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German Pages [407] Year 2020
Sapientia Islamica Studies in Islamic Theology, Philosophy and Mysticism Edited by Lejla Demiri (Tübingen) Samuela Pagani (Lecce) Sohaira Z. Siddiqui (Doha) Editorial Board Ahmed El Shamsy, Angelika Neuwirth, Catherine Mayeur-Jaouen, Dan Madigan, Frank Griffel, Joseph van Ess, Mohammad Hassan Khalil, Olga Lizzini, Rotraud Hansberger, and Tim J. Winter
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Florian A.G. Lützen
Sufitum und Theologie bei Aḥmad Ibn ʿAǧība Eine Studie zur Methode des Religionsbegriffs
Mohr Siebeck
Florian A.G. Lützen, geboren 1982; 2013 M. A. an der WWU Münster; 2013–17 Wiss. Mitarbeiter an der Universität Hamburg; 2018 Promotion; 2018–19 Gastwissenschaftler am Maimonides Centre for Avanced Studies (MCAS), Universität Hamburg; 2019–20 Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen, Zentrum für Islamische Theologie (ZITh); seit 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen, ZITh.
Dissertation, Universität Hamburg, 2018 ISBN 978-3-16-159074-0 / eISBN 978-3-16-159075-7 DOI 10.1628/978-3-16-159075-7 ISSN 2625-672X / eISSN 2625-6738 (Sapientia Islamica) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Minion gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Otterweier gebunden. Printed in Germany.
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers Koran 1:1 Wahrlich, o Schankwirt, die Liebe ließ mich vergeh’n Dein Gesicht als Leuchte genügt in dunkler finstrer Nacht Am Tage, wenn wir dich sehn, ist uns Erlös, o Mondespracht Sag mir, guter Freund, wie wir Geduld aufbringen soll’n. Deiner Güte wegen, Licht, o meiner Augen, sei mir Gefährte Welche Freude, ihr Gesell’n, wenn der Geliebte Einlass gibt: Dann bin ich und er ist Liebe im strahlenden Mondeslicht Deiner Güte wegen, Licht, o meiner Augen, sei mir Gefährte Aus dem Diwan des Abū l-Ḥasan aš-Šuštarī (gest. 668/1269)
Vorwort Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Version meiner Dissertation1 und ist dem Gelehrten und Sufi Aḥmad Ibn ʿAǧība (gest. 1224 n. H./1809 n. Chr) gewidmet, genauer gesagt seinem Religionsbegriff. Dieser ist deshalb von Interesse, weil Ibn ʿAǧība zum einen als Gelehrter in den traditionellen, theologischen Wissenschaften über eine beträchtliche geistige Reichweite verfügte und zum anderen, weil er sich später gänzlich dem Sufitum (taṣawwuf ) hingab und schließlich auch in dieser Disziplin als Meister anerkannt wurde. Einfacher ausgedrückt ist die Frage nach dem Religionsbegriff bei Ibn ʿAǧība die Frage danach, wie sich Sufitum und Theologie zueinander verhalten. Da nun der Name Ibn ʿAǧība im deutschsprachigen Raum bisher nicht bekannt ist – diese Studie ist die erste in deutscher Sprache zu seiner Person – ist es angebracht, hier im Vorfeld ein paar allgemeine Informationen über ihn bereitzustellen und ihn in die Geschichte der Theologie einzuordnen. Ibn ʿAǧība stammte aus einfachen Verhältnissen und wuchs im Gebiet um Tétouan, Marokko, behütet auf. Mit beträchtlichem Wissensdurst ausgestattet führte sein Studium ihn schließlich auch nach Fès, wo er unter anderen bei dem einflussreichen Gelehrten Muḥammad at-Tāwudī ibn Sūda (gest. 1209/1795) lernte. Zurück in Tétouan und bereits in seinen 40ern – er war derzeit als Gelehrter tätig, hatte theologische Schriften verfasst und gute Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere als Gelehrter, wahrscheinlich als Richter – wendete sich das Blatt. Seine schon vorhandene Neigung zum Sufitum, das er während seines Studiums theoretisch kennengelernt hatte und das, wie in der späten Phase der muslimischen Gelehrsamkeit (ca. 8./14.–12./18. Jhdt.) üblich, auf die eine oder andere Weise Bestandteil des alltäglichen Lebens war, wurde so stark, dass er sich schließlich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzog. In der Zeit zwischen Lehrtätigkeit und Rückzug begegnete er seinem Meister im Sufitum, Muḥammad al-Būzīdī (gest. 1229/1814), sowie auch dessen Meister Muḥammad al-ʿArabī ad-Darqāwī (gest. 1239/1823) und begann ein neues Leben. Zum Entsetzen seines Umfelds gab er seine Karriere tatsächlich auf und wurde gesehen, wie er den Markt von Tétouan fegte und einfachste Aufgaben 1 Dissertation ursprünglich (2018) eingereicht unter dem Titel: „Der Religionsbegriff (dīn) bei Aḥmad Ibn ʿAǧība (gest. 1223/1809) und die Stellung der išāra – Eine Untersuchung der Methode und Zielsetzung des Religionsbegriffs aus sufischer Perspektive“.
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verrichtete, wie etwa Wasser zu verkaufen. Doch damit nicht genug, er ging auf Reisen und lud zum Weg der Sufis in der Tradition seiner Meister ein, was kurz darauf manche offiziellen Würdenträger verärgerte. Im Zuge einer Auseinandersetzung mit diesen mussten er und seine Anhänger einige Schikanen ertragen. Die Lage beruhigte sich schließlich durch einen personellen Wechsel in der Obrigkeit, er überlebte den Pestbefall und verstarb im Alter von 63 Jahren in Ġmāra, in der Nähe von Tétouan. In meiner Zählung verfasste Ibn ʿAǧība ca. 50 Werke, die meisten davon im Fach Sufitum, und dies, nachdem er seinem Meister al-Būzīdī begegnet war. Berühmt ist er heute insbesondere für seine Koranexegese (tafsīr) Al-baḥr almadīd fī tafsīr al-Qurʾān al-maǧīd, in der er zunächst die Sprache und den Kontext der Ayas (Koranverse), d. h. deren historische und theologische Bedeutung, beleuchtet. Im Anschluss daran offeriert er immer auch eine allegorische Bedeutung der Ayas; Bedeutungen, die der koranische Text darüber hinaus birgt. In der Sprache Ibn ʿAǧības ausgedrückt bildet die sprachliche und theologische Ebene die äußerliche Interpretation (ẓāhir), während die Interpretation, die insbesondere das Individuum des heutigen Lesers berücksichtigt, die innerliche (bāṭin) darstellt. Und beide korrespondieren wiederum zu den theologischen Wissenschaften und dem Sufitum, das er als das Herz der Theologie versteht. Darüber hinaus hat sein Kommentar zu den Weisheiten des Ibn ʿAṭāʾ Allāh asSakandarī (gest. 709/1309) Īqāẓ al-himam fī šarḥ al-ḥikam weite Verbreitung gefunden. Beide Werke können heute weltweit in Buchläden erstanden werden, dort wo entsprechende Literatur angeboten wird. Ibn ʿAǧība schrieb in den Fächern Hadith, Geschichte, Fiqh, Sprachwissenschaft, Koranwissenschaft, Glaubenslehre, insbesondere aber wie erwähnt im Fach Sufitum, das wie andere Fächer verschiedene Unterkategorien aufweist. Zudem verfasste er eine Autobiographie und einen Band mit Gedichten. Sein kreatives Potenzial war beträchtlich. Viele Werke sind in der Tradition des Kommentars geschrieben, etwa zum Koran, zu Gedichten, zu Hadith-Werken und in der Tradition der Geschichtsschreiber; die Kommentartradition der späten Phase der muslimischen Gelehrsamkeit ist ein noch weitgehend unbearbeitetes Gebiet und weist viele Eigenheiten auf, die es noch zu beleuchten gilt. Keine Erfindung Ibn ʿAǧības, aber doch besonders originell ist beispielsweise sein Sufi-Kommentar zur Grammatik der arabischen Sprache (Šarḥ al-muqaddima al-Āǧurrūmiyya). In anderen Werken schrieb er völlig frei, wie beispielsweise seine Ausführung zum Thema Schicksal und Bestimmung (Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar), zwei Abhandlungen zum Einheitsglauben (tawḥīd) aus Perspektive der Sufis sowie ein Lexikon zu den Fachbegriffen der Sufis, das äußerst präzise formuliert ist. Da in der jüngeren Vergangenheit ein paar wenige Studien zu Ibn ʿAǧība auf Französisch, Arabisch, Türkisch und Englisch verfasst wurden, die sich im Wesentlichen mit seiner Koranexegese auseinandersetzen, lag es
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nah, einmal die anderen Werke stärker ins Auge zu fassen und die Methodik in den Vordergrund zu rücken. Daraus ergab sich das Thema Religionsbegriff; zu untersuchen wie Ibn ʿAǧība Sufitum und Theologie zusammenführt, wobei zu bedenken ist, dass er das Sufitum niemals außerhalb der Theologie verortet, sondern gerade in deren Zentrum. Das Sufitum ins Zentrum der Theologie zu stellen war zu seiner Zeit nicht notwendigerweise eine Besonderheit; Ibn ʿAǧība erhielt auch viel Unterstützung vonseiten der Gelehrten, als er angegriffen wurde. Wie aktuelle Studien zur Geschichte des Sufitums und der Theologie in der späten Phase (ca. 8./14.– 12./18. Jhdt.) zeigen, waren Gesellschaft, Kultur und Gelehrsamkeit Marokkos tief durchzogen von den Traditionen der Sufis. Das soll nicht heißen, dass sich die Menschen seinerzeit alle als Sufis begriffen; der Begriff Sufi als Bezeichnung für eine Person war durchaus für jemanden reserviert, der sich den Lehren der Sufis voll und ganz widmete. Sufitum stand allerdings in einem allgemeinen Sinne auch schlicht für die innerliche Beschäftigung mit der Religion, wie sie in vormodernen Gesellschaften mal mehr mal weniger ausgeprägt vorkam und war auch vielen Gelehrten ein wichtiges Anliegen. Die Literatur der Sufis war zum Teil Bestandteil des Curriculums für einen angehenden Gelehrten, wie in dieser Studie auch zutage treten wird. Ibn ʿAǧība, wie auch seine Meister, stand in der Tradition der Šāḏiliyya, die etwa seit dem 8./14. Jahrhundert in Marokko und Afrika das Sufitum neben anderen Bewegungen stark geprägt hat. Auch Gelehrte, die nicht unmittelbar mit ihr assoziiert werden, gehörten ihr an, wie z. B. der Universalgelehrte Ǧalāl addīn as-Suyūṭī (gest. 911/1505) und der uṣūl-Gelehrte al-ʿIzz Ibn ʿAbd as-Salām (gest. 660/1262). Diese und viele andere Gelehrte und Sufis waren es, die es ermöglichten, dass Ibn ʿAǧība auf einen großen Schatz an Literatur zurückgreifen konnte, und er war sich dessen wohl bewusst. Das ist überhaupt ein Merkmal, das dem interessierten Leser seiner Werke an verschiedenen Stellen mindestens Respekt und manchmal Bewunderung abringt, da man nicht umhin kommt, anzuerkennen, auf welcher stark ausdifferenzierten Diskurstradition der Verfasser aufbaut und wie er diese auch zu interpretieren weiß. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Lehren der Sufis vermehrt in den Fokus gerückt. So haben sich Wissenschaftler aus verschiedenen Enden der Welt beispielsweise mit dem Werk Muḥyī d-dīn Ibn ʿArabīs (gest. 638/1240) auseinandergesetzt. Dabei wurden die Lehren dieses Sufis und Gelehrten, sowie in Anfängen auch dessen Schüler und Nachfolger, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und fruchtbar und zugänglich gemacht. Der Grund dafür, dass die Tradition Ibn ʿArabīs in den vergangenen Jahrzehnten auf breites Interesse gestoßen ist, liegt wahrscheinlich auch an der Sprache und intellektuellen Tradition des Ostens (Chorasan, Transoxanien, mā warāʾ an-nahr, etc.), wo Kalam, Philsophie und Sufitum sich stärker im Austausch befanden. Im Vergleich wurden die Gelehrten des Maghreb recht wenig beachtet, die sich im Allgemeinen etwas
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Vorwort
anderer Mittel bedienten, die die theologischen Lehren bereithielten, um das Sufitum zu begründen und überhaupt Theologie darzulegen, wie etwa Abū l-Ḥasan aš-Šuštarī (gest. 668/1269), Aḥmad Zarrūq (gest. 899/1494) und Ibn ʿAǧība. Die vorliegende Studie kann auch als Baustein verstanden werden, diese Lücke zu füllen. Bedanken möchte ich mich bei allen Beteiligten der Universität Hamburg sowie des Graduiertenkollegs Islamische Theologie der Stiftung Mercator; sie haben es ermöglich, dass ich diese Studie verfassen konnte. Die Diskussionen und Gespräche an der Universität und mit den Kollegiaten anderer Standorte waren mir stets eine Bereicherung. Darüber hinaus gilt mein Dank besonders meinen beiden Betreuerinnen, Frau Prof. Katajun Amirpur und Frau Prof. Lejla Demiri, die meine Bemühungen mit Vertrauen und Rat unterstützt haben. Einige Personen haben mir auf dem Weg zur Fertigstellung der Studie geholfen und verdienen spezielle Würdigung. Die Gespräche und Diskussionen mit Ali Ghandour waren mir stets eine Bereicherung. Ruggero Vimercati Sanseverino half mir in Gesprächen und Interviews Theorien und einige Details zu Ibn ʿAǧības Werk und seiner Person besser zu verstehen. Ǧaʿfar Ibn ʿAǧība hat mich herzlich in seinem Haus in Rabat empfangen; der Besuch dort hat einige wertvolle Hinweise ergeben. Die Angestellten der Ägyptischen Nationalbibliothek und der Bibliothek Alexandria waren äußerst hilfsbereit und haben die Manuskriptrecherche vor Ort erleichtert. Zu guter Letzt möchte ich mich außerordentlich bei all denen bedanken, die Teile des Texts gegengelesen haben, für ihre Korrekturen, Verbesserungen und Anmerkungen. Diese sind insbesondere Canan Bayram, Cüneyd Yıldırım, Hadiya Gurtmann, Maryam Marquard und Sema Küçük-Alageed. Gedankt sei auch Frau Elena Müller und Herrn Tobias Stäbler vom Verlag Mohr Siebeck. Und ein besonderes Dankeswort sei an meine Familie und Freunde gerichtet. Hamburg den 12. Februar 2020
Florian A.G. Lützen
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Glossar der verwendeten Begriffe und Fachbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Abkürzungen häufig verwendeter Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ziele und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Sprache, Stil und Fachbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1. Teil: Leben und Wirken von Aḥmad Ibn ʿAǧība . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Abstammung, Kindheit, Jugend und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2 Der Weg der Sufis – Vom Gelehrten zum Sufi-Gelehrten . . . . . . . . . . . . . 24 1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Teil 2: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1.1 Das Gabriel-Hadith und dessen Interpretationen . . . . . . . . . . . . 49 2.1.2 Islām und īmān . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1.3 Iḥsān . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.2 Der Ursprung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.2.1 Der Ruf zum Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.2.2 Einheitsglaube (tawḥīd) und die Läuterung von den verborgenen Götzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.2.3 Die ḥanīfe Religion und der Terminus Religion (dīn) . . . . . . . . . 83
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2.2.4 Der Weg zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.3.1 Die Šāḏiliyya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.3.2 Der Weg Ibn ʿAǧības, die Ṭarīqa Darqāwiyya-Šāḏiliyya . . . . . . . 106 2.3.3 Meister (šayḫ) und Aspirant (murīd) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.3.4 Die Schulen der Šāḏiliyya und der Ġazāliyya . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Teil 3: Die religiöse Lehre (ʿulūm ad-dīn) und das Sufitum (ʿilm at-taṣawwuf ) bei Ibn ʿAǧība . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.1.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.1.1.1 Die Verortung des Sufitums in der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.1.1.2 Definitionen, Methoden (uṣūl) und Grundprinzipien des Sufitums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3.1.1.3 Das nützliche Wissen – Wissen und Handeln (al-ʿilm wa l-ʿamal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1.1.4 Der Locus für das Wissen – Ego, Verstand, Herz und Seele . . . 147 3.1.2 Die Quellen Ibn ʿAǧības . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.1.2.1 Koran und Sunna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.1.2.2 Die Erfahrung des Herzens (ḏawq, mukāšafa und ilhām) . . . . . 157 3.1.2.3 Das Erbe der Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.1.2.4 Textuelle Quellen Ibn ʿAǧības . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3.2 Theologie und Sufitum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.2.1 Kalam und Sufitum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.2.1.1 Trennendes und Verbindendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3.2.1.2 Die Rolle des Verstandes (ʿaql) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3.2.1.3 Das Verhältnis des göttlichen Wesens zu den Eigenschaften . . . 187 3.2.1.4 Die Ablehnung von Monismus (ḥulūl und ittiḥād) . . . . . . . . . . . 192 3.2.2 Das Wirken Gottes in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3.2.2.1 Die Dualität der Welt – Innen und Außen, Scharia und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3.2.2.2 Die Lichtmetapher – das göttliche Wirken in der Welt . . . . . . . . 204 3.2.2.3 Das Motiv der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
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Teil 4: Verstehen und Deuten – die išārī-Interpretation Ibn ʿAǧības (Hermeneutik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4.1 Die Auslegung der Sufis (išāra) in der Geschichte der Theologie . . . . . . 216 4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4.2.1 Die Sprache der Sufis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227 4.2.2 Ausdruck (ʿibāra) und Hinweis (išāra) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.2.3 Die Funktion der išāra auf dem Weg – Zeichen und Wegweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.2.4 Verschiedene Formen der išāra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .237 4.3. Vermittlung und Rahmen der išāra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4.3.1 Die Meditation des Herzens ( fikra) – die unendlichen Bedeutungen der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4.3.2 Prophetische Erziehung (tarbiya nabawiyya) . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4.3.3 Voraussetzungen für die išāra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Teil 5: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre . . . . . . . 255 5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen (manāzil) der Reise zu Gott . 256 5.1.1 Islām – Hingabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.1.1.1 Tawba – Umkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.1.1.2 Taqwā – Gottesehrfurcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 5.1.1.3 Istiqāma – Aufrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.1.2 Īmān – Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5.1.2.1 Iḫlāṣ – Aufrichtige Ergebenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5.1.2.2 Ṣidq – Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 5.1.2.3 Ṭumaʾnīna – Seelenruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5.1.3 Iḥsān – Vervollkommnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5.1.3.1 Murāqaba – Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5.1.3.2 Mušāhada – Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5.1.3.3 Maʿrifa – Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 5.2 Schicksal und Bestimmung (al-qaḍāʾ wa l-qadar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5.2.1 Das Schicksal in den Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 5.2.2 Das Ziel der Norm und die duale Natur der Welt . . . . . . . . . . . . . 288 5.2.3 Krankheit und Prüfung und das Wirken Gottes . . . . . . . . . . . . . . 291 5.2.4 Gewissheit (yaqīn), Zufriedenheit (riḍā) und Aufgabe (taslīm) 295 5.3 Das Meer der Einheit (baḥr al-waḥda) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5.3.1 Das Sein (wuǧūd) Gottes und Seine Manifestation (taǧallī) . . . 301 5.3.1.1 Die göttliche Essenz (al-ḫamra al-azaliyya) . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5.3.1.2 Die göttliche Manifestation in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
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Inhaltsverzeichnis
5.3.2 „Das Lüften des Schleiers“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 5.3.2.1 Die menschlichen Handlungen und der freie Wille . . . . . . . . . . . 312 5.3.2.2 Göttliche und menschliche Eigenschaften (taʿalluq und taḫalluq) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 5.3.2.3 Der Talisman der göttlichen Essenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 5.4. Das Gottesgedenken (ḏikr) und das Gebet für den Propheten . . . . . . . . 323 5.4.1 Das Gottesgedenken (ḏikr Allāh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 5.4.2 Das Gebet für den Propheten Muḥammad . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 5.4.3 Der Rang des Propheten Muḥammad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Appendix 1: Überlieferungskette Ibn ʿAǧības . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Appendix 2: Manuskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Index Koranstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Hadithe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Schema des Stufengebildes islām, īmān und iḥsān . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Abb. 2: Die Ableitung der Lehren aus den uṣūl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Abb. 3: Die drei Lehren im Muster des Gabriel-Hadith und ihr Rahmen . . . 185 Abb. 4: Der Isthmus zwischen den Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Abb. 5: Die Stationen auf der Reise zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Glossar der verwendeten Begriffe und Fachbegriffe Af ʿāl: Die göttlichen Wirkungsmächte, Wirkungskräfte Aḥadiyya: Die Einhaftigkeit Gottes Aḥkām: Normen, Urteile ʿĀlam: Die Welt. Als Fachbegriff unterteilt in den Mikrokosmos (ʿālam ṣaġīr) und den Makrokosmos (ʿālam akbar). Siehe auch unter kawn Al-Ḥaqq: Ein Name Gottes, Der Wirkliche ʿAqīda: Glaubenslehre, Überzeugung Aṯar: Pl. āṯār. Spuren, Implikationen, Auswirkungen des Göttlichen in der Welt Awliyāʾ: Sing. walī. Die Freunde Gottes, Gotteskenner, Gottesfreunde Āya: (Aya) Vers aus dem Buch des Korans. Wörtliche Bedeutung: Zeichen Baqāʾ: Bestehen, Rückkehr aus dem Vergehen des Egos Bāṭin: Das Innere, die innere Dimension, allegorische Ebene, das Verborgene Dīn: Religion in einem ursprünglichen, umfassenden Sinne, Konfession, Glaube, Glaubensüberzeugung Ḏawq: Schmecken, Erfahrung des Herzens Fanāʾ: Verschwinden, Auslöschen, Vergehen des Egos oder des Selbst Fikra: Meditation, Nachsinnen Fiqh: Die Lehre von Ritus und Recht in der Islamischen Theologie Fiṭra: Die ursprüngliche Natur des Menschen. Vgl. Koran 30:30 Ǧabarūt: Omnipotenz Ġayr: Pl. aġyār. Anderes, andere Dinge, die scheinbar neben Gott existieren Ḥaqīqa: Als Fachbegriff in der Sufiliteratur bedeutet sie die Wirklichkeit hinter dem äußeren Schein der Dinge. In der Rhetorik das Gegenteil von Metapher Ḥiǧāb: Schleier, Hülle, Bedecken Ḥikma: Weisheit. Als sufischer Fachbegriff ein Synonym für Scharia und das Äußere (ẓāhir) Ḥizb: Pl. aḥzāb. Ähnlich einer Litanei, ein täglich zu lesendes Gebet. In anderem Kontext ein Abschnitt des Korans Ḫašya: Ehrfurcht ʿIbāda: Gottesdienst, gottesdienstliche Handlungen Iḫlāṣ: aufrichtige Ergebenheit Ilhām: Eingebung ʿIlm: Wissen, Lehre, Kunde oder Wissenschaft ʿIlm al-iʿtiqād: Lehre von der Glaubensüberzeugung; Synonym für Kalam
XVIII
Glossar der verwendeten Begriffe und Fachbegriffe
ʿIlm al-kalām: (Kalam) Lehre vom Disput. Oft als Synonym für uṣūl ad-dīn verwendet, Glaubenslehre oder Systematische Theologie. Siehe auch unter Mutakallimūn Istiqāma: Aufrichtigkeit Išāra: Hinweis, Verweis; die innere, allegorische Deutung von Texten und Dingen. Tafsīr bi-l-išāra oder einfach išāra ist die Interpretation auf der Ebene des Sufitums ʿIyān: Vollständige Einsicht oder Schau, Evidenz, innere Gewissheit Kašf, Mukāšafa: Entdeckung, Auffindung Kawn: Pl. akwān. Der Kosmos. Als Fachbegriff unterteilt in den Mikrokosmos (kawn ṣaġīr) und den Makrokosmos (kawn akbar). Siehe auch unter ʿālam Maḥabba: Liebe Malakūt: Göttliches Königreich, innerliche Welt Maʿrifa: Herzenserkenntnis, Gotteserkenntnis, innere Erkenntnis Mulk: Königreich, die äußerliche Welt Murāqaba: Wachheit, Konzentration, Erinnerung Murīd: Aspirant auf dem Weg der Sufis, Reisender, Suchender, der Gläubige Mušāhada: Anschauung Mutakallimūn: Sing. mutakallim. Ein Gelehrter im Fach Kalam. Auch in Abgrenzung zur Schule der Philosophen oder der Sufis verwendet. In der Studie eingedeutscht als Mutakallimun Nafs: Ego, Psyche, Gemüt, Selbst Naẓra: Einsicht, Introspektion Qudra: Allmacht oder Macht. Als sufischer Fachbegriff ein Synonym für Wirklichkeit (ḥaqīqa) oder das Innere (bāṭin) Riḍā: Zufriedenheit Salaf Ṣāliḥ: Die rechtschaffenen, frühen Muslime Sirr: Das Innerste, Geheimnis, Kern. Das Wort sirr deutet auf einen verborgenen Kern. Meist mit dem Wort Geheimnis übersetzt Sitr: Hülle, Schleier, Bedecken Šarḥ: Kommentar, Erklärung, Erläuterung Šarʿ: Offenbarung. Ursprung des Wortes Scharia. Meint die Informationen, die durch den Propheten Muḥammad als Mittler Gottes an die Menschen gegeben wurden. Dementsprechend ist Gott der wahre Offenbarer (šāriʿ ḥaqīqī) und der Prophet der metaphorische Offenbarer (šāriʿ maǧāzī) Šayḫ: Meister, Scheich, Sufimeister, Gelehrter Ṣidq: Wahrhaftigkeit Ṣuḥba: Begleitung. Als Fachbegriff: Das Begleiten eines Wissenden, um von ihm zu lernen. Oder Gemeinschaft bzw. Gefährtenschaft entweder eines Freundes, Bruders oder Meisters Taʿalluq: Verbundenheit, Beziehung, Ausrichtung auf die göttlichen Eigenschaften
Glossar der verwendeten Begriffe und Fachbegriffe
XIX
Tafsīr: Exegese, Koranexegese, Interpretation Taǧallī: Manifestation, göttliche Manifestation, die Selbstoffenbarung Gottes Taḫalluq: Sich selbst formen, im Sinne des taʿalluq Taqwā: Gottesehrfurcht Taslīm: Aufgabe, Hingabe, Unterwerfung Taṣawwuf: Sufitum. Die Lehre von der inneren Dimension der Religion, durch das Mittel der Erfahrung. Für weitere Definitionen siehe in der Einleitung Tawakkul: Vertrauen Tawba: Umkehr, Reue Tawḥīd: Einheitsglaube, Einheit, Monotheismus Ṭumaʾnīna: Seelenruhe ʿUbūda: Dienerschaft ʿUbūdiyya: Dienstbarkeit Uṣūl: Sing. aṣl. Wörtlich die Wurzeln, auch Grundlagen oder Fundamente und fachlich die Methodik oder Theorie für die Ableitung theologischer Gegenstände aus den Quellen. Zu finden u. a. in der Lehre des uṣūl ad-dīn (Glaubenslehre, Synonym für ʿaqīda, Kalam) sowie in der Lehre des uṣūl al-fiqh (Methoden der Rechtsfindung) und insbesondere im Kontext dieser Studie uṣūl at-taṣawwuf (Methoden des Sufitums). Waḥy: Fachterminus; die Eingebung oder Offenbarung des Korans an den Gesandten Gottes Muḥammad Wāḥidiyya: Einsheit Waraʿ: Frömmigkeit Wird: Pl. awrād. Schließt das ḥizb ein. Täglich zu lesende Gebete Wuǧūd: Sein, Existenz in einem umfassenden Sinne. Sein auch im Sinne des Bewusstseins Yaqīn: Gewissheit Ẓāhir: Das Äußere, Offenbare, das letztlich durch die Sinne Greifbare Zuhd: Askese
Abkürzungen häufig verwendeter Werke Werke von Aḥmad Ibn ʿAǧība BM Al-baḥr al-madīd fī tafsīr al-Qurʾān al-maǧīd Fahrasa Fahrasat Aḥmad Ibn ʿAǧība (Autobiographie) FI Al-futūḥāt al-ilāhiyya fī šarḥ al-mabāḥiṯ al-aṣliyya FQ Šarḥ al-futūḥāt al-quddūsiyya fī šarḥ al-muqaddima al-Āǧurrūmiyya IH Īqāẓ al-himam fī šarḥ al-ḥikam LQ Al-lawāqiḥ al-qudsiyya fī šarḥ al-waẓīfa az-Zarrūqiyya MSW Manāzil as-sāʾirīn wa l-wāṣilīn wa asrār ʿilm al-ḥaqīqa wa dawāʾir alḥaḍra wa aṣnāf al-awliyāʾ al-barara MT Miʿrāǧ at-tašawwuf ilā ḥaqāʾiq at-taṣawwuf SATH Šarḥ al-abyāt aṯ-ṯalāṯa li-Abī l-Qāsim al-Ǧunayd SBMS Šarḥ baʿḍ muqtaṭafāt aš-Šayḫ ʿAlī aš-Šuštarī SD Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar SHIF Šarḥ ḫamriyyat Ibn al-Fāriḍ SNS Šarḥ nūniyyat aš-Šuštarī SSIM Šarḥ ṣalāt al-quṭb Ibn Mašīš STB Šarḥ tāʾiyyat al-Būzīdī fī l-ḫamra al-azaliyya STIA Šarḥ taṣliyat Ibn ʿArabī TF Tafsīr al-fātiḥa al-kabīr TW Taqyīdān fī waḥdat al-wuǧūd
Weitere Abkürzung Kanz
ʿAlī al-Muttaqī al-Hindī, Kanz al-ʿummāl fī sunan al-aqwāl wa l-afʿāl
Einleitung Ziele und Methodik Die vorliegende Studie behandelt den Religionsbegriff des Sufis und Gelehrten Aḥmad Ibn ʿAǧība (gest. 1224/1809). Das Wort „Religionsbegriff “, vom Arabischen dīn, ist eine Umschreibung für den Begriff Theologie und verweist im Kontext dieser Studie auf den theoretischen und thematischen Schwerpunkt sowie auf die Konzeption der Lehre Ibn ʿAǧības. Die These der Studie lautet: Der Religionsbegriff wird bei Ibn ʿAǧība maßgeblich durch die Zusammenführung der verschiedenen Ebenen der Religion gestaltet, die Ebenen oder Stufen, wie sie im einflussreichen Gabriel-Hadith genannt werden: islām, īmān und iḥsān – Hingabe, Glaube und Vervollkommnung. Dabei kommt die höchste Priorität dem Sufitum, der dritten Stufe iḥsān, zu, auf der das Verstehen des Herzens im Mittelpunkt steht, um zwischen der historischen Offenbarung der Religion und dem Individuum, dem Rezipienten, zu vermitteln. Die Methode für diesen Zweck ist išāra beziehungsweise die Interpretation durch išāra, durch die auf die tieferliegenden Bedeutungen der Texte und Dinge verwiesen wird. Die išāra stellt das Mittel für das Erreichen der Herzenserkenntnis (maʿrifa) dar, das höchste Ziel in der religiösen Lehre Ibn ʿAǧības. Das Forschungsinteresse ist, die Zielsetzung und Methode der Lehre Ibn ʿAǧības zu erörtern und baut auf den Arbeiten zur Lehre der Sufis von Jean-Louis Michon, Denis Gril, Éric Geoffroy und Ruggero Vimercati Sanseverino auf. Michon hat in seiner Studie als erster auf die herausragende Stellung hingewiesen, die die išāra im Werk Ibn ʿAǧības durch seine persönliche Entwicklung vom Gelehrten zum Sufi-Gelehrten erhält.1 Gril hat das notwendig lebendige Element der Theologie der Sufis betont; die Interpretation durch išāra vermittle zwischen den historischen Quellen der Religion und dem heutigen Rezipienten.2 Geoffroy hat auf die Stellung des Sufitums in der Auslegung der gelehrten Sufis verwiesen, 1 Jean-Louis Michon, Le Soufi, Marocain Aḥmad Ibn ʿAjība (1746–1809) et son Miʿrāj (glossaire de la mystique musulmane), Paris: Études Musulmanes XIV, 1990, S. 87–9. 2 Denis Gril, „The Prophetic Model of the Spiritual Master in Islam“, in Sufism. Love and Wisdom, Hg. Jean-Louis Michon und Roger Gaetani, Bloomington IN: World Wisdom, 2006, S. 63–87; vgl. auch Ruggero Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique, enseignement initiatique et renouveau soufi dans la Darqāwiyya. Le Baḥr al-madīd fī tafsīr al-Qurʾān al-majīd d’Aḥmad Ibn ʿAjība (m. 1223/1809)“, Studia Islamica, 107 (2012), S. 217–34.
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Einleitung
als die höchste und wichtigste Disziplin, um die Religion zu vermitteln.3 Darüber hinaus hat die vorliegende Studie wesentlich von seinem Forschungsprojekt zur Šāḏiliyya profitiert.4 Und nicht zuletzt hat Vimercati Sanseverino die entscheidende Bedeutung der Stellung des Meisters, des Scheichs, im Werk Ibn ʿAǧības herausgearbeitet.5 Der Beitrag dieser Studie besteht allgemein in der Erschließung der Lehre Ibn ʿAǧības und speziell in der Miteinbeziehung derjenigen seiner Schriften, die bisher nur wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Die meiste Aufmerksamkeit hat bisher seine Koranexegese auf sich gezogen, jedoch ist die Konzeption der Theologie Ibn ʿAǧības gerade auch in diesen weniger beachteten, spezialisierten Werken zu finden. Um die Konzeption zu erörtern, ist es von entscheidender Bedeutung, die Stellung des Sufitums in der religiösen Lehre (ʿulūm ad-dīn) herauszuarbeiten. Dieser liegt Ibn ʿAǧības unablässige Betonung des Sufitums als höchste der theologischen Lehren zugrunde, da dieses die Läuterung des Menschen und die daraus resultierende Herzenserkenntnis zum Gegenstand hat und damit den wichtigsten Aspekt der Religion darstellt.6 Das hatte ganz praktische Auswirkungen: In seiner Autobiographie schreibt er, er habe die Menschen, wenn er sie zum Glauben einlud, immer zuerst zum „besonderen Einheitsglauben“ (tawḥīd ḫāṣṣ) eingeladen. Und wenn jemand das nicht annehmen konnte, sprach er mit ihm über den „Einheitsglauben des Belegs“ (tawḥīd ad-dalīl), „bis Gott, der Erhabene, ihm den Einheitsglauben der Schau eröffnet (tawḥīd al-ʿiyān).“7 Das bedeutet, er sprach mit den Menschen und lehrte zunächst den Einheitsglauben des Herzens, und wenn dies scheiterte, weil der Rezipient nicht in der Lage war, diese Form von Glauben zu akzeptieren, sprach er mit ihm auf der Ebene der Glaubenslehre, des Kalams, bis der Zuhörer vielleicht tieferen Glauben erfahren mochte. 3 Éric Geoffroy, „Approaching Sufism“, in Sufism. Love and Wisdom, Hg. Jean-Louis Michon und Roger Gaetani, S. 63–88; Éric Geoffroy, L’Islam sera spirituel ou ne sera plus, Paris: Seuil, 2009. 4 Éric Geoffroy (Hg.), Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Paris: Maisonneuve & Larose, 2005. 5 Ruggero Vimercati Sanseverino, Expérience initiatique et commentaire coranique. Etude thématique de l’exégèse spirituelle d’Aḥmad Ibn ʽAjība (m. 1225/1809), Masterarbeit (Teil 1 u. 2; 1 zu 171 Seiten, 2 zu 42 Seiten), Universität Aix-Marseille, Provence, 2007, (1) S. 165. 6 Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 233–4; vgl. Michon, Le Soufi, S. 64–80. 7 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Fahrasat al-ʿālim ar-rabbānī Sayyidī Aḥmad Ibn Muḥammad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2013, S. 76 (im Folgenden abgekürzt mit Fahrasa); vgl. Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-baḥr al-madīd fī tafsīr al-Qurʾān al-maǧīd, 8 Bde., Hg. Waḥīd Quṭb, Kairo: Al‑Maktaba at-Tawfīqiyya, o.J., Bd. 1, S. 34–5 (im Folgenden abgekürzt mit BM); Aḥmad Ibn ʿAǧība, The Book of Ascension to the Essential Truths of Sufism. Miʿrāǧ at-tašawwuf ilā ḥaqāʾiq at-taṣawwuf, Louisville: Fons Vitae, 2011, S. 30–2 (die Seitenzählung für MT, wenn nicht anders angegeben, nach dem arabischen Teil, im Folgenden abgekürzt mit MT).
Ziele und Methodik
3
Diese Methode, das Sufitum derart an die oberste Stelle zu setzen, wendet Ibn ʿAǧība insbesondere nach seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum durch seinen Scheich Muḥammad al-Būzīdī (gest. 1229/1814) an. Der „besondere Einheitsglaube“ bedeutet nach der Lehre der Šāḏiliyya, der Sufi-Schule seiner Meister, die Verwirklichung des Glaubens, innerlich und äußerlich, was mit einer unmittelbaren Praxis einhergeht. Worte können über diese Form des Glaubens begrenzt berichten, seine Natur jedoch liegt im inneren Erleben. Das Mittel nun, durch das der Einheitsglaube des Herzens am vorzüglichsten vermittelt werden kann, ist die išāra, wörtlich „Hinweis“ – der Hinweis auf das Göttliche. Ibn ʿAǧība betont dazu oft den Ausspruch: „Unser Wissen ist gänzlich išāra.“8 Das bedeutet, das Wissen, das auf der Herzenserkenntnis basiert, ist die beste Form der Vermittlung des Glaubens. Um diesen Ausspruch, das Wissen der Sufis sei gänzlich išāra, einzuordnen, bedarf es eines Blickes auf das Muster, das Stufengebilde, das Ibn ʿAǧība durchweg für die Darstellung der Religion (dīn) verwendet. Das Muster ist an dem berühmten Gabriel-Hadith ausgerichtet, mit den Stufen islām, īmān und iḥsān – Hingabe, Glaube und Vervollkommnung. Wie vielen Gelehrten in den späteren Jahrhunderten der Islamischen Theologie (ca. 8./14.–12./18. Jhdt.)9 dient auch Ibn ʿAǧība die in diesem Hadith dargelegte Struktur als Grundlage für die Darstellung der religiösen Lehre. Aus Perspektive der Theologie umfasst die erste Stufe (islām) die Lehre des Fiqh (Ritus und Recht). Die zweite Stufe, die des Glaubens (īmān), verweist auf die Lehre des Kalam, auf die Glaubenslehre. Die dritte Stufe schließlich (iḥsān) beleuchtet das Sufitum – die inneren Normen oder die innere Dimension der Religion.10 Aus der Perspektive des Sufitums dient Ibn ʿAǧība das Stufengebilde des Gabriel-Hadith jedoch gleichzeitig dazu, den wachsenden Glauben und die damit einhergehende Gewissheit (yaqīn) zu beschreiben. Aus dieser Perspektive bezeichnet die erste Stufe die äußerlichen Handlungen mit den Gliedmaßen, die zweite die innerlichen Handlungen, wie sie etwa in der Tugendlehre genannt werden, und die dritte Stufe die Anschauung der göttlichen Selbstoffenbarung.11 8 Beispielsweise Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ baʿḍ muqtaṭafāt aš-Šayḫ ʿAlī aš-Šuštarī“, in Allaṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006, S. 310 (im Folgenden abgekürzt mit SBMS); Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-futūḥāt al-ilāhiyya fī šarḥ al-mabāḥiṯ al-aṣliyya, Hg. Ṭāhā ʿAbd ar-Raʾūf Saʿd, Kairo: Al‑Maktaba alAzhariyya li-t-Turāṯ, 2013, S. 82 (im Folgenden abgekürzt mit FI). 9 Auch zuvor hat es mitunter Gelehrte gegeben, die ihre Theologie am Muster des GabrielHadith ausrichteten. Vgl. Naǧm ad-dīn aṭ-Ṭūfī, Ḥallāl al-ʿuqad fī bayān aḥkām al-muʿtaqad wa huwa qudwat al-muhtadīn ilā maqāṣid ad-dīn, Hg. Lejla Demiri und Islam Dayeh, Beirut: Dār al-Fārābī, 2016; vgl. ʿAbd Allāh al-ʿUššāqī, Šarḥ Mawāqiʿ an-nuǧūm li-š-Šayḫ al-akbar, Hg. Muḥammad al-Ǧādir und Maḥmūd Qalīǧ, Damaskus: Dar Ninawa, 2015. 10 Vgl. Aaron Spevack, The Archetypal Sunnī Scholar. Law, Theology, and Mysticism in the Synthesis of Al‑Bājūrī, Albany NY: Suny Press, 2014; vgl. MT, S. 1. 11 FI, S. 78.
4
Einleitung
Der wechselnden Rolle des Stufengebildes kommt eine bedeutende Funktion bei Ibn ʿAǧība zu, was einen ersten Anhaltspunkt für die Konzeption der Lehre Ibn ʿAǧības bietet: Das Gabriel-Hadith stellt den Rahmen für die verschiedenen Ebenen der religiösen Lehre und verweist gleichzeitig auf die Stufen des Glaubens, die der Mensch auf dem Weg zur Erkenntnis geht. Die äußere Ordnung spiegelt gewissermaßen die innere. Die innere Dimension des Menschen, der Mikrokosmos (kawn ṣaġīr oder ʿālam ṣaġīr), steht im akbaritischen Denken, der Schule des Muḥyī d-dīn Ibn ʿArabī (gest. 638/1240),12 der Ibn ʿAǧība auf gewisse Weise anhängt,13 unablässig mit der Welt, dem Makrokosmos (kawn oder ʿālam akbar), in Verbindung.14 Aufgrund dessen ist das, was den Menschen von Gott trennt, letztendlich die Unordnung, die die Stufen befallen kann oder die Vernachlässigung einer der Stufen. Werden sie jedoch geordnet und jede Stufe entsprechend berücksichtigt, wird Herzenserkenntnis oder Gotteserkenntnis (maʿrifa) möglich. Diese Form der Erkenntnis stellt das übergeordnete Ziel der Lehre des Sufitums dar. Und aus dieser Position heraus kann dem nach Erkenntnis Suchenden ein Weg aufgezeigt werden, sodass er alle Stufen angemessen zu würdigen vermag. Und das Aufzeigen des Weges geschieht nun, um auf die išāra zurückzukommen, durch Hinweise, ganz nach dem Wortsinn der išāra (des Verweises oder Hinweises). Anders ausgedrückt wird auf der Ebene des Sufitums auf Gott verwiesen (ad-dalāla ʿalā Allāh). Darin bestand die erste Aufgabe der von Gott gesandten Propheten: die Menschen an den göttlichen Urgrund aller Dinge zu erinnern, wie William Chittick für die Schule Ibn ʿArabīs zum Thema Prophetentum beschreibt.15 Welche Worte, welcher Stil in der Methode dafür verwendet werden, unterscheidet sich je nach Tradition. Während Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 505/1111) das Gleichnis (ḍarb al-miṯāl) als Methode wählte, um die tieferen Bedeutungen der prophetischen Lehre aufzuzeigen, haben es andere wie Abū Naṣr as-Sarrāǧ (gest. 378/988) und Ibn ʿArabī mit der išāra oder Formen derselben gehalten, um ein tiefgründiges Verstehen zu ermöglichen.16 Ibn ʿAǧība orientiert sich methodisch-stilistisch an seinen Vorgängern in der Tradition, in der die Interpretation der Wirklichkeit (ḥaqīqa), der dritten Ebene 12 Die Bezeichnung „akbaritisch“ stammt von dem Ehrentitel Ibn ʿArabīs als der Šayḫ alakbar, der größte Meister. 13 Vgl. etwa Michel Chodkiewicz, An Ocean Without Shore. Ibn ʿArabî, The Book, and the Law, Albany NY: State University of New York Press, 1993, S. 13. 14 Für die beiden Begriffe Mikro- und Makrokosmos vgl. Aḥmad Ibn ʿAǧība, Īqāẓ al-himam fī šarḥ al-ḥikam, Hg. Muḥammad Aḥmad Ḥasab Allāh, Kairo: Dār al-Maʿārif, 1983, S. 520 (im Folgenden abgekürzt mit IH). 15 William C. Chittick, Ibn Arabi. Erbe der Propheten, Herrliberg: Edition Shershir, 2012, S. 73; vgl. auch ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī, Al-insān al-kāmil fī maʿrifat al-awāḫir wa l-awāʾil, Hg. Muḥammad Ḫalīl, Beirut: Muʾassasat at-Tārīḫ al-ʿArabī, 2000, S. 258. 16 Vgl. Kristin Z. Sands, Sūfī Commentaries on the Qorʾān in Classical Islam, New York NY: Routledge Studies in the Qurʾān, 2006, S. 35–47.
Ziele und Methodik
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des Gabriel-Hadith, Hinweise für die Gottessucher darstellen. Das ist schon in der Anfangszeit der Šāḏiliyya, der Tradition Ibn ʿAǧības, etwa bei Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī (gest. 709/1309), zu sehen, der den wirklichen Glauben durch die Verwirklichung des Gottesdienstes (ʿibāda) in der „Vereinigung der Ebenen“ verortet.17 Das Ergebnis der Vereinigung, der Läuterung des Herzens, schreibt dieser, komme treffend im prophetischen Hadith zum Ausdruck, wenn es dem Diener gelinge sein inneres Auge zu öffnen. Der Prophet Muḥammad lobte den Gefährten Ḥāriṯ Ibn Mālik zu einem solchen Anlass mit den Worten: „Ein Diener, dessen Herz Gott erleuchtete mit dem Licht des Glaubens.“18 Die Erleuchtung des Herzens oder des Inneren des Menschen, um den Glauben zu verwirklichen, als Mittelpunkt der Theologie, lässt sich u.a. auch auf ʿAbd al-Karīm al-Qušayrī (gest. 465/1072)19 und al-Ġazālī zurückführen. Al-Ġazālī beispielsweise führt dazu das Gleichnis des Menschen als Stadt an.20 Dieses Bild wurde von Ibn ʿArabī weiter ausgedeutet und schließlich von Ḥusayn al-Baytamānī (gest. 1175/1762) mit einem großen Kommentar versehen.21 Der König der Stadt sei das Herz, sein Wesir der Verstand, die Beamten die Lebenskräfte und die Arbeiter die Gliedmaßen. In der Stadt kehrt keine Ruhe ein, bis der König seines Amtes waltet und Ordnung herrscht. Geschieht dies, kehren die göttlichen Lichter ein. Das Verständnis des Menschen, dem das widerfährt, ist nicht länger durch Chaos gebunden. Der Wesir, der Verstand, interveniert nicht mehr unerlaubt und maßt sich keine falschen Urteile an. Und die Beamten suchen nicht zügellos nach der Befriedigung ihrer Gelüste – Verstand und Lebenskräfte bekämpfen sich nicht mehr, sondern harmonieren.22 Der Prozess, eine Ordnung oder Harmonie der verschiedenen Kräfte im Innern des Menschen zu verwirklichen, das Herz für Erkenntnis zu läutern, wird bei den Sufis und auch bei Ibn ʿAǧība metaphorisch „der Weg“ oder „die Reise“ genannt (ṭarīq oder sayr). Auf diesem Weg durchwandert der Reisende Stufen und Wegstationen und bedarf Hinweisen und Wegweisern (išāra), die ihn auf dem Weg leiten. Insofern bildet die išāra das Seil, durch welches das rechte Verstehen zwischen dem Herzen und dem Gegenstand der Theologie (oder der Offenbarung) geknüpft werden kann. Das Ziel des Weges ist, den Glauben 17 Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan fī manāqib aš-Šayḫ Abī l-ʿAbbās al-Mursī wa Šayḫihī aš-Šāḏilī Abī l-Ḥasan, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Books Publisher, 2015, S. 113–4. 18 Ebenda, S. 130; das Hadith überliefert u.a. bei Ṭabarānī und Ibn ʿAsākir, Nr. 36988–36991, in ʿAlī al-Muttaqī al-Hindī, Kanz al-ʿummāl fī sunan al-aqwāl wa l-afʿāl, 18 Bde., Hg. Bakrī alḤayyānī und Ṣafwat as-Saqā, Beirut: Muʾassasat ar-Risāla, 1986, Bd. 13, S. 351–4. 19 Vgl. Francesco Chiabotti, Entre soufisme et savoir islamique: l’oeuvre de ‘Abd al-Karīm alQushayrī (376–465/ 986–1072), Doktorarbeit, Universität Aix-Marseille, Provence, 2014, Kapitel „Doctrine, transmission du savoir et pratique spirituelle“. 20 Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Das Elixier der Glückseligkeit, Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag, 1979, S. 42–3. 21 Ḥusayn al-Baytamānī, Al-futūḥāt ar-rabbāniyya fī šarḥ at-tadbīrāt al-ilāhiyya fī iṣlāḥ al-mamlaka al-insāniyya, 2 Bde., Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Books Publisher, 2015. 22 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 324.
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zu verwirklichen, sodass sich der Erkenntnishorizont weitet. Wie Ibn ʿAǧība es ausdrückt: „Der Mensch bedarf zweier Augen; das eine schaut die Welt der Allmacht [das Innere] und sieht Gott als Einen und das andere schaut die Welt der Weisheit [das Äußere] und wahrt das Verhalten zu Gott.“23 Das Motiv der Ordnung und Harmonie ist für den Religionsbegriff aus sufischer Perspektive von großer Bedeutung. Viele Definitionen des Sufitums deuten auf eine Ordnung, und Ordnung im Hinblick auf den Menschen wird Benehmen oder Charakter genannt. Benehmen wird diesbezüglich in einem umfassenden Sinne verstanden und meint jegliche Form von Interaktion, innerlich und äußerlich; das Benehmen gegenüber Gott, dem Propheten, dem Meister, den Brüdern und Schwestern in der Glaubensgemeinschaft, den Menschen allgemein, Tieren und Pflanzen.24 Sufitum kann demnach laut Ibn ʿAǧība wie folgt definiert werden: „Die Annahme aller guten Eigenschaften und das Verlassen aller schlechten Eigenschaften.“25 Oder: „[Sufitum ist], dass du nichts besitzt und nichts dich besitzt.“26 Oder wie aš-Šarīf al-Ǧurǧānī (gest. 816/1413) es darlegt: „Wissen, durch das die Modalität des Benehmens in Anbetracht der Präsenz des Herrschers aller Herrscher erkannt wird.“27 Oder: „Das Festhalten am schariatischen Benehmen äußerlich, sodass dies sich auf das Innere auswirkt und innerlich, sodass dies sich auf das Äußere auswirkt, was im Benehmen schließlich für beide Ebenen Vollkommenheit bedeutet.“28 ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī (gest. ca. 832/1428) beschreibt es so: „Sufitum ist gänzlich Eigenschaft. Das heißt die göttlichen Eigenschaften. Sufitum ist die Annahme dieser [Eigenschaften].“29 Gelingt es dem Suchenden, auf dem Weg eine solche Ordnung herzustellen, weitet sich sein Verstehen und er schaut die inneren Bedeutungen der Dinge, die göttliche Selbstoffenbarung oder die göttlichen Manifestationen (taǧalliyāt). Die göttlichen Manifestationen sind von der ursprünglichen Schönheit, die die Seele erkennt und der sie unweigerlich in Liebe folgt, was schließlich zur Erkenntnis führt. Dann, am Ende des metaphorischen Weges, wenn der Reisende alle drei Stufen des Gabriel-Hadith ausreichend erfüllt, wird ihm sein Glaube durch die Schau dieser Manifestationen zur Gewissheit, wodurch er in die Lage versetzt wird, selbst Hinweise zu geben. Die Interpretation (išāra) desjenigen, der den Weg der Herzenserkenntnis gegangen ist, ist, wie Ibn ʿAǧība es nennt, „Nahrung 23 FI, S. 340; vgl. Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ nūniyyat aš-Šuštarī“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, S. 83 (im Folgenden abgekürzt mit SNS); vgl. auch William C. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, Albany NY: SUNY Press, 1989, S. 356–81. 24 Vgl. IH, S. 174–81. 25 IH, S. 16. 26 Ebenda. 27 Aš-Šarīf ʿAlī al-Ǧurǧānī, Kitāb at-taʿrīfāt, Istanbul: Maṭbaʿat Aḫtar, 1891, S. 28. 28 Ebenda. 29 ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī, Al-manāẓir al-ilāhiyya, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2009, S. 48.
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für die Herzen der Suchenden“30, denn er beschreibt für sie die Schönheit der inneren Bedeutungen, die in allen Dingen gefunden werden können.31 Demnach ist die išāra die Stimme des geläuterten Herzens und weist den Weg zur Verwirklichung des Glaubens (taḥqīq). Darauf aufbauend versteht Ibn ʿAǧība jede theologische Betrachtung, ob nun auf der Ebene des Fiqh oder des Kalam, die nicht unmittelbar mit den Handlungen des Herzens in Verbindung steht und die Ratio dominiert, als äußerlich. Denn dieses Wissen kann intersubjektiv evident durch klaren Ausdruck (ʿibāra) erfasst werden. Hingegen fällt die Betrachtung, die das Innere des Menschen in den Vordergrund stellt, führt er an einer Stelle aus, in den Rahmen des Sufitums. Dieses Wissen unterliegt dem individuellen Verstehen, der Lauterkeit des Herzens und wird am besten durch išāra wiedergegeben, indem von einer Sache auf eine andere verwiesen wird.32 Das schlägt sich in verschiedenen Werken Ibn ʿAǧības textuell nieder; er trennt die Ebenen klar voneinander. In der Koranexegese (tafsīr) beispielsweise trennt er die Ebene des „Äußeren“ (ẓāhir) und des „Inneren“ (bāṭin), indem er zur Erläuterung eines oder mehrerer Ayas zuerst eine sprachliche und theologische Interpretation vornimmt und anschließend, durch das Wort „išāra“ gekennzeichnet, die Ebene des Sufitums behandelt.33 Das Ziel, die verschiedenen Ebenen zu vereinen, beziehungsweise das Herz als wichtigstes Erkenntnismittel, um den Glauben zu verwirklichen, herauszustellen, erscheint als das auffälligste Merkmal in den Werken Ibn ʿAǧības. Er erörtert es kontinuierlich in vielen Varianten, sodass man nicht umhinkommt, es als zentrales Thema anzuerkennen. Der Zweck der Vereinigung der Ebenen besteht für Ibn ʿAǧība in der Erfüllung des Einheitsglaubens des Herzens, des tawḥīd, der nur erlangt werden kann, wenn Wissen und Handeln gleichermaßen zur Geltung kommen, Inneres und Äußeres verbunden werden. Darauf hat bereits Michon verwiesen: der Lebensweg führte Ibn ʿAǧība weg von der Theorie und hin zur Praxis. War er zuvor ein Gelehrter mit Affinität zum Sufitum gewesen, wird aus ihm durch die Praxis des Weges der Sufis ein SufiGelehrter.34 Die Sufis haben in der Geschichte der Theologie für die Lehre des Sufitums als schriftliche Disziplin eine eigene Methodik und Sprache entwickelt, die neben denen der Philosophie und des Kalam steht. Zwar enthalten ihre Methode und Sprache Elemente aus den verschiedensten Lehren, wie Ibn ʿAǧība selbst schreibt,35 die Eigendynamik überwiegt jedoch deutlich, insbesondere durch den Fokus auf die Gotteserkenntnis als Ergebnis der Versöhnung der Ebenen. 30
IH, S. 408.
31 Ebenda. 32
IH, S. 198–9. Vgl. BM. 34 Michon, Le Soufi, S. 44–64. 35 SNS, S. 120–5. 33
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Die Gründe für eine eigene Methode sind mannigfaltig und wurzeln in der Interpretation des Religionsbegriffs. Wird als oberste Maxime angenommen, die Menschen auf das Göttliche hinzuweisen, auf die göttlichen Manifestationen in der Welt, liegt der Grund aller Methode in der Translation der Wirklichkeit, der Übersetzung der göttlichen Wirklichkeiten für die Menschen. Für diesen Zweck sind die Methoden der Philosophie und des Kalam nicht geeignet. Während die Philosophie den Sufis zu sehr auf der rationalen Betrachtung ruhe und das Erleben des Herzens ausklammere, sei der Ansatz der Kalam-Gelehrten, der Muttakallimun, zu sehr mit Apologetik verbunden, wie Ibn ʿArabī es auf die Spitze trieb.36 Obwohl sich der Stil Ibn ʿAǧības im Umgang mit dem Kalam von dem Ibn ʿArabīs unterscheidet, ist er letztlich doch Anhänger eben dieser Schule; er stellt die Interpretation durch išāra hierarchisch über die der anderen Disziplinen, da diese den tiefsten und weitesten Blick ermöglicht. So schreibt er in seinem Werk zur Methodik der Koranexegese (uṣūl at-tafsīr), dass wer den Koran auslege, dies aber ohne Läuterung und die Erleuchtung des Herzens tue, bei „der äußeren Schale“37 verbleibe. Den „Kern des Korans“38 werde er nicht begreifen.39 Das Instrument der išāra stellt dementsprechend die Methode selbst dar, wobei das Sufitum als Wissenschaft zur Methode, wie andere Disziplinen, auch aus den Quellen abgeleitet wird und gewissen Grundlagen beziehungsweise Methoden zur Ableitung (uṣūl) unterliegt.40 Der Religionsbegriff bei Ibn ʿAǧība beinhaltet die verschiedenen Methoden durch die Struktur des Gabriel-Hadith in der Einteilung in islām, īmān und iḥsān: Die verstandesbasierte Exegese (tafsīr/ taʾwīl) und die Betrachtungen im Fiqh und Kalam beziehungsweise der uṣūl bilden Mittel zum Verstehen der äußeren Hülle, der historischen Begebenheiten und der Implikationen, die sich daraus ergeben. Die išāra hingegen bildet das Mittel für die Ebene des Sufitums, um das Herz anzusprechen. Was die Struktur der vorliegenden Studie betrifft, wurde entsprechend des Themas ein Ansatz gewählt, der zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und den Schwerpunkten Ibn ʿAǧības Lehre verbindet. Der erste Teil über seinen Lebenswandel, seine Forschung und seine Lehre beleuchtet die Hintergründe zu der theologischen Stoßrichtung, die den Großteil seines Werkes und Lebens prägt und die dem Sufitum oberste Priorität zuschreibt. Der zweite Teil ist dem konzeptionellen Rahmen seiner Lehre gewidmet. Es wird das Stufengebilde aus dem Gabriel-Hadith, die Struktur, mit der Ibn ʿAǧība 36
Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 179–81. Aḥmad Ibn ʿAǧība, Tafsīr al-Fātiḥa al-kabīr, Hg. ʿAṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006, S. 57 (im Folgenden abgekürzt mit TF). 38 Ebenda. 39 Ebenda. 40 Siehe dazu genauer in Kapitel 3.1.1.1 und 3.1.1.2. 37
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seine Lehre fundamental unterlegt, vorgestellt. Außerdem werden verschiedene Aspekte des Begriffs Religion (dīn) sowie die Schule der Šāḏiliyya, die Tradition Ibn ʿAǧības, betrachtet. Im dritten Teil wird das Sufitum in der religiösen Lehre erörtert sowie dessen Methodik und wie es sich zur Theologie verhält. Dieser Teil bietet einen erkenntnistheoretischen Blickwinkel auf die theologischen Lehren bei Ibn ʿAǧība, wie beispielsweise Wissen definiert und verortet wird, wie das Sufitum zu der Disziplin des Kalam in einigen Streitfragen steht und welche ontologischen Grundannahmen bestehen. Der vierte Teil richtet anschließend den Blick auf das wesentliche Instrument des Sufitums bei Ibn ʿAǧība, die išāra, und beleuchtet ihre Hermeneutik im Sinne der Wissenschaft vom Verstehen. Dabei wird die išāra in der Geschichte der Theologie betrachtet, der Stil Ibn ʿAǧības untersucht, und wie er sie anwendet, sowie die dialogische Natur behandelt, die ihr zu eigen ist. Der fünfte Teil arbeitet schließlich vier grundlegende Themen der Lehre Ibn ʿAǧības aus, zu denen er jeweils ein oder mehrere Werke verfasste. Hierbei handelt es sich um die einzelnen Wegstationen, die er den Stufen des GabrielHadith zuweist, eine Betrachtung zu Schicksal und Bestimmung des Menschen, die Darstellung des Einheitsglaubens aus der Perspektive des Sufitums sowie das Gottesgedenken (ḏikr) und das Gebet für den Propheten Muḥammad. Der fünfte Teil bietet, nach der Erörterung der išāra selbst, die Möglichkeit, die angewandte išārī-Interpretation zu betrachten – auf welche Weise Ibn ʿAǧība, aufbauend auf den in den vorigen Teilen dargestellten Grundannahmen, einige große Themen der Theologie auf der Ebene des Sufitums deutet. Im Laufe der Studie taucht hin und wieder der Bezug zur Praxis auf oder der Hinweis auf die praktische Seite des Sufitums. Allgemein ist damit der Zusammenhang von Wissen und Handeln gemeint, was in einem eigenen Kapitel diskutiert wird. Manchmal sind aber auch die sufischen Praktiken gemeint, etwa das laute Gottesgedenken (al-ǧahr bi-ḏ-ḏikr), das Lesen oder Rezitieren der Litaneien (aḥzāb oder awrād) und Gebete (ṣalawāt) für den Propheten, oder auch die Musik der Sufis.41 Ibn ʿAǧība erläutert manche der Gebete inhaltlich ausführlich, hat dem praktischen Aspekt der sufischen Lehre in seinen Schriften jedoch keine besondere Stellung gegeben. Nur selten gibt er konkrete Handlungsanweisungen, die den Ritus betreffen. Dementsprechend und aus Gründen der Eingrenzung des Themas wird diese praktische Seite in der vorliegenden Studie nicht besonders berücksichtigt.
41 Vgl. dazu J.‑L. Michon, „Sacred Music and Dance in Islam“, in Sufism. Love and Wisdom, Hg. Jean-Louis Michon und Roger Gaetani, S. 153–78; Abdelbaqi Meftah, „L’initiation dans la Shâdhiliyya-Darqâwiyya“, in Une voie soufie dans le monde: la Shâdhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 237–48.
