität vonnöten – »das ist aber gänzlich unmöglich«.3 Eine Kritik an der anthropozentrischen Selbstüberschätzung des Menschen findet sich nicht erst bei Descartes. Schon die skeptische Moralistik hatte sie als ein standardisiertes Motiv vorgebracht. »Wer hat ihm denn eingeredet«, fragt Montaigne, »daß die wunderbaren Schwingungen des Himmelsgewölbes, das ewige Licht der über seinem Kopf kreisenden ehrwürdigen Leuchtkörper und die atemberaubenden Bewegungen des unermeßlichen Meeres zu seinem Dienst und Nutzen geschaffen worden seien und für ihn durch die Jahrtausende in Gang gehalten würden?«4 Doch während bei Montaigne die Kritik am Anthropozentrismus Teil einer moralistischen Rhetorik ist, setzt Descartes die Ermahnung, daß wir uns davor zu hüten haben, uns selbst zu überschätzen,5 methodologisch und erkenntniskritisch konsequent um. Wird die Kritik beim Wort genommen, daß eine Selbstüberschätzung innerhalb einer von Gott kontingent geschaffenen Welt dann vorläge, »wenn wir annähmen, alle Dinge seien bloß unseretwegen von ihm geschaffen, oder wenn wir glauben würden, den Zweck bei der Erschaffung der Welt durch die Kraft unserer Einsicht begreifen zu können«,6 konstituiert gerade erst die Selbstbeschränkung den festen Boden, auf dem der Cartesianismus steht. Obwohl bei der cartesischen Inventur des Wirklichen der Kompaß der methodischen Erkenntnissicherung auf das Exaktheitsideal mathematischer Notwendigkeit genordet ist, bleibt das Moment der Kontingenz als Auslöser einer geringen Abweichung erhalten. Zwar überstrahlt die Notwendigkeit der Regularien und die mathematische Eindeutigkeit der gewonnenen Erkenntnisse im Fortgang der Inventur die Kontingenz des Inventarisierten, doch auch nicht völlig. Die Spur der Kontingenz wird schwächer, dennoch lohnt es sich, auch ihr nachzugehen – zunächst anhand der Methodologie. Wenn sich Descartes nach den metaphysischen Reflexionen der erkennbaren Welt zuwendet, ist diese Hinwendung zur Welt eine Rückkehr zu seinen anfänglichen methodologischen und physikalischen Überlegungen. Die metaphysischen Meditationen sollen seiner neuen Methode der physikalischen Weltbeschreibung
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Responsiones IV (AT VII, 220): »… quod fieri plane repugnat …« M. de Montaigne, Essais II 12 (ed. A. Thibaudet/M. Rat, 427): »Qui luy a persuadé que ce branle admirable de la voute celeste, la lumiere eternelle de ces flambeaux roulans si fierement sur sa teste, les mouvemens espouvantables de cette mer infinie, soyent establies et se continuent tant de siecles pour sa commodité et pour son service?« 5 Principia III 2 (AT VIII–1, 80): » Alterum, ut etiam caveamus, ne nimis superbè de nobis ipsis sentiamus.« 6 Ebd. (AT VIII–1, 81): »… si res omnes propter nos solos ab illo creatas esse fingeremus; vel tantùm, si fines quos sibi proposuit in creando universo, ingenii nostri vi comprehendi posse putaremus. «
§ 30 Das Ordnen der Gedanken
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angesichts der Verurteilung Galileis Akzeptanz verschaffen. Denkbiographisch betrachtet, verfügt Descartes längst über sichere Prinzipien der rationalen Naturerforschung, bevor er über den Umweg der Metaphysik ihre Legitimation zu bekräftigen sucht. Die cartesische Metaphysik »dient nicht der Entdeckung, sondern nur der nachträglichen Bestätigung und Beglaubigung der Prinzipien der Wissenschaft«.7 Auch wenn man in der Verhältnisbestimmung von Praxis und Metaphysik nicht soweit gehen muß, der Cartesianismus sei »genetisch primär praktischer Rationalismus« und »erst sekundär theoretischer Rationalismus«,8 kann die funktionale Einbindung der Metaphysik in das Gesamtprogramm cartesischer Rationalität nur schwerlich übersehen werden. Auf den ersten Blick sind wesentliche Aspekte des methodischen Cartesianismus bereits von der ihm vorausliegenden Tradition antizipiert oder von Descartes’ Zeitgenossen ebenso formuliert worden, wie es bereits ein kurzer Blick verdeutlicht. So besticht zunächst die methodisch geleitete Inventur des Wirklichen, wie Descartes sie nunmehr metaphysisch abgesichert vertreten kann, dadurch, daß sie eine Neuordnung der Erkenntnisse unternimmt, die nicht mehr der Ordnung der Dinge folgt. Es sei bei allem, was er schreibe, zu beachten, so Descartes, daß er nicht der Ordnung der Gegenstände folge, sondern allein der der Vernunftgründe.9 Das an sich war nicht neu. Schon Jacopo Zabarella hatte im 16. Jahrhundert eine Neuordnung des Wissens gefordert: Das dazu nötige Beweisverfahren gehe dabei von uns aus und ziele auf uns, nicht auf die Natur.10 Die Betrachtung und Gliederung der Wissenschaften dürfe sich daher nicht auf die Ordnung der Dinge, sondern lediglich auf die Ordnung der Erkenntnisse stützen, heißt es in seinem Traktat De methodis, denn »in Wahrheit gewinnt man das Verfahren für die Ordnung der Wissenschaften und aller Disziplinen nicht aus der Natur der zu untersuchenden Gegenstände, sondern aus der für uns bes-
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E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit I (Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe II, 370). Allerdings hat sich die cartesische Methode nicht unabhängig von metaphysischen Grundsatzentscheidungen entfalten können und müssen. Bereits in einem Brief an Mersenne vom 25. November 1630 (AT I, 182) kündigt Descartes – 7 Jahre vor dem Discours und 11 Jahre vor den Meditationes – einen kleinen Traktat über Metaphysik (vn petit Traitté de Metaphysique) an; dem Ende des dritten und dem Beginn des vierten Teils des Discours läßt sich entnehmen, daß Descartes ab 1628 metaphysischen Überlegungen nachging. Es ist signifikant, daß diese Reflexionen mit dem Abbruch der Arbeit an den Regulae einsetzen. 8 W. Röd, Descartes, a. a. O., 179. 9 Brief an Mersenne, (24. Dezember 1640 ?) (AT III, 266): »Et il est à remarquer, en tout ce que i’écris, que ie ne suis pas l’ordre des matieres, mais seulement celuy des raisons …« Vgl. M. Gueroult, Descartes selon l’ordre des raisons, 2 Bde., Paris 1968, Bd. I, 15–29. 10 J. Zabarella, Liber de Regressu, cap. 2 (Opera logica, 481 F): »… vtraque demonstratio à nobis, & propter nos ipsos fit, non propter naturam …«
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
seren und leichteren Art des Erkennens«.11 Die methodisch generierte Ordnung ist von Vorteil, »nicht insofern sie die Ordnung der Natur ist, sondern insofern sie die Ordnung der besseren Weise unseres Erkennens«12 darstellt. Damit hat Zabarella den auch für Descartes verbindlichen Schritt von der ars zur scientia und somit vom kontingenten zum notwendigen Wissen vollzogen.13 Seit der cogito-Reflexion und dem Gottesbeweis verfügt Descartes über zwei paradigmatische Fallbeispiele für die geforderte Wissenschaft der zuverlässigen und evidenten Erkenntnis,14 aber das cartesische Wahrheitskriterium der Klarheit und Distinktheit findet sich bereits bei Cicero antizipiert.15 Descartes’ Ziel einer Mathesis universalis, einer über die Mathematik im engeren Sinne hinausgehenden Methode des allgemeinen Wissenserwerbs nach dem Paradigma mathematischer Evidenz,16 entspricht dem zeitgenössischen Verlangen nach einer Scientia generalis. Descartes’ Wunsch, Ordnung und Maß in allen Dingen erkennen zu können, in Zahlen, Figuren, Sternen oder Tönen oder einem anderen beliebigen Gegenstand,17 und seine Forderung, wer die Wahrheit suche, dürfe mit keinem Gegenstand umgehen, »über den er nicht eine dem arithmetischen oder geometrischen Beweisen gleiche Gewißheit gewinnen kann«,18 scheint wenig originär zu sein. Auch Pascal bestimmt die Geometrie als »die wahre Methode,
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J. Zabarella, De Methodis I, cap. 6 (Opera logica, 142 A): »… reuera enim non ex ipsa rerum considerandarum natura sumitur ratio ordinandi scientias, & disciplinas omnes, sed ex meliore, ac faciliore nostra cognitione …« 12 Ebd. (Opera logica, 144 E): »… non fit quatenus est ordo naturae, sed quatenus est ordo melioris nostrae cognitionis …« 13 H. Mikkeli, An Aristotelian Response to Renaissance Humanism: Jacopo Zabarella on the Nature of Arts and Sciences, Helsinki 1992, 179: »Science (scientia) is a close system built on necessary knowledge, where the work of a scientist is to arrange knowledge in this formally perfect system of the natural world. An art (ars), however, has nothing to do within this system. The end of the arts is not knowledge but operation, … the knowledge used in the arts is only contingent, not necessary …« 14 Vgl. Regulae II (AT X, 362): »Omnis scientia est cognitio certa & evidens …« 15 Vgl. Cicero, Lucullus 19 (ed. L. Straume-Zimmermann/F. Broemser/O. Gigon, 134), wo Cicero von den klaren und sicheren Urteilen der Sinne spricht: »Ordiamur igitur a sensibus. quorum ita clara iudicia et certa sunt …« 16 Zur definitorischen Bestimmung der Mathesis universalis und deren Abgrenzung von einer Mathematik im engeren Sinnne vgl. M. Gerten, Wahrheit und Methode bei Descartes. Eine systematische Einführung in die cartesische Philosophie, Hamburg 2001, 75–89. Vgl. auch F. P. Van de Pitte, »Descartes’ Mathesis Universalis«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 61 (1979), 154–174. 17 Descartes beschreibt sein Vorhaben einer Mathesis universalis in Regulae IV (AT X, 377 f.). 18 Regulae II (AT X, 366): »… de quo non possint habere certitudinem Arithmeticis & Geometricis demonstrationibus aequalem… »
§ 30 Das Ordnen der Gedanken
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die Vernunft in allen Dingen zu leiten«.19 Überhaupt ist die Betonung der Mathematik für das Konzept eines Rationalismus – Descartes nennt ausdrücklich neben der Logik die geometrische Analysis und die Algebra als für sein Vorhaben dienlich 20 – auf den ersten Blick wenig spektakulär. Auch für Hobbes ist die rationale Überlegung Berechnung, nämlich Addieren und Subtrahieren.21 Nun ist der Anspruch der cartesischen Wissenschaft, über alles, was vorkommt (omnibus quae occurrunt) 22 unerschütterliche und wahre Urteile bilden zu können. Dieses Ziel einer universal ausgerichteten und agierenden Wissenschaft steht aber unverkennbar in der Tradition einer Homogenisierung des Erkenntnisfeldes, die bereits Petrus Ramus vollzogen hat. Dessen Idee einer Topica universalis bestimmte seit dem 16. Jahrhundert das Paradigma einer universalen Wissenschaft, mit der Descartes nicht zuletzt über die Vermittlung durch seinen Freund Isaac Beeckmann vertraut war.23 Dem Ramismus verdankt Descartes den Schritt, die Methode nicht länger als ein Teilgebiet der Rhetorik auffassen zu müssen, sondern sie vielmehr der Logik zuzurechen. Diese Wende findet sich gegen Mitte des 16. Jahrhunderts bereits bei Ramus, aber auch bei Johannes Sturm und Philipp Melanchthon vollzogen.24 Verliert nun der Cartesianismus durch einen Blick auf Descartes’ Zeitgenossen und auf die Innovatoren des 16. Jahrhunderts an Kontur und Originalität? Oder läßt sich trotz der unverkennbaren systematischen Parallelen und Abhängigkeiten das Spezifische des methodischen Rationalismus cartesischer Prägung bestimmen? Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Zusammenhang von Rationalität und Kontingenz läßt sich dieses Spezifikum nicht beliebig konturieren. Wenn die Ausgangsthese trägt, daß der cartesische Rationalismus eine frühneuzeitliche Form der Kontingenzbewältigung ist, muß das an seinen operativen Verfahrensregeln ablesbar sein. Um deren epochale Originalität aber in den Blick bekommen zu können, ist der Referenzpunkt zunächst nicht in seinem näheren Umfeld frühneuzeitlicher Entwürfe zu suchen, sondern in der konkur-
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B. Pascal, De l’esprit géometrique et de l’art de persuader (ed. L. Lafuma, 349): »… la véritable méthode de conduire le raisonnement en toutes choses …« 20 Discours II (AT VI, 17). 21 Th. Hobbes, Elementorum philosophiae, sectio prima: De corpore I, cap. 1 (Opera philosophica I, 3): »Per ratiocinationem autem intelligo computationem … Ratiocinari igitur idem est quod addere et subtrahere …« 22 Regulae I (AT X, 359). 23 Vgl. Th. Verbeek, »Notes on Ramism in the Netherlands«, in: M. Feingold/J. S. Freedman/W. Rother (Hg.), The Influence of Petrus Ramus. Studies in Sixteenth and Seventeenth Century Philosophy and Sciences, Basel 2001, 38–53. 24 Vgl. W. J. Ong, Ramus, Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge/London 1983, 307; zu Sturm 232–236, zu Melanchthon 236–239.
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
rierenden Präsenz des Mittelalters im 17. Jahrhundert. Diese Gegenwärtigkeit eines vergangenen Wirklichkeitsverständnisses hat für Descartes einen Namen: Raimundus Lullus. Ramón Llull, 1332 oder 1335 auf Mallorca geboren, gehört zu den wenigen Autoren des Mittelalters, die bis in das 17. Jahrhundert hinein gut bekannt waren. Sein Einfluß auf Cusanus kann – wie bereits erwähnt – nicht hoch genug eingeschätzt werden, Giordano Bruno hat sich offen zu der Wertschätzung der lullistischen Kunst bekannt.25 Die Ausgabe der Raymundi Lullii Opera durch Lazarus Zetzner, 1598 zuerst erschienen und dreimal nachgedruckt, hielt das Denken Lulls noch für das 17. Jahrhundert präsent, so daß sich Leibniz in seiner Dissertatio de Arte Combinatoria aus dem Jahre 1666 ausführlich mit Lull auseinandersetzen konnte. Lull war bekannt. Mit ihm blieb ein Wirklichkeitsverhältnis virulent, das in der systematischen Kombination von Begriffen den Schlüssel in den Händen zu halten glaubte, Wahres zu entdecken. Führt man sich die operative Konsistenz eines derartigen Begriffssystems vor Augen, wird die Distanz des Cartesianismus zu ihm offenkundig, und so kann der von Descartes alternativ vorausgesetzte Begriff einer kontingenten Wirklichkeit nochmals an Prägnanz gewinnen. Ausgangspunkt der lullistischen Kombinationsmethodik ist die axiomatische Auflistung göttlicher Eigenschaften im Rahmen eines Alphabets.26 Zu den dignitates, den Grundwürden Gottes, zählt Lull die Güte, die Größe, die Ewigkeit, die Macht, die Weisheit, den Willen, die Tugend, die Wahrheit und die Herrlichkeit. Diese praedicata absoluta sind intuitiv erfaßbar und als Grundprinzipien Gottes und des Seins nicht ableitbar. Jeder dieser Eigenschaften ordnet Lull einen Buchstaben von B bis K zu – der Buchstabe A bleibt Gott vorbehalten. Diese erste Begriffsreihe ergänzt Lull um eine zweite, die praedicata relata, also Begriffe mit relationalem Charakter: Unterschied, Übereinstimmung, Gegensätzlichkeit, Anfang, Mitte, Ziel, Größersein, Gleichheit und Kleinersein. Durch ihre Zuordnung zu der Buchstabenliste B bis K entsteht neben der vertikalen Auflistung, die sich ergibt, wenn man die Grundprinzipien untereinander schreibt, eine erste horizontale Lesbarkeit, wenn die Relationsbegriffe als zweite Reihe neben die absoluten Prädikationen gesetzt werden. Dem Buchstaben B ist dabei das Prädikat ›Güte‹ und die Relation ›Unterschied‹ zugeordnet, dem Buchstaben C das Prädikat ›Größe‹ und die Relation ›Übereinstimmung‹. Bereits aus der Verknüpfung von B und C – Lull nennt es eine Ausschöpfung (evacuatio) einer Kammer (camera) – ergeben sich für Lull zwölf mögliche Aussagen, wobei jeder Buchstabe grammatikalisch als Subjekt oder Prädikat eingesetzt werden kann. 25
Vgl. Brunos Schrift De compendiosa architectura et complemento artis Lullii aus dem Jahr 1582 (Opera latine conscripta II–2, 1–65). 26 Die Auflistung des folgenden Alphabets nach: Raimundus Lullus, Ars brevis I (CCCM 38, 194–196).
§ 30 Das Ordnen der Gedanken
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Lull kommt daher zu den Sätzen: Güte ist groß, Güte ist verschieden, Güte ist übereinstimmend. Größe ist gut, Größe ist verschieden, Größe ist übereinstimmend. Unterschied ist gut, Unterschied ist groß, Unterschied ist übereinstimmend. Übereinstimmung ist gut, Übereinstimmung ist groß, Übereinstimmung ist verschieden. Lull ergänzt die zwei bisherigen Begriffsreihen um vier weitere: um einen Fragenkatalog,27 um verschiedene Subjekte,28 um die Tugenden 29 und um die Laster.30 Das Ergebnis ist ein endliches System möglicher Kombinationen, das durch die hohe Anzahl möglicher Verknüpfungen verblüfft.31 Lulls Kombinationsmethodik bietet ein perfektes Verfahren für die Invention von durch die Kombination eröffneten Aussagen, deren Zustimmung oder Ablehnung die Vernunft im Akt des Judiciums erteilt. Die Vernunft des Benutzers dieser ars bedient sich »ursprünglicher und natürlicher Verbindungen«.32 Der Mensch macht sich mit Hilfe der Mittelbegriffe der Kammern auf die »Jagd nach notwendigen Schlüssen und findet diese«,33 indem seine Vernunft zur »angewandten, erforschenden und entdeckenden Vernunft«34 wird. Sie steigt innerhalb des Kombinationssystems auf und ab, da sie sowohl zu den ersten und allgemeinen Dingen empor- als auch zu den nachgeordneten und besonderen Dingen hinabsteigt.35 Das Kombinationssystem liefert die Wahrheit dennoch nicht wie eine Rechenmaschine, da es des Scharfsinns der Vernunft, des vernünftigen Argumentierens, aber eben auch der guten Absicht bedarf.36 Die rechte Ausschöpfung der Kombinationen ist eine Kunst, keine Mechanik. 27
Bestehend aus: ob, was, woraus, warum, wie groß, wie beschaffen, wann, wo, auf welche Weise. 28 Gott, Engel, Himmel, Mensch, Vorstellungskraft, Sinnenkraft, vegetative Kraft, elementare Kraft, instrumentale Kraft. 29 Gerechtigkeit, Klugheit, Stärke, Mäßigkeit, Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe, Geduld, Mitleid. 30 Geiz, Völlerei, Unkeuschheit, Hochmut, Trägheit, Neid, Zorn, Lüge, Unbeständigkeit. 31 Der fast schon barocke Umfang läßt sich daran ermessen, daß Lull in seiner Ars generalis ultima (CCCM 75, 395–523) durch Kombinatorik einen Katalog von 2364 Fragen entwickelt, die er einzeln anführt. 32 Ars brevis VII (CCCM 38, 221): »… condicionibus primitiuis et naturalibus …« 33 Ars brevis II, 4 (CCCM 38, 210): »Et sic per media camerarum homo uenatur necessarias conclusiones et inuenit illas.« Cusanus wird die Jagd-Metapher in seiner Schrift De venatione sapientiae (1462/63) aufnehmen. 34 Ars brevis VI (CCCM 38, 219): »… et sic facit se« – gemeint ist die Vernunft (intellectus) – »applicatiuum et inuestigatiuum et inuentiuum.« 35 Ars brevis V (CCCM 38, 218): »Per ipsam tabulam intellectus est ascensiuus et descensiuus. Ascensiuus est, quia ascendit ad priora et generaliora. Descensiuus est, quia descendit ad posteriora et particularia.« 36 Ars brevis XIII (CCCM 38, 254): »Vnde sciendum est, quod haec Ars tres amicos habet, uidelicet subtilitatem intellectus, et rationem, et bonam intentionem.«
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Lulls Kombinationssystem läßt Rückschlüsse auf den Wirklichkeitsbegriff zu, der ihm zugrunde liegt. Das Verfahren der Kombinatorik von Begriffen zur Entdeckung von Wahrem setzt voraus, daß die absoluten Prädikate in der platonisch-augustinischen Linie universalienrealistisch verstanden werden.37 Ihr extramentales Sein verbürgt, daß sie principia intelligendi und principia essendi zugleich sind. Die Wirklichkeit ist demnach semantisch bestimmt. Sie ist lesbar im Sinne einer vernünftigen Dechiffrierung mittels der Methode der Kombinatorik. Lulls kombinatorisches System soll als Versuch einer vollkommenen Sprache eine Spiegelung der Wirklichkeit darstellen, einer Wirklichkeit, deren Seinsstruktur die Grammatik der Sprache bestimmt.38 Der Blick auf die Welt geschieht dabei sub specie creationis: Die absoluten Prädikate sind nicht allein Eigenschaften Gottes, sondern Schöpfungsmuster. Die Philosophia perennis ist die Grundlage der lullistischen ars.39 Zugleich gab Lulls Begriffstheologie ein bis in die Neuzeit hinein leitmotivisch wahrgenommenes Ideal der Wissenschaft vor: Seine Kategorientafel sollte eine Inventur der Grundbegriffe darstellen und somit prinzipiell vollständig sein. Lulls System ist ein der Intention nach abgeschlossenes Wissenschaftsmodell und dadurch universal. Es basiert auf dem Versuch, eine Universalsprache zu finden und verspricht die Leistungsfähigkeit einer Topik. Das auf der Kategorientafel basierende Kombinationsverfahren soll dem Wunsch des Intellekts entsprechen, »daß es eine Wissenschaft für alle Wissenschaften geben sollte und zugleich allgemeine Prinzipien, in denen die Prinzipien der anderen Teilwissenschaften impliziert und enthalten sind wie ein Teil im Ganzen«.40 Es stimmt daher nur zum Teil, wenn Descartes an Beeckman schreibt, er werde es sicher nicht unternehmen, eine Ars brevis nach der Art Lulls zu schreiben – wenn er hinzufügt, er wolle eine gänzlich neue Wissenschaft, die universal alle Fragen zu lösen imstande sei,41 setzt er eben den universalen Anspruch Lulls 37
In der Logica nova II 1–2 (CCCM 115, 38–45) verteidigt Lull ausdrücklich die extramentale Realität der Gattung. 38 Vgl. U. Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, aus dem Italienischen von B. Kroeber, München 1994, 65–81. 39 Vgl. W. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt am Main 1998, dort zu Lull: 129–148. 40 Raimundus Lullus, Ars magna et ultima (Opera 1651, Reprint: Stuttgart/Bad Cannstatt 1996, 218): »… quod sit una scientia generalis ad omnes scientias, et hoc cum suis principibus generalibus, in quibus principia aliarum scientiarum particularum sint implicita et contenta, sicut particulare in universali.« Zitiert nach: W. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, a. a. O., 133. 41 Brief an Beeckman, 26. März 1619 (AT X, 156 f.): »Et certe, vt tibi nude aperiam quid moliar, non Lullij Artem brevem, sed scientiam penitus novam tradere cupio, quâ generaliter solvi possint quaestiones omnes …«
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voraus. Die Differenz besteht nicht im Geltungsanspruch, sondern in einem alternativen methodischen Verfahren, das auf ein verändertes Wirklichkeitsverständnis reagiert. Descartes setzt die nominalistische Universalienkritik voraus, wenn er die Genese des Allgemeinen erläutert: »Diese Universalien entstehen nur daraus, daß wir ein und dieselbe Idee verwenden, um an alle Individuen zu denken, die einander ähnlich sind: deshalb geben wir auch denselben Namen allen durch diese Idee repräsentierten Sachen; und dieser Name ist das Universale.«42 Das Universale ist daher keine extramentale Entität, sondern ein Verstandesprodukt. Es gehört zur Natur des Geistes, wie Descartes hervorhebt, daß er die allgemeinen Sätze aus der Erkenntnis des Besonderen bildet.43 Die lullistische Begriffskombinatorik mußte Descartes aufgrund dieser Differenz suspekt sein. Im Discours äußert er sich nicht nur ablehnend gegenüber dem syllogistischen Schlußverfahren der Tradition, da man mit ihm nur erklärt bekomme, was man ohnehin schon weiß, sondern er führt Lull als Vertreter der Methode an, mit der man ohne Verstand über das rede, was man nicht wisse, statt es zu entdecken.44 In einem Brief an Mersenne bezeichnet Descartes die Vernunftgründe Lulls als reine Sophismen,45 und noch in der Recherche de la vérité kommt Descartes auf jene Begriffsartistik zu sprechen, von der sich abzusetzen sein Ziel ist: »… und schließlich werden all die erlesenen Fragen in eine bloße Wortwiederholung münden, welche nichts erhellen und uns in der ersten Unwissenheit zurücklassen würde, dies ist hinreichend klar«.46 Die Schärfe der Kontroverse resultiert somit offenkundig aus einem grundlegenden Wandel der Wirklichkeitsverständnisse, welche die alternativen Methoden voraussetzen. Der Blick auf die Differenz, welchen Rang die Kategorie der Relation besitzt, ermöglicht es, diesem Wandel Kontur verleihen. Lulls Kombi-
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Principia I 59 (AT VIII–1, 27): »Fiunt haec universalia ex eo tantùm, quòd unâ & eâdem ideâ utamur ad omnia individua, quae inter se similia sunt, cogitanda: ut etiam unum & idem nomen omnibus rebus per ideam istam repraesentatis imponimus; quod nomen est universale.« 43 Responsiones II (AT VII, 140 f.): »Ea enim est natura nostrae mentis, ut generales propositiones ex particularium cognitione efformet.« 44 Discours II (AT VI, 17): »Mais, en les examinant,« der Prüfung der Logik, der geometrischen Analysis und der Algebra, »ie pris garde que, pour la Logique, ses syllogismes & la pluspart de ses autres instructions seruent plutost a expliquer a autruy les choses qu’on sçait, ou mesme, comme l’art de Lulle, a parler, sans iugement, de celles qu’on ignore, qu’a les apprendre.« 45 Brief an Mersenne, 25. Dezember 1639 (AT II, 629): »… les raisons de Raymond Lulle, ce ne sont que sophismes …« 46 Recherche (AT X, 516): »… tandemque omnes hasce egregias quaestiones in meram Battologiam, quae nihil illustraret & in primâ nos relinqueret ignorantiâ, fore ut desinerent satis liquet.«
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nationsverfahren ist als ein Teil jener aristoteleskritischen und theologisch inspirierten Traditionslinie zu verstehen, die an einer Aufwertung der Relation als Kategorie interessiert war. Im Rahmen der aristotelischen Substanzmetaphysik bezeichnete die Kategorie der Relation etwas Marginales. Gegenüber der autarken Substanz (οσíα) war die Relation etwas Akzidentelles. Für die Kategorie der Relation hat Aristoteles nicht einmal einen eigenen Terminus – er drückt die Relation durch die Formel τà πρóς τι aus, wodurch Gegenstände nur mit Blick auf anderes sind, was sie sind.47 Er denkt damit offenkundig an die Relata, nicht an die Relation. Innerhalb der ontologischen Hierarchie der Seinswertigkeiten kommt der Relation nur der niedrigste Rang zu: Es geht von ihr kein Entstehen, kein Vergehen, keine Bewegung aus.48 Sie besitzt keine Seinsautonomie. Noch Thomas von Aquin wird der Relation nicht mehr als ein schwächstes Sein (esse debilissimum) 49 zuschreiben und sie als ein geringstes Seiendes (ens minimum) 50 bezeichnen. Die christliche Trinitätslehre hingegen setzte den Gedanken einer relatio essentialis geradezu voraus: Die Dreieinigkeit ließ sich nur relational verstehen. Wollte man nicht das intellektuelle Schisma riskieren, zwar auf die Trinität eine relationale Substanzmetaphysik anzuwenden, für die Lehre von den außergöttlichen Substanzen dagegen die aristotelische Kategorienlehre und -gewichtung unverändert gelten zu lassen, mußte es auf Dauer zu einer Aristoteles-Kritik kommen, da die Kategorie der Relation für die Trinität unaufgebbar war. Johannes Scotus Eriugena ist maßgeblich an einer aristoteleskritischen Aufwertung der Relation beteiligt, ihm folgen vor allem Bonaventura, Raimundus Lullus und Nikolaus von Kues.51 So verweist Lull angesichts der Frage, ob es irgendeine substantielle Relation gibt, zunächst auf die Trinität, beläßt es aber nicht dabei. Auch die göttliche Vernunft besteht aus der Relation von erkennender und erkennbarer Vernunft und dem Akt des Erkennens. Und jedes geschaffene Ding geht aus der konstituierenden Relation von Form und Materie hervor, so wie die geschaffene Vernunft aus dem Erkennenden, dem Erkennbaren und dem Akt des Erkennens besteht.52 Aristoteles, Metaphysica ∆ 15, 1021 b 3–11. Metaphysica Ν 1, 1088 a 29–35. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De potentia, qu. 8, art. 1, ad 4 (ed. R. Busa III, 249). 50 Thomas von Aquin, In I. Sententiarum, dist. 26, qu. 2, ad 2 (ed. R. Busa I, 72). 51 Vgl. den kurzen, aber anregenden Beitrag von Kurt Flasch, »Zur Rehabilitierung der Relation. Die Theorie der Beziehung bei Johannes Eriugena«, in: W. F. Niebel/D. Leisegang (Hg.), Philosophie als Beziehungswissenschaft (Festschrift für J. Schaaf ), Frankfurt am Main 1974, I / 3–25. 52 Raimundus Lullus, Logica nova III 4 (CCCM 115, 65 f.): »Vtrum aliqua relatio sit substantialis? Et dicimus, quod sic. Sicut in Deo, in quo relatio est substantialis in Patre et Filio 47 48 49
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Nikolaus von Kues hat diese leicht zu überlesende Aufwertung der Relation ganz im Sinne Lulls herausgestellt, wenn er etwa mit Blick auf sinnliche Objekte ausdrücklich von den drei Relata: Form, Materie und Zusammengesetztes (compositum) spricht und auf den Menschen als eine Trias von Seele und Körper und der Verknüpfung (nexus) beider verweist.53 Die relationes substantiales beschränken sich also nicht darauf, Erkenntnisrelationen zwischen Intellekt und Objekt zu sein, sie sind vielmehr zugleich Relationen von Substanzen untereinander.54 Das ens reale, so kann man sagen, ist von sich aus und grundsätzlich ein relativum mit der Eigenschaft der Relationsstiftung.55 Der Geniestreich Descartes’ besteht nun darin, nicht zuerst den Methodenbegriff verändert zu haben, sondern zunächst die Metaphysik.56 Anstelle der Vielzahl miteinander verbundener Substanzen, deren vorgegebene Relationen von der Vernunft zu reflektieren waren und deren objektive Systematik die Methodik ihrer Erfassung festlegte, reduziert Descartes diesen Kosmos der Substanzen auf die eine Substanz Gottes, die ergänzt wird um die res cogitans und die res extensa. Daraufhin hat die Methode nicht mehr der Vielzahl an Substanzen zu folgen, sondern sie ist allein der Verifizierung der Ideen verpflichtet, die der menschliche Geist in sich vorfindet. Schon Zabarella hatte die Annahme zurückgewiesen, jede beliebige Disziplin könne nach einer beliebigen Methode gelehrt werden.57 et Spiritu sancto; et in suo intellectu; et sic de aliis suis rationibus, in quo intellectu se habent substantialiter intellectiuus, intelligibilis et intelligere. Et sic in rebus creatis. Sicut in substantia ignis, in quo se habent relatiue substantialiter forma et materia. Et in intellectu intelligens, intelligibile et intelligere.« 53 Nikolaus von Kues, De beryllo, n. 39 (Opera omnia XI–1, 45 f.). 54 Das Sein ist daher eine zusammenhängende und hierarchisch geordnete Kette, deren Entfaltung Aufgabe des logischen Arguments ist. So beantwortet Lull die Frage, ob Engel existieren gleich dreifach: Sie existieren, denn wenn das, was Gott weniger ähnlich zu sein scheint, existiert, so existiere das, was Gott ähnlicher zu sein scheint, in viel höherem Maße. Und wenn etwas existiere, was aus Körper und Geist zusammengefügt ist, dann existiert das, was aus Geistigem zusammengefügt ist, in viel höherem Maße. Wenn die Engel nicht wären, so schließt Lull seinen Beweis, wäre die Leiter des Unterschieds und der Übereinstimmung (scala differentiae et concordantiae) leer und somit auch die Welt, was unmöglich ist. Ars brevis XI, 11. 2, n. 71 (CCCM 38, 245): »Quaeritur: Vtrum angeli sint? Et respondendum est, quod sic. Si enim illud, quod uidetur minus esse, simile Deo est, et multo magis id, quod maius uidetur esse, simile Deo est. Adhuc: Si aliquod compositum ex corporali et intellectuali est, multo magis id, quod est compositum ex intellectuali et intellectuali, est. Amplius: Si angeli quidem non essent, scala differentiae et concordantiae esset euacuata, et per consequens mundus; quod est impossibile.« 55 Vgl. E.-W. Platzeck, Raimund Lull. Sein Leben – seine Werke. Die Grundlagen seines Denkens (Prinzipienlehre), 2 Bde., Düsseldorf 1962/1964, Bd. I, 205, 202. 56 Vgl. W. Schmidt- Biggemann, Topica universalis, a. a. O., 296. 57 J. Zabarella, De Methodis I, cap. 4 (Opera logica, 140 C): »Errant, qui dicunt quamlibet disciplinam quolibet ordine tradi posse.«
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So ist auch für Descartes die Rationalität der Methode weder beliebig, noch steht sie der humanen Rationalität zur Disposition, denn die Arithmetik und Geometrie als zwei der Leitfäden der Methodologie sind für ihn die »spontane Frucht der angeborenen Prinzipien der Methode«.58 Weil die Prinzipien der Methode als angeborene dem Geist entstammen, ist eine Homogenität von Ordnendem und Geordnetem garantiert, da die Vernunft nicht mehr Dinge oder Substanzen, sondern Ideen ordnet und auf ihren Wahrheitsgehalt prüft. Durch diese Inversion wird die Ordnung vollends zu etwas Mentalem. Wurden die vorangegangen Reformbemühungen der Methodologie durch die Kontinuität ihrer Metaphysik ausgebremst, eröffnete erst die Reform der Metaphysik das Potential einer modernen Methodik. Das Revolutionäre der cartesischen Methode bekommt man daher nicht in den Blick, wenn man nur auf sie schaut: Erst die Prägnanz des metaphysischen Bruchs erklärt die Effektivität der cartesischen Methode. Descartes hatte mit Raimundus Lullus die Präsenz einer Ordnungsvorstellung vor Augen, die den Zusammenhang der Begriffe als eine Spiegelung der ontologischen Ordnung begreifen wollte. Seine methodische Abkehr von dieser Begriffskombinatorik ist daher nicht allein ein Wandel im Verfahren, sondern eine Neubestimmung des vom Verfahren zu Bewältigenden. Das läßt sich modal beschreiben: Für Lull war das Wahre ein notwendiges Resultat seines Kombinationsverfahrens. Die Tauglichkeit dieser ars wurde dadurch garantiert, daß sie der substantiell verbürgten Ordnung der Dinge entspringen sollte, nicht der menschlichen Vernunft. Mit ihr hielt vielmehr die Vernunft ein Verfahren in den Händen, sich den ewigen Wahrheiten anzunähern. Dagegen ist der ordre des raisons bei Descartes nicht mehr als ein homogenes Erkenntnisfeld verifizierter Ideen. Für diese Ordnung zweiten Grades reicht es aus, wenn sie eine pragmatische Wissenschaft ermöglicht. Diese Ordnung der Ideen ist zwar nicht zufällig, aber auch nicht notwendig, sondern möglich. Ein ordnender Blick ist kein Blick auf eine Ordnung, dennoch kann er von Nutzen sein. Hatte schon der cartesische Substanzenreduktionismus das Denken in objektiven Wahrheitsketten hinter sich gelassen,59 gilt das auch für die Verifikation
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Regulae IV (AT X, 373): »… quàm spontaneae fruges ex ingenitis hujus methodi principijs natae …« 59 Descartes kann durchaus vor dem Hintergrund seiner deduktiven Wissenschaft etwa im Discours V (AT VI, 40) von einer »Kette der Wahrheiten« (chaisne des veritez) sprechen, oder im Vorwort zu den Principes (AT IX–2, 20) von der »großen Reihe oder Folge von Wahrheiten« (la grande suite de veritez). Aber diese Verknüpfung einzelner Wahrheiten folgt nicht länger einer objektiven und extramentalen Seinsordnung, sondern sie ist eine Synthetisierungsleistung der nach ihren Prinzipien operierenden Rationalität. Als Beleg dafür mag gelten, daß er im Rahmen seiner ethischen Überlegungen die Vorstellung einer objektiven und normativen Ordnung für sehr dunkel hält (vgl. Brief an Elisabeth, 18. August 1645, AT IV, 273 f.).
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der Ideen. Sie werden gleichsam atomisiert: Nur die absolut zuverlässige und unzweifelhafte Erkenntnis ist zuzulassen, allein der Zweifel daran genügt für einen Ausschluß.60 Eine sichere Erkenntnis zieht demnach keine andere sichere Erkenntnis unmittelbar nach sich, sondern alles, was den Status der abgesicherten Erkenntnis zugesprochen bekommen will, unterliegt dem niemals zu unterbrechenden Prüfverfahren.61 Im Gegensatz zur synthetischen Methode, die Gewußtes miteinander zu verbinden sucht, favorisiert Descartes folgerichtig die analytische Methode.62 Anstatt sich angesichts eines Erkenntnisproblems auf ein axiomatisches System zu verlassen, wird es gemäß der Analysis in Einzelfragen aufgelöst, um an einen Punkt zu gelangen, der klar und deutlich ist. Von ihm aus kann in einer systematischen Gegenbewegung eine nach und nach komplexere Beantwortung des Problems entfaltet werden. Will man etwa wissen, was man wissen kann, ist zu fragen, was man sicher weiß. Hat man entdeckt, daß man nur weiß, daß man ist, wenn man denkt, kann man von dieser atomisierten Erkenntnisgewißheit aus zur nächsten Gewißheit schreiten: der Erkenntnis Gottes, um dann eine umfassendere Antwort auf die Frage, was wir wissen können, zu geben. Auf diese Weise entsteht in der von Gott geschaffenen Welt eine Welt der rationalen Erkenntnisse. Mögen sich beide ähneln, sind sie doch nicht deckungsgleich. Die Unbegreiflichkeit der göttlichen Schöpfungspotenz ist für Descartes der kontinuierlich eingebrachte Erkenntnisvorbehalt und die Motivation für die Schaffung einer zweiten Ordnung in der von Gott geordneten Welt. Insofern enthält der ordre des raisons einen unmerklichen Kontingenzvermerk. Nimmt man Descartes’ kontinuierlich wiederholte Einschätzung ernst, die Unbegreiflichkeit Gottes bestehe in seiner unfaßbaren Macht, der eine kontingent geschaffene Wirklichkeit entspricht, die unser Fassungsvermögen übersteigt, dann ist die von der humanen Rationalität entfaltete Ordnung der Erkenntnisse die angemesse Antwort darauf. Der ordre des raisons ist die exakte Entsprechung unserer Möglichkeiten: »Niemals ging meine Absicht weiter als auf den Versuch, meine Gedanken zu reformieren und auf einem Boden zu bauen, der ganz mir gehört.«63 So leistungsfähig die cartesische Methode als das zentrale Organ einer
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Vgl. Regulae II. Vgl. Regulae VII. Zu dieser auf die antiken Mathematiker Pappus und Diophantus zurückgehenden Methode, auf die Descartes in Regulae IV (AT X, 376) verweist, vgl. M. Berning, Analysis und Determination. Eine Studie zur Erkenntnistheorie der Mathematik bei Descartes, Konstanz 1997, und J. Hintikka, »A Discourse on Descartes’ Method«, in: M. Hooker (Hg.), Descartes. Critical and Interpretive Essays, Baltimore/London 1978, 74–88. 63 Discours II (AT VI, 15): »Iamais mon dessein ne s’est estendu plus auant que de tascher a reformer mes propres pensées, & de bastir dans vn fons qui est tout a moy.« Unter dem ordre des raisons ist im engeren Sinn das verifizierte Wissen zu verstehen, da sich aber
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Scientia generalis auch zu sein vermochte, an ihrem Beginn steht eine Selbstbeschränkung auf das, was zu ordnen uns überhaupt möglich ist, denn »es gibt nichts, das völlig in unserer Macht steht, außer unseren Gedanken«.64 Das Moment der Kontingenz findet sich demnach nicht in der Methode, insofern sie dem Paradigma der mathematischen Notwendigkeit folgt, sondern vielmehr an der Methode als einem prozessualen Verfahren. Da die cartesische Methode den Leitfaden einer objektiven Ordnung aus der Hand gegeben hat, begründet sich ihre Objektivität allein auf den rationalen Prinzipien unseres Geistes. Diese sind zwar für uns notwendig, für Gott aber sind sie kontingent. Auch der methodisch generierte ordre des raisons ist daher von kontingenter Notwendigkeit. Er konstituiert sich als eine Welt der rationalen Erkenntnisse innerhalb der erkennbaren Welt. Man kann es auch so sagen: Als Cartesianer haben wir unsere Ordnung vor Augen. Für dieses rationalistische Verfahren, die Phänomene nach den eigenen Prinzipien der Rationalität zu ordnen und nicht nach einer angenommenen, den Dingen inhärenten Ordnung, hat Francis Bacon die passende Metapher bereitgestellt: Rationalisten seien wie Spinnen, die alles aus ihren eigenen Eingeweiden ausspinnen.65 Die rationalen Prinzipien sind die Fäden, in denen sich die Welt verfangen soll. Das läßt sich abschließend durch einen Blick auf Descartes’ musiktheoretischen Traktat Compendium musicae von 1618 illustrieren, enthält er doch bereits wesentliche Momente der neuen Methode. Im Gegensatz zu seinem Vorbild Gioseffo Zarlino, dessen Standardwerk Le istitutioni armoniche von 1558 Descartes gut kannte, bringt Descartes keine musikalischen Beispiele, verzichtet also auf eine Objekthaltigkeit seiner Überlegungen. Ihm geht es vielmehr um die prinzipielle Erfassung musikalischer Parameter, wie den Takt, die Töne, die Konsonanzen und Dissonanzen, die Tonarten usf. Es ist aufschlußreich für Descartes’ rationalistische Musiktheorie, daß er auf der einen Seite musikalische Phänomene durch eine mathematische Lehre von Proportionen zu entschlüsseln sucht, sie auf der anderen Seite aber unter dem Aspekt der Wirkung auf den Hörer betrachtet. Der Zweck eines Tones sei es letzten Endes, zu erfreuen und in uns verschiedene Gemütsbewegungen hervorzurufen.66 Die von der Musik ausgelösten Effekte sind rational zu ordnen – die späten Passions de l’âme Gedanken und Ideen auf sämtliche Bewußtseinsinhalte beziehen, sind etwa auch Gefühle zu ordnen, wie es Descartes in seinen Passions de l’âme unternimmt. Ich verwende daher den Ausdruck ordre des raisons im allgemeinen Sinn einer Ordnung der Gedanken. 64 Discours III (AT VI, 25): »… il n’y a rien qui soit entierement en nostre pouuoir, que nos pensées …« 65 F. Bacon, Apophthegms, n. 21 (The Works VII, 177): »The Rationalists are like to spiders; they spin all out of their own bowels.« 66 Compendium I (AT X, 89), wo Descartes seine Behandlung des Tons einsetzt: »Finis, vt delectet, variosque in nobis moveat affectus.«
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können gleichsam als ein »operales Affektregister« gelesen werden –, zugleich wird das empfindende Subjekt zur Instanz der Komposition.67 Da Descartes »nicht dogmatisch an bestimmten zahlentheoretischen Vorstellungen festhält, sondern von allgemeineren, im Subjekt verankerten Prinzipien ausgeht«,68 folgt seine Musiktheorie nicht der Idee einer subjektunabhängigen Ordnung in der platonisch-pythagoreischen Tradition. Im Gegensatz zu Keplers Entfaltung einer geometrischen Weltharmonik, der zufolge die Himmelsbewegungen nichts anderes als eine fortwährende mehrstimmige Musik für den Verstand sind,69 behandelt Descartes die Theorie der Musik »auf eine radikal neue Weise, indem er sie von dem bis dahin unterschwellig inbegriffenen metaphysischen und theologischen Diskurs löst«.70 Als eine musica humana geht seine Musiktheorie – als frühe Umsetzung der Forderung Zabarellas – vom Menschen aus und zielt auf ihn ab. Bereits sein Compendium musicae bezieht also innerhalb des frühneuzeitlichen Methodenstreits eine spezifisch cartesische Position. Das ist auch an der Kompositionspraxis abzulesen: In einem aufsehenerregenden Disput hatte Giovanni Maria Artusi auf einer strikten Regelhaftigkeit der Musik bestanden, während Claudio Monteverdi in seinem Madrigal Cruda Amarilli diese Regelhaftigkeit zugunsten der beabsichtigten emotionalen Wirkung durchbrach. Auch Descartes ordnet das Komponieren ganz den zu erzielenden Effekten unter,71 er steht auf der Seite Monteverdis. Dessen Oper ist kein Abbild der Welt, sondern eine Welt in der Welt, wie Descartes’ rationale Ordnung nicht die Ordnung der Welt abbildet, sondern eine Ordnung der Gedanken darstellt.
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Vgl. G. Moseler, »Descartes’ Compendium Musicae und der Prolog der Platée von J.-Ph. Rameau. Techniken der (Selbst-)Beherrschung und Selbst(er)findung«, in: W. F. Niebel/A. Horn/H. Schnädelbach (Hg.), Descartes im Diskurs der Neuzeit, a. a. O., 167–185, hier 172. 68 H. de la Motte-Haber/P. Nitsche, »Begründungen musiktheoretischer Systeme«, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft X, 49–80, hier 56. 69 J. Kepler, Harmonice Mundi V, cap. 7 (Gesammelte Werke VI, 328): »Nihil igitur aliud sunt motus coelorum, quàm perennis quidam concentus (rationalis non vocalis) …« 70 B. v. Wymeersch, Artikel »Descartes«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik (zweite, neubearbeitete Ausgabe) V, 858–860, hier 859. Auch Harald Heckmann hebt in seinem Beitrag »Descartes’ Musicae Compendium«, in: B. Adams (Hg.), Aratro corona messoria, Bonn 1988, 125–130, hervor, Musik sei bei Descartes »aller metaphysischen Bezüge entkleidet und auf die physikalische Erscheinungsform, auf das Klangliche reduziert« (126). 71 Vgl. Compendium XII (AT X, 131–139).
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§ 31 Vermittelte Wirklichkeit: Repräsentation durch species? Mit seiner Methode hat Descartes ein Verfahren definiert, seine Gedanken zu ordnen. Um über die Ordnung der cogitationes hinaus ein Wissensgebäude zu errichten, bedarf es zusätzlich einer Überprüfung der Ideen als den Repräsentationen von Wirklichem. Zwar hat Descartes als das methodische Verifikationsprinzip bestimmt, nur klare und distinkte Ideen als wahre gelten zu lassen, doch für die Absicherung des Wirklichkeitsbezugs scheint das nicht auszureichen, solange nicht auch geklärt ist, was Ideen überhaupt sind. Waren sie in der platonisch-augustinischen Tradition die Schöpfungsgedanken Gottes, anhand derer der menschliche Geist die geschaffene Wirklichkeit nachvollziehen konnte, kann dieses Verständnis für die kontingente Wirklichkeit, die eine Wahl des freien und uns nicht zugänglichen göttlichen Willens ist, nicht mehr gelten. Zwar hat Descartes nach dem methodischen Zweifel durch seinen metaphysischen Gottesbeweis den verläßlichen Wirklichkeitsbezug zureichend restauriert, aber es scheint zunächst nur ausgemacht, daß es für uns die garantierte Erkenntnis von Gegenständen gibt, aber noch nicht, von welcher Art diese Erkenntnis ist und wie sie zustande kommt. Die cartesische Ideenlehre umfaßt viele Aspekte.72 Sie soll im folgenden allein auf einen hin befragt werden: Was ist eine Idee angesichts der Grundannahme, daß der Mensch nur noch gewissermaßen (quodammodo) nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen worden ist? Die cartesische Position beinhaltet nicht weniger als eine Abkehr von der Geistmetaphysik der Tradition. Daß diese Wende nicht unvorbereitet kam, haben die Ausführungen zur Genese des Kontingenzbegriffs gezeigt: Es ist ja gerade die Betonung des freien Schöpfungswillens unter gleichzeitiger Zurückdrängung des neuplatonisch-augustinischen Modells, nach dem die geschaffenen Dinge kognitiv nachvollziehbare Aktualisierungen der göttlichen Ideen sind, die das Seiende als Kontingentes denkbar werden ließ. Aber liegt nicht eine Überbewertung vor, Descartes’ Einschränkung, der Mensch sei nur noch gleichsam ein Abbild Gottes, zum Ausgangspunkt einer Befragung der Ideenlehre zu machen? Zum einen wird sich der Stellenwert dieser Ablösung von einer die Erkenntnislehre prägenden theologischen Anthropologie bei der Interpretation zentraler Momente der cartesischen Ideenlehre bestätigen müssen. Zum anderen sollte nicht übersehen werden, daß Descartes diese Abkehr von einer analogen Verfaßtheit des göttlichen und des menschlichen Intellekts in den Meditationes exponiert beschrieben hat: »Denn wenn ich zum Beispiel das Vermögen des Verstandes betrachte, dann erkenne ich sogleich, daß es in mir sehr schwach und sehr endlich ist, und zugleich bilde ich die Idee eines gewissen anderen Verstandesvermögens, das viel größer, ja sogar in höchstem Maße groß und unendlich ist, und gerade dadurch, daß ich dessen Idee 72
Vgl. die umfangreiche Studie zur carteischen Ideenlehre von Dominik Perler, Repräsentation bei Descartes, a. a. O.
§ 31 Vermittelte Wirklichkeit: Repräsentation durch species?
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bilden kann, nehme ich wahr, daß es zur Natur Gottes gehört. Ebenso, wenn ich das Vermögen der Erinnerung, der Einbildung oder sonst irgendwelche untersuche, dann finde ich kein einziges, von dem ich nicht einsehe, daß es in mir schwach und eingeschränkt, in Gott aber immens ist. Es ist allein der Wille oder die Freiheit der Entscheidung, die ich in mir als so groß erfahre, daß ich die Idee keiner größeren erfasse; so sehr, daß es vor allem die Freiheit ist, aufgrund derer ich verstehe, daß ich gleichsam ein Bild und ein Gleichnis Gottes darstelle.«73 Die Selbstgewißheit der cartesischen Rationalität, unerschütterliche Erkenntnisse garantieren zu können, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Descartes zugleich durch eine Erkenntniskritik den Umfang der erkennbaren Gegenstände einschränkt, wie die postulierte Unkenntnis finaler Ursachen belegt, und das Verständnis von dem, was Erkenntnis überhaupt ist, verändert. Wenn der Mensch sich nicht mehr im Intellekt, sondern allein im Willen als ein Abbild Gottes verstehen kann, sind seine Ideen nicht länger analoge Nachvollzüge der göttlichen Schöpfungsmuster. Aber was sind sie dann? Sucht man nach einem prägnanten Beispiel für einen auf den ersten Blick denkbar einfachen Wirklichkeitsbezug, dem erst bei genauerem Hinsehen die Selbstverständlichkeit abhanden kommt, bietet sich eine Szenerie an, die Wittgenstein beschrieben hat: »Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen ›Ich weiß, daß das ein Baum ist‹, wobei er auf einen Baum in unserer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: ›Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur‹.«74 Nimmt man sich die Freiheit, diese Szene auf die Situation der cartesischen Philosophie umzudeuten, ergibt sich folgende Lage: Ein Cartesianer hat zunächst die ihm evident scheinende Wahrnehmung eines Baumes, so daß er zu sagen geneigt ist: ›Das ist ein Baum‹. Aufgrund des dann einsetzenden methodischen Zweifels ist er sich aber nicht mehr sicher, ob es diesen Baum überhaupt gibt – das Philosophieren verläßt die alltägliche Sicherheit und treibt den Selbstverständlichkeitsabbau voran. Nach der metaphysischen Absicherung der ersten Prinzipien – ›Ich bin und der existierende Gott täuscht nicht‹ – kann sich der Cartesianer erneut dem Baum zuwenden. Es reicht aber nicht, allein über eine klare und distinkte
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Meditationes IV (AT VII, 57): »Nam si, exempli causâ, facultatem intelligendi considero, statim agnosco perexiguam illam & valde finitam in me esse, simulque alterius cujusdam multo majoris imò maximae atque infinitae, ideam formo, illamque ex hoc ipso quòd ejus ideam formare possim, ad Dei naturam pertinere percipio. Eâdem ratione, si facultatem recordandi vel imaginandi, vel quaslibet alias examinem, nullam plane invenio, quam non in me tenuem & circumscriptam, in Deo immensam, esse intelligam. Sola est voluntas, sive arbitrii libertas, quam tantam in me experior, ut nullius majoris ideam apprehendam; adeo ut illa praecipue sit, ratione cujus imaginem quandam & similitudinem Dei me referre intelligo.« 74 L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Nr. 467 (Werkausgabe VIII, 213).
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Idee vom Baum zu verfügen, so daß er, nunmehr von einem täuschenden genius malignus befreit, sagen könnte: ›Das ist ein Baum‹, sondern er muß sich als Cartesianer auch darüber klar werden, von welcher Art dieses Wissen ist, so daß er sagen kann ›Ich weiß, daß das ein Baum ist‹. Indem der Cartesianer auf den Baum zeigt, will er deutlich machen, daß er sich tatsächlich auf die existente Außenwelt bezieht und der rationalistische Solipsismus aufgebrochen ist. Ist damit aber die kognitive Distanz zum extramentalen Gegenstand überwunden? Von welcher Art ist die Repräsentation des Baumes im menschlichen Geist? Ist die Repräsentation objektiv, so daß sich beide im Garten sitzenden Personen einigen können, daß dort ein Baum vor ihnen steht? Es ist also zu klären, was Descartes über das Wissen, über das er verfügt, weiß, wenn er sich auf einen außer ihm existierenden Baum bezieht. Worin besteht die Idee dieses Baumes und wie kommt sie zustande? Descartes hat sich gleich mit mehreren möglichen Antworten beschäftigt: Zum einen hat er die traditionelle Annahme von species, die eine Repräsentation von Gegenständen voraussetzt, die von den Gegenständen selbst ausgelöst wird, strikt zurückgewiesen. Zum anderen hat er selbst eine physiologische Theorie der Ideen vorgelegt, die einen Wirklichkeitsbezug des Menschen erklären und dessen Zuverlässigkeit bestätigen soll. Darüber hinaus hat er Ideen als Fähigkeiten und Intentionen beschrieben. Um diesen Modellen einer Theorie der Ideen nachzugehen, bedarf es zunächst eines Blickes auf das, was Descartes vor Augen hatte, als er zu klären versuchte, was Erkenntnis von Gegenständen ist. Also: Was sind – nach traditionellem Verständnis – Ideen? Es ist ein die Tradition der Erkenntnistheorie über lange Zeit beherrschendes Problem, wie man verstehen können soll, daß der immaterielle Geist sinnlich vermittelte Wahrnehmungen materieller Gegenstände haben kann. Die beruhigende Evidenz der Alltagserfahrung, daß für uns Gegenstände einfach da sind, steht in einem krassen Mißverhältnis zu den theoretischen Schwierigkeiten, die Erkennbarkeit von Gegenständen zu denken. Entspricht unsere Wahrnehmung von Gegenständen ihrer Realität? Wie wird der Gegenstand dem wahrnehmenden Bewußtsein vermittelt? Wie kommt es, daß wir einerseits einen Gegenstand in seiner individuellen Ausprägung erfassen und ihn zugleich als Exemplar einer Gattung begreifen können? Die bis Descartes reichende Tradition einer möglichen Antwort auf diese Fragen hat mit der Vorstellung von species operiert, also mit Formen, die Gegenstände repräsentieren. Die unverkennbar platonisch geprägte Grundvorstellung ist dabei, daß jeder materiell vorhandene und sinnlich wahrnehmbare Gegenstand auf seine nichtsinnliche und immaterielle Essenz reduzierbar ist. Es war Cicero, der mit dem Begriff species dem Mittelalter ein lateinisches Äquivalent für die platonische Idee (,δéα) zur Verfügung stellte.75 Cicero, Tusculanae disputationes I 24 (ed. M. Pohlenz, 246): »… ,δéαν appellat ille, nos speciem …« 75
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Die Lehre von den species beinhaltet die Annahme einer vermittelten Aktualisierung der Essenz oder Washeit (quidditas) durch die sie repräsentierenden Formen. Die species eines Gegenstandes wird als ein vom Gegenstand ausgehendes Abbild begriffen, das sich als ein beeindruckender Reiz auf die Sinnesorgane überträgt. Der sensitive Teil der menschlichen Seele bildet darauf eine species sensibilis, die vom intellektuellen Teil der Seele zu einer species intelligibilis abstrahiert wird. Die Funktion der species ist somit eine adäquate Repräsentation des materiellen Gegenstandes. Durch sie ist der Geist in der Lage, die Form eines Gegenstandes nach dem Muster eines Abbildungsverhältnisses in sich aufzunehmen. Oftmals ungeklärt dagegen ist der ontologische Status der species: Sind sie selbst materielle Entitäten, also nicht nur ein kognitives Bild, sondern eine in demselben Seinsstatus des abgebildeten Gegenstandes existierende Repräsentation? Immerhin hatte Demokrit für die atomistische Abbildtheorie die Auffassung vertreten, daß Gegenstände durch Bilder repräsentiert werden, die aus Atomen bestehen und die auf die Sinne treffen; 76 vom Atomismus ausgehend ist ein physikalisches Verständnis der Abbildtheorie daher durchaus vertreten worden. Nach diesem Modell erleidet der Intellekt eine isomorphe Angleichung durch die einwirkende species des Gegenstandes. Scheinbar bleibt Descartes dem Argumentationsmodell der Tradition verhaftet, wenn er zunächst behauptet, die Ideen im Bewußtsein seien »gleichsam Bilder von Gegenständen« (tanquam rerum imagines).77 In ihrer abbildenden Funktion waren species immer als Bilder (imagines) verstanden worden. Auch Descartes kann von einem Bild eines Gegenstandes (son image) sprechen, das sich auf dem Grund des Auges malt (qui se peint au fonds de l’oeil).78 Die radikale Wende der cartesianischen Rationalität offenbart sich dann aber in der strikten Ablehnung eines tatsächlichen Abbildungsverhältnisses von Ideen und Gegenständen. In bezug auf die Urteile sagt Descartes: »Der hauptsächlichste und häufigste Irrtum aber, den man in ihnen finden kann, besteht darin, daß ich urteile, die in mir vorhandenen Ideen würden gewissen außer mir vorhandenen Gegenständen gleichen oder ihnen entsprechen.«79 Damit ist nichts weniger als eine grundsätzliche Absage an die Tradition des sinnlich vermittelten Erkenntniseindruckes vollzogen. Diese Wende provoziert zum einen die Frage, ob verständlich gemacht werden kann, warum Descartes von einer strikten Ähnlichkeitsbeziehung von repräsentierender Idee und repräsentiertem Gegenstand abrückt. Zum an76
Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker 68 B, Fragmente 7 und 166 (ed. H. Diels/W. Kranz II, 138, 178). 77 Meditationes III (AT VII, 37). 78 Brief an Mersenne, 9. Januar 1639 (AT II, 487). 79 Meditationes III (AT VII, 37): »Praecipuus autem error & frequentissimus qui possit in illis reperiri, consistit in eo quòd ideas, quae in me sunt, judicem rebus quibusdam extra me positis similes esse sive conformes …«
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deren ist zu klären, was für Descartes Ideen sind, wenn sie nicht mehr in ihrer Funktion als abbildende Repräsentationen im Sinne einer Isomorphie begriffen werden können, sind sie doch nur ›gleichsam Bilder von Gegenständen‹. Um die systematische Plausibilität nachvollziehen zu können, die Voraussetzung dafür war, die Vorstellung eines strikten Abbildungsverhältnisses abzulehnen, und um die Tragweite zu ermessen, die dieser theoretische Schritt beinhaltet, bedarf es eines Blickes auf die Geschichte der species-Lehre.80 Vornehmlich sind es zwei Traditionen, die für das gesamte Mittelalter bedeutsam waren: der aristotelische Hylemorphismus und die augustinische Theorie des Geistes. Für die gesamte Tradition der species-Theorie war die aristotelische Grundentscheidung ausschlaggebend, daß die universale Form eines Gegenstandes als das Allgemeine ein inkorporiertes Moment des Materiellen darstellt und es dadurch zu einem gestalteten und erkennbaren Gegenstand werden läßt. Das Universale ist nach diesem hylemorphistischen Modell nichts jenseits des Gegenstandes, sondern etwas in ihm. Die aristotelische Lehre von der Erkenntnis als einem Wissen von etwas begründetem Allgemeinen ließ die Erkenntnis von singulären, in ihrer materiellen Ausprägung sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen zu einer Erkenntnis der sie bestimmenden und nichtmateriellen Form werden. Die sinnlichen Wahrnehmungsorgane erleiden die Wahrnehmung des Aufgenommenen und bieten dem Intellekt die abstrahierbare Form des Wahrgenommen, also die Form ohne Materie.81 Noch Thomas von Aquin wird in seinen Aristoteles-Kommentaren von dieser Grundannahme ausgehen, daß jeglicher Gegenstand in dem Maße erkennbar ist, wie er von der Materie abgetrennt werden kann.82 Entscheidend für den Repräsentationsakt ist das Vorstellungsbild (φáντασµα), das dem wahrgenommenen Gegenstand gleicht, aber selbst nicht materiell ist.83 Ist der Gegenstand erst einmal wahrgenommen worden, ist er auch ohne seine Präsenz durch das ihn repräsentierende Bild wahrnehmbar, da es ihn gleichsam vertritt: etwa in der Erinnerung. Species werden daher bis in das Spätmittelalter hinein vorwiegend bildhaft interpretiert, als Abbildungen des Wahrgenommenen. So unumstritten diese Ähnlichkeitsrelation von repräsentierendem Bild und
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Einen maßgeblichen Überblick über die Lehre von den species bietet: L. Spruit, Species intelligibilis: from Perception to Knowledge, Bd. I: Classical Roots and Medieval Discussions, Leiden 1994, Bd. II: Renaissance Controversies, Later Scholasticism, and the Elimination of the Intelligible Species in Modern Philosophy, Leiden 1995. 81 Aristoteles, De anima Β 12, 424 a 17–24. 82 Thomas von Aquin, Sententia Libri De sensu et sensato, lect. 1, n. 1 (ed. R. Busa IV, 371): »unumquodque enim intantum est intelligibile, inquantum est a materia separabile.« 83 De anima Γ 8, 432 a 9–10.