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Forschungsstand Die Forschung zu Ibn ʿAǧība und seinem Werk befindet sich in ihrer Anfangsphase. Für die Erschließung des Werks Ibn ʿAǧības ist nach wie vor die Arbeit Michons grundlegend, der die Bedeutung des Lebenswandels von dem gelehrten Sufi zu einem Sufi-Gelehrten hervorgehoben, die Fachbegriffe der Sufis bei Ibn ʿAǧība einer eingehenden Untersuchung unterzogen, und der die akademische Forschung zu diesem herausragenden Gelehrten überhaupt in die Wege geleitet hat.42 Auf ihn gehen auch mehrere Übersetzungen zurück. Von grundlegender Bedeutung ist ebenfalls die Arbeit von Ḥasan ʿAzzūzī, der mit seinem zweibändigen Werk zur sufischen Methode und dem Werdegang Ibn ʿAǧības sowie zu den Quellen und der Methode in seiner Koranexegese eine ausstehende Lücke gefüllt hat: die wissenschaftliche Verortung erstens der Person Ibn ʿAǧības und zweitens des Werkes in der theologischen Landschaft.43 Er bemerkt zu Recht, dass es allgemein verwunderlich ist, wie wenig Aufmerksamkeit Ibn ʿAǧība bisher in der Forschung erfahren hat, obwohl doch seine Person von so großer Bekanntheit war und ist.44 Michon und ʿAzzūzī ist maßgeblich das klare Bild über Leben und Werk Ibn ʿAǧības zu verdanken. Hinzu kommt, dass die späte Phase muslimischer Gelehrsamkeit (ca. 8./14.– 12./18. Jhdt.), und damit auch das 12./18. Jahrhundert, allgemein bisher wenig Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren hat. Das ist unschwer an dem Fehlen von Forschung über die wichtigen Personen dieser Jahrhunderte zu erkennen. So stand Ibn ʿAǧība in der Disziplin des Kalam in der Tradition von Muḥammad ibn Yūsuf as-Sanūsī (gest. 895/1490) und al-Ḥasan al-Yūsī (gest. 1102/1691), deren Werke jahrhundertelang für die Theologie über Kontinente hinweg von entscheidender Bedeutung waren. Beispielsweise wurden sie vom 17. bis zum 19. Jahrhundert an der Azhar-Universität in Kairo gelehrt, die sich genau in dieser Zeit zu einem Zentrum der Gelehrsamkeit herausbildete.45 Dennoch klafft eine Lücke in der Forschung zu diesen Personen und ihren Werken. Khaled El‑Rouayheb nennt diese Periode und die theologischen Strömungen und Bewegungen darin sogar „A Forgotten Chapter in Islamic Religious History.“46 Um die bisherige Forschung speziell zum Sufitum in der späten Phase ist es nur wenig besser bestellt und sie ist zudem wesentlich von einer Nachzeichnung der historischen Entwicklungen geprägt. Dabei wird die Lehre der Sufis in vielen 42 Michon,
Le Soufi, 1990. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība wa manhaǧuhū fī t-tafsīr, 2 Bde., Rabat: Maṭbaʿat Faḍāla, 2001. 44 Ebenda, Bd. 1, S. 11–2. 45 Vgl. Khaled El‑Rouayheb, Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century. Scholarly Currents in the Ottoman Empire and the Maghreb, New York NY: Cambridge University Press, 2015, S. 200. 46 Ebenda. 43 Ḥasan
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Fällen nur marginal als eigene Schule der Theologie behandelt. Wenn doch auf die Inhalte eingegangen wird, dann oft vordergründig, um ideengeschichtliche Bewegungen nachzuverfolgen, nicht aber, um die Bewegungen der Schule der Sufis als Schule der Theologie zu behandeln, was, wie in der Einleitung bereits zu sehen war, durchaus als Anspruch Ibn ʿAǧības gelten kann.47 Der Fokus dieser Studie liegt im Wesentlichen auf den Inhalten der Lehre Ibn ʿAǧības selbst, vor allem durch Bezug auf seine eigenen Werke, unter Zuhilfenahme der Tradition, auf die er sich bezieht sowie allgemein wichtiger Bezugspunkte. Dass sich der Forschungsstand in seiner Anfangsphase befindet und noch dazu diese die erste Monographie über Ibn ʿAǧība in deutscher Sprache ist, hatte auf die vorliegende Studie durchaus Auswirkungen. Systematische Auseinandersetzungen mit der Lehre von Gelehrten aus seiner Tradition sind wie gesagt bisher nur wenig vorhanden, was mitunter einen Rückgriff auf gelehrte Vorgänger Ibn ʿAǧības notwendig macht, um seine Ausführungen einordnen zu können. Die bisherigen, relevanten Arbeiten (auf Arabisch, Französisch, Englisch und Türkisch) beziehen sich im Wesentlichen auf den Korankommentar Al-baḥr al-madīd fī tafsīr al-Qurʾān al-maǧīd oder beleuchten sein Leben, das vor allem durch die Sufi-Bewegung der Darqāwiyya bekannt geworden ist. Im Zuge der Beschäftigung mit der Koranexegese bei Ibn ʿAǧība wurde zur Anwendung und Stellung der išāra bereits einige Arbeit geleistet. Zu nennen sind dabei die Werke von ʿAzzūzī, Mahmut Ay48 und Vimercati Sanseverino. Alle drei gehen über die bloße Exegese hinaus und ziehen einen weiteren Aspekt hinzu. ʿAzzūzīs Arbeit zur exegetischen Methode und zum Werdegang Ibn ʿAǧības zeigt die herausragende Funktion, die der sufischen Lesart beigemessen wird und welche Quellen verwendet wurden. Er hält recht genau die Waage zwischen dem Gelehrten und dem Sufi Ibn ʿAǧība. Ay hat den Fokus stärker auf die Inhalte der sufischen Themen des Korankommentars gelegt und beleuchtet zusätzlich die spirituelle Deutung der Themen des Kalam in der Einteilung in ilāhiyyāt, nubuwwāt und maʿād.49 In beiden Werken wird vornehmlich die Exegese Ibn 47 Vgl.
beispielsweise Frederick De Jong und Bernd Radtke (Hg.), Islamic Mysticism contested. Thirteen Centuries of Controversies and Polemics, Leiden: Brill, 1999; Frederick De Jong, „Materials Relative to the History of the Darqāwiyya Order and Its Branches“, Arabica, 26 (1979), S. 126–43; Alexander Knysh, Islamic Mysticism. A Short History, Leiden: Brill, 2000; Reinhard Schulze, „Das islamische achtzehnte Jahrhundert: Versuch einer historiographischen Kritik“, Die Welt des Islams, 30 (1990), S. 140–59; in gewisser Weise Spencer Trimingham, The Sufi Orders in Islam, Oxford: Oxford University Press, 1998; Paul Nwiya, Ibn ʿAṭāʾ Allāh et la naissance de la confrérie sāḏilite, Beirut: Dār al-Mašriq, 1990; in gewissem Maße betrifft dies auch Scott Kugle, Rebel between Spirit and Law. Ahmad Zarruq, Sainthood and Authority in Islam, Bloomington IN: Indiana University Press, 2006. 48 Mahmut Ay, Ahmed b. Acîbe ve işârî tefsir açisindan „El‑Bahru‘l-Medîd“, Doktorarbeit, Universität Marmara, Istanbul, 2010. 49 Diese drei Themen bilden die Struktur vieler Werke im Kalam. 1. Die Dinge Gottes betreffend. 2. Die Dinge die Prophetie betreffend. 3. Die Dinge das Jenseits (oder auch den Glauben, die Überlieferung) betreffend.
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ʿAǧības betrachtet und seine anderen Werke werden bei Bedarf hinzugezogen. Der Mangel an systematischer Erörterung zur Theologie Ibn ʿAǧības ist wohl auch Vimercati Sanseverino aufgefallen, der in seinen zwar weniger umfänglichen Arbeiten dennoch einen genaueren Blick auf die Konzeption der Lehre Ibn ʿAǧības wirft: er rückt den Schwerpunkt Sufitum und die theologische Ausrichtung der Lehre in den Mittelpunkt.50 Zusätzlich existieren einige weitere Arbeiten. Eine verfolgt einen philosophischen Ansatz51 und eine weitere einen philosophisch-historischen Ansatz,52 eine weitere ist dem poetischen Stil Ibn ʿAǧības gewidmet.53 Einige andere Studien befinden sich derzeit in Arbeit.54 Ein Tagungsband der dazu gehörigen Tagung von 2004 enthält einige wichtige Hinweise zum Akzent der Theologie bei Ibn ʿAǧība und seinem Wirken und Einfluss.55 Auch wurden einige Werke ins Englische und Französische übersetzt: Die Autobiographie Ibn ʿAǧības,56 zwei Kommentare zu Gedichten,57 sein Werk zu den Fachbegriffen der Sufis,58 eine Auswahl an Suren mit seinem Korankommentar59 sowie zwei Abhandlungen zu den erkennbaren Erscheinungen der göttlichen Eigenschaften, den Manifestationen, üblicherweise mit dem Terminus von der „Einheit des Seins“ (waḥdat 50 Vgl. vor allem die kurze Zusammenfassung: Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 233–4. 51 ʿAbd al-Maǧīd aṣ-Ṣiġayyir, At-taṣawwuf ka-waʿī wa mumārasa, Casablanca: Dār aṯṮaqāfa, 1999. 52 ʿAbd al-Maǧīd aṣ-Ṣiġayyir, Iškāliyyat iṣlāḥ al-fikr aṣ-ṣūfī fī l-qarnayn 18./19. Aḥmad Ibn ʿAǧība wa Muḥammad al-Ḥarrāq, Marokko: Dār al-Āfāq al-Ǧadīda, 1994. 53 Nūr ad-dīn Nās al-Faqīh, Aḥmad Ibn ʿAǧība. Šāʿir at-taṣawwuf al-Maġribī, Beirut: BooksPublisher, 2013. 54 Ramazan Emektar, İbn Acibe’nin Hayatı, Eserleri ve Tasavvufi Görüşleri, Doktorarbeit, Necmettin Erbakan Universität, Konya, (Betreuer: Prof. Dr. Dilaver Gürer), noch nicht abgeschlossen (zu Beginn 2019); Aişe Berire Kocakaya Dağlı, İbn Acibe’nin el-Bahru’l-Medîd Adlı Tefsirinde Meşiet Kavramı, Masterarbeit, Universität 29 Mai, Istanbul (Betreuer: Prof. Dr. Mustafa Altundağ), noch nicht abgeschlossen (zu Beginn 2019); die folgenden Arbeiten aus der Türkei sind abgeschlossen, waren mir jedoch nicht zugänglich: Imad Abdulsalam Rajab, İbn Acîbe ve en-Nîsâbûrî’nin İşârî Tevillerinin Mukayesesi (Kasas Sûresi Örneği), Masterarbeit, Universität Gaziantep, Gaziantep, 2017; Süleyman Derin, Kur’an-Kerim’de Seyr u Süluk. Ahmed ibn Acibe’nin Tefsiri’nde, Erkam Yayınları, Istanbul, 2013; Sabri Berber, İbn Acîbe’nin el-Bahru’l-Medîd’inde Peygamber Kıssalarının İşârî Yorumu, Masterarbeit, Universität Istanbul, Istanbul, 2015; die Studie von Omneya N. M. Ibrahim wurde zeitlich parallel zu dieser erstellt und war mir erst zugänglich, als es für Änderungen zu spät war, Divine Love in the Moroccan Sufi Tradition: Ibn ʿAjība (d. 1224/1809) and His Oceanic Exegesis of the Qurʾān, Doktorarbeit, University of Exeter, Exeter, 2018. 55 ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī u.a., Aʿmāl nadwa: aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-mufakkir wa l-ʿālim aṣ-ṣūfī, Maktabat al-Ḫalīǧ al-ʿArabī, Tétouan, 2006. 56 Aḥmad Ibn ʿAǧība, The Autobiography (Fahrasa) of a Moroccan Soufi: Ahmad Ibn ʿAjiba, Louisville KY: Fons Vitae, 1999. 57 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Two Sufi Commentaries by Aḥmad Ibn ʿAjība, Hg. Michael A. Fitzgerald und Arjan Post, Louisville KY: Fons Vitae, 2015. 58 MT. 59 Aḥmad Ibn ʿAǧība, The Immense Ocean. A Thirteenth Century Quranic Commentary on the Chapters of The All-Merciful, The Event, and Iron, Louisville KY: Fons Vitae, 2009.
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al-wuǧūd) bezeichnet, wenn auch Ibn ʿAǧība diesen Begriff nicht verwendet.60 Mittlerweile wurden fast alle Werke Ibn ʿAǧības verlegt und auf Arabisch herausgegeben. Diese sowie die nur in Manuskriptform vorliegenden sind im ersten Teil zu Leben und Wirken Ibn ʿAǧības aufgeführt. Was den Forschungsstand der Tradition Ibn ʿAǧības anbelangt, hat sich das Feld in den letzten Jahrzehnten aufgehellt.61 Zum einen hat in den letzten Jahrzehnten die Forschung zur Sufi-Bewegung der Šāḏiliyya zugenommen62 und zum anderen erlangte die Bewegung der Darqāwiyya-Šāḏiliyya zunehmend auch im akademischen Bereich einen gewissen Bekanntheitsgrad. So wurden die Werke und Biographien herausragender Figuren der Darqāwiyya herausgegeben, wie etwa zu dem Lehrer Ibn ʿAǧības, dem Sufimeister Muḥammad al-Būzīdī63 und zu dem Sufimeister, dem das Eponym der Bewegung entspringt, Muḥammad al-ʿArabī ad-Darqāwī (gest. 1239/1823).64 Bezüglich der Šāḏiliyya im Allgemeinen hat Éric Geoffroy wichtige Arbeit geleistet und die Forschung dazu neu angeregt.65 In den Arbeiten Geoffroys und Vimercati Sanseverinos fällt ein Merkmal der Šāḏiliyya auf, das auch für die vorliegende Studie von Bedeutung ist: inwiefern Forschung und Islamische Theologie Hand in Hand gehen. So wurde die Erforschung und Dokumentation der Linie der Šāḏiliyya immer auch als Aufgabe der Gelehrten derselben gesehen, weshalb erstens eine große Anzahl von Biographien/Hagiographien zu den Persönlichkeiten der Šāḏiliyya besteht.66 Zweitens ist die Dokumentation der Linien und Traditionen (sanad oder silsila) der Gelehrten und Sufimeister, Stammbaum und spirituelle Tradition (nasab und ḥasab), eine seit der Frühzeit des Islams bestehende Disziplin, die durchweg 60 Siehe dazu genauer Teil 5. Aḥmad Ibn ʿAǧība, Two Treatises on the Oneness of Existence, Hg. Jean-Louis Michon, Cambridge: Archetype, 2010 (arabischer Titel: Taqyīdān fī waḥdat al-wuǧūd. Englisch-Arabische Edition. Im Folgenden mit TW abgekürzt). 61 Vgl. etwa Ruggero Vimercati Sanseverino, Fès et sainteté, de la fondation à l’avènement du Protectorat (808–1912). Hagiographie, tradition spirituelle et héritage prophetique dans la ville de Mawlāy Idrīs, Rabat: Centre Jaques-Berque, 2014 (Hiervon wurde ein E-book verwendet; bei der Zitation wurden die Kapitel bzw. meist Unterkapitel angegeben, keine Seitenzahlen). 62 Dazu ist insbesondere die Studie von Vincent J. Cornell zu nennen: Vincent J. Cornell, Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism, Austin TX: University of Texas Press, 1998 (Hiervon wurde ein E-book verwendet; bei der Zitation wurden die Kapitel bzw. meist Unterkapitel angegeben, keine Seitenzahlen). 63 Muḥammad at-Tamsamānī, Al‑Imām Sayyidī Muḥammad Ibn Aḥmad al-Būzīdī. Tarǧamatuhū wa baʿḍ āṯārihī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006. 64 Muḥammad at-Tamsamānī, Al‑Imām Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī, Šayḫ aṭ-ṭarīqa adDarqāwiyya aš-Šāḏiliyya. Tarǧamatuhū wa baʿḍ āṯārihī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007; vgl. auch Jean-Louis Michon, „Un témoignage contemporain sur le šayḫ darqāwī (1737–1823)“, Arabica, 39 (1992), S. 385–92. 65 Vgl. Eric Geoffroy (Hg.), Une voie soufie dans le monde: la Shâdhiliyya. 66 Vgl. beispielsweise Aḥmad al-Harawī aš-Šāḏilī at-Tādilī, Al-maʿzā fī manāqib Sayyidī Abī Yaʿzā, Hg. Aḥmad al-Mizaydī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006; vgl. auch Aḥmad Ibn Qunfuḏ al-Qisanṭīnī, Uns al-faqīr wa ʿizz al-ḥaqīr, Hg. Muḥammad al-Fāsī und Adolf Fūr, Rabat: Maṭbaʿat Akdāl, 1965.
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gepflegt wurde.67 Und drittens haben sich die Gelehrten der Šāḏiliyya seit jeher mit der Systematik ihrer Lehre befasst, selbstverständlich was die eigene Lehre betrifft, jedoch darüber hinaus auch vergleichend hinsichtlich anderer Schulen und Theologietraditionen.68
Sprache, Stil und Fachbegriffe Wie bereits erwähnt haben die Sufis in der Geschichte der Theologie ihre eigene Methode und Sprache entwickelt. Zeugnis dafür sind zunächst die vielen Werke zu den Fachbegriffen der Sufis von den Gelehrten unter ihnen, Ibn ʿAǧība verfasste selbst solch ein Werk.69 Das wirft ein besonderes Licht auf die Übersetzungsthematik. Die Übersetzung der von Ibn ʿAǧība verwendeten Begriffe orientiert sich in der Studie allgemein an der Übersetzung des Werks Ibn ʿAǧības zu den Fachbegriffen von Aresmouk und Fitzgerald ins Englische.70 Getreu der Aufgabe die Inhalte der Religion zu vermitteln, sind die sufischen Fachbegriffe im Allgemeinen verständlich und in vielen Fällen selbsterklärend, nicht wenige bedürfen jedoch auch der Erklärung, vor allem hinsichtlich ihrer ontologischen Annahmen. Die arabischen, sufischen Fachbegriffe unterliegen Definitionen, die im Zusammenhang mit der Wortbedeutung stehen, was im Deutschen beziehungsweise Griechischen/Lateinischen nur selten der Fall ist, da die theologischen und metaphysischen Begriffe entweder aus der christlichen Tradition stammen oder aus der Philosophie und allgemein andere Konnotationen besitzen. Dazu zählt der Begriff „Theologie“, der der Bedeutung nach – die Lehre von Gott – keine Entsprechung im Arabischen hat.71 Die „Lehren der Religion“ (ʿulūm ad-dīn), so die wörtliche Übersetzung des Begriffs, der die „Islamische Theologie“ an 67 Vgl. Muḥammad ibn Yūsuf al-Fāsī al-Fihrī, Mirʾāt al-maḥāsin min aḫbār aš-Šayḫ Abī l-Maḥāsin. Wa nubḏa ʿan našʾat at-taṣawwuf wa ṭ-ṭarīqa aš-Šāḏiliyya bi-l-Maġrib, Hg. Muḥammad al-Kattānī, Casablanca: Dār Ibn Ḥazm, 2008; vgl. auch Vimercati Sanseverino, Fès et sainteté. 68 Vgl. dazu etwa Aḥmad ibn Muḥammad Ibn ʿAbbād al-Maḥallī, Al-mafāḫir al-ʿaliyya fī l-maʾāṯir aš-Šāḏiliyya, Hg. nicht genannt, Maktabat al-Faǧr al-Ǧadīd, Ägypten, 1996; Kenneth Honerkamp, A Sufi Itinerary of Tenth Century Nishapur based on a Treatise by Abū ʿAbd ar-Raḥmān as-Sulamī, Journal of Islamic Studies, 17 (2006), S. 43–67; Kenneth Honerkamp, „Ibn ʿAbbād, modèle de la Shādhiliyya“, in Une voie soufie dans le monde, Hg. Éric Geoffroy, S. 159–71. 69 Vgl. dazu J.‑L. Michons Studie, in der er die Fachbegriffe verschiedener Gelehrter (inklusive Ibn ʿAǧība) über die Jahrhunderte vergleicht: Michon, Le Soufi, S. 166–71. 70 Ibn ʿAǧība, The Book of Ascension (der englische Teil in MT). 71 Der aus dem Griechischen stammende Begriff Theologie (arab. iṯūlūǧiyā) als die Lehre von Gott ist den muslimischen Gelehrten durchaus ein Begriff gewesen, hat jedoch keine besondere Beachtung erfahren. Vgl. Ali Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs, Hamburg: Editio Gryphus, 2018, S. 22–5.
Sprache, Stil und Fachbegriffe
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hiesigen Bildungseinrichtungen beschreibt, bezieht sich vor allem auf die Disziplinen und kann nicht auf die Lehre einer Person angewandt werden, wie der Begriff Theologie es zulässt, wenn es etwa heißt, der Gelehrte xy vertrete diese oder jene Theologie. Auch bezogen auf die Philosophie, existiert beispielsweise keine genaue Entsprechung im Wortschatz Ibn ʿAǧības für den Begriff der Ontologie, der Lehre vom Sein, da Ibn ʿAǧības Ansatz meist bildhaft, metaphorisch beschreibend ist und er von theoretischen Diskussionen mit Ausnahmen Abstand nimmt. Um Ibn ʿAǧība hier zu entsprechen und weil das Anliegen dieser Studie grundsätzlich in der Darlegung der Inhalte der Lehre besteht, wurde eine möglichst verständliche Sprache gewählt und möglichst nur dann Begriffe aus anderen Traditionen entlehnt, wenn sie tatsächlich dem Zweck entsprechen. Sie sind dann unter den Vorzeichen der Lehre der Sufis zu verstehen. Die Islamische Theologie kann hinsichtlich der Sprache des Sufitums noch keine lange Tradition auf Deutsch (oder Englisch) vorweisen. Das stellt keine unüberwindbare Hürde dar, sondern vielmehr eine Aufgabe, die auch schon früher in der Geschichte bewältigt wurde. Etwa, als Sufi-Lehren ins Chinesische übersetzt wurden, dessen Zeichen und Wortschatz sich vom Arabischen noch stärker unterscheiden, als das lateinische Schriftsystem, wie Sachiko Murata anführt.72 Im Zuge der Vermittlung der Bedeutungen der Lehre für den heutigen Leser werden in der Studie auch Begriffe aus der europäischen/deutschen Tradition verwendet, die Missverständnisse hervorrufen können. Darauf wird bei Bedarf an betreffender Stelle eingegangen. Dazu zählen zum Beispiel die Begriffe „Verstand“ und der grundlegende Begriff der „Religion“. Während bei „Verstand“ schlicht auf die Definition Ibn ʿAǧības zurückgegriffen werden kann, der ihn je nach Kontext verschieden zu der Definition der Philosophen und Muttakallimun beschreibt und seine eigene Definition angibt, bedarf der Begriff „Religion“ einer genaueren Betrachtung. Das arabische dīn stellt einerseits einen Fachbegriff für Religion aus der Theologie dar und umfasst, wie oben beschrieben, die „religiösen Lehren“. Andererseits muss bei der Verwendung des Wortes Religion bedacht werden, dass in der Vormoderne ein anderer Begriff von Religion in der Gesellschaft vorherrschte, in welcher der Ritus und der göttliche Ursprung der Dinge oft wie selbstverständlich im Mittelpunkt standen. Religion ist in dieser Wahrnehmung etwas dem Menschen eigenes, ihm innewohnendes und kein ideologisches Konzept im Streit mit anderen Konzepten, wie dem Säkularismus, einer Kultur, einem Gesetz oder einer Gesellschaft.73 Das trifft sich mit dem Motiv der ursprünglichen Religion (ad-dīn al-ḥanīf ) in der Islamischen Theo72
Sachiko Murata, Chinese Gleams of Sufi Light, Albany NY: SUNY Press, 2000, S. 17–9. dazu Sachiko Murata und William C. Chittick, The Vision of Islam, St. Paul MN: Paragon House, 1994, S. xxvii–xxxiv; vgl. dazu insbesondere auch die großangelegte Studie von Shahab Ahmed, What Is Islam? The Importance of Being Islamic, Princeton NJ: Princeton University Press, 2016. 73 Vgl.
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Einleitung
logie, was im zweiten Teil Gegenstand der Untersuchung ist. Aufgrund dessen ist der Begriff „Religion“ in dieser Studie in seinem weitesten Sinne zu verstehen, vornehmlich als Übersetzung für das arabische dīn und als Umschreibung für den Umgang mit den Lehren göttlichen Ursprungs. Besonders auch der Begriff „Erkenntnis“ bedarf der Definition. „Erkenntnis“ steht für das arabische maʿrifa und meint im Sufitum die „Herzenserkenntnis“ oder „Gotteserkenntnis“ (maʿrifat Allāh), die im Laufe dieser Studie aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert wird. Mitunter wird maʿrifa auch mit „Gnosis“ übersetzt und der Sufi mit „Gnostiker“.74 Davon wurde, um Missverständnisse zu vermeiden, Abstand genommen und das Wort „Erkenntnis“ gewählt, da sie – von „etwas erkennen“ oder „kennen lernen“ (arab. Wurzel ʿa-ra-fa) – dem arabischen maʿrifa entspricht, zudem in den Varianten der „Gotteserkenntnis“ und „Herzenserkenntnis“ verdeutlicht werden kann und weiterhin im theologischen Zusammenhang allgemein verwendet wird. Verschiedene Formen der Erkenntnis sind Gegenstand der Untersuchung in dieser Studie. Kurz gesagt: Erkenntnis auf der Ebene des Kalam meint allgemein intersubjektiv prüfbares Wissen (ʿilm), wozu der Verstand das Mittel bildet (Epistemologie). Erkenntnis auf der Ebene des Sufitums bedeutet jedoch im Unterschied dazu eine Kenntnis, die nur unter der Bedingung des metaphorischen Weges (ṭarīq), der inneren Erfahrung und Läuterung, weitergegeben werden kann (išāra). In Teil drei zur Verortung des Sufitums in der religiösen Lehre wird darauf genauer eingegangen. Manche Kapitel enthalten Abbildungen oder Schemata zu den entsprechenden Theorien. Diese im Sufitum bekannte Vorgehensweise75 zielt darauf ab, das im Text Erläuterte zu verdeutlichen. Die Abbildungen sind nicht als absolut zu verstehen und geben mein eigenes Verständnis von Ibn ʿAǧības Lehre wieder. Für die Koranübersetzung wurde die Arbeit von Milad Karimi76 als Vorlage verwendet, Abweichungen von dieser stammen von mir selbst. Für die Umschrift der arabischen Begriffe wurde die Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) verwendet. Begriffe jedoch, die in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen sind, wie etwa Koran, Hadith, Sunna oder Aya (auch Kalam anstatt kalām und Fiqh anstatt fiqh) usw., wurden ohne Umschrift übernommen. Die Sterbedaten sind nach dem Muster n. H./n. Chr. angegeben; n. H. steht für „nach Hiǧra“ und n. Chr. für „nach Christus“. Die Werke Ibn ʿAǧības sind in den Fußnoten nach der ersten Nennung nur als Abkürzungen angegeben, der Schlüssel für die Abkürzungen befindet sich in der entsprechenden Liste zu den Abkürzungen der viel verwendeten Werke. Für die Begriffe, die aus der Disziplin des Sufitums und der Theologie allgemein 74 Vgl. MT, S. 95 (Seitenzählung des englischen Teils); Aisha Bewley, A Glossary of Islamic Terms, London: Ta‑Ha Publishers, 1998, S. 216. 75 Vgl. al-Ǧīlī, Al-insān al-kāmil, S. 95; Ibn ʿAǧība, FI, S. 334; Muḥammad Nūr al-ʿArabī, Fünf sufische Traktate, Hamburg: Editio Gryphus, 2016, S. 50. 76 Koran in der Übersetzung von Milad Karimi, Freiburg: Herder, 2008.
Sprache, Stil und Fachbegriffe
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übersetzt werden, ist ein Glossar angelegt, in dem der Begriff in Varianten übersetzt und kurz erläutert wird. Die Belege zu den Hadithen aus dem Korpus des Hadith wurden maßgeblich mit Hilfe der Konkordanz Kanz al-ʿummāl fī sunan al-aqwāl wa l-afʿāl des ʿAlī al-Muttaqī al-Hindī (gest. 975/1567) erstellt. Das Werk wird nach der Erstnennung mit „Kanz“ abgekürzt und die Überlieferer sowie die im Werk angegebene Nummer werden genannt (beispielsweise Kanz: Ṭabarānī und Ibn ʿAsākir, Nr. 36988). Bei anderen Werken des Hadith wurde die übliche, volle Literaturangabe gemacht. Eine genaue Erfassung des Religionsbegriffs beziehungsweise der Konzeption von Ibn ʿAǧības Lehre ist in einer Monographie nach dem heutigen Forschungsstand nur begrenzt möglich. Das Werk Ibn ʿAǧības umfasst, selbst auf die sufischen Schriften reduziert, mehrere tausend Seiten heutiger Druckversionen und ist viel zu ausgereift, als dass es komprimiert und verkürzt wiedergegeben werden könnte. Aus diesem Grund mussten Reduktionen vorgenommen werden, die immer einen Drahtseilakt zwischen adäquater Wiedergabe eines Motivs und der Grenze der Untersuchung darstellen. Ich kann nicht behaupten, die Lehren Ibn ʿAǧības vollständig durchdrungen und verstanden zu haben, habe jedoch die Hoffnung mit dieser Studie einen Beitrag für die Erschließung seiner Theologie leisten zu können. Ein Merkmal der Literatur der Sufis ist die Wiederholung von Themen und grundlegenden Lehren in leicht abgeändertem Wortlaut oder veränderter Perspektive. Das ist durchaus Absicht und soll den Horizont des Lesers für neue Aspekte öffnen und erweitern, wie Chittick schon bemerkt.77 Sofern es möglich war, wurden die Lehren komprimiert wiedergegeben, wenngleich an mancher Stelle die Wiederholung auch in der vorliegenden Studie nötig ist und vielleicht gerade dadurch ein entscheidender Hinweis möglich wird.78 Übersetzung, Paraphrasierung und die Wiedergabe von Inhalten sind immer mit einem gewissen Maß an Interpretation verbunden. Die Sprache und der Stil Ibn ʿAǧības sind diesbezüglich eine besondere Herausforderung, da gleich mehrere Hürden zu überwinden sind. Drei dieser Hürden wurden bereits erwähnt: die Hürde der Sufi-Terminologie, die der Wiederholung von Themen und Argumenten, sowie die Metaphorik. Die entscheidende Hürde, die die anderen in sich vereint, besteht in der Translation der Bedeutungen. Da das Fach Sufitum bisher an deutschen Universitäten nur wenig gelehrt wird, existieren kaum wissenschaftliche Übereinkünfte und nur wenig Grundwissen, die es erlauben, gängige Standards anzuwenden, um darauf aufbauend eingehendere Betrachtungen anzustellen. Viele Elemente der Lehre Ibn ʿAǧības sind schlicht Neuland für die Forschung beziehungsweise die Theologie. Das verhält sich in 77 Chittick,
The Sufi Path of Knowledge, S. xxi. Vgl. ebenda, S. xx–xxii, auch dies hat Chittick schon bemerkt; zur Darstellung der Lehre der Sufis vgl. insbesondere auch die Einleitung von Chodkiewicz, An Ocean Without Shore, S. 1–18. 78
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Einleitung
anderen Fächerns anders, wie beispielsweise im Fiqh, das ungleich mehr Aufmerksamkeit erfährt und bei dem mittlerweile von einer gewissen Etablierung gesprochen werden kann. In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings international eine Bewegung gebildet, wenn man es denn so nennen kann, die zumeist in englischer und französischer Sprache (in einigen Fällen auch auf Deutsch) die Lehren der Sufis erforscht, wobei von einer jungen Tradition gesprochen werden kann. Dabei hat sich durchaus ein gewisser eigener Stil und eine eigene Sprache entwickelt. Zu nennen sind dazu die Anstrengungen von Michel Chodkiewicz, Denis Gril, Martin Lings, Claude Addas, Titus Burckhardt, Éric Geoffroy, Jean-Louis Michon, William C. Chittick und Sachiko Murata. Von diesen Bemühungen hat die vorliegende Studie maßgeblich profitiert.
1. Teil
Leben und Wirken von Aḥmad Ibn ʿAǧība In diesem ersten Teil werden zunächst die Wurzeln Ibn ʿAǧības beleuchtet, seine Abstammung, Kindheit, Jugend und Ausbildung. Anschließend wird sein Wandel vom Gelehrten zum Sufi dargestellt und gezeigt, wie er seinen Meister kennenlernt und wie er sich einigen Prüfungen in der Tradition der Sufis unterzieht. Es werden die gesellschaftlichen Umstände geschildert und wie sein Wirken damit in Zusammenhang steht. Schließlich folgt seine Phase als reisender Sufi, in der er und seine Anhänger einige Repressalien und Schicksalsschläge gegen Ende seines Lebens ertragen mussten. Im letzten Kapitel von Teil 1 werden seine Werke tabellarisch entlang der Lebensjahre aufgeführt. Der Fokus in diesem Teil liegt dem Thema entsprechend auf seinem Lebenswandel und der Frage, wie dieser seinen Religionsbegriff prägte.1
1.1 Abstammung, Kindheit, Jugend und Ausbildung Abū l-ʿAbbās Aḥmad ibn Muḥammad ibn al-Mahdī ibn al-Ḥusayn ibn Muḥammad Ibn ʿAǧība al-Ḥaǧǧūǧī al-Ḥasanī (1160/1746–1224/1809) wurde bei Tétouan in einem Ort namens Aʿǧībš geboren.2 Über die Familie gibt es wenige 1 Für weitere Informationen zu den historischen Umständen und eine etwas tiefergehende Netzwerkanalyse vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 21–90; für mehr zur Gelehrtenstruktur und Geschichte Marokkos siehe Vincent J. Cornell, Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism; Vimercati Sanseverino, Fès et sainteté; Mahmut Ay, Ahmed b. Acîbe ve işârî tefsir açisindan „El‑Bahru‘l-Medîd“; für den großen Zusammenhang der Geistesgeschichte siehe El‑Rouayheb, Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century. Scholarly Currents in the Ottoman Empire and the Maghreb. 2 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 36; Fahrasa, S. 20; ʿAzzūzī: Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 104; Ay, Ahmed b. Acîbe, S. 15–8; al-Ḥasan al-Kūhin, Ṭabaqāt aš-Šāḏiliyya al-kubrā, Hg. Maḥmūd al-Ǧamāl, Kairo: Al‑Maktaba at-Tawfīqiyya, o.J., S. 174; ʿAbd al-Ḥayy al-Kattānī, Fahras al-fahāris wa l-aṯbāt wa muʿǧam al-maʿāǧim wa l-mašyaḫāt wa l-musalsalāt, 3 Bde., Hg. Iḥsān ʿAbbās, Beirut: Dār al-Ġarb al-Islāmī, 1992, Bd. 2, S. 854. Laut ʿAbd al-Wāḥid Ibn ʿAǧība, einem Nachfahren Ibn ʿAǧības, wurde er in diesem Ort namens Aʿǧībš geboren. Das geht aus einem Gespräch mit ʿAbd al-Wāḥid Ibn ʿAǧība hervor. In den historischen Quellen wird meist Tétouan oder das Gebiet Tétouans angegeben. Quelle: Persönliches Gespräch mit ʿAbd al-Wāḥid Ibn ʿAǧība im Beisein von Mahmut Ay und Ǧaʿfar Ibn ʿAǧība im Haus von Ǧaʿfar Ibn ʿAǧība in Rabat, Marokko am 18. Mai, 2015. Diese Version, er sei in Aʿǧībš geboren, wird auch von Muḥammad Dāwud in Tārīḫ Taṭuwān überliefert: Muḥammad Dāwud, Tārīḫ Taṭuwān, 11 Bde., Tétouan: Ǧamʿiyyat Tiṭṭāwīn Asmīr, 2009, Bd. 6,
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1. Teil: Leben und Wirken
Aussagen in den Quellen. Laut seiner Autobiographie befanden sich einige nicht unbekannte Personen unter seinen Vorfahren, wie etwa der Gelehrte ʿAbd Allāh Ibn ʿAǧība (gest. im 9./15. Jhdt.)3 und seine Urgroßmutter Sayyida Fāṭima (gest. ca. 1200/1786)4, die Tochter von Ibrāhīm Ibn ʿAǧība, auch bekannt unter dem Namen Lalla Fāṭima, von deren Frömmigkeit Ibn ʿAǧība zu Beginn seiner Autobiographie ausführlich berichtet.5 Die Gräber der beiden werden bis heute als Stätten der Gottesfreunde (awliyāʾ) verehrt.6 Auch einer seiner Großväter namens Muḥammad soll ein Gelehrter gewesen sein.7 Seinen Vater Muḥammad (gest. 1196/1782) beschreibt Ibn ʿAǧība als friedsamen Mann, der gerne schwieg, seine Arbeit verrichtete und des Nachts gerne den Koran rezitierte. Er war dem Sufitum zugetan und der Enkel der besagten Lalla Fāṭima.8 Über seine Mutter Raḥma (gest. 1198/1784)9 berichtet Ibn ʿAǧība, dass sie dem Sufitum auch praktisch durch das beständige Lesen von Litaneien (aḥzāb) sehr zugewandt und redegewandt darin war. Als er mit seinem Bruder Muḥammad al-Hāšimī10 (gest. 1224/1809) einmal bei ihr saß, fragte sich dieser laut, was die Sufis über die göttliche Omnipotenz auf den niederen Stufen des Kosmos sagten. Da sagte sie spontan: „Er ist von nichts erfüllt, außer von Ihm!“11 Das bedeutet, dass sich niemand außer Ihm darin befinde, wie Ibn ʿAǧība erläutert. Auf ihre prompte Antwort hin lachten sie und freuten sich. Als die Mutter fragte, warum ihre beiden Söhne lachten, fragte er zurück, was sie gesagt habe. Sie antwortete, dass sie nichts gesagt habe, außer vielleicht dieses und jenes; sie könne sich nicht genau erinnern. Das geschah so, erklärt Ibn ʿAǧība, da die „göttliche Allmacht“ ihr diese Worte eingegeben habe. Ein anderes Mal korrigierte sie einige Frauen, die behaupteten, Gott befände sich im Himmel. Sie erläuterte, dass Er weder im Himmel noch auf Erden sei, sondern: „Dort wo du Ihn glaubst, dort findest du Ihn. Und dort, wo du nach Ihm suchst, dort findest du Ihn.“12 Ibn ʿAǧības frühe Jahre verlaufen behütet und er wächst auf dem Land auf. Sowie er den Koran memoriert hat, beginnt er sich intensiv mit dem Studium S. 214; vgl. auch Aḥmad ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, 10 Bde., Tétouan: Alḫaliǧ al-ʿarabī, 2001, Bd. 5, S. 249; es wurde auch gesagt, er sei in Tétouan geboren, vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 104. 3 Vgl. ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 205–6. 4 Vgl. ebenda, Bd. 5, S. 206. 5 Fahrasa, S. 15–7; vgl. ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 206–7. 6 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 96–8. 7 Vgl. ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 206. 8 Fahrasa, S. 18. 9 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 97; ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 207. 10 Muḥammad al-Hāšimī Ibn ʿAǧība, vgl. Michon, Le Soufi, S. 35; ar-Rahūnī, ʿUmdat arrāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 241. 11 Fahrasa, S. 19. 12 Ebenda.
1.1 Abstammung, Kindheit, Jugend und Ausbildung
21
von religiösen Schriften auseinanderzusetzen. Bei seinem Großvater al-Mahdī korrigiert er seine Rezitationweise (taǧwīd) und bei anderen Lehrern studiert er einige grundlegende Werke, die Fiqh, Sufitum, Lesarten des Korans (qirāʾāt), Grammatik und anderes beinhalten.13 Insgesamt verlaufen seine Kindheit und Jugend ohne besondere Vorkommnisse. Vor größeren Fehltritten wird er bewahrt, wenn er auch versucht wurde, wie er selbst schreibt.14 Als er 18 oder 19 Jahre alt ist, geschieht es, dass er dem Gelehrten Muḥammad as-Sūsī as-Samlālī begegnet. Dieser wird durch die vielen drängenden Fragen Ibn ʿAǧības auf ihn aufmerksam und nimmt ihn mit zu sich, auf dass er bei ihm studiere. Dadurch gelangt Ibn ʿAǧība in gesellschaftlich höhere Kreise. Sein Studium beginnt, nach zwei Jahren wird er jedoch krank und muss einige Zeit nach Hause, um sich zu erholen. Zurück in Tétouan fährt er mit dem Studium fort, ist aber so arm, dass seine Mutter ihm Essen zusendet. Trotz alledem gehen seine Studien voran. Er studiert Hadith, Exegese (tafsīr), die Lesarten des Korans (qirāʾāt), Fiqh, uṣūl ad-dīn (Glaubenslehre), uṣūl al-fiqh (Methoden der Rechtsfindung), Grammatik und Morphologie (Sprachwissenschaft), Verslehre und Prosodie, Rhetorik, Logik und Sufitum bei verschiedenen Lehrern. Von diesen sind die Gelehrten Aḥmad ar-Rušāy (gest. 1210/1795)15 und ʿAbd al-Karīm Qurrīš (gest. 1197/1783)16 bedeutend, bei denen er die meisten Werke studiert. Außerdem studiert er bei Muḥammad al-Warzāzī (gest. 1214/1800)17 und den Grammatikern Muḥammad al-ʿAbbās und Abū l-Ḥasan ʿAlī Šaṭīr (gest. 1191/1777).18 Eine besondere Rolle spielt für Ibn ʿAǧība in Tétouan der Gelehrte Muḥammad al-Ǧanwī (gest. 1200/1786), dem er sehr zugetan ist und bei dem er Fiqh, uṣūl, Hadith, tafsīr, Rhetorik und vor allem die Disziplin ʿilm at-taṣawwuf (Lehre des Sufitums) studiert.19 Als dieser stirbt (1200/1786), verlässt er Tétouan und begibt sich nach Fès. Über die Zeit seines Studiums dort ist wenig mehr bekannt als die Fächer seines Studiums dort und seine Lehrer.20 Fès ist zu dieser Zeit das wohl wichtigste Zentrum der Gelehrsamkeit Marokkos. In Fès lernt er vor allem bei den bekannten Gelehrten Muḥammad at-Tāwudī ibn Sūda (gest. 1209/1795) und Muḥammad Bannīs sowie bei den Gelehrten Aḥmad az-Zaʿrī und Ibn Kīrān (gest. 1227/1812). Er ist bereits um die 40 Jahre alt, als er in Fès studiert, und hat einige Abhandlungen und Werke verfasst, die vermutlich in vielen Fällen von seinem Lehrer al-Ǧanwī inspiriert 13
Ebenda, S. 21; vgl. auch ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 108. Fahrasa, S. 21–2. 15 Vgl. Dāwud, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 187. 16 Vgl. ebenda, Bd. 6, S. 186. 17 Vgl. ebenda, Bd. 6, S. 191, 194; ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 113–24. 18 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 38–41; Dāwud, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 214; Fahrasa, S. 20–5. 19 Vgl. Dāwud, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 195; vgl. auch ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 113–9. 20 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 125–9; Fahrasa, S. 25–6. 14
22
1. Teil: Leben und Wirken
wurden. Sie behandeln maßgeblich Themen, die er bei diesem studiert hatte; so zum Beispiel ein langer Kommentar zu einem Gebet (waẓīfa) des Aḥmad Zarrūq (gest. 899/1494) und ein Kommentar zu einem ḥizb (regelmäßig gelesenes Gebet; Litanei) des Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī (gest. 656/1258).21 Mit dem Umzug nach Fès ändert sich das nicht wesentlich und er verfasst weiterhin Schriften im Fach Sufitum, aber auch in den Fächern Fiqh, Lesarten des Korans, Hadith sowie Grammatik und Dichtung. Ibn ʿAǧība hat bereits während seiner Zeit in Tétouan (vor seinem Studium in Fès) begonnen, selbst Werke zu verfassen und sein reger Wille weiter zu veröffentlichen, dürfte die Hoffnung seiner Lehrer geweckt haben, talentierten Nachwuchs gefunden zu haben.22 Das Curriculum, das Ibn ʿAǧība in Tétouan und Fès zuteilwird, beinhaltet die maßgeblichen Schriften seiner Zeit, in der Ausprägung des mālikitischen Fiqh, des ašʿarītischen Kalam und des Sufitums nach al-Ġazālī und Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī. Die wichtigsten waren: 1. Hadith: Saḥīḥ al-Buḫārī, Ṣaḥīḥ Muslim, Kitāb aš-šifāʾ des Qāḍī ʿIyāḍ, die Šamāʾil ar-Rasūl von at-Tirmiḏī, die Hamaziyya von al-Būṣayrī, ein Werk zu den Fachbegriffen des Hadith von al-ʿArabī al-Fāsī 2. Tafsīr: Anwār at-tanzīl von al-Bayḍāwī und Tafsīr al-Ǧalālayn von as-Suyūṭī und al-Maḥallī 3. Koranlesarten: Das Muqniʿ von Abū ʿAmr ad-Dānī 4. Fiqh: Das Muḫtaṣar des Ḫalīl, die Risāla des Ibn Abī Zayd al-Qayrawānī, Tuḥfat al-hukkām von Muḥammad Ibn ʿĀṣim und die Lāmiyya von Abū l-Ḥasan ʿAlī az-Zaqqāq 5. Uṣūl ad-dīn: Die große und kleine ʿAqīda von Muḥammad ibn Yūsuf asSanūsī 6. Uṣūl al-fiqh: Das Ǧamʿ al-ǧawāmiʿ des Taǧ ad-dīn as-Subkī und die Waraqāt von Abū l-Maʿālī al-Ǧuwaynī 7. Grammatik und Morphologie: Die Alfiyya, Lāmiyyat al-afʿāl und Tashīl von Muḥammad ibn ʿAbd Allāh Ibn Mālik sowie Tawḍīḥ, Muġnī al-labīb und die Qawāʿid von Abū Muḥammad Ibn Hišām 8. Metrik und Prosodie: Die Ḫazraǧiyya des Ḫazraǧī 9. Rhetorik: Talḫīṣ al-miftāḥ von Muḥammad ibn ʿAbd ar-Raḥmān al-Qazwīnī 10. Logik: Das Muḫtaṣar von Muḥammad ibn Yūsuf as-Sanūsī und die Sullam von ʿAbd ar-Raḥmān al-Aḫḍarī 11. Taṣawwuf: Die Ḥikam von Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī und die Naṣīḥa des Aḥmad Zarrūq sowie dessen Uṣūl aṭ-ṭarīq23 Schließlich, nach langen Jahren des Studiums, erhält er Lehrberechtigungen (iǧāzāt) für die gesamten religiösen Lehren der Islamischen Theologie. Ibn 21
Vgl. Michon, Le Soufi, S. 90. Vgl. Michon, Le Soufi, S. 39–43 und S. 87–91; Fahrasa, S. 38–9. 23 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 39–41. 22
1.1 Abstammung, Kindheit, Jugend und Ausbildung
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ʿAǧība nennt diese in seiner Autobiographie in voller Länge.24 Zudem listet er seine Überliefererkette (isnād oder silsila) im Hadith und Fiqh vollständig auf. Eine Kette für Hadith, die von seinem Lehrer at-Tāwudī ibn Sūda bis zu al-Buḫārī (gest. 256/870) reicht und eine Kette für Fiqh, die von seinem Lehrer al-Ǧanwī bis zu Imam Mālik (gest. 179/795) sowie weiter über Nāfiʿ und Ibn ʿUmar zum Propheten Muḥammad reicht.25 Ibn ʿAǧība hatte mit ca. 30 Jahren (1190/1776) begonnen zu unterrichten, einstweilen er noch lange studieren sollte. Seine Lehrzeit dauert 15 oder 16 Jahre während der er von Tétouan nach Fès wechselt und schließlich nach Tétouan zurückkehrt, nachdem er sein Studium in Fès abgeschlossen hatte. Er unterrichtet in verschiedenen Moscheen und Zawāyā (pl. für Zāwya), Orte für die Lehre, kleine Moscheen, auch die Häuser der Sufigemeinschaften.26 Ein geachteter Gelehrter mit Vorliebe für das Sufitum ist aus ihm geworden, dem eine ansehnliche Karriere in Gelehrtenkreisen offensteht. Doch dabei sollte es nicht lange bleiben. Er beschreibt, dass, nachdem er das „Wissen des Äußeren“27 erworben hatte, das Wissen seines akademischen Studiums, ihn ein starkes Verlangen nach Rückzug überkommt und er sich immer mehr für die Lehren der Sufis zu interessieren beginnt. Was schon im Studium mit einer Neigung zum Sufitum vorhanden war, wird nun drängender. Er bekommt einen Kommentar zu den Ḥikam des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī in die Hände, geschrieben von dem Sufi und Gelehrten der berühmten Qarawiyīn Universität, Ibn ʿAbbād ar-Rundī (gest. 792/1390), kopiert diesen, und zieht sich fortan vom „Wissen des Äußeren“ zurück und damit auch aus dem Lehrbetrieb.28 Das geht so weit, dass sich seine Familie ernste Sorgen um ihn macht und versucht, ihn auf den Weg seiner Karriere als Gelehrter zurückzuführen. Dabei entsteht eine Debatte um die Vortrefflichkeit des Wissens, die verdeutlicht, was Ibn ʿAǧība durchläuft. Ein Verwandter namens ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿAǧība erklärt ihm, auf das Ansehen der Gelehrten deutend, das äußere Wissen sei besser, da sein Nutzen von allgemeiner Natur für viele Menschen sei. Ibn ʿAǧība entgegnet seinem Verwandten deutlich mit den Worten: „Ich will kein Richter und kein Muftī werden. Und ich werde auch meinem jetzigen Wissen nichts hinzufügen. Bei Gott, dorthin kehre ich nicht zurück.“29 In seiner Autobiographie führt er im Anschluss an diese Geschichte lang aus, was sich an vielen Stellen seines Werkes (in unterschiedlichen Varianten) wiederfindet; dass das innere Wissen über dem 24 Fahrasa, S. 31–3; vgl. Vimercati Sanseverino, Kapitel „Savants, poètes et mendiants“, in Fès et sainteté. 25 Fahrasa, S. 27–9. 26 Ebenda, S. 43–4; vgl. Dāwud, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 218; ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 216. 27 Fahrasa, S. 37. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 38.
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1. Teil: Leben und Wirken
äußeren Wissen stehe, wie es etwa die Meinung von al-Ġazālī, al-Qušayrī und Ibn Rušd (Averroes; gest. 595/1198) gewesen sei.30 Während dieser Zeit des Rückzugs meidet er die Menschen, kehrt dann noch einmal kurz in den Lehrbetrieb zurück, offenbar jedoch ohne innerliche Anteilnahme. Er verbringt seine Zeit in Abgeschiedenheit, bis er schließlich im Jahre 1208/1793 seinem Meister begegnet. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits rund 48 Jahre alt.31
1.2 Der Weg der Sufis – Vom Gelehrten zum Sufi-Gelehrten Als Ibn ʿAǧība sich einmal auf dem Weg nach Fès befindet, um dort seine Lehrer zu besuchen, beschließt er, bei dem Stamm der Banī Zirwāl haltzumachen und die bekannten Sufis Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī (gest. 1239/1823)32 und Muḥammad al-Būzīdī (gest. 1229/1814)33 zu treffen. Er geht zunächst zu alBūzīdī, der über sein Erscheinen sehr erfreut ist und ihn mit zu ad-Darqāwī selbst nimmt. Auch dieser freut sich ausgesprochen über Ibn ʿAǧības Anwesenheit und sie verbringen einige Tage zusammen, sprechen über das „innere Wissen“, und ihm wird weiterführende Lektüre übergeben. Beim Abschied sagt er zu ad-Darqāwī, dass er nun zu seinen Anhängern gehöre.34 Er reist weiter nach Fès und ist wie verwandelt. Sein späterer Meister al-Būzīdī schreibt ihm Briefe und hält ihn dazu an, zu ihm zu kommen und sich in seine Gesellschaft zu begeben (ṣuḥba), wie es Brauch bei den Sufis ist.35 Das Schicksal will es jedoch anders und so geschieht es schließlich, dass al-Būzīdī selbst nach Fès reist und sie sich erneut begegnen. Während dieses Treffens vermittelt er ihm einige Übungen der Sufis, die er regelmäßig verrichten soll (wird, pl. awrād)36 und wird damit gewissermaßen auch offiziell Murīd (Anhänger oder Aspirant auf dem Sufiweg) der Darqāwiyya-Bewegung.37 Von nun an verschreibt sich Ibn ʿAǧība ganz seinem Meister und besucht ihn so oft er kann.38 Wie sein Meister al-Būzīdī, der seinem Meister ad-Darqāwī39 16 Jahre gedient hatte und dieser wiederum seinem Meister ʿAlī al-Ǧamal (gest. 1194/1780) sieben Jahre,40 nimmt auch er sich die Anweisung der Sufis, dem Meister zu 30
Ebenda, S. 38–9. Ebenda, S. 43–4; vgl. Michon, Le Soufi, S. 44. 32 Vgl. ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 243. 33 Vgl. ebenda, S. 219. 34 Fahrasa, S. 43. 35 Einige der Briefe hat der Historiker Muḥammad Dāwūd bewahrt, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 244–51. 36 Siehe zu wird Bewley, A Glossary, S. 228. 37 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 45. 38 Vgl. Fahrasa, S. 45–6. 39 Vgl. ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 217. 40 Vgl. Fahrasa, S. 46–7. 31
1.2 Der Weg der Sufis – Vom Gelehrten zum Sufi-Gelehrten
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dienen, zu Herzen. Ibn ʿAǧība war das nicht uneingeschränkt möglich, da er familiäre und gesellschaftliche Verpflichtungen hatte, wie er schreibt, er besucht al-Būzīdī jedoch so oft er es vermag und hilft bei jeder Gelegenheit. Er baut für ihn ein Haus und verkauft einige seiner Bücher, um die Arbeiter ordentlich zu entlohnen. Er verrichtet verschiedenste Arbeiten für seinen Meister, unter anderem baut er auch einen Brunnen für ad-Darqāwī und mit seinem Bruder zusammen eine Moschee bei den Banī Zirwāl.41 Bevor Ibn ʿAǧība sich auf den Weg der Sufis begab, war er durchaus nicht unvermögend gewesen, er besaß einen Obstgarten, Milchkühe und eine Bibliothek. Zudem war er gesellschaftlich ein anerkannter und beliebter Gelehrter gewesen. Als er sich nun in die Hände seines Meisters begibt, verkauft er jedoch das meiste davon und gibt seine Karriere auf, die für ihn mindestens den Rang eines Muftī oder gar Richters vorgesehen hatte. Er wählt eine eigentlich entgegengesetzte Richtung: den Weg der Sufis in der damaligen Ausprägung der Tradition der Darqāwiyya, die die alte Tradition des Tragens von grober, einfacher Kleidung wiederaufleben ließ. Er zieht sich ein solches grobes Gewand an und begibt sich, auf Anweisung seines Meisters, so unter die Leute. Als er zum ersten Mal erkennbar als armer Mann unter die Menschen geht, bricht etwas in ihm. Er beschreibt diesen Vorgang selbst mit den Worten: „Da hörte ich mein Ego in mir um Hilfe rufen und schreien und der Schweiß lief mir herunter, da dies der erste Bruch war, den es erlebte.“42 Denn ein Mittel auf dem Weg der Sufis nach der Schule der Šāḏiliyya ist es, das Ego zu zügeln, da es sich an das Diesseits bindet. In den Weisheiten des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī heißt es dazu: „Wie sollen dir Erschwernisse aus dem Weg geräumt werden, wenn du nicht mit den Erschwernissen deines Egos brichst?“43 Er verfolgt diesen Weg weiter und zieht sich zu dem Bettlergewand noch eine große Gebetskette (sibḥa) um den Hals, wie es der Tradition einiger späterer Sufis in dieser Region entspricht.44 Da verstehen die Leute von Tétouan, dass es ihm ernst ist mit seiner Entscheidung und es wird ihm regelrecht nachgetrauert.45 Die Reaktion der Menschen bestärkt ihn in seinem Beschluss und er bittet seinen Meister, zusätzlich die Lumpen (muraqqaʿa oder ḫirqa) der Sufis46 tragen zu dürfen. Al‑Būzīdī gestattet es ihm und gibt ihm zusätzlich den Auftrag, seine Güter zu verkaufen, außer dem, was notwendig für ihn und seine Familie sei. Nach einer gewissen Zeit schreibt er ihm, er solle nun die Armen 41
Ebenda, S. 46–7. Ebenda, S. 53 und S. 53–4; vgl. Michon, Le Soufi, S. 47–8. 43 IH, S. 300. 44 Vgl. al-Kūhin, Ṭabaqāt aš-Šāḏiliyya al-kubrā, S. 175. 45 Vgl. Dāwūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 251. 46 Vgl. zu diesem Begriff etwa Bewley, A Glossary, S. 218; in der Tat ist hier gemeint, dass er sich bereits grobe Kleidung angelegt hatte und nun noch zusätzlich Lumpen darüber legt. Er sah dann vermutlich in den Augen der Gesellschaft nicht mehr nur mittellos aus, sondern verarmt und geplagt. 42
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1. Teil: Leben und Wirken
bedienen: „Er schrieb mir, ich solle die Armen bedienen, ihre Wäsche waschen, Seife kaufen, um mit meinen Füßen zu waschen und sie zu speisen. Ich tat das für eine Weile.“47 Ein Mitarbeiter des spanischen Konsulats in Tétouan berichtet seinem Vorgesetzten in einem Brief über den Einschnitt, den Ibn ʿAǧības Entscheidung auf die Menschen hatte. Er berichtet, einer der angesehensten Gelehrten Tétouans hätte seinen Lehrstuhl in den Moscheen und Zawāyā (Pl. von Zāwya), den er seit über zehn Jahren ausübte, aufgegeben und würde nun in Lumpen durch die Straßen ziehen. Die Menschen glaubten, er hätte seinen Verstand verloren, da er noch dazu sein Hab und Gut verkauft habe.48 Danach beauftragt der Meister al-Būzīdī ihn damit in Läden und Moscheen zu betteln. Er geht daraufhin mit dieser Absicht auf den Markt, bricht den Versuch jedoch ab, da es ihm aus Scham nicht gelingt. Er ist eifersüchtig auf die anderen Sufis, die dieser Aufgabe gewachsen waren, wie er selbst schreibt. Zu gewaltig erscheint die Hürde, zu tief ins Fleisch des Egos würde es schneiden: „Mein Ego wünschte sich mehrmals am Tag tatsächlich den Tod.“49 „Bis schließlich, es war an einem Freitag, ich feierlich schwor heute zu beginnen. Als der Imam das Gebet beendet hatte, ging ich vor die Tür und setzte mich zwischen die Alten und teilweise blinden Leute und die Armen und streckte meine Hand mit ihnen bettelnd aus. Die Menschen gingen an mir vorbei und bedeckten ihr Gesicht aus Scham vor mir, um mich nicht in einem solchen Zustand zu sehen. Das tat ich einige Male mit ihnen im Sitzen, dann ging ich zur Tür und bettelte dort. Danach wiederholte ich dies in allen Moscheen in Tétouan.“50
Anschließend geht er auch in die Läden und auf die Märkte, um zu betteln. Weitere Aufgaben bestehen darin, den ganzen Tag auf dem Markt zu verbringen und dort nicht nur zu betteln, sondern auch den Markt zu fegen und zu säubern. Dies tut er einige Male und während er den Müll aus der Stadt trägt, läuft der Schmutz ihm den Rücken hinunter. Er reitet auf einem Esel durch die Stadt und verkauft Wasser und vermittelt den Eindruck, er tue es für Geld. Das Geld gibt er jedoch dem Besitzer des Wasserbehältnisses aus Ziegenleder, das er für diesen Zweck geliehen hatte.51 Die Frage, die sich für den Religionsbegriff hinsichtlich seines Lebenswandels stellt, ist, inwiefern sein Schaffen als Gelehrter sich mit seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum verändert. Er gibt selbst Aufschluss darüber in seiner Autobiographie; in der dortigen Auflistung seiner Werke und der anschließenden Reflexion zeigt sich deutlich, welche er vor und welche er nach dem Treffen 47
Fahrasa, S. 55. Vgl. Muḥammad Ibn ʿAzūz Ḥakīm, „Nakbat al-ʿallāma Ibn ʿAǧība min ḫilāl maṣdar isbānī muʿāṣir“, in Aʿmāl nadwat aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 119–22. 49 Fahrasa. S. 55. 50 Ebenda, S. 55. 51 Ebenda, S. 55–6; Ibn ʿAǧība, The Autobiography, S. 92–3. 48
1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis
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mit seinem Meister al-Būzīdī verfasste.52 Der Einschnitt, der durch seine vollständige Hinwendung zum Weg der Sufis zustande kommt, ist gravierend und er geht auf diese Veränderung beziehungsweise seine Weiterentwicklung hinsichtlich der Auslegung der religiösen Lehre an vielen Stellen seines anschließenden Werkes ein. Das wird eingehender im Kapitel zu den Quellen (3.1.2) Ibn ʿAǧības sowie in Teil 2 zur Šāḏiliyya behandelt. Diese Phase, in der er seinem Ego Herr zu werden sucht, dauert weniger als ein Jahr. Wie auch immer jedoch die Menschen ihn erlebt haben müssen, seine Gelehrsamkeit bleibt bestehen und er wird auch in Zukunft keinen Widerspruch zwischen seinem Studium und der neuen Ausrichtung sehen. Vielmehr versteht er die neue Methode als Erweiterung. Frei nach Michon: War Ibn ʿAǧība zuvor ein gelehrter Sufi, wird er, nachdem er bei seinem Meister in die Lehre gegangen ist, zu einem Sufi-Gelehrten.53
1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis Historisch betrachtet lebt Ibn ʿAǧība in einer Zeit voller Umbrüche, bezieht man den größeren Kontext mit ein. So treten kurz nach seinem Tod etwa die Wahhabiten auch in Marokko auf den Plan. Zeitgleich zu seinem Studium setzt die Französische Revolution (1789–99) ein. Sein Leben verläuft zunächst, gemessen an den sonstigen Bewegungen im Land, relativ friedlich. Ein anderes Kapitel bricht an, als er selbst als Sufi aktiv wird. Hinsichtlich der intellektuellen Kultur im Lande stehen Logik und Kalam zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch in ihrer Blüte. Mit dem Tode des Sultan Mawlāy Ismāʿīl im Jahre 1139/1727, der die Alawidische Dynastie (ca. 1076/1666-heute) in Marokko erst richtig konsolidierte, gelangt diese Zeit jedoch an ein Ende und anschließend wird von Mawlāy Muḥammad ibn ʿAbd Allāh III. (1170/1757–1204/1790) eine Bildungspolitik verfolgt, die eine gänzlich andere Ausrichtung fördert.54 Die Politik Muḥammad III. ist von harter Hand geprägt. Es gelingt ihm, das Land militärisch zu stabilisieren und er besteuert die Märkte, was für die Bevölkerung ein Opfer darstellt. Ein Gegner dieser Besteuerung ist der spätere Lehrer Ibn ʿAǧības, der Gelehrte von Fès (Šayḫ al-ǧamāʿa): at-Tāwudī Ibn Sūda.55 Besonders jedoch ist die Bildungspolitik Muḥammad III. hinsichtlich der Biographie Ibn ʿAǧības von Bedeutung, da diese das Curriculum, das Ibn 52
Fahrasa, S. 35–8. Vgl. Michon, Le Soufi, S. 64–80. 54 Vgl. El‑Rouayheb, Intellectual Islamic History, S. 170–2. 55 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 23–8; für Ibn Sūda vgl. auch Yūsuf alMarʿašlī, Muʿǧam al-maʿāǧim wa l-mašyaḫāt wa l-fahāris wa l-barāmiǧ wa l-aṯbāt, 4 Bde., Riad: Maktabat ar-Rušd, 2002, Bd. 2, S. 181–3. 53
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1. Teil: Leben und Wirken
ʿAǧība zuteilwurde, maßgeblich prägt. Muḥammad III. ist die Bildungspolitik derart wichtig, dass er selbst eine Schrift zur Erziehung der Jugend verfasst und die Lehrkräfte an den Universitäten heftig dahingehend kritisiert, sie würden sich zu sehr auf Kommentare und Zusammenfassungen berufen. Er verlangt eine Reform des Curriculums der Universität Qarawiyīn und fördert explizit die Hadithwissenschaft und verbietet gleichzeitig die Lehre des Kalam.56 Abermals ist es at-Tāwudī Ibn Sūda, der dem Herrscher widerspricht. Die Forderung des Herrschers besteht einerseits darin, wieder mehr Grundlagentexte zu studieren, andererseits aber auch, kreativer zu denken. Was zunächst nach Progression klingen mag, stellt in der Art der Forderung jedoch eine starke Einmischung in die Forschung und Lehre dar und führt zu Schwierigkeiten und Aufruhr. Nichtsdestotrotz lebt in dieser Zeit die Wissenschaft, zumindest die geförderten Disziplinen, insbesondere das Fach Hadith, auf, wovon Ibn ʿAǧība profitiert.57 In der für das Wirken Ibn ʿAǧības als Gelehrter und Sufi jedoch weit bedeutenderen Phase herrscht Mawlāy Sulaymān ibn Muḥammad (1206/1792– 1237/1822), ein Sohn Muḥammad III. Dieser ist selbst ein Gelehrter und steht als Herrscher vor vielen außenpolitischen Herausforderungen, pflegt zum Beispiel enge Beziehungen zu den USA und sieht sich gegen Ende seiner Herrschaft (nach dem Tode Ibn ʿAǧības) als erster Herrscher Marokkos mit den Wahhabiten konfrontiert. Was die Bildungspolitik betrifft, macht er zuerst die weit reichenden Änderungen seines Vaters rückgängig, sodass die Glaubenslehre zurück in die üblichen Bahnen gelenkt und Kalam wieder gelehrt wird.58 Zu Tétouan ist zu erwähnen, dass die Region eine strategische Position innehat, da Kultur und Politik durch die verschiedenen äußeren Einflüsse als Küstenstadt gleich in zwei Richtungen mit verschiedenen Gegnern konfrontiert sind. Im Osten befindet sich das Osmanische Reich, von dem man unabhängig ist und dies auch bleiben will. Auch die Einwirkungen aus dem Norden, insbesondere Spanien und Portugal, müssen teilweise militärisch abgewehrt werden. Das gesellschaftliche Klima in der Gegend muss dementsprechend als rau beschrieben werden und für spirituelle Beschäftigung scheint zunächst kein großer Spielraum zu bestehen. Groß erscheint die Unsicherheit aufgrund der nicht einzuschätzenden auswärtigen Kräfte und zu schnell die Änderungen, die sich vollziehen.59 Ibn ʿAǧība ist nur von einigen wenigen dieser gesellschaftlichen Bewegungen betroffen. Wahrscheinlich hält er sich bewusst fernab von ihnen auf; in jedem 56 Vgl. Vimercati Sanseverino, Kapitel 6 „Science et sainteté après le règne de Moulay Ismāʿīl“, in Fès et sainteté; vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 70. 57 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 48–53. 58 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 54. 59 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 22–36; für einen Überblick über die verschiedenen Allianzen und Kämpfe mit ausländischen Mächten siehe Muḥammad Dawūd, Muḫtaṣar Tārīḫ Taṭwuān, Tétouan: Maṭbaʿat al-Mahdiyya, 1955, S. 35–104.