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dem Wahrgenommenen ist, so bleibt doch der ontologische Status der species oft vage. Noch Thomas weicht der Frage nach dem ontologischen Status der species im Grunde aus.84 Doch es kommt hier nicht so sehr auf Detailprobleme der species-Lehre an, sondern vielmehr auf die Grundsätzlichkeit und Tragweite ihrer Ablehnung durch Descartes. Dazu hat man sich nicht allein die Popularität der Lehre von den species zu vergegenwärtigen, sondern die Implikationen, die sowohl den Wirklichkeitsbegriff als auch die Selbstauffassung des menschlichen Geistes betreffen. Die Tragweite des auf dem aristotelischen Hylemorphismus fußenden Repräsentationsmodells für das Verständnis des menschlichen Geistes und der Wirklichkeit, mit der er es zu tun hat, wird an Augustinus prägnant ablesbar. Er hat dem Mittelalter ein maßgebliches Modell des menschlichen Geistes bereitgestellt, in dem auch die Lehre von der Abbildhaftigkeit der repräsentierenden Ideen ihren systematisch fundierten Ort hat. Es ist vor allem die Schrift De trinitate, die es hierbei zu beachten gilt. Zwar widmet sich diese Strukturanalyse der Trinität vornehmlich der Selbstbezüglichkeit des Geistes, aber auch die Frage der Erkenntnisweise von sinnlich vermittelten Gegenständen spielt im neunten und vor allem im elften Buch eine gewichtige Rolle. Zunächst bringt Augustinus das Verhältnis von dem über die Vermittlung der Sinne wahrnehmenden Geist und dem wahrgenommenen materiellen Gegenstand auf die ausbalancierende Formel, »daß jedes Ding, das wir erkennen, seine Kenntnis in uns miterzeugt«.85 Damit sind Aktivität und Rezeptivität als gleichberechtigte Momente beschrieben. Die materiellen Körper – und damit formuliert Augustinus die klassische species-Lehre – formen den wahrnehmenden Sinn. Sie werden in der Form einer affectio oder passio beeindruckt. Im Gegenzug ist es die willentlich gelenkte Aufmerksamkeit des Geistes, die sich dem repräsentierten Gegenstand, der repräsentierenden Idee und ihrer Verbindung zuwendet. Es gilt also für die sinnlich vermittelte geistige Erkenntnis eines materiellen Gegenstandes die Formel, daß die Erkenntnis von beiden, vom Erkennenden und vom Erkannten, hervorgebracht wird.86 Das Sehen eines Gegenstandes etwa
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Vgl. Leen Spruit, Species intelligibilis, a. a. O., Bd. I, 173, der einen möglichen Grund für diese Uneindeutigkeit des Aquinaten in Bezug auf den ontologischen Status der species nennt: »Thomas does not seem to consider this ontological problem as a vital issue for his cognitive psychology.« 85 Augustinus, De trinitate IX, cap. 12, 18 (PL 42, 970): »Unde liquido tenendum est quod omnis res quamcumque cognoscimus, congenerat in nobis notitiam sui.« 86 Ebd. (PL 42, 970): »Ab utroque enim notitia paritur, a cognoscente et cognito.« Leen Spruit betont, daß diese Definition »is accepted by almost all medieval authors« (L. Spruit, Species intelligibilis, a. a. O., Bd. I, 181). Der Intellekt ist demnach für die Tradition bis Descartes eine Form ›aktiver Rezeptivität‹ oder ›erleidender Intentionalität‹.
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wird daher gleichermaßen vom sichtbaren Gegenstand und vom Sehvermögen des Sehenden erzeugt.87 Konstitutiv für diese Theorie der sinnlich vermittelten Erkenntnis ist der Gedanke der Ähnlichkeit zwischen Repräsentiertem und Repräsentierendem. Augustinus illustriert das an einem Wachsbeispiel: 88 Wird ein Ring in ein Stück Wachs eingedrückt, gleichen sich Ring und Wachs fast ununterscheidbar an. Wird der Ring entfernt, bleibt der Eindruck des Ringes im Wachs erhalten. So ist es auch mit den Sinnen: Ein Gegenstand formt etwa den Sehsinn und gleicht ihn so stark an sich an, daß der Geist die den Gegenstand repräsentierende Abbildung noch betrachten kann, wenn der Gegenstand schon entfernt ist. Der Gegenstand bleibt als eingeprägte Spur dem Geist erinnerbar. Der Geist verfügt über ein Abbild des Repräsentierten, dem er sich auch noch zuwenden kann, wenn der repräsentierte Gegenstand entfernt ist. Damit scheint für die repräsentierenden Ideen jene ›innere Arena‹ (an inner arena) geschaffen worden zu sein, aufgrund derer der Geist im subjektiven Innenraum weltunabhängig Ideen betrachten kann – ein Modell, das Rorty noch Descartes zuschreibt.89 Man würde die Tragweite dieser mit dem Modell einer Isomorphie arbeitenden Abbildungstheorie unterschätzen, wollte man sie für ein isolierbares Stück empirischer Erkenntnistheorie halten. Die Einbettung der species-Lehre in die augustinische Ideenlehre einerseits und in die Konzeption von De trinitate andererseits sprechen dagegen. Zunächst ist ein Blick auf Augustins Verortung der Ideen im göttlichen Intellekt zu werfen. Unter der Grundannahme, daß zwischen dem, was Augustinus als Platonismus vor Augen hatte, und dem Christentum allein eine terminologische, nicht aber eine reale Differenz anzunehmen sei,90 eignet er sich den Begriff der platonischen Idee an, indem er sie mit den Begriffen forma und species, im weiteren Sinn als rationes gleichsetzt.91 Die Ideen oder species sind für ihn unveränderliche Urformen, die – und darauf kommt es an – im göttlichen Verstand begründet sind.92 Damit ist das epistemologische
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De trinitate XI, cap 2, 3 (PL 42, 986): »Gignitur ergo ex re visibili visio, sed non ex sola, nisi adsit et videns. Quocirca ex visibili et vidente gignitur visio …« 88 De trinitate XI, cap. 2, 3. 89 R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, a. a. O., 50. 90 Augustinus hat die Nähe des Christentums zum Platonismus mehrfach betont. So kann er etwa in De vera religione, cap. 4, 7 (PL 34, 126) sagen, die Platoniker könnten nach Änderung weniger Worte und Sätze als Christen gelten, so hätten es die meisten Platoniker seiner jüngsten Zeit gemacht: »… et paucis mutatis verbis atque sententiis christiani fierent, sicut plerique recentiorum nostrorumque temporum Platonici fecerunt.« 91 Vgl. De diversis quaestionibus octoginta tribus XLVI: De ideis. 92 Ebd. (CCSL 44 A, 71): »Sunt namque ideae principales quaedam formae uel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt ac per hoc aeternae ac semper eodem modo sese habentes, quae diuina intelligentia continentur.«
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Modell der abbildenden species eingebettet in eine neuplatonisch inspirierte Metaphysik, die für das gesamte Mittelalter richtungsweisend war.93 Die strikte Ähnlichkeitsbeziehung zwischen repräsentierender species und dem repräsentierten Gegenstand der Erkenntnis entspricht dem Abbildungsverhältnis von göttlichem Intellekt und Welt, insofern die Welt – bei aller zu wahrenden Differenz – ein anagogischer Verweis auf den Schöpfergott darstellt. Der Aspekt der Relation gewinnt deshalb an Bedeutung, da Augustinus von einer strukturellen Analogie des menschlichen und des göttlichen Geistes ausgeht. Die trinitarische Verfaßtheit des Geistes beschreibt Augustinus zu Beginn des neunten Buches von De trinitate als eine aufeinander bezogene Dreiheit von Geist, Liebe und Erkenntnis (mens, amor & notitia).94 Der menschliche Geist ist daher ein Abbild des göttlichen Geistes, er ist ein Bild Gottes. Für die Theorie der species als einer Konzeption der vermittelten Erkenntnis materieller Gegenstände ist bedeutsam, daß Augustinus sie von dieser Konzeption nicht grundsätzlich ausschließt. Trotz der betonten Selbstreflexion des menschlichen Geistes geht Augustinus im elften Buch ausdrücklich auch der Frage nach, ob auch am sinnlich begabten Menschen eine Spur der Dreieinigkeit (vestigium trinitatis) 95 zu finden ist. Folgt man Augustins Argumentation, wird deutlich, daß er zunächst die stoisch inspirierte Lehre vom sinnlichen Eindruck eines materiellen Gegenstandes, dessen Essenz durch species vermittelt wird, vorträgt, wie sie bereits beschrieben wurde. Verfügt der Intellekt über die species intelligibiles, anhand derer er jederzeit einen Zugriff auf die Funktion der abbildhaften Repräsentation hat, vollzieht der Geist jene Dreiheit aus Erinnerung, innerer Schau und dem einenden Willen als dem intentionalen Moment der Aufmerksamkeit – diese Einheit nennt Augustinus ›Denken‹ (cogitare).96 Die starke Betonung des Erinnerns mag zunächst überraschen, wird aber vor dem Hintergrund der in den Confessiones entfalteten Lehre von der memoria verständlicher: Aufgrund der Herkunft alles Essentiellen aus dem Intellekt Gottes ist Erkennen grundsätzlich ein Erinnern, ein Erfassen des von Gott Vorgedachten.
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Zur Vorgeschichte und zum Einfluß der augustinischen Ideenlehre vgl. L. M. de Rijk, »Quaestio de ideis. Some Notes on an Important Chapter of Platonism«, in: J. Mansfeld/ L. M. de Rijk (Hg.), Kephalaion. Studies in Greek Philosophy and its Continuation Offered to Professor C. J. de Vogel, Assen 1975, 204–213. 94 De trinitate IX, cap. 4, 4 (PL 42, 963): » Igitur ipsa mens et amor et notitia ejus, tria quaedam sunt, et haec tria unum sunt; et cum perfecta sunt, aequalia sunt.« 95 De trinitate XI, cap. 1, 1 (PL 42, 983). 96 De trinitate XI, cap. 3, 6 (PL 42, 988): »Atque ita fit illa trinitas ex memoria, et interna visione, et quae utrumque copulat voluntate. Quae tria cum in unum coguntur, ab ipso coactu cogitatio dicitur.« In den Confessiones X, cap. 11, 18 (PL 32, 787) erläutert Augustinus das Denken (cogito) als ein Zusammenbringen (cogo).
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Mit der trinitarischen Erfassung der Dynamik des Geistes hat Augustinus ein für das gesamte Mittelalter normatives Modell der Erkenntnis vorgelegt. Noch für Thomas von Aquin sollte es selbstverständlich sein, daß sich in den vernunftbegabten Geschöpfen die Trinität in der Weise des Bildes (per modum imaginis) ausdrücken soll, und auch er gesteht grundsätzlich allen Dingen die Spur der Trinität (per modum vestigii) zu.97 Die Erkenntnis der Dinge durch den menschlichen Geist bleibt bezogen auf den Akt des Selbstausdrucks Gottes in den aktualisierten und kognitiv nachvollziehbaren Ideen. Die strikte Abbildhaftigkeit der Ideen ist für dieses Modell konstitutiv. Die beiden diese Repräsentationstheorie fundierenden Grundannahmen lauten: Die materiellen Gegenstände sind erkennbar, da sie vom göttlichen Intellekt auf die Erkennbarkeit hin angelegt worden sind, und sie sind wahr, insofern sie eine Ähnlichkeit mit den göttlichen Ideen besitzen. Thomas von Aquin stellt das eigens heraus, wenn er sagt, nur dasjenige werde ein wahrer Stein genannt, was die eigentümliche Natur eines Steines erreiche, insofern sie vom göttlichen Intellekt vorgedacht worden ist. Daher sei die Wahrheit ursprünglich im Intellekt und erst in zweiter Linie in den Dingen, insofern sie auf den Intellekt als ihren Ursprung bezogen werden.98 Zurück zu Descartes. Vor dem Hintergrund der skizzierten species-Tradition wird seine Ablehnung der Annahme, »die in mir vorhandenen Ideen würden gewissen außer mir vorhandenen Gegenständen gleichen oder ihnen entsprechen«,99 brisant. Dabei ist seine Ablehnung der species, wie bereits erwähnt, auf den ersten Blick keinesfalls eindeutig. Im Gespräch mit Burman scheint er der species-Lehre uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er die Sinneswahrnehmung als das Einwirken äußerer Gegenstände auf die Sinne beschreibt, wodurch die Gegenstände ihre Idee oder Gestalt abbilden, so daß sich der Geist den erzeugten Bildern zuzuwenden vermag.100 Die Ideen hängen von den Dingen ab, sofern sie diese repräsentieren.101 Dinge können der Sinneswahrnehmung, etwa dem Auge, zugänglich werden, indem sie »sich präsentieren« (se presenter), wobei
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Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 45, art. 7 (ed. Leonina IV, 475 f.): »In creaturis igitur rationalibus, in quibus est intellectus et voluntas, invenitur repraesentatio Trinitatis per modum imaginis… Sed in creaturis omnibus invenitur repraesentatio Trinitatis per modum vestigii …« 98 Summa theologiae I, qu. 16, art. 1 (ed. Leonina IV, 207): »… dicitur enim verus lapis, qui assequitur propriam lapidis naturam, secundum praeconceptionem intellectus divini. – Sic ergo veritas principaliter est in intellectu; secundario vero in rebus, secundum quod comparantur ad intellectum ut ad principium.« 99 Meditationes III (AT VII, 37). 100 Burman (AT V, 162): »Quando objecta externa agunt in sensus meos, et in iis pingunt suî ideam seu potius figuram, tum mens, quando ad eas imagines quae in glandulâ inde pinguntur advertit, sentire dicitur …« 101 Ebd. (AT V, 161): »Ideae pendent quidem a rebus, quatenus eas repraesentant …«
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Descartes ausdrücklich von einer »Aktion dieses Objekts« (l’action de cet objet) spricht.102 Die Sinneswahrnehmung ist daher das passive Vermögen, Ideen der Sinnesdinge zu empfangen und zu erkennen.103 Eine Idee stellt das Wesen eines Dinges auf repräsentierende Weise dar,104 und als Idee vergegenwärtigt (repraesentat) sie etwas, indem sie mir etwas zeigt (exhibet).105 Ein mittelalterlicher Autor hätte bei diesen Aussagen ohne Einschränkung an das mit der Vorstellung von species operierende Repräsentationsmodell denken können. Andererseits ist Descartes’ Abgrenzung von diesem antik-mittelalterlichen Repräsentationsmodell eindeutig. In der Dioptrik betont er, »daß es keine Bilder gibt, die den Gegenständen in allem gleichen müssen, die sie repräsentieren«.106 Andernfalls gebe es keinen Unterschied zwischen dem Gegenstand und seinem Bild.107 Damit ist nicht gesagt, daß jegliche Ähnlichkeitsrelation zwischen repräsentierender Idee und repräsentiertem Gegenstand ausgeschlossen ist, aber ihr Bezug aufeinander entspricht keinesfalls einer vollständigen Entsprechung im Sinne eines spiegelbildlichen Abbildungsverhältnisses. Ideen repräsentieren daher »wie in einem Bild« (tanquam in imagine).108 Alles kommt hier auf die leicht überlesbare Einschränkung an, daß Ideen den von ihnen repräsentierten Gegenständen nicht vollständig gleichen und daß sie das Repräsentierte gleichsam, also wie in einem Bild präsentieren. Damit ist der Bruch mit der Tradition bereits vollzogen, wie Descartes in den Meditationes herausstellt: Nicht aufgrund eines sicheren Urteils, sondern nur aufgrund eines »blinden Impulses« habe er geglaubt, daß gewisse von ihm verschiedene Dinge existieren, die ihm ihre Ideen oder ihre Bilder durch die Sinnesorgane oder auf irgendeine andere Weise übermitteln.109 Bereits die vage und ungenaue Skizzierung der species-Theorie, derzufolge Ideen oder Bilder durch die Sinnesorgane ›oder auf andere Weise‹ übermittelt werden sollen – aber was kann ›auf andere Weise‹ heißen? –, bezeugt die cartesische Distanz zu diesem Repräsentationsmo-
102 103
Homme (AT XI, 186). Meditationes VI (AT VII, 79): »Jam verò est quidem in me passiva quaedam facultas sentiendi, sive ideas rerum sensibilium recipiendi & cognoscendi …« 104 Responsiones V (AT VII, 371): »Idea enim repraesentat rei essentiam …« 105 Meditationes III (AT VII, 40). 106 Dioptrique IV (AT VI, 113): Es sei festzuhalten, »qu’il n’y a aucunes images qui doiuent en tout resembler aux obiets qu’elles representent …« 107 Ebd. (AT VI, 113): »… car autrement il n’y auroit point de distinction entre l’obiet & son image …« 108 Principia I 17 (AT VIII–1, 11). 109 Meditationes III (AT VII, 39 f.): »Quae omnia satis demonstrant me non hactenus ex certo judicio, sed tantùm ex caeco aliquo impulsu, credidisse res quasdam a me diversas existere, quae ideas sive imagines suas per organa sensuum, vel quolibet alio pacto, mihi immittant.«
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dell. Das muß nicht heißen, daß Descartes die Lehre von den species nur ungenau kannte,110 vielmehr war sie ihm von Grunde auf suspekt. Das belegen verschiedene Stellen in den Briefen, etwa wenn er Mersenne gegenüber äußert, substantielle Formen (formes substantielles) seien Chimären (chimeres).111 Der Verweis auf die antike Sagenwelt ist pointiert gewählt, ist doch eine Chimäre als das aus mehreren Tieren zusammengesetzte Fabelwesen zugleich ein Ungeheuer. Die Annahme von species für die Repräsentation von Essentiellem ist für Descartes ungeheuerlich, da in der versuchten Verbindung von Form und Stoff Unvereinbares zusammengebracht wird, so daß er vor diesen repräsentierenden Formen – und er bleibt innerhalb der gewählten Metapher – zurückschreckt (abhorreo).112 Daher ist die Ablehnung der Annahme von species eindeutig, wie er sie in der Dioptrik formuliert: Um Farbe und Licht zu sehen, sei es nicht nötig anzunehmen, daß irgend etwas Materielles von den Gegenständen in unser Auge kommt.113 Descartes zieht als Vergleich einen Blinden heran, der mit einem Stock ertasten kann, ob er Stein, Sand, Wasser usf. vor sich hat. Er hat Vorstellungen von den Dingen vor sich, ohne daß die diese Vorstellungen begründenden Eindrücke den Dingen ähneln. Daher schließt Descartes: »Es braucht an den Gegenständen nichts zu geben, was unseren Ideen oder Empfindungen, die wir von ihnen haben, ähnlich ist: Es geht ja auch nichts von den Körpern aus, die der Blinde mit Hilfe seines Stockes fühlt, und ihr Widerstand und ihre Bewegung, die allein die Ursache der Empfindungen sind, die er von ihnen hat, haben keine Ähnlichkeit mit den Ideen, die er sich von ihnen bildet. Hierdurch werden Sie«, so wendet sich Descartes abschließend an den Leser, »von den vielen umherflatternden kleinen Bildern, genannt species intentionales, befreit, die in der Vorstellung so vieler Philosophen am Werke sind.«114 Trotz der sprachlichen Nähe zum Argu110
Dominik Perler weist darauf hin, daß sich Descartes allem Anschein nach zwar nicht mit den verschiedenen Varianten der species-Theorie beschäftigt hat, wohl aber – über die jesuitischen Kompendien, den Coimbra-Kommentaren, vermittelt – vor allem mit der thomistischen, vielleicht auch mit der species-Theorie von Suárez (D. Perler, Repräsentation bei Descartes, a. a. O., 66). Gerade die thomistische Variante der species-Lehre darf für das Hoch- und Spätmittelalter als eine kanonische Ausprägung gelten (vgl. L. Spruit, Species intelligibilis, a. a. O., Bd. I, 156–174). 111 Brief an Mersenne, 28. Oktober 1640 (AT III, 212). 112 Brief an Ciermans, 23. März 1638 (AT II 74). Zur Ablehnung der species bei Descartes vgl. D. Perler, Repräsentation bei Descartes, a. a. O., 65–77, wo Perler auch die Ablehnung der materialistischen Bildtheorie von Hobbes durch Descartes behandelt. 113 Dioptrique I (AT VI, 85): »En suite de quoy vous aurés occasion de iuger, qu’il n’est pas besoin de supposer qu’il passe quelque chose de materiel depuis les obiects iusques a nos yeux, pour nous faire voir les couleurs & la lumiere …« 114 Ebd. (AT VI, 85): »… ny mesme qu’il y ait rien en ces obiects, qui foit semblable aux idées ou aux sentimens que nous en auons: tout de mesme qu’il ne sort rien des corps, que sent vn aueugle, qui doiue passer le long de son baston iusques a sa main, & que la resi-
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mentationsduktus der traditionellen species-Theorie, die in manchen Passagen der cartesischen Philosophie durchscheint, ist die Ablehnung dieses Repräsentationsmodells und die Aufgabe einer angenommenen Ähnlichkeitsrelation durch Descartes grundsätzlich und eindeutig. Selbst wenn die Ideen, wie er einmal sagt, von den Dingen, die von ihm verschieden sind, ausgingen, folge daraus nicht, daß sie diesen Dingen ähnlich sein müßten.115 Doch warum lehnt Descartes die Annahme von im strengen Sinne abbildhaft repräsentierenden species ab? Führt man sich die einschlägigen Stellen in seinen Schriften vor Augen, fällt auf, daß er nicht den Versuch unternimmt, gegen die Lehre von den species zu argumentieren. Vielmehr setzt er ihre Inakzeptanz voraus, obschon er – wie gezeigt – oftmals ihrem Erklärungsduktus scheinbar verhaftet bleibt. Der Selbstverständlichkeit ihrer Ablehnung scheint eine Akzeptanz eines gewandelten Realitätsbegriffs zu entsprechen, für den das Leitmotiv einer Abbildrelation von intelligibler und materiell aktualisierter Welt nicht mehr bindend ist. Diese Transformation des Realitätsbegriffs, die zu einer alternativen Auffassung vom menschlichen Erkenntnisakt führte, ist wesentlich ein Ergebnis des spätmittelalterlichen Nominalismus. Der Nominalismus hatte die Annahme extramental vorhandener Universalien bestritten und damit das Allgemeine zu einem Ergebnis des abstrahierenden Intellekts gemacht. Die begriffsbildende Aktivität des Intellekts erfaßt die Gegenstände als singuläre Dinge und bringt das Allgemeine, dem sie unterzuordnen sind, in einem Akt der Abstraktion hervor. Species als die das Wesen eines Dinges vermittelnden Repräsentanten sind nach diesem nominalistischen Erkenntnismodell überflüssig.116 Wie selbstverständlich schließt sich Descartes dieser Kritik an. Universalien entstehen für ihn dadurch, daß wir uns ein und derselben Idee bedienen, um an alle Individuen, die einander ähneln, zu denken.117 Universalien sind somit entstandene und hervorgebrachte Allgemeinbegriffe für sich ähnelnde singuläre Objekte. Die Idee als eine repräsentierende Funktion hat kein extramental Allgemeines als Bezugspunkt. Die scholastischen Wesenheiten (entia Scholastica) kommen allein in den Köpfen derer vor, die sie erfunden haben.118 Die cartesische
stence ou le mouuement de ces corps, qui est la seule cause des sentimens qu’il en a, n’est rien de semblable aux idées qu’il en conçoit. Et par ce moyen vostre esprit sera deliuré de totes ces petites images voltigeantes par l’air, nommées des especes intenionelles, qui trauaillent tant l’imagination des Philosophes.« 115 Meditationes III (AT VII, 39): »Ac denique, quamvis a rebus a me diversis procederent, non inde sequitur illas rebus istis similes esse debere.« 116 Vgl. Wilhelm von Ockham, Expositio in librum Perihermenias Aristotelis I, prooemium (Opera philosophica II, 351): »… species non est ponenda propter superfluitatem…« 117 Principia I 59 (AT VIII–1, 27): »Fiunt haec universalia ex eo tantùm, quòd unâ & eâdem ideâ utamur ad omnia individua, quae inter se similia sunt, cogitanda …« 118 Recherche (AT X, 517).
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Ablehnung der Lehre von den species betrifft also keineswegs allein ein Detail der erkenntnistheoretischen Tradition, sondern sie ist das Resultat eines gewandelten Wirklichkeitsbegriffs, den der Cartesianismus in Grundzügen voraussetzt. Wie tiefgreifend dieser Wandel des Wirklichkeitsbegriffs für das Selbstverständnis der Vernunft ist, läßt sich an Descartes’ Verweigerung ablesen, den menschlichen Erkenntnisakt im Sinne der augustinischen Tradition zu transzendieren. Hatte Augustinus den menschlichen Geist in seiner trinitarischen Verfaßtheit zu beschreiben und damit dem göttlichen Intellekt analog zu setzen versucht, ist für Descartes der Mensch eben nur noch gewissermaßen nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen und allein aufgrund seiner Willensfreiheit gleichsam ein Abbild und Gleichnis Gottes. Wie schon bei der Umschreibung der repräsentierenden Ideen im Bewußtsein, die ›gleichsam Bilder von Gegenständen‹ sein sollen, kommt es auch hier auf die behutsame Einschränkung an: Descartes wendet sich nicht offensichtlich gegen die Tradition der theologischen Anthropologie, separiert aber die Erkenntnistheorie vom traditionellen Bezugsrahmen. Es ist daher kein Akt der Devotion, wenn Descartes die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen an jenem bereits angeführten Beispiel illustriert, nach dem wir auch eine so einfache geometrische Form wie ein Dreieck nicht abschließend erkennen können. Zwar ist unsere Erkenntnis im besten Fall eindeutig, aber wir können nicht wissen, ob Gott in seiner Allmacht nicht mehr Wissbares in ein Ding gelegt hat, als wir zu erfassen gegenwärtig in der Lage sind. »Der Autor selbst gesteht sich von keiner Sache eine adäquate Erkenntnis zu …«119 Das Beispiel des Dreiecks ist pointiert gewählt, zieht Descartes doch ansonsten das Tausendeck als eine geometrische Form heran, die unsere Vorstellungskraft übersteigt.120 Ein Dreieck dagegen scheint evident und mit abschließender Gewißheit erfaßbar. Der formulierte Erkenntnisvorbehalt ist kaum mit einer schwierigen Nachvollziehbarkeit eines Dreiecks begründbar, sondern er leitet sich vielmehr von der grundsätzlichen Unfähigkeit des menschlichen Intellekts ab, etwas vollständig und adäquat erfassen zu können und zugleich von sich zu wissen, es vollständig und adäquat erfaßt zu haben. In der Erwiderung auf die Einwände zu den Meditationes von Arnaud erläutert Descartes diesen Erkenntnisvorbehalt. Für die adäquate Erkenntnis einer Sache sei die Kenntnis aller ihrer Eigenschaften nötig. Nun mag der von Gott geschaffene Verstand des Menschen vielleicht tatsächlich von vielen Dingen eine adäquate Kenntnis haben, so fehlt ihm doch das Wissen, daß er sie hat. Denn dazu müßte die Kraft des Erkennens der unendlichen Macht Gottes gleichkommen. Und da der Mensch über diese unendliche Kraft des Erkennens nicht verfügt, wissen wir nicht, ob Gott nichts
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Burman (AT V, 152): »Ipse enim auctor nullius rei adaequatam cognitionem sibi tribuit …« 120 Vgl. Burman (AT V, 162 f.).
§ 31 Vermittelte Wirklichkeit: Repräsentation durch species?