1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis
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Fall äußert er sich in seinen Werken, auch Briefen und Abhandlungen, zu den Geschehnissen meist nur abstrakt, zurückhaltend und dann aus der Perspektive des Theologen oder des Sufis. Ja, es ist in der Tat eine beachtliche Abwesenheit von Politik festzustellen; in seinem Werk ist keine nennenswerte Erwähnung von Politik zu finden, wie beispielsweise die Frage nach der imāma aus Perspektive des Fiqh oder dergleichen. Es kann allgemein gesagt werden, er habe sich aus dem politischen Geschehen herausgehalten.60 Das heißt nicht, dass Ibn ʿAǧība unbeteiligt am gesellschaftlichen Leben war. In einem Schreiben (risāla) verurteilt er den Umgang mit einer bestimmten Personengruppe. Diese Gruppe wurde meist ʿabīd al-Buḫārī (wörtl. Sklaven des Buḫārī) genannt und sie waren die Nachfahren eines Heeres, das während der Zeit des Herrschers Ismaʿīl um das Jahr 1111/1700 aufgestellt worden war. Man konnte sie auch zu Ibn ʿAǧības Zeiten noch in vielen Städten antreffen. Dieses Heer bestand ursprünglich nur aus dunkelhäutigen, „schwarzen“ Männern und Frauen (zur Versorgung der Männer), die vom Herrscher auf das bekannte Hadith-Werk des al-Buḫārī zur Loyalität eingeschworen worden waren, daher der Name.61 In seinem Schreiben nun kritisiert Ibn ʿAǧība zuerst die Gelehrten, die diesem Thema zu wenig Beachtung geschenkt hätten. Sie hätten es erlaubt, dass freie Menschen als Sklaven bezeichnet werden und noch gegen sie gehetzt werden dürfe. Die Menschen selbst, also die Nachfahren dieser einst Versklavten, seien Opfer von Untaten geworden und es gäbe gute und rechtschaffene Leute unter ihnen. Sie seien freie Muslime, denen der Status und die Benennung als Sklaven zu Unrecht gegeben werde. Dazu führt er das Aya an: „Und nicht tadelt einander und nicht gebt einander Schimpfnamen! Schlecht ist die Bezeichnung des Frevels, nachdem der Glaube angenommen. Und die nicht umkehren, das sind die Übeltäter“ (K 49:11). Er fährt fort die Gesellschaft im Umgang mit diesen Menschen allgemein zu tadeln: Wer sie herablassend behandele oder die Heirat mit ihnen verabscheue, der sei ein „unwissender Ignorant“; sie seien vielmehr Brüder und Gleichgestellte. Er geht sogar so weit zu sagen, dass jemand, der dieses Unrecht sehe und nichts dagegen tue, sich versündige. Dies, da Ehre dem Menschen „nur aufgrund der Gottesfurcht und Ansehen nur durch Wissen und Handeln zukomme“.62 Nach 60 Dieses
Merkmal ist auch ʿAzzūzī aufgefallen, vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 36–7. 61 Vgl. Chouki El Hamel, „The Register of the Slaves of Sultan Mawlay Isma’īl of Morocco at the Turn of the Eighteenth Century“, The Journal of African History, 51 (2010), S. 89–98; vgl. Muḥammad al-Mušrifī, Al-ḥulal al-bahiyya fī mulūk ad-dawla al-ʿAlawiyya wa ʿadd baʿḍ mafāḫirihā ġayr al-mutanāhiya, 2 Bde., Hg. Idrīs Būhlīla, Rabat: Dār Abī Raqāʾiq, 2005, Bd. 1, S. 296–300; vgl. auch Vimercati Sanseverino, Einleitung des Kapitels „Sainteté chérifienne, ordres soufis et science inspirée: la Wazzāniyya, la Nāṣiriyya et ʿAbd al-ʿAzīz al-Dabbāgh (11.–12./17.–18. siècles)“, in Fès et sainteté; vgl. auch Dawūd, Muḫtaṣar Tārīḫ Taṭwuān, S. 67. 62 ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 45.
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1. Teil: Leben und Wirken
dem Aya: „Wahrlich, der Edelste von euch vor Gott ist der Gottesfürchtigste“ (K 49:13). Er führt weiterhin das Hadith an: „Es gibt keinen Vorzug des Arabers über den Nicht-Araber, keinen des Nicht-Arabers über den Araber, keinen des Roten über den Schwarzen und keinen des Schwarzen über den Roten, außer durch die Gottesfurcht.“63 Ibn ʿAǧība schreibt diese Worte nach eigener Aussage, weil er selbst oft gesehen hat, wie diese Menschen beleidigt wurden, ihnen Heirat bloß aufgrund ihres vermeintlichen niederen Rangs verwehrt wurde und sie nicht als Imam beim Freitagsgebet zugelassen wurden. Er verurteilt dies zum Schluss seines Schreibens erneut aufs Schärfste und schließt mit den Worten: Wer diese seine Worte höre und sie verstehe, der solle etwas tun und Zeugnis ablegen; wenn nicht, sei er einverstanden mit dem Unrecht und werde dafür bei Gott verachtet.64 Die politischen beziehungsweise sozio-politischen Umstände sind jedoch in dem Maße von Bedeutung, als die Sufi-Bewegung der Darqāwiyya-Šāḏiliyya – die Bewegung, der Ibn ʿAǧība angehört und die nach dem Meister seines Meisters, al-ʿArabī ad-Darqāwī, benannt ist – der Obrigkeit mitunter ein Dorn im Auge ist, da sie sich schnell verbreitet und dies abseits des Einflussbereiches der Politik.65 Die auf die Ausbildung bei seinem Scheich al-Būzīdī folgenden dramatischen Ereignisse, deren Initialzündung in den Reisen Ibn ʿAǧības liegt, sind aufgrund der nicht eindeutigen historischen Gliederung in der wissenschaftlichen Literatur nicht gänzlich klar. Das gilt vornehmlich für die Chronologie der Ereignisse, wie auch für einige Details; das Wesentliche der Darstellungen ist jedoch unstreitig.66 63 Hadith in Kanz: Ibn an-Naǧǧār (Abū Nuʿaym fī l-Ḥilya), Nr. 8502 und al-Bayhaqī, Nr. 5652. 64 Der Brief zitiert nach ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 45–6; auch Michon erwähnt dieses Schreiben, Le Soufi, S. 287; beide beziehen sich in der Quellenangabe auf Dawūd, Tārīḫ Taṭuwān, Ausgabe von 1959, Tétouan, Bd. 2, S. 41–2 (lag mir nicht vor). Der Zeitpunkt des Schreibens war mir nicht ersichtlich, nämlich ob es vor oder nach Ibn ʿAǧības Hinwendung zu den Darqāwīs verfasst wurde beziehungsweise zur Zeit des Herrschers Muḥammad III. (bis 1790) oder zur Zeit des Herrschers Sulaymān (ab 1792) oder dazwischen. Dem Stil nach zu urteilen handelt es sich eher um ein späteres Schriftstück – der darin auftauchende Hinweis auf die Einheit von Wissen und Handeln ist ein Merkmal seiner Lehre als Sufi-Gelehrter der Darqāwiyya. Auch ähnelt die Argumentation in diesem Schreiben derjenigen, wie sie in seiner Abhandlung zu Schicksal und Bestimmung aus Anlass der Pest vorkommt (Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar), einem späten Werk: Er kritisiert die Meinung der Gelehrten und den Umgang mit einer Sache, erwähnt aber das politische Geschehen nicht. Auf die Abhandlung zum Schicksal wird in Teil 5 genauer eingegangen. Die Echtheit des Schreibens bleibt zu prüfen, es gibt jedoch keinen Anlass die Echtheit ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Dass der Brief in Ibn ʿAǧības Werk nicht auftaucht, ist kein starker Hinweis auf falsche Zuschreibung. Ibn ʿAǧība erwähnt in seiner Autobiographie, dass er einige Briefe an Gelehrte verfasste, von denen er keine Kopie behalten hat, vgl. Fahrasa, S. 146. 65 Vgl. Vimercati Sanseverino, Kapitel „La fondation des grands ordres et le renouveau du soufisme (…)“, in Fès et sainteté. 66 Vgl. at-Tuhāmī al-Wazzānī, „Miḥnat aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība. Qirāʾa fī ṣimt al-maṣādir“,
1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis
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Ungefähr ein Jahr nachdem er den Weg der Sufis als Adept angetreten hatte, erklärt ihn sein Meister al-Būzīdī für fähig zu den Menschen zu sprechen (um 1209/1794).67 Er erlaubt ihm „auszuziehen, die Diener Gottes zu erinnern (taḏkīr) und ihnen die Praxis der Sufis zu vermitteln (awrād).“68 Ibn ʿAǧība zieht daraufhin mit einer Gruppe von Anhängern aus und lädt zum Weg der Sufis ein (1209/1794–1213/1798). Er reist von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, während in den meisten Fällen viele Menschen den Weg der Darqāwiyya annehmen. Die Zahlen, die Ibn ʿAǧība angibt, variieren für manche Dörfer von 40 Personen, die seiner Einladung folgen, bis zu 120 Personen. Schließlich wird die Reise Ibn ʿAǧības durch die vielen Menschen bekannt, die seinem Ruf Folge leisten, bis dass der Präfekt von Tanger an Mawlāy Sulaymān schreibt, ein Mann namens „al-Faqīh Ibn ʿAǧība“ reise durch das Land und bekehre alle Leute zu Sufis, was dem Herrscher jedoch nicht missfällt – im Gegenteil, er tut seinen Gefallen daran kund.69 Schließlich reist er zurück nach Banī Anǧirā und weiter nach Sibta (Ceuta), um über den Umweg einiger Dörfer nach Tétouan heimzukehren. Während dieser Reise besucht er ungefähr 30 Dörfer. Wenig später beginnt er eine zweite Reise mit demselben Ziel, wird jedoch nicht in jedem Dorf freundlich aufgenommen und es geschieht sogar, dass Steine nach ihm und seinen Gefährten geworfen oder ihnen die Tore einer Siedlung nicht geöffnet werden. Er gelangt dann nach Sallā (Salé) und Rabat, wo sein Ruf auf ein breites Echo stößt.70 Im Jahre 1209/1794 ereignet sich ein Zwischenfall, der den Aufruhr, den die Verbreitung der Sufi-Schule der Darqāwiyya insbesondere durch Ibn ʿAǧība verursacht hat, verdeutlicht. Obwohl es sich lediglich um wenige Tage handelt, zeigt sich darin eine Dynamik, die das Wirken Ibn ʿAǧības als Sufimeister spiegelt und er widmet der Episode über seinen kurzen Gefängnisaufenthalt und den damit verbundenen Repressalien ein eigenes Kapitel in seiner Autobiographie. Wie beschrieben verursachen Ibn ʿAǧības Besuche in Städten, bei Stämmen und in Dörfern eine Bewegung in der Gesellschaft, durch die viele Menschen sich der Sufi-Lehre verschreiben. Das wird nicht von allen Gelehrten und Würdenträgern positiv aufgenommen. Die Gründe sind vielfältig; das gesellschaftliche Klima ist allgemein von einer rauen Gangart geprägt, da die politische Lage nicht nur inländisch kompliziert ist, sondern immer wieder auch militärische Maßnahmen gegen auswärtige Feinde erfordert. Hinzu kommt, dass zu dieser Zeit durchaus von einer normativen Lesart der Theologie gesprochen werden kann, die das persönliche und individuelle Erleben des Glaubens in den Hinin Aʿmāl nadwa aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 126–37; Michon, Le Soufi, S. 50–63; ʿAzzūzī, AšŠayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 36–44. 67 Vgl. Fahrasa, S. 50. 68 Fahrasa, S. 49. 69 Vgl. ebenda, S. 49; Ibn ʿAǧība, The Autobiography, S. 85; Michon, Le Soufi, S. 50. 70 Vgl. Fahrasa, S. 51–2.
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1. Teil: Leben und Wirken
tergrund stellt, wahrscheinlich zum Teil aus der Bildungspolitik Muḥammads III. resultierend, von den Eliten jedoch auch bis dahin nicht wirklich herausgefordert. Praktiken des Sufitums sind durchaus in der Bevölkerung verbreitet und angesehen, die Lehre selbst wird jedoch an der Universität und in den Moscheen mehr als theoretische Disziplin unterrichtet.71 Wie auch immer die äußeren Umstände ausgesehen haben mögen, das 12./18. Jahrhundert markiert gesellschaftlich einen Wendepunkt. Kurz vor Ibn ʿAǧība und der Darqāwiyya treten auch andere Sufi-Bewegungen auf den Plan und erlangen einige Bekanntheit, wie die Nāṣiriyya und die Wazzāniyya.72 Doch nicht nur diese sind den Menschen bekannt, sondern auch einige andere Gruppierungen, die durch extreme Aktionen und Praktiken zu unglücklicher Bekanntheit aufsteigen. Es wird berichtet, dass sie Marihuana zu ihren Ritualen rauchten, Heirat vollkommen ablehnten, Feuer legten, sich irre kleideten und allgemein eine Wildheit verbreiteten, die den sozialen Frieden bedrohte. Und sie taten dies unter dem Deckmantel der Religion beziehungsweise des Sufitums. Das ist nun deshalb so kompliziert, weil sie durch ihr äußerlich auffälliges Erscheinungsbild mit bei den Sufis üblichen Praktiken in Verbindung gebracht werden konnten.73 Ibn ʿAǧība bezieht in seinem Werk des Öfteren Stellung gegen solcherlei Übertreibungen, die mit der religiösen Lehre nicht in Einklang zu bringen seien.74 Die äußere Erscheinung der Darqāwīs ist zu dieser Zeit mitunter durchaus auffällig, da sie sich durch ihre Kleidung (muraqqaʿa) als solche zu erkennen geben, keine Kopfbedeckung und eine Gebetskette (sibḥa) um den Hals tragen und ihr Gottesgedenken auch laut praktizieren.75 Diese Verwechslung und das gesellschaftlich raue Klima sind es möglicherweise, die zur Folge haben, dass Ibn ʿAǧība und seine Anhänger nicht bei allen Menschen im Land beliebt sind. Auch einige Gelehrte und Würdenträger verschiedener Art werden zunehmend ärgerlich, aus verschiedenen Gründen.76 Schließlich kommt es zu dem Zwischenfall, der öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht: Der Bruder Ibn ʿAǧības, Muḥammad al-Hāšimī, wird aus einem fadenscheinigen Grund verhaftet. Dieser hatte während einer der Reisen, auf denen er seinen Bruder Aḥmad begleitete, von ihm den Sufi-Weg vermittelt bekommen77 und hielt sich nun wenig später in der 71
Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 74–89. Vimercati Sanseverino, Kapitel 2 „Sainteté chérifienne, ordes soufies et science inspiréee: la Wazzāniyya, la Nāṣiriyya et ʿAbd al-ʿAzīz al-Dabbāgh (11.–12./17.–18. Jhdt.)“, in Fès et sainteté. 73 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 80–90. 74 Beispielsweise FI, S. 353–87. 75 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 139–49, 172. 76 Der oben erwähnte Brief Ibn ʿAǧības zum Umgang mit den Nachkommen der ʿAbīd alBuḫārī könnte ebenfalls dazu beigetragen haben. Immerhin kritisiert er darin auch ausdrücklich die Gelehrten. 77 Vgl. Fahrasa, S. 51. 72 Vgl.
1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis
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Stadt Wazzān auf, wahrscheinlich im Bestreben, den Weg der Darqāwiyya dort kundzutun. Offensichtlich hatten dies nicht alle Bewohner der Stadt wohlwollend aufgenommen und er wird beschuldigt, er habe einer Frau unrechtmäßig den Sufi-Weg vermitteln wollen – unrechtmäßig deshalb, weil ihr Ehemann sich währenddessen nicht im Haus befunden hatte.78 Laut Ibn ʿAǧības Darstellung, die wohl der seines Bruders entspricht, ist diese Aussage falsch und birgt lediglich einen wahren Kern, der wiederum nicht verwerflich ist nach damaligen gesellschaftlichen Maßstäben. Er beschreibt, dass es tatsächlich zu dem Treffen gekommen sei, dass es sich jedoch um ein anderes Haus und eine Gruppe von Frauen gehandelt habe und sein Bruder al-Hāšimī die Frau des Klägers gar nicht persönlich kannte.79 Der Mann geht schließlich zur lokalen Autorität der Stadt Tétouan, dem Gouverneur (al-qāʾid) aṣ-Ṣrīdī80, der in Absprache mit einem Rechtsgelehrten namens al-Fallūs den Bruder Ibn ʿAǧības verhaften lässt. Als Ibn ʿAǧība hört, dass sein Bruder bei den Banī Anǧirā verhaftet worden ist, sucht er ihn umgehend auf. Als man ihm mitteilt, es liege lediglich gegen seinen Bruder etwas vor, entscheidet er sich, al-Hāšimī beizustehen und mit ihm ins Gefängnis zu gehen.81 Im Anschluss daran entsteht eine öffentliche Debatte, an der die Gelehrten und Angesehenen der Stadt Tétouan teilnehmen sowie einige Sufis, die aus anderen Städten als Beistand für die Brüder im Gefängnis in Tétouan extra angereist sind. Das Prozedere deutet stark darauf hin, dass die Anklage tatsächlich ein Vorwand oder ein willkommener Anlass für das Bestreben war, der Bewegung der Darqāwiyya zu schaden oder zumindest Ibn ʿAǧība Einhalt zu gebieten. Aus einem Konflikt mit den lokalen Behörden wird ein Konflikt zwischen den Gelehrten, die der Wandlung Ibn ʿAǧības beziehungsweise den Darqāwīs inhaltlich und praktisch nicht zustimmen.82 Von außerhalb zur Hilfe kommen der Sufi und Gelehrte Aḥmad al-Kūhin (gest. im 13./18. Jhdt.) sowie Muḥammad al-Makkūdī, die ebenfalls mit eingesperrt werden. Al‑Makkūdī berichtet, dass, als sie nach Tétouan kommen, sie von einer Menge von Leuten feindselig empfangen werden und die Gefangenen Darqāwīs misshandelt worden seien.83 Der Aufenthalt im Gefängnis selbst dauert nur drei Tage, die Ibn ʿAǧība als eher fröhlich beschreibt, da viele Anhänger kommen, um sie zu besuchen, bei ihnen zu bleiben oder einfach, um Essen zu bringen. Manche der Insassen begeben sich bei Ibn ʿAǧība sogar auf den Weg der 78 Vgl. at-Tuhāmī al-Wazzānī, „Miḥnat aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība“, in Aʿmāl nadwa aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 134. 79 Fahrasa, S. 59. 80 Vgl. zu seiner Person ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 2, S. 66–7. 81 Vgl. Fahrasa, S. 59. 82 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 50–63; ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 169–82. 83 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 171–73.
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1. Teil: Leben und Wirken
Sufis.84 Al‑Makkūdī und der Sohn al-Kūhins, ʿAbd al-Qādir (gest. 1253/1832), haben nach den Vorfällen ihre Sicht auf die Geschichte geschildert.85 Ein Brief des Meisters al-ʿArabī ad-Darqāwī ist überliefert, der, wie im Titel zu lesen ist, an „die Brüder, die in Tétouan eingesperrt wurden“86 gerichtet ist. Darin hält er sie u.a. zur Geduld an, die Prüfungen zu ertragen, gut zu den Menschen zu sein, sich im Herzen Gott anzuvertrauen und sich der Propheten zu erinnern, die Ähnliches durchlebten.87 Es kommt zur Verhandlung und der Gouverneur aṣ-Ṣrīdī beruft die Gelehrten, Noblen und Angesehenen der Stadt ein und zwingt die Sufis öffentlich, von ihrem Tun abzulassen. Da dies anscheinend nicht ausreicht, soll al-Kūhin vortreten, um sich vor dem Tribunal zu rechtfertigen. Daraufhin entbrennt eine Diskussion mit Muḥammad ibn Muḥammad al-Ǧanwī (gest. 1214/1800)88, der die Kleidung der Sufis (al-muraqqaʿa) als für nicht vereinbar mit der prophetischen Überlieferung befindet. Zudem wird Anstoß an der Praxis des lauten Gottesgedenkens der Sufis genommen.89 Der Vorwurf ist schlicht der einer schlechten Neuerung in der Religion (bidʿa sayyiʾa).90 Die Debatte erhitzt sich und al-Kūhin wird wieder eingesperrt. Die Brüder Ibn ʿAǧība und al-Hāšimī werden unter Androhung von Gewalt und unter den Bedingungen nach Hause entlassen, Ibn ʿAǧība solle sich seiner akademischen Lehrtätigkeit widmen und alle die Öffentlichkeit meiden, während ihre Zāwyā geschlossen wird. Schließ84
Fahrasa, S. 57. Für die Quellen dazu vgl. Ibn ʿAǧība, The Autobiography, S. 96; Michon, Le Soufi, S. 52. 86 Muḥammad at-Tamsamānī, Al‑Imām Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī, Šayḫ aṭ-ṭarīqa adDarqāwiyya aš-Šāḏiliyya. Tarǧamatuhū wa baʿḍ āṯārihī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007, S. 179. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ad-Darqāwīs Brief sich auf diese Episode bezieht. Ein anderer Anlass, auf den sich der Brief mit diesem Titel beziehen könnte, ist mir nicht bekannt. 87 Ebenda, S. 179–80. 88 Vgl. Dāwūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 195. 89 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 172. 90 Vgl. Fahrasa, S. 58; Michon, Le Soufi, S. 54; vgl. zu dieser Debatte auch Ǧalāl ad-dīn asSuyūṭī, Taʾyīd al-ḥaqīqa al-ʿaliyya wa tašyīd aṭ-ṭarīqa aš-Šāḏiliyya, Hg. ʿAbd Allāh al-Ġummārī, Ägypten: Al‑Maṭbaʿa al-Islāmiyya, 1934, S. 12–4. As‑Suyūṭī führt zur Rechtmäßigkeit dieser Praxis die bestehenden Belege aus der Tradition an und unterzieht die Hadithe dazu einer Kritik; dasselbe hat er für das laute Gottesgedenken (al-ǧahr bi-ḏ-ḏikr) der Sufis an anderer Stelle getan: Ǧalāl ad-dīn as-Suyūṭī, Al-ḥāwī li-l-fatāwā, 2 Bde., Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1983, Bd. 1, S. 389–94. Und siehe auch ʿAbd al-Ḥayy al-Kattānī, „Risāla fī mašrūʿiyyat aḏ-ḏikr bi r-raqṣ wa iǧmāʿ aṭ-ţuruq aṣ-Ṣūfiyya ʿalā ḏālik“, in ʿAbd al-Kabīr al-Kattānī, Nuǧūm al-muhtadīn, Hg. ʿAdnān Zuhār, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007; zudem diskutiert ʿAbd al-Kabīr al-Kattānī in Nuǧūm al-muhtadīn die Rechtmäßigkeit des Gedenkens der Sufis und des Ergriffenseins von der Liebe zu Gott. Gelehrte, die das laute Gedenken und das „sich dazu bewegen“ der Sufis nach dem Fiqh für rechtmäßig erachteten, waren laut al-Kattānī beispielsweise Imam al-Bulqīnī, as-Sulamī, as-Suyūṭī, Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Abū Madyan al-Ġawṯ, Muḥammad ibn Yūsuf asSanūsī, Imam at-Tuǧībī, al-Qāḍī ʿIyāḍ, Ibn Ḥaǧar al-Hayṯamī, ʿIzz ad-dīn Ibn ʿAbd as-Salām, Imam al-Ḥaramayn, al-Qušayrī, Ibn Zikrī, aš-Šāṭibī sowie Ibn ʿAǧība selbst, S. 131; die Stelle bei Ibn ʿAǧība ist wahrscheinlich diese: FI, S. 207. 85
1.3 Die gesellschaftlichen Umstände, Verbreitung des Sufi-Wegs und Gefängnis
35
lich wird auch al-Kūhin entlassen, alle kehren in ihre Häuser zurück und die Lage beruhigt sich zunächst.91 Was auch immer der tatsächliche Auslöser gewesen sein mag, die Situation wird von Seiten der Regierung und einiger Gelehrter ausgenutzt, um Ibn ʿAǧība und seinen Fürsprechern zu schaden. Die Aktivitäten Ibn ʿAǧības, der als populärer Vertreter der Šāḏiliyya nach der Lehre des al-ʿArabī ad-Darqāwī auftritt, muss manchen Gelehrten und manchen Personen in der Regierung ein Dorn im Auge gewesen sein. Er war als Schüler der Gelehrten von Fès ein Vorbild gewesen, nun aber aus der Gunst mancher in der herrschenden Kaste umso tiefer gefallen. Die Debatte zwischen al-Kūhin und dem jungen al-Ǧanwī, die sich um die rechte Auslegung der Religion dreht, offenbart dies. Dabei stehen sich einige einflussreiche Vertreter der Gelehrsamkeit gegenüber. Es ist gewissermaßen der Streit zwischen theoretischer Gelehrsamkeit und praktischer Auslegung der Sufis.92 Zu dem Konflikt bleibt zu erwähnen, dass die Linien der Fürsprecher und Gegner Ibn ʿAǧības nicht eindeutig festzustellen sind. Während sich in Tétouan Mitglieder der Elite, Gelehrte und Beamte mit einigen Personen aus Wazzān gegen Ibn ʿAǧība verbündet zu haben scheinen, wird er von Stimmen aus Fès verteidigt. Gegen ihn argumentiert beispielsweise der Gelehrte ʿAbd al-Ǧalīl alBaqqāl (gest. 1219/1804), der besonders gegen al-Kūhin eingenommen ist und diesen etwa auffordert von seiner Interpretation des Sufitums abzuschwören, um von Schlägen und weiterem Drangsal verschont zu bleiben.93 Der Gelehrte Sulaymān al-Ḥawwāt (gest. 1231/1815) auf der anderen Seite – er gehörte der Sufi-Bewegung (ṭarīqa) der Nāṣiriyya an94 und war der Biograph Ibn Sūdas, des Lehrers Ibn ʿAǧības – kritisiert das Vorgehen der Obrigkeit gegenüber den Darqāwīs in Tétouan auf das Schärfste.95 Im Jahre 1210/1795 baut Ibn ʿAǧība ein Haus bei den Banī Saʿīd und es dauert nicht lange bis er fortfährt, die Leute auf den Weg der Sufis einzuladen. Seine Reisen durch das Land enden erst im Jahre 1213/1798.96 Zu dieser Zeit rät Scheich al-ʿArabī ad-Darqāwī seinen Leuten, besser aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Ibn ʿAǧība gelingt es jedoch nicht, seine Familie aus Tétouan herauszubewegen und an das Landleben zu gewöhnen. Als dann die Pest im Jahre 1214/1799 seine Kinder dahinrafft, veranlasst dies ihn und die seinen, nun doch aufs Land zu ziehen und er verlässt Tétouan endgültig. Hat er sich in den Jahren zuvor abwechselnd in Tétouan und auf dem Land bei den Banī Saʿīd aufgehalten, zieht er schließlich aufs Land und baut im Jahre 1799–1800 ein weiteres Haus bei den Banī Anǧirā (az-Zammīǧ).97 91
Vgl. Fahrasa, S. 57; Michon, Le Soufi, S. 51–63. Vgl. Michon, Le Soufi, S. 57–63; ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 175–9. 93 Vgl. Dāwūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 210; Michon, Le Soufi, S. 54. 94 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 82, 179. 95 Vgl. Ibn ʿAǧība, The Autobiography, S. 98. 96 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 90. 97 Vgl. ebenda; Fahrasa, S. 56. 92
36
1. Teil: Leben und Wirken
Die Periode nach dem Zwischenfall in Wazzān und dem Gefängnisaufenthalt in Tétouan ist zwar durch die Pest geprägt, die Repression von offizieller Seite endet jedoch nicht. Durch eine Beschwerde beim Präfekten von Tanger wird er mit seiner Familie aus dem Haus gejagt. Selbst als sie ein neues Haus gebaut haben, geht eine zweite Beschwerde ein, die zur Folge hat, dass sie abermals verjagt und das Haus mit samt des Gartens abgebrannt und die Wertsachen entwendet werden. Doch nicht nur Ibn ʿAǧība leidet unter den Kräften in der Verwaltung, denen die Aktivitäten Ibn ʿAǧības missfallen. Viele seiner Anhänger werden vertrieben und müssen flüchten. Als jedoch der Präfekt von Tanger wechselt, widerfährt ihnen Gerechtigkeit und sie können allesamt zurückkehren und erhalten ihren Besitz zurück.98 Wann die Verfolgung durch die Obrigkeit aufhört, ist nicht abschließend geklärt; wahrscheinlich sind die beiden Vertreibungen aus den Häusern identisch mit den beiden Umzügen. Trotz alledem ist das Ende seines Lebens noch immer von großer Schaffenskraft als Sufi und Theologe geprägt, wie in der Tabelle im folgenden Kapitel zu sehen sein wird. Am 15. November 1809, dem 7. Šawwāl 1224, verstirbt der Sufi und Gelehrte Aḥmad Ibn ʿAǧība bei Ġumāra.99 Ibn ʿAǧība war mehrfach verheiratet und bekam, wie er in einem Nachtrag der Autobiographie schreibt, mit verschiedenen Frauen 31 Kinder, von denen jedoch nur neun in seinem letzten Lebensjahr am Leben sind.100 Sein Grabmal befindet sich bei Tanger/Zimmīǧ.101
1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung) Das von Ibn ʿAǧība hinterlassene Werk ist beträchtlichen Umfangs und beläuft sich auf geschätzte 5.000 handschriftlich verfasste Seiten. Das Werk, das nach seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum entsteht, bildet mit ca. 3.500 Seiten den weitaus größeren Teil seines Vermächtnisses.102 Allgemein gilt, dass Ibn ʿAǧība in der zweiten Hälfte seines Werkes fast ausschließlich Schriften zum Thema beziehungsweise im Fach Sufitum verfasst. In seiner Zeit davor, als Student und Gelehrter, lässt sich eine Tendenz in Richtung Sufitum erkennen, wobei die Werke aus dieser Zeit allgemein recht ausgewogen in ihrer Themenwahl erscheinen. Es ist Michon und ʿAzzūzī zu verdanken, dass eine Datierung der meisten Werke vorliegt sowie eine allgemeine Bestandsauf98
Vgl. Fahrasa, S. 56–7; Michon, Le Soufi, S. 90–1. Dāwūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 254–5; ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 240; Ay, Ahmed b. Acîbe, S. 29. 100 Vgl. ar-Rahūnī, ʿUmdat ar-rāwīn fī tārīḫ Tiṭṭāwīn, Bd. 5, S. 229–30 und S. 245–50, dort sind die Kinder namentlich aufgelistet. 101 Vgl. Ay, Ahmed b. Acîbe, S. 489. 102 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 90–1. 99 Vgl.
1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung)
37
nahme der Manuskripte. Die Liste hat sich seit ihrer ersten Erstellung im Jahre 1990 (Michon) weiter vervollständigt und um einige Stellen erweitert, während manche Stellen wieder gestrichen werden mussten, da es sich um eine falsche Zuschreibung handelte, was Michon teilweise selbst noch korrigiert hat.103 Eine Anzahl von 31 der derzeit ersichtlich authentischen 50 Werke liegen nun in Druckform vor, wobei die noch nicht edierten meist kleinere Werke darstellen, von denen ein paar von Ibn ʿAǧība nicht fertig gestellt wurden. Die noch nicht gedruckten Werke stammen zudem überwiegend aus der ersten Phase Ibn ʿAǧības Lebens und die vorliegende Literatur liefert durchaus eine repräsentative Fülle, um seine Theologie zu überblicken. Von noch nicht edierten Werken liegen in den meisten Fällen Kopien der Manuskripte in mehreren Bibliotheken vor.104 Die Kopie eines Werkes aus der frühen Phase, das bei Michon und ʿAzzūzī nur genannt wird – Risāla fī l-ʿaqāʾid wa ṣ-ṣalāh (Nr. 4 in der Liste) – aber nicht in Bibliotheken in Marokko aufgefunden wurde, konnte in der Ägyptischen Nationalbibliothek erstanden werden.105 Vier Werke, eins davon ein Manuskript, konnten zeitlich nicht genau zugeordnet werden und finden sich am Ende der Liste (Nr. 47–50).106
103
Ebenda, S. 273–92. die Angaben der Standorte der Manuskripte vgl. Michon, Le Soufi, S. 273–92; vgl. die Vorbemerkungen von al-Kayyālī in Aḥmad Ibn ʿAǧība, Tafsīr al-Fātiḥa al-kabīr, Hg. ʿAṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006, S. 9–14; vgl. insbesondere ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 297–399; einige Manuskripte aus den Bibliotheken Alexandria und Kairo, die noch nicht oder selten in der akademischen Literatur auftauchen, liegen mir vor; sie sind in Appendix 2 aufgeführt. Diese sind in der Liste mit Fußnote gekennzeichnet. 105 Siehe dazu genauer Appendix 2. Der Hinweis, dass das Werk dort liegt, ist dem Herausgeber des Tafsīr al-Fātiḥa al-kabīr (TF), ʿAṣim al-Kayyālī, zu verdanken, vgl. TF, S. 10. 106 Die edierten Manuskripte stammen aus privatem Besitz und mindestens die von ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība verlegten Werke sind höchstwahrscheinlich authentisch. 104 Für
1199
4. Risāla fī lʿaqāʾid wa ṣ-ṣalāh
Manuskript112
Manuskript111
Edition110
Manuskript109
Edition/ Manuskript108
Abhandlung zur Glaubenslehre und dem Gebet
Abhandlung zur Verurteilung der üblen Nachrede und dem Vorzug der Abgeschiedenheit
Theoretisches Sufitum. Kommentar zu einer Litanei
Abhandlung zur rechten Absicht während den verschiedenen Handlungen
Beschreibung
1190–1208 n. H. unterrichtet er in Tétouan.
Bis 1200 n. H. ist er in Tétouan Student.
Lebensabschnitt
der folgenden Tabelle wurde das Verzeichnis Michons als Grundlage verwendet und dem Zweck der Studie angepasst: Michon, Le Soufi, S. 90–1; vgl. auch ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 297–399; Fahrasa, S. 38–9; Ay, Ahmed b. Acîbe, S. 37–53; Dawūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 218–42. 108 Manuskript ohne Fußnote bedeutet, der Ort des Manuskripts ist in den Werken zu finden, die in den vorigen Fußnoten genannt wurden: Michon, Le Soufi; ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība; etc. 109 Manuskript aus der Bibliothek Alexandria, vgl. Appendix 2. 110 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Al-lawāqiḥ al-qudsiyya fī šarḥ al-waẓīfa az-Zarrūqiyya“, in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007 (im Folgenden mit LQ abgekürzt). 111 Manuskript aus der Bibliothek Alexandria, vgl. Appendix 2. 112 Manuskript aus der Ägyptischen Nationalbibliothek, vgl. Appendix 2.
107 In
1784
1198
3. Taqyīd fī ḏamm al-ġība wa madḥ al-ʿuzla wa ṣ-ṣamt 1785
1782
1196–08 1782
1. Tashīl al-madḫal li-tanmiyat al-aʿmāl bi-n-niyya aṣ-ṣāliḥa
2. Šarḥ al-waẓīfa az-Zarrūqiyya 1196
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
Chronologische Auflistung der Werke Ibn ʿAǧības107
38 1. Teil: Leben und Wirken
1788–89 Edition114
1203
1203
1205
1206
-
7. Al-anwār as-saniyya fī qaṣīdat al-Hamaziyya li-lBuṣayrī
8. Šarḥ al-burda
9. Al-anwar as-saniyya fī l-aḏkār an-nabawiyya
10. Šarḥ tāʾiyyat al-Ǧaʿīdī
11. Šarḥ asmāʾ Allāh al-ḥusnā
-
1792
1791
(Edition)
Manuskript
Manuskript116
1788–89 Edition115
Manuskript113
Kommentar zu den schönen Namen Gottes. Dazu sind keine Angaben auffindbar. Wahrscheinlich in langen Kommentar zu Al‑Fātiḥa aufgenommen.
Gedichtkommentar
Sammlung von Bittgebeten für verschiedene Anlässe
Gedichtkommentar. Theoretisches Sufitum. Prophetenlob
Gedichtkommentar. Prophetenlob
Gedichtkommentar. Theologie
Theoretisches Sufitum. Ein Kommentar, der auf Sprache und Benehmen eingeht.
Beschreibung
In diesen Jahren zieht er sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück (um 1207 wahrscheinlich).
Nach dem Tod seines Lehrers in theoretischem Sufitum (1200 n. H.) wechselt er nach Fès, wo er kurz darauf seine Lehrerlaubnis erhält.
Lebensabschnitt
114 Aḥmad
Manuskript aus der Bibliothek Alexandria, vgl. Appendix 2. Ibn ʿAǧība, Al-anwār al-qudsiyya fī qaṣīdat al-hamaziyya li-l-Buṣayrī, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2010. 115 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-ʿumda fī šarḥ al-burda, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2011. 116 Manuskript aus der Bibliothek Alexandria, vgl. Appendix 2.
113
1787
1201
6. Šarḥ al-munfariǧa li-Ibn an-Naḥwī
1785–86 Manuskript
1200
5. Šarḥ al-ḥizb al-kabīr li-šŠāḏilī
Edition/ Manuskript108
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung)
39
1208–18 1793– 1803
1208–18 1793– 1803
15. Ḥāšiya ʿalā muḫtaṣar Ḫalīl
16. Šarḥ al-ḥiṣn al-ḥaṣīn min kalām sayyid al-mursalīn 1793
Manuskript
Manuskript
Zum prophetischen Benehmen. Nach eigener Aussage nicht fertiggestellt.
Malikitisches Fiqh. Nach eigener Aussage nicht fertiggestellt.121
Koranwissenschaft. Behandelt zehn Lesarten des Korans.
Geschichtswissenschaft, Biographiensammlung. Mālikitische Tradition, die Grammatiker und die Hadithgelehrten. Den Teil über die Sufis konnte er laut eigener Aussage nicht fertigstellen.119
Theologie, Hadith-Sammlung zu verschiedenen Themen: Fiqh und Sufitum
Beschreibung
Trifft auf seinen Meister al-Būzīdī und dessen Meister ad-Darqāwī.
Lebensabschnitt
118
Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 323–4. Aḥmad Ibn ʿAǧība, Azhār al-bustan fī ṭabaqāt al-aʿyān, Hg. Iʿtimād al-Ḫarrāz, Universität Tétouan ʿAbd al-Malik as-Saʿdī, 2005 (vergriffen, war mir nicht zugänglich). 119 Fahrasa, S. 38. Und vgl. Dawūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 255. 120 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Ad-durar al-mutanāṯira fī tawǧīh al-qirāʾāt al-mutawātira, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2013. 121 Fahrasa, S. 37.
117
Edition120
1208–18 1793– 1803
14. Ad-durar al-mutanāṯira fī tawǧīh al-qirāʾāt almutawātira
1208
Edition118
1208–18 1793– 1803
Manuskript117
13. Azhār al-bustan fī ṭabaqāt al-aʿyān
-
-
12. Arbaʿūn ḥadīṯan fī l-uṣūl wa l-furūʿ wa d-daqāʾiq
Edition/ Manuskript108
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
40 1. Teil: Leben und Wirken
1210
1210
20. Šarḥ al-Fātiḥa (lang)
21. Šarḥ al-abyāt aṯ-ṯalāṯa li-Abī l-Qāsim al-Ǧunayd
1795–6
1796
1796 Edition126
Edition125
Manuskript
Edition124
Edition122
Edition/ Manuskript108
Sufitum. Gedichtkommentar
Koranexegese, uṣūl at-tafsīr, Sufitum
Koranexegese, Sufitum
Sufitum. Kommentar zu einem Gebet des ʿAbd as-Salām Ibn Mašīš
Sufitum, Hagiographische Darstellung von sieben frühen Asketen
Beschreibung
Baut ein Haus bei den Banī Saʿīd.
Wanderjahre beginnen (1209–1213). Gefängnis in Tétouan123
Lebensabschnitt
122 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Nubḏa ʿan manāqib az-zuhhād as-sabʿa“, in Al-ǧawāhīr al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007. Dieses Werk taucht in den mir vorliegenden Versionen der Autobiographie Ibn ʿAǧības nicht auf. Laut der Ausgabe von ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī ist im Manuskript das Datum der Fertigstellung 1209/1794; Michon gibt für die Erstellung des Werks das Jahr 1196/1782 an (Michon, Le Soufi, S. 292), sowie auch einen etwas anderen Titel. Dort sind es nicht sieben, sondern acht Personen (nicht az-zuhhād as-sabʿa, sondern az-zuhhād aṯ-ṯamāniya). 123 Vgl. Dawūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 251. 124 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ ṣalāt al-quṭb Ibn Mašīš“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (im Folgenden abgekürzt mit SSIM); Übersetzung ins Englische von Michael Abdurrahman Fitzgerald, in Two Sufi Commentaries by Aḥmad Ibn ʿAjība, Hg. Michael A. Fitzgerald und Arjan Post, Louisville KY: Fons Vitae, 2015. 125 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Tafsīr al-Fātiḥa al-kabīr, Hg. ʿAṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006, (TF). 126 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ al-abyāt aṯ-ṯalāṯa li-Abī l-Qāsim al-Ǧunayd“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya alǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (im Folgenden abgekürzt mit SATH).
1210
19. Šarḥ al-Fātiḥa (kurz)
1796
1794
1209
1210
1794
1209
17. Nubḏa ʿan manāqib azzuhhād as-sabʿa
18. Šarḥ ṣalāt al-quṭb Ibn Mašīš
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung)
41
1211
1211
1213
1213
1214
1214
1214
22. Īqāẓ al-himam fī šarḥ alḥikam
23. Šarḥ al-mabāḥiṯ al-aṣliyya (Tuǧībī)
24. Šarḥ Qaṣīda (Rifāʿī)
25. Šarḥ al-ḫamriyya (Ibn alFāriḍ)
26. Šarḥ Muqaṭṭaʿāt (Šuštarī)
27. Šarḥ Qaṣīda fī s-sulūk (Būzīdī)
28. Kitāb fī l-qaḍāʾ wa l-qadar
Edition133
Edition132
Edition131
Edition130
Edition129
Edition128
Edition127
Edition/ Manuskript108
Sufitum, Kalam. Zu Schicksal und Bestimmung
Sufitum. Gedichtkommentar zum Weg der Sufis (Rāʾiyya)
Sufitum. Gedichtkommentar
Sufitum. Gedichtkommentar
Sufitum. Gedichtkommentar (Hāʾiyya)
Sufitum. Gedichtkommentar
Sufitum. Kommentar zu den Weisheiten des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī
Beschreibung
Pest und Weggang von Tétouan
Wanderjahre, Einladung zum Weg der Sufis, enden 1213.
Lebensabschnitt
127 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Īqāẓ al-himam fī šarḥ al-ḥikam, Hg. Muḥammad Aḥmad Ḥasab Allāh, Kairo: Dār al-Maʿārif, 1983 (IH); für dasselbe vgl. Aḥmad Ibn ʿAǧība, Ibʿād al-ġumam ʿan īqāẓ al-himam fī šarḥ al-ḥikam, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2009. 128 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-futūḥāt al-ilāhiyya fī šarḥ al-mabāḥiṯ al-aṣliyya, Hg. Ṭāhā Saʿd, Kairo: Al‑Maktaba al-Azhariyya li-t-Turāṯ, 2013 (FI). 129 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ qaṣīdat yā man taʿāẓama li-l-Imām ar-Rifāʿī“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya alǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006. 130 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ ḫamriyyat Ibn al-Fāriḍ“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (im Folgenden abgekürzt mit SHIF). 131 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ baʿḍ muqtaṭafāt ʿAlī aš-Šuštarī“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (SBMS). 132 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ rāʾiyyat al-Būzūdī“, in Šarḥ rāʾiyyat wa šarḥ tāʾiyyat Sayyidī Muḥammad al-Būzīdī, Hg. Muḥammad al-Mahdī at-Tamsamānī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2017; Übersetzung ins Englische von Arjan Post, in Two Sufi Commentaries by Aḥmad Ibn ʿAjība, Hg. Michael A. Fitzgerald und Arjan Post, Louisville KY: Fons Vitae, 2015. 133 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya
1800
1800
1799
1799
1298
1796
1796
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
42 1. Teil: Leben und Wirken
1216
1216–21 1801–06 Edition139
1219
1219
32. Tafsīr al-Qurʾān
33. Šarḥ al-Fātiḥa (sehr kurz)
34. Šarḥ Nūniyya (Šuštarī)
Edition140
Manuskript
Edition138
Sufitum. Gedichtkommentar
Koranexegese
Koranexegese, Sufitum
Sufitum. Kommentar zu einem Gebet
Lässt sich in Zammīǧ nieder.
fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (im Folgenden abgekürzt mit SD). 134 Nach anderen Angaben wurde diese Ahandlung 1219/1804 verfasst, vgl. in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007, S. 182. 135 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Two Treatises on the Oneness of Existence, Hg. Jean-Louis Michon, Cambridge: Archetype, 2010 (TW). 136 Nach anderen Angaben wurde diese Abhandlung 1219/1804 verfasst, vgl. in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 182. 137 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Two Treatises on the Oneness of Existence (TW). 138 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ taṣliat Ibn ʿArabī“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (im Folgenden abgekürzt mit STIA). 139 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-baḥr al-madīd fī tafsīr al-Qurʾān al-maǧīd, 8 Bde., Hg. Waḥīd Quṭb, Kairo: Al‑Maktaba at-Tawfīqiyya, o.J. (BM); Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-baḥr al-madīd fī tafsīr al-Qurʾān al-maǧīd, 5 Bde., Hg. Aḥmad al-Qurašī Raslān, Kairo: Maṭābiʿ al-Hayʾa al-Miṣriyya al-ʿĀmma li-l-Kitāb, 2000. 140 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Sarḥ nūniyyat aš-Šuštarī“, in Al-laṭāʾif al-īmāniyya al-malakūtiyya wa l-ḥaqāʾiq al-iḥsāniyya al-ǧabarūtiyya fī rasāʾil al-ʿārif bi-Llāh aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006 (SNS).
1805
1804
1801
Sufitum. Über die göttlichen Manifestationen
Edition137
31. Šarḥ taṣliyyat Ibn ʿArabī
1801136
1216
Sufitum. Über die göttlichen Manifestationen
Edition135
30. Fī ṭ-ṭalāsim
1801134
1216
1801
Heirat bei den Banī Saʿīd
Lebensabschnitt
1215
Beschreibung Baut ein Haus in Zammīǧ (Banī Anǧrā).
Edition/ Manuskript108
1214–15 1800–01
n. Hiǧra n. Chr.
29. Fī l-ḫamra al-azaliyya
Werk
1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung)
43
1222
1222
41. Bayān mutašābih al-Qurʾān
42. Maǧmūʿ al-adʿiya wa l-aḏkār
1807
1807
1807
1807
1807
1806
1806
Manuskript
Manuskript
Edition145
?144
Edition143
Manuskript
Edition142
Edition141
Edition/ Manuskript108
Sammlung von Bittgebeten/Gebeten
Sufitum. Kommentar zu den Anfangsbuchstaben der Suren und deren Interpretation
Briefe
Sufitum. Gedichtkommentar
Autobiographie
Sufitum. Gedichtkommentar (Tāʾiyya) (Nr. 2)
Sufitum. Gedichtkommentar (Tāʾiyya) (Nr. 1)
Sufitum. Zu den Fachbegriffen der Sufis
Beschreibung
Am 14. Ṣafar 1222/23. April 1807 stirbt seine Mutter.
Lebensabschnitt
142 Aḥmad
Aḥmad Ibn ʿAǧība, The Book of Ascension to the Essential Truths of Sufism (Englisch und Arabisch), Louisville KY: Fons Vitae, 2011 (MT). Ibn ʿAǧība, Šarḥ tāʾiyyat al-Būzīdī fī l-ḫamra al-azaliyya, Hg. Aṯ-Ṯābit Benslīmān ʿAbd al-Bārī, Casablanca: Dār ar-Rašād al-Ḥadīṯa, 1998 (im Folgenden abgekürzt mit STB). 143 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Fahrasat al-ʿālim ar-rabbānī Sayyidī Aḥmad Ibn Muḥammad Ibn ʿAǧība al-Ḥasanī, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2013 (Fahrasa). 144 Bisher keine Spur von diesem Kommentar. Möglicherweise ist die Information, ein solcher Kommentar existiere, fälschlicherweise in einer Liste zu Ibn ʿAǧības Werken aufgetaucht; vgl. Michon, Le Soufi, S. 91, 283. 145 Enthalten und von ihm selbst angefügt in Fahrasa, S. 141–46. Es existieren noch mehr Briefe, die aber bisher nicht aufgetaucht sind: Ibn ʿAǧība schreibt am Ende des Fahrasa, er habe noch einige andere Briefe an Anhänger und andere Gelehrte verfasst, aber keine Kopie von diesen behalten. Einige Briefe sind in Geschichtswerken erhalten; beispielsweise Dawūd, Tārīḫ Taṭuwān, Bd. 6, S. 244–5; vgl. auch Michon, Le Soufi, S. 287.
141
1222
1222
38. Fahrasa
1222
1221
37. Šarḥ Tāʾiyya fī l-ḫamra (Būzīdī)
39. Šarḥ ʿAyniyya (al-Ǧīlī)
1221
36. Šarḥ Tāʾiyya fī l-ḫamra (Būzīdī)
40. Rasāʾil
1220
35. Miʿrāǧ at-tašawwuf ilā ḥaqāʾiq at-taṣawwuf
1806
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
44 1. Teil: Leben und Wirken
–
1223
1224
1224
–
–
44. Šarḥ Āǧurrūmiyya
45. Ḥāšiya ʿalā al-Ǧāmiʿ aṣ-ṣaġīr (Suyūṭī)
46. Dīwān
47. Mūqiḏ an-nayāʾim li-iġtinām al-ġanāʾim
48. Šaǧarat al-yaqīn fīmā yataʿallaq bi-kawn Rabb al-ʿālamīn
1809
1809
1808
Edition149
Manuskript
Edition
Edition147
Edition146
Edition/ Manuskript108
Sufitum. Nicht in Fahrasa aufgeführt
Sufitum. Nicht in Fahrasa aufgeführt148
Gedichtsammlung Ibn ʿAǧības, enthalten im Fahrasa, Nachtrag
Hadithwissenschaft
Grammatik, Sufitum. Kommentar zu einem Lehrstück (arabische Sprache), grammatisch und sufisch
Gebete für die Sufi-Praxis
Beschreibung
Stirbt am 7. Šawwāl 1224/15. Nov. 1809 in Ġmāra.
Ṣafar/April 1224/1809 wird sein Sohn ʿAbd al-Qādir geboren.
Lebensabschnitt
147
Enthalten in Fahrasa, S. 147–54. Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šarḥ al-futūḥāt al-quddūsiyya fī šarḥ al-muqaddima al-Āǧurrūmiyya“, in Kitāb šarḥ ṣalāt al-quṭb Ibn Mašīš. Silsila nūrāniyya farīda, Hg. ʿAbd as-Salām al-ʿImrānī al-Ḫālidī, Casablanca: Dār ar-Rašād al-Ḥadīṯa, 1999 (im Folgenden abgekürzt mit FQ). 148 Vgl. den Eintrag Michons dazu, Le Soufi, S. 292. 149 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Šaǧarat al-yaqīn fīmā yataʿallaq bi-kawn Rabb al-ʿālamīn“, in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 183–243.
146
–
1222
43. Aḥzāb
1807
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
1.4 Lebensweg und Werke (+ Tabellarische Darstellung)
45
Edition150
–
–
–
–
49. Manāzil as-sāʾirīn wa l-wāṣilīn wa asrār ʿilm alḥaqīqa
50. Faḍāʾil nūr sayyid almursalīn wa ḏikr aṭwārihī fī l-kawnayn Sufitum. Nicht in Fahrasa aufgeführt
Sufitum. Nicht in Fahrasa aufgeführt. Entweder nach dem Fahrasa verfasst. Oder in Šarḥ al-Fātiḥa (lang) aufgenommen (Nr. 20 in dieser Liste). Oder diesem entnommen.
Beschreibung
Lebensabschnitt
150 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Manāzil as-sāʾirīn wa l-wāṣilīn wa asrār ʿilm al-ḥaqīqa wa dawāʾir al-ḥaḍra wa aṣnāf al-awliyāʾ al-barara“, in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 244–270 (im Folgenden abgekürzt mit MSW). 151 Aḥmad Ibn ʿAǧība, „Faḍāʾil nūr sayyid al-mursalīn wa ḏikr aṭwārihī fī l-kawnayn“, in Al-ǧawāhir al-ʿAǧībiyya min taʾālīf Sayyidī Aḥmad Ibn ʿAǧība, S. 271–2.
Edition151
Edition/ Manuskript108
n. Hiǧra n. Chr.
Werk
46 1. Teil: Leben und Wirken
2. Teil
Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības In diesem Teil wird der Religionsbegriff Ibn ʿAǧības im Allgemeinen in drei Schritten analysiert. Im ersten Schritt wird das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān behandelt. Im zweiten Schritt wird der Ursprung der Religion beziehungsweise werden ihre Ziele erörtert, um den theologisch-theoretischen Rahmen darzustellen, den Ibn ʿAǧība entwirft. Im dritten Schritt wird auf die Entwicklungen der Tradition Ibn ʿAǧības, der Šāḏiliyya, eingegangen und auf den damit verbundenen Rahmen des Glaubens, das heißt, inwiefern die Lehre der Sufis weiterentwickelt wurde und welche Veränderungen vorgenommen wurden. Ziel in diesem Teil ist es, eine Basis für den Religionsbegriff bei Ibn ʿAǧība zu schaffen.
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān In der späten Phase der Islamischen Theologie (ca. 8./14.–12./18. Jhdt.) hat sich das Stufengebilde aus dem Gabriel-Hadith mit seinen drei Dimensionen islām, īmān und iḥsān in der Lehre länderübergreifend durchgesetzt. Das „Gabrielian Paradigm“1 wie Aaron Spevack es nennt, war deswegen erfolgreich, weil es eine Harmonie für die verschiedenen Ebenen der religiösen Lehre schafft – Fiqh, Kalam und Sufitum. In früheren Jahrhunderten (vor dem 8./14. Jhdt.), führt er aus, war der Graben zwischen der Schule, die den Kalam als theologisches Erklärungsmodell vorzog und der Schule der Sufis noch größer. Das Muster des Gabriel-Hadith bietet nun durch die synonym zu den im Hadith verwendeten Begriffe „Fiqh, Kalam, Sufitum“ einen Lösungsansatz, der 1. (islām) die Scharia als gemeinsame Basis unterlegt, 2. (īmān) in der Glaubenslehre dem Verstand eine Rolle zukommen lässt und 3. (iḥsān) das Sufitum zu der Lehre erklärt, durch die sich Gott genähert werden kann.2 So war dann beispielsweise im 16. Jahrhundert ein nordafrikanischer Gelehrter üblicherweise Mālikī in der Rechtsund Ritusschule, Ašʿarī in der Glaubenslehre und Šāḏilī als Sufi, während ein osmanischer Gelehrter aus dem Osten eher Ḥanafī, Māturīdī und Naqšbandī war.3 1 Spevack,
The Archetypal Sunnī Scholar, S. 38. Vgl. ebenda, S. 35–51. 3 Vgl. ebenda, S. 49. 2
48
2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Mit dem 16./17. Jahrhundert etwa beginnen viele Gelehrte, führt El-Rouayheb an, die Anstrengung zu unternehmen, die Lehren von Sufis wie Ibn ʿArabī mit der Glaubenslehre abzugleichen, zu harmonisieren oder neu auszuhandeln, wie es bei ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī (gest. 973/1565) und auf andere Weise bei ʿAbd al-Ġanī an-Nābulusī (gest. 1143/1731) der Fall ist.4 Dass die Schulen der Sufis und der Muttakallimun aneinandergeraten, ist schon früher der Fall gewesen, aber etwa im 12. Jahrhundert beginnt der Aufstieg einer akademischen Lesart der Schule der Sufis, die bald zu der Dreier-Konstellation von Sufis, Muttakallimun und Philosophen im Diskurs führt, die in vielen Werken behandelt wird.5 Auch bei Ibn ʿAǧība lässt sich diese Diskussion erkennen, wie sich im Verlauf der Studie zeigen wird. Das Gabriel-Hadith vermittelt ein umfassendes, vereinendes Religionsverständnis, das dem Menschen auf einer sehr basalen Ebene entspricht. Murata und Chittick entwerfen dafür das Bild des agierenden Menschen. Die erste Dimension, die jeder Mensch anerkennt, sei die der physisch greifbaren Körper und Formen. Der aktive Mensch nun, wenn er eine Unternehmung angehe, bedürfe es, zu begreifen, wie die Planung dafür in Absprache mit seinen Mitmenschen aussehe. Das beschreibe die zweite Dimension, die des intersubjektiven Lernens und des Begreifens theologischer Gegenstände. Die dritte Dimension komme zum Tragen, wenn nach der Intention der Handlung gefragt werde, wenn das Herz involviert sei.6 Ibn ʿAǧība lässt sich in diese angeführten Darstellungen einreihen; er war nach seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum selbst Faqīh, Uṣūlī und Sufi. Um sich diesem Komplex zu nähern, wird zunächst in einem ersten Schritt das Gabriel-Hadith allgemein behandelt und erörtert, welche verschiedenen Perspektiven Ibn ʿAǧība dafür eröffnet. Danach erfolgt eine speziellere Betrachtung der einzelnen Stufen, zunächst der ersten beiden, die die Basis (islām) und den Weg oder Glauben (īmān) beschreiben, und anschließend die dritte Stufe der Vervollkommnung (iḥsān), das Ziel des Glaubens.
4 El-Rouayheb,
Islamic Intellectual History, Teil III, S. 235–346. Vgl. dazu Ayman Shihadeh, „The Mystic and the Sceptic in Fakhr al-Dīn al-Rāzī“, in Sufism and Theology, Hg. Ayman Shihadeh, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007, S. 101–22; Murata, Chinese Gleams, S. 113–21; vgl. ʿAbd al-Ġanī an-Nābulusī, Al-wuǧūd al-Ḥaqq wa l-ḫiṭāb aṣ-ṣidq, Hg. Bakri Aladdin, Damaskus: Insitut de Francais de Damas, 1995; ʿAbd ar-Raḥmān al-Ǧāmī und Nicholas L. Heer, The Precious Pearl. Al-Jāmī’s al-Durrah al-Fākhirah. With a Commentary of ʿAbd al-Ghafūr al-Lārī. Translated with an Introduction by Nicholas L. Heer, Albany NY: SUNY Press, 1979; das arabische Original ʿAbd ar-Raḥmān al-Ǧāmī, Ad-durra al-fāḫria fī taḥqīq maḏhab aṣ-Ṣūfiyya wa l-Mutakallimīn wa l-Ḥukamāʾ al-mutaqaddimīn biinḍimām ḥawāšī-i muʾallif wa šarḥ ʿAbd al-Ġafūr Lārī wa ḥikmat ʿamāwiyya, Hg. Nicholas Heer und ʿAlī Mūsawī Bahbahānī, Teheran: Muʾassat Muṭālaʿāt Islāmī, University of Teheran/McGill University, 1962. 6 Murata und Chittick, The Vision of Islam, S. xxxii–xxxiv. 5
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
49
2.1.1 Das Gabriel-Hadith und dessen Interpretationen Das Stufengebilde des Gabriel-Hadith ist ein in der Lehre Ibn ʿAǧības tief verankertes Prinzip. Es taucht regelmäßig und überaus oft in seinem Werk auf. Und die Interpretation des Gabriel-Hadith ist gleichzeitig von besonderer Stellung in der Tradition der Šāḏiliyya. Es wird zur Hand genommen, um den Religionsbegriff, die Theologie aus der Perspektive der Sufis darzulegen;7 zumeist an wichtigen Stellen, wenn die Struktur der Lehre oder die Religion allgemein diskutiert wird. Darauf wird genauer im Kapitel zu den Grundlagen des Sufitums eingegangen (3.1.1). Im vorliegenden Kapitel wird zunächst das Gabriel-Hadith erörtert sowie die Interpretationen dieses Hadith. Das Stufengebilde, in die Ebenen islām, īmān und iḥsān unterteilt, wird aus dem Gabriel-Hadith abgeleitet. Es lautet: „ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb sagte: Eines Tages, als wir uns bei dem Gesandten Gottes befanden, kam ein Mann mit weißen Kleidern und sehr schwarzem Haar zu uns. Kein Anzeichen der Reise war erkennbar an ihm und niemand von uns kannte ihn. Er setzte sich vor den Propheten, lehnte seine Knie gegen seine, legte seine Hände auf seine Schenkel und sagte: ‚Berichte mir, o Muḥammad, über islām [Hingabe].‘“ Er antwortete: ‚Islām bedeutet das Zeugnis, dass keine Gottheit außer Gott existiert und dass Muḥammad Gottes Gesandter ist, dass du das Ritualgebet verrichtest, du die Sozialabgabe zahlst, während dem Ramadan fastest und die Pilgerreise zum Hause machst, wenn du es vermagst dorthin zu gelangen.‘ Der Mann sagte: ‚Du hast die Wahrheit gesprochen.‘ Wir waren erstaunt über die Befragung und dass er danach erklärte, er habe die Wahrheit gesprochen. Er sagte: ‚Nun berichte mir über īmān [Glaube].‘ Er antwortete: ‚Īmān bedeutet, dass du an Gott glaubst, Seine Engel, Seine Bücher, Seine Gesandten, an den Jüngsten Tag und an die Bestimmung – ihr Gutes und Schlechtes.‘ Abermals sagte er: ‚Du hast die Wahrheit gesprochen.‘ Und sagte: ‚Jetzt berichte mir über iḥsān [Vervollkommnung o. das schöne Tun].‘ Er antwortete: ‚Iḥsān bedeutet, dass du Gott anbetest, als sehest du Ihn, selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich.‘ Der Mann sagte: ‚Berichte mir über die Stunde.‘ Der Prophet antwortete: ‚Derjenige, der gefragt wurde, weiß nicht mehr als der Fragende.‘ Der Mann sagte: ‚Berichte mir über ihre Zeichen.‘ Er antwortete: ‚Das Sklavenmädchen wird ihre Herrin gebären und du wirst die Barfüßigen, die Nackten, die Mittellosen und die Schafhüter im Bauen miteinander wetteifern sehen.‘ Dann entfernte sich der Mann. Nachdem ich eine lange Zeit gewartet hatte, sagte der Prophet zu mir: ‚Weißt du, wer der Fragende war, o ʿUmar? Ich antwortete: ‚Gott und Sein Gesandter wissen es am besten.‘ Er sagte: ‚Es war Gabriel. Er kam, um euch eure Religion [dīn] zu lehren.‘“8
7 Vgl. as-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan, S. 93; ʿIzz ad-dīn Ibn ʿAbd as-Salām, Ḥall ar-rumūz, Hg. Muḥammad Abū Zayd, Tanta: Maktabat Tāǧ, 2006, S. 40–6; Aḥmad Zarrūq, Qawāʿid attaṣawwuf, Hg. Maḥmūd Bayrūtī, Beirut: Dār al-Bayrūtī, 2004, S. 17. 8 Überliefert von Muslim Ibn al-Ḥaǧǧāǧ, Kapitel „Bayyān al-īmān wa l-islām wa l-iḥsān“, in
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Entscheidend ist für die Theologie Ibn ʿAǧības beziehungsweise für das inhärente „Gabriel-Paradigma“ insbesondere die Unterteilung in die drei Stufen oder Ebenen sowie das Ende, wenn es heißt, Gabriel sei gekommen, um die Gefährten über die Religion (dīn) zu lehren. Das Hadith verknüpft den Religionsbegriff (dīn) also selbst mit einem Stufengebilde. Die drei im Hadith genannten Ebenen finden im Koran ihre Entsprechung.9 In dem folgenden Aya treten islām und īmān hervor, wenn es heißt: „Die Beduinen sagen: ‚Wir glauben.‘ Sag: ‚Ihr glaubt nicht. Sagt vielmehr: Wir sind ergeben [aslamnā, von islām],10 und nicht eingedrungen ist der Glaube in eure Herzen. Wenn ihr gehorcht Gott und Seinem Gesandten, wird Er euch nichts vermindern an euren Werken.‘ Wahrlich, Gott ist der unübertrefflich Vergebende, der Barmherzige. Die Gläubigen [muʾminūn, von īmān] sind vielmehr die, die glauben an Gott und Seinen Gesandten und dann nicht zweifeln und sich abmühen mit ihrem Vermögen und ihrer Seele auf dem Weg Gottes. Das sind die Wahrhaftigen. Sag: ‚Wollt ihr Gott belehren über eure Religion, wo Gott sehr wohl weiß, was in den Himmeln und was auf der Erde?‘ Und Gott ist alle Dinge wissend. Sie halten es dir gegenüber als Wohltat vor, dass Er euch zu dem Glauben rechtleitet, wenn ihr wahrhaftig seid“ (K 49:14–17).