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weiter in eine Sache hineingelegt hat, als das, was er erkennt, das ist aber gänzlich unmöglich.121 Daher gilt: »Gott allein vermag daher zu wissen, daß er die adäquate Erkenntnis aller Dinge hat.«122 Descartes hat die schöpfungstheologischen Konsequenzen eines Voluntarismus klar gezogen. Die kontingente Welt als das Ergebnis des freien Willens eines in seinem Intellekt nicht dechiffrierbaren Gottes erzwingt die Formulierung einer Rationalitätsauffassung, für die die Erfassung des Wirklichen nicht mehr eine Spiegelung göttlicher Intellektualität ist.123 War dem mittelalterlichen Bedeutungskosmos die Gegenstandserkenntnis im Grunde das Mittel zum Selbstvollzug des menschlichen Geistes und damit zum analogen Vollzug des göttlichen Intellekts, ist dieser enge Bezug mit dem theologischen Voluntarismus aufgekündigt. Nicht nur der Gott als Schöpfer entzieht sich der Einsehbarkeit, sondern auch die von ihm geschaffene Welt tritt in eine neue Distanz zu den kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Hatte für die mittelalterliche Verklammerung der göttlichen und humanen Intellektualität mit ihrem Schnittpunkt der wahrnehmbaren Gegenstandswelt die prägnante Formel gegolten, Wahrheit sei die Angleichung von Intellekt und Ding (veritas est adaequatio intellectus et rei), so vollzieht sich am Streit um die species paradigmatisch die Aufgabe eines Repräsentationsmodells der strikten Ähnlichkeit. Dabei war die Abbildhaftigkeit des Erkennens von hoher theologischer Dignität. An Thomas von Aquin läßt sich das noch einmal resümierend ablesen, wenn er den Aspekt der Ähnlichkeit (similitudo) als ein konstitutives Moment der kosmischen Ordnung herausstellt: »Damit nun das Universum der Geschöpfe die letzte Vollkommenheit erreicht, müssen die Geschöpfe zu ihrem Ursprung zurückkehren. Die einzelnen und alle Geschöpfe kehren aber zu ihrem Ursprung zurück, insofern sie die Ähnlichkeit mit ihrem Ursprung aufgrund ihres Seins und ihrer Natur nach an sich tragen, in welchen sie eine gewisse Vollkommenheit haben … Zur vollendeten Vollkommenheit des Universums mußte es daher
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Responsiones IV (AT VII, 220): »… sed in hoc differentia est, quòd, ut aliqua cognitio sit adaequata, debeant in eâ contineri omnes omnino proprietates quae sunt in re cognitâ … Intellectus autem creatus, etsi forte revera habeat rerum multarum, nunquam tamen potest scire se habere … Ut autem sciat se illam habere, sive Deum nihil amplius posuisse in illâ re, quàm id quod cognoscit, oportet ut suâ vi cognoscendi adaequet infinitam Dei potestatem; quod fieri plane repugnat.« 122 Ebd. (AT VII, 220): »… idcirco solus est Deus qui novit se habere cognitiones rerum omnium adaequatas.« 123 Vgl. J. Cottingham, A Descartes Dictionary, a. a. O., 58: »Several results follow from the Cartesian insistence on the total omnipotence and sovereignty of God, even over the truths of logic and mathematics. To begin with, Descartes cannot … be in a position to claim that the human mind is a faithful ›mirror of nature‹, or microcosm of the divine intellect.«
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Geschöpfe geben, die nicht allein auf Grund einer Ähnlichkeit der Natur, sondern auch durch ihre Tätigkeit zu Gott zurückkehren. Das aber kann nur durch die Tätigkeit des Verstandes und des Willens geschehen, weil auch Gott sich selbst gegenüber in keiner anderen Weise tätig ist … Zur höchsten Vollendung der Dinge mußte es daher Geschöpfe geben, die auf die Weise tätig sind, in der Gott tätig ist … Damit also die Ähnlichkeit mit Gott vollkommen auf alle möglichen Weisen in den Dingen sei, mußte das Gutsein Gottes den Dingen nicht nur durch Ähnlichkeit im Sein, sondern auch durch Ähnlichkeit auf Grund von Erkennen mitgeteilt werden.«124 Der Vergleich konturiert die Distanz zwischen diesem kanonisch-mittelalterlich zu nennenden Konzept der Intellektualität als einem Gipfelpunkt der theologischen Kosmologie und der cartesischen Rationalität. So evident sie ist, so erläuterungsbedürftig ist sie auch. In Descartes’ Ablehnung der Lehre von den species als den abbildhaften Repräsentationen im Bewußtsein steckt in nuce der Abschied der frühen Neuzeit vom theologischen Holismus des Mittelalters, da sie die neue Distanz zur Wirklichkeit voraussetzt, akzeptiert und auf sie mit einem alternativen Konzept der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen reagiert. In der Lehre von den Ideen als den Repräsentationsgaranten des Wirklichen spiegelt sich diese Neufassung der Intellektualität. Mit der Ablehnung der species allein ist noch nicht viel gewonnen, da ein immerhin plausibles Erläuterungsmodell der sinnlich vermittelten Erkenntnis aufgegeben wird, ohne daß auf Anhieb klar sein kann, was repräsentierende Ideen weiterhin sind. Die Aufgabe, vor der er steht, hat Descartes selbst formuliert: Denn »auch wenn jene Ideen nicht von meinem Willen abhängen, so steht doch darum noch nicht fest, daß sie notwendigerweise von außer mir befindlichen Dingen herrühren«, und »so gibt es in mir vielleicht auch irgendeine andere, mir nur noch nicht genügend bekannte Fähigkeit, welche diese Ideen hervorbringt«.125 Was ist das 124
Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, cap. 46 (ed. Leonina XIII, 374 f.): »Ad hoc igitur quod universum creaturarum ultimam perfectionem consequatur, oportet creaturas ad suum redire principium. Redeunt autem ad suum principium singulae et omnes creaturae inquantum sui principii similitudinem gerunt secundum suum esse et suam naturam, in quibus quandam perfectionem habent… Oportuit igitur, ad consummatam universi perfectionem, esse aliquas creaturas quae in Deum redirent non solum secundum naturae similitudinem, sed etiam per operationem. Quae quidem non potest esse nisi per actum intellectus et voluntatis: quia nec ipse Deus aliter erga seipsum operationem habet… Oportuit igitur, ad summam rerum perfectionem, quod essent aliquae creatuae quae agerent hoc modo quo Deus agit… Ad hoc igitur quod similitudo Dei perfecte esset in rebus modis possibilibus, oportuit quod divina bonitas rebus per similitudinem communicaretur non solum in essendo, sed cognoscendo.« 125 Meditationes III (AT VII, 39): »… quamvis ideae illae a voluntate meâ non pendeant, non ideo constat ipsas a rebus extra me positis necessario procedere …, ita forte etiam aliqua alia est in me facultas, nondum mihi satis cognita, istarum idearum effectrix …«
§ 32 Physiologische Unmittelbarkeit und kontingente Codes
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für eine ›nur noch nicht genügend bekannte Fähigkeit‹, Ideen hervorzubringen? Descartes hat zwei Antworten formuliert. Die erste argumentiert mit einer physiologischen Unmittelbarkeit, die zweite reflektiert die angeborenen Ideen als die Konstitutionsprinzipien des aktiven Intellekts.
§ 32 Physiologische Unmittelbarkeit und kontingente Codes Es ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß dem kosmologischen Teil in Le Monde eine Physiologie des menschlichen Köpers folgte: der Traité de l’homme. Wie wichtig Descartes diese physiologische Beschreibung des Lebendigen war, kann man an seinem späteren Versuch ablesen, den er 1648 gegenüber Burman erwähnt hat,126 in einem erneuten Anlauf den Aufbau und die Funktionsweise des Organischen zu erfassen. Das Manuskript ist erst 1664 unter dem Titel La Description du corps humain erschienen. Auch wenn man uneingeschränkt die Fragwürdigkeit der physiologischen Annahmen Descartes’ zugestehen muß,127 darf die mangelnde Standfestigkeit seiner theoretischen Annahmen nicht von der Bedeutung der eingeschlagenen Perspektive ablenken. Die Physiologie war der eigentliche Anwendungsfall der im Rahmen seiner Kosmologie eingeführten Weltsicht mechanisch autonomer Abläufe. Die mechanistische Beschreibung des Organischen ist nicht eine Ergänzung, sondern die zu wagende Konsequenz seiner Kosmologie.128 Noch Schopenhauer wird davon sprechen, die Physiologie sei »der Gipfel der gesamten Naturwissenschaft«.129 Descartes’ Physiologie ist im Kontext einer Theorie der Repräsentation von Realem bedeutsam, da ihr eine Klärung der Genese von Ideen zugewiesen wird. Dabei arbeitet Descartes mit der Hypothese, Ideen seien körperliche Entitäten. Dieser Ansatz eines physiologischen Bestimmungsversuchs von Ideen kann nur auf den ersten Blick überraschen. Angesichts einer kontingenten Welt und einer humanen Intellektualität, die in keinem Abbildungsverhältnis zur göttli-
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Burman (AT V, 170 f.). Vgl. K. E. Rothschuh, Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert, Freiburg/München 1968, 115: »Insgesamt ist die Descartessche Organismuslehre offensichtlich durchsetzt von falscher Anatomie (z. B. des Gehirns) und falscher Physiologie (z. B. der Herzaktion), so daß die Physiologen zwar das Prinzip der rein mechanischen Interpretation vielfach akzeptierten, doch im einzelnen zu besseren Hypothesen zu kommen suchten.« 128 Vgl. St. Gaukroger, Descartes’ System of Natural Philosophy, a. a. O., 21: »In some ways, L’Homme was even more radical than Le Monde.« 129 A. Schopenhauer, Brief an Julius Frauenstädt vom 15. Oktober 1852 (Gesammelte Briefe, ed. A. Hübscher, 296). Schopenhauer fügt hinzu, die Physiologie sei zugleich »ihr dunkelstes Gebiet«.
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
chen mehr steht, wird die rationale Erkennbarkeit von Kontingentem prekär. Garantieren die Naturgesetze, die Descartes zunächst anhand seiner Kosmogonie eingeführt hat, jene rationalen Konstanten, die eine Erkennbarkeit des Kontingenten ermöglichen, ist eine physiologische Annäherung an den Erkenntnisakt durchaus plausibel. Wenn dieser sich mechanistisch erklären läßt, ist seine kontingente Objektivität garantiert. Der Weg einer Erkenntnistheorie über die Physiologie ist der Versuch, sich einer bedingten Notwendigkeit zu versichern. Dazu ist zunächst die mögliche Autonomie der physiologischen Abläufe vorauszusetzen. Hatte Descartes – anders als Gassendi – für das kosmische Naturgeschehen die Möglichkeit eines göttlichen Eingriffs nach der Schöpfung abgewehrt, verteidigt er nun die autonome Regelhaftigkeit auch für organische Abläufe, die von mentalen Einflüssen unabhängig sein sollen. »In der Tat kann man wohl Schwierigkeiten haben zu glauben, daß allein der Zustand der Organe hinreicht, um in uns all die Bewegungen zu erzeugen, die nicht durch unser Denken bestimmt werden; deshalb ist es hier mein Vorhaben, dies zu beweisen und die ganze Maschine unseres Körpers so darzulegen, daß wir nicht mehr Anlaß zu der Annahme haben, daß es unsere Seele ist, welche in ihr die Bewegungen hervorruft, die nach unserer Erfahrung nicht durch unseren Willen gelenkt werden, als anzunehmen, daß es in einer Uhr eine Seele gibt, welche Stunden anzeigt.«130 Die Plausibilität einer organischen Mechanistik liegt in der offensichtlich begrenzten Einwirkungskraft mentaler Befehle: Wir können nicht Selbstmord begehen, indem wir dem Herzen befehlen, nicht mehr zu schlagen. Für eine physiologische Theorie der Erkenntnis ist das bedeutsam, da Descartes die Lehre rezeptiver Seeleneindrücke unter seinen zeitgenössischen Bedingungen modernisieren kann. Welche Bedeutung Descartes diesem Ansatz zuschreibt, läßt sich daran ermessen, daß er für die physiologische Beschreibung des Menschen die inaugurative Rhetorik der Spekulation, die schon seine Kosmogonie prägte, wiederholt. Wie bei dieser ist die Materialität des Wirklichen der Ausgangspunkt sowohl für eine neue Welt als auch für einen neuen Menschen, wenn man unter dem Attribut der Novität die innovative Perspektive radikaler Rationalisierung versteht. Descartes beginnt seine Neudefinition des humanen Körpers durch ein fast beiläufiges Zitat einer Anthropogenese: Ovids Erzählung der Menschwerdung einer Statue einer vollkommenen Frau, die Pygmalion sich aus Elfenbein 130
Description I, Preface V (AT XI, 226): »Il est vray, qu’on peut auoir de la difficulté à croire, que la seule disposition des organes soit suffisante pour produire en nous tous les mouuemens qui ne se determinent point pas nostre pensée; c’est pourquoy ie tascheray icy de le prouuer, & d’expliquer tellement toute la machine de nostre corps, que nous n’aurons pas plus de sujet de penser que c’est nostre ame qui ecxite en luy les mouuemens que nous n’experimentons point estre conduits par nostre volonté, que nous en auons de iuger qu’il y a vne ame dans vne horloge, qui fait qu’elle monstre les heures.«
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geschnitzt hat.131 »Ich nehme einmal an, daß der Körper nichts anderes sei als eine Statue oder Maschine aus Erde, die Gott ganz in der Absicht formt, sie uns so ähnlich wie möglich zu machen, und zwar derart, daß er ihr nicht nur äußerlich die Farbe und die Gestalt aller unserer Glieder gibt, sondern auch in ihr Inneres alle jene Teile legt, die notwendig sind, um sie laufen, essen, atmen, kurz all unsere Funktionen nachahmen zu lassen, von denen man sich vorstellen könnte, daß sie aus der Materie ihren Ursprung nehmen und lediglich von der Disposition der Organe abhängen.«132 Wie bei der Kosmogonie kommt es hier auf den Aspekt der kontingenten Notwendigkeit an: Der menschliche Organismus ist in seiner spezifischen Anordnung und Regelhaftigkeit kontingent, da er nicht zwingende Ursache seiner selbst ist und er einer Maschine gleicht, die – bei gleichem Resultat des von ihr Hervorgebrachten – auch anders konstruiert sein könnte. Zugleich nimmt die Regelhaftigkeit der organischen Abläufe ihren Ursprung aus der Materie, wie es Descartes formuliert, und folgt der Disposition der Organe. Die Parallelität der theoretischen Bemühungen geht soweit, daß nach der Kosmogenese die Embryogenese das eigentliche Kernstück der cartesischen Physiologie darstellt. Descartes hat sich damit sichtlich schwer getan, da er nicht genügend Erfahrung habe sammeln können,133 er hat aber immerhin eine Embryogenese bei Tieren als Exkurs in die Description du corps humain eingefügt. Dort wird die Genese des Organischen in seinem Ablauf ganz dem kosmogenetischen Schema nachgebildet. Waren es dort erste Ansammlungen und Trennungen der bewegten Materie, so geht Descartes davon aus, daß nach der Vermischung der Samen beider Geschlechter die bewegten Materieteilchen in ihnen von ihrer Tendenz, ihre Bewegung geradlinig fortzusetzen, durch auftauchende Widerstände aufgehalten werden und sich so ansammeln. Aus diesen Ansammlungen entstehen die verschiedenen Organe.134 Es kommt hier weder auf Details noch auf die unzureichende empirische Basis der cartesischen Embryogenese an. Was zählt, ist allein die Funktion, die sie besitzen soll. Obwohl er um ihre empirische Ungesichertheit weiß, erzählt
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Ovid, Metamorphoses X 247 ff. Descartes wird die Stelle gekannt haben – Ovid stand in La Flèche auf dem Lehrplan (vgl. St. Gaukroger, Descartes, a. a. O., 49). 132 Homme (AT XI, 120): »Ie suppose que le Corps n’est autre chose qu’vne statuë ou machine de terre, que Dieu forme tout exprés, pour la rendre la plus semblable à nous qu’il est possible: en sorte que, non seulement il luy donne au dehors la couleur & la figure de tous nos membres, mais aussi qu’il met au dedans toutes les pieces qui sont requises pour faire qu’elle marche, qu’elle mange, qu’elle respire, & enfin qu’elle imite toutes celles de nos fonctions qui peuuent estre imaginées proceder de la matiere, & ne dependre que de la disposition des organes.« 133 Description IV 27 (AT XI, 252 f.). 134 Description IV 27–30 (AT XI, 252 –255).
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Descartes eine spekulative Genese des Organischen, damit er den Geltungsraum kontingenter Notwendigkeit als einer Voraussetzung rationaler Verfügbarkeit möglichst weit ausdehnen kann. Deshalb muß es ihm darauf ankommen, eine zwingende Mechanik des Organischen gegen die traditionellen Annahmen von Vermögen, den facultates animae, als den Antriebsursachen durchzusetzen. Es waren vor allem die Physiologiae libri VII in der Universa Medicina des Jean Fernel, die 1567 in Paris erstmalig gedruckt wurden, aber noch im 17. Jahrhundert weit verbreitet waren, die Descartes hier als Tradition vor Augen haben konnte. Die Ursache für die Verrichtungen des Körpers sei die Seele, heißt es dort.135 Nicht allein Descartes, sondern vor allem Giovanni Alfonso Borelli, der aus der Schule Galileis stammte, opponierte gegen derartige Erklärungen des Organischen durch einen Rekurs auf Mentales und verteidigte die unbedingte Notwendigkeit mechanischer Gesetzmäßigkeit des biologischen Körpers.136 Vor diesem skizzierten Hintergrund ist es verständlicher, daß Descartes versucht, die Genese von Ideen, die Gegenstände repräsentieren, zunächst physiologisch zu erklären. Sinneseindrücke, die auf die Sinnesorgane treffen, regen demnach – mechanistisch gedacht – die feinen Nervenbahnen an. Sowohl beim Tastsinn, als auch beim Schmecken, Riechen, Hören und Sehen werden die Eindrücke durch eine Einwirkung auf die Nerven vermittelt. Das führt etwa beim Sehen dazu, »daß die Gegenstände, die wir betrachten, recht vollkommene Bilder dieser Gegenstände in den Grund unserer Augen einprägen«.137 Die mit der Netzhaut der Augen verbundenen Nerven leiten nun diesen optischen Eindruck an das Gehirn weiter. Man müsse sich dabei die Seele so beschaffen vorstellen, »daß die Kraft der Bewegungen, die sich an den Stellen des Gehirns finden, von denen die kleinen Fäden des optischen Nervs (les petits filets des nerfs optiques) ausgehen, in ihr die Empfindung des Lichts hervorruft und die Art dieser Bewegungen die der Farbe …«138 Das entscheidende Organ innerhalb des Gehirns ist die Zirbeldrüse, in der sich der durch die Nervenbahnen weitergeleitete Abdruck des Sinneseindrucks als letzte physische Instanz abbildet. »Nun sind es von diesen Figuren nicht jene, die sich den äußeren Sinnesorganen oder der inneren Hirnoberfläche
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J. Fernel, Universa Medicina: Physiologia, Paris 1567, lib. V, cap. 1: »… vt sit anima principium et causa functionum viuentis corporis.« Zitiert nach der Ausgabe: The Physiologia of Jean Fernel (1567), lat./engl., translated and annotated by J. M. Forrester, Philadelphia 2003, 304. 136 Zu Borelli vgl. K. E. Rothschuh, Physiologie, a. a. O., 108–111. 137 Dioptrique V (AT VI, 114): »… que les obiets que nous regardons, en impriment d’assés parfaites dans le fonds de nos yeux …« 138 Dioptrique VI (AT VI, 130): »… que la force des mouuemens, qui se trouuent dans les endroits du cerueau d’où vienent les petits filets des nerfs optiques, luy fait auoir le sentiment de la lumiere; & la façon de ces mouuemens, celuy de la couleur …«
§ 32 Physiologische Unmittelbarkeit und kontingente Codes
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einprägen, sondern nur jene, die sich in den Partikeln auf der Oberfläche der Drüse … bilden, wo sich das Vorstellungsvermögen und der allgemeine Wahrnehmungssinn befinden, die als Ideen aufgefaßt werden müssen, das heißt die Formen oder Bilder, die die vernünftige Seele unmittelbar betrachten wird, wenn sie mit dieser Maschine verbunden ist und sich ein Objekt vorstellen oder ein Objekt wahrnehmen wird.«139 Der so gewonnene Objektivismus einer physiologischen Repräsentation von Realem macht die Attraktivität dieses Modells aus. Die wahrgenommenen Gegenstände verursachen auf mechanistische Weise Eindrücke in unseren Sinnesorganen, die als Abdrücke der Zirbeldrüse vermittelt werden und dort von dem Intellekt betrachtet werden können. Die auf physiologische Weise entstandenen Ideen teilen die materielle Objekthaftigkeit mit den Gegenständen, die sie repräsentieren. Descartes kann daher von der Sinneswahrnehmung als dem passiven Vermögen sprechen, Ideen der Sinnesdinge zu empfangen und zu verstehen.140 Wie schon bei Descartes’ Ablehnung der species in den Blick gekommen ist, ist das eigentlich Innovative an seiner Repräsentationstheorie die Aufgabe eines strikten Abbildungsverhältnisses. Dieser entscheidende Schritt läßt sich auch innerhalb seiner Physiologie der Ideengenese wiederfinden. Durch einen Vergleich wird das deutlich. In seiner 1611 erschienenen Dioptrice geht Johannes Kepler bei seiner Physiologie der Sinneseindrücke von einem strikten Abbildungsverhältnis aus: Sehen bedeutet für ihn, »die Reizung der Netzhaut fühlen, soweit sie gereizt wird. Die Netzhaut wird bemalt von den farbigen Strahlen der sichtbaren Welt.«141 Die Netzhaut ist gleichsam eine Leinwand, auf der sich die gesehene Welt abbildet – auch Hobbes stellt heraus, wenn er sich einen Menschen denke, stelle er sich eine Idee oder ein Bild vor, das sich aus bestimmten Farben und Figuren zusammensetze.142 Für Descartes bedeutet das aber nicht, daß die Repräsentation von wahrgenommenen Dingen ein Abbildungsverhältnis impliziert, wie er es schon in den Regulae ausführt. Zur Unterscheidung von Weiß, Blau und
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Homme (AT XI, 176 f.): »Or, entre ces figures, ce ne sont pas celles qui s’impriment dans les organes des sens exterieurs, ou dans la superficie interieure du cerueau, mais seulement celles qui se tracent dans les esprits sur la superficie de la glande …, où est le siege de l’imagination, & du sens commun, qui doiuent estre prises pour les idées, c’est à dire pour les formes ou images que l’ame raisonnable considerera immediatement, lors qu’estant vnie à cette machine elle imaginera ou sentira quelque objet.« 140 Meditationes VI (AT VII, 79): »Jam verò est quidem in me passiva quaedam facultas sentiendi, sive ideas rerum sensibilium recipiendi & cognoscendi …« 141 J. Kepler, Dioptrice, 61. Propositio (Gesammelte Werke IV, 372): »Videre, est sentire affectam retiformen, quatenus affecta. Retiformis tunica pingitur à radijs coloratis rerum visibilium.« 142 Objectiones III (AT VII, 179): »Cùm hominem cogito, agnosco ideam, sive imaginem constitutam ex figurâ & colore …«
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Rot reiche es völlig aus, über Figuren zu verfügen, die diese unterschiedlichen Farben repräsentieren: Für Weiß steht dann etwa eine Figur aus parallelen Strichen, für Blau eine Figur aus Quadraten und für Rot eine Figur aus Quadraten, die über eine eingezeichnete Diagonale verfügen.143 Allein durch diese Figuren können die Ideen aller Dinge entworfen werden.144 Was also physiologisch abgebildet wird, sind keine Bilder im strikten Sinne, wie es Kepler annimmt, sondern Codes.145 Die Ideen der Zirbeldrüse sind verschlüsselte Repräsentanten von Wirklichem. Es ergibt sich also die Abfolge: (a) optisch wahrnehmbarer Gegenstand, (b) figurale Wiedergabe dieses Gegenstandes und (c) Bildung einer Idee. Dabei ist (b) zwar von (a) kausal verursacht, (b) ist aber kein striktes Abbild von (a). Folglich ist auch (c) kein striktes Abbild von (a). Mag auch eine rein physiologische Ideenlehre unübersehbar an ihre Grenzen stoßen,146 ist Descartes’ physiologischer Ansatz dennoch aufschlußreich, soll er doch eine der Vorstellung von species analoge Zuverlässigkeit im Sinne einer Kausalrelation von repräsentiertem Objekt und repräsentierender Idee bieten. Zugleich wird er dem gewandelten Wirklichkeitsverständnis gerecht, wonach das Wirkliche nicht länger seine Intelligibiliät den Ideen im göttlichen Intellekt verdankt. Wenn die Reizübermittlung von sinnlich wahrnehmbaren Dingen codiert abläuft und diese Codes keine strikte Abbildung des Repräsentierten sind, dann ist die spezifische Gestalt des Codes selbst nicht notwendig. Es ist zwar für einen verläßlichen Gebrauch von Codes zwingend, daß diese in ihrer Verwendung eindeutig und invariabel sind, aber es ist nicht notwendig, daß – in dem Beispiel Descartes’ – etwas Weißes durch die Figur paralleler Striche und etwas Blaues durch die Figur von Quadraten wiedergegeben wird; es könnte auch umgekehrt sein. Die physiologische Vermittlung von Eindrücken ist daher kontingent, wie Descartes selbst betont: »Es ist wahr, daß die Natur des Menschen von
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Regulae XII (AT X, 413). Regulae XIV (AT X, 450): »Quod attinet ad figuras, jam suprà ostensum est, quomodo per illas solas rerum omnium ideae fingi possint …« 145 So nennt sie Dominik Perler, Repräsentation bei Descartes, a. a. O., 29 ff. 146 Martin Schneider hat in seiner Studie Das mechanistische Denken in der Kontroverse, a. a. O., 474, mit Blick auf Descartes’ mechanistischen Ansatz kritisiert, es könne das »Entstehen der Ideen durch Einwirkung der res extra auf unsere Sinnesorgane … nur durch die fragwürdige und widersprüchliche Inanspruchnahme verschiedener Formen der Kausalität … veranschaulicht werden, ohne daß hiermit das ›Umschlagen‹ von Materie in Geist (die Umwandlung eines materiellen Bildes in eine mentale Idee) seine Explikation« finde. In dieser erkenntnistheoretischen Aporie spiegelt sich – was auch Schneider sieht – die grundsätzlichere Aporie wieder, einen Substanzendualismus anzunehmen. Da Descartes von diesem Dualismus ausgeht, muß ihm die epistemologische Interaktion gleichsam als das kleinere Problem erscheinen: Er versucht es als das zu beschreiben, was er als alltäglich funktionierend erlebt.
§ 32 Physiologische Unmittelbarkeit und kontingente Codes
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Gott so hätte konstituiert werden können, daß dieselbe Bewegung im Gehirn dem Geist irgendetwas anderes darbieten würde …«147 Die Einführung von kontingenten Codes in den Wahrnehmungsakt ist spektakulär. Sie läßt nicht nur das gängige Modell einer ›unmittelbaren Vermittlung‹ hinter sich, wie es Kepler noch vertreten hat, sie führt vielmehr den Aspekt der Distanz in den vom Ideal der Unmittelbarkeit geprägten Wirklichkeitsbezug ein. Zum Vergleich: Die Sinnesempfindung (sensation) ist für Hume ein Eindruck (impression), der eine einfache Vorstellung (simple idea) generiert. Hume stellt nun als allgemeinen Lehrsatz (general proposition) auf, daß alle zur Verfügung stehenden einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrücken stammen, welche ihnen enstprechen und die sie genau (exactly) repräsentieren.148 Descartes dagegen betont die einsetzende Distanz im Akt der Repräsentation von Wirklichem: »Da ich nämlich sicher bin, daß ich von dem, was außerhalb von mir ist, nur durch die Vermittlung der Ideen, die ich davon in mir gehabt habe, eine Kenntnis haben kann, hüte ich mich davor, meine Urteile unmittelbar auf die Dinge zu beziehen und ihnen etwas Positives zuzuschreiben, was ich nicht zuvor in ihren Ideen wahrnehme …«149 Immerhin müsse man sich klar machen, daß »von keinen Dingen die Ideen uns so, wie wir sie im Denken bilden, von ihnen dargeboten werden«.150 Mit Descartes’ Absage an das Modell der isomorphen Abbildung hat das Moment der Kontingenz durch die prinzipielle Varianz der Codes in die Theorie der sinnlichen Erkenntnis Einzug gehalten. Dabei setzt die Kontingenz der Codierung den Gedanken der Kontingenz der Leibhaftigkeit des Menschen fort. Zwar ist es für diesen von Gott geschaffenen Menschen notwendig, ein Kompositum aus Leib und Seele zu sein, aber da keine intrinsische Dependenz zwischen den beiden Substanzen besteht, muß der Geist nicht notwendig mit dieser Art von Körper verbunden sein. Die prinzipielle Leibhaftigkeit ist aufgrund des göttlichen Willens zwar für den Menschen notwendig, aber der konkrete Leib ist kontingent. Als eine Maschine könnte er auch anders gestaltet sein.151 Demnach
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Meditationes VI (AT VII, 88): »Potuisset verò natura hominis a Deo sic constitui, ut ille idem motus in cerebro quidvis aliud menti exhiberet …« 148 D. Hume, A Treatise of Human Nature I, part I, sect. 1 (ed. P. H. Nidditch, 4): »That all our simple ideas in their fist appearance are deriv’d from simple impressions, which are correspondent to them, and which they exactly represent.« 149 Brief an Gibieuf, 19. Januar 1642 (AT III, 474): »Car, estant assuré que ie ne puis auoir aucune conoissance de ce qui est hors de moy, que par l’entremise des idées que i’en ay eu en moy, ie me garde bien de raporter mes iugemens immediatement aux choses & de leur rien attribuer de positif, que ie ne l’apperçoiue auparauant en leurs idées …« 150 Notae (AT VIII–2, 358): »… nullarum rerum ideas, quales eas cogitatione formamus, nobis ab illis exhiberi …« 151 Vgl. § 25.
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
ist der sinnliche Wirklichkeitsbezug ohnehin so kontingent wie die Sinne, die wir nicht notwendigerweise besitzen. Die Einführung von kontingenten Codes innerhalb des Wahrnehmungsaktes ist daher nur der nächste und konsequente Schritt. § 33 Angeborene Ideen als Konstitutionsprinzipien des aktiven Intellekts Descartes ist zeitlebens von seiner physiologischen Theorie der Ideen nicht abgerückt, aber er hat sie erweitert. Das war notwendig, da die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmung durch das Programm des methodischen Zweifels in ihrer Selbstverständlichkeit bedroht wurde und er mit ihr zum Beispiel nicht erklären konnte, wie die Idee Gottes diesen zu repräsentieren vermag, entzieht sich Gott als Gegenstand des Denkens doch dem sinnlichen Wahrnehmungsprozeß. Was Descartes als eine erweiterte philosophische Theorie der Ideen vorgelegt hat, ist für den Zusammenhang von Kontingenz und Rationalität besonders in einer Hinsicht aufschlußreich: Kontingenz zwingt den Intellekt zur Aktivität und zu einem intentionalen Bezug auf Gegenstände. Um dieser Konsequenz der philosophischen Ideenlehre Descartes’ Kontur zu verleihen, hat man sich zunächst zu vergegenwärtigen, daß der Erkenntnisakt seine Objektivität im traditionellen Modell einer isomorphen Abbildung aus dem Umstand bezog, dem Prinzip nach passiv sein zu können. Bei Thomas von Aquin impliziert die Formel, Wahrheit sei die Angleichung eines Dinges und des Intellekts (veritas est adaequatio rei et intellectus), genau betrachtet, die Angleichung des Intellekts an den Gegenstand. In einem gewissen Sinn erleidet der Intellekt die Erkenntnis der Dinge. Für Thomas sind die Dinge ausdrücklich das Maß des theoretischen Intellekts, der von den Dingen empfängt und durch sie gleichsam bewegt wird.152 Ein Ding, das außerhalb der Seele ist, bewegt den Verstand.153 Der Intellekt empfängt gleichsam die Erkennbarkeit des Erkannten, da dieses von Gott auf die Erkennbarkeit hin geschaffen worden ist. Die kognitive Aktivität besteht daher in der Rezeption. Der Akt des Erkennens wird dabei eindeutig vom Erkannten geleitet, denn »jede Erkenntnis erfolgt durch eine Angleichung des Wissenden an das Gewußte«.154 Der aristotelische Hylemorphismus, den Thomas voraussetzt, macht dieses Modell plausibel: Als Kompositum aus Form und Materie ist der erkannte 152
Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De veritate, qu. 1, art. 2 (ed. Leonina XXII–1, 9): »… sed intellectus speculativus, quia accipit a rebus, est quodam modo motus ab ipsis rebus, et ita res mensurant ipsum …« 153 Ebd. (ed. Leonina XXII–1, 9): »… res quae est extra animam movet intellectum …« 154 Quaestiones disputatae De veritate, qu. 8, art. 5 (ed. Leonina XXII–2, 235): »… omnis cognitio est per assimilationem scientis ad scitum.«
§ 33 Angeborene Ideen als Konstitutionsprinzipien des aktiven Intellekts
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Gegenstand selbst zum Teil geistig, insofern seine Form auf die schöpferische Idee Gottes zurückgeht. Der sich dem Gegenstand angleichende Intellekt des Menschen paßt sich also dem an, was er selbst auch ist: dem Geistigen innerhalb des Erkannten. Der Intellekt, der einen Baum erkennt, wird somit nicht selbst zu einem Baum, sondern er gleicht sich der Form des Baumes an, also seiner nichtmateriellen Idee. Dieses ›Modell der formalen Identität‹155 von Erkennendem und Erkanntem erlaubt ein irrtumsfreies Erkennen, solange der Intellekt sich der vollkommenen rezeptiven Angleichung nicht widersetzt. Das im eigentlichen Sinn zu Erkennende an einem Gegenstand ist seine formale Essenz. »In Bezug auf das Wesen der Sache … täuscht sich der Intellekt daher nicht.«156 In einem freilich nicht naiven Sinne stellt die Erkennbarkeit des formalen Strukturprinzips eines Gegenstandes die kognitive Verbindung mit dem schöpferischen Intellekt Gottes her. Kontingent ist daher für Thomas, wie gezeigt wurde, allein die Existenz eines Gegenstandes, nicht seine Essenz. Da für Descartes nicht nur die Existenz eines Gegenstandes nicht notwendig ist, sondern auch die Prinzipien seiner Verfaßtheit im absoluten Sinne kontingent sind, ist ihm ein derart rezeptives Erkenntnismodell verwehrt. Für ihn steht im Rahmen einer Theorie der Ideen nicht einmal fest, daß sie notwendigerweise von außer ihm befindlichen Dingen herrühren.157 Die Denkbarkeit des Erkennbaren muß sich nicht länger dem Seienden verdanken, sondern entspringt der Potenz des Intellekts, und »so gibt es in mir vielleicht auch irgendeine andere, mir nur noch nicht genügend bekannte Fähigkeit, welche diese Ideen hervorbringt«.158 Bei dieser Formulierung kommt alles auf die facultas an, die Fähigkeit, die Anlage oder das Vermögen, Ideen hervorzubringen. Ideen sind angeborene Fähigkeiten im Sinne von Dispositionen. Es ist aufschlußreich, daß Descartes die Genese der angeborenen Ideen zunächst aus seiner Physiologie zu entwickeln versucht. Im Rahmen seiner spekulativen Genese des menschlichen Körpers hatte Descartes davon gesprochen, die Funktionsweisen nähmen aus der Materie ihren Ursprung und hingen ab von der Disposition der Organe (la disposition des organes).159 Die sich aus der Materie bildenden Organe stellen die Anlage dar, über die Funktionsweisen des Körpers zu verfügen. Einem Körper ohne Herz würde die organische Anlage fehlen, einen Blutkreislauf auszubilden. In den Notae in programma überträgt 155 156
Vgl. D. Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter, a. a. O., 31–105. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 85, art. 6 (ed. R. Busa II, 312): »unde circa quidditatem rei … intellectus non fallitur.« 157 Meditationes III (AT VII, 39): »… non … constat ipsas a rebus extra me positis necessario procedere …« 158 Ebd. (AT VII, 39): »… ita forte etiam aliqua alia est in me facultas, nondum mihi satis cognita, istarum idearum effectrix …« 159 Homme (AT XI, 120).
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Descartes den Begriff der Disposition auf die Genese von Ideen, die er für angeboren hält. Wie der Körper angeborene Organe besitzt, die seine organischen Möglichkeiten ausmachen, enthält der menschliche Geist angeborene Ideen als bestimmte Fähigkeiten, entsprechende Denkakte auszubilden. Wie nun der Körper Dispositionen besitzt, durch Vererbung bestimmte Krankheiten hervorzubringen oder eine Person in ihrem Charakter mitzubestimmen, geht Descartes davon aus, daß wir über angeborene Ideen als vergleichbare Dispositionen verfügen, eben so, »wie wir sagen, Großzügigkeit sei einigen Familien angeboren, anderen aber gewisse Krankheiten wie Gicht oder ein Steinleiden: nicht etwa weil die Kinder dieser Familien im Mutterleib an diesen Krankheiten leiden, sondern weil sie mit einer bestimmten Disposition oder Veranlagung (quâdam dispositione sive facultate), an diesen zu erkranken, geboren sind.«160 In diesem Sinn haben wir angeborene Ideen nicht von Beginn an als Inhalte unseres Denkens präsent, aber wir verfügen von Anfang an über die Möglichkeit, sie auszubilden. Wie ein Mensch, der über die organischen Bedingungen des Laufen-Könnens verfügt, nicht schon als Kleinkind läuft, aber dennoch diese Anlage auf Dauer so ausbilden kann, daß er ein Marathon-Läufer wird, hat der menschliche Geist Ideen als Potentiale des Denkbaren in sich – etwa die Idee Gottes. Zwar unterscheidet Descartes in einem speziellen Sinn angeborene, erworbene und selbst gemachte Ideen,161 dennoch ist in einem allgemeinen Sinn jede Idee eine angeborene. Im Sinne einer allgemeinen Disposition sind die Ideen als angeborene dafür verantwortlich, generell Denkakte zu ermöglichen, die sich auf Objekte beziehen können. So ist eine erworbene Idee im speziellen Sinn keine angeborene Idee, da sie sich dem Einfluß eines extramentalen Objekts verdankt. Im allgemeinen Sinn ist aber auch die erworbene Idee angeboren, insofern sie dem Geist als eine angeborene Disposition gegeben ist, eine erworbene Idee überhaupt auszubilden.162 Eine angeborene Idee im speziellen Sinn dagegen ist die apriorische Erfassung von unveränderlichen Wahrheiten, wie Gott sie durch einen kontingenten Akt für uns festgelegt hat. »Denn es ist gewiß, daß er sowohl der Urheber der Essenz als auch der Existenz der Geschöpfe ist: Diese Essenz ist nichts anderes als diese ewigen Wahrheiten …«163 Die Erkenntnis Gottes oder die Selbstgewißheit des cogito, ergo sum gehören dazu. 160
Notae (AT VIII–2, 358): »… quo dicimus, generositatem esse quibusdam familiis innatam, aliis verò quosdam morbos, ut podagram, vel calculum: non quòd ideo istarum familiarum infantes morbis istis in utero matris laborent, sed quòd nascantur cùm quâdam dispositione sive facultate ad illos contrahendos.« 161 Vgl. Meditationes III (AT VII, 37 f.). 162 Vgl. die präzise Darstellung bei D. Perler, Repräsentation bei Descartes, a. a. O., 38–47, 161–189. 163 Brief an Mersenne, 27. Mai 1630 (AT I, 152): »Car il est certain qu’il est aussi bien
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Descartes sucht bei der Einführung angeborener Ideen die argumentative Nähe zur Physiologie, da er so die kognitiven Fähigkeiten zumindest zum Teil anthropologisieren oder naturalisieren kann. Zwar gibt es offensichtlich uns von Gott angeborene und dazu prädestinierte Ideen, ausgebildet zu werden, wie eben die Idee Gottes, aber Descartes ist sowenig gezwungen, jede im Geist als Disposition vorhandene Idee unmittelbar auf Gottes Schaffung des menschlichen Intellekts zu beziehen, wie Gott nicht für jede physische Disposition eines Menschen – etwa an Gicht zu erkranken – verantwortlich gemacht werden kann. Er kann daher sagen, »daß eine Idee uns angeboren oder daß sie unseren Seelen von Natur eingeprägt ist«.164 Wenn Locke daher die Annahme angeborener Ideen scharf attackiert und die Vorstellung zurückweist, es gebe sie als »angeborene Wahrheiten« (innate Truths) 165 oder als »in unseren Geist vom Finger Gottes eingeschriebene Begriffe« (Notions writ on our Minds by the finger of God),166 dann ist damit sicherlich nicht das getroffen, was Descartes im Sinn hat. Über eine angeborene Idee als Fähigkeit oder Disposition zu verfügen, bedeutet nicht, etwa die ausgebildete Idee Gottes bereits als neugeborenes Kind präsent zu haben. Ausdrücklich betont Descartes, er verstehe unter einer angeborenen Idee nicht, daß sie von uns stets bemerkt werde – auf diese Weise nämlich gäbe es in uns überhaupt keine angeborene Idee –, sondern nur, daß wir die Fähigkeit besitzen, sie hervorzurufen.167 Angeborene Ideen sind »Samenkörner der Wahrheit, die von Natur aus in unseren Seelen sind«,168 denn »daß ich verstehen kann, was Wahrheit ist, was Denken ist, das scheine ich nicht anders woher zu haben als aus meiner eigenen Natur«.169 Es macht den systematischen Kern des cartesischen Rationalismus aus, die Prinzipien seiner Konstituierung vorzufinden und zugleich deren Entfaltung dem aktiven Subjekt zu überantworten. Dabei ist unverkennbar, daß das zu erkennende Seiende seine erkenntnisleitende Funktion eingebüßt hat. Wie der
Autheur de l’essence comme de l’existence des creatures: or cette essence n’est autre chose que ces veritez etternelles …« 164 Diese Formulierung findet sich so nicht in der lateinischen, aber in der erweiterten französischen Fassung der Responses III (AT IX–1, 147): » …que quelque idée est née auec nous, ou qu’elle est naturellement emprainte en nos ames …« 165 J. Locke, An Essay concerning Human Understanding I, ch. 2, § 3 (ed. P. H. Nidditch, 49). 166 An Essay concerning Human Understanding I, ch. 3, § 16 (ed. P. H. Nidditch, 77). 167 Responses III (AT IX–1, 147): »… ie n’entens pas qu’elle se presente toûjours à nostre pensée, car ainsi il n’y en auroit aucune; mais seulement, que nous auons en nous-mesmes la faculté de la produire.« 168 Discours VI (AT VI, 64): »… semences de Veritez qui sont naturellement en nos ames …« 169 Meditationes III (AT VII, 38): »… quòd intelligam quid sit res, quid sit veritas, quid sit cogitatio, haec non aliunde habere videor quàm ab ipsâmet meâ naturâ …«
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ordre des raisons nicht mehr der verbindlichen Vorgabe einer äußeren Ordnung folgt, sondern den rationalen Prinzipien des menschlichen Geistes geschuldet ist, verdanken die Ideen als der aktiv entfaltete Inhalt dieser rationalen Ordnung ihre Genese nicht länger einer extramentalen Fundierung, sondern generieren sich aus den Fähigkeiten des Geistes. Die ehemalige Notwendigkeit der extramentalen Ordnung schlägt um in eine intramentale Notwendigkeit der rationalen Prinzipien zur Bewältigung der nunmehr kontingenten Welt. Dieser Wende entspringt Descartes’ investigatives Aufklärungsprogramm, nach den eigenen Fähigkeiten zu suchen, Ideen selbst hervorzubringen, um den aktiven Erkenntnisbezug auf Gegenstände verständlich machen zu können. Dieser Ansatz, bei dem die ›Idee‹ zum »Leitwort der Bewußtseinsanalyse und der Explikation der Selbstgewißheit«170 wird, ist nicht, wie man meinen könnte, voraussetzungslos modern. Zwar beschreibt noch Ockham die Entstehung der für das Erkennen notwendigen intramentalen Universalien als einen natürlich verursachten Vorgang ohne irgendeine Aktivität des Intellekts oder Willens,171 aber schon Dietrich von Freiberg ist eine kopernikanische Wende innerhalb der Erkenntnislehre zugeschrieben worden.172 Immerhin betont er – in Abgrenzung vom Modell der kognitiven Assimilation bei Thomas von Aquin – den produktiven Einfluß des tätigen Intellekts auf die kategoriale Konstitution von Gegenständen: Für Dietrich ist der Intellekt das Prinzip und die wesentliche Ursache für die verstandenen Gegenstände.173 Der tätige Intellekt konstituiert den erkannten Gegenstand, »da ein Gegenstand eine bestimmte Seinsweise nur hat, insofern für ihn die eigenen derartigen Prinzipien vom Intellekt festgelegt werden«.174 Daher kann Dietrich resümieren: »Allein dies ist Erkennen, nämlich das Erfassen eines Gegenstandes gemäß dessen Festlegung auf derartige Prinzipien …«175
170
W. Halbfass, Artikel »Idee« (Abschnitt III), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, 102–113, hier 105. 171 Wilhelm von Ockham, Quaestiones variae, qu. 5, qu. disp. 3 (Opera theologica VIII, 175): »… dico quod universalia … causantur naturaliter sine omni activitate intellectus vel voluntatis …« 172 Vgl. K. Flasch, »Kennt die mittelalterliche Philosophie die konstitutive Funktion des menschlichen Denkens? Eine Untersuchung zu Dietrich von Freiberg«, in: Kant-Studien 63 (1972), 182–206. Dazu D. Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter, a. a. O., 165–177. 173 Dietrich von Freiberg, De visione beatifica 1.1.2.1., 4 (Opera omnia I, 23): »Relinquitur igitur intellectum agentem esse principium intellectorum et causam essentialem.« 174 Dietrich von Freiberg, De origine rerum praedicamentalium 5, 39 (Opera omnia III 192): »… quod res non habet hunc modum, nisi inquantum sibi ab intellectu determinantur propria principia huiusmodi.« 175 De origine rerum praedicamentalium 5, 26 (Opera omnia III, 187): »Hoc enim solum est intelligere, scilicet apprehendere rem secundum talium principiorum eius determina-
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In Bezug auf das Modell des tätigen Intellekts kommt es hier nicht auf entwicklungsgeschichtliche Details an, zumal umstritten ist, ob Dietrichs Entwurf tatsächlich von modernitätseinweisender Art ist. Theo Kobusch hat überzeugende Argumente dafür vorgelegt, die Tätigkeit des Intellekts, wie Dietrich sie vertritt, allein als eine Vollendung (complementum) des naturhaft Vorgegebenen zu verstehen, womit Dietrich sowohl in der Tradition des Thomas und des Heinrich von Gent als auch des Proklos stünde.176 Die Tätigkeit des Intellekts hätte demnach vorrangig eine ergänzende Funktion. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß sich die wachsende Plausibilität, auf einen durch den Gedanken der Kontingenz grundlegend gewandelten Wirklichkeitsbegriff mit dem Entwurf eines aktiven Intellekts zu reagieren, derartigen mittelalterlichen Antizipationen verdankt. Im Rückblick erscheint die Entfaltung der Fähigkeiten des Intellekts – Locke spricht prägnant von den intellectual faculties, abilities oder powers177 – als die konsequente Antwort auf die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, wie sie seit dem späten Mittelalter eingesetzt hat. Descartes reagiert auf diesen vielschichtigen, aber eben auch durch die Reflexion der Kontingenz begünstigten Umbruch des Seinsverständnisses mit einer aktualistischen Ideentheorie, die das Modell eines tätigen Intellekts übernimmt. Dabei ist seine Ideenlehre nicht frei von Problemen. Bereits der Umstand, daß Descartes aufgrund seiner Entwicklung von einer physiologischen zu einer philosophischen Ideenlehre unter Ideen einerseits organische Hirnzustände, andererseits Geistiges versteht, macht sie bereits auf den ersten Blick zu etwas Disparatem. Nicht allein die Tatsache, daß sich in ihr Ideen als körperliche und geistige Entitäten gegenüberstehen, sondern auch immanente Schwierigkeiten und terminologische Mehrdeutigkeiten haben die cartesische ›Idee‹ als ein »durch und durch problematisches Konstrukt«178 erscheinen lassen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Descartes mittelalterliche Konzeptionen des Erkennens hinter sich lassen wollte, ohne über eine nachmittelalterliche Terminologie zu verfügen. So sind Begriffe wie idea oder forma durch die Tradition so vielschichtig vorbelastet, daß Descartes ihrer schillernden Mehrdeutigkeit
tionem …« Es bewirkt also, wie Kurt Flasch es in seiner Einleitung zu Dietrich (Opera omnia I, XIV) zusammenfaßt, der menschliche Intellekt »erkennend die Seiendheit, entitas, der Dinge, sofern sie ein Was sind und ein quiditatives Sein haben«: »Das Ding, in seiner quiditas konstituiert, ist das Ding als dieses Ding im Relationsgeflecht seiner Bestimmungen.« 176 Th. Kobusch, »Begriff und Sache. Die Funktion des menschlichen Intellekts in der mittelalterlichen Philosophie«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2004), Heft 2, 140–157. 177 J. Locke, An Essay concerning Human Understanding II, ch. 6, § 2; II, ch. 9, § 14 (ed. P. H. Nidditch, 128, 148). 178 A. Kemmerling, Ideen des Ichs, a. a. O., 76.
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und Unterbestimmtheit oftmals nicht entgeht. Er ist sich dieser Unmöglichkeit, die Begriffe von ihrer Geschichte reinzuwaschen, sehr wohl bewußt. Über den zentralen Begriff der ›Idee‹ sagt er: »Ich habe diesen Ausdruck gebraucht, weil er unter den Philosophen bereits geläufig war, um die Formen der Perzeptionen des göttlichen Geistes zu bezeichnen, obwohl wir in Gott kein Vorstellungsvermögen erkennen; ich verfüge über keinen geeigneteren Ausdruck.«179 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten ist offensichtlich, wie Descartes die Bedeutung der von ihm verwendeten Termini umzuschmelzen bemüht ist. Kann er bereits das Denken (cogitatio) nicht allein als eine Fähigkeit (pro facultate), sondern auch als eine Tätigkeit (pro actione) beschreiben,180 so überträgt er diese sicher naheliegende Charakterisierung auch auf die Idee, welche ›material‹ betrachtet »für die Tätigkeit des Verstandes« (pro operatione intellectûs) steht, und ›objektiv‹ betrachtet »für die Sache, die durch diese Tätigkeit repräsentiert wird« (pro re per istam operationem repraesentatâ).181 Der Intellekt nimmt eine Repräsentation eines erkannten Gegenstandes nicht rezeptiv auf, sondern er operiert aktiv mit repräsentierenden Ideen, so daß die erkannten Gegenstände ›durch die Tätigkeit des Verstandes repräsentiert werden‹. Wie der göttliche Intellekt nach der traditionellen Auffassung durch seinen aktiven Umgang mit Ideen die Schöpfungsvorlagen des zu Schaffenden generierte, enthält nun der menschliche Intellekt in einem gespiegelten Verhältnis die Erkenntnismuster für mögliche Gegenstände, um sie im Akt des Erkennens zu aktualisieren und auf die so konstituierten Gegenstände anzuwenden. Der grundsätzlichen Aktivierung des Intellekts entspricht eine Ausweitung des Begriffs ›Idee‹. Salopp identifiziert Descartes die Idee mit allen Gedanken – »mit dem Wort ›Idee‹ bezeichne ich alles, was in unserem Denken sein kann«,182 »ich dehne sie auf alles aus, was gedacht wird«.183 Hat er das Denken (cogitatio) als zweifeln, verstehen, bejahen, verneinen, wollen, nicht wollen, sich vorstellen und empfinden definieren können,184 verleiht er der Idee einen entsprechenden Bedeutungsumfang: »Ich behaupte, daß wir Ideen nicht nur von allem haben, was in unserem Intellekt ist, sondern auch von allem, was im Willen ist. Denn wir können nichts wollen, ohne zu wissen, daß wir es wollen; und wir könnten
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Responsiones III (AT VII, 181): »Ususque sum hoc nomine, quia jam tritum erat a Philosophis ad formas perceptionum mentis divinae significandas, quamvis nullam in Deo phantasiam agnoscamus; & nullum aptius habebam.« 180 Responsiones III (AT VII, 174). 181 Meditationes, Praefatio (AT VII, 8). 182 Brief an Mersenne, 16. Juni 1641 (AT III, 383): »… par le mot Idea, i’entens tout ce qui peut estre en nostre pensée …« 183 Responsiones V (AT VII, 366): »… ego verò ad id omne quod cogitatur, extendo …« 184 Meditationes II (AT VII, 28): »Res cogitans. Quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, & sentiens.«
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das ohne eine Idee nicht wissen …«185 Entgegen dem traditionellen Verständnis der Ideen als Repräsentationen von etwas Intellektuellem weist Descartes den Ideen ihren Ort auch im voluntativen Handeln und im Empfinden zu, denn »wenn ich etwas will oder fürchte, dann nehme ich zugleich wahr, daß ich will bzw. fürchte; und deshalb wird das Wollen selbst bzw. die Furcht von mir zu den Ideen gerechnet«.186 Die Idee wird somit – in der klassischen Formulierung – zur prägenden Form aller möglichen Gedanken als Bewußtseinsinhalte: »Unter ›Idee‹ verstehe ich jene Form jedes beliebigen Gedankens, durch deren unmittelbare Perzeption ich mir dieses Gedankens bewußt bin …«187 Auch wenn der Begriff der forma cogitationis unterbestimmt bleibt,188 kann er in einem allgemeinen Sinn als ein terminologischer Vermerk genommen werden, demzufolge Gedanken durch Ideen konstituiert sind. Entscheidend ist dabei der intentionale Verweis: Gedanken sind nie einfach nur Gedanken, sondern sie sind Gedanken von etwas. Durch ihre Bestimmheit als Ideen sind Gedanken die Tätigkeit des Repräsentierens von Inhalten aller Art. Ideen sind mentale Akte mit Inhalt. Demzufolge gibt es kein inhaltsleeres Denken, keinen Intellekt im Leerlauf. Wer nimmt nicht wahr, fragt Descartes, daß er etwas (aliquid) versteht?189 Die Begriffe cogitatio und idea werden von Descartes soweit angenähert, daß sie fast zusammenfallen, dennoch bleibt die zu reflektierende Differenz kenntlich, nach der die Idee das formende Moment des Gedankens als eines Gedankens von etwas darstellt. Es ist in der philosophischen Ideenlehre Descartes’ von vielem die Rede, nicht aber von Kontingenz. Dennoch ist die ihr zugrunde liegende Abkopplung vom göttlichen Intellekt eine Bedingung der Notwendigkeit ihrer Formulierung. Aufgrund der von Descartes durchgängig betonten Unbegreiflichkeit Gottes werden die Ideen gänzlich in den menschlichen Intellekt verlagert. Als Ideen sind sie nicht Entitäten, die der Geist in irgendeiner Weise empfängt und betrachtet, sondern sie sind die Aktivität des Intellekts selbst, denn »ich behaupte nicht, daß
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Brief an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 295): »Ie pretens que nous auons des idées non seulement de tout ce qui est en nostre Intellect, mais mesme de tout ce qui est en la Volonté. Car nous ne sçaurions rien vouloir, sans sçauoir que nous le voulons, ny le sçauoir que par vne idée …« 186 Responsiones III (AT VII, 181): »… cùm volo & timeo, quia simul percipio me velle & timere, ipsa volitio & timor inter ideas a me numerentur.« 187 Responsiones II (AT VII, 160): »Ideae nomine intelligo cujuslibet cogitationis formam illam, per cujus immediatam perceptionem ipsius ejusdem cogitationis conscius sum …« 188 Für Andreas Kemmerling, der in seinen Untersuchungen zu den Ideen des Ichs (a. a. O., 17–76) ausführlich den möglichen Bedeutungen des Formbegriffs innerhalb der cartesischen Ideenlehre nachgeht, ist der Ausdruck forma cogitationis »eine Phrase ohne erklärende Kraft, die niemals in seine Theorie des Geistes eingebettet wird« (75). 189 Objectiones III (AT VII, 188): »Quis enim est qui non percipiat se aliquid intelligere?«
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
diese Idee etwas anderes ist als die Handlung selbst«.190 Das epochemachende dieser cartesischen Auffassung von Erkenntnis ist in der These zu sehen, »daß das Bewußtsein den Akt der Konstituierung des Erkannten reflektiert und das Erkannte als von ihm konstituiert erkennt«.191 Dabei sind die Prinzipien, nach denen der Intellekt seine Aktivität entfaltet, von Gott bestimmt. Da der Geist in einem allgemeinen Sinn alle Ideen als angeborene Dispositionen vorfindet, kann Descartes in diesem Sinn sagen, »daß in den Geist eines Menschen nicht der geringste Gedanke einzutreten vermöchte, dessen Eintritt Gott nicht will und nicht von aller Ewigkeit her gewollt hat«.192 Damit ist nicht die Souveränität des Denkens untergraben, wohl aber die Abhängigkeit des Denkens von Prinzipien reflektiert, die der Geist sich nicht selbst verliehen hat.193 Sie sind als von Gott kontingent ausgewählte für den Menschen notwendig. Als für den menschlichen Geist verläßliche und notwendige Konstanten seiner Tätigkeit ermöglichen sie dennoch keinen Einblick in die Tätigkeit des göttlichen Intellekts. Die Kontingenz der notwendigen Prinzipien ist der Riegel, den Gott vor eine mögliche Dechiffrierung geschoben hat. Die Aufkündigung eines analogen Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Geist durch die Reflexion der Kontingenz bestimmt daher die Ausgangssituation der versuchten Neubestimmung dessen, was unter einer Idee zu verstehen ist. Bei allen Schwächen, die man der cartesischen Ideenlehre zuschreiben kann, besteht ihre Stärke in dem konsequent durchgeführten Versuch, auf diese Herausforderung eine moderne Antwort formuliert zu haben.
190 Brief
an Mersenne, 28. Januar 1641 (AT III, 295): »… ie ne mets point que cette idée soit differente de l’action mesme.« 191 Th. Kobusch, Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache, Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 1987, 234. 192 Brief an Elisabeth, 6. Oktober 1645 (AT IV, 314): »… qu’il ne sçauroit entrer la moindre pensée en l’esprit d’vn homme, que Dieu ne veuille & ait voulu de toute eternité qu’elle y entrast.« In den Notae in Programma (AT VIII–2, 358) betont Descartes, daß es nichts in unseren Ideen geben kann, was dem Geist oder dem Vermögen zu denken nicht angeboren ist: »Adeò ut nihil sit in nostris ideis, quod menti, sive cogitandi facultati, non fuerit innatum …« 193 Schon die physiologische Beschreibung der Genese von materiellen Ideen im Sinne von Gehirnzuständen hatte dieses Modell festgelegter Aktivität enthalten: Der Leib empfängt nicht rein rezeptiv Sinneseindrücke, sondern geht mit ihnen aktiv um, indem er sie codiert weiterleitet und verarbeitet. Dennoch hat erst die philosophische Ideentheorie den Aspekt des aktiven Erkennens im Sinne einer Konstituierung des erkannten Gegenstandes als Gegenstand vollends freigelegt.
§ 34 Reine Rationalität und die Notwendigkeit eines Empirismus
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§ 34 Reine Rationalität und die Notwendigkeit eines Empirismus Es ist paradox, daß sich der Rationalismus des 17. Jahrhunderts bis zur Anschaulichkeit hat verdichten lassen. Wäre Descartes nur ein wenig älter geworden, hätte er Zeuge werden können, wie begonnen wurde, eine rationale Landschaft zu entwerfen: im Park von Versailles. In diesem französischen Landschaftsgarten par excellence hat sich anschaulich realisiert, was die Attraktivität des Rationalismus in seinem Zeitalter ausmachte.194 Mit großem Aufwand – es waren zeitweilig bis zu 18 000 Arbeiter beschäftigt – wurde das sumpfige und unebene Gelände in ein planes Fundament umgewandelt, auf dem ein geometrisch ausgerichteter Park entstehen konnte. In dieser rationalisierten Landschaft wird der organische Wuchs der Pflanzen auf ein uniformiertes Maß zurechtgestutzt, so daß das Defilée der Anpflanzungen die Linie bildet, dem das Auge folgen soll. Diese Denaturierung der Natur etabliert als Park eine zweite Ordnung innerhalb der botanischen Welt. Der zwar nicht zufällige, aber doch unregelmäßige Wuchs der Pflanzen wird idealisiert und korrigiert. Noch das Spalier der Götterstatuen dient der Ausrichtung des Blicks. Es ist sicherlich richtig beobachtet, daß durch diese Inszenierung der Park zu einem Bild wird, das betrachtet und durchschritten werden kann. Insofern kommt die Geometrisierung des Organischen einer »Verlandschaftlichung des zentralperspektivischen Gerüstes«195 gleich. Der Kern des perspektivischen Bildes ist aber die Rationalisierung des Blicks, seitdem die Malerei der Renaissance die Zentralperspektive beherrschte und die korrekte Raumtiefe nicht mehr durch malerisches Geschick, sondern durch mathematische Berechnung erzeugen konnte. Der Park von Versailles ist das säkularisierte Gegenstück zur gotischen Kathedrale.196 Fand die mittelalterliche Seinsmetaphysik mit ihrer anagogischen Dynamik der vertikalen Dignitätsskala ihren Ausdruck in dem scheinbar leichten Aufwärtsstreben der gotischen Pfeiler, ist die Beherrschung der Horizontalen durch die Gewalt des rational-geometrischen Prinzips der anschauliche Inbegriff einer Ordnung des Verstandes in einem dem Menschen – durchaus im wörtlichen Sinne – zugänglichen Raum. Der französische Park besticht dabei einerseits durch seine Hermetik als eine geschlossene Ordnung des Rationalen innerhalb der den Park übersteigenden Natur, andererseits durch die Rigorosität seiner Durchsetzung, die die einzelnen Ordnungsmotive des RenaissanceGartens durch ihre Verabsolutierung weit hinter sich läßt. Schließlich ist er der 194
Vgl. M. L. Gothein, Geschichte der Gartenkunst, 2 Bde., Jena 21926 (Reprint: München 1988), Bd. 2, 129–187. 195 So Martin Burckhardt in seiner glänzenden Interpretation des Parks von Versailles: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt/New York 1994, 184–209, das Zitat 191. 196 Vgl. ebd., 207.
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Ausdruck von Macht: Die Rationalisierung der Ordnung findet ihren Fluchtbzw. Ausgangspunkt in den Gemächern des Sonnenkönigs. Aber nicht allein der perspektivische Zentralismus auf Ludwig XIV. inszeniert die absolute Gewalt des machtpolitischen Solipsisten, sondern auch die Erniedrigung des im Park Wandelnden durch die Wahl von ihn verkleinernden Proportionen. Die Beherrschung des Raums wird zur Insigne der Macht. Über den Effekt einer Illustrierung hinaus besteht – bei allen nicht berücksichtigten Unterschieden – die entscheidende Parallele zwischen dem Rationalismus des französischen Parks und dem Cartesianismus in der zum Prinzip erhobenen Idee der Architektur. Erst wenn man die Vorstellung der architektonischen Gestaltung von der modernen Dominanz des Häuserbaus löst, gewinnt man die einstmalige Tragweite dieser Metapher zurück. Noch Leibniz bezeichnet Gott als den Architekten des Weltalls, dem die Menschen bei den Veränderungen der Erdoberfläche wie kleine Götter folgen.197 Der Park von Versailles ist daher ein gestalteter Kosmos, wie auch Descartes als Architekt des Rationalen eine umfassende Ordnung zu errichten sucht. So stimmt Descartes dem Vergleich zu, seine Methode sei der eines Architekten ähnlich.198 Den Aufbau einer Ordnung des Wissens auf dem sicheren und eingeebneten Fundament rationaler Prinzipien hat Descartes anfänglich durch apriorische Deduktionen zu leisten versucht. Unverkennbar sucht hier der Rationalismus nach seiner Idealform uneingeschränkter Reinheit, die den »Makel von Irrtümern« (errorum maculae) 199 abstreift. Indem der Geist von den Sinnen weggeführt wird,200 kann er den Wildwuchs der Eindrücke hinter sich lassen, um zur Klarheit erfahrungsunabhängiger Erkenntnisse zu gelangen. Die sinnenunabhängige Gewinnung erster Prinzipien ermöglicht ihm eine notwendige Ordnung der Gedanken, die an die Stelle der konfusen Wahrnehmungen treten soll. Das Ziel der Makellosigkeit hat dabei selbst Tradition. Schon Pico della Mirandola fordert, wir sollten den ganzen sinnlichen Bereich (totam sensualem partem) wie mit lebendigem Wasser abwaschen (quasi uiuo flumine abluamus).201 Dabei muß
197
G. W. Leibniz, Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain IV 3, § 27 (Philosophische Schriften, Bd. 3.2, 310): »Cela paroist par les changemens, que les hommes ont faits, pour embellir la surface de la terre, comme des petits dieux qui imitent le grand Architecte de l’univers …« 198 Responsiones VII (AT VII, 530); zur Metapher des Neubaues auf sicheren Fundamenten vgl. auch Meditationes I (AT VII, 18), Discours II (AT VI, 13), Recherche (AT X, 509). Zur Signifikanz der Bau-Metapher in der frühen Neuzeit vgl. A. Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, 287–301. 199 Regulae III (AT X, 366). 200 Vgl. Meditationes, Synopsis (AT VII, 12). 201 G. Pico della Mirandola, De hominis dignitate (ed. C. Vasoli I, 317).