Hier wird ein deutlicher Unterschied zwischen Hingabe („Wir sind ergeben“) und dem Glauben verlangt. Hingabe (islām) steht in diesem Zusammenhang für den Zustand, wenn der Glaube eher einer Ahnung entspricht und noch kein wirkliches innerliches Gegenstück besteht. Wirklicher Glaube wird über äußerliche Hingabe gestellt und mit innerlichem Einsatz in Verbindung gebracht, mit Sicherheit im Glauben, mit Mühe, mit der Seele und dem Weg, wie bei den Sufis erörtert wird.11 Die Dimension iḥsān zeigt sich in den koranischen Worten:12 „[…] wenn sie gottesehrfürchtig sind und glauben und verrichten gute Werke, dann gottesehrfürchtig sind und glauben, dann gottesehrfürchtig sind und [vollkommen] Gutes tun [aḥsanū; von iḥsān]. Und Gott liebt, die [vollkommen] Gutes tun“ (K 5:93).
In dieser Aufzählung erscheinen die beiden ersten Ebenen als Einheit: Das Innere korrespondiert durch Gottesehrfurcht mit dem Äußeren, den guten Werken, was zu Glauben führt. Wenn nun aber die Gottesehrfurcht mit Glauben gepaart wird und wiederum mit Gottesehrfurcht beziehungsweise der Läuterung des Herzens, erscheint Vollkommenheit (iḥsān).13 Wobei hier in der Übersetzung Yaḥyā an-Nawawī, Ṣaḥīḥ Muslim bi-šarḥ an-Nawawī, 18 Bde., Kairo: Maṭbaʿat al-Miṣriyya bi-lAzhar, 1929, Bd. 1, S. 156–60; für Varianten vgl. Kanz: Buḫārī, Aḥmad und Ibn Māǧa, Nr. 5249. 9 Vgl. BM, Bd. 7, S. 183–5; vgl. auch Muḥammad ʿUṯmān ʿAbduh, Tabriʾat aḏ-ḏimma fī nuṣḥ al-umma wa taḏikrat ūlī l-albāb li-s-sayr ilā ṣ-ṣawāb, 2 Bde., Hg. ʿAbd al-Fattāḥ Abū Sinna, Ägypten (s. n.), 1995, Bd. 2, S. 245–51. 10 Das Wort aslama ist die Verbform des dazugehörigen Substantivs islām. 11 Vgl. BM, Bd. 7, S. 184. 12 Vgl. BM, Bd. 2, S. 220–1; vgl. auch ʿUṯmān ʿAbduh, Tabriʾa aḏ-ḏimma, Bd. 2, S. 245–47. 13 Vgl. BM, Bd. 2, S. 220–1.
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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des Wortes taqwā für Gottesehrfurcht die Vieldeutigkeit verloren geht. Taqwā kann allgemein auch Frömmigkeit bedeuten; der Unterschied der dritten Ebene kommt also zunächst durch eine besondere Verstärkung der inneren Ebene zum Ausdruck. Nun verwischt in der Übersetzung der Begriffe allerdings leicht die Grenze zwischen den Ebenen, wenn islām mit „Hingabe“ und iḥsān mit „das Gute tun“, das „schöne Tun“ oder das „vollkommene Tun“ wiedergegeben wird. Islam ist als Bezeichnung der Religionsgemeinschaft auf der Bedeutungsebene allgemein sehr weit gefasst. Mit Blick auf die Theologie aus dem Gabriel-Hadith bezeichnet islām als Terminus technicus die greifbare Ebene der fünf Säulen beziehungsweise das Fiqh im Allgemeinen, da dies den kleinsten gemeinsamen Nenner all derer darstellt, die sich der Religion des Islams als Religionsgemeinschaft zuschreiben. Aus diesem Grund heißt es in Aya 49:14, die Beduinen sollten nicht von Glauben sprechen, sondern von islām. Wer die äußerlichen Regeln achtet, so der Gedanke, erntet nicht von selbst Glaube, denn dieser bedarf eines Weges, einer innerlichen Beschäftigung. Umfassend betrachtet verschwimmt zudem die Ebene zwischen einem einfachen Glauben an Gott und die Propheten, der viele Menschen begleitet, und dem Glauben, der durch wahrhaftige Anstrengung erlangt wird, durch die Läuterung des Herzens. Das eingangs in diesem Teil bereits erwähnte, von Ibn ʿAǧība oft auf das Muster islām, īmān und iḥsān verwendete Übertragungsmuster fiqh, kalām und taṣawwuf, ist an den Lehren der Theologie ausgerichtet. Es lässt den Blick auf das Individuum jedoch außen vor und eignet sich damit nur bedingt, um den Glauben im Stufengebilde genauer zu betrachten. Werden die Unterscheidungen zwischen den Stufen des Glaubens eines Menschen in den Vordergrund gestellt, lautet das Ergebnis, abgeleitet von dem Muster islām, īmān und iḥsān: Scharia, Weg und Wirklichkeit – šarīʿa, ṭarīqa und ḥaqīqa. Dieses Muster ist das in den Werken Ibn ʿAǧības wahrscheinlich meist verwendete und trifft allein durch die Bezeichnung den Kern der Lehre der Herzenserkenntnis: Die Scharia ist Basis für den Weg, dem Ruf zum Göttlichen zu folgen, was zusammen zur Erkenntnis der Wirklichkeit beziehungsweise zur Herzenserkenntnis führt.14 Es kann entweder von verschiedenen Ebenen gesprochen werden oder von Stufen, die aufeinander aufbauen. Ibn ʿAǧība: „Die Schule der Sufis ist es, dass eine Tat, wenn sie von den äußeren Gliedmaßen abhängt, der Stufe des islām zugerechnet wird. Wenn sie dann durch Übung und Anstrengung übergeht zur Reinigung des Inneren, ist das die Stufe des īmān. Wenn dem Diener schließlich die Geheimnisse der Wirklichkeit eröffnet werden, nennt es sich die Stufe des iḥsān. As-Sāḥilī setzte die Stufe des islām aus drei Dingen zusammen: Umkehr (tawba), Gottesehrfurcht (taqwā) und Aufrichtigkeit (istiqāma). Den īmān aus aufrechter Ergebenheit 14
Vgl. beispielsweise ebenda; MT, S. 45–6.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
(iḫlāṣ), Wahrhaftigkeit (ṣidq) und Seelenruhe (ṭumaʾnīna). Und den iḥsān aus Wachheit (murāqaba), Anschauung (mušāhada) und Erkenntnis (maʿrifa). Für jede Zeit und alle Menschen existieren Bildung und Fachbegriffe für den Weg, während jedoch das Ziel dasselbe bleibt. Das ist die wahrhafte Erkenntnis.“15
Es kann eingewendet werden, dass wenn mit der Ebene islām Scharia und die greifbaren Dinge gemeint sind, dies nicht mit der Zuweisung zu Umkehr, Gottesehrfurcht und Aufrichtigkeit übereinstimmt. Dieser Einwand deutet auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der normativen Ableitung von Theologie und dem Weg der individuellen Erfahrung. Während die intellektuelle Auseinandersetzung innerhalb des Rahmens der Lehren dazu tendiert, die Ebenen möglichst scharf zu trennen, um genaue Definitionen zu erstellen, erlebt der Mensch eine strikte Trennung von „Außen“ und „Innen“ nicht: Wird das Stufengebilde auf den Menschen selbst angewandt, was im Gabriel-Hadith vordergründig intendiert wird, wird der Fokus auf den Glauben, d. h. auf eine innere Entwicklung gelegt. Ibn ʿAǧība vergleicht die menschliche Erfahrung, die mit der wachsenden Erkenntnis eintritt, metaphorisch im Sinne der išāra mit dem Licht. Wer lediglich auf der äußerlichen Ebene verharre, der sehe die göttlichen Lichter nur von weitem, wie jemand das Licht der Sterne erkennen könne. Wer dem Licht folge, werde durch den wachsenden Einheitsglauben (tawḥīd) in seinem Herzen das Licht strahlen sehen wie den Mond. Die Erkenntnis schließlich strahle hell wie die Sonne.16 Das Erklärungsmuster, das die Interpretation aus Sicht der religiösen Lehren verbildlicht, ist die Unterteilung in Fiqh, Kalam und Sufitum (fiqh, kalām und taṣawwuf ).17 Diese Perspektive beleuchtet den Aspekt, dass auf der ersten Ebene des Gabriel-Hadith Themen genannt werden, die relevant für das Fiqh sind, auf der zweiten Ebene Themen, die in der Glaubenslehre (ʿaqīda) relevant sind und auf der dritten Ebene das Thema des Gottesdienstes und der Erkenntnis. Hierbei wird der Blick weg von der Entwicklung des Menschen, hin zu theologischen Gegenständen gelenkt, die es aus den Quellen abzuleiten bedarf. Wie die Ebene der Scharia/Fiqh den äußeren Normen Rechnung trägt, trägt der Kalam den Normen Rechnung, die intersubjektiv diskutiert werden können, wie etwa Schicksal und Bestimmung. Es ist laut Ibn ʿAǧība zusammenfassend „die Scharia des islām, die Glaubensgrundsätze des īmān und die Stufe des iḥsān“18, die die Religion aus Sicht der Lehren in ihrer Gesamtheit abbilden.19 Die Religion vornehmlich aus Sicht der religiösen Lehre darzustellen, widerspricht der Schule der Sufis jedoch auf gewisse Weise, da diese voraussetzt, den 15
BM, Bd. 7, S. 184; vgl. auch MSW, S. 244–5. IH, S. 252–3. 17 Vgl. MT, S. 1. 18 IH, S. 258. 19 Ebenda. 16
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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Menschen als Ganzes zu betrachten und nicht das Gesetz beziehungsweise die Normen aus Fiqh und Kalam in den Vordergrund zu stellen. Das bedeutet nicht, dass Ibn ʿAǧība der Einteilung in Fiqh, Kalam und Sufitum widersprechen würde, sondern nur, dass dieses Muster eine bestimmte Funktion besitzt, die nicht überhöht werden sollte. Aus Sicht einer bestimmten Gruppe von Gelehrten, die diese Meinung nicht teilen, schreibt Ibn ʿAǧība an anderer Stelle, müsse der Glaube (īmān) jeder Handlung in der Religion (islām) vorausgehen.20 Das ist insofern richtig, als eine Handlung im Gottesdienst nur gut ist, wenn sie mit der richtigen inneren Haltung vollzogen wird. Jedoch ist dies eine Herangehensweise, die die menschliche Entwicklung zumindest theoretisch ausklammert. Aus der Perspektive des Sufitums erlebt das Individuum eine Entwicklung oder einen Wachstumsprozess: Zuerst handelt der Mensch auf eine Ahnung hin, was einem schwachen Licht des Glaubens entspricht. Wenn sich die Ahnung bestätigt, erhält er größere Gewissheit (yaqīn) und weitere Kraft, was auf stärkeres Licht schließen lässt. Die bisher erwähnten Muster reizen die Spannbreite nicht aus, sondern bilden lediglich die Basis für weitere Überlegungen. Die folgende Darstellung (S. 54) zeigt einige Möglichkeiten, das Stufengebilde zu betrachten, die bei Ibn ʿAǧība an verschiedenen Stellen diskutiert werden.21 Wird der Fokus auf die wachsende Sicherheit oder Gewissheit gerichtet, erschließt sich die Bedeutung der Spalte in der Abbildung (1), welche die Stufen islām, īmān und iḥsān mit den Stufen der Gewissheit in Verbindung bringen: das Wissen der Gewissheit (ʿilm al-yaqīn), das Auge der Gewissheit (ʿayn alyaqīn) und die Wirklichkeit der Gewissheit (ḥaqq al-yaqīn).22 Das beleuchtet erneut, aus einem anderen Blickwinkel, die Sicht darauf, wie das Individuum den Glauben erlebt. Diese Begriffe sind vollständig koranischen Ursprungs (vgl. K 15:99, 74:47, 102:7, 56:95 und 69:51). Während das Muster Fiqh, Kalam und Sufitum den Fokus auf die religiöse Lehre richtet und das Muster Scharia, Weg und Wirklichkeit die Schule der Sufis allgemein und eher abstrakt beschreibt, beschreiben die Stufen der Gewissheit den Prozess eines wachsenden Verständnisses, den der Mensch auf dem Weg der Erkenntnis durchläuft. Ibn ʿAǧība gibt dafür das Beispiel einer Stadt. Wer von ihr hört, sie aber noch nie gesehen hat, dem ist das Wissen der Gewissheit vorbehalten. Wer von der Stadt gehört hat und sie anschließend aufsucht und erblickt, der erhält das Auge der Gewissheit. Schließlich betritt der Reisende die Stadt und lernt sie und ihre Straßen kennen. Das ist wirkliche Gewissheit. Wer die Stadt betreten hat, der zweifelt 20
Ebenda, S. 349–50. ʿAzzūzī, findet sich ein Schema, das den Zusammenhang zwischen den Begriffen islām, īmān und iḥsān sowie Scharia, Weg und Wirklichkeit herstellt, jedoch allgemein einem anderen Zweck dient: der Darstellung der Stationen auf dem Weg: ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 214. Darauf wird in Teil 5.1 genauer eingegangen. 22 Vgl. MT, S. 17–8 für die Stufen der Gewissheit; vgl. TF, S. 238–9, 308 für die Systematik. 21 Bei
šarīʿa
ṭarīqa
ḥaqīqa
Individuum
islām
īmān
iḥsān
GabrielHadith Religiöse Lehre
taṣawwuf
kalām
fiqh
Dienerschaft
Wirklichkeit der Gewissheit Dienen (ʿibāda)
Dienstbarkeit
Auge der Gewissheit
Gewissheit (yaqīn)
Gottesdienst
Wissen der Gewissheit
Abb. 1: Schema des Stufengebildes
Gelehrte
Ṣūfī
Uṣūlī
Faqīh
Mensch
Seele
Herz
Gliedmaßen
Wahrnehmung
Verborgenes
Innen
Außen
54 2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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nicht an ihrer Existenz, vielmehr kann er anderen von ihren Straßen und Wegen berichten.23 Bei genauer Betrachtung kann festgestellt werden, dass das dreistufige Muster Ibn ʿAǧība nicht allein als Muster für die Konstruktion oder Systematik dient, sondern er es auch als Stilmittel einsetzt. Er ist stets bemüht, ob nun theologische Gegenstände oder das Verstehen der Menschen dahingehend zu unterscheiden.24 Ein weiterhin bekanntes Muster ist das des Gottesdienstes (ʿibāda), der Dienerschaft (ʿubūdiyya) und der Dienstbarkeit (ʿubūda),25 das die Fähigkeit des Menschen zum Gottesdienst in Stufen beschreibt, also seine Fähigkeit die inneren Kräfte zu wecken. Nach einem weiteren Muster bedeutet Scharia, sich an die Aussagen des Propheten zu halten, der Weg (ṭarīqa), sich an die Taten des Propheten zu halten und die Wirklichkeit (ḥaqīqa), sich an die inneren Zustände und Sitte zu halten.26 Diese Ausdeutungen des Stufengebildes fallen prinzipiell in den Rahmen der sufischen Auslegung, der išāra, und stellen ein Mittel dar, um die Lehre zu verdeutlichen. Ziel ist, die verschiedenen Verknüpfungen zwischen dem Erleben des Menschen und theologischen Gegenständen aufzuzeigen, anders ausgedrückt, zwischen Individuum und Offenbarung zu vermitteln. Ibn ʿAǧība sagt hierzu: „Alle Ebenen und Stufen sind Etappen zwischen dem Greifbaren und den Bedeutungen. Sie bedeuten das Überwechseln von den greifbaren Strukturen in die Welten des Herzens. Und weiter von den Welten des Herzens in die seelischen Wirklichkeiten. Schließlich von den seelischen Wirklichkeiten in die herrlichen Geheimnisse. Und zuletzt von den herrlichen Geheimnissen in die Erkenntnis der Einheit Gottes (tawḥīd).“27
Jedes Synonym der drei Stufenbezeichnungen aus dem Gabriel-Hadith, deutet es auf einen bestimmten Aspekt – entweder aus Perspektive der religiösen Lehre oder aus Perspektive des Menschen. Aus diesem Grund variiert die Erläuterung Ibn ʿAǧības mitunter, wenn er von den Stufen schreibt oder überschneidet sich mit einer anderen Ausdeutung. So heißt es an einer Stelle in den „Göttlichen Eröffnungen“ (Al-futūḥāt al-ilāhiyya), die Ebene islām bedeute die Gliedmaßen von Sünden zu reinigen und den Gehorsam gegenüber Gott. Īmān bedeute hingegen die Reinigung des Herzens von allem, was Ihm gleich erscheint sowie die Gewissheit des Herzens, um sich auf wahre Erkenntnis vorzubereiten. Iḥsān bedeute schließlich Anschauung und Erleben.28 Er verdeutlicht: „Wer die Stufe des islām wirklich erreicht, der kann dessen Handlungen nicht verlästern. Wem 23
SD, S. 289; MT, S. 18. Vgl. insbesondere IH, S. 141, 146, 151, 168–9, 172, 229, 231, 275, 282, 349–50, 358, 364, 402, 439, 459, 598; vgl. auch MT, dem Werk zu den Fachbegriffen, in dem zu einem Begriff meist auch eine Aufteilung in drei Stufen oder Gruppen von Menschen enthalten ist. 25 Vgl. MT, S. 16; IH, S. 23; as-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan, S. 93. 26 Vgl. FQ, S. 224. 27 IH, S. 411. 28 FI, S. 78. 24
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
wirklicher Glaube wiederfährt, der achtet wiederum nicht auf die Handlungen. Und wer Vervollkommnung (iḥsān) erreicht, der vermag nichts zu schauen, außer Gott.“29 Das bedeutet, auf der ersten Stufe ruht der Fokus noch auf dem Selbst und was es hervorbringt. Auf der zweiten Stufe werden die Handlungen immer weniger wichtig, da das Herz in den Mittelpunkt rückt. Auf der dritten Stufe richtet sich die Aufmerksamkeit nur noch auf das Wirkliche. Innerhalb des Rahmens dieser Interpretation ist der Glaube (īmān) an theologische Gegenstände, wie den Glauben an das Schicksal, gebunden. Denn es besteht ein Unterschied, ob jemand schlicht an das Bestehen eines Schicksals glaubt, das in den Händen Gottes liegt oder ob jemand zufrieden ist, mit allem was ihm an Schicksalsschlägen wiederfährt, ob gut oder schlecht. Das erste ist Glaube, der von einer Ahnung bis hin zu einem bestimmten Maß an Gewissheit reicht, das zweite ist die Umsetzung des Glaubens, der das Herz erreicht hat und tatsächliche Gewissheit und wahren Glauben bedeutet.30 Im selben Werk, an anderer Stelle, beschreibt er dies aus einer anderen Perspektive, die das Äußere (ẓāhir) und das Innere (bāṭin) besonders beleuchtet. Dort heißt es: Das äußere Wissen „[…] ist das überlieferte Wissen, während das innere Wissen von Gott gegeben wird. […] Anders ausgedrückt kann gesagt werden, dass das äußere Wissen das menschliche Wissen ist und das innere Wissen das spirituelle Wissen (ʿilm ar-rūḥāniyya). Oder auch: das äußere Wissen ist das Wissen der Dienerschaft und das innere Wissen ist das Wissen der göttlichen Herrschaft.“31
Das erste, das überlieferte Wissen, nennt er auch das Wissen der „Schriften“, während das zweite jeweils das Wissen bezeichnet, das durch Erfahrung und Erleben (ḏawq) entsteht. Das äußere Wissen könne ohne Weiteres schriftlich festgehalten werden, bilde den Kanon der Theologie und könne durch menschliches Bestreben erarbeitet werden. Das göttliche Wissen, fährt er fort, das in Erfahrung und Erleben zu finden sei, bedürfe jedoch einer umfassenderen Herangehensweise, die Wissen und Handeln zusammenführe, sodass beides Spuren im Herzen des Menschen zurücklasse. Dieses Wissen könne nicht in Büchern festgehalten werden, da der bloße Ausdruck der Worte für diese Form der Wissensvermittlung nicht ausreiche.32 Dieses Wissen erfordert die Dimension der Vorstellungskraft (fikr), welche die Welten des Inneren und des Äußeren in Beziehung zueinander setzt.33 Wird das Äußere und Innere nun absolut gesetzt, entsteht eine Dichotomie, die nicht alle Ebenen abzudecken vermag, da manche grundlegenden Gegenstände des Sufitums, wie beispielsweise die Umkehr (tawba), die Aufrichtigkeit 29 Ebenda. 30
Vgl. ebenda. Ebenda, S. 346. 32 Ebenda. 33 Vgl. IH, S. 541; MT, S. 50. 31
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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(istiqāma) und Geduld (ṣabr), durchaus in Büchern intersubjektiv verständlich behandelt werden können. Diesen Widerspruch löst Ibn ʿAǧība auf, indem er darauf verweist, dass alles, was ausgedrückt werden könne, zum Wissen des Äußeren zähle. Insofern zähle auch ein Teil des Sufitums zu den Lehren des Äußeren (ʿulūm aẓ-ẓāhir).34 Das bedeutet: Die Lehren, die sich mit dem Herzen beschäftigen und die sich durchaus in klarer Form ausdrücken lassen, ohne das Element der išāra umfassend miteinzubeziehen, zählen insofern zu den Lehren des Inneren, als die Bewegungen des Herzens dort zu verorten sind. Allerdings ist das unter Vorbehalt zu verstehen, da sich gewisse theologische Gegenstände intersubjektiv verständlich mitteilen lassen, was wiederum ein Merkmal der äußeren Lehren ist. Um dem habhaft zu werden, nennt er ein weiteres dreistufiges System, dass sich in „Äußeres, Inneres und das Verborgene“35 unterteilt. Und wie Ibn ʿAǧība anmerkt, lautet das verwandte Stufengebilde entsprechend: „Es stellt die Scharia das Äußere dar, die ṭarīqa das Innere und die ḥaqīqa das Innere des Inneren [das Verborgene] (bāṭin al-bāṭin).“36 Auf diesen Punkt wird in folgenden Kapiteln noch genauer eingegangen werden. 2.1.2 Islām und īmān Das dreistufige Gebilde von islām, īmān und iḥsān und insbesondere in der Interpretation der Sufi-Lehre šarīʿa, ṭarīqa und ḥaqīqa zielt darauf ab, die Entwicklung des Menschen im Glauben zu fördern, um Erkenntnis zu ermöglichen. Es eröffnet die Perspektive auf alle Ebenen und deutet gleichzeitig auf das Ziel. Wer alle drei Dimensionen verinnerliche, lebe und vereine, so findet es sich schon bei aš-Šaʿrānī, der erhalte vollkommenen Glauben und „wird im Jenseits keine der Manifestationen Gottes, des Erhabenen, leugnen“37, durch die Gott sich dem Menschen zeige, was ihn in die ewige Glückseligkeit eintreten lasse.38 Und vielmehr noch, die Sufis lehren, wie Chittick ausführt, dass der angestrebte Weg noch in diesem Leben durch Läuterung zur Erkenntnis führe.39 Das gilt auch für Ibn ʿAǧība, der den Einheitsglauben des Herzens als Ziel des Weges zur Erkenntnis setzt. Überhaupt zielt seine Lehre darauf ab, jedem Menschen so viel Erkenntnis der Wirklichkeit wie möglich zu vermitteln. Die Wirklichkeit (ḥaqīqa), die seelische Ebene oder die dritte Stufe, ist integraler Bestandteil des 34
FI, S. 346.
35 Ebenda. 36 Ebenda.
37 Aš-Šaʿrānī zitiert hier Muḥyī d-dīn Ibn ʿArabī, ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī, Al-yawāqīt wa l-ǧawāhīr fī bayyān ʿaqāʾid al-akābir, 2 Bde., Hg. ʿAbd al-Wāriṯ ʿAlī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2012, S. 374. 38 Vgl. ebenda, S. 373–81. 39 William C. Chittick, Bildhafte Welten, Herrliberg: Edition Shershir, 2015, S. 177. Auf das soteriologische Moment dieser Aussage, die Erkenntnisfähigkeit des Menschen im Diesseits, wird in Teil 5 eingegangen.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
menschlichen Wesens und muss dementsprechend berücksichtigt werden. Nicht nur hinsichtlich der Lehre, sondern auch zwischenmenschlich. Ibn ʿAǧība: „Es obliegt dem Menschen und insbesondere dem Gotteskenner, den inneren Kern der Dinge mit dem Auge der Wirklichkeit zu schauen und die Geschöpfe zu entschuldigen, da sie gezwungen sind in Formen der Wahlfreiheit. Und mit dem Auge der Scharia die äußere Form der Dinge zu sehen, sodass die Rechte gewahrt werden und die Grenzen eingehalten.“40
Die genaue Bedeutung dieser Worte wird sich im Laufe der Studie aufklären. An dieser Stelle ist wichtig festzuhalten, dass Ibn ʿAǧība die Wirklichkeit (ḥaqīqa) als unabdingbar betrachtet. Sie zu missachten oder als Nebensache zu erachten, ist für ihn ausgeschlossen; ist sie doch das Ziel – der Kern und Mittelpunkt aller Dinge und damit in gewisser Hinsicht überhaupt der Grund für Religion. In den verschiedenen Interpretationen stellt die dritte Stufe oder Ebene jedoch in gewisser Hinsicht Ziel und Ergebnis dar, während die ersten beiden von unmittelbarer Relevanz sind. Um die höchste Ebene zu erfassen, bedarf es einer Grundlage und eines Weges. Deshalb gilt es die ersten beiden Stufen zunächst gesondert zu betrachten und im Anschluss, im folgenden Kapitel, das Ziel, die höchste Stufe zu beleuchten. Wenn aus normativer oder äußerlicher Sicht nach der Rechtleitung eines Menschen gefragt wird, erscheinen islām und Glaube manchmal als ein und dasselbe. So heißt es im Koran: „Ist einer, dem Gott die Brust geweitet für die Ergebung (islām), sodass er vom Licht von Seinem Herrn getragen – So, wehe denen, deren Herzen verhärtet vor dem Gedenken Gottes!“ (K 39:22). Wörtlich genommen erhält jemand, der den Islam annimmt gewissermaßen gleichzeitig auch ein Licht, was mit Glauben gleichgesetzt werden könnte.41 Das Motiv, dass islām mit Rechtleitung oder Hingabe gleichgesetzt wird, findet sich verbreitet im Koran, wenn etwa die Propheten als Muslime bezeichnet werden (K 2:133) oder islām und īmān zusammen auftauchen (K 3:52). Tatsächlich verhält es sich, dass entweder der scheinbare Widerspruch im Aya selbst noch aufgelöst wird, wie es in Sure 3:52–3 der Fall ist, als die Jünger Jesu sprechen: „‚Wir sind Gottes Helfer.‘ Wir glauben an Gott (āmannā). Bezeuge, dass wir sind ergeben (muslimūn). Unser Herr, wir glauben an das, was Du herabgesandt und folgen dem Gesandten.“ Sie glauben im Inneren, schreibt Ibn ʿAǧība, und deuten durch ihre Ergebenheit (muslimūn, von islām) darauf hin, dass sie Ihm auf beiden Ebenen zugeneigt sind. Deswegen fahren sie fort und sagen, sie glauben an das (īmān), was herabgesandt wurde und den Gesandten, was umfassender ist und nicht begrenzt auf eine Stufe.42 40
41
IH, S. 617. Vgl. BM, Bd. 6, S. 264–5; vgl. für weitere Beispiele diesbezüglich Koran 3:85, 5:3, 6:125,
42
BM, Bd. 1, S. 323–5.
61:7.
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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Oder aber der Begriff islām bezieht sich auf die ḥanīfe, ursprüngliche Religion, wodurch die Auslöschung des Beigesellens im umfassenden Sinne definiert wird und die nicht die Zugehörigkeit zu der Gemeinde eines Propheten meint. Das spielt auf das Thema der ursprünglichen Religion an, die von allen Propheten vertreten wurde.43 Es bleibt demnach zunächst dabei, dass, wie das oben (in Kapitel 2.1.1) erwähnte Aya über die Beduinen (K 49:14–17) verdeutlicht, durchaus eine klare Trennung zwischen islām und īmān besteht. Erst wenn der Glaube in das Herz eingedrungen ist, kann von Glauben gesprochen werden. Es kann kurzgesagt, aus Ibn ʿAǧības Ausführungen abgeleitet werden, dass Hingabe und Glaube zwar verschieden sind, aber aufeinander aufbauen und zusammen gehören. Dass die beiden ersten Ebenen des Stufengebildes in eins gefasst werden, ist dennoch eine mögliche Lesart, wenn die Wahrnehmung des Menschen betrachtet wird. Dann wird laut Ibn ʿAǧība das Stufengebilde mit den Begriffen 1. „Außen“, 2. „Innen“ und 3. „das Innere des Inneren“ belegt. Das „Innere des Inneren“ bezeichnet den Bereich der Wirklichkeit (ḥaqīqa). Das „Innere“ wiederum verweist auf die grundlegenden Normen des Sufitums (aḥkām bāṭina), die aus den fundamentalen Werten der Tugendlehre bestehen, wie etwa der Umkehr, Aufrichtigkeit, Liebe, Frömmigkeit und Hoffnung.44 Das „Außen“ bezieht sich auf die körperliche Ebene. Ergo, führt er aus: Solange der Gläubige sich auf dem Weg befindet und das Ziel der Gotteserkenntnis noch nicht erreicht hat, ist er den Gesetzen der Anstrengung und Bewegung unterworfen und damit dem Spiel zwischen den Kräften, die sich außerhalb und innerhalb von ihm befänden, zwischen Hingabe (islām) und Glaube (īmān).45 Die Stufe islām: Al-Ǧurǧānī definiert für den Begriff islām: „Islām ist Demut und Gehorsam gegenüber dem, was der Gesandte, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, berichtete. Im al-Kaššāf [des Zamaḫšarī, gest. 538/1143] steht: Islām ist alles, was mit der Zunge bestätigt wird, ohne Übereinstimmung mit dem Herzen. Und was mit dem Herzen übereinstimmt, ist Glaube (īmān). Ich sage: Das ist die Schule des aš-Šāfiʿī und die Schule von Abū Ḥanīfa unterscheidet sich davon nicht.“46 Die erste Stufe des Stufengebildes – islām, Scharia, Fiqh oder das Wissen der Gewissheit (siehe die Tabelle im Kapitel zum Stufengebilde 2.1.1, Abb. 1) – umfasst alles, was der Prophet Muḥammad beauftragt wurde, den Menschen zu verkünden.47 Die gottesdienstlichen Handlungen (ʿibāda) werden, wie Muḥammad ʿUṯmān ʿAbduh (gest. 1403/1983) erläutert, auf dieser Stufe mit dem Körper 43 Vgl. ebenda, S. 135–8. Das wird im folgenden Kapitel zum Ursprung der Religion genauer behandelt. 44 Siehe dazu genauer das Kapitel zu den Grundlagen des Sufitums, Kapitel 3.1. 45 IH, S. 108–9. 46 Al-Ǧurǧānī, Taʿrīfāt, S. 11. 47 Vgl. BM, Bd. 7, S. 225; ʿUṯmān ʿAbduh, Tabriʾat aḏ-ḏimma, Bd. 2, S. 251.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
verrichtet, nach dem Gabriel-Hadith sind es zu allererst die Pflichten (farāʾiḍ) der fünf Säulen: Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Pilgerfahrt, wenn es die Situation erlaubt. Gleichermaßen sind die Fehltritte auf dieser Stufe körperlicher oder materieller Natur. Reue und Umkehr erfolgt hier durch das Vermeiden der schlechten Taten und das Bereuen des Vergangenen. Der Begriff Scharia beschreibt eben diesen Umstand, da er auf die Normen (aḥkām) verweist, die all diese äußerlich greifbaren Themen beschreiben.48 Das Ziel sei, schreibt Ibn ʿAǧība, durch die gottesdienstlichen Handlungen „Leugnen und Rebellion [im Sinne von Sünde]“49 des Offensichtlichen von sich fernzuhalten, sodass „Einsicht und Ergebenheit“50 den Menschen ergreifen. Dadurch werde das innere Auge gestärkt und das Herz bereit, tatsächlichen Gehorsam zum Schöpfer aufzubringen. In der Metapher vom Licht beschreibt er, das Licht des islām vertreibe das Dunkel des Falschen und Nichtigen, damit Bemühung und Bereitschaft an dessen Stelle treten. Das innere Auge erkenne dadurch „die Hässlichkeit des Schlechten und die Schönheit der Bemühung.“51 Dementsprechend heißt es im Koran: „Nein! Wenn ihr nur wüsstet (ʿilm alyaqīn)! Ihr werdet sehen das Höllenfeuer. Noch einmal: Ihr werdet es sehen, sicher (ʿayn al-yaqīn)“ (K 102:5–7). Die erste Stufe beschreibt also einfaches Wissen um das Richtige, die zweite schon eine Sicherheit oder Einsicht. Anders ausgedrückt zeigt die erste Stufe den Beginn der Rechtleitung, der auf dem Fundament der Fähigkeit zur Unterscheidung von Richtigem und Falschem aufbaut.52 Nur wer Gewissheit in seinem Innern darüber besitzt, dass beispielsweise Lügen falsch ist, dem ist es möglich zu glauben, dass die Wahrheit sprechen (und überhaupt die Wahrheit) gut und richtig ist – die höchste Stufe besteht schließlich darin, die Wahrheit zu lieben. Besteht darüber keine Klarheit, läuft man Gefahr einem falschen Glaubensgebäude zu erliegen und nicht Erkenntnis zu erlangen, sondern in Verwirrung zu enden. Auf dieser Ebene bestehen Versprechen und Drohung (al-waʿd wa l-waʿīd) in ihrer Verbindung mit Paradies und Hölle.53 Diese können mit Schildern auf dem Weg verglichen werden, die vor Abgründen am Wegrand stehen, da wenn die erste Ebene korrumpiert ist, unmittelbare Konsequenzen drohen. Das entspricht der Idee, dass eine gute und eine schlechte Tat üblicherweise ein Gegenstück im 48 Vgl. ʿUṯmān ʿAbduh, Tabriʾa aḏ-ḏimma, Bd. 2, S. 251–3; für den tieferen Sinn der Normen und ihre Bedeutung in der Theologie vgl. Muḥyī d-dīn Ibn ʿArabī, Al-futūḥāt al-Makkiyya, 9 Bde., Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2011, Band 3, S. 243–50; TF, S. 239–44 sowie die folgenden Kapitel, in denen Ibn ʿAǧība auf die äußere und innere Bedeutung verschiedener Normen eingeht, beispielsweise das Glaubensbekenntnis, die Gebetswaschung, das Fasten, die Almosen, Pilgerfahrt usw., S. 241–91. 49 IH, S. 151. 50 Ebenda. 51 Ebenda, S. 151–2. 52 Vgl. BM, Bd. 8, S. 372–3. 53 Vgl. BM, Bd. 7, S. 192–6; BM, Bd. 3, S. 172–4.
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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Innern des Menschen finden, das der Tat vorausgeht – die metaphysische Ebene herrscht über die physische.54 Eine Lüge, um bei dem obigen Beispiel zu bleiben, kann etwa aus Gier erfolgen, einer schlechten, inneren Eigenschaft. Eine Lüge schlicht für richtig zu erklären, um sich aus dem Dilemma zu befreien, wäre das Gegenteil von der Liebe zur Wahrheit, der Wirklichkeit. Die Basis von Gut und Schlecht, von Richtig und Falsch ist Voraussetzung für den Glauben, der ja beansprucht mehr zu sein, als die einfache Unterscheidung zwischen moralischen Gütern. Die Liebe zum Guten kann nur auf dem Fundament eines klaren Bewusstseins geschehen. Die Trennschärfe hierbei aufrecht zu erhalten ist ein großes Thema in der Literatur der Sufis, auch so bei Ibn ʿAǧība.55 Der Blick darf dabei nicht bei den Gefahren, der Warnung und dem Gesetz verhangen bleiben. Vielmehr betont die Scharia die positive Seite, den Ritus, der helfen soll, den Menschen vom Schlechten abzuhalten und auf das Gute zu verweisen. Der Ritus besteht auf der ersten Ebene des Stufengebildes wie oben erwähnt aus der Einhaltung der Pflichten (farḍ oder wāǧib). Der Ritus der Pflichten bildet einen ersten Schritt hin zum Glauben. Die äußerliche Betätigung, ruft ein positives, inneres Gegenstück hervor. So schreibt Ibn ʿAǧība, aus der Perspektive der inneren Sicherheit im Glauben, der Gewissheit (yaqīn), bedeute die erste Ebene, den eigenen Geist mit dem äußeren, offensichtlich zugänglichen Aspekt der Religion zu beschäftigen. Durch diese Beschäftigung wachse das Licht der Gewissheit im Herzen des Menschen, sodass er fähig werde seinen Horizont zu erweitern und schließlich erkenne, dass jedes Ding auf der Welt einen Schöpfer benötigt und „jede Spur einen Verursacher hat.“56 Die Einhaltung des äußeren Ritus und Gesetzes (Scharia) ist zusammenfassend aus zwei Gründen von Wichtigkeit. Sie hält den Menschen erstens vom Schlechten ab und zeigt ihm das Gute auf und zweitens hält sie ihn auf dem Boden der Dienerschaft, wie Ibn ʿAǧība es öfter ausdrückt, was davor schützt im Innern falschen Kräften nachzugeben und etwa der Frömmelei anheim zu fallen oder das Gefühl der Macht mit Glaube zu verwechseln. Insofern ist die Scharia immer an die inneren Bewegungen des Dieners gebunden.57 Erkennt der Mensch dieses und gereift ihm dieses Wissen zur Gewissheit (ʿilm al-yaqīn), drängt es ihn zur nächsten Stufe, wo ihm ein Weg angeboten wird, die gewonnene Gewissheit zu stärken und darin aufzugehen.58 Die Stufe īmān: Die nächsthöhere, zweite Stufe ist die des Glaubens (īmān), des Weges (ṭarīqa), der Glaubenslehre (kalām) oder des Auges der Gewissheit (ʿayn al-yaqīn). Sie baut auf der Stufe des islām auf, was bedeutet, dass wer diese Stufe betritt, nun beide Stufen zugleich einnimmt. Auf dieser Ebene strebt der 54
Dazu mehr im Kapitel zur Dualität in der Welt (3.2.2.1). Vgl. beispielsweise IH. S. 422–31. 56 SD, S. 288. 57 Vgl. SNS, S. 97–9. 58 Vgl. FI, S. 37. 55
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Mensch zu Gott, indem er sein Herz zur Handlung anregt – die guten Taten finden nicht mehr nur auf der äußerlichen Ebene statt, sondern bekommen einen entsprechenden Gegenwert im Innern. „So ist es. Wenn einer die Kultsymbole Gottes ehrt, gehören sie zur Gottesehrfurcht des Herzens“ (K 22:32). Mit Kultsymbolen sind laut Ibn ʿAǧība hier die Geschenke nach dem folgenden Aya gemeint: „Und die Opferkamele haben wir euch bestimmt als Kultsymbole“ (K 22:36).59 Das bedeutet, das Opfern eines Tieres gehört zu den äußeren Handlungen. Wer nun die Taten – wie das Gebet oder das Schlachten – nicht mehr nur aus äußerem Anlass der Rechte und Pflichten verrichtet, sondern dessen Gewissheit über das Gute und Schöne in der Tat selbst gestiegen ist, der ehrt die Dinge, die ihn umgeben und verrichtet sie nicht mehr nur aus Furcht vor Konsequenzen. Die Ehrfurcht ist höher als die Tat selbst, da sie der Erkenntnis näher ist.60 Der Glaube (arab. īmān) entstammt sprachlich der Sicherheit (amāna), dem Gegenteil der Täuschung (ḫiyāna) und meint grundsätzlich die Überzeugung des Herzens vom Verborgenen, wie Suʿād al-Ḥakīm zusammenfasst.61 Die Handlungen auf dieser Stufe sind metaphysischer, innerer Natur und sind nicht begrenzt durch den materiellen Rahmen, der in der ersten Stufe dominiert. Im Koran heißt es beispielsweise zur Wallfahrt (ḥaǧǧ), dass für sie bestimmte Monate gedacht sind und währenddessen bestimmte Regeln gelten und Voraussetzungen: „Und versorgt euch mit Wegzehrung, doch: die Gottesehrfurcht ist die beste Wegzehrung“ (K 2:197). Ibn ʿAǧība kommentiert dazu: „Körperliche Handlungen sind örtlich und zeitlich begrenzt. Die Handlungen der Herzen und der Seelen sind jedoch nicht an eine bestimmte Zeit oder an einen bestimmten Ort gebunden. Die Zeiten der Wallfahrt der Herzen sind alle Zeiten und die Orte sind allesamt Arafat.“62 Das Ziel des Glaubens ist die Loslösung von der oberflächlichen Fassade des Diesseits, wie im Begriff des Weges (ṭarīqa oder ṭarīq) zum Ausdruck kommt. Der Weg existiert nicht um seiner selbst willen, sondern für dessen Ziel, die Gotteserkenntnis. Ein Synonym für den Weg sei deshalb die Sunna, wie Ibn ʿAǧība und beispielsweise auch Ibn ʿArabī beschreiben; nicht im Sinne des Hadithkorpus – den Aussagen, Taten und Einwilligungen des Propheten – sondern im Sinne der Ziele, die der Gesandte Gottes verfolgte, die in der vollkommenen Ergebenheit liegen, der Dienerschaft. So heißt es im Koran: „Und wahrlich, du leitest recht auf dem Weg, dem geraden, dem Weg Gottes, dem gehört, was in den Himmeln und was auf der Erde. Zu Gott kehren zurück die Angelegenheiten“ (K 43:52–53).63 Während also auf der ersten Ebene der Scharia oder des islām 59
BM, Bd. 4, S. 421–5. Vgl. ebenda, S. 424–5; SSIM, S. 156; TF, S. 239. 61 Suʿād al-Ḥakīm, Al-muʿǧam aṣ-Ṣūfī. Al-ḥikma fī ḥudūd al-kalima, Beirut: Dandara, 1981, S. 133–41. 62 BM, Bd. 1, S. 192–3. 63 Vgl. FI, S. 20–1; BM, Bd. 6, S. 408; Ibn ʿArabī, Al-futūḥāt al-Makkiyya, Band 3, S. 249. 60
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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der Fokus auf den Rechten und Pflichten liegt, einer Dualität, die immer auch einer Notwendigkeit unterworfen ist, ist der Gegenstand auf der zweiten Ebene mit dem Willen und der Strebenskraft des Menschen verbunden. Das Ziel ist nun klar und die Reise kann angetreten werden. Gleichwohl wie die guten Taten auf der Stufe des Glaubens sich aus Handlung und entsprechender Absicht zusammensetzen, sind auch die Fehltritte oder Sünden nicht mehr nur äußerlicher Natur, sondern innerer. Vom Weg abzukommen bedeutet diesbezüglich, die gewonnene, gestiegene Gewissheit zu vergessen oder zu vernachlässigen. Im Koran heißt es zu dem Übergang von einer Stufe in die nächste: „Wahrlich Gott liebt diejenigen, die sich zuwenden und die sich reinigen“ (K 2:222).64 Dabei bezieht sich laut Ibn ʿAǧība die Zuwendung (tawwābīn; wörtlich: die „Bereuenden“) auf die erste und die Reinigung auf die zweite Stufe. Reinigung deshalb, da das Innere, wenn es missachtet wird, verkommt wie ein Acker, der nicht bebaut wird.65 Wie auch das Äußere, will er hier sagen, wenn es nicht gepflegt wird, durch Zeit und Raum verkommt, verkümmert auch das Innere des Menschen, wenn es keine entsprechende Nahrung und Pflege erhält. Das Zusammenspiel von der inneren und äußeren Ebene von Tat und Absicht auf der zweiten Stufe hat zur Folge, dass der Diener die Gegensätze des Menschseins erkennt, was sich vor allem in der Erkenntnis seiner Dienerschaft (ʿubūdiyya) zeigt – der Erkenntnis von der Abhängigkeit und Schwäche des Menschen im Gegensatz zu der Herrschaft, Majestät und Schönheit des Göttlichen. Auf dieser Stufe ist der Mensch folglich nicht mehr nur in der Lage das Gute und das Böse zu erkennen, sondern kann darüber hinaus das Wesen der Dinge selbst schauen,66 wie es auch im Begriff des „Auges der Gewissheit“ zum Ausdruck kommt. Der grundlegende Gedanke ist dabei, dass, anders als der äußere Schein es vermuten lässt, die innere Wirklichkeit ihre eigenen Gesetze kennt und dies in gewisser Hinsicht das Gegenteil des äußeren Scheins bedeutet. So liegt beispielsweise wirkliche Größe im Erkennen der eigenen Schwäche oder Begrenztheit, da menschliche Größe in der Demut liegt, nicht im Gegenteil, der Arroganz.67 Bei den Sufis wird dazu gerne das Aya angeführt: „O ihr Menschen, ihr seid Bedürftige Gottes! Und Gott ist der unübertrefflich Reiche, der zu Lobende“ (K 35:16). Ibn ʿAǧība erklärt: Die Bedürftigkeit ist eine Eigenschaft des Seins im Diesseits, da auch die kleinsten Dinge nicht ohne ein Hilfsmittel erledigt werden können. Wer oder was auf Hilfe angewiesen ist, egal welcher Form, ist abhängig. Demensprechend besteht ein wichtiger Teil des Weges in der Erkenntnis von den richtigen Verhältnissen der Dinge zueinander. Wer 64
Vgl. ʿUṯmān ʿAbduh, Tabriʾat aḏ-ḏimma, Bd. 2, S. 254. BM, Bd. 1, S. 218. 66 Vgl. MT, S. 16. 67 Vgl. IH, S. 261. 65
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
sich folglich selbst Reichtum, als Gegensatz zur Bedürftigkeit, in irgendeiner Weise zuschreibt, innerlich oder äußerlich, dessen Herz ist durch diese falsche Annahme verschleiert.68 Nach der grundlegenden Erkenntnis des Guten und Schlechten auf der ersten Ebene bedeutet die zweite zusammenfassend, den rechten Weg zu beschreiten und das Wesen der Dinge ins Auge des Herzens zu fassen. Das lässt sich gut an Ibn ʿAǧības Beschreibung der inneren Ausrichtung (istiqāma) des Menschen zeigen. Auf der Ebene der Scharia ist die richtige Ausrichtung schlicht die Akzeptanz der gegebenen religiösen Leitung. Auf dem Weg, der zweiten Ebene, dagegen besteht die richtige Ausrichtung in der Annäherung an die prophetische Sitte im Äußeren und Inneren. Die dritte und höchste Form der inneren Ausrichtung jedoch liegt in der Verinnerlichung der göttlichen Eigenschaften. Das betrifft die Ebene der Vervollkommnung, des iḥsān.69 2.1.3 Iḥsān Über die Stufe der Vervollkommnung (iḥsān) zu schreiben ist kein einfaches Unterfangen, da sie den Bereich des individuellen Erlebens miteinschließt. Die höchste Stufe, Vervollkommnung oder Wirklichkeit (ḥaqīqa), ist durch die Verwendung von išāra, durch Allegorie und Metapher, zugänglich. In der Geschichte der Theologie hat insbesondere der Umgang mit der Beschreibung dieser Ebene der Religion zu komplizierten Diskussionen geführt. Die Annahmen, die dafür in der Disziplin des Sufitums notwendig sind, bedürfen der genauen Betrachtung, was im dritten Teil der Studie erfolgt. An dieser Stelle wird zunächst eine allgemeine Darstellung vorangestellt, die einen Rahmen für die darauffolgenden Ausführungen bereitstellt. Die dritte Stufe stellt laut dem Gabriel-Hadith die der Vervollkommnung (iḥsān) dar. Der Begriff iḥsān besitzt je nach Kontext verschiedene Bedeutungen. Grundlegend sind die Bedeutungen der Perfektion, der Verschönerung und der Vervollkommnung, entweder unter ethischen oder gottesdienstlichen Kriterien (vgl. Koran 4:36, 12:100, 16:90, 55:60).70 Im Zusammenhang des GabrielHadith wird diese Stufe mit dem Wort Vervollkommnung wohl am passendsten beschrieben, da sie, wie schon die zweite Stufe des Glaubens, des Weges, auf den vorherigen Stufen aufbaut. Um die dritte Stufe zu erreichen oder zu erfüllen, bedarf es der erfolgreichen Durchquerung der ersten beiden. Allgemein verkörpert wie gesagt die Stufe des islām das äußerlich Wahrnehmbare, das Greifbare und Praktische. Die Stufe des īmān zeigt einen Weg zur Erkenntnis auf, der dem Menschen die inneren Wirklichkeiten (des Glaubens) zugänglich macht. Und 68
Vgl. BM, Bd. 6, S. 117–8. MT, S. 10. 70 Vgl. Spevack, The Archetypal Scholar, S. 45–8. 69
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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die Vervollkommnung stellt die höchste Stufe dar, die der inneren Wachheit, Anschauung des Wirklichen und der Erkenntnis.71 Die dritte Stufe stellt nach Gottesdienst (ʿibāda) und Dienerschaft (ʿubūdiyya), die Gottesdienstbarkeit (ʿubūda) dar. Im Gabriel-Hadith lautet es: „‚Iḥsān bedeutet, dass du Ihn anbetest [oder ‚du Ihm dienst‘: taʿbudahū], als sehest du Ihn, selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich.“72 Gottesdienstbarkeit, die dritte Stufe, tritt nach Ibn ʿAǧība ein, wenn der Mensch seine äußerliche Überzeugung von den Grundlagen des islām zeigt und sein Herz wahrhaft fähig ist, an das Verborgene zu glauben (īmān): Die dritte Stufe ist das Ergebnis des guten Zusammenspiels der beiden Ebenen islām und īmān. Sie ist das Ergebnis des Erlebens von Glauben, wie der Glaube (īmān) Ergebnis der Überzeugung von Hingabe (islām) ist. Das bedeutet für das innere Erleben, dass die Seelenruhe, die auf dem Weg zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt, in eine Art der Wachheit übergeht (murāqaba). Dauert diese Wachheit an, verwandelt sie sich in Anschauung (mušāhada) und schließlich in Erkenntnis (maʿrifa).73 In der im Sufitum viel verwendeten Lichtmetapher drückt Ibn ʿAǧība es folgendermaßen aus: „Die äußerlichen Handlungen bestimmen den Charakter“74, bis die Lichter des Inneren, durch das Zusammenspiel von Innen und Außen, „sich auf die beiden ersten Ebenen erstrecken.“75 Dauert dieser Zustand an und das Ego wird dadurch geläutert, sodass die Seele frei in Erscheinung tritt, erscheint ein Licht, das alle Ebenen umfasst. Das ist das Licht der Vervollkommnung, des iḥsān.76 Wird die dritte Stufe aus der Sicht der religiösen Lehre betrachtet, verhält es sich anders. Dann stellt sie die Ebene des Sufitums dar, wie in dem Muster Fiqh, Kalam und Sufitum ersichtlich. Murata und Chittick bringen es auf den Punkt: „We suggested that discussions of islam focus on activity, while those on iman look closely at understanding. As for discussion of ihsan, they focus on human intentionality. Why do people do what they do? Islam tells us what they should do and iman provides them with an understanding of why it is necessary to do what they do, but neither of those domains concerns itself with how it is possible to bring one’s motivations and psychological qualities into harmony with one’s activity and understanding.“77
Glaube (īmān), wie hier im Zitat zu sehen, eröffnet die Ebene der Theologie, des Sprechens und Verstehens, bietet jedoch keinen wirklichen Anhaltspunkt, wie das erreicht werden kann. Das Verstehen auf der zweiten Ebene erstreckt sich 71
Vgl. BM, Bd. 2, S. 221. aus Kanz bereits oben angeführt. Vgl. auch ʿUṯmān ʿAbduh, Tabriʾat aḏ-ḏimma, Bd. 2, S. 260–7; SD, S. 288–9. 73 MSW, S. 244. Auf diese Begriffe der Wegstationen wird im letzten Kapitel genauer eingegangen. 74 Ebenda, S. 245. 75 Ebenda. 76 Ebenda. 77 Murata und Chittick, The Vision of Islam, S. 267. 72 Beleg
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
auch bei Ibn ʿAǧība über die gesamte Glaubenslehre und meint nicht ausschließlich den Streit um die rechte Auslegung, sondern eher die Beschäftigung mit theologischen Gegenständen insgesamt. Wie im Kapitel zum Verstand (3.2.1.2) noch zu sehen sein wird, beinhaltet der Verstand bei Ibn ʿAǧība das rationale Denken, erschöpft diesen aber nicht. Glaubenslehre ohne die Ausrichtung auf das Ziel des Einheitsglaubens des Herzens kommt einem Selbstzweck gleich. Vielmehr wächst die Kraft des Verstandes durch Übung, Ausdauer und Läuterung des Selbst, bis er die Stufe der Vollkommenheit (iḥsān) erreicht.78 Die Auseinandersetzung mit intellektuellem Wissen stellt laut Ibn ʿAǧība ein untergeordnetes Ziel dar, im Vergleich mit dem Ziel der Religion, alle Stufen zu berücksichtigen, worin die Erfüllung der Herzenserkenntnis liegt. Das Erreichen oder Erfüllen der dritten Stufe gelingt durch Ausdauer auf dem Weg, was ein Wissen von der Einheit der inneren und äußeren Ebene zur Folge hat, wodurch es dem Menschen möglich wird, mit den Wirklichkeiten hinter dem Schein des Seins in Verbindung zu treten.79 Ein Hadith qudsī, das die Sufis und auch Ibn ʿAǧība an dieser Stelle oft zitieren, lautet: „Gott spricht: ‚Nichts, wodurch Mein Diener sich Mir nähert, ist Mir lieber, als was Ich ihm als Pflicht auferlegte. Mein Diener hört nicht auf, sich Mir durch freiwilliges Tun zu nähern, bis Ich ihn liebe. Und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich sein Hören, mit dem er hört, und sein Sehen, mit dem er sieht, seine Hand, mit der er etwas greift, und sein Fuß, mit dem er geht.‘“80
An dieser Stelle bezeichnen die Pflichten (farāʾiḍ) die äußere Ebene des islām, während das freiwillige Tun synonym für die Anstrengung auf dem Weg steht, der Ebene des īmān.81 Was schließlich die Metapher anbelangt, dass Gott das Ohr des Dieners ist, sein Auge, seine Hände und Füße, so beschreibt sie das Verhältnis von der göttlichen Liebe, die das Herz des Menschen ergreift, wenn das Licht des Glaubens sich schließlich über alle drei Ebenen erstreckt. Das bedeutet, die Harmonie im Innern des Menschen, wenn sie vollständig genug ist, ausreichend vervollkommnet, bringt Liebe zum Vorschein. Ibn ʿAǧība drückt es folgendermaßen aus: „Liebe (maḥabba) bedeutet, dass der Herr das Herz des Dieners ergreift, sodass er niemand Anderen mehr schaut oder dass die Schönheit des Geliebten die Liebe im Herzen weckt, damit er nichts Anderes mehr schauen kann. Wenn er etwas Anderes schaut, mindert sich die Liebe entsprechend.“82
Wie im vorigen Kapitel beschrieben, wächst der Wille des Menschen auf der ersten Stufe zu einer Absicht heran, das richtige zu tun. Auf der zweiten ver78
Vgl. MT, S. 29. IH, S. 455; MT, S. 33. 80 Kanz: Buḫārī, Nr. 21327; IH, S. 506; MSW, S. 248. 81 Vgl. MSW, S. 248; IH, S. 406. 82 IH, S. 508. 79
2.1 Das Stufengebilde islām, īmān und iḥsān
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festigt sich diese Gewissheit dann und er beginnt wahrhaftig beispielsweise an die guten Werte der Ethik, Moral (z. B. die Aufrichtigkeit, Mut usw.) zu glauben, das bedeutet, er neigt den göttlichen Wirklichkeiten, die in seinem Innern verborgen liegen, immer stärker zu. Auf der dritten Stufe nun, neigt er ihnen nicht mehr bloß zu, sondern beginnt sie zu lieben, schaut die Essenz der Werte, der Wirklichkeiten und erkennt sie als das, was sie sind. An dieser Stelle beginnen der Mikrokosmos des Menschen und der Makrokosmos zu verschmelzen – symbolisiert durch das Bild der Liebe.83 Die Liebe ist in diesem Sinne spezieller als der Wille. Die göttliche Liebe substantiiert in der akbaritischen Lehre, der Ibn ʿAǧība (wie noch gezeigt werden soll) auch in weiten Teilen anhängt, alle Dinge im Sein (wuǧūd) und verbindet sie miteinander von Ewigkeit her.84 Aus diesem Grund kann auch die Liebe in jeder der drei Stufen (auf unterschiedliche Weise) wahrgenommen werden. Das Prinzip, das der Liebe zugrunde liegt, ist eine „andauernde Neigung mit einem verwunderten Herzen.“85 Auf der ersten Stufe, schreibt Ibn ʿAǧība, zeigt sie sich als äußerlicher Gottesdienst. Auf der Stufe des Glaubens zeigt sie sich als Bedürfnis zur Läuterung. Und auf der dritten Stufe zeigt sie sich dem geläuterten Innern in der Fähigkeit der Anschauung des Geliebten, dem Verursacher aller Beziehung. Oder anders ausgedrückt: Zu Anfang handelt der Mensch, auf dem Weg erlangt er Dankbarkeit und Staunen und schließlich erwacht er aus dem Diesseits und erkennt.86 Im Koran heißt es: „O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott in wahrer Ehrfurcht“ (K 3:102). Ibn ʿAǧība schreibt, dass dieses Aya nur all jene betreffe, die tatsächlich im Innern die Stufe des iḥsān erreicht haben. Nur diese vermögen es, wahre Ehrfurcht aufzubringen. Für all jene, führt er aus, deren Inneres überwiegend mit den Gegenständen der beiden ersten Stufen beschäftigt ist, gilt das Aya: „So fürchtet Gott soviel ihr könnt, und hört, gehorcht und spendet“ (K 64:16).87 Mit der inneren Wachheit (murāqaba), die Ibn ʿAǧība als erste der Wegstationen der dritten Stufe ausmacht, verhält es sich ähnlich wie mit der Liebe – sie ist dem Prinzip der fiṭra (vgl. Koran 30:30 und 7:172), der ursprünglichen Natur des Menschen, nach immer vorhanden, nur aber verdeckt, wenn das Herz mit dem Diesseits beschäftigt ist. Aus diesem Grund besitzen auch Menschen, die sich lediglich mit dem Äußeren beschäftigen, Wachheit, die darin besteht, äußerlich keine Fehler zu begehen. Die Wachheit der Menschen, die sich mit dem Innern beschäftigen, der zweiten Stufe, besteht in der Achtsamkeit keine schlechten 83
Vgl. MT, S. 8.
84 Vgl. SHIF, S. 18–9. Darauf wird in Teil 3 (3.2.2.3) genauer eingegangen. Zur akbarītischen
Lehre des wuǧūd (des Seins oder der Existenz) siehe beispielsweise Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn ʿArabīs, S. 77–80. 85 MT, S. 8. 86 Ebenda. Die Liebe wird in Kapitel 3.2.2.3 eingehend behandelt. 87 BM, Bd. 1, S. 354; BM, Bd. 8, S. 68; IH, S. 567.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Ideen und Unaufmerksamkeiten ins Herz gelangen zu lassen. Die Wachheit der Leute, die sich dem Inneren des Innern, der Seele, zuwenden, besteht schließlich in der Wahrung des Innern davor, sich bei etwas Anderem niederzulassen als bei Gott.88 Durch zunehmende und andauernde Wachheit gelangt der Diener laut Ibn ʿAǧība anschließend in einen Zustand der inneren Anschauung (mušāhada) der göttlichen Wirklichkeiten, da in seinem Herzen Kraft des Lichts der Inneren Schau nichts Geschaffenes und nur das Unvergängliche bleibt, also die wirklichen Bedeutungen der Dinge, die Wirkungsmächte der göttlichen Manifestationen. Die Anschauung geschieht, führt er aus, nicht durch die Augen des Menschen, da diese geschaffen sind. Im Koran heißt es: „Nicht erreichen Ihn die Blicke, aber Er erreicht die Blicke“ (K 6:103). Wohl aber kann Er wahrgenommen werden, durch die Annäherung an Seine Eigenschaften, die untrennbar mit der göttlichen Essenz verbunden sind. Die Trennung, wie sie im Aya 6:103 zum Ausdruck kommt, schreibt Ibn ʿAǧība, mache überhaupt den Weg notwendig.89 Den Weg aus der metaphorischen Blindheit ins lichte Sehen durch die Erkenntnis des Glaubens. Ibn ʿAǧība zitiert zu dem Aya 6:103 zudem al-Ġazālī: „Wenn der Schleier weggenommen wird nach dem Tode, verwandelt sich die Erkenntnis selbst in Anschauung.“90 Ibn ʿAǧība kommentiert, dass alle göttlichen Manifestationen, die der Mensch im Diesseits erkenne, sich im Jenseits unmittelbar in Anschauung umwandeln, da im Jenseits die metaphysischen Dinge (al-maʿnā) über die greifbaren Dinge herrschen, im Gegensatz zum Diesseits, wo das Greifbare überwiege. Das gelte jedoch nur für denjenigen, der das Greifbare des Diesseits in sein Herz hineinlasse.91 Darauf genauer einzugehen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Beschäftigung mit der dritten Ebene aus dem Gabriel-Hadith in Zusammenhang mit der Gotteserkenntnis nach dem Tode gebracht wird, worauf im fünften Teil noch einmal zurückgekommen werden soll. Gelingt es dem Menschen, die göttlichen Manifestationen schon in diesem Leben zu schauen, erlangt er Erkenntnis (maʿrifa), was, so schreibt Ibn ʿAǧība, „das Vermögen zu wahrer Anschauung im Herzen“92 bedeutet und dass die Verwirrung, die in der Anschauung durch überbordende Liebe liegt, reiner Erkenntnis weicht. Wahre Gewissheit, heißt es an anderer Stelle, erreicht dann das Herz des Menschen, er erlangt die dritte Stufe der Gewissheit (ḥaqq al-yaqīn). Darauf weist der Vergleich mit der Stadt hin, wenn es heißt, die erste Stufe bedeute von der Stadt zu wissen, die zweite, sie von außen zu erblicken und die dritte sie zu 88
MT, S. 7. BM, Bd. 2, S. 300. 90 Ebenda, S. 301. 91 Ebenda, S. 301–2. 92 MSW, S. 248. 89
2.2 Der Ursprung der Religion
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betreten und ihre Straßen und Gassen zu kennen.93 Diese Gotteserkenntnis stellt bei Ibn ʿAǧība die höchste Form und letzte Ausprägung der Stufe der Vervollkommnung dar. Sie wird im Laufe der Studie noch öfter gesondert Thema sein und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Wie aus den verschiedenen Abschnitten innerhalb des iḥsān ersichtlich, ist alles, was dort stattfindet, individueller Natur, persönliches Erleben, erfolgt entsprechend der inneren Verfassung des Einzelnen und beschreibt das Verhältnis des Menschen zu Gott. Dementsprechend war die Erkenntnis, als fundamentaler Pfeiler der Religion, Grund für viele Debatten im Kalam. Beispielsweise in der Frage, ob es möglich sei, Gott im Diesseits zu schauen (ruʾiyat Allāh; siehe das Aya K 6:103). Die Ašʿariyya war der Meinung es sei möglich vonseiten des Verstandes, da der Prophet Moses danach fragte und ein Prophet als ein von Gott Erwählter nicht nach etwas Unmöglichem frage. Die Muʿtazila war hingegen der Meinung, dass es unmöglich sei Gott im Diesseits zu schauen, indem sie auf den Wortlaut des Ayas (K 6:103) verwiesen. Ibn ʿAǧība tendiert mit alBayḍāwī (gest. 685/1286) zu der ersten Meinung, dass die Blicke oder das Sehen nicht umfassend und absolut seien und mit den Blicken nicht Erkennen im Allgemeinen gemeint sein könne.94 Die Lesart der Sufis, wie auch von Ibn ʿAǧība, beinhaltet darüber hinaus eine eigene Position zur Erkenntnis, die vornehmlich mit dem Erleben des Menschen zusammenhängt, worauf in Teil 3 und 5 genauer eingegangen wird. Kurz gefasst, kann gesagt werden, Vervollkommnung bedeutet, so schreibt Ibn ʿAǧība an einer Stelle, das Innere, die Absichten und Wünsche, gänzlich auf den Schöpfer auszurichten, weg von den niederen Gelüsten. Oder aber Vervollkommnung bedeutet, von der Methode des Verstandes überzugehen zu der Anschauung im Herzen. Letztendlich beschreibt die Stufe der Vervollkommnung (iḥsān) die Beziehung des Menschen zu Gott, wie es in dem Aya zum Ausdruck kommt: „Und dass bei deinem Herrn das Ende ist“ (K 53:42).95 D. h., Vervollkommnung deutet auf das Ende der Reise, auf die Herzenserkenntnis.