§ 34 Reine Rationalität und die Notwendigkeit eines Empirismus
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man nicht Platoniker sein, um die von der empirischen Erfahrung unabhängige Erkenntnis in dieser Weise metaphorisch beschreiben zu können. Auch für Kant ist eine Erkenntnis »schlechthin rein«, in die sich »überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich« und somit »mit nichts Fremdartigem vermischt ist«.202 Bereits Descartes’ Regulae sind von dem Ideal deduktiver Erkenntnis bestimmt, und noch in den Principia philosophiae als dem reifen Handbuch seiner Philosophie wird dieses Ideal der Reinheit durch eine Notwendigkeit des Erkennens nach klaren und unanzweifelbaren Prinzipien formuliert. Für die Publikation der französischen Fassung der Principia schreibt Descartes im Vorwort, man müsse versuchen, aus diesen Prinzipien die Erkenntnis der davon abhängenden Dinge derart abzuleiten, daß es in der ganzen Kette der Deduktionen nichts gibt, das nicht klar wäre.203 Der Notwendigkeit der ersten Prinzipien soll sich eine vergleichbare Notwendigkeit des durch sie Erkannten verdanken. Der Grundgedanke dieser epistemologischen Ausrichtung des Rationalismus ist unverkennbar: Rationalität ist notwendig, Erfahrung ist kontingent. Auch wenn es sich nicht wird belegen lassen, ist es verlockend, den Cartesianismus als einen Rückzug der Rationalität vor den Unwägbarkeiten der kontingenten Welt zu begreifen: Wird nicht gegenüber der situativen und zufälligen Erkenntnis der Sinne dem Geist ein Terrain zurückgewonnen, für das das Prinzip der Notwendigkeit gilt? Ersetzt nicht die neue Ordnung des Wissens die Kontingenz der Historie als die überlieferte Tradition von Halbwissen, zufälligen Einsichten und Fehlurteilen? Rationalismus wäre demnach im Kern eine Selbstbescheidung des Geistes, der sich an das Notwendige hält, um sich nicht auf das Kontingente einlassen zu müssen. Er wäre ein Idealismus, der die Verschmutzungen des Empirischen scheut. Seine Askese bestünde in der Selbstgenügsamkeit, die Sicherheit bei den angeborenen Ideen zu suchen und sich allein mit den Repräsentationen von Wirklichem zu begnügen: Rorty hat von dem »inneren Raum« (an inner space) gesprochen, von der »inneren Arena« (an inner arena), um zu illustrieren, daß sich der cartesische Geist dort allein auf die Ideen beziehe und sie mit dem inneren Auge betrachte.204 Dieser aseptische Weltinnenraum wäre der Inbegriff eines Verzichts auf darüber hinausgehende Erkenntnisansprüche: Kontingenzbewältigung durch Kontingenzvermeidung.
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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 11 (Akademie-Ausgabe IV, 22). Principes, Preface (AT IX–2, 2): »… il faut tascher de déduire tellement de ces principes la connoissance des choses qui en dependent, qu’il n’y ait rien, en toute la suite des deductions, qu’on en fait, qui ne soit tres-manifeste.« 204 R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, a. a. O., 50.
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Die nachweislichen empirischen Studien Descartes’ widerlegen eine derartige Hermetik des reinen Rationalismus. Wer tote Tiere seziert, weiß offensichtlich um den Wert erfahrungsabhängiger Untersuchungen. Damit ist aber noch nicht entschieden, welchen systematischen Stellenwert die nicht deduzierbare Erfahrung im Cartesianismus besitzt. Stehen Rationalismus und Empirismus bei Descartes in einem unaufgelösten, aber notgedrungen akzeptierten Widerspruch? 205 Oder erweist sich das »Bild vom empiriefeindlichen Rationalisten Descartes oder vom intellektuell gespaltenen Descartes als ein Mythos«? 206 Für eine angemessene Bestimmung des cartesischen Rationalismus ist diese Frage von zentraler Bedeutung. Descartes ist ihr nicht ausgewichen, und er hat sie nicht vage beantwortet. Vielmehr hat er in dieser Verhältnisbestimmung von Rationalismus und Empirismus zu einer konstruktiven Vermittlung von Notwendigkeit und Kontingenz gefunden. Es zeichnet ihn aus, dabei einen Bruch innerhalb seines Denkens nicht vermieden zu haben. In seinen zu Lebzeiten publizierten Schriften hat sich Descartes seinen Lesern als ein kontinuierlicher Denker präsentiert, ohne ihnen folgenreiche Revisionen zuzumuten. Daher ist es von besonderer Bedeutung, daß in Descartes’ Denken um 1630 ein Bruch stattgefunden hat. Bis dahin hatte er in zwei Anläufen – von 1619 bis 1620 und von 1626 bis 1628 – an den Regulae ad directionem ingenii gearbeitet. Warum hat er die Arbeit an den Regulae aufgegeben? Descartes selbst bietet zwei Deutungen an: Einmal spricht er davon, er habe so viele Entdeckungen gemacht, daß sein Vorhaben einer erneuerten Wissenschaft grundsätzlich erweitert werden mußte – »ich war gezwungen, ein neues Projekt zu entwerfen, ein viel größeres als das erste«.207 Während eine Erweiterung eine Kontinuität der leitenden Prinzipien nicht ausschließt, verweist Descartes ein anderes mal ausdrücklich auf einen Bruch in seinem Denken, den die ersten Überlegungen über die Gegenstände der Metaphysik, wohl ab 1628, verursacht haben, da diese Meinungen ganz außerordentlich von denjenigen abweichen, die er früher über
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John A. Schuster hat in seinem Beitrag »Whatever Should We Do with Cartesian Method? – Reclaiming Descartes for the History of Science«, in: St. Voss (Hg.), Essays on the Philosophy and Science of René Descartes, Oxford/New York 1993, 195–223, die These vertreten, Descartes habe nach einem »collapse« seiner apriorischen Methodologie von ihr als Ideal abgelassen: »… it becomes increasingly difficult to believe that Descartes genuinely believed what he was saying …« (219). Der eklektizistische Gebrauch sich eigentlich widersprechender Methodenansätze sei für Descartes zur Praxis geworden: »Although Descartes posed behind his method as a lone prophet of a new science, in reality … he was a figure highly symptomatic of the contextual forces in play and opportunities at hand at this crucial moment in the process of the Scientific Revolution.« (220) 206 D. Perler, Descartes, a. a. O., 88. 207 Brief an Merenne, 15. April 1630 (AT I, 138): »… i’estois contraint de faire vn nouueau proiet, vn peu plus grand que le premier …«
§ 34 Reine Rationalität und die Notwendigkeit eines Empirismus
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dieselben Gegenstände gehabt habe.208 Liegt also eine rasante Weiterentwicklung oder eine Infragestellung des Konzepts der Regulae vor? Die Grundidee der Regulae besteht darin, einerseits durch die Intuition als »ein müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes«209 unbezweifelbare Einsichten zu gewinnen, wie etwa die Erkenntnis, daß ein Dreieck von drei Linien begrenzt ist. Andererseits soll durch Deduktion, »worunter wir all das verstehen, was aus etwas anderem sicher Erkanntem notwendigerweise geschlossen wird«,210 weitere und zweifelsfreie Erkenntnis gewonnen werden. Im Gegensatz zum syllogistischen Verfahren soll die Deduktion zu neuen Erkenntnissen verhelfen: Wenn der aufmerksame Geist erfaßt hat, daß die Quadratwurzel von 2 geometrisch gewonnen werden kann – als Diagonale eines Quadrates –, dann führt der Satz des Pythagoras auch zu einer Konstruktion der Quadratwurzel aus 3, wenn nämlich im Endpunkt der Diagonalen des Quadrates der Seitenlänge 1 das Lot errichtet und auf ihm eine Einheitslänge abgetragen wird. Die Hypotenuse des so konstruierten Dreiecks hat die Länge der Quadratwurzel aus 3. Durch Fortsetzung dieses Verfahrens lassen sich alle Quadratwurzeln geometrisch konstruieren.211 Die paradigmatische Orientierung an der Mathematik, um situationsfreie und kontingenzlose Erkenntnis gewinnen zu können, ist offensichtlich, »sodaß, wer sich exakt an sie hält, niemals etwas Falsches für wahr unterstellt und, indem er keine geistige Mühe nutzlos verschwendet, sondern sein Wissen schrittweise ständig erweitert, die wahre Erkenntnis all dessen erreicht, wozu er fähig ist«.212 Noch 1628 ist Descartes voller Hoffnung, sein derart entworfenes Konzept der Wissenschaft vollenden zu können. Sein Freund Isaac Beeckman notiert in seinem Tagebuch über den Besuch Descartes’: »Er sagte mir, daß er in der Arithmetik und Geometrie nichts mehr zu wünschen habe, das heißt, daß er darin … so weit vorgedrungen ist, wie es der menschlichen Erkenntniskraft möglich sei.«213
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Responsiones VI (AT VII, 440 f.): »Quae opiniones cùm plurimum differrent ab iis, quas prius de iisdem rebus habueram …« 209 Regulae III (AT X, 368): »… mentis purae & attentae tam facilem distinctumque conceptum…« 210 Ebd. (AT X, 369): »… per quam intelligimus, illud omne quod ex quibusdam alijs certò cognitis necessariò concluditur.« 211 Dieses Beispiel für eine Deduktion bringt H. Poser, René Descartes. Eine Einführung, a. a. O., 28. 212 Regulae IV (AT X, 371 f.): »… quas quicumque exactè servaverit, nihil vnquam falsum pro vero supponet, & nullo mentis conatu inutiliter consumpto, sed gradatim semper augendo scientiam, perveniet ad veram cognitionem eorum omnium quorum erit capax.« 213 Beeckman (AT X, 331): »Is dicebat mihi se in arithmeticis & geometricis nihil amplius
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Für den Abbruch der Arbeit an den Regulae scheinen mehrere Gründe ausschlaggebend gewesen zu sein, mindestens zwei. Zum einen hat Descartes durch die einsetzenden metaphysischen Überlegungen gesehen, daß sich ein evidenteres Fundament für Erkenntnisse finden läßt, als es die Mathematik in Aussicht stellt: »Wenigstens glaube ich gefunden zu haben, wie man die metaphysischen Wahrheiten auf eine Weise beweisen kann, die evidenter ist als die Beweise der Geometrie.«214 Zum anderen ist das Problem der empirischen Erfahrung und mit ihr der Stellenwert des Experiments ungelöst. Dabei hat Descartes im Laufe der Ausarbeitung der Regulae der experimentellen Forschung zaghaft Raum gewährt. In der zwölften Regel etwa kommt er auf den Magneten zu sprechen. Wie sollen wir gemäß dem Paradigma einer der Mathematik entlehnten Erkenntnisweise etwas über dessen Eigenschaften wissen können? Descartes geht zunächst den Weg, einfache Naturen einzuführen, denen einfache Erkenntnisse entsprechen, da »jene einfache Naturen alle durch sich selbst bekannt sind und niemals etwas Falsches enthalten«.215 Offensichtlich hofft Descartes, über die Bestimmung einfacher Naturen – wie Gestalt, Ausdehnung und Bewegung im Bereich des Materiellen – evidente Klassifizierungen für die physikalische Welt finden zu können, die dem Paradigma seines Wissenschaftsanspruches genügen. Läßt sich so aber begreifen, was ein Magnet ist? Kommt die Erfassung des Phänomens des Magnetismus ohne empirische Erkenntnisse aus, indem es gleichsam aus den rationalen Prinzipien abgeleitet wird? Descartes’ Antwort in den Regulae operiert mit einer Doppelstrategie: »Wer aber bedenkt, daß am Magneten nichts erkannt werden kann, was nicht aus einfachen und an sich selbst bekannten Naturen besteht, der ist nicht unsicher, was er tun soll. Erstens sammelt er aufmerksam alle Erfahrungen, die er über diesen Stein besitzen kann, und versucht dann daraus zu deduzieren, von welcher
optare: id est, se tantùm in ijs … profecisse, quantùm humanum ingenium capere possit.« Wilhelm F. Niebel hat in dem Projekt der Regulae immerhin die »logisch-semiotische Gründungsurkunde der modernen mathematischen Wissenschaft« erblickt, auf die sich Frege als Begründer der mathematischen Logik beziehen konnte. Descartes wird so zum »Frege der Mathematik«: W. F. Niebel, »Zur Logik und Semiotik der neuzeitlichen Mathematik: Der Tractatus der ›Regulae‹ von Descartes«, in: Zeitschrift für Semiotik 13 (1991) 283–299, hier 283. Vgl. auch: ders., »Die esoterische Lehre Descartes’: Der mathematisch-philosophische ›Tractatus‹ von 1628/29 (Zur Revision der Neuzeit-Philosophie und Revaluation Descartes’)«, in: W. F. Niebel/A. Horn/H. Schnädelbach (Hg.), Descartes im Diskurs der Neuzeit, a. a. O., 51–60. 214 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 144): »… au moins pense-ie auoir trouué commant on peut demonstrer les verités metaphysiques, d’vne façon qui est plus euidente que les demonstrations de Geometrie …« 215 Regulae XII (AT X, 420): »… naturas illas simplices esse omnes per se notas, & nunquam vllam falsitatem continere.«
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Beschaffenheit diejenige Vereinigung von einfachen Naturen ist, die zur Erzeugung der Effekte, die ihm die Erfahrung am Magneten gezeigt hat, notwendig ist. Hat er dies einmal gefunden, so kann er beherzt behaupten, er habe die wahre Natur des Magneten durchschaut, soweit sie vom Menschen aufgrund der gegebenen Experimente entdeckt werden konnte.«216 Es bedarf also einer intuitiven Kenntnis rationaler Bedingungen der Erkennbarkeit von Gegenständen und der experimentellen Erfahrung von Gegenständen.217 Damit ist immerhin das Konzept eines reinen Rationalismus aufgegeben. Man mag nun in dieser Annäherung des cartesischen Rationalismus an den Empirismus allein ein Zugeständnis an Descartes’ Forschungspraxis sehen. Da der Streit um die angemessene Methode zur Signatur seines Zeitalters gehört,218 kann man ebenso davon ausgehen, daß sich ein Wissenschaftskonzept nicht hermetisch hat entwickeln lassen und sich somit als von kontrastierenden Methoden beeinflußbar zeigt. Tatsächlich aber haben die einsetzenden metaphysischen Reflexionen Descartes dazu veranlaßt, sein Wissenschaftskonzept grundlegend zu überarbeiten und neu zu entwerfen. Man muß in der Einschätzung dieses Umbruchs nicht so weit gehen zu behaupten, die einsetzenden metaphysischen Überlegungen hätten das scientistische Konzept der Regulae gesprengt und deren Methode obsolet werden lassen.219 Immerhin bleiben für Descartes das Paradigma mathematischer Erkenntnis, der Stellenwert der Intuition und der
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Ebd. (AT X, 427): »Sed qui cogitat, nihil in magnete posse cognosci, quod non constet ex simplicibus quibusdam naturis & per se notis, non incertus quid agendum sit, primò diligenter colligit illa omnia quae de hoc lapide habere potest experimenta, ex quibus deinde deducere conatur qualis necessaria sit naturarum simplicium mixtura ad omnes illos, quos in magnete expertus est, effectus producendos; quâ semel inventâ, audacter potest asserere, se veram percepisse magnetis naturam, quantùm ab homine & ex datis experimentis potuit inveniri.« 217 Darauf hat insbesondere Daniel Garber hingewiesen: »Descartes and Experiment in the Discours and Essays«, in: St. Voss (Hg.), Essays on the Philosophy and Science of René Descartes, Oxford/New York 1993, 288–310: »For Descartes both reason and experience are important, though in different ways. His genius was in seeing how experience and experiment might play a role in acquiring knowledge without undermining the commitment to a picture of knowledge that hat motivated him since his youth, a picture of a grand system of certain knowledge, grounded in the intuitive apprehension of first principles.« (306) 218 Vgl. U. Neemann, Gegensätze und Syntheseversuche im Methodenstreit der Neuzeit, 2 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 1993/1994. 219 M. Garber, Descartes’ Metaphysical Physics, a. a. O., 50: »Starting from the metaphysics of 1629–30 and The World, Descartes undertook the construction of the whole body of knowledge, from foundations on up, considered as a unified system of knowledge. But the method of the Rules is not appropriate to this style of science … When Descartes ceased to be a problem-solver and became a system-builder, it is not surprising that the method, central to his earlier thought, would become obsolete.«
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
Deduktion sowie das Prinzip des methodisch disziplinierten Forschens verbindlich. Aber es läßt sich erkennen, daß die Metaphysik die Konzeption der cartesischen Wissenschaft verändert. Allem Anschein nach hat Descartes nach dem Abbruch der Regulae zu seinem metaphysischen Substanzendualismus gefunden und dadurch die Annahmen seiner Physik – über die mathematische Fundierung hinaus – wesentlich vereinfachen können. Über diese metaphysische Wende schreibt er an Mersenne im April 1630: »… und ich sage Ihnen, daß ich niemals die Fundamente der Physik zu finden verstanden haben würde, wenn ich sie nicht auf diesem Weg gesucht hätte«.220 Es ist die metaphysische Rationalisierung der ersten Prinzipien, die Descartes jene Sicherheit verleiht, nach der Aufgabe der Regulae das umfassendere Projekt von Le Monde entwerfen zu können, der dem Plan nach umfassenden Darstellung der physischen Wirklichkeit der Welt und des Menschen sowie der Metaphysik der Seele. Zugleich fällt eine veränderte Stellung der empirischen Erfahrung auf. Bereits 1632 liegen die beiden Abhandlungen La Dioptrique und Les Météores in einer ersten Fassung vor. Die metaphysische Fundierung der Physik könnte nun zu der Annahme verleiten, in diesen Schriften Paradebeispiele für eine rationalistische und somit deduktive Methode zu finden – immerhin wurden sie dem Discours als Beispiele der neuen Methode beigefügt. Nun sagt aber Descartes: »Was das betrifft, was ich zu Beginn der Météores angenommen habe, so könnte ich es a priori nur durch die Darlegung meiner ganzen Physik beweisen; die Experimente aber, die ich notwendigerweise daraus abgeleitet habe und die von keinerlei anderen Prinzipien in derselben Weise abgeleitet werden können, scheinen mir es hinreichend a posteriori zu beweisen.«221 Zwar werden die Experimente abgeleitet, aber sie bestätigen a posteriori die Richtigkeit der Annahmen, die aus den Prinzipien a priori deduziert werden können. Was sich hier als eine Aufwertung der empirischen Erfahrung bereits andeutet, wird erst im Discours systematisch vollends faßbar. Dort beschreibt Descartes die Methode seines Vorgehens, an die er sich halte: »Erstens habe ich mich bemüht, im allgemeinen die Prinzipien oder ersten Ursachen all dessen zu finden, was auf der Welt ist oder sein kann, ohne zu diesem Zweck etwas anderes zu berücksichtigen als Gott allein, der sie geschaffen hat, und ohne sie anderswoher zu nehmen als aus gewissen Samenkörnern der 220
Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 144): »… et ie vous diray que ie n’eusse sceu trouuer les fondemans de la Physique, si ie ne les eusse cherchés par cete voye.« 221 Brief an Vatier, 22. Februar 1638 (AT I, 563): »Quant à ce que i’ay suposé au commencement des Meteores, ie ne le sçaurois demonstrer à priori, sinon en donnant toute ma Physique; mais les experiences que i’en ay deduites necessairement, & qui ne peuuent estre deduites en mesme façon d’aucuns autres principes, me semblent le demonstrer assez à posteriori.«
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Wahrheit, die von Natur aus in unseren Seelen sind.«222 Der aufmerksame Geist findet also in sich die ersten Prinzipien, die als angeborene von Gott stammen. Sie sind daher für uns verbindlich, wenngleich sie nicht als ewige Wahrheiten begriffen werden können, da Gott sie geschaffen hat. Bemerkenswert ist an Descartes’ Formulierung, daß die rationalen Prinzipien für alles gelten, was in der Welt ist oder sein kann. Sie sind somit Prinzipien aller möglichen Gegenstände. In einem zweiten Schritt untersucht Descartes, »welches die ersten und alltäglichen Wirkungen wären, die man aus diesen Ursachen ableiten kann: Und wie mir scheint, habe ich auf diesem Weg Himmelsmaterie, Sterne und eine Erde gefunden und auf dieser Erde sogar Wasser, Luft, Feuer, Mineralien und anderes, die gewöhnlichsten und einfachsten Dinge, die folglich am leichtesten zu durchschauen sind.«223 Aus den rationalen Prinzipien soll eine Physik der Gegenstände deduziert werden. Descartes operiert dabei mit seinem Begriff der Materie, deren anzunehmende Aggregatzustände unterschiedliche Körper, wie Sterne oder Wasser denkbar machen sollen. Die rationalistische Versuchung einer derartigen Physik besteht darin, empirische Experimente eher zu denken als zu machen. Da er prinzipiell Materie mit Ausdehnung gleichsetzt, zeigt sich Descartes zum Beispiel immun gegenüber den zeitgenössischen Versuchen, ein künstliches Vakuum herzustellen. Entscheidend ist nun der dritte Schritt seines Vorgehens, der eine folgenreiche Wende enthält. Mag auch Descartes über die rationalen Prinzipien exakte Vorstellungen von möglichen physikalischen Körpern gewonnen haben, weiß er daher noch nicht, ob den möglichen auch tatsächliche Körper entsprechen. »Dann zeigte sich mir, als ich zu den spezielleren Dingen übergehen wollte, eine solche Vielfalt, daß ich es für den menschlichen Geist nicht für möglich hielt, die Formen oder Strukturen von Körpern, die auf der Erde vorhanden sind, von unendlich vielen anderen zu unterscheiden, die dort sein könnten, wenn Gott sie hätte dahin setzen wollen, und ich hielt es folglich auch für unmöglich, sie uns zunutze zu machen, es sei denn, man käme von den Wirkungen zu den Ursachen und legte verschiedene besondere Erfahrungen zugrunde.«224 Das bereits
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Discours VI (AT VI, 63 f.): »Premierement, i’ay tasché de trouuer en general les Principes, ou Premieres Causes, de tout ce qui est, ou qui peut estre, dans le monde, sans rien considerer, pour cet effect, que Dieu seul, qui l’a creé, ny les tirer d’ailleurs que de certaines semences de Veritez qui sont naturellement en nos ames.« 223 Ebd. (AT VI, 64): »… quels estoient les premiers & plus ordinaires effets qu’on pouuoit deduire de ces causes: et il me semble que, par la, i’ay trouué des Cieux, des Astres, vne terre, & mesme sur la terre, de l’Eau, du Feu, des Mineraux, & quelques autres telles choses, qui sont les plus communes de toutes & les plus simples, & par consequent les plus aysées a connoistre.« 224 Ebd. (AT VI, 64): »Puis, lorsque i’ay voulu descendre a celles qui estoient plus particulieres, il s’en est tant presenté a moy de diuerses, que ie n’ay pas creu qu’il fust possible
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VII. Die kontingente Welt im Spinnennetz der neuen Rationalität
bekannte Motiv der Überforderung der menschlichen Aufnahmefähigkeit durch die Vielfalt des Seienden droht in diesem Passus die eigentliche systematische Pointe zu verdecken. Auch wenn es nur wenige physikalische Gegenstände zu unterscheiden gäbe, hätte Descartes mit Hilfe seiner rationalen Prinzipien kein Kriterium, die tatsächlich in der Welt existierenden Gegenstände von denen zu trennen, ›die dort sein könnten, wenn Gott sie hätte dahin setzen wollen‹. Es gibt mehr mögliche als faktische Gegenstände. Ob es einen möglichen Gegenstand auch faktisch gibt, ist rationalistisch nicht zu klären. Dazu bedarf es der Erfahrung. Zwar kann Descartes – seiner rationalistischen Physik nach – wissen, über welche Eigenschaften Wasser verfügt, wenn es welches gibt, aber er kann nicht erfahrungsunabhängig wissen, ob auch tatsächlich auf der Welt Wasser vorhanden ist. Descartes erwartet, daß die experimentell gemachten Erfahrungen seinen rationalen Prinzipien entsprechen. Der cartesische Empirismus ist daher im Kern ein Bestätigungsempirismus, wie er bereits den Météores eigen ist. Auch wenn das Defizitäre eines derartigen empirischen Verfahrens offensichtlich ist, bleibt die Hinwendung Descartes’ zur empirischen Erfahrung bemerkenswert. Es ist die Kontingenz des Seienden, die den cartesischen Rationalismus auf eine Annäherung an den Empirismus verpflichtet. Da sich die Existenz des Kontingenten aus keinem Prinzip ableiten läßt, kommt auch der Rationalist nicht ohne Erfahrung aus. Das Bewußtsein der Kontingenz generiert einen eigenen cartesischen Empirismus. Descartes’ Annäherung an den Empirismus erinnert an Humes Problem der fehlenden Blauschattierung. In seinem Treatise of Human Nature geht Hume als Empirist der Frage nach, ob eine Person, die im Laufe von 30 Jahren sämtliche Abstufungen des Blautons bis auf eine einzige sinnlich wahrgenommen habe, in der Lage ist, sich diesen einzigen fehlenden Farbton durch seine Einbildungskraft zu vergegenwärtigen.225 Seine Antwort lautet: Ja. Dieser Bruch innerhalb eines strikten Empirismus beinhaltet immerhin das Zugeständnis, »daß die einfachen Ideen nicht immer durch entsprechende Eindrücke gewonnen werden«.226 Der Empirismus im cartesischen Rationalismus ist dagegen weniger punktuell und von größerer Tragweite. Aussagen wie die, es gebe keine Experimente, die sich a l’esprit humain de distinguer les Formes ou Especes de cors qui sont sur la terre, d’vne infinité d’autres qui pourroient y estre, si c’eust esté le vouloir de Dieu de les y mettre, ny, par consequent, de les rapporter a nostre vsage, si ce n’est qu’on viene au deuant des causes par les effets, & qu’on se serue de plusieurs experiences particulieres.« 225 D. Hume, A Treatise of Human Nature I, part I, sect. 1 (ed. P. H. Nidditch, 6). 226 Ebd. (ed. P. H. Nidditch, 6): »… that the simple ideas are not always derived from the correspondent impressions …« Hume hat diese Argumentation in seinem Enquiry concerning Human Understanding, sect. 2 (ed. P. H. Nidditch, 21), wiederholt und dadurch seine Abweichung von einem strikten Empirismus bekräftigt.
§ 34 Reine Rationalität und die Notwendigkeit eines Empirismus
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nicht für irgend etwas als nützlich herausstellen, wenn man die ganze Natur untersuchen könnte, belegen das.227 Der empirischen Untersuchung obliegt nicht allein die Bestätigung, ob ein rational möglicher Gegenstand der Physik auch aktuell gegeben ist, sondern sie hat auch zu prüfen, welche der Möglichkeiten, die Gott bei der Schaffung dieses Gegenstandes zur Wahl standen, er realisiert hat. So mag die grundsätzliche Beschaffenheit des menschlichen Körpers als etwas Ausgedehntes rationalen Prinzipien entsprechen, da er aber eine Maschine darstellt, verweist der entsprechende Kontingenzvermerk darauf, daß Gott mehrere Möglichkeiten hatte, den menschlichen Körper zu gestalten, um die gleiche Wirkung zu erzielen – nämlich der menschlichen Seele einen Leib zuzuweisen. Daher bedarf auch der Rationalist der empirischen Untersuchung, etwa des Sezierens, um sich zu vergewissern, welche der Möglichkeiten Gott verwirklicht hat. Bei den »spezielleren Gegenständen, die von Gott so oder anders hätten geschaffen werden können«, geht es also nicht mehr lediglich um einen Nachweis, »daß das Vorhandene mit den Naturgesetzen verträglich ist«, vielmehr müssen hier »die Ursachen von den Wirkungen her gefunden werden«.228 Die Hinwendung zum Empirismus aufgrund der Kontingenz des Seienden hat die cartesische Rationalität nicht gespalten. Vielmehr entspricht der Anteil der empirischen Erfahrung an der rationalen Weltbewältigung der Einsicht in die kontingente Notwendigkeit der Rationalität selbst. Da sie nicht über Kenntnisse letzter Schöpfungsziele verfügt, kann sie nur grundsätzlich, aber nicht zureichend wissen, welche Möglichkeiten auf welche Weise von Gott verwirklicht worden sind. Diese Kontingenz treibt die Rationalität über die Selbstgenügsamkeit reiner Deduktionen hinaus. Für die endliche Vernunft empfiehlt sich daher ein ökonomischer Umgang mit ihren Fähigkeiten: »Allein der Intellekt ist befähigt, die Wahrheit zu erfassen, gleichwohl muß er von der Einbildungskraft, den Sinnen und dem Gedächtnis unterstützt werden, damit wir nichts unterlassen, was in unseren Kräften steht.«229 Kontingente Rationalität ist eben angestrengte Wachsamkeit.
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Brief an Mersenne, 9. Januar 1639 (AT II, 484): »Il n’y a point d’experiences qui ne se trouuassent vtiles a quelque chose, si on pouuoit examiner toute la Nature …« 228 J. Freudiger/K. Petrus, »Empirisches bei Descartes«, in: Studia Philosophica 55 (1996), 31–52, hier 46 f. 229 Regulae XII (AT X, 411): »Solus intellectus … percipiendae veritatis est capax, qui tamen juvandus est ab imaginatione, sensu, & memoriâ, ne quid fortè, quod in nostrâ industriâ positum sit, omittamus.«
VIII. Schluß
§ 35 Kontingenz und Rationalität Schon Fontenelle hat in seinen Nouveaux Dialogues des Morts von 1683 den Ertrag der cartesischen Philosophie ironisiert, indem er in seinem 34. Totengespräch einen Descartes zu Wort kommen läßt, der gestehen muß, er habe viele Dinge für so plausibel gehalten, daß er sich schmeicheln konnte, sie seien wahr, und für so neu, daß er eine eigene Sekte gegründet habe.1 Dabei habe er erst im Reich der Toten seine Irrtümer erkannt.2 Er sehe nun ein, daß die Modernen nicht mehr Wahrheit entdecken als die Alten: les Modernes ne décovrent pas la verité plus que les Anciens.3 Mit diesem von Voltaire wiederholten Urteil, Descartes habe die Irrtümer der Antike aufgedeckt, um sie durch seine eigenen zu ersetzen,4 beginnt die Rezeption des Cartesianismus als Kritik.5 Immerhin begeht Descartes moderne Irrtümer. Noch seine aus heutiger Sicht falschen Annahmen, wie etwa die Theorie kosmischer Wirbel oder die der Zirbeldrüse zugewiesene Funktion einer Vermittlung im Leib-Seele-Dualismus, entstammen einer modernen Konzeption von Rationalität. Unabhängig von der Richtigkeit ihrer Annahmen stellt die cartesische Philosophie eine neue Form der Hervorbringung theoretischer Hypothesen dar. Der cartesische Rationalismus hat daher nicht zuerst alte Irrtümer durch neue ersetzt, sondern das Selbstverständnis der sie hervorbringenden Rationalität grundlegend verändert.