2.2 Der Ursprung der Religion Nach der Vorstellung des Stufengebildes aus dem Gabriel-Hadith, dem übergeordneten Rahmen der Theologie Ibn ʿAǧības, können nun anschließend einige Grundannahmen des Religionsbegriffs aus sufischer Perspektive beleuchtet werden. Während im Kalam etwa die Belege für die Prophetie und den Monotheismus diskutiert werden, wird auf der Ebene des Sufitums nach dem eigentlichen Grund, dem Ursprung für Religion gefragt. Wenn das apologetische E lement 93
Vgl. SD, S. 289. BM, Bd. 2, S. 300. 95 IH, S. 125; vgl. BM, Bd. 7, S. 257. 94
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
des Kalam und allgemein die verstandeslastige Diskussion ausgeklammert wird, stellt sich die Frage nach der Religion im Sinne von Glauben gänzlich anders. Mit anderen Worten: wenn die Apologetik entfällt, kann sich in Ruhe den eigentlichen theologischen Fragen gewidmet werden. Was steht beispielweise hinter dem koranischen Gebot, keine Götzen anzubeten, wenn nicht das historische Zerschlagen derselben im Äußerlichen gemeint ist und die damit einhergehende Doktrin des Einheitsglaubens? Einen ersten Anhaltspunkt zur Ergründung des Ursprungs bietet der Ruf zum Glauben; ein Motiv, das in fast allen Religionen von großer Bedeutung ist. Da Religion auch ein starkes zwischenmenschliches Element beinhaltet, ist es wichtig zu klären, wer auf welche Weise von wem angesprochen ist. Ein bedeutendes Motiv stellt zudem das Auslöschen der Götzen dar, was auf der Ebene des Sufitums den Weg des Menschen zum Einheitsglauben (tawḥīd) des Herzens beschreibt. Das wiederum beschreibt den Kern eines dritten Motivs, das der ḥanīfen, ursprünglichen Religion, die den Menschen auf beste Weise zur Erkenntnis führen soll. Und alle diese Gegenstände können schließlich in der Lehre der Sufis vom Weg zu Gott zusammengefasst werden. Diese Punkte bilden die Unterkapitel dieses Kapitels. 2.2.1 Der Ruf zum Glauben „Sahl ibn ʿAbd Allāh, möge Gott mit ihm zufrieden sein, sagte: ‚Der Ruf ist allgemein und die Leitung speziell.‘ Und er verwies auf die Aussage des Erhabenen: ‚Und Gott ruft zur Stätte des Friedens und leitet recht wen Er will, zum Weg, dem geraden‘“ (K 10:25).96 – Abū Naṣr as-Sarrāǧ –
Der Ursprung der Religion ist ein den Koran und die Sunna durchgehend begleitendes Thema. Ob in den Prophetengeschichten oder dem Lebensweg des Propheten Muḥammad (sīra); die Frage, ob jemand ein Prophet von Gott sei und die Rechtmäßigkeit seines Anspruchs auf den wirklichen Glauben, ist grundlegend: Die Prophetie (nubuwwa) und der Einheitsglaube (tawḥīd), die grundlegenden Themen jeder Diskussion über Theologie, vereinen sich im Ruf zum Glauben. Der Prophet wird im Koran „Rufer zu Gott“ (K 33:45) genannt und die Frage, welche Form von Glauben für welche Person geeignet ist, stellt ein Leitthema im Korpus des Hadith dar; je nach Person antwortet der Prophet Muḥammad unterschiedlich, dem Fragenden entsprechend. Die Fragen im Kontext des Religionsbegriffes lauten nun: Welche Methode soll dabei zur Anwendung kommen, wer ist gerufen und wer ruft wozu? Wie steht Ibn ʿAǧība zu diesem Thema, das in seiner Biographie durchaus eine Rolle spielt? Zunächst zum Ruf selbst. Der Ruf (arab. daʿwa, duʿāʾ, nidāʾ o. ä.) findet sich an vielen Stellen im Koran (vgl. 3:193, 8:24, 14:44, 24:48, 40:12, 71:5) in ver96
Abū Naṣr as-Sarrāǧ, Kitāb al-lumaʿ fī t-taṣawwuf, Leiden: Brill, 1914, S. 74.
2.2 Der Ursprung der Religion
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schiedenen Ausprägungen, auf die hier nicht genauer eingegangen werden muss. Letzten Endes sind sie Unterformen des allgemeinen Rufes; Ibn ʿAǧība meint mit dem Ruf etwas bestimmtes, nämlich die prophetische Aufgabe, die Menschen zur Erkenntnis zu führen, zum Einheitsglauben beziehungsweise sie dazu einzuladen. Die Maxime eines Rufes zum Göttlichen stützt das Werk Ibn ʿAǧības fast durchgängig, vor allem seine Koranexegese Al-baḥr al-madīd fī tafsīr al-qurʾān al-maǧīd.97 Dies drückt sich nicht nur in einer regelmäßig auftauchenden Erwähnung des Themas vom „Ruf “ aus, sondern in seiner Darstellung der Religion insgesamt. So schreibt er zu dem Aya: „Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung und streite mit ihnen auf die schönste Art“ (K 16:125), die Vermittlung der Religion umfasse allgemein alle drei Ebenen des Gabriel-Hadith, da die Menschen sich hinsichtlich ihrer Bedürfnisse unterschieden.98 D. h. er bringt den Ruf in direkte Verbindung mit der Systematik des Gabriel-Hadith. Die Beschreibung von Religion (dīn) ist naturgemäß eng mit dem eigentlichen Grund für das Bestehen der selbigen verknüpft und damit auch mit ihrem Überbringer, dem Propheten. Ibn ʿAǧība erläutert grundlegend, dass die Propheten zu den Menschen gesandt wurden, um sie zum Einheitsglauben (tawḥīd) zu Gott zu rufen (ad-daʿwa ilā Allāh).99 Soweit so allgemein bekannt. Das geschieht in der Lehre der Sufis nun maßgeblich durch göttliche Inspiration, wie aš-Šaʿrānī es ausdrückt, die aus der Gotteserkenntnis beziehungsweise Gottesnähe resultiert, durch die die Propheten fähig sind, jedem einzelnen Menschen individuell sowie der Gemeinschaft in ihren speziellen Umständen zu entsprechen.100 Diese Formulierung aš-Šaʿrānīs ist inhaltlich prinzipiell identisch mit der Ibn ʿAǧības, denn auf diese Weise, führt dieser aus, werden die Menschen auch von den Erben der Propheten, den Gotteskennern, durch Inspiration in der Religion angeleitet.101 Das erinnert an den Punkt, den Ibn ʿAǧība selbst in seiner Autobiographie erwähnt, dass er die Menschen zum (speziellen) Einheitsglauben des Herzens (tawḥīd ḫāṣṣ) rief, zur Gotteserkenntnis, die vollkommenste Form des Glaubens, anders als der Gelehrte Muḥammad ibn Yūsuf as-Sanūsī, der die Menschen zum allgemeinen Einheitsglauben rief.102 Wenn also vom Ruf gesprochen wird, ist bei Ibn ʿAǧība zuallererst das Herz angesprochen. Es kann aus diesem Blickwinkel heraus zuspitzend gefragt 97 Vgl.
BM, Bd. 1, S. 133, 136, 331; Bd. 3, S. 139, 321; Bd. 4, S. 27–8, 267, 365, 423; Bd. 5, S. 310, 282; Bd. 6, S. 360–1, 345; Bd. 7, S. 140, 259, 225; Bd. 8, S. 311; vgl. auch IH, S. 374; FI, S. 67; SSIM, S. 163; Fahrasa, S. 76; STIA, S. 265. 98 BM, Bd. 4, S. 71. 99 BM, Bd. 7, S. 325. 100 Aš-Šaʿrānī, Al-yawāqīt wa l-ǧawāhīr, Bd. 1, S. 299; vgl. BM, Bd. 4, S. 26. 101 BM, Bd. 7, S. 341. 102 Fahrasa, S. 84. Ibn ʿAǧība vergleicht sich dort tatsächlich mit as-Sanūsī, der eher als Mutakallim bekannt ist. Zu dem besonderen Einheitsglauben vgl. auch BM, Bd. 1, S. 34–5; vgl. für as-Sanūsī diesbezüglich Spevack, The Archetypal Scholar, S. 68–71.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
werden, wie es sein kann, dass der Koran zwar an alle Menschen und damit auch an alle Muslime gerichtet ist, viele Stellen aber das Leugnen (kufr) oder den Götzendienst (širk) zum Thema haben – sind diese Stellen irrelevant für die Gläubigen? Ibn ʿAǧība schreibt für die Koranexegese (tafsīr) grundlegend, dass immer, wenn jemand getadelt werde, weil er sich vom Glauben (īmān) abgewandt habe, dies auch für die Ebene der Vervollkommnung, des iḥsān, gelte. Wenn ergo das Leugnen (kufr) etwa getadelt werde, seien auch die Gläubigen angesprochen, die sich von der Vervollkommnung abgewandt haben und ihr Herz vernachlässigen.103 Das bedeutet in der Konsequenz abermals, dass der Ruf sich zunächst vor allem auf das Individuum selbst bezieht und nicht, wie vielleicht angenommen werden könnte, maßgeblich eine Mission angestrebt wird, um andere zu bekehren. Jeder ist gewissermaßen beauftragt sich zuerst selbst einzuladen, zu rufen oder anzusprechen. Erst in einem zweiten Schritt kann der Ruf auch andere betreffen. Das Motiv des Rufes findet sich wie gesagt in vielen Ayas im Koran und in der Sunna auf verschiedene Weise und in verschiedenen Kontexten und beschreibt allgemein das ureigentliche Anliegen in der Religion, die Menschen in einen Zustand der Erkenntnis oder der Liebe zu führen. Wie weit sie auf diesem Weg gelangen, ist laut Ibn ʿAǧība eine andere Frage. Manche beschäftigen sich, schreibt er, ihr Leben lang mit den äußeren Normen (šarīʿa), andere bemühen sich um den Weg zum wahrhaftigen Glauben (ṭarīqa) und wieder andere streben nach wahrer Erkenntnis (ḥaqīqa).104 Die Wege dorthin variieren, das Ziel bleibt dasselbe, fasst Chittick zusammen – Gott beziehungsweise die Wirklichkeit, metaphorisch gesprochen, am Ende des Weges zu finden.105 Die Wege und auch Mittel variieren aus dem Grund, da die Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Während die Normen (aḥkām) den Rahmen darstellen und eine stabilisierende Rolle einnehmen, steht am anderen Ende des Spektrums das Verstehen der Inhalte durch das Herz, worauf die Menschen verschieden ansprechen.106 Das bedeutet, dass auf der Ebene des Sufitums der Diversität Rechnung getragen wird, während die Normen im Äußeren einen Ankerpunkt bilden. Die Religion auf diese Weise darzustellen, erfolgte in der Geschichte der Theologie maßgeblich mit der Interpretation durch das Mittel der išāra, wie es seit der Frühzeit des Islams bei ʿAbd ar-Raḥmān as-Sulamī (gest. 412/1021) der Fall ist.107 Mit išāra ist die sufische Auslegung der Religion gemeint, auf die im Laufe der Studie noch genauer eingegangen wird. Für den Moment reicht es, die išāra mit der Vermittlung von Religion oder dem 103
BM, Bd. 1, S. 102–3. BM, Band 4, S. 70–1. 105 Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 3–8. 106 Vgl. Chodkiewicz, An Ocean Without Shore, S. 35–40. 107 Vgl. etwa Sara Abdel-Latif, „Mystical Qur’anic Exegesis and the Canonization of Early Sufis in Sulamī’s ‚Ḥaqāʾiq al-Tafsīr‘“, The International Journal of Religion & Spirituality in Society, 23 (2016), S. 13–23. Darauf wird im Kapitel zur išāra genauer eingegangen. 104
2.2 Der Ursprung der Religion
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Glauben gleichzusetzen, die das Herz in den Mittelpunkt stellt, als Gegenpol zu einer Interpretation, die um die Normen kreist. Der kleinste Nenner des Rufes, gewissermaßen der Ruf selbst, ist demnach, dass er die Herzen der Menschen durch die Läuterung des Innern auf die göttlichen Lichter vorbereiten soll, in der Sprache Ibn ʿAǧības ausgedrückt, welche die Rechtleitung auf dem Weg zur Folge haben. Der Ruf zum Glauben ist demnach mit der Vermittlung desselben eng verwoben. Ein Rufer weist oder deutet auf etwas hin, lädt zu etwas ein. Das drückt sich bei Ibn ʿAǧība oft in der Beschreibung für den Menschen aus, dem Gotteserkenntnis zuteilwurde, der allen drei Stufen gleichermaßen gerecht wird und der damit in der Lage ist, die Herzen der Menschen zu erreichen, sie zu rufen – wie es der Auftrag der Propheten war. Diese Menschen, die Erben der Propheten in diesem Sinne, werden in der Tradition Ibn ʿAǧības, der Šāḏiliyya, oft auch als jene bezeichnet, die „dich auf Gott [ver-/hin-]weisen“ (yadullūnaka ʿalā Allāh).108 Oder auch als jene, „die zu Gott rufen“ (ad-dāʿīn ilā Allāh).109 Das schlägt sich schließlich in dem von Ibn ʿAǧība oft verwendeten Ausspruch nieder: „Unser Weg ist gänzlich išāra.“110 Die išāra dient ähnlich dem Ruf als Hinweis oder Verweis für den Gläubigen auf die Wirklichkeit und Schönheit hinter dem offensichtlichen Schein der Dinge und stellt so in gewisser Weise den Inbegriff des Rufes dar – metaphorisch ist in gewisser Hinsicht der Ruf ein anderes Bild für den Hinweis (išāra), die Deutung der Dinge aus Perspektive der Vervollkommnung (iḥsān). Wer ist nun gerufen und wer ruft, genauer gesagt, was ist die Methode, die als Richtschnur dient im Spannungsfeld des Sufitums und der Allgemeinheit beziehungsweise den Gelehrten, die, wie im biographischen Teil dieser Studie zu sehen war, der Herzenserkenntnis nicht auf dieselbe Weise Vorzug einräumen? Wer fähig ist, die Herzen der Menschen zu erreichen, die Rolle des Gotteskenners, dessen, der das prophetische Erbe weiterträgt, wird im Teil über die išāra (4.3) genauer behandelt sowie im folgenden Teil zu den Grundlagen des Sufitums (3.1). Zur Frage, wie gerufen werden soll, haben sich dazu in der Geschichte des Sufitums verschiedene Schulen entwickelt. Einen ersten Anhaltspunkt für die Schule Ibn ʿAǧības liefert die Geschichte in seiner Biographie, als sich die Sufi-Bewegung der Darqāwiyya-Šāḏiliyya zügig im Land verbreitete, bis schließlich eine gesellschaftliche Bewegung daraus entstand.111 In seiner Autobiographie berichtet Ibn ʿAǧība von den Städten, Stämmen und Dörfern, die er und seine Gefolgschaft besuchten und wie viele Menschen sich dem Wege der Sufis verschrieben.112 Dies hatte durch die komplizierten gesellschaftlichen Um108
BM, Bd. 5, S. 266; vgl. IH, S. 374; FI, S. 67. BM, Bd. 7, S. 23. 110 SBMS, S. 310. 111 Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 213. 112 Fahrasa, S. 49–52. 109
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stände zur Folge, dass er und seine Anhänger nicht bei allen Menschen im Land beliebt waren. Schließlich kam es zu dem erwähnten Zwischenfall, während dessen Ibn ʿAǧība in Konflikt mit einigen Würdenträgern geriet. Relevant hinsichtlich des Rufes ist, dass Ibn ʿAǧība die Schilderung der Ereignisse mit der Erwähnung beginnt, der Weg der Sufis und das Gottesgedenken habe sich im Land verbreitet. Und im Laufe dieser Schilderung erzählt er, dass inmitten der Wirren während der Begebenheit um den Gefängnissaufenthalt einer seiner Widersacher die Gelehrten und Edlen versammelte und ihn und seine Anhänger anschließend freilassen wollte, unter der Bedingung, dass er vom „Wege Gottes abrückt,“113 wozu er sie zur Not auch zwingen wollte. Ibn ʿAǧība verwendet dabei in seiner Darstellung die Begriffe vom „Weg, der in Erscheinung tritt“ (ẓahara aṭ-ṭarīq) und vom „Gottesgedenken“ (ḏikr Allāh),114 das sich verbreitet. Diese Begriffe sind die konkreten Entsprechungen zum abstrakten Ruf zum Glauben und dessen Umsetzung. Wenn jemand den Weg der Sufis beschreitet, bedeutet das, dass er ihrem Ruf Folge leistet und sich des Mittels des Gottesgedenkens bedient, um auf diesem Weg voran zu schreiten.115 Der Ruf bleibt also nicht auf einer abstrakten Ebene verhangen, sondern Ibn ʿAǧība intendierte damit durchaus etwas sehr Konkretes. Dass der Weg der Sufis in Form der Schule Ibn ʿAǧības „in Erscheinung tritt“, hängt mit der Interpretation zusammen, das Sufitum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das geschah zum einen durch das Auftreten der Darqāwīs, ihre Kleidung und das laute Gottesgedenken, das traditionell in Marokko bekannt war, wie im Kapitel zur Šāḏiliyya noch gezeigt werden soll. Zum anderen war der Wille, an die Öffentlichkeit zu gehen, kein Geheimnis; wie im biographischen Teil erwähnt, war es Teil des Weges für Ibn ʿAǧība, zum Sufitum einzuladen oder zu rufen. Dementsprechend bedarf der Ruf auch einer theoretisch-theologischen Rechtfertigung. Grundlegend schreibt er, dass das Verschweigen von Wissen falsch sei, wenn der nach Wissen Gefragte die innerlichen Bedingungen erfülle, die an Läuterung und Einverständnis des Meisters gebunden sind. Erfüllt der Gefragte die Bedingungen, wird er fähig den Menschen die Hinweise und Bedeutungen der Religion zu lehren. Dafür benötigt er keine besonderen Fähigkeiten der Sprache, vielmehr bezieht sich seine Fähigkeit darauf, ob er die tieferen Bedeutungen auszudrücken vermag – den Menschen Hinweise auf das Göttliche zu geben beziehungsweise ihre Herzen zu wecken.116 Damit wird er zu einem, der die Menschen zu Gott rufen kann, der es vermag, die Menschen auf die Weise anzusprechen, die der Situation angemessen ist, der versteht, welche Ebene – ob die Stufe islām, īmān oder iḥsān – gerade vermittelt werden soll. 113
Ebenda, S. 59; vgl. Michon, Le Soufi, S. 51–7. Fahrasa, S. 59. 115 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 273–80. 116 Vgl. IH, S. 403. 114
2.2 Der Ursprung der Religion
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Ibn ʿAǧība beschreibt, das Präsentieren und Verschweigen des Wissens (vgl. auch K 2:159 und 3:187) unterteile sich in drei Bereiche. 1. das Wissen, über das pflichtgemäß nicht geschwiegen werden dürfe. Das sei das Wissen von der Scharia. 2. Das Wissen über die tiefen inneren Wirklichkeiten der Herrlichkeit und Einheit. Dieses dürfe nur unter bestimmten Bedingungen weitergegeben werden, ansonsten müsse darüber geschwiegen werden. 3. Das Wissen, über das geschwiegen werden solle, jedoch nicht müsse. Dies stelle die verborgenen Dinge dar.117 Diese Darstellung entspricht abermals den Ebenen des Gabriel-Hadith. In gewisser Weise widerspricht diese Einteilung jedoch der oben genannten Aussage, dass das Wissen über die inneren Dinge besser geeignet ist, die Menschen zum Glauben zu rufen, da nicht über die inneren Angelegenheiten geschwiegen und gleichzeitig durch sie gerufen werden kann! Um diesen Widerspruch aufzulösen, bedarf es einer genaueren Betrachtung der Schule der Sufis im Umgang mit ihrer Lehre den Menschen im Allgemeinen gegenüber. Ibn ʿAǧība diskutiert das Thema, dass die Sufis bezüglich des Sprechens über die inneren Angelegenheiten unterschiedlicher Meinung sind, in seinem Werk „Die göttlichen Eröffnungen“ (Al-futūḥāt al-ilāhiyya). Eine Schule betont, dass das Wissen über die inneren Wirklichkeiten (ḥaqāʾiq) nur im Kreise von Menschen besprochen werden solle, die entsprechende Bedingungen erfüllen und ergo fähig seien, die Worte der Sufis richtig zu verstehen, etwa durch die Bindung an einen Meister, durch Vertrauen oder die Kenntnis der Fachbegriffe der Sufis. Diese Schule weist er Abū l-Ḥasan an-Nūrī (gest. 295/908) zu.118 Die andere Schule bezieht sich auf Abū l-Qāsim al-Ǧunayd (gest. 297/910), der der Meinung war, es könne jeder von dem Wissen der Sufis erfahren, da es geschützt davor sei, jemanden zu erreichen, der nicht fähig sei, zu verstehen.119 Al-Ǧunayd wurde gefragt: „‚Wie viele von der Allgemeinheit rufst du zu Gott, wenn du vor ihnen stehst?‘ Er antwortete: ‚Ich rufe aber doch die Allgemeinheit, während ich vor Gott, dem Erhabenen, stehe.‘“120 Ibn ʿAǧība kommentiert das mit den Worten, al-Ǧunayd meine, er rufe die bei ihm anwesende Allgemeinheit entsprechend den Erscheinungen der Wirklichkeit im Angesicht Gottes.121 Das bedeutet einfacher ausgedrückt, dass zwar zur Vorsicht geraten sei im Umgang mit der Präsentation von den tieferen Bedeutungen der Dinge, dies jedoch zusätzlich von der inneren Situation des Sprechenden abhängig ist. Anschließend nennt er das Beispiel von dem Meister seines Meisters ʿAlī al-Ǧamal, der sich an die Schule al-Ǧunayds hielt. Deswegen sprächen die Leute von Fès auch über die inneren Wirklichkeiten, selbst wenn sie selbst keinerlei Erfahrung damit hätten. Allgemein werde sich jedoch an die Schule des an-Nūrī gehalten, schreibt er 117
BM, Bd. 1, S. 156. FI, S. 33–4. 119 Vgl. IH, S. 405–6. 120 FI, S. 33. 121 Ebenda, S. 33–4. 118
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
weiter, was bedeutet, man solle sich in dieser Sache an die Spezialisten halten, an die Meister der Sufis.122 Zusammenfassend kann zur Methode gesagt werden, dass jene, welche die Menschen in der Religion im Glauben unterrichten, es auf eine Weise tun sollen, durch die die Menschen fähig sind, zu begreifen. Denn die Menschen unterscheiden sich und befinden sich auf verschiedenen Stufen hinsichtlich ihrer seelischen Verfassung. Ibn ʿAǧība nennt dazu das Hadith: „Sprecht zu den Menschen entsprechend ihrer Fähigkeit, zu verstehen (qadra ʿuqūlihim).“123 Unter bestimmten Umständen, wenn etwa keine Zeit verbleibe, schreibt Ibn ʿAǧība an einer Stelle, oder in einer großen Versammlung, werde die theoretische Trennung aufgehoben, die besagt, dass manche mehr und manche weniger fähig seien, zu verstehen. In diesem Fall nehme jede Seele, was sie brauche, nach dem Vers: „So wusste jeder, wo für ihn zu trinken [seine Quelle ist]“ (K 2:60).124 Der Ruf zum Glauben darf folglich einerseits nicht zurückgehalten werden, wenn es möglich ist, über die inneren Wirklichkeiten zu sprechen. Andererseits ist es von entscheidender Bedeutung, die Menschen ihrer Fähigkeit nach zu verstehen und anzusprechen. Denn wenn etwa jemand mit einer inneren Wirklichkeit konfrontiert wird, schreibt Ibn ʿAǧība, die er nicht tragen kann, da der Rufende den Zustand des Gerufenen nicht berücksichtigt, „entblößt er damit die herrlichen, inneren Wirklichkeiten,“125 was dem Gegenstand nicht angemessen sei. Der Vermittler gibt, bildlich gesprochen, Geheimnisse an einen Außenstehenden preis. Ein seltener Fall ist es, wenn jemanden das göttliche Wissen überkommt und er es aufgrund seines inneren Zustands, der Verwirrung in der Anschauung der Schönheit, nicht zurückhalten könne. Dieser sei entschuldigt, da er nicht Herr seiner inneren Verfassung ist.126 Das betrifft Fälle wie den des al‑Ḥusayn ibn Manṣūr al-Ḥallāǧ (gest. 309/922), der Zeit seines Lebens von seinen inneren Zuständen bestimmt war und dadurch zu Aussagen gebracht wurde, die der Allgemeinheit aufgestoßen sind. Darauf muss an anderer Stelle eingegangen werden. Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der inneren Bedeutungen kann laut Ibn ʿAǧība das Missverstehen der Menschen sein, also die Falschinterpretation der Aussagen der Sufis. Da die inneren Zustände und Erfahrungen nur bedingt in Sprache gefasst werden können, bedienen sich die Sufis insbesondere der Metapher, mag es der Wein sein, die romantische Liebe zwischen Mann und Frau, das Verschmelzen mit dem Geliebten oder schlicht die Reise zu Gott. Da 122 Ebenda.
123 IH, S. 405; dieses Hadith wurde in verschiedenen Wortlauten überliefert. Beispielsweise im Ṣaḥīḥ al-Buḫārī: „Sprecht zu den Menschen, sodass sie verstehen.“ Vgl. Ismāʿīl al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ wa muzīl al-ilbās ʿammā ištahara min al-aḥādīṯ ʿalā alsinat an-nās, 2 Bde., Hg. Muḥammad al-Ḫālidī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2009, Bd. 1, S. 177–8. 124 IH, S. 405–6. 125 Ebenda, S. 406. 126 Ebenda.
2.2 Der Ursprung der Religion
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diese Bilder mitunter falsch verstanden werden, waren die Sufis nicht selten Verleumdungen ausgesetzt, was zu einer gewissen Vorsicht führte.127 Beleidigungen oder Missgunst ausgesetzt zu sein, wie etwa die Episode des Gefängnisaufenthalts Ibn ʿAǧības zeigt, ist mit dem Ruf eng verbunden und resultiert aus Perspektive der Sufis maßgeblich aus dem Missverstehen der Menschen. Das Aya: „Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung und streite mit ihnen auf die schönste Art“ (K 16:125) offenbart in komprimierter Form verschiedene Arten der Kommunikation mit den Menschen, um besagten Schwierigkeiten entgegen treten zu können. Ibn ʿAǧība beschreibt in der išāra dazu, die Elemente stellten verschiedene Arten des Rufes dar, welche die drei Teile des Ayas verwenden; die Weisheit, die schöne Ermahnung und das Streiten auf die schönste Art. Mit Weisheit zu rufen, sei für all jene, die Liebe und Vertrauenswürdigkeit zeigen. Der Ruf durch schöne Ermahnung sei für diejenigen, die mit dem Weg hadern, dass in ihnen die Sehnsucht erweckt werde. Der Ruf durch das Streiten auf schönste Art betreffe all jene, die den Weg leugnen und die tatsächlicher Erinnerung bedürfen, dass ihnen der Weg des Herzens verdeutlicht und der Vorzug der inneren Lehren aufgezeigt werde.128 Wozu wird also gerufen? Prinzipiell kann auch zu den äußeren Normen (aḥkām) gerufen werden, da der Ruf alle drei Ebenen des Gabriel-Hadith einschließt. Über die schariatischen Normen unter bestimmten Umständen zu schweigen, ist laut Ibn ʿAǧība, wie oben erwähnt, sogar ausdrücklich falsch. Wenn jemand allerdings zu den Normen ohne Kenntnis der anderen Ebenen einlädt, ist dies, wie er an anderer Stelle schreibt, jedoch weit weniger wirksam.129 Zusammenfassend sind laut Ibn ʿAǧība alle Menschen zum Einheitsglauben gerufen, wobei der Ruf im besten Fall das Herz erreichen soll. Das ist an Bedingungen geknüpft, da die Menschen sich unterscheiden. So soll der Rufer alle Ebenen berücksichtigen, um die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Der Ruf ist gewissermaßen allgemein und umfasst dann zunächst die erste Ebene des Gabriel-Hadith, da dies für alle Menschen gilt. Aber: je fähiger die Zuhörer, desto mehr der inneren Bedeutungen kann vermittelt werden.130 2.2.2 Einheitsglaube (tawḥīd) und die Läuterung von den verborgenen Götzen Was jedoch führt zur Notwendigkeit des Rufes? Im vorigen Kapitel konnte gesehen werden, dass die Menschen zur Erkenntnis gerufen sind und sich hinsichtlich ihrer Antwort unterscheiden. Es besteht demnach ein Attribut, das sie voneinander differenziert. Dieses ist schon verschiedentlich angeklungen und meint die Fähigkeit des Menschen, sein Inneres auf Gott allein auszurichten, 127
Vgl. SNS, S. 72. BM, Bd. 4, S. 70–1 sowie S. 119. 129 BM, Bd. 3, S. 136. 130 Vgl. BM, Bd. 7, S. 225. 128
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
den Einheitsglauben (tawḥīd). Wie interpretiert Ibn ʿAǧība diesen Grundpfeiler der Religion? Die Antwort liegt, kurz gefasst, in dem im Koran durchgängigen Thema der Befreiung vom üblen Beigesellen der Götzen neben den Einen Gott (širk) durch die Kraft des Einheitsglaubens (tawḥīd). Ibn ʿAǧība definiert für den Einheitsglauben (tawḥīd) Folgendes: Der Einheitsglaube besteht aus zweien. Der eine ist der Einheitsglaube, der durch die Methode der Erbringung von Belegen durch den Verstand erlangt wird, indem die Alleinheit Gottes gezeigt wird, anhand etwa der Eigenschaften und dem Wesen Gottes. Das ist der Einheitsglaube, wie er im Kalam zum Vorschein kommt (tawḥīd al-burhān). Der zweite ist der Einheitsglaube, der durch die Erfahrung auf dem Wege der Sufis erlangt wird. Über diese Art des Glaubens sagte al-Ǧunayd: „Das Wasser nimmt die Farbe seines Gefäßes an.“131 Das bedeutet, je reiner das Herz, symbolisiert durch das Gefäß, desto strahlender die göttlichen Lichter darin – desto mehr steigt die Gewissheit des Menschen über die Unvergleichbarkeit Gottes. Gemäß einem arabischen Sprichwort, dass die Dinge durch ihr Gegenteil erkannt werden können, steht das Beigesellen im krassen Widerspruch zu dem Grundsatz des Einheitsglaubens, wie Murata und Chittick es ausdrücken. Der Einheitsglaube führe den Menschen zur Blüte seines Menschseins, das Beigesellen ins Verderben. Im Koran werde das Wort „Beigesellen“ (širk) 75 Mal verwendet. Etwa: „Dient Gott und stellt nichts neben Ihn!“ (K 4:36). Und: „Nicht stelle Anderes neben Gott! Wahrlich, neben Ihn Anderes zu stellen, ist eine Übeltat, eine gewaltige“ (K 31:13). Und: „Sag: ‚Mir ist geboten, dass ich diene Gott und nicht Anderes neben Ihn stelle‘“ (K 13:36). Das Beigesellen führe dazu, schreiben sie, dass der Mensch sich von der göttlichen Natur entferne, die der Seele zugrunde liege, denn es verdunkele die Schau des Herzens. Der Prophet Muḥammad sagte in diesem Sinne: „Das Schlimmste, das ich für meine Gemeinde befürchte, ist das Beigesellen. Ich meine damit nicht, dass sie die Sonne, den Mond oder Götzen anbeten werden. Ich meine, dass sie Werke verrichten für etwas anderes als Gott, mit einer verborgenen Begierde.“132 Das führt zu dem bekannten Thema der Sufis, das Beigesellen in ein offensichtliches, großes Beigesellen (širk ǧalī oder širk akbar) und ein verborgenes, kleines Beigesellen (širk ḫafī oder širk aṣġar) aufzuschlüsseln. Ibn ʿAǧība: „Beigesellen ist zweierlei Art: Offensichtlich und verborgen. Das offensichtliche ist die Anbetung der Götzen und das verborgene ist, zu wähnen, die Ereignisse entstammten von den Menschen. Das bedeutet, dass du glaubst, ein Geschehnis im Sein entstamme von den Menschen. Es heißt, Beigesellen ist das Fürwahrhalten eines Nebels, wenn die Quelle sichtbar ist.“133 131
MT, S. 30–1. Murata und Chittick, The Vision of Islam, S. 51; für das Hadith vgl. Kanz: Aḥmad, Ṭabarānī, al-Ḥākim, Abū Nuʿaym, al-Bayhaqī, Nr. 7505. 133 BM, Bd. 5, S. 388. 132
2.2 Der Ursprung der Religion
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Während das offensichtliche Beigesellen verschwunden ist – die Götzen der Araber im Äußeren – ist das verborgene Beigesellen der Menschen geblieben. Die Ayas des Korans sind auf der Ebene des Sufitums, anders als mitunter im Fiqh und Kalam, in ihrer Bedeutung nicht begrenzt oder eingeschränkt, sondern zu allen Zeiten offen für Interpretation. Die Auslöschung des Beigesellens steht für Ibn ʿAǧība dementsprechend dafür, dass der Mensch sein Inneres auf Gott ausrichtet und nicht auf die sekundären Ursachen, wie sie äußerlich in Form der Menschen etwa erscheinen. Hält der Mensch einen äußeren Umstand beispielsweise für die Ursache einer Wirkung, hält er diesen gewissermaßen für einen wirkungsmächtigen Götzen, der ihm dann Gott ähnlich erscheint (mā siwā Allāh).134 Dazu schreibt schon Abū l-Ḥasan aš-Šuštarī (gest. 668/1269), dass die Ablehnung aller Dinge, die dem Menschen Gott ähnlich erscheinen, allgemein nach dem monotheistischen Prinzip Pflicht (farḍ) sei. Denn das Ziel sei, die Konzentration auf die inneren Bedeutungen zu lenken und nicht in der äußeren Form zu verhaften. Dies sei die Grundlage der ḥanīfen Religion nach dem Propheten Abraham.135 „Offensichtlich“ bedeutet allgemein ausgedrückt, wie Ibn ʿAǧība an anderer Stelle beschreibt, nicht lediglich das Aufstellen von Götzenfiguren, sondern auch die Überzeugung, dass eine andere Wirkungskraft neben Gott, dem Verursacher aller Ursachen, unabhängig bestehe (also gewissermaßen ein „Zweigötterglaube“). Wer dergleichen glaube, verlasse den Einheitsglauben, auch durch Konsens der Gelehrten. Das verborgene Beigesellen hingegen sei die im Innern verborgene Neigung, sich den Geschöpfen zuzuwenden anstatt dem Schöpfer. Wie etwa, wenn jemand gefragt werde, wem er sein Glück zu verdanken habe und er antwortet „Gott“, jedoch sein Herz in den allermeisten Fällen zuerst darauf schaue, was die Menschen zu der Angelegenheit sagen, bevor er sich seines Schöpfers erinnere.136 Ibn ʿArabī beschreibt es an einer Stelle so, dass das offensichtliche Beigesellen gewissermaßen die Herstellung eines Schöpfers (Götzen) durch ein Werkzeug sei, während das verborgene Beigesellen die Bezugnahme auf das Werkzeug dafür darstellt.137 Um diesen Punkt noch zu verdeutlichen: Im Koran heißt es zur Anrufung der Götzen: „Und es wird gesagt: ‚Ruft an eure neben Gott Gestellten!‘ Und sie werden sie anrufen, aber sie werden ihnen nicht antworten. Und sie sehen die Strafe. Hätten sie sich rechtleiten lassen“ (K 28:64). Dem heutigen Rezipienten mag dieses Aya inhaltlich vielleicht als nicht besonders relevant erscheinen, möglicherweise als Hinweis auf die Kultur vergangener Tage, da die Götzen, 134
SNS, S. 81. SNS, S. 81; Ibn Layūn at-Tuǧībī, Al-ināla al-ʿalamiyya fī r-risāla al-ʿilmiyya fī ṭarīq
135 Vgl.
al-mutaǧarridīn min at-taṣawwuf, Hg. Muḥammad al-ʿAdlūnī, Casablanca: Dār aṯ-Ṯaqāfa, 2004, S. 157–9. Das Werk ist eine Zusammenfassung aš-Šuštarīs Ar-risāla al-ʿilmiyya. 136 IH, S. 562. 137 Ibn ʿArabī, Al-futūḥāt al-Makkiyya, Bd. 8, S. 221.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
wie sie die damaligen Mekkaner anbeteten, heute nicht mehr bestehen. Eine bestimmte Rolle spielt es natürlich für den Kalam, die Sprachwissenschaft und rituell für die Rezitation. Auf der inneren Ebene jedoch, als išāra, ist dieses Aya sowie die vielen vergleichbaren Ayas von größter Wichtigkeit für das Verstehen, da sie auf die Hindernisse verweisen, die dem Menschen auf seinem Weg zur Erkenntnis entgegentreten. Denn tatsächlich rufe der Mensch die Gegenstände seines Begehrens an, schreibt Ibn ʿAǧība, beziehungsweise die eitlen Genüsse des Diesseits, wenn er sein Herz auf den äußeren Schein ausrichte. Er bete dann zur Leidenschaft seines Egos und glaube, daraus Stärke zu ziehen, wenn er aber geprüft werde, sehe er, dass diese Götzen nicht verlässlich seien und ihn der Verlust schmerze.138 Die Maxime des Einheitsglaubens ist sehr weit gefasst, da sie alle menschlichen Handlungen auf die ein oder andere Weise subsumiert. Beispielsweise warnt Ibn ʿAǧība davor, sich über die eigenen guten Werke auf falsche Weise zu freuen. Wer glaube, dass er selbst etwas hervorbringen könne, der geselle seinem Herrn etwas bei, der hege die falsche Absicht. Im Koran heißt es: „Und wer sich abmüht – er müht sich ab für seine eigene Seele. Wahrlich, Gott ist nicht angewiesen auf die Welten“ (K 29:6). Wahre Freude, im Gegensatz zur falschen, finde sich, wenn das Herz die wirklichen Ursachen der Dinge schaue: „Sag: ‚Über die Gnadengabe Gottes und über Seine Barmherzigkeit, darüber sollen sie sich freuen‘“ (K 10:58). Die „Gnadengabe Gottes“ meint hier laut Ibn ʿAǧība etwa die Rechtleitung in der Religion und die Freude über „Seine Barmherzigkeit“, die Einsicht, dass alles auf Gott und Seine Barmherzigkeit zurückgehe.139 Sich vom Beigesellen abzuwenden wird im Sufitum auch mit der Läuterung oder Reinigung beschrieben. Der zu reinigende Gegenstand ist das Herz, das von der Liebe zu scheinbaren Wirklichkeiten befallen werden kann – der Liebe zu etwas, was Gott vielleicht ähnlich erscheint (mā siwā Allāh), aber nicht Er ist. Ibn ʿAǧība nennt dazu das ebenfalls bekannte Gleichnis der Sufis, die im Koran erwähnte Aufforderung Gottes an den Propheten Abraham, Sein Haus für die Wallfahrer zu reinigen: „Und reinige Mein Haus für die Umkreisenden“ (K 22:26). Das Haus Gottes ist die Kaʿba, die symbolisch für das Herz steht. Ebenso wie sie von den Götzen gereinigt werden soll, soll der Gläubige sein Herz von den Dingen läutern, die ihn von der reinen Anbetung Gottes abhalten, auf dass die göttlichen Lichter bei ihm Einzug halten, die da die Umkreisenden, die Wallfahrer darstellen.140 Das Beigesellen ist prinzipiell die Übertretung einer Grenze; eine Übertretung, die der Natur der Seele des Menschen nicht entspricht. Der Grund 138
BM, Bd. 5, S. 296–7. IH, S. 153. 140 IH, S. 437; BM, Bd. 4, S. 417. 139
2.2 Der Ursprung der Religion
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dafür ist, schreibt Ibn ʿAǧība, dass die Realität der inneren Welt nicht verändert werden könne. Glaubt der Diener beispielsweise, führt er aus, er besitze tatsächlich Macht, vergisst er, dass Macht ihm nur auf Zeit und unter Umständen gegeben wird. Spätestens mit dem Tod endet diese. Zu glauben, sie sei von Dauer, bedeutet, den Ursprung der Macht zu leugnen und sich selbst damit zu schmücken, was das Gegenteil von Gottesdienstbarkeit darstellt.141 Chittick führt diesen Gedanken auf folgende Weise aus: Der Diener wird immer Diener und der Herr immer Herr bleiben, mag der Mensch sich noch so sehr dagegen auflehnen. Diese natürliche Grenze kann unmöglich gewahrt und gewürdigt werden, wenn der Diener glaubt er besitze die Eigenschaften des Herrn. Das ist der Fall, wenn den Menschen die negativen Eigenschaften befallen wie etwa Arroganz oder die Gier nach Macht und er vollkommen von seiner eigenen Stärke und Macht überzeugt ist. Denn die Arroganz ist eine Form der Erhabenheit und Majestät, die letztendlich nur Gott allein zusteht. Die Grenzüberschreitung des Beigesellens korrumpiert den Einheitsglauben (tawḥīd).142 Das Beigesellen bedeutet gewissermaßen, dass der Mensch sich von seiner ursprünglichen Natur entfernt. Ein weithin bekanntes Beispiel in der Theologie dafür ist ein Ertrinkender, der in der Not nach Gott ruft, Er möge ihn erretten. Denn in Not wird den Menschen ihre Begrenztheit und Verletzlichkeit unmittelbar bewusst. Befindet er sich nicht in Not, hält ihn sein verborgenes Beigesellen vom Erkennen der Wahrheit ab. In der Lehre der Sufis erinnert sich die Seele an ihren göttlichen Ursprung und ist grundsätzlich auf den Einheitsglauben ausgerichtet und wird nur vom Diesseits verblendet. Diese Argumentation geht auf das Konzept der wahren, ursprünglichen Natur des Menschen zurück, die fiṭra. Demzufolge befand sich die Seele ursprünglich in einem absolut reinen Zustand vor Gott, wie es im Koran zum Ausdruck kommt: „‚Bin ich nicht euer Herr?‘ Sie sagten: ‚Ja‘“ (K 7:172). Dieser Dialog fand statt, bevor die Seelen in ihre menschliche Form auf die Erde gesandt wurden und sie alle die Einheit Gottes (tawḥīd) bezeugten.143 Die Aufgabe im Diesseits besteht nun darin, die verschiedenen Formen von Götzen zu überwinden. Dabei ist „die Leidenschaft die subtilste Form von Götzen, während die dichteste Form der Stein darstellt“144 wie Ibn ʿArabī es auch ausdrückt. Die Seele befindet sich also im Zustand des Einheitsglaubens, der wiederum den Menschen prägen soll. Im Koran lautet es zur Natur des Menschen: „So richte dein Angesicht auf die Religion im reinen Glauben (li-d-dīn ḥanīfan), getreu der Natur (fiṭra), in welcher erschaffen Gott die Menschen“ (K 30:30). Ibn ʿAǧība kommentiert, dass diese Natur sich durch Erkenntnis und Anschauung Gottes auszeichne, da die Seelen eigentlich allesamt Gott erkennen. Die Gelüste 141
IH, S. 297. The Sufi Path of Knowledge, S. 312–3. 143 Vgl. IH, S. 533, 379; BM, Bd. 2, S. 426–7; aš-Šaʿrānī, Al-yawāqīt wa l-ǧawāhīr, S. 55–61. 144 Zitiert nach aš-Šaʿrānī, Al-yawāqīt wa l-ǧawāhīr, S. 37–40. 142 Chittick,
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
und das Streben nach diesseitigen Gütern jedoch lasse sie diese Fähigkeit vergessen.145 Vor diesem Hintergrund sind, wie aš-Šaʿrānī anführt, aus der Perspektive des Sufitums die Normen, beziehungsweise die Beauftragung (taklīf ) und allgemein die gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) zu verstehen. Alle Normen, ob die Normen des Fiqh oder des Kalam, ob innerlich oder äußerlich, haben zum Zweck, den Menschen zu seiner wahren Natur zurück zu führen beziehungsweise sie ihm zu erhalten.146 Ibn ʿAǧība erwähnt an einer Stelle die Aussage des ʿAlī al-Ǧamal: „Die Menschen schauen allesamt, aber sie wissen es nicht.“147 Das bedeutet, dass die Menschen potentiell alle fähig sind Gott zu erkennen, es aber durch ihre Anhaftung an das Diesseits nicht vermögen – sie müssen zuerst den Weg zum eigenen Herzen zurücklegen.148 Das kommt auch zum Ausdruck, wenn Gott über den Menschen sagt: „Und Wir sind ihm näher als die Halsschlagader“ (K 50:16). Dass Gott dem Menschen näher ist als seine eigene Halsschlagader, deutet laut Ibn ʿAǧība auf die Anschauung durch das Herz, die aufgrund des Einheitsglaubens im Herzen möglich wird. Diese ist Ergebnis des Weges zu Gott, während die Nähe der Allmacht Gottes zum Menschen dauernd besteht, ob er erkennt oder nicht.149 Die volle Latenz der menschlichen Fähigkeit zur Erkenntnis kommt schließlich, wie Ibn ʿAǧība ausführt, im Aya zur Geltung: „Er lehrte Adam die Namen allesamt“ (K 2:31), komplementiert durch das Hadith: „Wahrlich, Gott schuf Adam nach Seinem Bilde.“150 Denn, „die menschliche Statur wurde von Gott als herrliches Muster geschaffen, das Seinen Eigenschaften gleicht, den Eigenschaften des Barmherzigen. Er gab ihm Kraft, Wille, Wissen, Leben, Hören, Sehen und Sprechen.“151 Auf die Namen und Fähigkeiten, die Gott dem Menschen verleiht, wird in späteren Kapiteln genauer eingegangen. Von Bedeutung ist an dieser Stelle die ureigentliche Potenz des Menschen, die durch das verborgene Beigesellen verdeckt wird. Was die Menschen von der Erkenntnis abhält, sind die Neigungen des Egos, wie die Liebe zum Diesseits, was sich etwa im Streben nach Macht und Ansehen kanalisiert. Löst der Mensch sich von diesen, schreibt Ibn ʿAǧība und schmückt sich mit den beseelten Eigenschaften, wie Zurückhaltung, Demut, Feinsinn, Seelenruhe, Freigebigkeit und Askese, öffnet sich ihm der Zugang zu den Schätzen der Erkenntnis. In den Weisheiten as-Sakandarīs lautet es, führt er dazu an: „Löse dich von den Eigenschaften deines Menschseins, von allen 145
BM, Bd. 5, S. 364. Al-yawāqīt wa l-ǧawāhīr, S. 221–8. 147 IH, S. 456. 148 Vgl. ebenda. 149 BM, Bd. 7, S. 194–5. 150 Kanz: Buḫārī, Muslim, Aḥmad, Nr. 15129. 151 TW, S. 80; vgl. BM, Bd. 1, S. 63. 146 Aš-Šaʿrānī,
2.2 Der Ursprung der Religion
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Eigenschaften, die deiner Dienerschaft widersprechen, sodass du dem Ruf der Wirklichkeit antwortest und dich Seiner Anwesenheit näherst.“152 Und weiter: „Die Wirklichkeit ist nicht verschleiert vor dir, vielmehr bist du verschleiert vor ihrer Anschauung.“153 Anders ausgedrückt bedeutet dies; wer seine negativen menschlichen Eigenschaften überwindet und zu seiner ursprünglichen Natur zurückkehrt, der wird die Wirklichkeit schauen. Die Wirklichkeit verbirgt sich nicht, sondern der Mensch verbirgt sie vor sich selbst durch seine ungeläuterte Menschlichkeit.154 Der Ruf zur Gotteserkenntnis, wie im Kapitel zuvor behandelt, ist die Stimme, die den Menschen leitet und einlädt. Er ist gerufen, das verborgene Beigesellen zu überwinden und zum Einheitsglauben durchzudringen. Daran anschließend stellt sich die Frage, wie der Ruf erkannt wird, beziehungsweise wie der Mensch sich auf dem Weg zum Einheitsglauben zurechtfindet? Prinzipiell ist die Lehre der Sufis gänzlich darauf ausgerichtet – dem Herzen eine Richtschnur zu geben. Der Ursprung der Religion ist die Hinführung des Menschen zur Erkenntnis, die bereits in ihm schlummert: dass alle Dinge letzten Endes von Gott stammen. Doch bevor genauer auf den Weg der Sufis eingegangen wird, lohnt es sich, das Thema der ursprünglichen, der ḥanīfen Religion (dīn) einmal genauer in Augenschein zu nehmen, da darin die bisher aufgegriffenen Punkte zum Ursprung der Religion zusammenkommen. 2.2.3 Die ḥanīfe Religion und der Terminus Religion (dīn) „Kapitel: ‚Die Religion ist Leichtigkeit.‘ Der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte: ‚Die Gott liebste Religion ist die ḥanīfe, wahrhaftige Religion.‘“155 – Aus dem Ṣaḥīḥ al-Buḫārī –
Während der Ursprung der Religion allgemein im Ruf zu Gott zu finden ist und zusammen mit dem Einheitsglauben, der Auslöschung der Götzen, einen sehr weiten Rahmen des Religionsverständnisses bildet, kommt mit dem Aspekt der ḥanīfen Religion (dīn) ein strukturierendes Element hinzu. Die ḥanīfe Religion steht substantiell für einen greifbaren Religionsbegriff, der die prophetische Ebene sowie das Individuum betont. Sie meint den gemeinsamen Nenner, mit dem alle Religionen oder Glaubensbekenntnisse zu den Menschen gegeben wurden, wie es im Koran zum Ausdruck kommt: „Jedoch wurde ihnen [den Leuten der Schrift] nichts Anderes befohlen, als zu dienen Gott, aufrichtig in der Religion, reinen Glaubens [ḥunafāʾ; pl. von ḥanīf]“ (K 98:5). 152
STB, S. 22.
153 Ebenda. 154
Vgl. ebenda, S. 22. Überliefert bei al-Buḫārī, vgl. Zayn ad-dīn Ibn Raǧab, Fatḥ al-bārīʾ šarḥ ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Hg. Maḥmūd Ibn ʿAbd al-Maqṣūd u. a., Kairo: Maktabat al-Ġurbāʾ al-Aṯariyya, 1996, Bd. 1, S. 148–78; vgl. auch Kanz für Varianten: Aḥmad, Buḫārī (in seinem Werk Al-adab), Ṭabarānī, Nr. 289. 155
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Die ursprüngliche, tolerante, wahrhaftige oder aufrichtige Religion (addīn al-ḥanīf ) ist als Phrase kein besonders herausstechendes Merkmal in der Lehre Ibn ʿAǧības, sie schwingt jedoch an vielen Stellen subtil mit. Er erwähnt sie durchaus regelmäßig und auf den Punkt gebracht stellt für ihn die Religion des Propheten Muḥammad in ihrem Kern die Essenz der Religion Abrahams, des Stammvaters der späteren Propheten, dar.156 Diese Aussage deutet auf ein wichtiges Element, das Ibn ʿAǧība insbesondere in seiner Koranexegese forciert. Gemeint ist der Fokus auf dem Rezipienten, dem Individuum. Denn wenn im Koran verschiedene Konfessionen, wie etwa Juden, Christen oder andere, angesprochen werden, seien immer auch die Leute des Korans angesprochen.157 Insbesondere in diesem Sinne ist der Koran die konsequente Fortführung der Lehren aller anderen Propheten – nicht nur auf gewisse Weise auf den Ebenen des Fiqh und Kalam, sondern insbesondere auf der Ebene des Sufitums, wenn der Glaube des Einzelnen angesprochen wird. In diesem Sinne hat der Topos der ursprünglichen, wahrhaftigen Religion zwei Seiten: erstens eine innerliche, auf das Individuum bezogen und zweitens eine äußerliche, die das Spannungsfeld der verschiedenen Konfessionen miteinschließt. Diese beiden Seiten sind Gegenstand dieses Kapitels. Die erste Seite meint insbesondere die Exegese der Sufis, mit Fokus auf der Herzenserkenntnis und dem Verweis auf die Bedeutung hinter den Dingen. Das hat für die Theologie weitreichende Folgen. Die Anrede Gottes der Leugner im Koran oder die Strafe, die einem Missetäter droht, deutet dann zum Beispiel auf die Entfernung von der Wirklichkeit158 und wenn die Leute der Thora angesprochen werden, sind die Leute des Korans genauso angesprochen.159 Prinzipiell bedeutet das, die Herzenserkenntnis an die höchste Stelle zu setzen, den Koran nicht unter ausschließenden Kriterien zu lesen, sondern unter inkludierenden. Ein gläubiger Muslim, der den Koran liest, mag sich durch den Tadel am Götzendienst oder falscher Glaubensvorstellungen zunächst nicht angesprochen fühlen; er betet im Äußeren keine Götzen an und glaubt, dass der rechte Glaube vom Propheten Muḥammad ausgeht. Wird nun die Herzenserkenntnis in den Mittelpunkt gesetzt, ist er, wie im vorigen Kapitel beschrieben, jedoch durchaus angesprochen. Das Thema Glaube und Leugnung wandelt sich dann zu Erkenntnis und Verschleierung des Einzelnen. Die Einheit Gottes im Innern wird durch die verborgenen Götzen verdeckt oder offenbart sich durch die Erkenntnis. Glaube hat in der Theologie und insbesondere in der Ausprägung der Sufis ursprünglich zum Ziel, eine Beziehung zwischen Gott und Mensch herzustellen. Und der Mensch bedarf, um diese Beziehung zu erwirken, einer Methode für 156
BM, Bd. 2, S. 109. BM, Bd. 1, S. 128. 158 Vgl. ebenda, S. 102. 159 Vgl. ebenda, S. 128. 157
2.2 Der Ursprung der Religion
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die Gotteserkenntnis. Allgemein wird im Koran und in der Sunna die ḥanīfe Religion mit dem Propheten Abraham assoziiert, jedoch meint sie prinzipiell den Weg aller Propheten und Gesandten, sich wahrhaftig auf Gott auszurichten.160 Die ḥanīfe Religion meint dahingehend einen Weg, der den Menschen zur Glückseligkeit (saʿāda) führt, indem durch Liebe und Selbstentwerdung Gotteserkenntnis verursacht wird. Die Lehre Ibn ʿAǧības richtet sich prinzipiell nach dieser ursprünglichen Religion, die der Prophet Muḥammad zurückließ und die Überwindung der niederen Kräfte des Menschen als wesentliches Charaktermerkmal der Lehre betonte. Ibn ʿAǧība: „Es besteht kein Zweifel, dass Gott der Erhabene uns den Weg zur Erreichung [des Zieles der Gotteserkenntnis] durch die Worte des Gesandten, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, verdeutlichte. […] Er ging nicht zu Gott, dem Erhabenen, bis er die Menschen die aufrichtige Religion gelehrt hatte und die richtige Methode.“161 Ibn ʿAǧība führt dazu weiterhin die folgenden koranischen Aussagen und Hadithe als Belege an: „Heute habe Ich euch vollbracht eure Religion und Meine Gnade an euch vollendet und Ich habe daran Gefallen, dass der Islam ist eure Religion“ (K 5:3). Und: „Und es gibt keinen Zwang in der Religion. Geschieden zeigt sich das Richtige vom Irrtum“ (K 2:256). Sowie das Hadith: „Ich hinterlasse euch die gütige Ursprungsreligion (ḥanīfiyya).“162 In einer Variante dieses Hadith lautet es: „Ich hinterlasse euch die weiße Religion (milla), deren Tag ist wie ihre Nacht.“163 Was diese Aussagen gemeinsam haben, ist die oben erwähnte Methode, die hinterlassen wurde. Die Methode zur Erkenntnis wird im Sufitum allgemein mit dem „Weg“ assoziiert, was im folgenden Kapitel Gegenstand der Betrachtung ist. Wichtig ist an dieser Stelle, dass ein strukturierendes Element hinzukommt, eine Methode, die den Menschen zur Religion in Beziehung setzt, was die Frage nach der Definition des Begriffs „Religion“ aufwirft. Wie im vorherigen Kapitel über den Einheitsglauben und die Läuterung von den verborgenen Götzen angedeutet, steht die Natur des Menschen in Verbindung mit dem Einheitsglauben. Die ursprüngliche oder reine Religion (ad-dīn al-ḥanīf ), womit alle Propheten zu den Menschen gesandt wurden, zielt demgemäß eigentlich darauf ab, dieser dem „Menschen innewohnende Natur“ zur Blüte zu verhelfen, wie Murata und Chittick es nennen.164 Aisha Bewley definiert in diesem Sinne für das Wort ḥanīf: „Jemand, der die wahre Religion natürlicherweise besitzt.“165 Al-Ǧurǧānī definiert Religion (dīn) folgendermaßen: 160
Vgl. IH, S. 157–60. Ebenda, S. 258. 162 Al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, S. 45–6. Al-ʿAǧlūnī zitiert einige Versionen des Hadith, die leicht im Wortlaut variieren. 163 IH, S. 258–9; Kanz mit leicht anderem Wortlaut: Aḥmad und Ṭabarānī, Nr. 1062. 164 Murata und Chittick, The Vision of Islam, S. 137–9. 165 Bewley, A Glossary, S. 184. 161
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
„Die Religion ist eine göttliche Konstitution, die Menschen von Einsicht zur Annahme dessen ruft, was bei dem Gesandten, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, ist.“166
Die „göttliche Konstitution“ beziehungsweise das, „was bei dem Gesandten, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, ist“ meint dabei alle Normen, die von Gott durch Seinen Gesandten offenbart und dargelegt wurden; die inneren und äußeren Normen, wie Ibn ʿAǧība beständig betont.167 Zudem erscheint in der Definition al-Ǧurǧānīs erneut das Motiv des Rufes zu Gott. Das kommt nicht von ungefähr, denn wie gesehen werden konnte, kreist auch das Motiv des Rufes zu Gott um das Thema der Prophetie und die Frage wie Religion vermittelt werden solle. Außerdem impliziert diese Beschreibung der Religion abermals den Fokus auf das Individuum, indem zu Einsicht gerufen wird, zu etwas, das bereits vorhanden ist, zu dem dem Menschen innewohnenden, ursprünglichen Glauben. Auch hier taucht also der Leitgedanke auf, das Innere über das Äußere zu gewichten beziehungsweise den Glauben voranzustellen. Daraus resultiert, dass die Einladung sich zunächst an das eigene Selbst richtet und im nächsten Schritt erst die äußere Ebene miteinbezieht; ein Muster, das sich an der Prophetengeschichte orientiert. In dieser steht, wie Ibn ʿAǧība an einer Stelle beschreibt, zu Anfang der Ruf zum Einheitsglauben (tawḥīd) sowie die Erkenntnis von Muḥammad ibn ʿAbd Allāh als der Gesandte Gottes. Erst im zweiten Schritt wurden verbindliche Ethik und Ritus eingeführt. Dies, weil die Menschen einen Weg zu gehen haben, der der Toleranz bedarf.168 Toleranz in diesem Zusammenhang in der Bedeutung von nachsichtig, weitherzig. Die Religion ist so gesehen an der Natur des Menschen ausgerichtet. Das findet sich in den koranischen Worten: „So richte dein Angesicht auf die Religion im reinen Glauben (li-d-dīn ḥanīfan), getreu der Natur (fiṭra), in welcher Gott erschaffen die Menschen! Nicht zu verändern ist die Erschaffung Gottes“ (K 30:30). In diesem Aya erscheint der Zusammenhang von der göttlichen Natur des Menschen mit dem reinen Glauben beziehungsweise der reinen Religion deutlich. Gott erschuf die Seelen in einer Welt vor dieser, in Kenntnis über die Wirklichkeit, alle Seelen „waren Gotteserkennende.“169 Das spielt, wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, auf das Aya an: „‚Bin ich nicht euer Herr?‘ Sie sagten: ‚Ja‘“ (K 7:172). Die Religion ist also tolerant, um den Menschen zur Erkenntnis zu verhelfen. Ibn ʿAǧība fasst zusammen: „Was die Seele betrifft […] als sie von ihrem Ursprung getrennt wurde, durchdrang sie Dienerschaft und die Gewaltigkeit umschloss sie, jedoch war ihr die Herrschaft bekannt 166 Al-Ǧurǧānī, Taʿrīfāt, S. 50; vgl. auch Aḥmad aṣ-Ṣāwī, Ḥāšiyat aṣ-Ṣāwī ʿalā ǧawharat attawḥīd, fī ʿilm al-kalām, Hg. Aḥmad al-Mizaydī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2010, S. 20–1; Muḥammad Ibn al-Amīr as-Sunbāwī, Ḥāšiyat Ibn al-Amīr ʿalā itḥāf al-murīd šarḥ ǧawharat at-tawḥīd, Hg. Aḥmad al-Mizaydī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2001, S. 27–8. 167 Etwa TF, S. 57; Fahrasa, S. 105. 168 Vgl. IH, S. 30. 169 BM, Bd. 5, S. 364.
2.2 Der Ursprung der Religion
87
durch den Glauben, der ihr durch ihre ureigentlich innewohnende Natur zukommt. In diesem Zustand geschah es, dass die Rede an sie gerichtet wurde: ‚Bin ich nicht euer Herr?‘ […] [Im Diesseits jedoch] ist sie unwissend und hat dies Wissen vergessen oder es wurde ihr genommen […]. In ihrem Zustand der ursprünglichen Natur allerdings, nimmt sie Wissen und Ignoranz an, Gutes und Schlechtes. Deswegen sandte Gott die Gesandten und die Rufer, die zu Ihm, dem Erhabenen, rufen, die sie an den ersten Vertrag [‚Sie sagten: ›Ja‹‘] erinnern.“170
Die zweite Seite des Begriffes der ursprünglichen, wahrhaftigen Religion ist die, welche das Spannungsfeld der verschiedenen Konfessionen ins Auge fasst. Die Betrachtung aus dieser Perspektive enthält immer entweder ein inkludierendes oder exkludierendes Element. Inkludierend insofern, wenn etwas von den früheren Propheten übernommen wird und exkludierend, wenn etwas abgelehnt wird. Der exkludierende Aspekt kommt beispielsweise im Aya zum Ausdruck: „Und: ‚Richte dein Angesicht auf die Religion wahrhaftig und sei nicht einer von denen, die neben Gott Anderes stellen!‘“ (K 10:105) Darin erscheint die Abgrenzung der ursprünglichen, reinen Religion von der Religion, in der fehlerhafte oder falsche Elemente vorhanden sind.171 Vgl. dazu auch die Ayas K 3:76, 3:95, 4:125, 6:79, 16:120, 16:123. Der inkludierende Aspekt kommt zum Tragen, wenn die Rede von dem ḥanīfen Weg der Propheten ist, der alle Propheten und Gesandten vereint. Dabei wird auf die Gemeinschaften welche die ursprüngliche Religion (ad-dīn al-ḥanīf ) praktizierten, Bezug genommen. Das wird mitunter durch den Begriff milla getan, wie etwa die Bezugnahme auf das koranische Aya: „Der Glaube [milla] eures Vaters Abraham“ (K 22:78). Der Gläubige, kommentiert Ibn ʿAǧība dazu an verschiedenen Stellen, erachte es als Pflicht, dem Glauben des Gesandten Abrahams zu folgen, was zusammengefasst bedeute, das eigene Streben von den Geschöpfen abzuwenden und sein inneres Angesicht dem Antlitz Gottes zuzuwenden.172 Der Verweis auf den Propheten Abraham ist, wie erwähnt, jedoch allein zu kurz gegriffen und deutet eigentlich auf den großen Rahmen, wie er im folgenden Aya zum Tragen kommt: „Verordnet hat Er euch als Religion, die Er anbefohlen Noah und die Wir dir geoffenbart und die Wir anbefohlen Abraham, Mose und Jesus: ‚Haltet die Religion und nicht spaltet euch in ihr!‘“ (K 42:13). Hier erscheint die Religion (dīn) wiederum als göttliche Struktur, die Gott den Menschen durch die Propheten vermachte und die zu jeder Zeit und jedem Ort ihre Gültigkeit besitzt, da sie die einzelnen Propheten umfasst.173 Der ašʿarītische Theologe Abū Bakr al-Bāqillānī (gest. 402/1013) schreibt aus Sicht des Kalam, dass der Begriff Religion (dīn) sich auf vier Themen zurückfüh170
STB, S. 61.