1
B. de Fontenelle, Nouveaux Dialogues des Morts II, 34 (ed. J. Dagen, 379): »J’avois trouvé beaucoup de choses assez apparentes, pour me pouvoir flater qu’elles estoient vrayes, & assez nouvelles, pour pouvoir faire une secte à part.« 2 Ebd. (ed. J. Dagen, 380): »Je ne suis revenu de ma Philosophie, que depuis que je suis icy.« 3 Ebd. (ed. J. Dagen, 383). 4 Voltaire, Lettres philosophiques XIII (ed. R. Pomeau, 83): »Notre Descartes, né pour découvrir les erreurs de l’antiquité, mais pour y substituer les siennes …« 5 Die Einwände, die verschiedene Autoren gegen die Meditationes erhoben hatten, betrafen einzelne Aspekte, und die scharfe Kritik des Cartesianismus durch Voetius, die immerhin eine Verurteilung der cartesischen Philosophie an den Universitäten Utrecht im Jahr 1643 und Leiden im Jahr 1647 nach sich zog, war ein mitunter polemischer Widerstand gegen diese neue Philosophie. Fontenelle dagegen wußte die Errungenschaften des Cartesianismus sehr wohl zu würdigen, aber seine Ironie demaskierte den cartesischen Mythos, bevor er entstanden war.
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VIII. Schluß
Der Wandel dieses Selbstverständnisses läßt sich monokausal nicht beschreiben, da die Konstitutionsbedingungen moderner Subjektivität polymorph bestimmt sind. Dennoch sollte der Beitrag, den der Begriff der Kontingenz an dieser Transformation geleistet hat, nicht übersehen werden. Ein Verständnis der Wechselwirkung von Kontingenzreflexion und cartesischer Rationalität läßt sich aber nur dann gewinnen, wenn für die cartesische Philosophie die Präsenz eines starken und präzisen Kontingenzbegriffs vorausgesetzt wird. Bereits die Encyclopédie verzeichnet für das 18. Jahrhundert einen uneindeutigen Gebrauch dieses Terminus, da das Wort contingent in den Schriften der meisten Philosophen sehr mehrdeutig sei.6 Darüber hinaus stellt sie auch eine Verflachung des komplementären Notwendigkeitsbegriffs fest, da zunehmend auch in der Alltagssprache (langage ordinaire) von Notwendigkeit im Hinblick auf gute Sitten und moralische Notwendigkeiten (nécessité morale) gesprochen werde – gemeint sind damit notwendige Angelegenheiten, etwa einen Brief zu schreiben oder einen Besuch zu machen.7 Von einer derartigen Inflation des Notwendigkeitsund Kontingenzbegriffs ist Descartes noch ebensoweit entfernt wie von dem nachkantischen Verständnis der Kontingenz als Zufälligkeit. Die Popularität der Begriffe Kontingenz und Zufall verdankt sich seitdem oftmals einem Pathos, »das mehr verschleiert als klärt und damit die inhaltliche Unbestimmtheit dieser oft bemühten, vielseitigen Sprachgebilde wirkungsvoll verdeckt«.8 Descartes dagegen steht unübersehbar in der Tradition modallogischer Überlegungen des späten Mittelalters. Wie zu zeigen war, ist es die Leistung eines Possibilitätsdenkens, das sich als von einem voluntaristisch akzentuierten und kreationistisch interpretierten Gottesbegriff inspiriert zeigt, den in der Antike antizipierten Kontingenzbegriff aus seiner Marginalität herausgeholt zu haben. Kontingenz war seitdem sowenig als Phänomen allein eine Enklave innerhalb von Kausalketten des Notwendigen, wie die metaphysische Notwendigkeit nicht länger ein absolutes Prinzip darstellen konnte. Descartes übernimmt und radikalisiert diese Transformation des klassischen Seinsverständnisses, indem er allein Gott den Status einer unbedingten Notwendigkeit zuweist, alles andere als kontingent ansieht und noch das der Vernunft als notwendig Erscheinende in seiner Abhängigkeit vom Schöpfergott aufweist. Es ist daher eine oftmals übersehene Leistung Descartes’, Rationalität und Kontingenz in eine sich gegenseitig konstituierende Relation gesetzt zu haben. Erst die modallogische Reflexion der Rationalität läßt Kontingentes als Kontingentes begreifbar werden, und insofern 6
Art. »Contingent« (Formey), in: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, a. a. O., IV, 114: »Le mot de contingent est trèséquivoque dans les écrits de la plûpart des Philosophes.« 7 Ebd. 8 F. J. Wetz, »Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹«, in: G. v. Graevenitz/O. Marquard (Hg.), Kontingenz, a. a. O., 27–34, hier 34.
§ 35 Kontingenz und Rationalität
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sich die Rationalität als eine kontingente erfaßt, verändert sich ihr Selbstverständnis. Nur durch einen genealogischen Blick ließ sich die Einsicht gewinnen, daß Descartes den Antrieb zu einer derartigen Reformierung der Rationalität einem spätmittelalterlichen Motiv entnimmt: der schöpferischen Potenz Gottes. Die Präsenz eines kreativen Gottes ist aus heutiger Sicht das zweifellos überholteste, aber auch prägendste Moment in der cartesischen Philosophie.9 Da Descartes Gott nicht allein als ein vollkommenes Wesen, sondern vielmehr als ein ens necessarium definiert, das als einziges Sein keiner Ursache bedarf, um zu existieren, rückt alles darüber hinaus Existierende als Geschaffenes in den Blick. Nur Gott ist notwendig. Außer ihm ist alles kontingent, denn aufgrund seiner schöpferischen Freiheit ist er das erste kontingenzstiftende Prinzip. Kant hat die Einsicht in die eigene Kontingenz, die gleichsam das Wasserzeichen des Papiers abgibt, auf dem der Text der Moderne geschrieben ist, nüchtern zusammengefaßt: »Denn es ist nicht nothwendig, daß wir existiren …«10 Für Descartes resultieren diese ontologischen Basisbestimmungen aus einer modallogisch geschulten Metaphysik, sie sind eine philosophische Einsicht, keine Theologie. Thomas von Aquin hatte es noch für eine Glaubenseinsicht gehalten, wenn man annehme, die Welt sei nicht immer gewesen, sondern habe einen Anfang.11 Die Philosophie betrachte daher die Welt anders als die Theologie, da die Philosophen das Seiende nach seinem eigenen Sein und seiner eigenen Natur erfasse.12 Descartes dagegen kann aufgrund der Anwendung modallogischer Disjunktionen scotischer Prägung, wie er sie bei Suárez kennengelernt hatte, von einer Abhängigkeit des endlichen, geschaffenen, nichtnotwendigen, verursachten und unvollkommenen Seienden von einem unendlichen, ungeschaffenen, notwendigen, unverursachten und vollkommenen Sein sprechen, ohne diese Ausgangsposition als theologisch konditioniert begreifen zu müssen.13 Sie ist eine rationale Folgerung der Vernunft und entspringt keiner Offenbarungswahrheit. Wie schon die Fragen nach Gott und der Seele eher mit den Mitteln der Philosophie als mit denen der Theologie zu behandeln seien14 und Trost
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Vgl. H. Gouhier, La pensée metaphysique de Descartes, quatrième édition augmentée, deuxième tirage, Paris 1999, 179: »La preuve par l’idée de Dieu conduit droit au Dieu créateur: c’est là un caractère fondamental et original de la métaphysique cartésienne.« 10 I. Kant, Handschriftlicher Nachlaß VI (Akademie-Ausgabe XIX, 644). 11 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 46, art. 2. 12 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, cap. 4. 13 Zu Descartes’ Verhältnis zur Theologie vgl. H. Gouhier, La pensée religieuse de Descartes, 2e édition revue et complétée, Paris 1972, 217–232. 14 Meditationes, Epistola (AT VII, 1): »Semper existimavi duas quaestiones, de Deo & de Animâ, praecipuas esse ex iis quae Philosophiae potius quàm Theologiae ope sunt demonstrandae …«
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VIII. Schluß
zu stiften eher den natürlichen Vernunftgründen als der Religion obliege,15 ist die Annahme eines kreativen Gottes die Voraussetzung seiner rationalistischen Philosophie. Um angemessen zu philosophieren, führt Descartes in den Principia aus, sei es nötig, die unendliche Macht und Güte Gottes zu bedenken und die Grenzen unseres Denkens nicht auf seine Schöpfung und seine Macht zu übertragen.16 Die systematische Präsenz des ersten kontingenzstiftenden Prinzips in der cartesischen Philosophie verändert ihren Begriff von Rationaltiät. Da selbst die rationes aeternae vom schöpferischen Willen Gottes abhängen, wird die humane Rationalität durch Prinzipien konstituiert, die für sie notwendig, aber im absoluten Sinn kontingent sind. Descartes hat einen kontingenten Rationalismus vertreten. Die Klarheit eines puren Rationalismus ist dagegen metaphorisch als eine »fortwährende Mittagszeit ohne Schatten« (toujours midi sans ombres) 17 umschrieben worden: »Rationales theoretisches Bewußtsein in seiner Reinheit, in der das Licht und die Klarheit des Erscheinens in der Wahrheit der Verstehbarkeit entspricht – nach guter cartesianischer Tradition, in der die einleuchtenden und eindeutigen Ideen noch das Licht der intelligiblen Sonne Platons erhalten …«18 Dieser idealistische Kern des Rationalismus ist bei Descartes unverkennbar, aber gleichsam getrübt, begreift Descartes die ewigen Wahrheiten doch nicht als Sonnenstrahlen, die aus Gott ausströmen.19 An der eindeutigen Erfaßbarkeit mathematischer Sachverhalte läßt sich die sich einstellende Distanz zur Evidenz des Wahren erläutern. Die definitorische Klarheit der Mathematik gibt jedem Rationalismus das Ideal einer begrifflichen Schärfe vor. Variabel ist allerdings der Grad einer intuitiven Erfassbarkeit des 15
In einem Brief an Huygens vom 13. Oktober 1642 (AT III, 580) kommt Descartes indirekt auf den Tod seiner Tochter Francine zwei Jahre zuvor zu sprechen und erklärt, daß wir, obschon wir alles glauben möchten und sogar meinen, es sehr fest zu glauben, was die Religion uns lehrt, trotzdem nicht gewöhnt seien, so von den Sachen berührt zu werden, die der einzige Glaube uns lehrt, und daß unsere Vernunft nicht so erreicht werden kann, wie von dem, wozu wir durch sehr augenscheinliche natürliche Vernunftgründe überredet werden können: »… que nonobstant que nous veüillions croire, & mesme que nous pensions croire tres-fermement tout ce qui nous est enseigné par la Religion, nous n’auons pas neantmoins coustume d’estre si touchez des choses que la seule Foy nous enseigne, & où nostre raison ne peut atteindre, que de celles qui nous sont auec cela persuadées par des raisons naturelles fort euidentes.« 16 Principia III 1 (AT VIII–1, 80). 17 E. Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974, 169. 18 Ebd., 169 f.: »Conscience théorique rationnelle dans sa pureté où la clarté de l’apparoir dans la vérité équivaut à l’intelligibilité – en bonne tradition cartésienne dont les idées claires et distinctes reçoivent encore la lumière du soleil intelligible de Platon …« 19 Brief (an Mersenne, 27. Mai 1630 ?) (AT I, 152), wo es über die veritez eternelles heißt: »… lesquelles ie ne conçoy point émaner de Dieu, comme les rayons du Soleil …«
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evident Notwendigen. Platon hatte eigens einen ungebildeten, von Sokrates befragten Sklaven zum Beweis für die intuitive Erkennbarkeit geometrischer Zusammenhänge vorgeführt.20 Ohne Mühe bringt der Befragte die Einsicht in die Notwendigkeit mathematischer Sachverhalte aus sich selbst hervor, da er sich an die in seinen Geist hineingelegte ewige Wahrheit dieser Sachverhalte zu erinnern vermag. Auch Descartes lobt die Mathematik wegen der Sicherheit und Evidenz ihrer Beweisgründe,21 aber er hebt dagegen hervor, es seien nicht alle Menschen zu ihr befähigt, es bedürfe vielmehr einer mathematischen Veranlagung und ihrer Ausbildung durch Übung.22 Er illustriert das an den geometrischen Beweisen des Archimedes, Apollonius und Pappus, »die zwar von allen für einleuchtend und gewiß gehalten werden, weil sie nämlich gar nichts enthalten, was nicht für sich betrachtet ganz leicht zu begreifen wäre, und nichts, worin nicht immer das Folgende mit dem Vorhergehenden genau zusammenhinge. Da sie aber doch etwas lang sind und einen sehr aufmerksamen Leser erfordern, werden sie nur von recht wenigen verstanden.«23 Der Verlust an Unmittelbarkeit evidenter mathematischer Beweise ist nicht allein ein Resultat überfordernder Beweisketten, sondern er betrifft auch einfachste geometrische Formen, wie sich bereits gezeigt hat: Die adäquate Kenntnis eines einfachen Dreiecks scheint Descartes nicht abschließend möglich zu sein, da auch dann, wenn wir alle an ihm begreifbaren Attribute beweisen, dennoch ein zukünftiger Mathematiker weitere Eigenschaften an ihm entdecken wird, »so daß wir niemals sicher sind, all jene erfaßt zu haben, die eben daran erfaßt werden könnten«.24 Für Descartes gilt die proportionale Abgestimmtheit von humaner Erkenntniskraft und dem zu Erkennenden nicht mehr. Sie ist deshalb nicht mehr vorauszusetzen, da die Welt als realisierte Schöpfungstat Gottes die Aufnahmefähigkeit unseres Denkens übersteigt. Eine Kritik der Erkenntniskraft ist daher eine Voraussetzung der cartesischen Epistemologie: Es sei nötig, einmal im Leben sorgfältig untersucht zu haben, zu welcher Erkenntnis die menschliche Vernunft
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Platon, Menon 82 ff. Discours I (AT VI, 7): »… a cause de la certitude & de l’euidence de leurs raisons …« Burman (AT V, 176): »Omnes autem homines ad eam apti non sunt, sed requiritur ad id ingenium mathematicum, quodque usu poliri debet.« 23 Meditationes, Epistola (AT VII, 4): »… quae, etsi pro evidentibus etiam ac certis ab omnibus habeantur, quia nempe nihil plane continent quod seorsim spectatum non sit cognitu facillimum, nihilque in quo sequentia cum antecedentibus non accurate cohaereant, quia tamen longiusculae sunt, & valde attentum lectorem desiderant, non nisi ab admodum paucis intelliguntur …« 24 Burman (AT V, 152): »… sic ut nos nunquam certi simus nos omnia illa comprehendisse, quae de eâ re comprehendi poterant.«
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denn eigentlich in der Lage ist.25 Es wird leicht übersehen, daß der Cartesianismus nicht allein eine Gewißheit der Erkenntnisse garantieren will, sondern auch eine Begrenzung des Wissbaren durchsetzt. Damit steht Descartes nur scheinbar überraschend an der Seite Montaignes, für den die Kenntnis unserer Unwissenheit eines der schönsten und sichersten Kennzeichen von Urteilskraft ist.26 Wenn selbst ein einfaches Dreieck von uns nicht abschließend erfaßt werden kann, ist damit ein paradigmatischer Vorbehalt gegenüber der grundsätzlichen Erkennbarkeit all dessen formuliert, was nicht die Reflexion der Existenz des cogito und die Existenz Gottes betrifft. Alle weiteren Erkenntnisse – auch die apriorischen mathematischen Beweise – sind gleichsam ›darunter‹ und fallen in ihrem Evidenzstatus ab. Folgerichtig kann Descartes von seinen metaphysischen Wahrheiten sagen, sie seien evidenter (plus euidente) als die Demonstrationen der Geometrie.27 Kontingenz ist die Verschattung des Wahren. Diese behutsam erwogene Distanz zum Evidenten ist Teil einer Inversion der Metaphysik. Henri Gouhier hat darauf hingewiesen, Descartes habe unausdrücklich die Unbegreiflichkeit (incompréhensibilité) Gottes vorausgesetzt und somit die Annahme einer Analogie von Gott und Mensch strikt zu vermeiden gesucht.28 Alles Reden über Gott habe für Descartes aufgrund der impliziten Anthropomorphismen einem Verrat dieser Unbegreiflichkeit entsprochen. »Die Metaphysik hat also kein anderes Mittel als die Suche nach einer Sprache, die einen weniger schlimmen Verrat darstellt.«29 Die Grenze des rationalen Begreifens ist das Faktum des Geschaffenseins. Zwar ist es für Descartes eine notwendige
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Regulae VIII (AT X, 396 f.): »… oportet semel in vitâ diligenter quaesivisse, quarumnam cognitionum humana ratio sit capax.« 26 M. de Montaigne, Essais II 10 (ed. A. Thibaudet/M. Rat, 388): »…voire, la reconnoissance de l’ignorance est l’un de plus beaux et plus seurs tesmoignages de jugement que je trouve.« 27 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 144). 28 H. Gouhier, La pensée metaphysique de Descartes, a. a. O., 221. Jean-Marie Beyssade hat auf den paradoxalen Umstand hingewiesen, daß für den Cartesianismus einerseits eine Kenntnis Gottes grundlegend ist, andererseits aber diesem Gott eine Unbegreiflichkeit zukommt, wie Descartes es in seinem Werk durchgängig hervorhebt. Vgl. J.-M. Beyssade, »On the Idea of God: Incomprehensibility or Incompatibilities?«, in: St. Voss (Hg.), Essays on the Philosophy and Science of René Descartes, Oxford/New York 1993, 85–94. 29 H. Gouhier, La pensée metaphysique de Descartes, a. a. O., 221: »La métaphysique n’a plus alors d’autre ressource que la recherche du langage représentant la moins grave trahision.« Gouhier hat darauf hingewiesen, Descartes habe derartiges nicht ausdrücklich formuliert: »Certes, le philosophe n’a pas écrit ces choses; mais elles semblent inscrites dans sa philosophie.« (Ebd.) Dem darf man widersprechen, hat doch Descartes wiederholt die Unbegreiflichkeit der Macht Gottes, die die Fassungskraft unserer Vernunft übersteigt, betont. Dieser Allmacht Gottes entspringt bei Descartes unmittelbar und ausdrücklich eine Anthropomorphismus-Kritik.
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Einsicht, geschaffen worden sein zu müssen – darin folgt er der zentralen Reflexionsaufgabe der ignatianischen Exerzitien: Creatus est homo30 –, aber die Kontingenz des Geschaffenseins setzt die Grenze rationaler Nachvollziehbarkeit. Von der Idee Gottes sagt Descartes, sie sei »äußerst verschieden (extremement diuerse) von all denen, die wir von den geschaffenen Dingen besitzen«,31 und von Gott sagt er, »seine Macht ist unbegreiflich«.32 Vor dieser Unbegreiflichkeit Gottes als Schöpfer gewinnen Descartes’ Unnachgiebigkeit, die ewigen Wahrheiten vom Schöpfungswillen Gottes abhängen zu lassen, und die Bereitschaft, sich mit dieser Position zu isolieren, an systematischer Plausibilität. Die Betonung der durch die menschliche Rationalität nicht zu limitierenden Schöpfungskraft Gottes ist der Ausdruck dieser Unbegreiflichkeit und Freiheit Gottes. Sartre hat bei seiner Interpretation der cartesischen Philosophie genau in diesem Sinn herausgestellt, daß eine freie Handlung eine absolut neue Schöpfung ist, deren Keim nicht in einem vorweltlichen Zustand enthalten sein kann.33 Gott folgt bei seiner Schöpfung nicht dem Leitbild ewiger Ideen als dem Inbegriff rationaler Konstanten und Notwendigkeiten, sondern er setzt die ›ewigen Wahrheiten‹ als Prinzipien der Welt erst durch einen Schöpfungsakt ein. Für die Immanenz bedeutet das: Die strenge Zwangsläufigkeit, die in der Ordnung der Wahrheiten erscheint, wird selbst von der absoluten Kontingenz eines schöpferischen freien Willens aufrechterhalten.34 Erst die nicht limitierte Freiheit der Schöpfungspotenz mache den cartesischen Gott zu dem einzigen Schöpfergott (le seul Dieu créateur): »Er ist in der Tat weder Prinzipien – es sei denn dem der Identität – noch einem höchsten Gut unterworfen, dessen bloßer Vollstrecker er wäre. Er hat nicht nur die Existenzen nach seinem Willen geschaffen, sondern alles Seiende und zugleich ihre Essenzen, die Welt und zugleich die Gesetze der Welt, die Individuen und zugleich die ersten Ursachen.«35 Gott ist in seiner schöpferischen Freiheit
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Ignatius von Loyola, Exercitia spiritualia, n. 23 (MHSI 100, 164). Brief an de Launay, (22. Juli 1641 ?) (AT III, 421): »… extremement diuerse de toutes celles que nous auons des choses creées …« 32 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 146): »… sa puissance est incomprehensible …« 33 J.-P. Sartre, »La Liberté cartésienne«, in: ders. (Hg.), Descartes. 1596–1650, a. a. O., 47: »… qu’un acte libre était une production absolument neuve dont le germe ne pouvait être contenu dans un état antérieur du monde …« 34 Ebd., 48: »… la nécessité rigoureuse qui paraît dans l’ordre des vérités est elle-même soutenue par la contingence absolu d’un libre arbitre créateur.« 35 Ebd., 45: »Il n’est soumis en effet ni à des principes – fût-ce à celui d’identité – ni à un souverain Bien dont il serait seulement l’exécuteur. Il n’a pas seulement créé les existants conformément à des règles qui se seraient imposées à sa volontè, mais il a créé à la fois les êtres et leurs essences, le monde et les lois du monde, les individus et les principes premiers …«
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VIII. Schluß
für Descartes unbegreiflich. Inbegriff seiner höchsten Allmacht ist seine höchste Indifferenz.36 Die Unbegreiflichkeit Gottes macht ihn nicht zu einem Willkürgott, sie ist aber die Folge einer invertierten Metaphysik, für die eine Analogie von göttlichem und humanem Geist nicht mehr gilt. Die Aufkündigung dieser Analogie hat in Descartes’ Einschränkung, der Mensch sei gleichsam ein Abbild Gottes, seinen Ausdruck gefunden. Deutlicher mußte er nicht werden, war es doch brisant, eine biblisch verbürgte und theologisch kanonisierte Deutung des Menschen derart einzuschränken.37 Ein abschließender Blick auf diese Tradition einer geistmetaphysischen Analogisierung vermag Descartes’ Einschränkung resümierend zu konturieren. Bereits Augustinus hatte unter neuplatonischem Einfluß die Gottebenbildlichkeit über die Spur der Trinität (vestigia trinitatis) im menschlichen Geist aufzuweisen versucht. Für ihn ist jeder einzelne Mensch eine Person und in seinem Geist Bild der Dreieinheit.38 Er dechiffriert die dynamische Intentionalität des menschlichen Geistes als eine Trias von Sein, Wissen und Wollen (esse, nosse & velle),39 von Erinnerung, Einsicht und Wille (memoria, intelligentia & voluntas) 40 oder auch von Geist, Liebe und Erkenntnis (mens, amor & notitia).41 Entscheidend ist für Augustinus die Konstanz der trinitarischen Struktur, nicht die Umbesetzbarkeit der triadischen Momente. Trotz seiner Ablösung von der platonisch-augustinischen Linie kann auch Thomas von Aquin sich auf die Tradition berufen, der Mensch sei nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, insofern er zum Verstehen fähig, zur Entscheidung frei und durch sich selbst mächtig sei.42 Für Thomas gilt noch, daß sich in den vernunftbegabten Geschöpfen die Trinität in der Weise des Bildes (per modum imaginis) finden lasse, und er gesteht grundsätzlich allen Dingen die Spur der Trinität (per modum vestigii) zu.43 Für Cusanus ist der Mensch ein hohes Abbild Gottes (alta dei similitudo).44 Er beschreibt die göttliche Absolutheit als die Dreiheit von Werden-Können, Wirken-Können
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Responsiones VI (AT VII, 432): »Et ita summa indifferentia in Deo summum est ejus omnipotentiae argumentum.« 37 Ihren Ausgang nimmt diese Tradition in Gen 1, 26 f. 38 Augustinus, De trinitate XV 7, 11 (PL 42, 1065): »Quapropter singulus quisque homo … una persona est, et imago est Trinitatis in mente.« 39 Augustinus, Confessiones XIII 11, 12 (PL 32, 849). 40 De trinitate X 11, 18 (PL 42, 983). 41 De trinitate IX 4, 4 (PL 42, 963). 42 Thomas von Aquin, Summa theologiae I–II, Prol. (ed. Leonina VI, 5): »Quia … homo factus ad imaginem Dei dicitur, secundum quod per imaginem significatur intellectuale et arbitrio liberum et per se potestativum …« 43 Summa theologiae I, qu. 45, art. 7 (ed. Leonina IV, 475 f.). 44 Nikolaus von Kues, De coniecturis I, cap. 1, n. 5 (Opera omnia III, 7).