171 Vgl.
BM, Bd. 3, S. 194–7 sowie 185–94; vgl. dazu auch Chittick, Bildhafte Welten, S. 184–6. 172 IH, S. 157; SNS, S. 81. 173 Vgl. BM, Bd. 6, S. 380–2.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
ren lasse. 1. Im Sinne der Begleichung (ǧazāʾ ) nach dem Aya „dem Herrscher am Tage des Gerichts“ (K 1:4), wobei hier dīn mit Gericht übersetzt wird, nach der Auslegung, dass Religion eine Form der Begleichung sei. Dieser Interpretation schließt sich Ibn ʿAǧība im Allgemeinen an.174 2. Im Sinne von ethischen und schariatischen Normen (ḥukm; pl. aḥkām), nach dem Aya: „Nach der Religion des Königs hätte er seinen Bruder nicht nehmen dürfen“ (K 12:76). Auch diese Variante findet sich bei Ibn ʿAǧība.175 3. Im Sinne einer Überzeugung oder eines Glaubensbekenntnisses und der Zugehörigkeit zu einer Schule oder einer Religionsgemeinschaft, wenn es etwa heißt, dass „jemand dem Islam angehört oder dem Judentum.“176 Diese Bedeutung findet sich bei Ibn ʿAǧība etwa in der Einleitung zur Anordnung der Wissenschaften, wenn er dort die religiösen Lehren in den Plural setzt und voraussetzt, dass andere Religionen das ihnen eigene Glaubensbekenntnis und die damit verbundene Lehre vertreten.177 4. Religion bedeutet die vollkommene Hingabe an Gott sowie die wahre Religion, nach dem Aya: „Wahrlich, die Religion bei Gott ist die Hingabe [islām]“ (K 3:19).178 Beides findet sich in der Koranexegese Ibn ʿAǧības wieder. Dort unterscheidet er zwischen der Hingabe an den Einheitsglauben (tawḥīd) (und an dessen Überbringer) und der Zugehörigkeit zur Religion, die einen Menschen auszeichnet. Beides sei je nach Kontext richtig.179 Vereinfacht und zusammenfassend ausgedrückt werden also im Kalam die exklusiven und inklusiven Aspekte betrachtet und im Sufitum das Wesen der ursprünglichen Religion. Wie jedoch in den oben erwähnten Definitionen auffällt, hängen die beiden Ebenen – die der Glaubenslehre (Kalam) und des Sufitums – zusammen. In al-Ǧurǧānīs Definition ist die Rede von Religion als „göttliche Konstitution, die Menschen von Einsicht zur Annahme dessen ruft, was bei dem Gesandten, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, ist.“180 Das bedeutet, die Religion stellt einen Rahmen zur Verfügung, der die Menschen dazu einlädt, Erkenntnis zu erlangen, die der Prophet als Gotteskenner auf beste Weise zu vermitteln weiß. Die ḥanīfe Religion birgt in diesem Sinne, der koranischen Geschichte des Gottesfreundes Abraham (al-Ḫalīl) folgend, noch ein weiteres Merkmal: Die Liebe, wobei diese hier im weiten Sinne verstanden werden muss. Im Koran heißt es nach der Anklage seitens Abrahams gegenüber seinem Volk: „Sie sind mir feind, nicht aber der Herr der Welten, der mich erschaffen. Und Er ist es, Der mich rechtgeleitet und Der mir gibt zu essen und zu trinken. Und wenn ich 174
BM, Bd. 1, S. 24–6. BM, Bd. 3, S. 302–5. 176 Abū Bakr al-Bāqillānī, Kitāb at-tamhīd, Hg. Ritšard Yūsuf al-Yasūʿī, Beirut: Al-Maktaba aš-Šarqiyya, 1957, S. 345. 177 TF, S. 7. 178 Al-Bāqillānī, Kitāb at-tamhīd, S. 345. 179 BM, Bd. 1, S. 297–9. 180 Al-Ǧurǧānī, Taʿrīfāt, S. 50. 175
2.2 Der Ursprung der Religion
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krank bin, mich heilt“ (K 26:77–80). Ibn ʿAǧība kommentiert das auf folgende Weise: Während die Götzen beziehungsweise die Götzendiener der Feind sind, ist der Einheitsglaube (tawḥīd) Ziel und Freund. Erreicht wird das Ziel, indem der eigene Wille auf die Läuterung des Herzens ausgerichtet wird, sodass zuerst eine Neigung entsteht, die sich verstärkt und schließlich in Liebe mündet, welche die stärkste Form des Willens darstellt. Zuerst äußert sich die Neigung zum Einheitsglauben in einer äußerlichen Handlung, etwa im Gottesdienst. Darauf folgt die Läuterung des Herzens, was den Einzug der göttlichen Lichter darin nach sich zieht. Schließlich kehrt durch die Liebe die Seelenruhe und wahrhaftige Erkenntnis ein.181 Ein Muster, das dem im vorigen Kapitel dargestellten Stufengebilde von islām, īmān und iḥsān folgt. Darauf aufbauend paraphrasiert Ibn ʿAǧība die Worte des Propheten Abraham poetisch auf folgende Weise: „Sie [die Götzendiener oder der Götzendienst] sind mein Feind, nicht aber der Herr der Welten, der mich erschuf für Seine Anbetung und mich damit zur Erkenntnis leitet. Der mir zu essen gibt durch Glauben, Gewissheit und Vervollkommnung. Der mir zu trinken gibt vom Wein der Anschauung. Der mich, wenn ich von Sünden krank werde, durch Umkehr heilt. Oder, wenn ich durch Fehler krank werde, mich durch Läuterung von ihnen heilt. Oder, wenn ich durch das Schauen von [Gottes-]Ähnlichem krank werde, dann heilt Er mich durch die Abwesenheit dessen. Der verpflegt, um mich von schädlichen Resten zu reinigen und mich zu den Nahestehenden zählt am Tage des Gerichts. Ḏū n-Nūn, möge Gott mit ihm zufrieden sein, sagte: ‚Er gibt mir Erkenntnis zur Speise und gibt mir das Getränk der Liebe zu trinken.‘“182
Die göttliche Liebe im Speziellen wird in späteren Kapiteln (3.2.2.3 sowie 5.3) genauer behandelt. Entscheidend ist an dieser Stelle die Verbindung zwischen dem menschlichen Wollen (der Absicht) und dem verlangten Gegenstand des Einheitsglaubens. Während der Ruf zum Einheitsglauben in gewissem Sinne eine abstrakte Grundlage der Religion bildet, stellt die ḥanīfe Religion den von den Propheten manifestierten Ruf dar – die Lehre, die von ihnen ausgeht und an die Menschen weitergegeben wurde. Der Ruf zum Göttlichen im Sinne des Rufes zum tawḥīd (Einheitsglauben) bezieht sich auf die absolute Ablehnung jeglichen Beigesellens. Praktisch bedeutet das, wie Chittick es ausdrückt: „The word shirk, which designates the act of ascribing a partner to God or associating something with him, is taken as the opposite of tawḥīd. Just as ‚sincerity‘ is tawḥīd put into practice, so ‚hypocrisy‘ is shirk put into practice. And just as tawḥīd is the salvific content of the religious message, so shirk is a sure road to hell. According to Qur’an 4:48 and 4:116, shirk is the one sin that cannot be forgiven if taken into the grave. Qur’an 4:145 tells us that the hypocrites will be placed in the deepest pit of hell.“183 181
MT, S. 8; vgl. BM, Bd. 5, S. 178; IH, S. 157. BM, Bd. 5, S. 178. 183 William C. Chittick, „Worship“, in Classical Islamic Theology, Hg. Tim Winter, Cambridge: Cambridge University Press, 2008, S. 223. 182
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Vor diesem Hintergrund kann der Ruf durchaus als etwas Greifbares verstanden werden, der verschiedene Ebenen der Religion umfasst. Al-Ġazālī drückt es auf den Punkt gebracht aus, wenn er schreibt: „Die Erkenntnis des Herzens sowie der Wirklichkeit Seiner Eigenschaften ist die Grundlage der Religion und das Fundament des Weges der Reisenden [die Reisenden auf dem Weg zu Gott].“184 Denn die Erkenntnis des Herzens bedeutet, dass es von dem verborgenen Beigesellen gereinigt wird und die positiven Charaktereigenschaften annimmt, wie etwa die Wahrhaftigkeit (sincerity) im obigen Zitat von Chittick. Erneut zeigt sich hier die Vielschichtigkeit der Begriffe, wenn etwas aus Perspektive des Sufitums beleuchtet wird. Das gilt auch für die ganz grundlegenden Begriffe. Der Begriff islām taucht verschiedentlich angewandt und häufig in den Quellen synonym für Religion auf – wie etwa bei al-Bāqillānī oben unter Punkt 4 – und beleuchtet verschiedene Aspekte. Das Aya: „Gott hat für euch die Religion (dīn) erwählt, deshalb sterbt nicht, denn als Ihm Ergebene [muslimūn]!“ (K 2:132), deutet laut Ibn Aǧība einerseits, auf der inneren Ebene, auf die Interpretation des Begriffs islām im Sinne von Hingabe. Islām steht in dieser Lesart als Synonym für dīn (Religion) und bezieht sich vor allem auf die ursprüngliche Religion, durch die die Menschen einen Weg zu Gott finden.185 Andererseits wird die Interpretation des Wortes islām als Hingabe im Werk Ibn ʿAǧības besonders hervorgehoben wann immer er betont, dass die Erkenntnis und die Vereinigung von Innerem und Äußerem, von Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa), den Kern der Religion bilden. Denn „das Erbe der Propheten ist Ziel des Wissens und dessen Frucht, die durch Ehrfurcht und Kenntnis von Ihm entstehen und nicht durch den bloßen äußerlichen Rahmen. Dieser ist ein Mittel. Wenn das Ziel nicht erreicht wird, nützt das Mittel nichts. Deswegen erbt der Gelehrte des äußerlichen Rahmens nichts, da sie [die Erkenntnis] selbst nicht das Ziel ist [oder: nicht um ihrer selbst willen beabsichtigt wird].“186
Das bedeutet nicht, dass der Rahmen vernachlässigt werden sollte, jedoch liegt der Schwerpunkt im Motiv der ursprünglichen Religion auf den Themen, welche das Herz betreffen.187 In der Diskussion der umliegenden Ayas (K 2:125–143) in der Koranexegese (tafsīr) Ibn ʿAǧības erscheint die Kausalität der ḥanīfen Religion, dem Ruf zu Gott und dem Weg, der zur Erkenntnis führt, besonders deutlich.188 Der Zweck der Religion ist es demnach, die Menschen auf den Weg der Liebe zu rufen, der durch die Vereinigung der Ebenen zur Erkenntnis führt. Dass islām synonym für dīn auch im Sinne von Islam, als Weltreligion, verwendet wird, ist möglich, wenngleich Ibn ʿAǧība in der Deduktion dieses Kon184 Zitiert nach l-Murtaḍā az-Zabīdī, Itḥāf sādat al-muttaqīn bi-šarḥ iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, 14 Bde., Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2012, Bd. 8, S. 367. 185 Vgl. BM, Bd. 1, S. 134–6. 186 IH, S. 486. 187 Vgl. BM, Bd. 1, S. 133–5. 188 Vgl. ebenda, S. 130–143.
2.2 Der Ursprung der Religion
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strukts die Ebene des Sufitums voraussetzt. Die Diskussion dreht sich um das Aya: „Die Religion bei Gott ist die Hingebung [wörtlich: islām]“ (K 3:19). Wenn das koranische Wort islām im Sinne der Hingabe gedeutet wird, stellt das eine ganzheitliche Interpretation dar, die etwa dem Begriff „Glaube“ als umfassendes Prinzip entspricht. Das bedeutet, die von Gott akzeptierte Religion ist jene, die die Menschen zum Einheitsglauben (tawḥīd) führt und zur Hingebung an denjenigen, der sie brachte, den Propheten. Gleichzeitig bedeutet eine solche umfassende Interpretation, dass die gesamte Spannweite der Religion mit einbezogen werden muss, da die Hingabe in diesem Fall umfassend ist und nicht limitiert und die Ebenen von Äußerem und Innerem einschließt.189 Es kann also das Wort islām durchaus für Religion (dīn) verwendet werden, unter der Voraussetzung, dass alle Ebenen entsprechend einbezogen werden. Zuletzt bleibt noch zu erwähnen, wie Ibn ʿAǧība das im Koran wiederkehrende Thema von der rechten und der verfälschten Religion auf der Ebene des Sufitums interpretiert, insbesondere die Stellen, wenn davon die Rede ist, die Götzendiener zu bekämpfen. Beispielhaft kann dafür das folgende Aya angeführt werden: „Und bekämpft sie, bis es keine Zwietracht mehr gibt und die Religion Gottes ist. Wenn sie aber aufhören, so soll es keine Übertretungen geben als gegen diejenigen, die Übles tun“ (K 2:193). Ibn ʿAǧība kommentiert dies in der išāra mit der Läuterung des Selbst von der Zwietracht durch das Ego, dem Teufel, dem Diesseits und den Menschen. Das wiederum solle ebenfalls nicht übertrieben werden, wenn Ruhe in das Herz einkehre, da, wenn Ruhe einkehre („wenn sie aber aufhören“) und der Mensch diese sich nicht erlaube, es ein unnützer Kampf sei, der auf Undank hindeute. Das werde in der Aufforderung impliziert „so soll es keine Übertretungen geben, als gegen diejenigen, die Übles tun“.190 Diese Interpretation von Religion für den Glauben des Einzelnen trägt eine grundlegend positive Haltung in sich, da die Läuterung des Selbst, wie oben am Beispiel des Propheten Abraham gesehen, mit einer wachsenden Liebe einhergeht. Der Meister des Meisters Ibn ʿAǧības, ʿAlī al-Ǧamal, sagte dazu: „Die wirkliche Bekämpfung des Feindes liegt in der tatsächlichen Beschäftigung mit der Liebe zu dem Geliebten. Wenn du dich lediglich mit der Bekämpfung des Feindes beschäftigst, kommt dir die Liebe zum Geliebten abhanden, wodurch der Feind sein Ziel bei dir erreicht.“191
Das deutet auf eine grundsätzliche Debatte unter den Sufis hin, ob sich auf die Läuterung oder auf die Liebe konzentriert werden solle. Darauf wird im Kapitel zur Šāḏiliyya (2.3) zurückgekommen. 189
Vgl. BM, Bd. 1, S. 133–5. BM, Bd. 1, S. 187–9. 191 Ebenda. 190
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Zusammenfassend lautet es über die Religion im Koran auch: „Wer hat schönere Religion, als der, der sein Angesicht hingibt Gott, handelt gut, und folgt dem Glauben Abrahams, rechtgläubig!“ (K 4:125). Ibn ʿAǧība schreibt, hier sei gemeint, dass niemand besser sei, als jener, der sich vollkommen, innerlich und äußerlich, auf seinen Herrn ausrichte. Das gute Handeln des Menschen (muḥsin) deute auf sein lauteres Herz und er folge schließlich der Religion des Propheten Muḥammads, die nicht nur mit der Religion des Propheten Abrahams übereinstimmt, „sondern ihre Essenz darstellt.“192 2.2.4 Der Weg zu Gott Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī schrieb: „‚Preis Ihm, der in der Nacht reiste mit Seinem Diener von der Niederwerfungsstätte, der reinen, zur Niederwerfungsstätte der fernsten, die Wir ringsum gesegnet, um ihm zu zeigen einige von Unseren Zeichen. Wahrlich, er ist der unübertrefflich Hörende, der Sehende.‘ [K 17:1]. Er sagt nicht ‚mit Seinem Propheten‘ und nicht ‚mit Seinem Gesandten‘, obwohl er Sein Prophet und Sein Gesandter ist. Das geschah in der Absicht, das Tor der Nachtreise für die Gemeinde zu öffnen. Er lässt uns dadurch wissen, dass die Nachtreise in den Bereich der Dienerschaft fällt. Der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, hat die vollkommenste Dienerschaft inne und aus diesem Grund vollzog er die vollkommenste Nachtreise. […] Die Gotteskenner haben einen genügenden Anteil an der Dienerschaft und vollziehen dementsprechend eine genügende Nachtreise.“193
Insofern die ḥanīfe Religion bedeutet, dem Ruf des Göttlichen zu folgen, um die Wirklichkeiten hinter den Dingen zu erkennen und die verborgenen Götzen auszuräumen, stellt sich im Anschluss die Frage nach dem Weg, dem gefolgt werden soll, der schließlich zu dem Rufenden führt; entweder ist das der Prophet Muḥammad oder Gott selbst. Wenn Ibn ʿAǧība schreibt, dass die Essenz der ḥanīfen Religion in der muḥammadanischen Religion liegt,194 deutet er damit auf den Kern der Religion, der die Läuterung des Menschen und seine anschließende Gotteserkenntnis bedeutet, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt. Der Weg soll also zur Erkenntnis führen; was es aber genauer mit dem Weg auf sich hat, ist Gegenstand dieses Kapitels. Während die ḥanīfe Religion allgemein auf die Methode verweist, ist der „Weg“ nun abermals eine Spezialisierung und stellt, wie in den vorigen Kapiteln zum Stufengebilde des Gabriel-Hadith gesehen, das fehlende Glied in der Kette dar, das die Dualität der Begriffe Scharia und ḥaqīqa (Wirklichkeit) komplettiert, die Dualität von Innen und Außen, den äußeren und inneren Normen oder den Polen von Körper und Seele. Ohne den Weg als Bindeglied bleiben diese theoretischen Konzepte, die zwar zu Verständnis und Einsicht beitragen, jedoch die menschliche Realität ausblenden, wie noch gezeigt werden soll. Das 192
BM, Bd. 2, S. 109. Laṭāʾif al-minan, S. 118. 194 Vgl. BM, Bd. 2, S. 109. 193 As-Sakandarī,
2.2 Der Ursprung der Religion
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Motiv des Weges ist von solch entscheidender Bedeutung in der Interpretation der Sufis, dass die Methoden des Sufitums (uṣūl at-taṣawwuf ) nicht selten auch als die Methoden des Weges (uṣūl aṭ-ṭarīq) bezeichnet werden.195 Darauf wird im nächsten Teil zu den Grundlagen, Methoden und Quellen des Sufitums (3.1) genauer eingegangen. Im vorliegenden Kapitel erfolgt eine allgemeine Darstellung der Bedeutung des Weges. Chodkiewicz schreibt über das Magnum Opus des Ibn ʿArabī, „Die Mekkanischen Eröffnungen“ (Al-futūḥāt al-Makkiyya), dass, sollte jemand nach einer Logik darin suchen, er sie in einer Pädagogik für den Gottessuchenden finden würde,196 also in einer Anleitung, wie der metaphorische Weg zu Gott zu verstehen sei. Dasselbe kann über einen Großteil der Werke Ibn ʿAǧības gesagt werden: Eines der durchgehenden Motive ist sicherlich das des Weges beziehungsweise Anleitungen und Ausführungen, um dem Menschen auf der Suche nach Erkenntnis Hinweise und Zeichen (išāra) bereit zu stellen. Die „Reise zu Gott“ (as-sayr ilā Allāh) oder der „Weg“ (aṭ-ṭarīq) ist im übertragenen Sinn zu verstehen und ist eine Metapher für die Läuterung von den verborgenen Götzen, um sich der Wirklichkeit anzunähern. Der Weg ist, schreibt Ibn ʿAǧība, „ein Ausdruck für den Umzug aus der Schau des Königreichs ins göttliche Königreich und aus dem göttlichen Königreich in die Omnipotenz. Oder aus der greifbaren Welt in die Welt der Bedeutungen oder aus der Schau der Schöpfung in die Schau des Schöpfers. […] Die Reise kann nicht vollendet werden und der Weg erscheint nicht, außer durch die Bekämpfung der Egos.“197
Der Ruf zu Gott impliziert, dass eine Bewegung erfolgt beziehungsweise ein Prozess im Gange ist oder etwas erbracht werden soll. Das Begehen des Weges bedeutet nun, sich zum Rufer zu bewegen. Insofern ist der Weg ein der Religion inhärentes Element. Geoffroy führt dazu folgende Argumente an: Der Weg ist für die Religion von grundlegender Bedeutung, als da der Koran selbst als Leitung beschrieben wird (hudā) und in der Sure al-Fātiḥa um den „geraden Weg“ gebeten wird. Und es heißt über den Weg im Koran: „Und die sich abmühen für Uns – Wir werden sie gewiss rechtleiten auf Unseren Wegen. Wahrlich, Gott ist mit den Schönhandelnden“ (K 29:69). Geoffroy schließt daraus, dass der Weg die Pole von Scharia und Wirklichkeit verbindet,198 was ein anderer Ausdruck für die Gotteserkenntnis ist. Insofern stellt der Weg einen Angelpunkt der Religion dar, mit dem der Prophet im Allgemeinen zu den Menschen gesandt wurde (vgl. etwa Koran 195
Die Stationen des Weges bei Ibn ʿAǧība werden in Teil fünf ausführlich behandelt (5.1). Chodkiewicz (Hg.), The Meccan Revelations, 2 Bde., New York NY: Pir Press, 2002 u. 2004, Bd. 2, S. 40. 197 FI, S. 102. 198 Geoffroy, „Approaching Sufism“, in Sufism. Love and Wisdom, Hg. Jean-Louis Michon und Roger Gaetani, S. 52–5. 196 Michel
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
61:9–12). Im Koran heißt es: „Er ist es, der gesandt Seinen Gesandten mit der Rechtleitung (hudā) und der wahren Religion (dīn al-ḥaqq), auf dass Er sie siegen lasse über alle Religion“ (K 48:28). Ibn ʿAǧība kommentiert auf der Ebene der išāra, die Rechtleitung meine hier die Scharia und die wahre Religion (dīn al-ḥaqq) die Wirklichkeit hinter den Dingen, das Innere.199 Erneut liegt also die vorzüglichste Religion (oder der vorzüglichste Glaube) in der Vereinigung von der äußerlichen Ebene der Scharia und der innerlichen, dem Glauben im Herzen. Murata schreibt, den Weg zwischen diesen Polen zu beschreiten und das Gleichgewicht, das in der Natur der Seele verborgen liege, wiederherzustellen, offenbare den Weg.200 In seiner Auslegung der ersten Sure al-Fātiḥa gibt Ibn ʿAǧība drei exegetische Möglichkeiten aus der Tradition für den „geraden Weg“ an: ʿAlī ibn Abī Ṭālib sagte, der gerade Weg meine „an dieser Stelle den Koran.“201 Ǧābir war der Meinung, der gerade Weg sei „der Islam, d. h. die tolerante Religion (al-ḥanīfiyya as-samḥāʾ)“ und Sahl ibn ʿAbd Allāh vertrat die Meinung, hier handele es sich um den „Weg Muḥammads, d. h. das Befolgen, womit er gekommen ist.“202 Zusammenfassend, schließt Ibn ʿAǧība den Gedanken, deuten diese Auslegungen auf die Vereinigung von Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) hin.203 Gäbe es keine Verbindung zwischen den Polen des Inneren und des Äußeren, schreibt bereits al-Ġazālī, wäre es nicht möglich, Erkenntnis zu erlangen über irgendetwas, da die Pole ruhen und Stillstand herrschen würde.204 Das Innenleben des Menschen kommt jedoch nicht zur Ruhe, wenn er auch äußerlich zu ruhen scheint. Vielmehr entspricht es der Natur der Dinge, dass die Beziehungen zwischen dem Mikrokosmos eines einzelnen Menschen und dem Makrokosmos der Welt in unablässigem Austausch miteinander stehen, wie Chittick anführt. Der Grund dafür ist, führt dieser aus, das Ego des Menschen in all seinen Facetten. Das Ego oder die Seele verbindet den Menschen mit der Welt, sei es durch einfache Bedürfnisse wie Essen, Sex oder Besitztümer oder durch hohe Kräfte wie Liebe, Schönheit oder Bewunderung.205 Davon ausgehend, dass Mensch und Welt miteinander in Beziehung stehen, bedeutet es dem Ruf zu Gott zu folgen, den Weg der Läuterung von jeglichem Beigesellen zu gehen, sodass im Herzen nur Platz für die Wirklichkeit bleibt. Das sei der „gerade Weg“, wie es in den Quellen heißt, schreibt al-Ġazālī. Und „ein anderer Ausdruck dafür [für den 199
BM, Bd. 7, S. 159. Murata, The Tao of Islam. A Sourcebook on Gender Relationships in Islamic Thought, Albany NY: SUNY Press, 1992, S. 250. 201 BM, Bd. 1, S. 29. 202 Ebenda, S. 30. 203 Ebenda, S. 29–30. 204 Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Maǧmūʿat rasāʾil al-Imām al-Ġazālī, Hg. Ibrāhīm Muḥammad, Kairo: Al-Maktaba at-Tawfīqiyya, o. J., S. 299. 205 Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 16–9. 200 Sachiko
2.2 Der Ursprung der Religion
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Weg der Seele] ist der der Religion (dīn).“206 Der Weg kann also in gewisser Hinsicht sogar synonym für die Religion stehen. Anders ausgedrückt ist es der Weg, wie Ibn ʿAǧība an einer Stelle schreibt, durch dessen Begehung göttliche Nähe erlangt wird. Es beginnt mit dem Ruf oder der Einladung zur göttlichen Liebe. Das geschieht durch die Ausrichtung des inneren Auges auf die Wirklichkeit und Schönheit. Wenn der Mensch diesem Ruf folgt, erhält er einen weiteren Ruf – den Ruf zur Reise zu Gott. Geht er diesen Weg, wird es ihm ermöglicht, sein Inneres und Äußeres auf Gott allein auszurichten und bei der Gotteserkenntnis anzukommen.207 Wie der Bezug zum Äußeren und Inneren impliziert, beinhaltet die Auseinandersetzung mit dem Weg immer auch einen Bezug zur Praxis. Die Sitten oder die Gewohnheiten (sunan, sing. sunna) des Reisenden sind so gesehen mit dem Weg identisch beziehungsweise das Beschreiten des Weges zeigt sich durch die gute Sitte, ergo durch die Praxis eines Menschen.208 Es verschmelzen die scheinbar getrennten Ebenen von Wissen und Handeln, da nur beide zusammengenommen zur Erkenntnis führen. Wenn etwa jemand fastet, schreibt Ibn ʿAǧība, um seine Stellung in der Gesellschaft zu verbessern, um Ansehen und Anerkennung unter den Menschen zu erlangen, gleicht dies einem Esel, der um den Mühlstein läuft und glaubt, er würde voranschreiten. Der aus falscher Absicht heraus Fastende bewegt sich zwar, aber er tauscht einen greifbaren Gegenstand durch einen metaphysischen aus – Essen durch Ansehen. Dasselbe gilt für den, der für Schlösser im Paradies fastet. Diese Reise erscheint oberflächlich als Bewegung, verläuft jedoch im Kreise. Nur aber, wessen Absicht lauter ist, der verbindet die Ebenen auf die richtige Weise. Und er führt dazu das Hadith an: „Wer das Jenseits zur Absicht hat, dessen Umstände versammelt Gott zu seinen Gunsten. Er macht Ihn sich zum Genüge in seinem Herzen und das Diesseits kommt unterwürfig zu ihm.“209 Der Weg (ṭarīq oder ṭarīqa) wird im entsprechenden Kontext auch Reise (sayr) oder Auswanderung (hiǧra) genannt. Von Bedeutung ist vornehmlich, dass damit die Bewegung beschrieben wird, die dem Menschen die Wirklichkeit hinter den Dingen aufzeigen soll. Ibn ʿAǧība: „Die Auswanderung bedeutet den Umzug von einer Heimat zu einer anderen Heimat, indem jemand aus seiner Heimat auswandert und sich an seinem Zielort niederlässt. Dies sind etwa drei Dinge: Aus der Heimat der Rebellion [Sünde] zur Heimat des Gehorsams. Aus der Heimat der Unbesonnenheit zur Heimat der Geistesgegenwart. Aus der Heimat der Welt der Körper zur Heimat der Welt der Seelen. Oder auch: Aus der Herrschaft des Diesseits zum göttlichen Königreich. Aus der Heimat des Greifbaren zur Heimat der Bedeutungen […]. Wer aus diesen Heimatorten auswandert in der Absicht, durch die Aus206 Al-Ġazālī,
Maǧmūʿ rasāʾil al-Imām al-Ġazālī, S. 299. FI, S. 282. 208 Vgl. ebenda, S. 20–1. 209 IH, S. 125. 207
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
wanderung die Zufriedenheit Gottes und Seines Gesandten oder die Erkenntnis Gottes oder Seines Gesandten zu erlangen, dessen Auswanderung führt zu Gott und Seinem Gesandten nach dem Maß, wie seine Absicht und sein Bestreben beschaffen sind. Wessen Auswanderung jedoch zu den Gelüsten seines Egos und seiner Leidenschaft führt, dessen Absicht und Streben wird scheitern. Das Ziel seiner Auswanderung ist, wofür er ausgewandert ist. Seine Auswanderung führt jedoch lediglich dazu, dass sich seine Plagen vermehren.“210
Ein wichtiger Grund für die Betonung der Notwendigkeit eines Weges liegt in der Verschiedenheit der Menschen, die Gott allesamt auf ihre eigene Weise erkennen. Der Erkenntnisprozess des Weges besitzt verschiedene Stufen, die dem Menschen erst nach und nach zugänglich werden.211 Man könnte auch sagen, dass die Menschen auf verschiedene Weise an die Religion herantreten. Gott offenbart sich jedem Individuum auf andere Weise. Im Koran heißt es: „Er [Moses] sagte: Unser Herr ist Der, Der jeder Sache Gestalt gab, sodann rechtleitete“ (K 20:50). Die Verschiedenheit einer jeden Gestalt (ḫalq), schreibt Ibn ʿAǧība, deutet hier auf die Verschiedenheit der Menschen hin. Manche beschäftigen sich mit dem Lehren der Scharia, manche üben sich in guten Werken und wieder andere gehen den Weg der Erkenntnis.212 Nur aber wer wirkliche Erkenntnis erreicht, betont er an anderer Stelle, sieht selbst, dass alle Vielheit der Welt in der Einheit Gottes ihren Ursprung hat.213 Insgesamt gesehen bedeutet der Weg der Sufis, die Wirklichkeit (ḥaqīqa) in Erfahrung zu bringen (ḏawq) und da die Wirklichkeit in der Seele des Menschen verborgen liegt, ist es nötig sich auf den Weg zu begeben. Im Koran lautet es: „Und Gottes ist der Osten und der Westen. Wo ihr euch hinwendet, ist das Antlitz Gottes. Wahrlich, Gott ist der unübertrefflich Umfassende, der Wissende“ (K 2:115). Alle Dinge bestehen oder kommen ins Sein, kommentiert Ibn ʿAǧība, da die göttlichen Eigenschaften sie in ihr Sein bringen. Wer nun den Weg beschreitet, der sieht die Nichtigkeit dieser Dinge und die Wirklichkeiten hinter dem Schein des Diesseits.214 Der Weg des Menschen als Brücke zwischen Innen und Außen, zwischen äußerlichem Gesetz und innerer Wirklichkeit, kann auch durch die Dynamik beschrieben werden, die in der Aufteilung Koran und Sunna wirkt. Ibn ʿAǧība erläutert das anhand der Frage, wie das Aya „Tretet ins Paradies ein für eure Taten“ (K 16:32) und das Hadith „Keiner von euch wird eintreten ins Paradies durch seine Taten“215, miteinander in Einklang gebracht werden können. Das 210
Ebenda, S. 126–7. SNS, S. 92. 212 BM, Bd. 4, S. 288. 213 BM, Bd. 1, S. 125. 214 Ebenda, S. 123. 215 Überliefert bei Buḫārī und Aḥmad, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 1, S. 399; Kanz mit einer Variante des Hadith mit derselben Bedeutung: Muslim, Nr. 10384. 211 Vgl.
2.2 Der Ursprung der Religion
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Hadith steht dabei stellvertretend für einige Ayas, die dem Menschen scheinbar seine Entscheidungsfähigkeit nehme, wie etwa: „Aber ihr wollt nicht, es sei denn, Gott will es“ (K 76:30, vgl. auch K 28:68).216 Für eine Lehre, die ausschließlich rationale Belege akzeptiert, stehen diese Ayas und Hadithe im Widerspruch zueinander. Denn entweder ist der Mensch verantwortlich für seine Taten und wird dafür belohnt oder bestraft. Oder er liegt sowieso in der Hand Gottes, was mit Fatalismus einhergeht. Das ist der Streit, wie er lange und viel zwischen den Philosophen und den Mutakallimun ausgetragen wurde.217 Die Antwort der Sufis und auch Ibn ʿAǧības ist, dass beide Aussagen richtig sind und nur davon abhängen über wen und was gesprochen wird. Äußerlich muss festgehalten werden, schreibt er, dass die Umstände der diesseitigen Welt nicht relativ sind, sondern gewissen Gesetzmäßigkeiten folgen, an die die Menschen gebunden sind. Innerlich, auf der seelischen Ebene, verhält es sich anders, da es dort mehr Raum für individuelle Prozesse bedarf. Anders ausgedrückt gilt das Aya „Tretet ins Paradies ein für eure Taten“ für all jene, die dem Äußeren den Vorzug über das Innere geben. Für alle, welche die inneren Wirklichkeiten wahrhaft berücksichtigen gilt das Hadith „Keiner von euch wird eintreten ins Paradies durch seine Taten.“ Denn der Weg der Erkenntnis findet maßgeblich im Mikrokosmos des Menschen statt. Aus diesem Grund heißt es im Hadith: „Wenn jemand von euch eine gute Tat beabsichtigt, wird sie für ihn als gute Tat geschrieben.“218 Zwar hat die Absicht zu einer guten Tat gewissermaßen keine Auswirkungen in der physischen Welt, wohl aber in der seelischen Welt, wo eine Absicht so stark werden kann, dass sie zur Liebe wird. Das Element, das zwischen den beiden Ebenen von äußerer und innerer Wirklichkeit vermittelt, ist das Potenzial des Menschen, dem Ruf zum Göttlichen zu folgen, indem er den Weg einschlägt. Die Kraft, die ihn antreibt, ist die Sehnsucht nach dem göttlichen Ursprung der Seele, wobei die Hinweise (išārāt: Pl. für išāra) ihm die Richtung weisen. Zum Ausdruck kommt dieses Element beispielsweise im Aya: „Und Wir sandten herab zu dir das ḏikr, damit du den Menschen erklärst, was ihnen hinabgesandt wurde“ (K 16:44). Während auf der rationalen Ebene das ḏikr für den Koran steht, wie es von vielen tafsīr-Gelehrten vertreten wird, meint es auf der Ebene der išāra die Kraft des Gottesgedenkens beziehungsweise die Fähigkeit durch die Läuterung des Selbst zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Die Gotteserkenntnis bedarf beständiger Bewegung – des Weges – zwischen göttlicher Wirklichkeit und menschlicher Handlung. Ibn ʿAǧība beschreibt den Weg dahingehend auf folgende Weise: 216
IH, S. 29–30. Vgl. dazu etwa die Einleitung bei al-Ǧāmī, The Precious Pearl, S. 31–42. 218 IH, S. 29–30; das Hadith in Kanz mit leicht anderem Wortlaut vorhanden: Über Ibn ʿAbbās, Nr. 10314; ähnliches Hadith (qudsī) ebenfalls in Kanz: Buḫārī, Muslim, Tirmiḏī, Nr. 10241. 217
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
„Der Weg (ṭarīqa) ist die Reform des Herzens, um es für den Lichtschein der Wirklichkeiten vorzubereiten. Die Scharia besteht, um die äußerlichen Umstände in Ordnung zu bringen, der Weg, um das Herz zu reformieren und die Wirklichkeit, um das Innere zu schmücken. Es heißt, die Scharia ist die Essenz der Wirklichkeit (ḥaqīqa) von der Seite, dass sie verpflichtend ist aufgrund [Gottes] Anordnung. Und die Wirklichkeit ist die Essenz der Scharia, da [wir] mit ihr beauftragt sind von Seiten der Scharia. Aus diesem Grund kann als Scharia alles bezeichnet werden, durch das etwas erreicht werden kann oder das Ursache für dessen Verstehen ist. Ursachen sind allesamt Scharias [šarāʾiʿ; pl. von šarīʿa] und Ziele sind allesamt Wirklichkeiten. Das Greifbare ist die Scharia der Bedeutung, wenn sie begriffen wird, Anstrengung ist die Scharia der Anschauung, Niedrigkeit ist die Scharia der [/ist der Grund für die] Ehre, Armut ist die Scharia des Reichtums und so weiter. Sähen und Pflanzen sind die Scharias der Fruchternte. Deswegen heißt es: ‚Wer Scharias pflanzt, der erntet Wirklichkeiten (ḥaqāʾiq) und wer Wirklichkeiten pflanzt, der erntet Scharias.‘“219
Mit anderen Worten: Die Reform des Herzens – die Läuterung von allem verborgenen Beigesellen – zielt darauf ab, dass die göttlichen Lichter des Glaubens Einzug halten können und damit die guten Charaktereigenschaften des Menschen zum Tragen kommen. Je mehr der Mensch in seinem Innern von den diesseitigen Dingen ablässt und je mehr er seine Absicht auf Gott ausrichtet, desto mehr Raum bekommt die Seele, welche die göttlichen Lichter zu spiegeln vermag, was schließlich die Einheit Gottes (tawḥīd) im Herzen des Dieners durch das Licht der Erkenntnis festigt. Dass Scharia und Wirklichkeit einander Essenz sind und somit zwei Seiten einer Medaille bilden, geht darauf zurück, dass das wirkliche Wissen eine einzige, göttliche Quelle besitzt und aus dieser Perspektive nicht zwischen äußeren und inneren Handlungen unterschieden wird. Ist nun der erste Anlass, die Ursache für eine Handlung die äußere Ebene der Scharia, beispielsweise soziale Niedrigkeit durch einen Schicksalsschlag, ergibt sich Folgendes: Vermag der Mensch es, sein Festhalten an den äußeren Gegebenheiten zu überwinden, indem er ein Licht der Erkenntnis auf dem Weg (ṭarīq) erlangt, eröffnet sich ihm die wahre Natur der Dinge, die sich entgegen dem äußeren Schein des Diesseits verhält. Für ihn ist äußere Niedrigkeit nicht negativ, da er weiß, dass alle Menschen sich in der einen oder anderen Form der Abhängigkeit befinden. Wirkliche Ehre, als Gegensatz zur Niedrigkeit, liegt dementsprechend nicht in Ruhm und Ansehen in der Gesellschaft, sondern in der Erkenntnisfähigkeit. Aus diesem Grund kann dem Bettler mehr Ehre zukommen als dem Herrscher, der doch äußerlich alle Insignien der Macht und Ehre verkörpert. Aus theologischer Perspektive, kann abschließend formuliert werden, ist der Weg gleichbedeutend mit dem Sufitum oder sogar mit der Religion selbst, insofern sie Rechtleitung (hudā) ist, eine Leitung auf dem Weg. Mindestens 219
MT, S. 45–6.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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aber kommt dem Weg eine herausragende Stellung in der Religion zu – viele Bilder des koranischen Ausdrucks deuten darauf und hinsichtlich des Sufitums verbindet er die Pole von Innen und Außen, Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) und weist somit auf die Gotteserkenntnis hin. Und insbesondere deutet die Betonung des Weges bei Ibn ʿAǧība auch auf die Situation des Einzelnen. Mit einem Blick auf die verschiedenen Ebenen und Pole eröffnet sich dem Menschen der Weg zur Erkenntnis oder verschließt sich bei Vernachlässigung. Der Meister ʿAlī al-Ǧamal fasst es folgendermaßen zusammen: Wer sich dem Weg der Erkenntnis verschreibt, „erkennt seinen Herrn in manchen Dingen und ignoriert Ihn in anderen. Er findet Ihn dort wo er Ihn erkennt und verliert Ihn, wo er Ihn ignoriert.“220 Dieser Zustand, führt er aus, ist ein Anzeichen für die noch bestehende Trennung zwischen dem Diener und seinem Herrn. Wer Gott aber in allen Dingen erkennt, der findet Ihn in allen Dingen und die Seelenruhe kann einkehren, da er die Bedeutung hinter dem Schein der Dinge erkennt.221
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības Um sich dem Religionsbegriff bei Ibn ʿAǧība zunächst weiter theoretisch anzunähern, bedarf es nach der Darstellung der grundlegenden Struktur durch das Gabriel-Hadith und des Ursprungs der Religion einer dritten Ebene, der Tradition bzw. des Zwischenmenschlichen. Diese Ebene vereint das Thema vom Ruf zum Einheitsglauben des Herzens als übergreifende Maxime mit der Methode aus dem Gabriel-Hadith. Denn in der lebendigen Weitergabe der Lehre, im Austausch von Meister und Aspirant, löst sich die Grenze zwischen dem Glauben und der Systematik dahinter; wobei der Glaube sich ja tendenziell einer genauen Beschreibung entzieht und die Systematik oft die menschliche Realität auszublenden droht. In diesem Kapitel wird die Dynamik behandelt, die im Zusammenhang von Lehre (Rahmen) und individueller Auseinandersetzung mit dem Glauben (Inhalt) entsteht. Konkret wird dazu die Schule der Šāḏiliyya vorgestellt sowie die Genese und die wesentlichen Züge der Tradition Ibn ʿAǧības diskutiert, der Darqāwiyya-Šāḏiliyya, und ihre Beziehung zu der Sufi-Schule al-Ġazālīs behandelt. Vor dem Hintergrund der ursprünglichen Religion, die dem Menschen natürlicherweise innewohnt, stellt sich die Frage: Wieviel theologischer Ausdifferenzierung bedarf die Lehre der Sufis, wenn doch die Erkenntnis ihren Sitz 220 Muḥammad at-Tamsamānī, Kitāb Sayyidī ʿAlī al-Ǧamal, Beirut: Dār al-Kutub alʿIlmiyya, 2007, S. 105. 221 Ebenda, S. 105–9.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
im Herzen hat und maßgeblich an die Praxis geknüpft ist? Einerseits betont Ibn ʿAǧība den Ruf zum Glauben und die damit verbundene Einladung, den Weg der Erkenntnis zu gehen, andererseits knüpft er an den Weg zahlreiche Bedingungen. Und wo verläuft die Grenze, die das jedermann zugängliche Sufitum, das auch Ibn ʿAǧība vor seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum kannte, von dem Weg trennt, auf dem man sich ausschließlich mit der Gotteserkenntnis beschäftigt? In diesem Kapitel werden die Grenzen von Rahmen und Inhalt ausgelotet, welche die spezifischen Merkmale der Lehre Ibn ʿAǧības beziehungsweise seiner Lesart der Šāḏiliyya sind. 2.3.1 Die Šāḏiliyya Die Tradition der Šāḏiliyya ist nach ihrer Gründerfigur, dem Gelehrten und Sufi Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī (oder aš-Šāḏulī;222 gest. 656/1258) benannt, der durch sein Wirken nachfolgende Generationen über die Jahrhunderte beeinflusst und inspiriert hat. Seine Lehren sind durchzogen von einer speziellen Dichte, die die Theologie auf besondere Weise durch ihre Vereinigung der Ebenen prägt. Bis heute stellen seine Aussagen und die seiner unmittelbaren Nachfolger Abū l-ʿAbbās al-Mursī (gest. 686/1287) und Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī (gest. 709/1309) ein Paradebeispiel für die Schule der Sufis und insbesondere der Šāḏiliyya dar. Die Tradition der Šāḏiliyya ist laut Ibn ʿAǧība ein Weg, der dem Menschen eine Methode eröffnet, um innere Erkenntnis zu erwirken, den Wirklichen (alḤaqq), Gott zu erkennen, den eigenen Glauben zu verwirklichen.223 Der Weg der Šāḏiliyya, so berichtet er über al-ʿArabī ibn ʿAbd Allāh (gest. ca. 1170/1756), den Lehrer des ʿAlī al-Ǧamal (gest. 1194/1780), stellt im Sinne der Konzentration auf die Herzenserkenntnis den Inbegriff der prophetischen Lehre dar, durch (innere) Enthaltsamkeit im Diesseits und die alleinige Ausrichtung auf Gott.224 In der Frühzeit des Islams besaß dieser Weg, wie auch die anderen Disziplinen der Theologie, keinen bestimmten Namen und wurde im Laufe der ersten Jahrhunderte zunächst mit der Bezeichnung taṣawwuf (Sufitum) belegt.225 Im Laufe der Zeit bildete sich eine eigene Disziplin heraus, teils in Übereinstimmung und teils in Ablehnung zu den anderen Bewegungen des Hadith, des Fiqh und des Kalam. Zeugnisse dafür sind etwa die Werke des Abū Bakr al-Kalabāḏī (gest. 380/990), des Abū Naṣr as-Sarrāǧ, des Abū ʿAbd ar-Raḥmān as-Sulamī und des al-Qušayrī.226 222 Vgl. Aḥmad Ḥāmid ʿAbd al-Karīm, An-nafaḥāt aš-Šāḏiliyya wa l-asrār al-asmariyya, Kairo: Al-Faǧr al-Ǧadīd, 1998, S. 18. 223 FI, S. 19, 37. 224 Ebenda, S. 28–9. 225 Vgl. ebenda, S. 36. 226 Vgl. Francesco Chiabotti, Entre soufisme et savoir islamique, S. 119–162, 316–339.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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Im 6./12. und 7./13. Jahrhundert bricht eine bedeutende Epoche für die Sufis an. Das wird unter anderem durch die Revolution begünstigt, die das Werk al-Ġazālīs (gest. 505/1111) ausgelöst hatte, wodurch das Sufitum verstärkt der breiten Masse zugänglich wird.227 Mit der zunehmenden Verbreitung treten die heute noch bekannten Sufis auf den Plan, wie ʿAbd al-Qādir al-Ǧaylānī (gest. 561/1166), Aḥmad ar-Rifāʿī (gest. 578/1182), ʿUmar Ibn al-Fāriḍ (gest. 632/1235), Ibn ʿArabī, Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī, Ǧalāl ad-dīn ar-Rūmī (gest. 672/1273), Aḥmad al-Badawī (gest. 674/1276), Ibrāhīm ad-Disūqī (gest. 696/1296) sowie viele weitere. In dieser Phase wird die Systematik, die ohnehin im Sufitum durch al-Qušayrī, aṭ-Ṭūsī, al-Muḥāsibī (gest. 243/857) und al-Ġazālī bereits bestand, noch weiter ausdifferenziert und es entsteht schließlich eine eigene Schule der Sufis.228 Ähnlich der Entwicklung in anderen Disziplinen der Theologie entstehen verschiedene Schulen, die sich auf theoretischer Ebene mit bestimmten Werken bevorzugt befassen und auf praktischer Ebene bestimmte Riten ausüben, um den Gläubigen zu unterweisen. Über Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī ist bekannt, dass er zum Beispiel die Werke von al-Qušayrī und al-Ḥakīm at-Tirmiḏī (gest. 320/869) regelmäßig mit seinen Schülern las229 und seinen Schülern Litaneien zu lesen gab (awrād; sing. wird oder aḥzāb; sing. ḥizb), die sie täglich zu einer bestimmten Tageszeit lesen sollten sowie das tägliche Gedenken (ḏikr), das bedeutet, einen der göttlichen Namen oder eine Phrase in einer bestimmten Anzahl zu wiederholen.230 Zu Beginn der Bewegung ist das Eponym „Šāḏiliyya“ noch nicht von besonderer Bedeutung. Eine Rolle spielt es insofern als die Bezugnahme auf die eigene Überliefererkette des Sufitums, die bis zum Propheten zurückreicht (silsila), als etwas Segensreiches verstanden wurde. Breitere Bekanntheit erlangt der Name erst, als sich das Sufitum um das 13. Jahrhundert endgültig etabliert hat und in diesem Zuge die Häuser der Sufis, die zawāyā (pl. für zāwyā, auch Tekke, ribāṭ, ḫāniqāh) entstehen, die Versammlungsorte und Unterkünfte der Sufigemeinschaften (ṭarīqa: Sufibewegung oder Orden; pl. ṭuruq). Außerdem wird zu dieser Zeit ein Unterscheidungsmerkmal zu anderen Bewegungen immer wichtiger.231 227 Vgl. Toby Mayer, „Theology and Sufism“, in Classical Islamic Theology, S. 270–4; vgl. auch ʿAbd al-Ḥalīm Maḥmūd, Al-madrasa aš-Šāḏiliyya al-ḥadīṯa, Hg. Aḥmad Šaʿbān, Kairo: Dār an-Naṣr li-ṭ-Ṭibāʿa, 1387 n. H. (1968), S. 313–41. 228 Vgl. Vimercati Sanseverino, Kapitel „Fès, centre du soufisme ‚ghazalien‘ (5–6/11–12 Jhdt.)“ in Fès et sainteté; Aḥmad Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, Hg. aṣ-Ṣādiq al-Ġaryānī, Beirut: Dār Ibn Ḥazm, 2006, S. 55. 229 Vgl. Geneviève Gobillot, „Présence d’al-Hakîm at-Tirmidhî dans la pensée shâdhilî“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 31–52. 230 Vgl. etwa Ibn Muḥammad al-Ḥimyarī (Ibn aṣ-Ṣabbāġ), Durrat al-asrār wa tuḥfat alabrār, Kairo: Al-Maktaba al-Azhariyya, 2001, Kapitel 3. 231 Vgl. Mīʿād al-Kaylānī, Tārīḫ takkāyā Baġdād wa l-mašyaḫa aṣ-Ṣūfiyya fī l-ʿahd al-
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Theologisch relevant ist dabei die erwähnte Überliefererkette, über die die Lehre bis zum Propheten zurück zu verfolgen ist, wie eine Überliefererkette im Hadith. Das ist insofern von besonderer Bedeutung, da die Sufis gerade darauf Wert legten, nicht eine Religion der Schrift, sondern eine lebendige Tradition zu pflegen. In der Überliefererkette übergibt der Meister (šayḫ) dem Aspiranten (murīd) die Verantwortung für die Lehre, was etwas anderes und ungleich höher ist, als die einfache Aufnahme als Aspirant, um den Weg zu gehen.232 In einem eigenen Kapitel seiner Autobiographie gibt Ibn ʿAǧība die Kette seiner Lehrer und Meister in der Disziplin des Sufitums an.233 Die Linie beginnt (hier verkürzt dargestellt; für die volle Überlieferungskette siehe Appendix I) mit seinem Meister al-Būzīdī, und geht weiter mit ad-Darqāwī und ʿAlī al-Ǧamal über Yūsuf al-Fāsī, Aḥmad Zarrūq, und Muḥammad und ʿAlī Wafā, Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī, Abū l-ʿAbbās al-Mursī und Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī sowie ʿAbd as-Salām Ibn Mašīš (oder Bašīš)234 (gest. 625/1227) bis hin zu al-Ḥasan ibn ʿAli und dessen Vater ʿAlī ibn Abī Ṭālib und schließlich zum Propheten Muḥammad selbst, über den Engel Gabriel, der von Gott beauftragt wird.235 Ibn ʿAǧība gibt anschließend eine zweite Variante an, die nach ʿAbd as-Salām Ibn Mašīš bei ʿAbd ar-Raḥmān al-Madanī az-Zayyāt einen anderen Verlauf nimmt und über Abū Bakr aš-Šiblī und al-Ǧunayd al-Baġdādī, Sarī as-Saqaṭī, Maʿrūf al-Karḫī, Dāwūd aṭ-Ṭāʾī, Ḥabīb al-ʿAǧamī und al-Ḥasan al-Baṣrī schließlich bei al-Ḥasan ibn ʿAli angelangt, der das Wissen von seinem Vater ʿAlī ibn Abī Ṭālib erlangte, der es wiederum vom Gesandten Gottes Muḥammad hörte. Etwas weniger ausführlich stellt er die Überliefererkette im Īqāẓ al-himam dar.236 In dieser zweiten Variante wird betont, dass al-Ḥasan al-Baṣrī den Weg der Sufis in innerlicher und äußerlicher Form erlernte – Wissen und Form des Gottesgedenkens (ḏikr).237 Diese Variante wird schon von Abū l-ʿAbbās al-Mursī ʿuṯmānī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2014, S. 16–38; Nelli Amri, „Les Shâḏilîs de l’Ifriqiya médiévale: filiations et affiliations à l’aune de l’historien“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 133–158; Geoffroy, Entre ésotérisme et exotérisme, les Shâdhilis, passeurs de sens (Égypte – xiii–xv siècles), S. 117–129; Cornell, Kapitel „‚Ṭarīqa Sufism‘ and the Establishment of the Shādhiliyya“, in Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism. 232 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 64–80; Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 217–34; Muḥammad ʿAzzām, At-tawāṣul aṣ-Ṣūfī bayn al-mašriq wa l-maġrib, Irbid: Modern Book’s World, 2014, S. 9–51; vgl. auch Abū l-Fayḍ al-Kattānī, „Sullam al-irtiqāʾ fī manšaʾ attaṣawwuf wa wuǧūb Šayḫ at-tarbiya“, in Al-baḥr al-masǧūr fī r-radd ʿalā man ankara faḍl Allāh bi-l-maʾṯūr, Hg. Ismāʿīl al-Masāwī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2005. 233 Fahrasa, S. 63–9. 234 Vgl. al-Fāsī al-Fihrī, Mirʾāt al-maḥāsin, S. 370. 235 Fahrasa, S. 62–3. 236 IH, S. 19–20; für sehr ausführliche Darstellung der einzelnen Personen der Šāḏiliyya und ihrer Überliefererketten zum Propheten vgl. al-Fāsī al-Fihrī, Mirʾāt al-maḥāsin, S. 373–458. 237 Vgl. al-Fāsī al-Fihrī, Mirʾāt al-maḥāsin, S. 402 und 406. Gemeint ist, dass ihm das innere Wissen vermittelt wurde und die Praktiken der Sufis, wie beispielsweise das symbolische Gewand der Sufis (muraqqaʿa).
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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erwähnt, der sie auch favorisierte.238 Diese Überliefererkette war durchaus Gegenstand von Untersuchung. Nicht zuletzt der Hadith-Spezialist Ǧalāl ad-dīn as-Suyūṭī (gest. 911/1505) hat verschiedene Aspekte und Hadithe hinsichtlich der Überlieferer der Frühzeit erörtert und kritisch beleuchtet.239 Aš-Šāḏilī hinterließ selbst keine Schriften; über seine Methode zu berichten das Sufitum zu lehren, blieb seinen Schülern überlassen. Die wesentlichen Lehren gehen, wie Kenneth Honerkamp beschreibt,240 zurück auf die Berichte von as-Sakandarī241 und Ibn Muḥammad al-Ḥimyarī, bekannt als Ibn aṣ-Ṣabbāġ (gest. 720/1320).242 Die Werke dieser beiden weisen eine bestimmte Systematik der Lehre auf, die sich jedoch einer genauen Einordnung entzieht. So zeugen die Weisheiten (Ḥikam) as-Sakandarīs offensichtlich von einer Tiefe und Verknüpfung des Geistes mit dem Herzen, als ein Lehrstück über die Beziehung des Menschen zu Gott. Die Frage, welcher Art dieses Lehrstück jedoch ist, ist noch immer Gegenstand der Interpretation. Es wurden dazu zahlreiche Kommentare verfasst, die sich in ihrer theologischen Ausrichtung untereinander teils stark unterscheiden; sie reichen von tiefster Spiritualität bis zu einer theoretischen Abhandlung über die Beziehung zwischen Gott und Mensch.243 Wie Honerkamp ausführt, fand der nächste Schritt in der Entwicklung bei dem einflussreichen Prediger Ibn ʿAbbād ar-Rundī (gest. 792/1390) statt, der die Lehren der Šāḏiliyya maßgeblich in Form goss.244 Ibn as-Sakkāk (gest. 818/1415), ein Schüler Ibn ʿAbbāds, war es auch, der in Marokko das Wort „Šāḏilī“ zum ersten Mal verwendete und damit Ibn ʿAbbād bezeichnet.245 Ibn ʿAǧība weist selbst auf diese Rolle Ibn ʿAbbāds für die Lehre hin.246 Ibn ʿAbbāds Ansatz war von einer starken, innerlichen Kraft geprägt, gepaart mit Gelehrsamkeit, wie in seinen Briefen und seinem Kommentar zu den Weisheiten as-Sakandarīs zum Ausdruck kommt. Er stößt schon zu seinen Lebzeiten durch sein Charisma und seine Systematisierung der Lehre auf großes Echo, dass noch lange nach seinem 238
Vgl. ebenda, S. 385–6. ad-dīn as-Suyūṭī, Taʾyīd al-ḥaqīqa al-ʿaliyya wa tašyīd aṭ-ṭarīqa aš-Šāḏiliyya, S. 4–20; vgl. auch Michon, Le Soufi, S. 25–9; Martin Lings, A Sufi Saint of the Twentieth Century. Shaikh Aḥmad al-ʿAlawī, Cambridge: The Islamic Texts Society, 1993, Appendix B, S. 231–3; Ibn ʿAbbād al-Maḥallī, Al-mafāḫir al-ʿaliyya, S. 150–3. 240 Kenneth Honerkamp, „A Biography of Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī dating from the Fourteenth Century“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 73. 241 Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan fī manāqib aš-Šayḫ Abī l-ʿAbbās al-Mursī wa Šayḫihī aš-Šāḏilī Abī l-Ḥasan. 242 Ibn aṣ-Ṣabbāġ, Durrat al-asrār wa tuḥfat al-abrār. 243 Vgl. dazu Yunus Wesley, Illuminated Arrival in the Ḥikam al-ʿAṭāʾiyya and three major Commentaries, Bachelorarbeit, Montclair State University, NJ, 1998, S. 1–20. 244 Honerkamp, „Ibn ʿAbbād, modèle de la Shādhiliyya“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy. 245 Kenneth Honerkamp, „A Biography of Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī dating from the Fourteenth Century“, S. 75; vgl. auch Honerkamps Aufsatz im selben Band „Ibn ʿAbbād, modèle de la Shādhiliyya“, S. 159–72, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy. 246 FI, S. 105. 239 Ǧalāl
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Tod anhalten sollte. Ibn ʿAbbād legt den Grundstein der sufischen Systematik, die später von Aḥmad Zarrūq ausdifferenziert wird und die bei Ibn ʿAǧība noch immer den Rahmen der Lehre wesentlich prägt.247 Nach as-Sakandarī verbleibt die Linie der Šāḏiliyya noch mit Muḥammad und ʿAlī Wafāʾ (um das 8./14. Jhdt.) in Ägypten, kehrt jedoch in der Linie von Ibn ʿAǧība bald nach Marokko zurück. Im 9./15. Jahrhundert erscheint eine weitere prägende Persönlichkeit, Aḥmad Zarrūq, der einerseits um eine wissenschaftlich-theologische Begründung und Kanonisierung des Sufitums streitet und andererseits durch seine rigorose Art gegenüber Betrügern bekannt wird, die das Sufitum zu ihrem eigenen Nutzen und Ansehen und nicht um der Erkenntnis willen verwenden.248 Am Werk Zarrūqs scheiden sich schließlich die Geister.249 Mit seinem an die Normativität angelegten Religionsbegriff will er beides; Sufitum und eine Lesart, die sich eng an der sunnitischen Glaubenslehre nach al-Ġazālī orientiert. Diese Vereinigung ist grundsätzlich kein Widerspruch, führte durch die Umstände jedoch zeitweilig zu einer Dichotomie, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, die über viele Perioden für das Sufitum in Marokko prägend ist. Der Streit um Wissenschaftlichkeit im Sufitum bestand schon vor dem Auftauchen der Šāḏiliyya. So hatte beispielsweise der Gelehrte Abū l-Ḥasan Ibn Ḥirzihim (gest. 559/1163) zunächst das Iḥyāʾ des al-Ġazālī verbrannt, sich aber durch einen Traum eines Besseren belehren lassen.250 Im Gegensatz dazu war der Sufi Abū Yaʿzā Yalannūr ad-Dukkālī (gest. 572/1177) zwar des Arabischen nicht mächtig, hat aber dennoch durch sein Wissen über die innere Dimension große Spuren hinterlassen, sodass er manchmal der „spirituelle Vater“ der Sufis in Marokko genannt wird.251 Beide waren Lehrer und Meister für den „Ǧunayd des Westens“ Abū Madyan Šuʿayb (gest. 594/1198), zwischen dem und aš-Šāḏilīs Meister, ʿAbd as-Salām Ibn Mašīš, nur eine Generation liegt.252 247 Vgl. Honerkamp, „Ibn ʿAbbād, modèle de la Shādhiliyya“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 159–170; vgl. dazu auch Wesley, Illuminated Arrival in the Ḥikam al-ʿAṭāʾiyya. 248 Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 214; ders., Fès et sainteté, Kapitel „Le soufisme et la Qarawiyyīn: entre Ibn ʿAbbād et Zarrūq (8–9/14–15 siècles)“. 249 Entscheidend dahingehend sind besonders seine Werke ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq sowie Uṣūl aṭ-ṭarīq, Hg. Muḥammad Ṭayyib, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2010; ebenso Qawāʿid at-taṣawwuf, Hg. Maḥmūd Bayrūtī, Beirut: Dār al-Bayrūtī, 2004. 250 Vgl. Mohamed A. M. Mackeen, „The Early History of Sufism in the Maghrib Prior to Al-Shādhilī (d. 656/1258)“, Journal of the American Oriental Society, 91 (1971), S. 398–408; Vimercati Sanseverino, Kapitel „Fès, centre du soufisme ‚ghazalien‘ (5–6/11–12 Jhdt.) – 2. Les Ibn Ḥirzihim et l’impact de l’Iḥyāʾ ʿulūm al-dīn“, in Fès et sainteté. 251 Vgl. Mackeen, „The Early History of Sufism in the Maghrib“, S. 404; at-Tādilī, Al-Maʿzā fī manāqib Abū Yaʿzā; Cornell, Kapitel „Knowledge From Our Presence: Al-ʿAzafī’s Admiranda of Abū Yiʿzzā“, in Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism. 252 Vgl. Vincent J. Cornell, The Way of Abū Madyan. The Works of Abū Madyan Shuʿayb, Cambridge: The Islamic Texts Society, 1996. S. 1–36.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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Je nach Notwendigkeit wurde die Šāḏiliyya verschieden ausgelegt. Über die Jahrhunderte entstanden verschiedene Ausprägungen und Ausdifferenzierungen der Tradition. Allgemein wird im Sufitum das Individuum in den Mittelpunkt gestellt, da laut eines geflügelten Wortes prinzipiell so viele Wege zu Gott führen, wie es Menschen gibt. Da nun aber die Gesellschaft auf die Menschen Einfluss ausübt und die Masse der Allgemeinheit Tendenzen des Zeitgeistes unterworfen ist, wird in der Auslegung der Religion darauf Rücksicht genommen. Sie bietet dem Suchenden Anleitung und Orientierung.253 Ibn ʿAǧība beschreibt in diesem Sinne, dass jedes Zeitalter verschiedener Methoden bedürfe, da die Menschen sich stets veränderten. Seinen Ursprung habe diese Lehre in der Entsendung der verschiedenen Propheten, die auch verschiedene Methoden brachten beziehungsweise anwendeten, nach dem Aya: „Für jeden von euch haben Wir Richtung und Methode bestimmt“ (K 5:48). Um zum Herzen der Menschen durchzudringen bedürften die Menschen zu allen Zeiten verschiedener Dinge und damit auch Schwerpunkte in der Lehre. Manchmal, schreibt Ibn ʿAǧība, verbreiteten sich Neid und Hass, worauf die Sufis mit einer Reform durch Zusammenhalt und gegenseitiger Liebe reagierten. Manchmal erscheine eine zunehmende Liebe zur Macht und zum Ansehen, worauf die Sufis mit einem Ruf zur Demut und Dienerschaft reagierten. Und manchmal tauche eine starke Anhaftung zum Diesseits auf, worauf sie mit einem Ruf zu Askese und Ausrichtung auf Gott reagierten.254 In diesem Sinne unterschied sich die Lehrmethode der Šāḏiliyya von Zeit zu Zeit und manche Bewegungen pflegten einen stark innerlichen Charakter und propagierten wenig oder gar keine intellektuelle Beschäftigung. Andere Bewegungen konzentrierten sich in ihrer Lehre auf den theologischen Wissenserwerb, bei dem die Erkenntnis zwar als Ziel definiert war, die geistige Beschäftigung aber im Vordergrund stand. Die Umstände veranlassten die Sufis manchmal dazu, aus unterschiedlicher Motivation heraus, ihre Lehre in eine bestimmte Richtung zu lenken. Hinzu kam mitunter die Falschinterpretation der sufischen Lehren von Seiten mancher Gelehrter, die an dem mangelnden Normativitätsglauben der Sufis Anstoß nahmen, wie es in der Episode über die Verhaftung Ibn ʿAǧības und seiner Mitstreiter zum Ausdruck kommt. Auf einige Streitpunkte zwischen den Gelehrten bezüglich der Normativität wird im nächsten Teil zur religiösen Lehre bei Ibn ʿAǧība eingegangen. Mit dem 9./15. Jahrhundert beginnen sich in Marokko die Sufi-Bewegungen (ṭuruq) endgültig institutionell und gesellschaftlich zu verbreiten255 und es ent253 Vgl. dazu Geoffroy, „Approaching Sufism“, in Sufism. Love and Wisdom, Hg. Jean-Louis Michon und Roger Gaetani, S. 52–5. 254 BM, Bd. 2, S. 192. 255 Vgl. das Fallbeispiel des Muḥammad al-Ǧazūlī, vgl. Cornell, Kapitel „An Emplotment of
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
stehen etwa die Fāsiyya, die Wazzāniyya und die Nāṣiriyya.256 Die Tradition, die der Darqāwiyya-Šāḏiliyya, der unmittelbaren Tradition Ibn ʿAǧības, vorausgeht, hat mit ʿAbd ar-Raḥmān al-Maǧḏūb (gest. 976/1569), Yūsuf al-Fāsī (gest. 988/1052) und ʿAbd ar-Raḥmān al-Fāsī (gest. 1096/1685) prominente Vertreter. Durch diese Linie wird die Tradition neu belebt und gelangt zu einiger Bekanntheit.257 Das Werk von Yūsuf al-Fāsī liefert einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der Lehren der Šāḏiliyya.258 Ungefähr 50 Jahre nach dem Tode von ʿAbd ar-Raḥmān al-Fāsī tritt die legendäre Figur des ʿAlī al-Ǧamal auf, der Scheich des al-ʿArabī ad-Darqāwī. 2.3.2 Der Weg Ibn ʿAǧības, die Ṭarīqa Darqāwiyya-Šāḏiliyya Das zweite Eponym der Bewegung geht auf Mawlāy al-ʿArabi ad-Darqāwī (gest. 1239/1823) zurück.259 Dieser stammt wie sein Meister ʿAlī al-ʿAmrānī al-Ǧamal (gest. 1194/1780) aus einer Sufi-Schule, die das Element des praktischen Weges in den Vordergrund stellte und der theoretischen, intellektuellen Beschäftigung erst im zweiten Schritt Wert zumaß.260 Gotteserkenntnis sei, wie ʿAlī al-Ǧamal betont, in der Šāḏiliyya mit der Aufrichtigkeit auf dem Weg verbunden beziehungsweise mit dem Fürwahrhalten (taṣdīq) des Weges, der essentiell in der Vereinigung des Inneren und Äußeren liege. Um den Weg zu gehen, das Herz zu erleuchten, müsse der Diener sich von seinem Ego wahrhaft lösen, nicht theoretisch-ideell.261 Die Tradition der Darqāwiyya-Šāḏiliyya weist verschiedene Merkmale auf, die sie mehr oder minder von anderen Sufi-Wegen abhebt. Eines ist die Beziehung zwischen Meister (šayḫ) und Aspirant (murīd), worauf großen Wert gelegt wird. Das kommt schon im Werk al-Būzīdīs zur Charakterlehre für den Sufi-Schüler zum Ausdruck, des direkten Meisters Ibn ʿAǧības und Schülers ad-Darqāwīs. In diesem nimmt das Verhältnis von Meister und Aspirant ganz offensichtlich eine prominente Stellung ein.262 Als Vorbild dient dabei die Beziehung des Propheten zu seinen Gefährten. Darauf wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen. a Paradigmatic Saint: The Career of Muḥammad ibn Sulaymān al-Jazūlī“, in Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism. 256 Vgl. Vimercati Sanseverino, Comentaire coranique, S. 221; ders., Kapitel „Sainteté chérifienne, erdres soufis et science insiprée: la Wazzāniyya, la Nāṣiriyya et ʿAbd al-ʿAzīz al-Dabbāgh (11.–12./17.–18. Jhdt.)“, in Fès et sainteté. 257 Vgl. Vimercati Sanseverino, Kapitel „La fondation des grands ordres et le renouveau du soufisme: entre les influences extérieures et la réforme interne (12. –13./18. –19. Jhdt.)“, in Fès et sainteté. 258 Al-Fāsī al-Fihrī, Mirʾāt al-maḥāsin. 259 Vgl. Michon, „Un témoignage contemporain sur le šayḫ darqāwī (1737–1823)“, S. 385–92. 260 Vgl. Muḥammad al-ʿArabī ad-Darqāwī, Maǧmūʿat rasāʾil Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī, S. 109–10. 261 Vgl. at-Tamsamānī, Kitāb Sayyidī ʿAlī al-Ǧamal, S. 187–94. 262 Muḥammad ibn Aḥmad al-Būzīdī, Al-ādāb al-marḍiyya li-sālik ṭarīq aṣ-Ṣūfiyya, Hg. Bassām Bārūd, Abu Dhabi: Dār al-Fatḥ, 2011. Und vgl. Michon, Le Soufi, S. 64–80.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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Ein weiteres Spezifikum liegt in der erwähnten praktischen Durchführung des Weges, um das Ego zu überwinden, wofür durchaus einschneidende Formen gewählt wurden. Wie in der Biographie zu Ibn ʿAǧība bereits erwähnt wurde, beinhaltete dies zum Beispiel, den Markt einer Stadt mit dem Besen zu fegen, über lange Zeit barfüßig zu gehen und grobe Kleidung (muraqqaʿa) zu tragen, um das eigene Ego zu überwinden.263 Die praktische Seite besteht zudem in der täglichen Lesung bestimmter Gebete (awrād, aḥzāb) oder der Wiederholung eines bestimmten göttlichen Namens (ḏikr), in lauter und leiser Form sowie besonderen Formen der Meditation.264 In der Zeit Ibn ʿAǧības steht die Schule der Darqāwiyya-Šāḏiliyya zwischen zwei Polen. Einerseits gibt es durchaus einige Bewegungen, die das Sufitum durch Geld- oder Machtgier oder Durst nach Ansehen in Verruf bringen, wie adDarqāwī selbst warnt.265 In diesem Zuge war die Bezugnahme auf die Lehren des Zarrūq von Nöten, der die „Grundlagen des Sufitums“266 aufgrund eben solcher Personen verfasste, um sie als Betrüger zu enttarnen. In diesem Zusammenhang stimmt Ibn ʿAǧība den Lehren des Zarrūq immer zu. Andererseits werden die Darqāwīs beschuldigt schlechte Neuerungen (bidʿa sayyiʾa) einzuführen, da die erwähnten praktischen Übungen manchen als übertrieben erscheinen. Und die Argumentation der Gelehrten gegen die Darqāwīs erfolgte von Gelehrten, denen die Lehren Zarrūqs durchaus bekannt waren.267 Ibn ʿAǧība steht nun als Teil der Gelehrtenstruktur, aufgrund seiner hohen Ausbildung, nachdem er sich gänzlich dem Sufitum zugewendet hat, aus Sicht der Gelehrten zwischen den Stühlen. Aus Sicht Ibn ʿAǧības und seiner Meister jedoch befindet er sich genau an der richtigen Stelle. Er ist ein angesehener Gelehrter und gleichzeitig ein Sufi, der sich voll und ganz der Schule seiner Meister verschrieben hat. War der Bewegung der Darqāwīs schon vor Ibn ʿAǧība gewisser Erfolg gegönnt, erhält sie durch Ibn ʿAǧība neue Energie und verbreitet sich schnell.268 In gewisser Hinsicht wird Ibn ʿAǧība zu einer Speerspitze der Bewegung. Es wurde darauf verwiesen, dass prinzipiell Ibn ʿAǧība die Rolle für ad-Darqāwī zukommt, die as-Sakandarī für aš-Šāḏilī übernahm – die ursprüngliche Kraft des gelebten Glaubens wird durch ein Schreibtalent zugänglich und entfaltet dadurch neue Kräfte.269 Wie dem auch sei, Ibn ʿAǧība ist eine besondere Person für beide Scheichs ad-Darqāwī und al-Būzīdī. Ad-Darqāwī erwähnt und lobt Ibn ʿAǧība namentlich in seinen Briefen.270 263
Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 145–9. Vgl. Abdelbaqi Meftah, „L’initiation dans la Shâdhiliyya-Darqâwiyya“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg Éric Geoffroy, S. 237–48. 265 Al-ʿArabī ad-Darqāwī, Maǧmūʿat rasāʾil Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī, S. 393. 266 Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf; vgl. auch Zarrūq, Uṣūl aṭ-ṭarīq. 267 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 139–49. 268 Vgl. ebenda, S. 153–55. 269 Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 213. 270 Beispielsweise Muḥammad al-ʿArabī ad-Darqāwī, Rasāʾil Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī 264
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Die Reisen Ibn ʿAǧības durch Teile Marokkos sind durchaus von großem Einfluss und die Anzahl der Menschen, die sich dem Sufitum in der Lehrweise der Darqāwīs angeschlossen haben, muss groß gewesen sein.271 Zumindest ist der Aufruhr solcher Art, dass schließlich der Bewegung ein öffentlicher Prozess angehängt wird, bei dem es nicht eigentlich um den eigentlichen Tatbestand geht, sondern um den wachsenden Einfluss der Darqāwīs, wie im Kapitel über den Lebensweg behandelt (1.3). Dabei tritt die Methode der Lehre Ibn ʿAǧības zutage, die immer auch ein praktisches Element beinhaltet.272 Die Gelehrten, die vor der Obrigkeit gegen Ibn ʿAǧība und seine Unterstützer argumentieren, sind keine dem Sufitum unkundigen, sondern selbst belesen und gelehrt in der Disziplin. Wie Ibn ʿAǧība selbst, hatten sie alle das Sufitum theoretisch studiert: dennoch kommen einige zu dem Schluss, dass manche Praktiken der Schule nach ad-Darqāwī zu weit gehen. In der Koranexegese (tafsīr) berichtet Ibn ʿAǧība, dass jemand zu ihm gekommen sei und erzählte, einige der Gelehrten in Fès hätten konsensuell darüber befunden, sein Meister zähle zu den Leuten der schlechten Neuerungen (bidʿa sayyiʾa), was er kategorisch abgelehnt und entgegnet habe, sein Meister zähle zu den Leuten, die sich an der Sunna des Propheten orientierten.273 Das kann in der Tat nicht alle Gelehrten von Fès betroffen haben; Ibn ʿAǧība erwähnt, dass während des Ereignisses seiner Inhaftierung, ihm einige Gelehrte aus Fès beigestanden haben.274 Das hätten sie wohl andernfalls nicht getan. Belege dafür wurden im Teil zur Biographie bereits angeführt. Was die Lehre selbst anbelangt, bleibt Ibn ʿAǧības Gelehrsamkeit bestehen, das Studium des äußerlichen, theoretischen Sufitums wird jedoch um die praktische Erkenntnislehre erweitert. Während er in seinem Studium die Methoden des Sufitums nach as-Sakandarī in der Interpretation von Zarrūq kennenlernt, beginnt für ihn mit seinem Meister al-Būzīdī eine neue Ära. Zeit seines Schaffens lehnt er deswegen die Interpretationen des Zarrūq nicht ab, vielmehr zitiert er ihn regelmäßig und begegnet ihm mit größtem Respekt. Die Ebene des Verstehens, welche die sufischen Schriften Zarrūqs im Allgemeinen prägt, betrachtet er im Hinblick auf die Erleuchtung (fatḥ) jedoch als untergeordnet; es werden innere Vorgänge des Menschen behandelt, nicht aber die Ebene der Erleuchtung. Ibn ʿAǧība schreibt hierzu: „Der Scheich unserer Scheichs Sayyidī ʿAlī al-ʿAmrānī, möge Gott mit ihm zufrieden sein, sagte: ‚Der Scheich Aḥmad Zarrūq wurde erst in hohem Alter erleuchtet.‘ Das bedeutet, al-musammā bušūr al-hadiyya fī maḏhab aṣ-Ṣūfiyya, Hg. Ibrāhīm al-Kayyālī, Beirut: Dār alKutub al-ʿIlmiyya, 2009, S. 35. 271 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 164–8; aṣ-Ṣiġayyir, Iškāliyyat iṣlāḥ alfikr aṣ-ṣūfī fī l-qarnayn 18./19. Aḥmad Ibn ʿAǧība wa Muḥammad al-Ḥarrāq, S. 183–5. 272 Vgl. ʿAzzūzī, „Mabdaʾ ḫarq al-ʿawāʾid wa isqāṭ at-tadbīr ʿind aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība (t 1224)“, in Aʿmāl nadwa aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Hg. Al-ʿImrānī, ʿAbd as-Salām u. a., S. 96–100. 273 BM, Bd. 1, S. 330. 274 Fahrasa, S, 61–2.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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er veröffentlichte nichts mehr nach der Erleuchtung (fatḥ). Und Gott weiß es am besten. Sein Werk ist Zeuge dafür [die Aussage des ʿAlī al-ʿAmrānī], da seine Ausführungen denen eines Mutakallim gleichen […]). In der Lehre über den Weg (ṭarīqa) ist er ein Imam, was aber die Lehren der Wirklichkeit (ḥaqīqa) anbelangt und die Geheimnisse der Erfahrung, wusste er davon nichts, außer gegen Ende seines Lebens.“275
Die Frage, wann und wie Zarrūq zur letztlichen Erleuchtung fand und was er in den letzten Jahren seines Lebens lehrte, ist eine offene Forschungsfrage.276 Ursprünglich hatte sich Zarrūq zu seiner Zeit auch von Gelehrten abgegrenzt, die zu sehr auf dem normativen Aspekt der Theologie bestanden, nicht nur von Sufis, die theologisch Falsches praktizierten (bidʿa). Schon auf der Ebene des Sufitums, auf die Ibn ʿAǧība im obigen Zitat anspielt, grenzt Zarrūq sich von anderen Gelehrten ab und nennt sie „die Gelehrten des Äußeren“277, da diese sich vollständig vom Kern der Religion entfernt hätten und nur ihren persönlichen Gelüsten nacheiferten und die Religion politisch einsetzten. Die Lesart Zarrūqs war jedoch in der Zeit Ibn ʿAǧības zum Standard in der Lehre geworden, die Menschen hatten sich geändert und eine restriktive Auslegung des Sufitums Einzug gehalten.278 Was einst revolutionär war, ist nun gewissermaßen Teil der Gelehrsamkeit, die mit der Obrigkeit zusammenarbeitet.279 Insofern ist das obige Zitat über das Werk Zarrūqs anders einzuordnen, als es zunächst den Anschein haben mag. Nachdem Ibn ʿAǧība bei seinem Meister al-Būzīdī in die Lehre geht, schlägt sich die neue Ausrichtung auch insofern nieder, als er andere Literatur verwendet. Von nun an behandelt er in den sufischen Schriften das Sufitum nicht mehr nur intellektuell anhand der zu der Zeit traditionell vorgesehenen Quellen, wie etwa Zarrūq, al-Ġazālī und al-Būṣayrī, sondern erweitert den Rahmen durch al-Qušayrī, Ibn ʿArabī, al-Ǧīlī, aš-Šuštarī sowie seine zeitlich nahen Meister alBūzīdī, ad-Darqāwī und ʿAlī al-Ǧamal und viele andere, die über die erlebte Gotteserkenntnis berichten.280 Diese beiden Auslegungen bestehen, wie im vorigen 275
SNS, S. 69.
276 Zumindest
kann festgestellt werden, dass sich gegen Ende seines Lebens etwas verändert, als er sich schließlich in Miṣrāta niederlässt. vgl. Ghulam Shams ur Rehman, A Critical Edition of Qawāʿid al-Taṣawwuf. By Aḥmad Zarrūq (d. 899/1493) with Introduction, Doktorarbeit, University of Exeter, Exeter, 2009, S. 20 und 24–6. In der letzten Zeit seines Lebens entstehen viele seiner ca. 30 Kommentare zu den Weisheiten des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī, die bisher jedoch noch keiner eingehenden Betrachtung unterzogen wurden. Einige wurden mittlerweile verlegt: Aḥmad Zarrūq, Šarḥ al-ḥikam al-ʿĀṭāʾiyya (Šarḥ 15), Hg. ʿĪsā ʿIṭīwī, Kairo: Maktabat al-Funūn wa l-Ādāb, 2014; ders., Šarḥ al-ḥikam al-ʿĀṭāʾiyya (Šarḥ 15), Hg. Muṣtafā Marzūqī, Beirut: Dār Ibn Ḥazm, 2012; ders., Miftāḥ al-faḍāʾil wa n-niʿam fī l-kalām ʿalā baʿḍ mā yataʿallaq bi-l-ḥikam (Šarḥ 16), Hg. Muḥammad Ṭayyib, Beirut: Books-Publisher, 2015; ders., Aš-šarḥ as-sābiʿ ʿašar ʿalā al-ḥikam al-Aṭāʾiyya (Šarḥ 17), Hg. ʿAbd al-Ḥalīm Maḥmūd, Kairo: Al-Maktaba at-Tawfīqiyya, 2011. 277 Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf, S. 44; IH, S. 130. 278 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 175. 279 Vgl. ebenda, S. 174–6. 280 Vgl. auch Michon zu den Quellen Ibn ʿAǧības, Le Soufi, S. 148–51.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Kapitel erwähnt, schon in sehr früher Zeit nebeneinander: Das Sufitum der Gelehrten und das der Erfahrung, wie es bei dem des Arabischen nicht mächtigen Abū Yaʿzā zum Vorschein kommt.281 Ibn ʿAǧība führt nun beides zusammen.282 Besonderen Anstoß haben einige Gelehrte an der öffentlichen Präsentation des Sufitums durch das laute Gottesgedenken (ḏikr), begleitet von Gesang, der rauen Kleidung (muraqqaʿa) und der teils großen Gebetsketten (sibḥa), die sich die Darqāwīs um den Hals legten, genommen. Eigentlich hatte seit längerem in der Theologie ein loser Konsens über die Rechtmäßigkeit dieser Praktiken bestanden,283 daher ist anzunehmen, dass die Feindseligkeit auf etwas anderes zurückzuführen ist. Eine Erklärung wäre, dass im Falle Ibn ʿAǧības – er als Gelehrter – ein Bruch mit der bestehenden Ordnung geschah: Er war Gelehrter und Darqāwī. So wird er in Kreisen der Obrigkeit trotz seiner Einladung zum Weg der Sufis der „Faqīh Ibn ʿAǧība“284 genannt; er wird trotz seiner Zugehörigkeit zu den Darqāwīs als Gelehrter weiterhin geachtet. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Ibn ʿAǧība in seinen Schriften nicht eigentlich Zarrūq selbst kritisiert, sondern vielmehr die Auslegung und Betonung seiner Lehren seitens mancher zeitgenössischer und vorausgehender Gelehrter und zwar genau unter dem Aspekt der Verwirklichung des Einheitsglaubens durch die Praxis. Das gilt für einige wenige Stellen in seinem Werk. Ibn ʿAǧība: „Einige Rechtsgelehrte sagen: ‚Der Scheich Zarrūq ist der Aufseher (muḥtasib)285 der Sufis.‘ Ich sage jedoch, dass er vielmehr der Aufseher der Sufis des Äußeren ist, die Leute des äußerlichen Gottesdienstes, der äußerlichen Frömmigkeit. Was aber die Leute des Inneren anbelangt, die Leute der Erziehung [tarbiya; durch Praxis], ist er für sie kein Aufseher. Denn sein Wissen umfasst ihr Wissen nicht. Ich hörte den Scheich der Scheichs der Erziehung (tarbiya) in unserer Zeit, Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī al-Ḥusaynī, möge Gott mit ihm zufrieden sein, sagen: ‚Der Scheich Zarrūq ist bei den Leuten des Äußeren eine große Sache, bei den Leuten des Inneren jedoch eine kleine.‘“286
Überwiegend bleibt Zarrūq als Ankerpunkt der Theologie bei Ibn ʿAǧība bestehen.287 Die Darqāwīs und Ibn ʿAǧība haben jedoch darauf bestanden, dass der Rahmen der Normativität nicht in den Mittelpunkt der Lehre gerückt werden 281
Vgl. Mackeen, „The Early History of Sufism in the Maghrib“, S. 398–408. Dazu mehr im Kapitel über die Quellen bei Ibn ʿAǧība. 283 Vgl. etwa al-ʿArabī ad-Darqāwī, Maǧmūʿat rasāʾil Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī, S. 116; as-Suyūṭī, Al-ḥāwī li-l-fatāwā, Bd. 1, S. 389–94; vgl. auch die Ausführungen as-Suyūṭīs in Taʾyīd al-ḥaqīqa al-ʿaliyya wa tašyīd aṭ-ṭarīqa aš-Šāḏiliyya, bspw. zu den Lumpen der Sufis, S. 12–3; Azzuzi, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 172; Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, das gesamte Werk dreht sich maßgeblich um derlei Fragen; Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf, S. 192–3, 207. 284 ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 173. 285 Einen solchen Titel bekam er bereits zu seinen Lebzeiten verliehen, vgl. Shams ur Rehman, A Critical Edition of Qawāʿid al-Taṣawwuf, S. 23. 286 SNS, S. 70. 287 Vgl. etwa IH, S. 57, 113. 282
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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dürfe. In der prophetischen Lehre sei der Rahmen lediglich ein Mittel, nicht aber die Essenz.288 Ob nun den anderen Gelehrten Marokkos derlei Aussagen Ibn ʿAǧības bekannt waren oder nicht – das obige Zitat stammt aus einem späteren Werk – es wurde doch so großer Anstoß an seiner Person und der Darqāwiyya genommen, dass Ibn ʿAǧība und anderen unter falschem Vorwand der Prozess gemacht und sie der schlechten Neuerung in der Religion angeklagt wurden. Dies bezog sich konkret auf die erwähnte Praxis der Sufis, obwohl Ibn ʿAǧība speziell auch von der Obrigkeit Tétouans unter Druck gesetzt wurde von seinen Positionen grundsätzlich zurückzutreten.289 Ibn ʿAǧība scheint einige Personen der Obrigkeit provoziert zu haben. Theoretisch boten diese äußerlichen Merkmale keinen wirklichen Anlass, um einen ernsthaften Prozess zu führen. Auch Zarrūq hält etwa das Tragen der groben Kleidung der Sufis für statthaft, wenn es aus den richtigen Motiven heraus geschieht.290 Der tatsächliche Grund für die verschiedenen Praktiken der Sufis liegt laut Ibn ʿAǧība darin, dass, wie erwähnt, die Menschen zu allen Zeiten anderer Methoden bedürfen, um ihr Herz freizulegen und das Ego zu überwinden. Bezogen auf die Praxis der Darqāwīs, berichtet er, dass in der Frühzeit, den ersten drei Jahrhunderten nach der Prophetenzeit, derlei nicht notwendig gewesen sei, da die Menschen sich noch ausreichend an die Präsenz des Gesandten Gottes erinnerten. Danach jedoch sei es zur Konvention geworden, dass die Suchenden Dinge taten, um ihr Ego zu überwinden, durch seltsame Kleidung oder Gebetsketten um den Hals und andere Dinge, wie das Lesen von bestimmten Litaneien (awrād). Als dann Leute auftraten, die diese Konventionen zweckentfremdeten, um Ansehen zu erlangen, riefen die Sufis dazu auf, sich wieder enger an der Frühzeit zu orientieren.291 Das bedeutet, das öffentliche Vorzeigen der eigenen Zugehörigkeit zu den Sufis, beispielsweise durch die grobe Kleidung, hängt von den Umständen ab. In gewisser Hinsicht zeigt die missgünstige Reaktion einiger Gelehrter genau die Funktionsweise der Methode der Darqāwīs zurzeit Ibn ʿAǧības. Durch das barfüßige Laufen, das Tragen von Lumpen und verrichten einfachster Arbeiten wurde ein Mensch als niedrig angesehen. Genau dies ist Zweck der Praxis, wie im biographischen Teil gezeigt wurde. In diesem Sinne kann die Bewegung der Darqāwīs als eine Bewegung zurück zu den Wurzeln der direkten Erfahrung angesehen werden, wie es in der Frühzeit praktiziert worden ist. Dazu mehr im folgenden Kapitel. Die äußerliche Erscheinung der Darqāwīs damals soll jedoch nicht davon ablenken, was eines der bedeutenden Merkmale der Schule ausmacht: Die Beziehung zwischen Meister und Aspirant. 288
Vgl. ebenda, 486. Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 172–3. 290 Vgl. FI, S. 146; Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 65, 136–7, 256–9. 291 BM, Bd. 4, S. 441. 289
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
2.3.3 Meister (šayḫ) und Aspirant (murīd) „Das Wissen ist Religion und das Gebet ist Religion. So gebt Acht von wem ihr diese Religion nehmt und wie ihr dieses Gebet betet, denn ihr werdet danach am Tage der Auferstehung gefragt.“ – Der Prophet Muḥammad –292
Die Schule der Šāḏiliyya basiert im Allgemeinen auf der persönlichen Weitergabe oder Tradierung. Schon in den ersten Schriften über aš-Šāḏilī selbst und seinen Nachfolger, in den Schriften von as-Sakandarī293 und Ibn aṣ-Ṣabbāġ294, ist eine deutliche Bezugnahme auf das zwischenmenschliche Element als Basis zu erkennen. Das wird zum einen durch die Darstellung in den Werken deutlich, die sich als Mischung aus Lehrwerk und Hagiographie präsentieren, zum anderen sind in der prophetischen Lehre, wie im Kapitel zum Ruf zum Einheitsglauben beschrieben, Inhalt und Überbringer eng miteinander verwoben. Das kommt auch in den vielen Geschichten zum Ausdruck, die über die Annahme des SufiWeges der Gelehrten berichten – beispielsweise as-Sakandarī, al-ʿIzz Ibn ʿAbd as-Salām (gest. 660/1262) und eben auch Aḥmad Ibn ʿAǧība.295 Das Muster ist dabei meist dasselbe: Jemand, vielleicht auch ein Gelehrter, kommt zu dem SufiMeister und dieser weist oder eröffnet dem Suchenden einen Weg, indem er ihn durch einen Hinweis (išāra), der zwischen dem Äußeren und Inneren verbindet, zuerst neugierig macht. Das führt anschließend dazu, dass die Stimme des Herzens laut wird. Das ist die Fähigkeit des Gotteskenners (al-ʿārif bi-Llāh) das göttliche Wirken in der Welt zu interpretieren und so die Religion zu vermitteln. Das beleuchtet jedoch nur den Beginn des Verhältnisses zwischen dem Meister, dem Scheich (šayḫ) und Gotteskenner (ʿārif ) und dem Aspiranten (murīd), dem Gottessucher. Das Verhältnis selbst bezeichnet Ibn ʿAǧība meist durch das Wort Erziehung (tarbiya). Sich einem Meister in diesem Sinne zu verschreiben bedeutet, ihn als Führer auf dem Weg (ṭarīq oder sayr) zu akzeptieren. Dies ist eng mit dem Benehmen verknüpft, das bei den Sufis nicht lediglich das Benehmen gegenüber den Mitmenschen meint, sondern in einem umfassenden Sinne alles Benehmen; zwischen dem Suchenden, seinem Meister, den anderen Aspiranten, den Mitmenschen und schließlich natürlich dem Schöpfer gegenüber. Denn das Ziel des Suchenden, die innere Erkenntnis, ist ebenso umfassend.296 292
STB, S. 100–1; das Hadith in Kanz: Daylamī (Musnad Firadaws), Nr. 28666.
293 As-Sakandarī,
Laṭāʾif al-minan. Ibn aṣ-Ṣabbāġ, Durrat al-asrār wa tuḥfat al-abrār. 295 Vgl. as-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan, S. 93–4. As-Sakandarī berichtet dort, wie er selbst zu den Sufis fand; für Ibn ʿAbd as-Salām vgl. Ibn aṣ-Ṣabbaġ, Durrat al-asrār wa tuḥfat al-abrār, S. 126; für Ibn ʿAbd as-Salāms Zugehörigkeit zur Šāḏiliyya vgl. Shams ur Rehman, A Critical Edition of Qawāʿid al-Taṣawwuf, S 137 sowie Tāǧ ad-dīn as-Subkī, Ṭabaqāt aš-Šāfiʿiyya al-kubrā, 10 Bde., Hg. Maḥmūd at-Tanāḥī und ʿAbd al-Fattāḥ al-Ḥuluw, Kairo: Dār Iḥyāʾ al-Kutub alʿArabiyya, o. J., Bd. 8, S. 214–5; für Ibn ʿAbd as-Salāms Verständnis von Sufitum siehe beispielsweise sein Werk Ḥall ar-rumūz. 296 Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 219; IH, S. 174–81. 294
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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Denis Gril fasst für die Schule der Sufis zusammen, dass das Entsenden der Propheten zu den Menschen durch den barmherzigen Schöpfer, entsprechend dem Ruf zum Einheitsglauben des Herzens insbesondere unter dem Aspekt einer inneren und äußeren Erziehung (tarbiya) zum Glauben zu verstehen sei. Diese Erziehung ist es, die den Suchenden zur Erkenntnis führt. Hat der Suchende seinen Meister gefunden und erkannt, begibt er sich unter dessen Fittiche, nach dem Vorbild der Gefährten des Propheten Muḥammad, die auf diese Weise von ihm auf die vorzüglichste Weise erzogen wurden und die das Wissen darum weitergaben.297 Üblicherweise wird nach dem prophetischen Vorbild auch ein Treueschwur (oder Bund; bayʿa oder ʿahd) an den Meister geleistet.298 Die vorzüglichste Weise, den Weg der Erkenntnis zu gehen beziehungsweise von seinem Meister zu lernen, ist die direkte Begleitung des Meisters, des Scheichs (ṣuḥba), woraufhin Ibn ʿAǧība in seinem Werk oft hinweist und was auch schon im Teil zu seinem Lebenswerk Thema war.299 Auch insbesondere in diesem Punkt stellt die Lehre Ibn ʿAǧības gewissermaßen eine Rückkehr zu den Wurzeln dar und hebt sich stark von dem theoretischen Sufitum ab, das den meisten Gelehrten wie bereits erwähnt zu Ibn ʿAǧības Zeit in der Spielweise des Zarrūq bekannt war. Da die Aufgabe und Verantwortung, als Meister (muršid) einen suchenden Menschen zu leiten, von so herausragender Stellung ist, sind die Anforderungen dafür entsprechend hoch. Die Voraussetzungen, die ein solcher Meister erbringen muss, sind nach Ibn ʿAǧība, dass er erstens die Pflichten kennt und die Stufen des Weges samt seiner Hindernisse sowie die Finten und Täuschungen des Egos. Der Meister kennt diese, da er zweitens diese Stufen bei einem vollkommenen Meister durchlaufen hat und sie wahrhaftig erlebt und nicht einfach übernommen hat (taqlīd). Drittens ist seine Willenskraft stark, da sie sich nicht aus seinem Ego speist, sondern aus dem „Meer der Allmacht“, im Sinne, dass sie sich aus dem geläuterten Herzen speist, was aus seiner eigenen Erfahrung resultiert. Viertens nimmt die Zufriedenheit sein Inneres ein und er verfügt über ein genügendes Maß an Aufrichtigkeit und Ausrichtung auf die Sunna. Das alles befähigt ihn, zwischen den Extremen des Murīden, des Suchenden (wörtl. des Wollenden), zu vermitteln, zwischen Scharia und ḥaqīqa.300 Um der Aufgabe der Führung gerecht zu werden, bedarf es zudem einer Kette von Wissenden, die bis zum Propheten selbst zurück reicht, wie es die bekannten Meister der 297 Denis Gril, „The Prophetic Model of the Spiritual Master in Islam“, in Sufism. Love and Wisdom, Hg. Jean-Louis Michon und Roger Gaetani, S. 63–87. 298 Vgl. Falāḥ Ḥ. al-Ǧabūrī, Al-ʿahd wa l-bayʿa ʿind as-sāda aṣ-Ṣūfiyya, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿImliyya, 2006. 299 Vgl. IH, S. 128–31; vgl. insbesondere den gesamten BM. Ibn ʿAǧība kommt geschätzt in jeder fünften išāra auf die Gotteskenner oder den Scheich und dessen Rolle auf die eine oder andere Weise zu sprechen. 300 IH, S. 128–9; vgl. Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 151–61.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Šaḏiliyya von Abū l-ʿAbbās al-Mursī bis al-ʿArabī ad-Darqāwī und auch Ibn ʿAǧība betonen.301 Diese wurde bereits im Kapitel zur Šāḏiliyya (2.3.1) dargelegt. Der Weg durch die Erziehung eines Meisters ist laut Ibn ʿAǧība der schnellste Weg, das Innere zu läutern und die verborgenen Götzen zu zerschlagen. Es ist die Lehre, wie sie der Gesandte Gottes seinen Gefährten zukommen ließ.302 Zarrūq schreibt dazu: „Wisse, dass die ersten Generationen der Sufis keine Unterscheidungen hinsichtlich des Scheichs kannten und keine Fachbegriffe [bzw. allgemeine Übereinkünfte] bezüglich des Weges verbreitet waren. Tatsächlich kannten sie nur Gemeinschaft und Begegnung. Wenn dann jemand von ihnen einen höheren als sich selbst traf, zog er seinen Nutzen aus der Begegnung […]. Aus diesem Grunde sagte Ibn al-ʿArīf, möge Gott mit ihm zufrieden sein: ‚Wie kann jemand erfolgreich sein, wenn er nicht einem Erfolgreichen begegnet?‘ Die Gefährten, möge Gott mit ihnen zufrieden sein, hatten Nutzen von seiner Anschauung [des Propheten Muḥammad], Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, bis dass Anas, möge Gott mit ihm zufrieden sein, sogar sagte: ‚Bei Gott, wir schüttelten den Staub seines Begräbnisses, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, nicht von unseren Händen, bis wir Fehler in unseren Herzen fanden.‘“303
Das Thema von der Lehre und wie sie tradiert oder weitergegeben wird, wie hier im Zitat implizit mitschwingt, wurde mitunter heftig diskutiert. Ibn ʿAǧība fasst an einer Stelle einen Streit unter den Gelehrten aus dem 8./14. Jahrhundert in Andalusien zusammen, der sich um die Frage dreht, ob es gestattet, möglich und ausreichend sei, den Rahmen der Lehre zu kennen und die Bücher der Sufis zu lesen, die Bücher all jener, die das Wissen ihrer unmittelbaren Erfahrung von der Gotteserkenntnis niederschrieben. Oder ob für die Erkenntnis ein Scheich von Nöten sei?304 Der Streit wurde mitunter erbittert geführt und es äußerten sich unter anderen Ibn ʿAbbād ar-Rundī, Ibn Ḫaldūn (gest. 808/1406), Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (790/1388) und Aḥmad Zarrūq.305 Die Gelehrten des 14. Jahrhunderts antworteten schließlich, wobei sich laut Ibn ʿAǧība drei Positionen herausbildeten: 1. Mit Blick auf den Scheich: Der Scheich, der bei der Lektüre der Bücher hilft, im Gegensatz zu dem Scheich, der den Murīden erzieht. Eine weitere Variante besteht dabei darin, jemanden um dessen Segen willen zu treffen. 2. Mit Blick auf den Murīd: Der unfähige benötigt einen Scheich, dem Fähigen genügen jedoch die Bücher, wobei er nicht vor seinem Ego gefeit ist. 301 Vgl. al-ʿArabī ad-Darqāwī, Rasāʾil Mawlāy al-ʿArabī ad-Darqāwī al-musammā bušūr alhadiyya fī maḏhab aṣ-Ṣūfiyya, S. 42–5; vgl. das Kapitel in Fahrasa zur Kette Ibn ʿAǧības Meister im Sufitum, S. 63–70. 302 Vgl. FI, S. 15 und S. 108–24. 303 Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 54–5. 304 Vgl. dazu beispielsweise Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 150–60; ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī, Marātib al-wuǧūd wa ḥaqīqat kull mawǧūd, Kairo: Maktabat al-Qāhira, 1999, S. 10–1. 305 Vgl. FI, S. 105; vgl. insbesondere Muḥammad ʿAzzām, At-tawāṣul aṣ-Ṣūfī bayn l-mašriq wa l-maġrib, S. 57–88, dort sind die einzelnen Positionen zusammengefasst.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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3. Mit Blick auf die theologischen Gegenstände: Gottesehrfurcht (taqwā) bedarf keines Scheichs, da sie klar verständlich ist. Aufrichtigkeit (istiqāma) jedoch bedarf wiederum eines Scheichs, da sie disparat ist, wobei an dieser Stelle das Lesen der Bücher ausreichen kann. Was jedoch die Eröffnung (kašf ) anbelangt, ist ein Scheich notwendig, da in unbekanntem Gebiet der Wissende notwendig ist.306 Die dritte Variante ist es schließlich, der Ibn ʿAǧība den Vorzug gibt.307 In der Geschichte der Šāḏiliyya bestehen verschiedene Betrachtungsweisen bezüglich der Frage, inwiefern ein Suchender auf einen Scheich angewiesen ist.308 Ibn ʿAǧības bevorzugte Antwort, dass die Lösung des Problems in der angestrebten Sache zu suchen sei, deckt sich mit seiner Antwort, dass das Stufengebilde des Gabriel-Hadith die allgemein zugängliche Tugendlehre und die Erkenntnislehre einschließt, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird. Der eigentliche Bezugspunkt dieser Auslegung liegt, schreibt Ibn ʿAǧība, in der Sunna des Propheten und den frühen Sufis. Zum einen, ging der Prophet selbst im Zuge der ersten Offenbarung zu Waraqa Ibn Nawfal, da er Wissen über das Prophetentum besaß. Zum zweiten, die Sunna erläuternd, liegt der eigentliche Zweck des Scheichs darin, dem Suchenden, dem Gläubigen Anleitung zu geben, da der Weg der Erkenntnis kein leichter ist. Zur Zeit der ersten Generationen der Sufis hat, führt er weiter aus, zwar keine Struktur und Systematik bestanden, wie sie später durch die Šāḏiliyya und anderen Sufigemeinschaften geprägt wurde, wohl aber seien jene Merkmale hochgehalten und gelehrt worden, die später in Form gegossen wurden.309 Damit ist die Höflichkeit und die Liebe der Gefährten dem Propheten gegenüber gemeint, die wiederum als allgemeine Sitte unter den ersten Generationen tradiert wurde. Auf dieses Element deutet, wie Ibn ʿAǧība auch anführt, der frühe Sufi Abū ʿAlī ad-Daqqāq (gest 405/1015) (oder Abū Yazīd al-Bisṭāmī) mit den Worten: „Ein Baum, wenn er ungepflanzt in der Wildnis wächst, trägt Blätter aber keine Früchte. Und selbst wenn er Früchte trägt, sind diese nicht süß, wie die Früchte der bepflanzten Gärten.“310 Mit Blick auf den Murīd kann gefragt werden, wer sich zu einer Schule zählen kann. Aḥmad Ibn ʿIyād al-Maḥallī (gest. 1153/1741) hat einige Meinungen der Gelehrten der Tradition dazu zusammengefasst. Die Zugehörigkeit zur Šāḏiliyya könne erstens durch Begegnung eines Anhängers geschehen, der ihn das Gottes306
Vgl. FI, S. 105.
307 Ebenda.
308 Vgl. dazu auch Ibn ʿAbbād al-Maḥallī, Al-mafāḫir al-ʿaliyya fī l-maʾāṯir aš-Šāḏiliyya, S. 132–4; Abū l-Fayḍ Muḥammad al-Kattānī, Madāriǧ al-isʿād ar-rūḥānī fī at-tarbiya wa s-sulūk wa l-farq bayn ṭarīqatay al-iǧtibāʾ wa l-ināba fī t-tarbiya, Hg. Abū ʿAbd Allāh Maʿūd, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2013, S. 134–44. 309 FI, S. 105; vgl. Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 54–60. Zarrūq erklärt hier ausführlich, wie die Sufi-Gemeinschaften entstanden sind und welchen Nutzen sie erfüllen. 310 Fahrasa, S. 61; vgl. FI, S. 104.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
gedenken lehre (ḏikr) und ihm ein Präsent vermache, das ihn zugehörig werden lasse. Ein zweiter Weg bestehe darin, die Bücher von jemandem zu erhalten (riwāya) und sie zu studieren, was jedoch ein schwacher Weg sei. Der dritte Weg sei, die Bücher zu erhalten und sie mit Anleitung zu studieren (dirāya), jedoch nicht danach zu handeln. Die beste Weise jedoch sei viertens das eigene Ego durch die Anstrengung des Weges zu überwinden, durch Dienst für den Scheich und an den Geschwistern und das Aufgehen im Einheitsglauben.311 Die schönste Form der vierten Variante liege wiederum in der Begleitung des Meisters, der aufrichtigen Liebe zu ihm und der Orientierung an seinem Vorbild. Zugehörig sei außerdem, schreibt Ibn ʿIyād weiter, wer etwa eine Litanei (ḥizb) der Šāḏiliyya lese und die Meister liebe. Denn schon Zarrūq habe argumentiert, im Hadith heiße es, der Mensch werde am Jüngsten Tage auferweckt, mit dem, den er liebt (Hadith): „Der Mensch ist mit dem, den er liebt.“312 Ohne einen Führer auf dem Weg besteht laut Ibn ʿAǧība die Gefahr, einem Hindernis zum Opfer zu fallen; nicht umsonst seien die Propheten gesandt worden und nicht umsonst sei das Wissen weitervererbt worden. Wer schließlich einen Meister trifft, der solle in ihm nicht einen einfachen Gläubigen sehen, sondern jemanden, der die Stelle des Propheten für ihn ausfüllt und sich entsprechend verhalten. Nach dem Vorbild der ursprünglichen Religion, bei der die Reinigung des Innern und die daraus resultierende Erkenntnis im Vordergrund stehen, herrscht bei Ibn ʿAǧība die Auslegung, dass das Erleben Vorrang vor dem Bücherwissen und der intellektuellen Beschäftigung besitzt. Die beste Form sich diesem Wissen zu nähern, ist durch einen Meister, der Aufschluss über Dinge geben kann, die auf dem Weg erscheinen und der Klärung bedürfen.313 Die theoretische Lehre der Sufis bedeutet, sich nach der Tugendlehre von den schlechten Eigenschaften wie Stolz, Machtdurst, Brutalität, Sorge vor der Armut und um das Einkommen, Frömmelei, Geiz und Gier zu reinigen und die guten Eigenschaften anzulegen, wie Demut, Zufriedenheit, Sanftmut, Seelenruhe, Aufrichtigkeit und Freigebigkeit und Genügsamkeit. Wem es jedoch vergönnt ist, Anhänger oder Getreuer eines Scheichs zu werden, schreibt Ibn ʿAǧība öfter, der bedarf einer theoretischen Beschäftigung in dieser Form nicht, da der Meister nach der Lehre der prophetischen Erziehung jedem das zukommen lässt, was er benötigt.314 Der Meister ist dazu durch göttliche Inspiration in der Lage, wie im Kapitel „Der Ruf zum Glauben“ (2.2.1) erwähnt wurde. Darauf wird in Teil 4 genauer eingegangen, wenn das Verstehen des Herzens im Mittelpunkt steht (4.3.2). 311
Ibn ʿIyād al-Maḥallī, Al-mafāḫir al-ʿaliyya fī l-maʾāṯir aš-Šāḏiliyya, S. 130–55. S. 132; das Hadith in Kanz: Tirmiḏī, Nr. 24685, weitere Varianten: Muslim, Buḫārī, Aḥmad, Ibn Ḥabbān, Nr. 24686. 313 STB, S. 52–3; FI, S. 28–9. 314 IH, S. 113–4; vgl. auch SNS, S. 140. 312 Ebenda,
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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Der Scheich weiß über die Zustände des Aspiranten Bescheid – er ist ja selbst den Weg gegangen – und gibt ihm entsprechende Aufgaben.315 Ibn ʿAǧība listet an einer Stelle die Aussagen eines Gelehrten oder Scheichs aus fast jeder Generation der Tradition auf, um zu zeigen, welch hohen Wert die Gelehrten und Meister der Erziehung und der Lebendigen Weitergabe durch einen Führer auf dem Weg haben.316 Für den Fall, dass ein Suchender keinen Scheich und Führer auf dem Weg hat, trifft er in seiner Koranexegese folgende Aussage, nachdem er den Wert des Gebets für den Propheten Muḥammad diskutiert hat: Tatsächlich verhalte es sich so, dass das vermehrte Gebet für den Propheten dem Betenden helfe einen Meister zu finden, der ihn auf dem Weg anleitet und für ihn den Platz des Gesandten Gottes einnimmt. Was aber die Frage betreffe, ob das Gebet für den Propheten den Meister ersetze, sei dies nicht der Fall. Denn das Ego breche nicht, außer durch jemanden, der dessen Fallstricke, Listen und Machenschaften kenne. Das Äußerste, das jemand erreichen könne, wenn er keinen Scheich habe, sei das Vergehen in den Eigenschaften (al-fanāʾ fī ṣ-ṣifāt), in der „Stufe der höchsten Rechtschaffenheit“317, jedoch überwiege bei ihm nach wie vor die Scharia seine Wirklichkeit (ḥaqīqa).318 Wie in diesem Kapitel deutlich wird, legt Ibn ʿAǧība in seiner Darstellung der Šaḏiliyya besonderen Wert auf die zwischenmenschliche Beziehung von Meister und Aspirant. Dass in der Geschichte des Sufitums auch andere Interpretationen existierten, wurde bereits angesprochen. Dabei wurde nie der Kern der sufischen Lehre angezweifelt, wohl aber diskutiert, welcher Deutung Vorzug einzuräumen sei und aus welchen Gründen. Das führt zu dem grundlegenden Werk des al-Ġazālī, das in der Theologie den Rang genießt, fast als Synonym für die Tugendlehre zu gelten. 2.3.4 Die Schulen der Šāḏiliyya und der Ġazāliyya Um die Tradition, die im Werk Ibn ʿAǧības zum Vorschein kommt, richtig einzuordnen, bedarf es mitunter der Erinnerung daran, dass er sich verglichen mit anderen erst spät, in den 40ern seines Lebens, vollständig dem Weg der Sufis hingab. In seiner Autobiographie beschreibt er den Bruch mit seinem früheren Leben als Gelehrter selbst ausführlich und trennt beide Formen des Wissens315 Die Schule Ibn ʿAǧības war zu seiner Zeit damit verbunden, etwa auf dem Markt Müll zu sammeln oder Wasser zu verkaufen, um das eigene Ego zu überwinden. Wie Ibn ʿAǧības Scheich Muḥammad al-Būzīdī es ausdrückt: „Es gibt nichts Nützlicheres, um den Stolz mit samt seinen Wurzeln herauszuziehen, als auf den Märkten zu betteln.“ Al-Būzīdī, Al-ādāb almarḍiyya, S. 260. 316 FI, S. 203–5. 317 BM, Bd. 6, S. 55. 318 Ebenda.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
erwerbs deutlich, die des äußeren und inneren Wissens.319 Er hatte bereits zuvor Texte im Fach Sufitum verfasst,320 was im Hinblick auf seine spätere Interpretation mit „akademischem Sufitum“ bezeichnet werden könnte. Bei der Lektüre der frühen Werke fällt nun auf, dass er auch schon in diesen Schriften aš-Šāḏilī zitiert und nicht etwa lediglich al-Ġazālī, al-Qušayrī und alMuḥāsibī, wie vielleicht angenommen werden könnte – die allgemein fast ausnahmslos anerkannten Sufi-Gelehrten – und sogar einen Kommentar zu einem Gebet aš-Šāḏilīs verfasste.321 Demnach unterschied er vor seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum nicht fundamental zwischen den beiden Methoden al-Ġazālīs und aš-Šāḏilīs, nahm jedoch, wie die frühen Schriften zeigen, einen neutralen, unverfänglichen Standpunkt ein. Gilt das auch für seine Gelehrsamkeit als Meister der Šāḏiliyya? Und was ist der Unterschied zwischen den beiden Schulen? Dass eine Spannung zwischen verschiedenen Herangehensweisen an das Sufitum herrschte, liest sich in der Geschichte Marokkos durchaus an verschiedenen Stellen.322 Dabei kann der Eindruck entstehen, es läge eine gravierende Differenz vor. Im Werk Ibn ʿAǧības ist eine gegenteilige Tendenz zu erkennen – er ist tendenziell auf Synthese aus. Der Eindruck, dass keine unüberbrückbare Trennung zwischen verschiedenen Arten von Sufitum bei Ibn ʿAǧība besteht, verfestigt sich stets bei der Lektüre seiner Werke. Insofern kann die These dazu allgemein lauten: Er ändert seine Lehre durch seine Zugehörigkeit zur Darqāwiyya nicht, sondern erweitert seine Lesart vielmehr um verschiedene Aspekte. Wie ʿAzzūzī schreibt, zeige sich das in seiner Koranexegese nur allzu deutlich, da es gerade dort sein Anliegen sei, die Ebenen der Koranwissenschaften und der Interpretation, die den Leser durch išāra individuell anspreche, zu vereinen.323 In diesem Kapitel wird dies anhand eines Vergleichs gezeigt, den Ibn ʿAǧība selbst an einer Stelle unternimmt, am Beispiel, inwiefern sich die Sufi-Schule der Šāḏiliyya von der Schule al-Ġazālīs unterscheidet beziehungsweise beide übereinstimmen. Um diesen Punkt darzustellen, bedarf es zuvor einer Klärung der gemeinsamen Grundlagen in der Theologie hinsichtlich des Sufitums und einer dahingehenden Erläuterung des Rahmens. Es ist die Lehre der Sufis, sich an der Gotteserkenntnis (maʿrifa) zu orientieren, welche die höchste Form der Erfüllung der Religion bedeutet. Das höchste Ziel als Dach bedarf einer umfassenden Lehre, die ein Fundament bereitet sowie eine Methode liefert, um ein bleibendes Gebäude zu errichten. Mit Blick auf 319
Fahrasa, S. 37–44. Vgl. Michon, Le Soufi, S. 90–1. 321 Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-ʿumda fī šarḥ al-burda; Aḥmad Ibn ʿAǧība, Al-anwār al-qudsiyya fī qaṣīdat al-hamaziyya li-l-Buṣayrī; vgl. Michon, Le Soufi, S. 90–1. 322 Vgl. etwa Cornell, Kapitel „The Tradition of Abū Madyan“, in Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism. 323 ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 5–20. 320
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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die Tradition Ibn ʿAǧības findet sich beides in Form der dreistufigen Lehre von islām, īmān und iḥsān. Im Hinblick auf andere Traditionen, insbesondere solche, die vor dem Wirken des Begründers der Šāḏiliyya, Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī, bestanden, verhält es sich jedoch teils anders; dort beziehungsweise damals wurde das Sufitum zeitweise etwa von uṣūl-Gelehrten vertreten, wie Abū Bakr Ibn al-ʿArabī (gest. 543/1149), Qāḍī ʿIyāḍ (gest. 544/1150) und Aḥmad Ibn al-ʿArīf (gest. 536/1141, dieser war mehr Hadith-Gelehrter), die in der Tradition von al-Ġazālī standen und deren Beziehung zum Sufitum, das die Gotteserkenntnis offen in den Mittelpunkt stellt, ambigue war. Sie waren allgemein verhalten im Ausdruck, was die Gotteserkenntnis betrifft.324 Zudem war die Lehre der Sufis nicht immer derart ausdifferenziert wie bei Ibn ʿAǧība. Die Systematik seiner Lehre ist auch seiner Epoche geschuldet; das späte Sufitum ist eine Zeit, in der die Tradition bereits verschiedene Prozesse der Klärung durchlaufen hatte. Der gemeinsame Boden der verschiedenen Gelehrten im Fach Sufitum lässt sich wie folgt zusammenfassen: Er besteht aus den Methoden des Sufitums (uṣūl at-taṣawwuf ), die im Kern die wahrhaftige Ausrichtung auf Gott tragen. Diese Methoden oder auch Grundlagen sind elementare Handlungsanweisungen. Laut Aḥmad Zarrūq sind es die folgenden fünf: 1. 2. 3. 4. 5.
„Die Gottesehrfurcht im Privaten und Öffentlichen Das Befolgen der Sunna in Worten und Taten Das Meiden der Geschöpfe bei Zuspruch und Ablehnung Die Gotteszufriedenheit im Wenigen und Vielen Die Zuflucht zu Gott im Guten wie im Schlechten“325
Auf die Methoden des Sufitums wird im folgenden Teil genauer eingegangen (3.1.1.2). Zwischen dem Kern des Sufitums, der „wahrhaftigen Ausrichtung auf Gott“326 (ṣidq at-tawaǧǧuh ilā Allāh) – wiederum eine Konzentration der fünf Grundsätze – und der Tradition Ibn ʿAǧības, der Šāḏiliyya (die Zarrūq einschließt), befindet sich ein weiteres Element: Die Tugendlehre, wie sie ausschlaggebend bei al-Ġazālī zu finden ist, der sie maßgeblich kanonisierte und den Ibn ʿAǧība oft zu diesem Thema zitiert.327 Mit der Tugendlehre ist die Beschäftigung mit den menschlichen Eigenschaften gemeint, die einen Großteil des Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn einnehmen, wie Reinheit, Sanftmut, Freundlichkeit, Friedfertigkeit, Liebe, Umkehr oder Reue, Tapferkeit, Schamhaftigkeit, Fürsorge, Loyalität, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Barmherzigkeit, Aufrichtigkeit, Freigebigkeit und Mitgefühl. Sowie deren Gegenteile, die negativen Eigenschaften: Verkommenheit, Brutalität, Abgeneigtheit, Feindselig324 Vgl. Cornell, Kapitel „The Andalusian Connection: The Sufi as Ūṣūlī“, in Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism. 325 Zarrūq, Uṣūl aṭ-ṭarīq, S. 33–4; FI, S. 363. 326 FI, S. 69. 327 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 107–8.
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
keit, Hass, das Beharren auf dem Schlechten (Verderbtheit), Feigheit, Ruchlosigkeit, Egoismus, Untreue, Maßlosigkeit, Willkür, Treulosigkeit, Härte (Ungnade), Verschlagenheit, Geiz und Hartherzigkeit.328 Die verschiedenen Arten des Sufitums sind bei den ersten großen Šāḏilī-Gelehrten Ibn ʿAbbād ar-Rundī und Zarrūq ein bedeutendes Thema. Eine genauere Betrachtung dieses Kontexts ist an dieser Stelle nicht möglich. Gesagt sei aber, dass sowohl Ibn ʿAbbād in seinen Briefen329 als auch Zarrūq beispielsweise in den Qawāʿid at-taṣawwuf330 an vielen Stellen auf dieses Thema eingehen. Allgemein wird dabei zwischen verschiedenen Formen des Sufitums unterschieden und darauf verwiesen, dass es schlicht viele Ausprägungen des Sufitums gebe und die verschiedenen Arten für unterschiedliche Personen geeignet seien. In den Anfängen der Šāḏiliyya, des „ṭarīqa-Sufitums“, sowie in dessen formativer Phase sind derlei Diskussionen, auch etwa die Rechtmäßigkeit die Religion aus Büchern zu erlernen, ausführlich geführt worden.331 Die Frage in diesem Kapitel ist, wie Ibn ʿAǧība diesen Punkt behandelt. Vor dem Hintergrund des Menschen in der Beziehung zu seinem Schöpfer spielt es prinzipiell keine Rolle, ob er ein Gelehrter ist. In der Disziplin des Sufitums wird nach der Gesundheit des Herzens gefragt und nach dessen Heilmethoden.332 Den allgemeinen Rahmen oder die Grundlage dafür bietet die Tugendlehre oder Tugendethik, da Gotteserkenntnis nicht ohne die Auseinandersetzung mit dem Ego, dem Selbst, geschieht. Die Tugendlehre wurde in der Geschichte der Theologie nun aber durchaus von Gelehrten in großem Umfang auch schriftlich behandelt und bildet, wie an anderer Stelle ausgeführt wird, das Gegenstück zu dem Rahmen, den die äußeren Normen (al-aḥkām aẓ-ẓāhira) abstecken. Die Tugendlehre umfasst in diesem Sinne die inneren Normen (alaḥkām al-bāṭina). Das ist die Basis, auf der auch Ibn ʿAǧības Lehre aufbaut. Allgemein gilt, schreibt Ibn ʿAǧība: Wenn jemand wirkliches Wissen im Sinne der Erkenntnis erlernen will, soll er sich die guten Charaktereigenschaften zum Vorbild nehmen, sodass sein Ego auf den Prüfstand gestellt wird – sich kritisch mit dem eigenen Selbst auseinandersetzen. Wenn sich diese Eigenschaft durchsetzt, führt er weiter aus, wird der Charakter des Menschen „mit der aufrichtigen 328 Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, 5 Bde., Hg. Sayyid ʿImrān, Kairo: Dār al-Ḥadīṯ, 2004. 329 Muḥammad Ibn ʿAbbād ar-Rundī, Letters on the Ṣūfī Path, Mahwah NJ: Paulist Press, 1986. 330 Vgl. insbesondere Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf, Qāʿida 59; siehe für einen guten Überblick über dessen Lehren Shams ur Rehman, A Critical Edition of Qawāʿid al-Taṣawwuf; vgl. auch Ali Fahmi Khushaim, Aḥmad Zarrūq. His Life and Works, Doktorarbeit, Durham University, Durham, 1971, Available at Durham E-Theses Online: http://etheses.dur.ac.uk/7919/. 331 Für eine Darstellung dieser Entwicklungen und Debatten vgl. Vimercati Sanseverino, Kapitel „Le soufisme et la Qarawiyyīn: entre Ibn ʿAbbād et Zarrūq (8–9/14–15 siècles)“, In Fès et sainteté. 332 Vgl. FI, S. 88–9.
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
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Ergebenheit (iḫlāṣ) ausgezeichnet.“333 Wer dorthin gelangt, dessen Glaube speist sich nicht allein aus Vermutung und Dünkel, sondern aus Erfahrung. Im Gegensatz dazu steht der Mensch, der in falscher Selbstzufriedenheit mit sich und seiner Umwelt in Verbindung steht. Dieser ist durch die Schleier seines Selbst von jeglicher Erkenntnis getrennt – „selbst wenn er der meist wissende Mensch der Erde wäre“334 – und es ist per se schlecht, dass jemand diesen Charakter annimmt. Daraus ergibt sich konsequenterweise, dass sogar „Unwissen“, das durch innere Auseinandersetzung „zur göttlichen Nähe führt, besser ist, als das Wissen, das zur Entfernung von der göttlichen Präsenz führt.“335 Den allgemeinen Rahmen in der religiösen Lehre teilt Ibn ʿAǧība dementsprechend pragmatisch auf und unterscheidet mit Blick auf die verschiedenen Lehren je nach Belang, welche Position die vorzüglichste ist. Dies sei die Schule der Sufis und er belegt das mit dem Aya: „So verkünde die frohe Kunde Meinen Dienern, die hören auf das Wort und dem Besten von ihm folgen!“ (K 39:17–18). Folglich sei die beste Schule in der Glaubenslehre die der ersten Generationen, der rechtschaffenen Salaf, da diese die Umstände auf schönste Weise berücksichtigten. Hinsichtlich der Normen sei die beste Schule die der Rechts- und Ritusgelehrten (fuqahāʾ ), da das Erlernen einer Schule einfacher sei, als sich in Verwirrung zu befinden. Und was die guten Taten anbelange, so sei die beste Schule die der Gelehrten des Hadith, da sie sich an das sicherste bezüglich der Belegbarkeit der Berichte halten.336 Das bedeutet, wie es im Kapitel zum GabrielHadith hinreichend dargestellt wurde, dass der Weg der Sufis allgemein immer auch die Dimensionen der Glaubenslehre und des Fiqh, der Scharia mit einschließt. Auf die verschiedenen Zweige der Lehre zu schauen ist von Bedeutung, da hier nach der Methode gefragt wird. Die Betrachtung, welche verschiedenen Formen des Sufitums bestehen, schließt den äußeren Rahmen in der Form mit ein, dass jemand, der den Weg der Erkenntnis gehen will, wie gesagt gewisse Stufen durchlaufen muss. Nach dem Grundsatz der ḥanīfen Religion, die zum Auslöschen der inneren Götzen ruft, ist diese Transformation indes kein technisch komplizierter Vorgang, der zwangsweise nach den verstandesbasierten Regeln einer oder verschiedener Lehren vollzogen werden muss.337 Für den Menschen, dessen Herz sich nach Erkenntnis sehnt, bestehen laut Ibn ʿAǧība verschiedene Optionen, Wege und Mittel. Der allgemein vorzüglichste Weg sei der „Weg der Erleuchtung“ (ṭarīq al-išrāq).338 333
IH, S. 116.
334 Ebenda. 335 Ebenda. 336
FI, S. 99–108. Vgl. FI, S. 88–91. 338 Ebenda, S. 93. 337
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
Anders ausgedrückt kann gefragt werden, welche der beiden Arten des Wissens vor dem Hintergrund der Gotteserkenntnis als höchstes Ziel zuerst erlernt werden sollte, das innere oder das äußere Wissen? Hierbei zieht Ibn ʿAǧība das äußere dem inneren durchaus vor, da bezüglich des Beginns die erste Ebene die der Scharia, des Äußeren, des islām ist, wie im Gabriel-Hadith zu sehen. „Die Scharia […] ist“, wie er schreibt, „eine Tür und die Wirklichkeit (ḥaqīqa) ein Haus“339 nach dem Aya: „So tretet durch die Türen in die Häuser“ (K 2:189).340 Das Haus der Wirklichkeit und Erkenntnis kann laut Ibn ʿAǧība nur betreten werden, wenn vier Lehren von dem Suchenden erlernt werden, die Rahmen und Inhalt beschreiben: „[1] Wissen über das hohe Wesen (aḏ-ḏāt al-ʿāliya), wobei es ausreicht überzeugt zu sein, dass es ewig und bleibend besteht, erhaben über Mängel ist und sich durch die Eigenschaft der Vollkommenheit auszeichnet. [2] Wissen über die Eigenschaften, wobei es genügt überzeugt zu sein, dass das hohe Wesen mit Macht, Wille, Wissen, Leben, Hören, Sehen und Rede beschrieben wird. Wenn darüber hinaus Beweise aus dem Buch und der Sunna erbracht werden, ist das Perfektion. Wenn ihm Gott vergönnt einen vollkommenen Meister zu treffen, erhebt Er ihn zum Wissen der Erfahrung (ʿilm al-aḏwāq). Sein Einheitsglaube (tawḥīd) geht dann über in Anschauung und Zeugnis. [3] Das dritte Wissen ist Wissen über Fiqh. Es genügt davon, was ihn befähigt im Gehorsam zu sein, hinsichtlich seines Gebets und seines Fastens. Und wenn er Geld besitzt, erlerne er, was seine Pflichten diesbezüglich sind. Er soll keine Angelegenheit angehen, bis er das Urteil Gottes dazu kennt. [4] Das vierte Wissen ist das Wissen von den Zuständen, den Stufen und den Wegstationen, von den trügerischen Egos und ihrer List, sowie alles, was damit zusammenhängt hinsichtlich des Benehmens und sozialer Handlungen. Das ist es nun, worauf die Leute dieses Faches [die Sufis] spezialisiert sind.“341
Ibn ʿAǧība fährt fort die Methode zu beschreiben, mit der man in das Haus der Wirklichkeit vorzudringen kann: „Die Menschen haben zwei Herangehensweisen [oder Methoden; bezogen auf die vier Arten von Wissen]: [1] Den Weg der Betrachtung der Wirklichkeit [des Göttlichen] von Beginn an und dem entsprechenden Handeln danach, durch Zufluchtnahme zu ihr. Das ist der Weg der Šāḏiliyya und wer ihnen folgt. [2] Den Weg der Betrachtung des Egos, das anschließend der Wirklichkeit ausgesetzt wird und dem entsprechenden Handeln danach. Das ist der Weg al-Ġazālīs und wer ihm folgt. Alle beiden Wege beruhen auf dem Hadith: „dass du Gott anbetest, als sehest du Ihn, selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich.“ Die Šāḏiliyya hält sich nun an den ersten Teil des Satzes und die Ġazāliyya an den zweiten Teil.342 339
Ebenda, S. 92.
340 Ebenda. 341 Ebenda.
342 Ebenda, S. 92–3; diese Interpretation mit der Nennung des Unterschieds zwischen Ġazāliyya und Šāḏiliyya findet sich beispielsweise auch bei Zarrūq in einem späten Werk, in
2.3 Genese der Sufi-Lehre Ibn ʿAǧības
123
[…] Ich sage nun, dass der wirkliche Weg der Šāḏiliyya, wenn man es recht bedenkt, beide Wege vereint; den Weg der Erleuchtung (ṭarīq al-išrāq) und den Weg des Beweises [die Ġazāliyya], da ihre hohen Meister zuerst auf Fertigkeit in der Scharia verwiesen und auf ihre Umsetzung, sodann auf die Fertigkeit auf dem Weg und schließlich auf die Wirklichkeit (ḥaqīqa).“343
Es bestehen im Umgang mit dem Wissen ergo zwei Methoden, 1. den Fokus auf das Selbst zu richten und 2. den Fokus auf das Göttliche zu richten. Hier erscheint zunächst durchaus eine Differenz. Und Ibn ʿAǧība gibt der Šāḏiliyya den Vorzug, indem er sie als umfassend darstellt. Mit dieser Tendenz greift er die Schule seiner unmittelbaren Lehrer auf, die den Fokus nicht auf die Belege (adilla) oder die Beweise, wie er es im Zitat nennt, legen, sondern auf das Handeln. Während Gelehrte wie Zarrūq, zumindest in seinen frühen Werken,344 das Sufitum oft mit der Glaubenslehre des Kalam verknüpfen und damit auch mit den Belegen,345 nehmen die von Ibn ʿAǧība bevorzugten Gelehrten direkten Bezug auf den Wirklichen (al-Ḥaqq), auf Gott, in dem Sinne, dass die Gotteserkenntnis offen in den Mittelpunkt gestellt wird, also die Erleuchtung des Herzens. Die Differenz erscheint laut Ibn ʿAǧība in der Beschreibung des Sufitums aus dem GabrielHadith, der dritten Ebene. An einer anderen Stelle im Īqāẓ al-himam führt er das genauer aus und sagt, dass es besser sei Gott anzubeten, als sehe der Gläubige Ihn; die Anbetung im Sinne „selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich“ sei dem unterzuordnen, da die Anschauung (mušāhada) höher im Rang sei, als die Wachheit und Konzentration (murāqaba) im Model der Wegstationen, wie es von vielen Sufis gelehrt wird.346 Er schließt die Zusammenfassung zu den Arten und Methoden des Wissens sodann mit den Worten, dass eigentlich kein Widerspruch bestehe, da das System der Stufen (islām, īmān und iḥsān – Scharia, Weg [ṭarīqa] und Wirklichkeit [ḥaqīqa]) den scheinbaren Widerspruch zwischen den Schulen – die Tugendlehre nach al-Ġazālī und die Erkenntnislehre nach der Šāḏiliyya – auflöse; vielmehr vereine der Weg der Šāḏiliyya beide Methoden.347 Der Verweis auf das Stufengebilde ist insofern richtig, als die Stufen ohnehin einen Aufstieg von Außen nach Innen beinhalten und die Tugendlehre, verglichen mit der Er-
der Einleitung zu dem 15. Kommentar zu den Weisheiten des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī: Aḥmad Zarrūq, Šarḥ al-ḥikam al-ʿĀṭāʾiyya (Šarḥ 15), Hg. Muṣtafā Marzūqī, Beirut: Dār Ibn Ḥazm, 2012, S. 20. 343 FI, S. 92–3. 344 Die Forschungslage zu Zarrūq ist allgemein noch dünn und diese Aussage wird der Verifizierung bedürfen. 345 Vgl. etwa Aḥmad Zarrūq, Iġtinām al-fawāʾid fī šarḥ qawāʿid al-ʿaqāʾid, Hg. Muḥammad Naṣṣār, Kairo: Dār al-Karz, 2010. 346 IH, S. 555. Siehe dazu genauer auch im folgenden Teil zu den Quellen bei Ibn ʿAǧība, 3.1.2. 347 Vgl. FI, S. 93.