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und die Verbindung beider.45 Der Mensch, der in seinem Geist »das Bild des ewigen Geistes« (imago mentis aeternae) 46 ist, bezieht seine schöpferische Potenz eben aus dieser Analogie. So ist es Cusanus möglich, in Anlehnung an Hermes Trismegistos den Menschen als einen »zweiten Gott« zu beschreiben,47 dessen Gottesähnlichkeit in der schöpferischen Potenz bestehe, etwa die Mathematik hervorzubringen.48 Hatte Thomas von Aquin die Dinge noch als das Maß des theoretischen Intellekts beschreiben können, der von den Dingen empfängt und durch sie gleichsam bewegt wird,49 ist für Cusanus der Mensch das Maß der Dinge.50 Seine trinitarische Potenz in der Erkenntnis der Dinge besteht in dem Angeglichenwerden-Können und Angleichen-Können und der Verbindung beider.51 Der Mensch ist also ein Gott, aber nicht schlechthin, da er ja ein Mensch ist, er ist also ein menschlicher Gott.52 Für Descartes dagegen ist der Mensch nur noch ›gleichsam‹ ein Abbild Gottes. War für Cusanus die menschliche Natur in ihrer Einheit als Geist eine auf menschliche Weise eingeschränkte Unendlichkeit,53 ist für Descartes die menschliche Vernunft nicht mehr durch eine Analogisierung zum göttlichen Intellekt zu begreifen. Galt noch für Thomas von Aquin, daß sich die Gottähnlichkeit des Menschen in der Freiheit seines Willens und in dem Gebrauch seines Intellekts zeigt, »weil auch Gott sich selbst gegenüber in keiner anderen Weise tätig ist«,54 ist der Mensch für Descartes allein aufgrund seiner Willensfreiheit 45
Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. 11, n. 131 (Opera omnia V, 185): »Attende igitur, quomodo absolutum posse fieri et absolutum posse facere et absolutus nexus non sunt nisi unum infinite absolutum et una deitas.« 46 Idiota de mente, cap. 11, n. 133 (Opera omnia V, 186). 47 Nikolaus von Kues, De beryllo, n. 7 (Opera omnia XI–1, 9): »Quarto adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum deum.« In De coniecturis II, cap. 14, n. 144 (Opera omnia III, 144) spricht Nikolaus von dem Menschen als einem menschlichen Gott: »humanus est deus«, wobei die Leichtigkeit auffällt, mit der er zu dieser Formel greift. 48 Vgl. De beryllo, n. 55 (Opera omnia XI–1, 62 f.). 49 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae De veritate, qu. 1, art. 2 (ed. Leonina XXII–1, 9): »… sed intellectus speculativus, quia accipit a rebus, est quodam modo motus ab ipsis rebus, et ita res mensurant ipsum …« 50 Vgl. De beryllo, n. 6 (Opera omnia XI–1, 8). 51 Idiota de mente, cap. 11, n. 133 (Opera omnia V, 186): »Est enim ipsa mens nostra, ut est similitudo divinae, uti vis alta consideranda, in qua posse assimilari et posse assimilare et nexus utriusque in essentia unum sunt et idem.« 52 De coniecturis II, cap. 14, n. 143 (Opera omnia III, 143): »Homo enim deus est, sed non absolute, quoniam homo; humanus est igitur deus.« 53 De coniecturis II, cap. 14, n. 144 (Opera omnia III, 144): »Nam humanitas unitas est, quae est et infinitas humanitas contracta.« 54 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, cap. 46 (ed. Leonina XIII, 374): »… quia nec ipse Deus aliter erga seipsum operationem habet …«
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VIII. Schluß
gleichsam ein Abbild und Gleichnis des Göttlichen. Es ist allein der freie Wille, der eine Ähnlichkeit des Menschen mit Gott begründet. Unter einer Inversion der Metaphysik ist daher eine Abkopplung der humanen Rationalität von einer Geistmetaphysik zu verstehen, die auf ein Verhältnis der Analogie rekurriert. In ihrer Stringenz stellt diese Abkehr aufgrund einer »neuen Idee Gottes«55 einen Umbruch in dem Selbstverständnis der Rationalität dar. Unter ratio wurde innerhalb der lateinischsprachigen Philosophie – oftmals kaum unterscheidbar – sowohl das diskursive Begreifen des Verstandes als auch das intuitive Erfassen von Prinzipien durch die Vernunft verstanden. Schon Tertullian hat bei seiner Aufzählung der Seelenvermögen die rationalitas und die intellectualitas gleichberechtigt nebeneinander gestellt.56 Ratio konnte neben dem intellectus oftmals gleichwertig als eine Übersetzung von λóγος gebraucht werden. Auf Details der wechselhaften Geschichte des Rationalitätsbegriffs kommt es hier nicht an, wohl aber auf die mögliche Konnotation, die einem idealistischen Rationalismus in der weiteren Tradition Platons beigemessen werden konnte. Nachdem er die Welt der Götter beschrieben hat, folgert Cicero: »Folglich müssen sie dieselbe Ratio besitzen wie das Menschengeschlecht, und auf beiden Seiten muß dieselbe Wahrheit und dasselbe Gesetz gelten …«57 Eben das bestreitet Descartes. Gottes Wahrheit ist aufgrund seiner Unbegreiflichkeit nicht die unsrige, denn wir können sicher sein, daß Gott alles machen kann, was wir begreifen können, nicht aber, daß er nicht machen kann, was wir nicht begreifen können. Es wäre Vermessenheit zu denken, daß unser Vorstellungsvermögen einen ebensolchen Umfang habe wie seine Macht.58 Die cartesische Rationalität ist ein Hilfsmittel für ein Wesen, das mit der Kenntnis letzter Ziele nicht mehr ausgestattet ist. »Denn da ich nun weiß, daß meine Natur sehr schwach und begrenzt, die Natur Gottes aber immens, unbegreiflich und unendlich ist, weiß ich dadurch auch zur Genüge, daß er ungezählter Dinge fähig ist, deren Ursachen ich nicht kenne; und aus diesem Grund allein glaube ich, daß diese ganze Gattung von Ursachen, die man üblicherweise dem Zweck entnimmt, in der Physik keinerlei Nutzen hat …«59 Zwar geht Des-
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Vgl. das Kapitel »Une nouvelle idée de Dieu« bei E. Gilson, Études sur le rôle de la pensée médiévale dans la formation du système cartésien, a. a. O., 224–233. 56 Tertullian, De anima 38, 6 (CCSL II, 842). 57 Cicero, De natura deorum II 79 (ed. W. Gerlach/K. Bayer, 232): »Sequitur, ut eadem sit in is, quae humano in genere, ratio, eadem veritas utrobique sit eademque lex …« 58 Brief an Mersenne, 15. April 1630 (AT I, 146). 59 Meditationes IV (AT VII, 55): »Cùm enim jam sciam naturam meam esse valde infirmam & limitatam, Dei autem naturam esse immensam, incomprehensibilem, infinitam, ex hoc satis etiam scio innumerabilia illum posse quorum causas ignorem; atque ob hanc unicam rationem totum illud causarum genus, quod a fine peti solet, in rebus Physicis nullum usum habere existimo …«
§ 35 Kontingenz und Rationalität
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cartes von der zweifelsfreien Beweisbarkeit der Existenz Gottes aus und schreibt ihm die erkennbaren Attribute der Vollkommenheit, der Unendlichkeit und der Gutheit zu, aber trotz dieser attributiven Bestimmbarkeit Gottes entzieht er sich in dem Aspekt der schöpferischen Freiheit. Bereits seine Schöpfung übersteigt die menschliche Intellektualität, so daß Descartes ein kosmologischer Gottesbeweis von vornherein vereitelt ist. Thomas von Aquin hatte noch formulieren können, nur dasjenige werde ein wahrer Stein genannt, was die eigentümliche Natur eines Steines erreiche, insofern sie vom göttlichen Intellekt vorgedacht worden ist. Daher sei die Wahrheit ursprünglich im Intellekt und erst in zweiter Linie in den Dingen, insofern sie auf den Intellekt als ihren Ursprung bezogen werden.60 Das Vorgedachtsein aller Dinge im Intellekt Gottes verbürgt für ihn ihre Erkennbarkeit auch durch den humanen Intellekt. Von dieser Absicherung ist der Intellekt bei Desartes gleichsam abgeschnitten: »Gott allein vermag daher zu wissen, daß er die adäquate Erkenntnis aller Dinge hat.«61 Die cartesische Rationalität etabliert daher eine zweite Ordnung. Da sich die von Gott eingesetzte Ordnung der Dinge aufgrund der Verborgenheit der finalen Ziele der Einsehbarkeit entzieht, entwirft Descartes eine rationale Ordnung der Gedanken und Kenntnisse. Dieser ordre des raisons entspringt allein dem, worüber der Mensch Macht besitzt: den Gedanken.62 Um eine zweite Ordnung humaner Rationaliät zu errichten, bedarf es einerseits einer genauen Kenntnis der Grenzen unserer Erkenntniskraft, andererseits ist es notwendig, zunächst an allem zu zweifeln, nur nicht an eben dieser Kraft des Verstandes.63 Die Inversion der Metaphysik, die von einer Unbegreiflichkeit Gottes ausgeht, bedingt daher eine Hinwendung zur Anthropologie, die sich bei Descartes als eine immanente Rationalität Ausdruck verschafft. Wenn sich der menschliche Geist in seiner Intellektualität nicht mehr als ein analoges Abbild Gottes verstehen kann und die Kontingenz der Welt den Druck epistemologischer Anforderungen erhöht, bedarf es einer neuen Erforschung der eigenen Grenzen und Fähigkeiten. Dieser Mensch, der sich nach der Aufkündigung des Analogieverhältnisses seiner eigenen Fähigkeiten erst noch zu vergewissern hat, ist ein sich selbst noch verborgener Mensch, ein homo absconditus.64 Aufgrund des Vertrauens auf die Kraft der natürlichen Vernunft kann Descartes den ordre des raisons als eine umfassende 60 61
Summa theologiae I, qu. 16, art. 1 (ed. Leonina IV, 207). Responsiones IV (AT VII, 220): »… idcirco solus est Deus qui novit se habere cognitiones rerum omnium adaequatas.« 62 Vgl. den Brief an Unbekannt, März 1638 (AT II, 36): »… il n’y a rien qui soit entierement en nostre pouuoir que nos pensées …« 63 M. Gueroult, Descartes selon l’ordre des raisons, a. a. O., Bd. I, 15 f.: »… il faut chercher à déterminer les limites de notre intelligence; … il est nécessaire de douter préalablement de tout, mais de ne point douter de notre intelligence.« 64 Vgl. J. Goldstein, »Homo absconditus. Der verborgene Mensch als Folge des theolo-
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VIII. Schluß
Neuordnung des Wissens verstehen. Es sei keine unermeßlich große Aufgabe, alles, was in diesem Universum enthalten ist, im Denken erfassen zu wollen, um zu erkennen, wie das Einzelne einer Prüfung durch unseren Verstand dargeboten ist.65 Nicht von ungefähr hat Descartes die Inauguration dieser neuen Rationalität, der sich der ordre des raisons verdankt, im Rahmen einer spekulativen Kosmogenese durchgeführt. Die Ordnung zweiten Grades erreicht die von Gott eingesetzte Ordnung nur hypothetisch, da unser Denken den Dingen keine Notwendigkeit aufzuerlegen vermag, aber aufgrund der Verläßlichkeit der göttlichen Bonität doch wohl zureichend genug, um dem cartesischen Ziel zu genügen, durch eine pragmatische Wissenschaft die Welt des Menschen zu gestalten. Es wäre eine unzulässige Dramatisierung, die Kontingenz als ein Trauma des cartesischen Denkens zu beschreiben. Zwar reagiert der Cartesianismus in entschiedener Weise auf die Reflexion der Kontingenz, aber dieser Reflexion sind moderne Konnotationen und pathosbesetzte Verlustempfindlichkeiten fremd. Man kann es auch so sagen: Für Descartes ist Kontingenz eine rationale Herausforderung, aber keine existentielle Beunruhigung. Maurice Merleau-Ponty hat dies bei seiner Interpretation des cogito im Rahmen seiner Phénoménologie de la Perception klar gesehen: »Die Kontingenz der Welt ist schließlich nicht als Sein minderen Ranges zu verstehen, als Lücke in einem Gewebe notwendigen Seins, als Gefährdung der Rationalität, noch auch als ein Problem, das es so schnell wie möglich zu lösen gälte durch die Entdeckung einer tieferen Notwendigkeit. Das trifft nur die ontische, innerweltliche Kontingenz. Die ontologische Kontingenz, die der Welt selbst, als eine radikale, ist im Gegenteil das, was ein für allemal unserer Idee der Wahrheit zugrunde liegt.«66 Cartesische Rationalität ist die zu einer operativen Gestalt gewordene Bewältigungsform einer kontingenten Welt mit nicht absolut notwendigen Prinzipien. Erst wenn man die cartesische Philosophie als einen Palimpsest liest, gewinnt sie vollends an Lesbarkeit. Ihr oftmals unausdrücklicher, aber systematisch
gischen Voluntarismus«, in: G. Mensching (Hg.), Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter, Würzburg 2005, 38–54. 65 Regulae VIII (AT X, 398): »Neque immensum est opus, res omnes in hac vniversitate contentas cogitatione velle complecti, vt, quomodo singulae mentis nostrae examini subjectae sint, agnoscamus …« 66 M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, Paris 1945, 456: »Enfin la contingence du monde ne doit pas être comprise comme un moindre être, une lacune dans le tissu de l’être nécessaire, une menace pour la rationalité, ni comme un problème à résoudre le plus tôt possible par la découverte de quelque nécessité plus profonde. C’est là la contingence ontique, à l’intérieur du monde. La contingence ontologique, celle du monde lui-même, étant radicale, est au contraire ce qui fonde une fois pour toutes notre idée de la vérité.«
§ 35 Kontingenz und Rationalität
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durchscheinender Hintergrund läßt sich durch eine genealogische Befragung in seiner Sichtbarkeit steigern.67 Der traditionelle, spätmittelalterlich entfaltete Begriff der Kontingenz erscheint dann als eine Bedingung der Notwendigkeit, die cartesische Rationalität entworfen zu haben. Eine Aufmerksamkeit gegenüber der oftmals unausdrücklichen Relation von Kontingenz und cartesischer Rationalität ermöglicht es, gleichsam der allmählichen Verfertigung der cartesischen Gedanken beim Reden nachträglich beizuwohnen.68 Klassizität begründet sich nicht allein durch eine Novität des Vertretenen, sondern zugleich durch eine neuartige Aneignung des Alten. Daher zeichnet es Descartes aus, daß in seiner Philosophie nicht allein seine eigenen Gedanken zur Sprache kommen.
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Bleibt die Frage, warum Descartes den für ihn so wichtigen Begriff der Kontingenz kaum benutzt hat. Darauf habe ich keine Antwort, aber eine Vermutung: Vielleicht war ihm der Begriff contingentia zu mittelalterlich. Seine exponierte Verwendung hätte dem Modernitätsimpetus der cartesischen Philosophie im Wege gestanden. Zwar verwendet Descartes auch andere traditionsverhaftete Termini, aber doch nur dann, wenn er auf ihren expliziten Gebrauch nicht verzichten und er sie inhaltlich umschmelzen und somit modernisieren kann. Bei dem Begriff der Kontingenz gab es nichts umzudeuten. Daher konnte er wirksam sein, ohne genannt werden zu müssen. 68 Vgl. H. v. Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (ed. H. Sembdner II, 319–324).
Nachwort
Versteht man das Philosophieren als ein geistiges Nomadentum, ist man längst schon woanders, wenn ein Text als Dokument des gedanklichen Unterwegsgewesenseins im Druck erscheint. Wie ein Reisetagebuch erinnert er daran: An diesen Orten des Denkens bin ich gewesen. Die größte Herausforderung der Interpretation besteht darin, das weitläufige Werk eines Klassikers zu durchschreiten, um eine eigene Route zu finden. Mag es auch schon lange kein unwägbares Gelände mehr sein, da die Deutungswege durch die Rezeptionsgeschichte vorgezeichnet und die markanten Punkte dieses Denkens kartographiert sind, ist allein schon die Aussicht Antrieb genug, durch selten begangene, zugewucherte oder überraschend sich eröffnende Pfade neue Ein- und Ausblicke erschließen zu können. Jacob Burckhardt hat von der Unerschöpflichkeit der Quellen gesprochen. Jeder müsse die tausendmal ausgebeuteten Bücher wiederlesen, da es immer Neues zu bemerken und zu entdecken gebe. Es gehört zu meinen schönsten Erfahrungen des Lesens, ihm Recht geben zu müssen. Mag diese Relektüre der cartesischen Philosophie Umwege und Sackgassen der Interpretation enthalten – wenn sie die Lust am Bemerken widerspiegelt, ist eines ihrer Ziele erreicht. Die vorliegende Studie ist im WS 2005/2006 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen worden. Dem Institut für Philosophie danke ich für das gewährte Gastrecht. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Wolfram Hogrebe. Er hat die Arbeit betreut und unterstützt. Die Begutachtung haben die Professoren Wolfram Hogrebe, Theo Kobusch, Christoph Horn und Andreas Bartels vom Institut für Philosophie und der Anglist Prof. Dr. Uwe Baumann dankenswerterweise übernommen. Für die Möglichkeit, fünf Jahre vornehmlich mit der Lektüre und der Interpretation Descartes’ verbringen zu können, danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie hat die Entstehung der Studie durch ein dreijähriges Habilitandenstipendium gefördert. Mein freundschaftlicher Dank gilt Dr. Karl-Heinz Gerschmann, der das Manuskript sorgfältig durchgesehen und ihm durch behutsame Korrekturen manchen stilistischen Glanz verliehen hat. Basel, im August 2006
J. G.
Abkürzungsverzeichnis
Werke von Descartes AT
Oeuvres de Descartes, publiées par Charles Adam & Paul Tannery, 11 Bde., nouvelle édition, Paris 1996. Beeckman Descartes et Beeckman, in: AT X, 329–348. Burman Descartes et Burman (»Entretien avec Burman«), in: AT V, 144–179. Cogitationes Cogitationes privatae, in: AT X, 213–248. Compendium Compendium musicae, in: AT X, 89–141. Description La Description du corps humain et de toutes ses fonctions tant de celles qui ne dependent point de l’ame, que de celles qui en dependent. Et aussi la principale cause de la formation de ses membres, in: AT XI, 223–286. Dioptrique La Dioptrique, in: AT VI, 81–228. Discours Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences, in: AT VI, 1–78. Dissertatio Dissertatio de methodo recte utendi ratione et veritatem in scientiis investigandi, in: AT VI, 540–583. Homme Traité de l’homme, in: AT XI, 119–202. Meditationes Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia & animae immortalitas demonstratur, in: AT VII, 1–90. – Objectiones Objectiones doctorum aliquot virorum in praecedentes Meditationes, in: AT VII, 91 ff. – Responsiones Responsiones authoris, in: AT VII, 101 ff. Méditations Les Méditations métaphysiques touchant la première philosophie, dans lesquelles l’existence de Dieu, et la distinction réele entre l’âme et le corps de l’homme, sont demonstrées, in: AT IX–1, 13–72. – Obiections Obiections faites par des personnes tres-doctes contre les precedentes Méditations, in: AT IX–1, 73 ff. – Réponses Réponses de l’auteur, in: AT IX–1, 81 ff. Météores Les Météores, in: AT VI, 231–366. Monde Le Monde ou Traité de la lumière, in: AT XI, 1–118. Notae Notae in programma quoddam, sub finem anni 1647 in Belgio editum, cum hoc titulo: Explicatio mentis humanae, sive animae rationalis, ubi explicatur quid sit, & quid esse possit, in: AT VIII–2, 341–369. Opuscules Opuscules de 1619–1621: Extraits de Baillet (Vie de Monsieur Des-Cartes), in: AT X, 171–204.
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Passions Principes Principia Recherche Regulae
Abkürzungsverzeichnis
Les Passions de l’âme, in: AT XI, 301–488. Les Principes de la philosophie, in: AT IX–2. Principia philosophiae, in: AT VIII–1, 1–329. La Recherche de la vérité par la lumière naturelle, in: AT X, 495–527. Regulae ad directionem ingenii, in: AT X, 359–469.
Sonstige Abkürzungen CCCM CCSL MHSI PL
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Abaelard, P. 60 Abel, G. 179, 285 Abercrombie, N. 20, 243 Adam, Ch. 36 Aegidius Romanus 104 f. Aertsen, J. A. 65 Agricola, R. 35, 134 Alanen, L. 114 Albertus Magnus 151 Al-Gazali 66 Alsted, J. H. 134 Anselm von Canterbury 62, 271, 272, 274 Apollonius 357 Archimedes 197 f., 201, 202, 223, 357 Archytas 147 Ariew, R. 36, 209, 217 Aristoteles 11, 12, 13, 17, 26 f., 30, 45–53, 54, 64, 65, 69, 72, 82, 84, 91, 123, 127, 128, 145, 148, 149, 148–150, 151 f., 153 f., 173, 215, 217 f., 223, 246, 304, 314 Arnauld, A. 108, 234, 273 f., 275 Artusi, G. M. 309 Augustinus, A. 15, 29, 33, 70, 82, 92, 93, 120, 162, 219, 233–247, 268, 315–318, 322, 360 Augustus (Gaius Octavius) 127 Avicenna 66, 92 Bacon, F. 23, 123, 124 f., 127, 135, 137, 140, 166, 177 f., 218, 266, 277, 308 Baillet, A. 189 Balzac, J. L. Guez de 181 Bartholomäus von Medina 186 Bartuschat, W. 281, 292 Bayle, P. 76 f., 96 f., 156, 210, 215, 291, 292 Beck, L. J. 209 Becker-Freyseng, A. 26
Beckermann, A. 226 Beeckmann, I. 299, 302, 345 Behler, E. 60 Bennett, J. 292 Berkeley, G. 118 Bernhard von Clairvaux 212 Berning, M. 307 Bérulle, P. de 115 Beyssade, J.-M. 358 Blanchet, L. 233 Bloch, O. R. 173 Blumenberg, H. 28, 79, 84, 86, 91, 144, 173, 192, 193, 197, 211, 216, 250, 253 Boethius, A. M. S. 26, 53–58, 64, 94 Bonaventura 62, 91 f., 208, 304 Borelli, G. A. 328 Borgia, C. 104 Born, H. 39 Born, M. 39, 40 Borsche, T. 88 Bourdin, P. 210 Boutroux, É. 110, 115 Boxel, H. 279 f. Boyle, R. 123 f. Bracciolini, P. 173 Brachtendorf, J. 244 Bradwardine, Th. 152 Brague, R. 157 Brahe, T. 183 f. Brasset, H. 181 Brentano, F. 101, 109 Bruno, G. 148, 155, 156, 159 f., 163, 196, 197, 199, 217 f., 222, 300 Brüntrup, A. 85, 86 Bubacz, B. St. 238 Bubner, R. 27 Bucher, Th. G. 240 Burckhardt, M. 341
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Namenverzeichnis
Burman, F. 20, 109, 111, 123, 141, 145, 169, 218, 230, 231, 276, 283, 318, 325 Calcagnini, C. 196 f. Campanella, T. 196 Cassirer, E. 84, 189, 190, 206, 297 Caton, H. 101 Chadwick, H. 58 Chanut, H.-P 21, 22, 132, 160, 161, 162, 165, 167, 199, 200, 276, 283, 287 Charleton, W. 124 Cicero, M.T. 33, 34, 40, 43 f., 134, 194, 298, 312, 362 Ciermans, J. 320 Clarke, D. M. 21 Clavius, Chr. 282 Clemens VII. 192 Clerselier, C. 268 Colomer, E. 13 Colvius, A. 234, 244, 245, 246 f. Cottingham, J. 36, 209, 323 Coughlan, M. J. 239 Courtenay, W. J. 59 Cramer, W. 291 Curley, E. M. 115 Dancy, R. M. 52 Dante Alighieri 35, 128, 141 f. Darwin, Ch. 95 f. Demandt, A. 342 Demokrit 42, 148, 313 Derrida, J. 252 Des Chene, D. 36 Descartes, F. 356 Devillairs, L. 102 Dick, St. J. 89 Dietrich von Freiberg 336 f. Dinet, J. 210 Diogenes Laertius 42 Diophantus 307 Dobbs, B. J. T. 116 Doney W. 275 Duhem, P. 90, 92
Ebbinghaus, J. 18 Eco, U. 302 Eigen, M. 39 Einstein, A. 39 f. Elisabeth, Prinzessin von Böhmen 103, 104, 118, 160, 199, 218, 231, 255, 256, 284, 286, 306, 340 Enders, M. 152 Epikur 29, 42–44, 96 f., 155, 160 Euklid 282 Euringer, M. 99 Europaeus, L. C. (Pseudonym von Caspar Schoppe oder Giulio Clemente Scotti) 275 Eustachius a Sancto Paulo 33 Faust, A. 85 Ferdinand II. 215 Fernel, J. 328 Ferrier, G. 21, 198 Ficino, M., 178 Flasch, F. 88, 158, 185, 304, 336, 337 Fontenelle, B. de 10, 124, 127, 353 Formey, J. H. S. 96, 113, 354 Foucault, M. 252 Frankfurt, H. G. 115, 188, 213 Frauenstädt, J. 325 Frede, D. 49, 53 Freinshemius, J. 137 Freud, S. 95, 97 Freudiger, J. 351 Freundlieb, M. 27, 30, 94 Gadamer, H.-G. 34 Galilei, G. 19, 41 f., 100, 117, 129, 130, 131, 143, 163 f., 168 f., 184, 195, 197, 198, 223, 283, 297, 328 Garber, D. 22, 224, 256, 347 Gassendi, P. 23, 43, 97, 173–176, 254 f., 258, 272, 326 Gaukroger, St. 34, 115, 130, 143, 325, 327 Gaunilo von Marmoutiers 272 Gerschmann, K.-H. 276 Gerten, M. 298
Namenverzeichnis
Gibieuf, G. 230, 258, 331 Gierer, A. 39 Gilson, E. 20, 31, 65, 145, 209, 362 Ginnings, R. J. 181 Gloy, K. 41, 178 Glucksmann, A. 121 Goclenius, R. 25 Goethe, J. W. v. 95, 212 Goldstein, J. 19, 79, 81, 363 Gosztonyi, A. 147 Gothein, M. L. 341 Gottfried von Fontaines 92 Gottsched, J. Chr. 196 Gouhier, H. 215, 233, 355, 358 Graevenitz, G. v. 24 Grant, E. 91, 153, 154, 161 Gregor von Nyssa 212 Gregor von Rimini 77 Gruber, J. 53, 57 Guericke, O. v. 172 Gueroult, M. 288, 297, 363 Hacking, I. 102 Hafenreffer, M. 183 Halbfass, W. 336 Heckmann, H. 309 Hedwig, K. 68 Hegel, G. W. F. 17, 95, 292 Heidegger, M. 31, 33 Heinrich von Gent, 92, 337 Heiric von Auxerre 126 Heisenberg, W. 44, 195 Henrich, D. 95, 274 Hermes Trismegistos 157, 361 Hesiod 36, 144, 147 Hieronymus 60 Hiketas 194 Hintikka, J. 52, 238, 249, 307 Hipler, F. 196 Hipparch 129 Hobbes, Th. 20, 163, 179, 248, 265, 299, 320, 329 Hochstetter, E. 30 Hoffman, P. 226
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Hogelande, C. 220 Hogrebe, W. 24 Hölscher, L. 246 Homer 36 Honnefelder, L. 45, 66, 76 Horn, A. 201 Horn, Ch. 238, 239 f., 245 Hossenfelder, M. 43 Huber, P. 57 Hugo von St. Victor 152 f. Hume, D. 35, 331, 350 Husserl, E. 17 f., 32, 259 Huygens, C. 181, 356 Ignatius von Loyola 209–213, 222, 232, 359 Imbach, R. 217 Ingoli, F. 164 Jacobi, F. H. 293 Jacobi, K. 45 Jammer, M. 150 Jesseph, D. M. 36 Johannes Buridan 154 Johannes Duns Scotus 61 f., 63, 66, 68– 76, 87, 92 f. Johannes Gerson 212 Johannes Scotus Eriugena 70, 304 Jolley, N. 116 Kanitscheider, B. 133 Kant, I. 11, 12, 18, 24, 26, 31, 93, 130, 138, 144, 197, 272, 278, 343, 355 Kaulbach, F. 203 Keckermann, B. 134 Kemmerling, A. 248, 249, 337, 339 Kepler, J. 127, 129, 162 f., 183, 309, 329, 330, 331 Keßler, E. 35 Kleist, H. v. 365 Klemmt, A. 285 Knuuttila, S. 52, 114 Kobusch, Th. 63, 109, 273, 337, 340 Kolumbus, Chr. 32, 141
398
Namenverzeichnis
Kopernikus, N. 84, 150, 158, 159, 183 f., 186, 191–198, 200, 202 Koyré, A. 154 Kreimendahl, L. 35 Kreutz, A. 155 Kristeller, P. O. 226 Krug, W. T. 26, 96 La Mettrie, J. O. de 116, 228 Lambert, J. H. 183 Laporte, J. 113, 114 Lasswitz, K. 180 Launay. J. de 219, 226, 359 Lauth, R. 294 Le Moine, A. 102 Leibniz, G.W. 11, 42, 99, 102, 154, 155, 300, 342 Lessing, G. E. 95, 292, 293 Leukipp 42 Levinas, E. 253, 260, 263, 356 Liceti, F. 164 Lipsius, J. 179 Locke, J. 139, 224, 335, 337 Loeb, L. E. 35 Lohr, Ch. 13 Lovejoy, A. O. 52 Löwith, K. 30 Ludwig XIV. 342 Lukrez 42, 147, 155, 173
Mensching, G. 63, 67, 121 Mercati, A. 159 Merleau-Ponty, M. 10, 364 Mersenne, M. 12, 17, 21, 22, 33, 34, 99, 100, 103, 105, 106, 107, 115, 116, 117, 125, 130, 135, 142, 145, 161, 162, 175, 179, 181, 184, 191, 198, 218, 220, 223, 233, 234, 251, 266, 267, 268, 274, 275, 280, 284, 297, 303, 313, 320, 334, 338, 339, 340, 346, 348, 351, 356, 358, 359, 362 Mesland, D.-P. 108, 109, 112, 181, 206, 219, 230, 234, 236 Meyssonnier, L. 181 Michael Scotus 90 Micraelius, J. 25 Mikkeli, H. 298 Mintz, S. I. 179 Mittelstrass, J. 183, 195 Monod, J. 95 Montaigne, M. de 127, 157, 215, 218, 296, 358 Monteverdi, C. 309 Morus, H. 181, 255 Moseler, G. 309 Moser, S. 172 Moses Maimonides 62 Motte-Haber, H. de la 309 Mourant, J. A. 239, 245 Musil, R. 31
Machiavelli, N. 103 f. Mahnke, D. 156 Maier, A. 92 Malebranche, N. 102, 111 f., 278, 281 Maron, G. 213 Marquard, O. 11, 24 Marsilius von Inghen 154 Matthews, G. B. 240, 241 Maurer, A. 93 McColley, G. 91 Meier-Oeser, St. 86, 159 Meinel, Ch. 173 Melanchthon, Ph. 299 Mendelssohn, M. 202
Nadler, St. 123 Natorp, P. 41 Neemann, U. 347 Nelson, B. 186 Newcastle, Marquis de 21, 228 Newton, I. 116, 117, 154, 155, 172, 195 Nicetus s. Hiketas Nicolaus von Autrecourt 224, 266 Niebel, W. F. 346 Nikolaus von Kues 13, 14, 83–88, 89, 98, 156–159, 162, 168, 184–186, 192 f., 300, 301, 304, 305, 360 f. Nikolaus von Oresme 153 Nitsche, P. 309
Namenverzeichnis
Nizolius, M. 35 Nortmann, U. 47 Nussbaum, M. C. 27 f. Oakley, F. 59 Oeing-Hanhoff, L. 114, 208 Ohly, F. 41 Oksenberg Rorty, A. 208 Oldenburg, H. 277 Ong, W. J. 299 Osiander, A. 195 Osler, M. J. 173 Ovid 99, 326 f. Pabst, B. 173 Palingenius, M. (Pseudonym von Pier Angelo Manzoli) 154–156, 159 Pape, I. 11, 114 Pappus 307, 357 Paqué, R. 76 Pascal, B. 21, 97, 127, 130, 177, 235, 293, 298 f. Paul III. 192 Paulus 86 Peri, I. 131 Perler, D. 12, 16, 19, 57, 83, 177, 188, 226, 249, 267, 278, 310, 320, 330, 333, 334, 336, 344 Petrarca, F. 126, 217 Petrus Abaelard s. Abaelard, P. Petrus, K. 351 Petrus Lombardus 68, 93 Pico della Mirandola, G. 193, 342 Picot, C. 242 Platon 27, 30, 40 f., 84, 89, 101, 128, 144, 150, 182, 356, 357, 362 Platzeck, E.-W. 305 Plinius Secundus 34 Plotin 245, 273 Pluta, O. 260 Plutarch 41, 194 Poiret, P. 102 Pomponius Mela 126 f. Popkin, R. H. 214, 215, 223
399
Poser, H. 216 Proklos 67, 337 Ptolemäus 129, 183 Pufendorf, S. v. 16 f., 166 Pythagoras 345 Rahner, H. 212 Raimundus Lullus 13, 186, 246, 300–306 Ramus, P. 134, 136, 299 Randall, J. H. 225 f. Regius (Henry de Roy) 184, 225, 227 Reid, Th. 217 Rheticus, J. 192 Richard von Middleton 92 Rijk, L. M. de 317 Rochemonteix, C. de 209 Röd, W. 23, 297 Rodis-Lewis, G. 144 Roellenbeck, G. 155 Rorty, R. 18, 316, 343 Rosenthal, E. 127 Rothschuh, K. E. 325, 328 Rudolph, U. 278 Ruhstorfer, K. 212 Ryle, G. 277 f. Sanchez, F. 215, 221 Sarnowsky, J. 153, 154 Sartre, J.-P. 114, 214, 247, 249, 252, 359 Scheibe, E. 117 Schelling, F. W. J. 32 Schlapkohl, C. 55 Schmaltz, T. M. 36 Schmidt-Biggemann, W. 134, 289, 302, 305 Schmitt, Ch. B. 215 Schneider, I. 155 Schneider, M. 227, 330 Schnepf, R. 290 Schönberger, R. 60, 64, 65, 246 Schoock, M. 216 Schopenhauer, A. 325 Schrödinger, E. 40
400
Namenverzeichnis
Schuller, G. H. 279, 282 Schultz, U. 260 Schuster, J. A. 344 Seel, G. 49 Seneca, L. A. 44, 284, 285 Shapin, St. 137 Simplicius 182 Söder, J. R. 72, 76 Sokrates 357 Sommer, M. 37 Sorell, T. 20, 209 Specht, R. 116, 119, 177, 226, 293 Spinoza, B. de 23, 89 f., 101 f., 132, 210, 277–283, 287–293 Spruit, L. 314, 315, 320 Stallmach, J. 46 Stempel, W.-D. 89 Stephan Tempier s. Tempier, St. Stephanus de Borreto 92 Stierle, K. 35, 89 Stohrer, W. J. 213 Ströker, E. 117 Sturm, J. 299 Stürner, W. 121 Suárez, F. 110, 262, 265, 269, 270, 271, 320, 355 Tack, R. 174 Tannery, P. 36 Taylor, Ch. 233, 236 Tempier, St. 60, 90 f., 92, 154 Tertullian 362 Theoderich 53 Thomas Bradwardine s. Bradwardine, Th. Thomas von Aquin 11, 13, 17, 60 f., 64– 68, 71, 80, 89, 92, 94, 105, 108, 113, 119 f., 122, 125 f., 152, 186, 251, 272, 275, 304, 314, 315, 318, 323 f., 332 f., 336 f., 355, 360, 361, 363
Thomas von Kempen 211 Thomson, A. 209 Timochares 194 Torell, J.-P. 67 Valla, L. 35 Van de Pitte, F. P. 298 Vatier, A. 265, 348 Vendler, Z. 209 Verbeek, Th. 36, 216, 299 Verbeke, G. 66 Veron, F. 209 Vignaux, P. 81 Voetius, G. 216, 225, 253 Voltaire 182, 353 Weenix, J. B. 181 Weidemann, H. 50, 51 Weinrich, H. 220 Weizsäcker, C. F. v. 158 Werner, J. 193 f. Westfall, R. S. 124 Wetz, F. J. 354 Widmanstadt, J. A. 192 Wiehl, R. 287 Wilhelm von Ockham 35, 61, 63, 76–83, 87, 93, 109, 110 f., 172, 231, 321, 336 Williams, B. 138, 249, 264 Wilson, M. D. 109, 206 Winkler, R. 39 Wippel, J. F. 64 Wittgenstein, L. 311 Wymeersch, B. van 309 Zabarella, J. 225, 297 f., 305, 309 Zarlino, G. 308 Zekl, H. G. 149 Zuber, R. 285