124
2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
kenntnislehre, die die Herzenserkenntnis offen in den Mittelpunkt stellt, eher als äußerlich anzusehen ist. In seiner Autobiographie erwähnt Ibn ʿAǧība den Dialog zwischen ihm selbst und seinem Scheich al-Būzīdī, der diesen Unterschied der verschiedenen Arten des Sufitums verdeutlicht. Während einer ihrer ersten Begegnungen sitzen sie mit einigen Vertrauten zusammen und al-Būzīdī beschreibt einen der Anwesenden mit vielen positiven Eigenschaften wie Askese, Frömmigkeit, Gottvertrauen, Geduld, Sanftmut, Zufriedenheit, Hingabe, Freigebigkeit und Barmherzigkeit. Daraufhin sagt Ibn ʿAǧība: „Das ist das Sufitum.“ Al-Būzīdī jedoch erwidert: „Das ist das äußerliche Sufitum, es fehlt nun das Sufitum des Inneren, das du noch kennenlernen wirst, so Gott will.“348 Die Ebene von der Gotteserkenntnis im Sinne der Erleuchtung (al-išrāq) ist in der Schule des Sufitums al-Ġazālīs wohl bekannt, es wird jedoch tendenziell Abstand davon genommen, sie in Büchern festzuhalten. Das Werk al-Ġazālīs löst sich nur selten aus dem Rahmen der Tugendlehre. Wie al-Ġazālī an einer Stelle selbst schreibt, solle Abstand davon genommen werden, über die höchste Erkenntnis explizit zu berichten.349 Das Werk Zarrūqs ist ebenfalls von dieser Tendenz, wenn auch in einer anderen Spielart, gezeichnet. Dieses Thema übersteigt den Rahmen dieses Kapitels jedoch. Daraus sollte nicht geschlossen werden, dass Ibn ʿAǧība Gelehrte wie alĠazālī und Zarrūq nicht aufs Äußerste schätzte. Vielmehr sind sie wichtige, grundlegende Bezugspunkte für ihn, wie bei der Lektüre seiner Werke unschwer zu erkennen ist. Hinsichtlich der Methode und der Ziele der Religion allerdings, liegt er näher bei den Gelehrten, zu denen er später auch Kommentare schrieb, wie aš-Šuštarī, Ibn ʿArabī und die Gelehrten der Šaḏiliyya, die den Weg der Erleuchtung auch in Worte fassten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība sich aller Quellen bedient und keinen Wiederspruch im Kern der Lehre der beiden Schulen sieht, durchaus aber seine Meinung darstellt und abwägend seine Tradition kontextualisiert. Seine Präferenz hinsichtlich der Methode in der Lehre liegt bei all jenen Sufis, die der Erleuchtung des Herzens viel Raum geben. Es könnte so formuliert werden, dass die Theorie seiner frühen Gelehrsamkeit im Allgemeinen bestehen bleibt, jedoch erweitert und mit neuem Inhalt gefüllt wird.
348
Fahrasa, S. 44. Vgl. dazu az-Zabīdī, Itḥāf sādat al-muttaqīn bi-šarḥ iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Bd. 12, S. 29–40; vgl. auch das Kapitel im Itḥāf zum Einheitsglauben und dem Gottvertrauen (kitāb at-tawḥīd wa t-tawakkul). 349
2.4 Zusammenfassung
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2.4 Zusammenfassung In Teil 2 wurde der Religionsbegriff Ibn ʿAǧības in drei Schritten erörtert. 1. Das Stufengebilde: Wie in der Biographie ersichtlich, räumt Ibn ʿAǧība der Herzenserkenntnis nach seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum die höchste Priorität ein. In seinem Lebenswandel zeigt sich zudem die praktische Seite seiner Lehre, für die er in der Phase als Sufi-Gelehrter einen theologischtheoretischen Rahmen entwickelt. Wie vielen Gelehrten der späten Phase der Theologie dient ihm das Stufengebilde des Gabriel-Hadith als systematischer Rahmen für die verschiedenen Betrachtungsweisen der Disziplinen, bei dem die innere Erkenntnis an höchster Stelle steht. Nicht lediglich die Darstellung der drei Ebenen erscheint bei Ibn ʿAǧība als grundlegendes Thema, sondern insbesondere auch die Ausdeutung und Systematik derselben. Aus Sicht des individuellen Gläubigen bedeutet Religion ein wachsendes Verständnis. Das Stufengebilde ermöglicht jedoch gleichzeitig, dass die verschiedenen Lehren, die den Menschen in Bezug zu Gott setzen, darin Platz finden – Fiqh, Kalam und Sufitum. In der Tat kann also von einer äußeren Systematik des Religionsbegriffs gesprochen werden und von einer inneren. Die äußere spiegelt sich durch die Lehren, wie im folgenden Kapitel genauer untersucht werden soll, und die innere durch die vielen Synonyme, wie an den verschiedenen Themen gezeigt wurde, etwa des Gottesdienstes (ʿibāda), der Gewissheit und den Stufen des Weges. 2. Der Ursprung der Religion: Als oberste Maxime lässt sich für die Religion der Einheitsglaube des Herzens formulieren. Das zu erwirken, stellt den Ursprung der Religion dar. Aus diesem Grund wurden die Gesandten und Propheten von Gott zu den Menschen gesandt; um sie dazu einzuladen und aufzurufen beziehungsweise sie auf Gott hinzuweisen. Ein wesentliches Charakteristikum des Religionsbegriffs, der den Einheitsglauben des Herzens in den Mittelpunkt stellt, ist die Erkenntnis und Läuterung des Selbst von den verborgenen Götzen der Begierden, da der Mensch dem Ruf nicht folgen kann, solange er ausschließlich um sich selbst kreist. Auch das Thema von der ursprünglichen, ḥanīfen Religion erhält durch die allegorische Interpretation (išāra) eine neue Dimension. Nicht die Abgrenzung zu anderen Religionen oder dergleichen steht dann im Vordergrund, sondern ein Religionsverständnis, das die ursprüngliche Natur des Menschen in den Mittelpunkt stellt – die ursprüngliche Natur, die sich nach Liebe und Erkenntnis, nach Gott sehnt. Der Prozess oder die Aufgabe, dem Ruf zu folgen das eigene Innere zu läutern, wird bei den Sufis unter dem Begriff des Weges oder der Reise zu Gott subsumiert. Der Weg verbindet die Ebenen des Inneren und Äußeren miteinander. In gewisser Hinsicht versinnbildlicht der Weg selbst die Religion, denn er beschreibt den Weg des Menschen zum Einheitsglauben. Die išāra, die Inter-
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2. Teil: Der Religionsbegriff (dīn) Ibn ʿAǧības
pretation des Sufis, stellt in diesem Bild schlicht Wegweiser für den Reisenden dar. 3. Die Genese der Lehre Ibn ʿAǧības: Die Auslegungen der religiösen Lehre Ibn ʿAǧības fußen auf seiner Tradition. Die Tradition (sanad oder silsila) der Šāḏiliyya führt Ibn ʿAǧība bis zum Propheten Muḥammad selbst zurück. Über die Jahrhunderte wurden mehrere Veränderungen vollzogen, die zuerst zu einer Kanonisierung der Lehre führten, im Weiteren zur Gründung der Sufi-Gemeinschaften (ṭuruq, pl. für ṭarīqa) und schließlich zur Ausdifferenzierung der Lehre. Dabei ist zum einen die Eigendynamik der Entwicklung von Bedeutung – welche Veränderungen von den Meistern selbst vorgenommen wurden. Zum anderen die Verortung allgemein; die Sufis der Šāḏiliyya bewegten sich meist im Rahmen der sunnitischen Theologie und positionierten sich entsprechend, entweder mit Kritik oder Zustimmung. Es bestanden über die Jahrhunderte verschiedene Herangehensweisen an das Sufitum in der Ausprägung der Šāḏiliyya. Manche Gelehrte und Scheichs, wie beispielsweise Aḥmad Zarrūq, tendierten zu einer Lesart, die sich tendenziell an der Normativität des Kalam orientiert und legten damit den Fokus auf die zweite Ebene, die Ebene des Glaubens (īmān) oder des Weges. Die unmittelbaren Meister Ibn ʿAǧības nun zeigen die Tendenz, den ursprünglichen Geist der Schule der Šāḏiliyya wieder zu beleben, die eine Spiritualität über die Intellektualität hinaus pflegten. Die Rückkehr zu den Wurzeln zeigt sich u. a. in der Rückkehr zu dem Verhältnis zwischen Meister und Aspirant und dem praktischen Aspekt, wie in Teil 1, der Biographie, zu sehen war. Dabei wird die Erfahrung des Glaubens in den Vordergrund gestellt, wie es in der Frühzeit der Muslime der Fall war, anstatt das Studium bestimmter Schriften. In Teil 2 wurden einige Aspekte aus Gründen der Übersichtlichkeit nur holzschnittartig dargestellt, da zunächst der theoretisch-theologische Rahmen des Religionsbegriffs im Vordergrund stand. Im nun folgenden Teil 3 werden entscheidende Elemente sowie die zu kurz gekommenen Aspekte aufgegriffen und einzeln analysiert, um tiefer in die Annahmen der Lehre bei Ibn ʿAǧība einzutauchen und vor allem die Lehre selbst ins Auge zu fassen.
3. Teil
Die religiöse Lehre (ʿulūm ad-dīn) und das Sufitum (ʿilm at-taṣawwuf ) bei Ibn ʿAǧība In diesem Kapitel werden die Grundlagen und Methoden der Disziplin Sufitum (ʿilm at-taṣawwuf) behandelt und untersucht, wie diese in der religiösen Lehre (ʿulūm ad-dīn) verankert sind. Zudem wird das Verhältnis des Sufitums zur Theologie beziehungsweise zum Kalam hinsichtlich einiger Streitpunkte und Grundannahmen aufgegriffen. Während im 2. Teil zum Religionsbegriff der übergreifende Rahmen der Theologie Ibn ʿAǧības behandelt wurde, werden in diesem Teil die einzelnen Bestandteile seiner Grundannahmen erörtert. Im ersten Kapitel (3.1) über die Methoden des Sufitums (uṣūl at-taṣawwuf ) wird zuerst auf die grundlegenden Prinzipien und die Methodik der Disziplin des Sufitums in der Schule Ibn ʿAǧības eingegangen, auf die Rahmenbedingungen, wie Ibn ʿAǧība das Sufitum in der Theologie einordnet und den Wissensbegriff diskutiert. Das erfolgt zudem anhand einer Auseinandersetzung mit den textuellen Quellen und den Quellen der Erfahrung (ḏawq, kašf, ilhām) der Lehre bei Ibn ʿAǧība und deren Beziehung zueinander. Im zweiten Kapitel (3.2) werden einige Streitpunkte und fundamentale Themen der Theologie aus Sicht Ibn ʿAǧības behandelt. Der Grund dafür ist die inhaltliche Nähe oder Übereinstimmung einiger theologischer Gegenstände zwischen sufischer Lehre und der Lehre des Kalam, was Sufis wie Ibn ʿAǧība meist dazu brachte, Erläuterungen einzuschieben, um Missverständnisse durch etwa die Begriffswahl zu vermeiden. Zudem erfolgt eine Darlegung einiger ontologischer Grundannahmen, die einen Schlüssel für Ibn ʿAǧības Werk darstellen.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums 3.1.1 Grundlagen 3.1.1.1 Die Verortung des Sufitums in der Theologie Als innere Dimension der Religion besteht das wesentliche Anliegen im Sufitum darin, das Herz anzusprechen. Dementsprechend werden in der Disziplin Sufitum (als Lehre) die Normen behandelt, die unmittelbar das Innere des Menschen betreffen und die allgemein mit der Tugendlehre oder Tugendethik assoziiert werden können. Und dies geschieht im Kontext des ursprünglichen,
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
ḥanīfen Religionsbegriffs Ibn ʿAǧības, wie im vorigen Teil behandelt, bei dem die Reinigung des Herzens im Mittelpunkt steht oder der Weg des Menschen zu Gott. Das stellt nicht die einzige Herangehensweise dar: Im Fiqh stehen die Riten und Regelungen der praktischen Scharia im Mittelpunkt und im Kalam die intersubjektiv nachvollziehbaren Normen, die aus den Quellen Koran und Sunna abgeleitet werden. Welche Beziehungen aber zwischen den verschiedenen Zweigen der Lehren bei Ibn ʿAǧība vorherrschen beziehungsweise die Verortung des Sufitums in den religiösen Lehren ist Gegenstand dieses Kapitels. Dass Ibn ʿAǧība das Sufitum an die oberste Stelle der Wissenschaftsleiter setzt, wurde hinreichend erwähnt; welche Belege führt er jedoch dafür an und wie verknüpft er seine in langen Jahren des Studiums angeeignete Intellektualität mit der Schule seiner Meister? Eine Systematisierung der Lehren oder Wissenschaften nimmt Ibn ʿAǧība selbst an zwei Stellen seines Werkes vor.1 Zu den vorhandenen Wissenschaften schreibt er grundlegend: „Wisse, die Grundlagen der Wissenschaften sind vier. Von diesen Wissenschaften aus verzweigen sich alle anderen: die des Geistes (ʿilm al-aḏhān), die der Zunge, die Wissenschaft von den Körpern und die Wissenschaft der Religionen (ʿilm al-adyān). Eine Lehre geht entweder auf den Geist zurück wie die Logik und die Mathematik und stellt eine Unterweisung dar. Oder sie geht zurück auf die Sprache wie die Grammatik und die Dichtung, was die Literatur darstellt. Oder auf die Körper wie die Medizin und die Anatomie. Oder auf die Religionen, äußerlich und innerlich, wie das Fiqh, das Sufitum und die Lehre des Kalam.“2
Warum er diese Unterteilung in vier grundlegende Lehren vornimmt, führt er nicht weiter aus. Es ist aber anzunehmen, dass diese Unterteilung nicht von ungefähr kommt, sondern seiner Ausbildung geschuldet ist, die er nun mit der Lehre der Sufis verbindet. Eine ähnliche Darstellung der verschiedenen Lehren findet sich schon bei al-Ġazālī.3 Der Zusatz mit dem Verweis auf das Innere und Äußere und die drei Lehren des Fiqh, Sufitum und Kalam stammt wahrscheinlich aus Ibn ʿAǧības eigener Feder.4 Er fährt dann fort, die Wissenschaften beziehungsweise Lehren detailliert zu beschreiben und aufzuzeigen, welche Aufgabe jeder einzelnen zukommt, gibt Definitionen an, wie beispielsweise die Definitionen der „Methoden der Rechtsfindung“ (uṣūl al-fiqh), der Hadithwissenschaft, der Exegese (tafsīr) und gibt an, welche die wichtigen, übergreifenden Lehren sind und welche lediglich Zweige derselben bilden. Die fundamentalen Wissenszweige, aus dem Blickwinkel der geschichtlich gewachsenen Lehren, sind nach Ibn ʿAǧība die folgenden sechs: 1
TF, S. 7–33; Fahrasa S. 97–114. Fahrasa, S. 97. 3 Al-Ġazālī, Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Bd. 1, S. 26–57. 4 Es bleibt zu prüfen, ob diese Unterteilung nicht auch bei Zarrūq, as-Sanūsī, al-Yūsī oder anderen, späteren Gelehrten zu finden ist. 2
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
129
„Die großen offenbarungsrelevanten Wissenschaften (al-ʿulūm aš-šarʿiyya) sind diese sechs: Die Wissenschaft der Koranexegese (tafsīr), die Wissenschaft des Hadith, die Wissenschaft des Fiqh, die Wissenschaft von den Methoden (ʿilm al-uṣūl [gemeint ist hier uṣūl al-fiqh]), die Wissenschaft von den Methoden der Glaubenslehre (uṣūl ad-dīn [Kalam]) und die Wissenschaft des Sufitums (taṣawwuf ).“5
Auch hier ist zu bemerken, dass das Sufitum in den Kanon der religiösen Lehren eingeflochten wird. Die Definitionen der Disziplinen orientieren sich bei Ibn ʿAǧība an den allgemein verbreiteten Standards,6 wie etwa dem Unterschied zwischen dem Rechtswissenschaftler ( faqīh) und dem Methodologen der Rechtswissenschaft (uṣūlī) in der Lehre des Fiqhs. Uṣūl al-fiqh beschreibt er beispielsweise durch die „Ableitung der Normen (istinbāṭ al-aḥkām) […] in umfassender Weise.“7 Die Lehre des uṣūl ad-dīn (Kalam) definiert er gekürzt mit „die Ableitung der grundlegenden Normen der Glaubenslehre (istinbāṭ al-aḥkām al-iʿtiqādiyya)“8 und die sich in drei Wissenszweige unterteilt: die ilāhiyyāt, die nabawiyyāt und die samʿiyyāt.9 Analog dazu formuliert er die Definition des Sufitums als „die Ableitung der inneren Normen (istinbāṭ al-aḥkām al-bāṭina), was auf die Urbarmachung des Herzens zurückzuführen ist, durch dessen Läuterung von den schändlichen Eigenschaften und die Annahme der preisenswerten Eigenschaften, um bereit zu sein für die göttlichen Gaben, die Manifestationen und die Befolgung des zu jeder Zeit passenden Benehmens. Was jemand diesem und der Sunna entnimmt, stellt die Lehre des Sufitums dar. Die Definitionen dazu unterscheiden sich. Die genaueste der Definitionen ist die des Scheich Zarrūq, möge Gott mit ihm zufrieden sein: ‚die wahrhaftige Ausrichtung auf Gott, womit und woran Er Gefallen findet. Einige fügten einen Anteil des Fiqh hinzu, was die gottesdienstlichen Handlungen anbelangt, sodass die Rechtschaffenheit im Äußeren gewahrt bleibe.‘“10
Spätestens an dieser Stelle muss auffallen, dass Ibn ʿAǧība das Sufitum in den Kanon der Lehren aufnimmt und dies auf seine spezielle Weise, indem er eine systematische Ableitung bietet, wie es bei anderen Lehren der Fall ist. Das Sufitum als Disziplin der Theologie darzustellen, findet sich bei Zarrūq an vielen Stellen auch ihn ähnlicher Weise.11 Das Maß der Ausdifferenzierung ist jedoch sehr wahrscheinlich Ibn ʿAǧības Werk. Zur Stellung des Sufitums innerhalb der religiösen Lehre schreibt er an anderer Stelle: 5
Fahrasa, S. 105; TF, S. 18. Vgl. dazu Spevack, The Archetypal Sunnī Scholar. S. 61–104. 7 Fahrasa, S. 102–3. 8 Ebenda, S. 104. 9 Ebenda; Ilāhiyyāt: Die Dinge Gottes betreffend. Nabawiyyāt: Die Dinge die Prophetie betreffend. Samʿiyyāt: Die Dinge das Jenseits (oder auch den Glauben, die Überlieferung) betreffend. 10 Ebenda, S. 105. 11 Vgl. das Qawāʿid at-taṣawwuf; vgl. auch das Iġtinām al-fawāʾid fī šarḥ qawāʿid al-ʿaqāʾid. In beiden Werken liegt darauf ein besonderes Augenmerk. 6
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
„Wisse, dass Ehre und Rang einer Sache entweder durch Verstand oder durch Überlieferung (ʿaql oder naql) festgelegt werden oder durch seine äußeren Ergebnisse. Und diese Umstände vereinigen sich in der Lehre des Sufitums vollständig. Was die Feststellung seiner Vorzüglichkeit [des Sufitums] durch den Verstand anbelangt, so besteht kein Zweifel, dass eine Sache durch die Ehre des behandelten Themas geehrt wird, sowie durch dessen Gründer. […] Der Gegenstand dieser Lehre ist die erhabene Essenz (aḏ-ḏāt al-ʿaliyya), die ehrenvoller und vorzüglicher ist im absoluten Sinne. Sein Gründer ist der Gesandte, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, der das Beste der Geschöpfe durch Konsens (iǧmāʿ) darstellt. Ebenso befindet der gesunde Menschenverstand die Vollendung [oder Vollkommenheit] für gut. Und es besteht kein Zweifel, dass das Sufitum allein gegründet wurde, um Vollendungen zu verwirklichen und das auf der Ebene des Wissens, des Handelns und des Zustands. Daher ist der Gegenstand, die Glaubenslehre (ʿaqāʾid) zu vervollständigen, die Egos zu reinigen und das Benehmen zu verschönern. Was die Feststellung seiner Vorzüglichkeit [des Sufitums] von Seiten der Überlieferung anbelangt, so besteht kein Zweifel, dass das Buch und die Sunna und der Konsens der Gemeinschaft (iǧmāʿ al-umma) es lobpreisend nennen; seine Teile und Angelegenheiten, wie Umkehr (tawba), Gottesehrfurcht, Aufrichtigkeit (istiqāma), Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit, Seelenruhe, Askese, Frömmigkeit, Vertrauen, Zufriedenheit, Unterwerfung, Liebe, Konzentration, Anschauung sowie anderes.“12
Die Argumentation, sich auf Verstand und Überlieferung zu berufen, stammt aus der Lehre des Kalam. Darauf und auf „die erhabene Essenz“ wird in späteren Kapiteln eingegangen (siehe 3.2).13 Er gleicht die Lehren nicht nur miteinander ab, wie im Falle der inneren und äußeren Normen, sondern argumentiert darüber hinaus theologisch-wissenschaftlich für die Vorzüglichkeit des Sufitums. Das Sufitum vollendet demnach die Religion in dem Sinne, dass es die Gegenstände der Glaubenslehre mit dem Inneren des Menschen verknüpft. So wird das Sufitum zu der Disziplin, die für die Verwirklichung der Glaubenslehre steht. Einen letztendlich ausschlaggebenden Blickwinkel entnimmt er dem Gabriel-Hadith: „Die Wissenschaft des Sufitums (ʿilm at-taṣawwuf) ist der Herr der Wissenschaften (ʿulūm) und ihr Oberhaupt, sie ist Quintessenz der Scharia und ihr Fundament. Wie sollte es nicht so sein, wo sie doch Erklärung (tafsīr) ist für die Stufe des iḥsān [hier: vollkommener Glaube], der Stufe des Schauens und des Zeugnisses. Wie auch die Lehre des Kalam (ʿilm al-kalām) Erklärung ist für die Stufe des īmān und die Lehre des Fiqh Erklärung für die Stufe des islām. Alle diese [Stufen] wurden zusammenfassend im Hadith des Gabriels, der Frieden sei mit ihm, erwähnt. Und wenn feststeht, dass sie die vorzüglichste Lehre ist, wird deutlich, dass die Beschäftigung damit das Beste ist, womit sich Gott dem Erhabenen genähert werden kann, aufgrund der dadurch zu erhaltenden, besonderen Erkenntnis, der Erkenntnis des Schauens.“14
Das Sufitum ist also die höchste Stufe und Lehre, da es zur Vervollkommnung (iḥsān) im Sinne der Verwirklichung des Glaubens führt und diese wiederum 12
FI, S. 71. dazu beispielsweise bei Faḫr ad-dīn ar-Rāzi, Kitāb al-arbaʿīn fī uṣūl ad-dīn, Hg. Aḥmad as-Saqā, Beirut: Dār al-Ǧīl, 2004, S. 416. 14 MT, S. 213. 13 Vgl.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
131
zur Gotteserkenntnis. Das führt zu der Frage nach der Definition des Wissens, die nach Ibn ʿAǧība Wissen und Handeln umfasst und im übernächsten Kapitel Gegenstand der Betrachtung sein soll (3.1.1.3). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība das Sufitum erstaunlich schlüssig in den Kanon der religiösen Lehren einpflegt, indem er es als komplementäre Disziplin zu den äußeren Lehren der Glaubenslehre und des Fiqh definiert. Als Lehre, die das Innere des Menschen behandelt, bildet es dann entsprechend des Religionsbegriffs, der die Gotteserkenntnis nach dem GabrielHadith an oberste Stelle setzt, die „Quintessenz“ der religiösen Lehre. Anschließend stellt sich nun die Frage, wie die Grundlagen des Sufitums gestaltet sind. 3.1.1.2 Definitionen, Methoden (uṣūl) und Grundprinzipien des Sufitums Grundlegend stellt Ibn ʿAǧība fest, dass „jeder, der einen Anteil an wahrhaftiger Ausrichtung (ṣidq at-tawaǧǧuh) besitzt, einen Anteil am Sufitum besitzt.“15 Dieser Teil des Sufitums stellt jenen Kern dar, der zu keiner Zeit in der Geschichte der Islamischen Theologie in Abrede gestellt wurde, da die Lehren von Werten wie Aufrichtigkeit, guter Absicht und Liebe tief in Koran und Sunna verankert sind. Die Lehre des Sufitums wurde allerdings noch sehr viel weiter ausdifferenziert, wie es ebenfalls in anderen Bereichen der Lehre geschah. Wie das Fiqh sich mit dem Lauf der Zeit in bestimmten Teilen veränderte, entwickelten sich auch verschiedene Methoden im Sufitum, während der Kern unverändert geblieben ist. Im Werk Īqāẓ al-himam, der „Erweckung der Strebenskräfte“ listet Ibn ʿAǧība eine Reihe von Beschreibungen für das Sufitum auf. Dort heißt es fachübergreifend: „Es gibt kein Sufitum ohne Fiqh, da die äußeren Bestimmungen Gottes (aḥkām Allāh) des Erhabenen nur durch dieses [Fiqh] verstanden werden. Und es gibt kein Fiqh ohne Sufitum, da es keine Handlung gibt, außer durch eine wahrhaftige Ausrichtung (ṣidq attawaǧǧuh). Auch gibt es kein Interesse außer durch īmān, da keines ohne den anderen existieren kann und so ist ihre Verbindung unabdinglich. Ihre Unzertrennlichkeit in der Bestimmung ist wie die Unzertrennlichkeit von Seele und Körper. Sie kann nicht existieren außer in ihm, so wie es keine Vollkommenheit gibt für sie, die körperlichen Erscheinungen, außer durch sie [die Seele].“16
Es gibt also keine Handlung, d. h. keine gute Handlung, außer wenn sie mit der Verwirklichung des Glaubens im Herzen in Verbindung steht. Ebenso ist kein Interesse gut, wenn es nicht mit dem Glauben in Übereinstimmung zu bringen ist. Der innere Wert des Glaubens bedingt ein äußeres Gegenstück und andersherum. 15 16
FI, S. 60. IH, S. 18.
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Die Definitionen für das Sufitum sind viele. Entscheidend ist hier erneut das verbindende Element, das eben die äußere und innere Ebene miteinander verknüpft. Ibn ʿAğība bezieht sich diesbezüglich an verschiedenen Stellen in seinen Werken auf ein Zitat, das er Mālik Ibn Anas (gest. 179/759) zuschreibt: „[Mālik:] ‚Wer Sufitum betreibt (taṣawwafa) und kein Fiqh, der betreibt Häresie (tazandaqa) und wer Fiqh betreibt (tafaqqaha) und kein Sufitum, der irrt vom Wege ab (tafassaqa) und wer zwischen beiden vereint, der verwirklicht (taḥaqqaqa).‘ Ich [Ibn ʿAǧība] sage dazu, dass der erste Häresie betreibt, aus dem Grund, da er von einem zwingenden Fatalismus ausgeht, wenn er die äußeren Gesetzmäßigkeiten und die Normen (aḥkām) leugnet. Sowie der zweite vom Wege abirrt, da er dem Wissen von der wahrhaftigen Ausrichtung entbehrt, das von der Rebellion (maʿṣiya) wider Gott abhält und ihn von der aufrichtigen Ergebenheit (iḫlāṣ) abhält, die Voraussetzung ist für gute Taten. Und der dritte verwirklicht [das Wissen] durch sein Aufrechterhalten der [inneren] Wirklichkeit (ḥaqīqa) im Festhalten an der Wahrheit [al-ḥaqq; bzw. dem Recht, den äußerlichen Normen].“17
Sufitum besteht demnach zunächst in einer fundamentalen Einheit von Innen und Außen, bezogen auf die Theologie bedeutet das auf die Spitze getrieben die Einheit von Fiqh und Sufitum. Wer äußere Bestimmungen gänzlich ablehnt, gibt sich gewissermaßen der Willkür der intrinsischen, menschlichen Kräfte anheim, obwohl er doch etwas ändern könnte. Und wer nur auf den äußeren Schein blickt, nur die Einhaltung der Normen, der bedeckt sein Inneres und entbehrt so des Kerns der Religion. Wer jedoch beides beachtet, der trägt der Wirklichkeit Rechnung, die nicht auf eine Ebene begrenzt ist. Um jedoch die Definitionen des Sufitums genauer zu betrachten, bedarf es eines Blickes auf die allgemeinen Methoden der Disziplin. Die Methoden des Sufitums sind ein weites Feld und werden von verschiedenen Gelehrten unterschiedlich dargestellt, besitzen jedoch einen gemeinsamen Kern. Nach al-Ġazālīs Magnum Opus des Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn ist dazu sicherlich in der Tradition Ibn ʿAǧības der Meilenstein des Werks von Zarrūq zu nennen.18 Der Begriff von den „Methoden des Sufitums“ (uṣūl at-taṣawwuf ), der bei Zarrūq und Ibn ʿAǧība auftaucht, beschreibt, wie im vorigen Kapitel bereits aufgezeigt, prinzipiell analog zu den Methoden der Rechtsfindung (uṣūl al-fiqh) den Ansatz, die Methoden, wie die Bewegungen des Herzens einzuordnen sind. In der Jurisprudenz wird nach den Methoden zur Rechtsfindung gesucht, im Sufitum wird nach den Methoden zur Läuterung des Innern gesucht. Dieser Ansatz ist durchaus speziell in der Šāḏiliyya zu verorten. Schon Zarrūq erwähnt, dass die Šāḏiliyya für Gelehrte der uṣūl, schon immer eine Anziehungskraft besaß.19 Der wesentliche Unterschied besteht nun darin, dass die Bewegungen des Herzens eine ungleich größere Spannbreite besitzen im Vergleich zu den Taten 17
IH, S. 18. Vgl. insbesondere die Werke Zarrūq, Uṣūl aṭ-ṭarīq; ders., Qawāʿid at-taṣawwuf. 19 Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf, S. 85–6. 18
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
133
und dazugehörigen Normen, die sich für das Fiqh ableiten lassen. Der Grund dafür ist die bereits beschriebene Tatsache von der Wesenheit des Sufitums, die eigentlich nicht in Büchern festgehalten werden kann, sondern metaphysische Gegenstände wie Aufrichtigkeit, Liebe und Gottesehrfurcht beinhaltet und ergo hinsichtlich der Möglichkeiten zur Interpretation weiter gefasst ist. Die Deutung der Quellen geschieht nichtsdestotrotz wie im Fiqh durch die Gewissheit (yaqīn) eines Meisters seines Faches, der es vermag, die richtige Handlung in Anbetracht der Umstände aus den Quellen der Religion abzuleiten. In der folgenden Abbildung ist skizzenhaft dargestellt, wie die Ableitung der Lehren (des Sufitums und des Fiqh) durch die Methodik geschieht. Dabei führt im Sufitum die Methode (mittiges Rechteck) über die Gegenstände des Sufitums (links unten), d. h. die Praxis, hin zur Interpretation des Sufis (išāra, oben), die zwischen den Ebenen verbindet. Im Fiqh führt die Methode (mittiges Rechteck) hingegen zur Ableitung der Normen (aḥkām, rechts unten) und schließlich zum schariatischen Gutachten ( fatwā, hier nicht weiter ausgeführt). Interpretation des Sufis (išāra)
Methoden (uṣūl)
des Sufitums (at-taṣawwuf )
der Rechtsfindung (al-fiqh)
Abb. 2: Die Ableitung der Lehren aus den uṣūl
Konkret benennt Ibn ʿAǧība nach Aḥmad Zarrūq die fünf grundlegenden Methoden des Sufitums (uṣūl at-taṣawwuf ) durch diese: 1. 2. 3. 4. 5.
„Die Gottesehrfurcht im Privaten und Öffentlichen Das Befolgen der Sunna in Worten und Taten Das Meiden der Geschöpfe bei Zuspruch und Ablehnung Die Gotteszufriedenheit im Wenigen und Vielen Die Zuflucht zu Gott im Guten wie im Schlechten“20
An anderer Stelle beschreibt Ibn ʿAǧība vier Säulen des Sufitums (arkān at-taṣawwuf ), die ebenfalls abstrakte Handlungsanweisungen darstellen und inhaltlich 20
FI, S. 363; vgl. auch Zarrūq, Uṣūl aṭ-ṭarīq, S. 33–4.
134
3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
eine leicht veränderte Version der fünf Methoden darstellen. Ibn ʿAǧība nennt sie nur am Rande. Sie seien hier der Vollständigkeit halber aufgeführt: 1. 2. 3. 4.
„Das Ablassen von Unrecht Das Ertragen von Abneigung Das Schauen der Reinheit Dem Diesseits entgegenzutreten durch das Bieten des Nackens“21
Sowohl die Methoden als auch die Säulen lassen sich auf grundlegende Themen des Korans und der Sunna wie etwa Umkehr, Reue, Gottesehrfurcht, Aufrichtigkeit, und Seelenruhe zurückführen. Die fünf Methoden Zarrūqs sind Ableitungen, um die zunächst abstrakten Begriffe und Gegenstände des Sufitums greifbar zu machen und sie zu subsumieren. Sie bieten eine grundsätzliche Orientierung im weiten Feld des Sufitums, das durch seinen Bezugspunkt, das Herz, sich seiner Natur nach einer genauen Definition entzieht und können durchaus einem theoretischen Sufitum zugerechnet werden. Ibn ʿAǧība greift selten auf sie zurück, benennt sie nur an den Stellen zur Systematik; sie sind aber von Bedeutung, da sie die vielen inneren Normen aus dem Koran und der Sunna, die Tugenden und verwerflichen Eigenschaften, in eine greifbare Form gießen, die einen theoretischen Rahmen bildet. So subsumiert etwa der erste Punkt „Gottesehrfurcht im Privaten und Öffentlichen“ die Tugend der Aufrichtigkeit, der Frömmigkeit, der Askese und andere und verneint gleichzeitig deren negative Kehrseite, wie die Heuchelei, Frömmelei und Maßlosigkeit. Zu diesem Punkt ist noch weitere Forschungsarbeit notwendig. Die vielen Möglichkeiten das Sufitum darzustellen, resultierend aus dem Gegenstand des Sufitums (die inneren Normen), führen wie erwähnt dazu, dass eine Fülle von Definitionen für das Sufitum besteht, die sich mitunter maßgeblich voneinander unterscheiden. ʿAbd ar-Raḥmān al-Ǧāmī (gest. 898/1493) führt in seinem Werk Nafaḥāt al-uns (Die Gaben der Vertraulichkeit) nach jeder Darstellung eines Meisters oder Gelehrten dessen Definition des Sufitums an, was sich auf mehrere Hundert beläuft.22 Ibn ʿAǧība schreibt, dass einige, wie beispielsweise Zarrūq, die Zahl der Definitionen für das Sufitum auf 2000 schätzten.23 Interessant ist der bereits oben erwähnte Zusatz Ibn ʿAǧības, das Sufitum könne durch die Tradition und die innere Erfahrung begründet werden: „Die Darstellung der Methode (aṣl) des Sufitums erfolgt aus zwei Richtungen; von Seiten der Erfahrung und des Erlebens sowie von Seiten des schariatischen Belegs und Beweises.“24 Wie sieht dieser Beleg nun aus, der auf Tradition und Erfahrung beruht? Dafür gibt Ibn ʿAǧība zehn Grundprinzipien an. 21
FI, S. 23; vgl. auch Zarrūq, Uṣūl aṭ-ṭarīq, S. 34–42. ar-Raḥmān al-Ǧāmī, Nafaḥāt al-uns min ḥaḍarāt al-quds, Ägypten: Al-Azhar ašŠarīf, 1989. 23 IH, S. 17; vgl. TF, S. 15. 24 FI, S. 37. 22 ʿAbd
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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Wichtig ist in diesem Zusammenhang Ibn ʿAǧības Werk zur Methodik der Koranexegese (TF) sowie sein Kommentar zu dem Lehrgedicht Al-mabāḥiṯ al-aṣliyya des Ibn al-Bannā as-Saraqusṭī (gest. 821/1418). In dem Kommentar (Al-futūḥāt al-ilāhiyya fī šarḥ al-mabāḥiṯ al-aṣliyya, FI) geht er ausführlich auf die traditionelle Darstellung der rund zehn Grundprinzipien (mabādiʾ) der wissenschaftlichen Disziplin ein, des Sufitums, die er im Kommentar zur Sure al-Fātiḥa konzentriert wiedergibt.25 Ebenso findet sich zu Anfang seines Kommentars zu den Ḥikam as-Sakandarīs eine Einleitung, wo ebenfalls die zehn Prinzipien auftauchen.26 Dem ließen sich weitere Textstellen hinzufügen, die sich aber nicht maßgeblich vom Inhalt der erwähnten Stellen unterscheiden. Die zehn Prinzipien stellt er als maßgebliche Voraussetzung für jede Lehre dar. Demnach soll jeder nach Wissen Strebende (ṭālib ʿilm), bevor er sich in eine Lehre vertieft, Kenntnis von den zehn Prinzipien der Lehre erlangen.27 Die folgenden zehn Grundprinzipien sind eine verdichtete Zusammenfassung der Disziplin Sufitum nach Ibn ʿAǧība und werden hier leicht gekürzt, zusammenfassend dargestellt. Einige der Punkte werden im Laufe der Studie noch geklärt. Die zehn Prinzipien: 1. Die Definition Als grundlegende Definitionen (taʿrīf ) für das Sufitum gibt er an, „die wahrhaftige Ausrichtung auf Gott, den Erhabenen, hinsichtlich Seiner Zufriedenheit, durch das, was Ihn zufrieden stellt.“28 Dem fügt er an anderer Stelle zwei weitere Aussagen hinzu: „Gedenken (ḏikr) in Versammlung, Erregung durch Zuhören und Handlung während der Gefolgschaft.“, sowie, „dass dich der Wirkliche von dir auslöscht und dich wieder belebt durch Ihn, wie es al-Ǧunayd sagte. Oder die Hingabe des Egos an Gott durch das, was Er will.“29 2. Die Benennung Was die Benennung (ismuhū) des Faches anbelangt und die Ableitung des Wortes taṣawwuf als die Lehre vom Sufitum (ʿilm at-taṣwwuf ), sind die Gelehrten laut Ibn ʿAǧība unterschiedlicher Meinung. Er benennt die folgenden Möglichkeiten: 1. „Dass es von der Wolle [des Schafes, arab.: ṣūfa] stammt, da er sich zu Gott verhält wie die dahingeworfene Wolle, die keine Pläne schmiedet. 2. Dass es vom wollenen Nackenflaum [des Schafes, arab.: ṣūfat al-qafā] stammt, aufgrund seiner Sanftheit, denn der Sufi ist milde und sanft wie sie. 25 TF, S. 7–33. In diesem Kapitel unternimmt er eine Darstellung aller Fächer der Islamischen Theologie nach diesem Prinzip. 26 IH, S. 16–24. 27 FQ, S. 199–200. 28 TF, S. 14; FI, S. 69. 29 TF, S. 15.
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
3. Dass es von der Eigenschaft (ṣifa) stammt, da es sich umfassend um den Erwerb der preisenswerten Eigenschaften handelt sowie um das Unterlassen der tadelnswerten Eigenschaften. 4. Dass es von der Reinheit stammt (ṣafāʾ ) und diese Meinung wurde für richtig befunden, bis dass Abū l-Fatḥ al-Bastī, möge Gott sich seiner erbarmen, über den Sufi sagte: ‚Uneinig waren die Menschen verschieden über den Sufi In Ignoranz es leite ab sich von Wolle glaubten sie Und ich gewähre diesen Namen niemandem außer dem, der geläutert und gereinigt bis er Sufi genannt wird.‘ 5. Dass es von der ṣuffa der prophetischen Moschee stammt [Ort; einem hinteren Teil der Moschee zu Zeiten des Propheten], was als Herberge [für Mittellose] für die Leute der ṣuffa diente. Dies, da der Sufi ihnen folgt hinsichtlich der Beschreibung, die Gott ihnen zukommen ließ, als Er sagte ‚Gedulde dich mit denen, welche deinen Herrn anrufen des Morgens und Abends, im Trachten nach Seinem Angesicht‘ (K 18:28). Und das ist der Ursprung, auf den jede Aussage dazu zurückgeht.“30
Wenn nun Punkt fünf angenommen wird, schließt Ibn ʿAǧība, dass das Sufitum auf die Situation der Leute der ṣuffa zurückzuführen ist, stellt es eine Angelegenheit dar, die Gott veranlasste, ergo wollte und die Forschungsfrage würde sich damit lediglich auf die Benennung erstrecken, was wiederum die Leugnung des Sufitums als solches ausschließt.31 Er erwähnt weiterhin, dass Anhaltspunkte bestehen, durch die das Wort Sufi in der Zeit der den Prophetengefährten nachfolgenden Generationen (tābiʿūn) verortet werden kann, wie das Beispiel Ḥasan al-Baṣrīs zeigt (gest. 110/728), über den Berichte existieren, schon er habe dieses Wort verwendet.32 Vor allem aber bleibt bezüglich der Namensgebung anzumerken, dass viele Lehren ihren Namen erst nach der Zeit der Gefährten und während beziehungsweise nach der Zeit der Nachfolger (tābiʿūn) erhielten, wie beispielsweise die Grammatik, die Linguistik und die Logik und andere.33 3. Das Thema Das Thema (mawḍūʿ) oder der Gegenstand des Sufitums ist „das geheiligte Wesen (aḏ-ḏāt al-aqdas), da es das [erhabene Wesen] erforscht im Sinne der Erkenntnis darüber, entweder durch Beweise oder durch Schauen und Evidenz. Das erste ist für die Suchenden und das zweite für die Ankommenden. Außerdem heißt es, sein Gegenstand seien die Egos, die Herzen und Seelen, da darin nach ihrer Läuterung gesucht wird und ihrer Erziehung. Das ist nahe zum ersten Punkt, denn wer sich selbst erkennt, der erkennt seinen Herrn.“34 30
IH, S. 20. FI, S. 66. 32 Ebenda, S. 67. 33 Vgl. ebenda; vgl. auch as-Suyūṭī, Taʾyīd al-ḥaqīqa al-ʿaliyya wa tašyīd aṭ-ṭarīqa ašŠāḏiliyya, S. 5–16. As-Suyūṭī diskutiert dort die Entwicklung der Überlieferer der Lehre des Sufitums von den Gefährten zu den nachfolgenden Generationen. 34 TF, S. 16; FI, S. 69. 31
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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4. Der Begründer „Der Begründer (al-wāḍiʿ) des Sufitums ist der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, den Gott durch Offenbarung (waḥy) und Eingebung (ilhām) lehrte. Es stieg Gabriel, der Frieden sei mit ihm, herab, zuerst mit der Scharia und als sie bestimmt war, stieg er ein zweites Mal herab mit der Wirklichkeit (ḥaqīqa) und er zeichnete durch sie einige aus und einige nicht. Der erste, der darüber sprach und es zum Vorschein brachte, war unser Herr ʿAlī, Gott segne sein Antlitz. Von ihm lernten es al-Ḥasan al-Baṣrī und seine Mutter. Ihr Name ist Ḫayra, die Mawlāh der Umm Salama, der Frau des Propheten, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden. Sein Vater war der Mawlā des Zayd ibn Ṯābit.“35
Es folgt eine Auflistung zweier verschiedener Überlieferungsketten bis zu seinen Lehrern und ihm selbst, auf die im Kapitel (2.3) zur Genese der Lehre Ibn ʿAǧības bereits eingegangen wurde. 5. Die Tragweite Die Tragweite (istimdād) des Sufitums umfasst den Koran und die Sunna sowie die „Eingebungen (ilhāmāt) der Rechtschaffenen und Eröffnungen der Gotteskenner (ʿārifūn).“36 Dem wurden laut Ibn ʿAǧība einige Dinge aus dem Fiqh hinzugefügt, wie es al-Ġazālī im Iḥyāʾ tat; er unterteilte in vier Bücher: die Bücher zu den gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt), zu den Gepflogenheiten (ʿādāt), zu den verderbenden Dingen (muhlikāt) sowie zu den errettenden Dingen (munǧiyāt).37 6. Die Norm des Gesetzgebers Bezüglich des Urteils oder der Norm des Gesetzgebers (ḥukm aš-šāriʿ fīhī) des Sufitums, gilt, was al-Ġazālī sagte, dass es „eine individuelle Pflicht ( farḍ ʿayn) darstellt, da niemand frei ist von Schändlichkeit oder Krankheit außer die Propheten, Friede sei mit ihnen. Aš-Šāḏilī sagte: ‚Wer nicht eintritt in dieses unser Wissen, der stirbt, während er auf den großen Sünden (kabāʾir) beharrt, ohne dass er es fühlt.‘ Und wie es individuelle Pflicht ist, ist es verpflichtend, jemanden zu suchen, von dem es erlernt werden kann. […] Das wurde von mehr als nur einem festgelegt, wie al-Bilālī und as-Sanūsī und andere. Der Scheich Sanūsī sagte: ‚Das Ego, wenn es überwältigend wird, ist wie ein unerwartet eintreffender Feind – es ist verpflichtend (yaǧib) es zu bekämpfen und Zuflucht vor ihm zu suchen, selbst wenn den Eltern zuwidergehandelt werden muss. Ebenso wie mit dem Feind verfahren werden muss, wenn er auftaucht.‘“38 35 IH, S. 18–9; vgl. dazu as-Suyūṭī, Taʾyīd al-ḥaqīqa al-ʿaliyya wa tašyīd aṭ-ṭarīqa ašŠāḏiliyya, S. 10–5. Dort diskutiert as-Suyūṭī Berichte über das frühe Sufitum. 36 TF, S. 16. 37 TF, S. 16; al-Ġazālī, Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Bd. 1, S. 10–3. Auf die Quellen des Korans und der Sunna sowie der Eingebungen der Rechtschaffenen und Gotteskenner wird in einem späteren Kapitel in diesem Teil eingegangen, 3.1.2.1. 38 IH, S. 21.
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
7. Der Forschungsgegenstand Die Forschungsgegenstände (masāʾil) des Sufitums sind zum einen die bekannten Themen aus Koran und Sunna, wie etwa die Begriffe der Umkehr, Gottesehrfurcht, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit, Seelenruhe, Askese, Frömmigkeit, Vertrauen, Zufriedenheit, Unterwerfung, Konzentration und Anschauung. Zum anderen umfassen sie Begriffe, die für die Darlegung der Glaubenslehre der Sufis benötigt werden, wie die Liebe (maḥabba), das Auslöschen (des Selbst, fanāʾ ), das Verbleiben (bei Gott, baqāʾ), Macht und Weisheit (qudra und ḥikma) und die Wirklichkeit der Zustände und Stufen der Seele.39 Darüber hinaus wird, schreibt Ibn ʿAǧība, unter diesem Punkt unter anderen die Thematik behandelt, dass die Disziplinen der religiösen Lehre allesamt von Zeit zu Zeit hinfällig werden, wie etwa die Grammatik, der Kalam oder das Fiqh, da der Mensch nicht ständig spricht, diskutiert oder betet, im Gegensatz zum Sufitum, da es die inneren Angelegenheiten des Menschen behandelt, die niemals ruhen.40 8. Vorzug und Rang Vorzug und Rang ( faḍīla wa šaraf ) der Lehre des Sufitums führt Ibn ʿAǧība von Seiten des Verstandes und der Überlieferung an. Der Verstand, schreibt er, führt den Vorzug zurück auf den Gegenstand der Untersuchung und den Begründer. Der Gegenstand der Untersuchung ist das erhabene Wesen Gottes und der Begründer ist der Prophet Muḥammad, wobei „das erhabene Wesen vorzüglicher ist in absolutem Sinne“ und „der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, das vorzüglichste Geschöpf durch Konsens.“41 Zudem (dieses Prinzip wurde bereits im vorigen Kapitel genannt) „befindet der gesunde Menschenverstand (al-ʿaql as-salīm) die Vollkommenheiten für schön und es besteht kein Zweifel, dass das Sufitum nur besteht, um die Vollkommenheiten zu verwirklichen hinsichtlich des Wissens, der Handlung und des Zustands, was die Angelegenheit betrifft die Glaubensüberzeugungen (ʿaqāʾid) zu vervollständigen, die Egos zu läutern und die Sitten zu verschönern.“42
Der Vorzug durch die Überlieferung geht auf die genannten Forschungsgegenstände zurück, die „von Koran, Sunna und dem Konsens der Gemeinschaft der Muslime (umma)“43 gepriesen werden beziehungsweise ihre Bestandteile 39 Ebenda. Diese Begriffe sind in vielen Werken der gelehrten Sufis dargelegt, angefangen mit der Risāla des al-Qušayrī über ʿAbd ar-Razzāq al-Kāšānī (gest. 730/1330) und Ibn ʿArabī bis hin zu Ibn ʿAǧība selbst; siehe dazu genauer bei Michon, Le Soufi, S. 166–71. 40 FI, S. 71. 41 Ebenda. 42 Ebenda. 43 Ebenda.
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(ǧuzʾiyyātihī), wie beispielsweise die Umkehr (tawba) und die Gottesehrfurcht (taqwā).44 9. Zusammenhang in der Lehre Was den Zusammenhang der Lehre zu den anderen Disziplinen betrifft (nisbatuhū min al-ʿulūm) hinsichtlich der schariatischen Richtigkeit „ist das Sufitum umfassend (kullī) und Voraussetzung für alle anderen, da kein Wissen und keine Handlung besteht, ohne dass sie der wahrhaften Ausrichtung auf Gott, den Erhabenen, entbehren könnten. Denn die aufrichtige Ergebenheit (iḫlāṣ) ist Voraussetzung in allen. Das ist, was die schariatische Richtigkeit betrifft und den Ausgleich und Lohn. Was aber die äußere Existenz anbelangt, finden sich die Lehren im Äußeren, außer das Sufitum, wobei sie mangelhaft und fehlerhaft sind. Aus diesem Grund sagte as-Suyūṭī: ‚Das Verhältnis des Sufitums zu den Lehren ist wie die Rhetorik zur Grammatik.‘ Das heißt, es [das Sufitum] ist Vervollkommnung in ihnen [in den Lehren] und wirkt verbessernd in ihnen. Der Scheich Zarrūq, möge Gott mit ihm zufrieden sein, sagte: ‚Das Verhältnis des Sufitums zur Religion (dīn) ist wie das Verhältnis der Seele zum Körper.‘“45
Das Sufitum beschreibt die Stufe der Vervollkommnung (iḥsān) nach dem Gabriel-Hadith, in dem der Prophet sie mit den Worten beschreibt: „dass du Gott anbetest, als sehest du Ihn und wenn du Ihn nicht siehst, so sieht Er dich.“ Die Stufe des iḥsān ist jedoch unvollkommen, schreibt Ibn ʿAǧība, wenn der Dienerschaft und Anbetung zu entbehren versucht wird, wie sie in den Glaubenslehren (ʿaqāʾid) der Stufe des īmān und den Handlungen in der Stufe des islām zum Ausdruck kommen.46 Ibn ʿAǧība: „Wer [al-mutakallim fī] über die Normen des islām spricht, wird Faqīh genannt, wer über die Normen des īmān spricht, wird Uṣūlī genannt und wer über die Normen des iḥsān spricht, wird Sufi genannt und die Lehre dazu nennt sich Sufitum (taṣawwuf ). Das Ziel und Thema des Sufitums sind die Erläuterung der Stufe des iḥsān (tafsīr maqām al-iḥsān), da sie zu Anfang die Ehrfurcht Gottes bezeichnet, zur Mitte ihre Durchführung und zum Ende ihre Erkenntnis.“47
10. Ziel und Nutzen Ziel und Nutzen (fāʾida) des Sufitums unterteilen sich in verschiedene Angelegenheiten. Zunächst besteht auf einer abstrakten Ebene das Ziel aus der Erziehung der Herzen, der Erkenntnis Gottes und dem rechten Verhalten jedem Geschöpf gegenüber.48 Konkretisierend beschreibt Ibn ʿAǧība sechs Punkte nach der Einteilung des Sufis as-Saraqusṭī, die als Nutzen oder Resultate bezeichnet 44 Ebenda. 45
IH, S. 22–3. Vgl. FI, S. 66. 47 Ebenda, S. 66–7. 48 TF, S. 17. 46
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werden. Nutzen und Ergebnis sind erkennbar, erstens durch die Intensität der Fähigkeit desjenigen, der den Weg beschreite, sich jemanden zum Vorbild zu nehmen (iqtidāʾ) sowie der Fähigkeit, dem Gesandten Gottes Gefolgschaft zu leisten (ittibāʿ), nach dem Aya „Sprich: ‚So ihr Gott liebet, so folget mir. Lieben wird euch Gott selber‘“ (K 3:31). Und dem Hadith: „Es glaubt keiner von euch, bis ich ihm nicht lieber bin als er sich selber, sein Besitz, seine Kinder und die Menschen allesamt.“49 Zweitens besteht Nutzen durch die Übereinstimmung innerhalb der Schule der Sufis und der Beilegung des Streits zwischen ihnen. Denn die Schulen innerhalb einer Disziplin sind viele und unterschieden sich, wie beispielsweise die maḏāhib (pl. von maḏhab) der Rechtsgelehrten, die Schulen der Koranlesarten (qirāʾāt) und die Schulen der Grammatik (an-nuḥāh). Die Schule der Sufis jedoch ist eine einzige, über die „Einigkeit besteht hinsichtlich des Ziels und der Handlung, wenn auch die Methode sich unterscheidet, da die Schule der Sufis zurück geht auf die wahrhafte Ausrichtung auf Gott, den Erhabenen, hinsichtlich Seiner Zufriedenheit durch das, was Ihn zufrieden stellt.“50
Auf das Argument, die Verschiedenheit der Gemeinschaft (umma) stelle eine Barmherzigkeit dar, entgegnet Ibn ʿAǧība, dass dieses sich auf die Zweige der Lehren bezieht (die furūʿ) und nicht auf die grundlegenden Methoden (uṣūl), bezüglich derer die Verschiedenheit tadelnswert ist. „Die Schule der Sufis ist im Einvernehmen über die Methoden (uṣūl) und die Zweige ( furūʾ ). Was die Methoden betrifft, besteht das äußerste Ziel aus Anschauung und Evidenz (alʿiyān), worüber Übereinkunft besteht, da dies eine Angelegenheit der Erfahrung ist und sich nicht unterscheidet. Was die Wissenschaftszweige ( furūʿ) betrifft, halten sie sich an das sicherste.“51 Der dritte Nutzen tritt laut Ibn ʿAǧība in den karāmāt (Huldwundern) zutage. Sie unterteilen sich in zwei, eine greifbare karāma (ḥissī) und eine metaphysische (maʿnawī), wobei die entscheidende die metaphysische ist, wie beispielsweise die Aufrichtigkeit im Glauben. Einige befänden sogar, schreibt er, die äußere, greifbare Wundertat sei die Wundertat des Abgeirrten, der vom Diesseits verschlungen wurde, selbst wenn sein Beten und Fasten viel sei. Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī sagte: „Es existieren zwei vereinende, umfassende Wunder; das Wunder des Glaubens (īmān) durch das Mehren der Gewissheit und der Schau der Evidenz (šuhūd al-ʿiyān) und das Wunder der Handlung nach der Sunna und der Befolgung (mutābaʿa) sowie das Unterlassen von Ansprüchen und Hinterlist. Wer diese beiden umfasst und sich danach noch nach anderem sehnt, der ist verführt und ein Lügner oder ist fehlerhaft im Wissen und Handeln 49 Kanz mit vielen Varianten: Aḥmad, Buḫārī, Muslim, Nasāʾī, Ibn Māǧa, Nr. 70 und weitere Nr. 91–3. 50 FI, S. 74. 51 Ebenda, S. 71–5.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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nach dem Richtigen. Wie jemand, dem gewährt ist, den König in Zufriedenheit zu betrachten, sich hernach aber nach dem Hüten des Viehs sehnt und sich der Zufriedenheit entledigen möchte.“52
Der vierte Punkt widmet sich der Läuterung der Gliedmaßen und Organe von den Sünden sowie von den Schändlichkeiten der Herzen. Die Fehler diesbezüglich gehen allesamt auf das Hadith zurück: „Die Liebe zum Diesseits ist der Hauptgrund aller Verfehlungen“53, was laut Ibn ʿAǧība, wenn es kein wirkliches Hadith ist, so doch der Bedeutung nach richtig ist. Dabei verhält es sich so, dass die Sünden der Gliedmaßen auf die Schändlichkeiten in den Herzen zurückgehen, da dort Hass, Neid, Niedertracht, Arroganz, die Liebe zur Macht, Heuchelei, Geiz und anderes entstehen. Daraus resultieren in Folge Dinge wie Lüge, falscher Eid, das schlechte Benehmen und anderes.54 Wer sich aber läutert, schreibt er weiter, „über dem erscheint der Mond des Einheitsglaubens (tawḥīd)“55 und er richtet sich nach dem Aya „Wer aber sein Angesicht Gott ergibt und rechtschaffen handelt, der hat die festeste Handhabe ergriffen“ (K 31:22). Das führt zu Punkt fünf, der im Glauben an das Schicksal (al-īmān bi l-qadar) zum Ausdruck kommt. Denn wer sich geläutert in sein Schicksal ergibt, dem ist es einerlei, ob Gutes oder Schlechtes ihn trifft, ob ihm Ehre widerfährt oder Niedrigkeit, Lob oder Tadel, ob ihm genommen wird oder gegeben.56 Der sechste Nutzen stellt den Aufstieg dar, den der Gläubige vollzieht; aus dem Dunkel der greifbaren Einbildungen in die erleuchtete Welt des Königreichs der Macht.57 Damit endet die Zusammenfassung der zehn Grundpinzipien. Wie in der Diskussion über die Grundlagen, Methoden und Grundprinzipien des Sufitums gesehen werden kann, stellt Ibn ʿAǧība das Sufitum als Disziplin der Lehren der Theologie vor und das maßgeblich auf der Basis der Tradition Zarrūqs und al-Ġazālīs. Damit bestätigt sich zunächst die These von der wissenschaftlichen Begründung des Sufitums durch Belege aus der Tradition. Wie aber gestaltet es sich im Hinblick auf das Wissen durch Erfahrung, die in Ibn ʿAǧības Biographie eine solch große Rolle spielt, nachdem er seinen Meister trifft? Das führt zuerst zu der Frage nach dem Wissen. 3.1.1.3 Das nützliche Wissen – Wissen und Handeln (al-ʿilm wa l-ʿamal) „Zusammenfassend bedeutet Sufitum: Der Diener befindet sich in einem Zustand, sodass Zufriedenheit und Liebe von Seiten seines Herrn eintritt. Das wiederum unterteilt sich in 52
Ebenda, S. 76. Bayhaqī, Nr. 6114; al-ʿAǧlūnī gibt weitere Überliefererketten und Varianten dazu an, Kašf al-ḫafāʾ, Bd 1, S. 308. 54 FI, S. 76–7. 55 Ebenda, S. 77. 56 Ebenda, S. 78. 57 Ebenda, S. 79. 53 Kanz:
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zwei; Wissen und Handeln. Vom Wissen wird profitiert, da es die Glaubensüberzeugung der Leute der Religion korrigiert sowie die Ziele der Beauftragten (mukallafūn). Und vom Handeln wird profitiert, da es den Diener zum schönen Benehmen vor dem Herrn der Welten anleitet, sodass er seine Dienerschaft in jedem Zustand und Moment verwirklicht. Das ist die Wirklichkeit, womit unser Prophet Muḥammad, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, zu uns kam, mit der wahrhaften Religion und dem geraden Weg.“58 – Ibn ʿAbbād ar-Rundī –
Die Religion als Ganzes zu betrachten entledigt nicht davon zu beurteilen, welchem Wissen der Vorzug zu geben ist vor anderem. Das hat zu einer Diskussion geführt, die in verschiedenen Disziplinen eine Rolle spielt. Wie in den Kapiteln zur Biographie (1.2 und 1.3) und zur Šāḏiliyya (2.3.3) zu sehen war, hat Ibn ʿAǧība als Sufigelehrter insbesondere Wert auf die Einheit von Wissen und Handeln gelegt, also die Einheit, die bei der Umsetzung des Wissens in die Tat entsteht. Eine Transformation vom Gelehrten zum Sufi-Gelehrten durchlief auch al-Ġazālī, der ebenfalls auf die Einheit von Wissen und Handlung eingeht. Er schreibt im Iḥyāʾ zur Tugend des Gottvertrauens: „Wisse, dass das Gottvertrauen (tawakkul) zu den Toren des Glaubens zählt. Die Tore des Glaubens allesamt werden nicht durchdrungen, außer durch Wissen, Zustand und Handlung. Ebenso wird das Gottvertrauen durchdrungen durch Wissen, das der Ursprung ist, durch Tat, die das Ergebnis darstellt und durch Zustand, der mit der Bezeichnung des Gottvertrauens (tawakkul) beschrieben wird.“59
In seiner Autobiographie schreibt al-Ġazālī: „Sodann, als ich jene Lehren [des Geistes] verließ, nahm ich mich in meinem Streben dem Weg der Sufis an und lernte, dass ihr Weg durch Wissen und Handeln erfüllt wird.“60 Er fährt fort mit der Beschreibung, dass für ihn der Erwerb des Bücherwissens leichter gewesen sei als der Erwerb des Wissens der Sufis. Schließlich verhalte es sich mit den Menschen wie mit einem kranken Arzt: „Der Arzt, wenn er krank ist, kennt die Grenzen der Gesundheit, ihre Ursachen und Heilmethoden, während er doch selbst krank ist. Ebenso stellt sich dir der Unterschied dar, einerseits die Kenntnis der Wirklichkeit von Askese, ihren Bedingungen und Ursachen und andererseits, wenn dein Zustand der der Askese ist und das Ego auf das Diesseits verzichtet.“61
58 Muḥammad Ibn ʿAbbād ar-Rundī, Ar-rasāʾil al-kubrā, Hg. Kenneth Honerkamp, Beirut: Dār al-Mašriq, 2005, S. 121. 59 Abū Ḥāmid al-Ġazālī, „Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn“, in At-taǧallīyāt ar-rūḥiyya fī l-islām. Nuṣūṣ Ṣūfiyya ʿabra at-tārīḫ, dirāsa wa iʿdād wa taqdīm, Hg. Guiseppe Scattolin und Aḥmad Anwar, Ägypten: Al-Hayʾa al-Miṣriyya, li-l-Kitāb, 2008. S. 396. 60 Abū Ḥāmid al-Ġazālī, „Al-munqiḏ min aḍ-ḍalāl“, in At-taǧallīyāt ar-rūḥiyya fī l-islām. Nuṣūṣ Ṣūfiyya ʿabra at-tārīḫ, dirāsa wa iʿdād wa taqdīm, Hg. Guiseppe Scattolin und Aḥmad Anwar, S. 434. 61 Ebenda, S. 435.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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Gegen Ende seiner Schilderung fasst er zusammen, dass „wer nicht von ihr [der Nähe zu Gott] etwas durch Schmecken (Erfahrung, ḏawq) erhalte, der kenne nichts vom Prophetentum außer den Namen.“62 Schon al-Ġazālī gibt demnach dem inneren Wissen – dem Resultat der Einheit von Wissen und Handlung – so großen Vorzug vor dem äußeren, dass es für ihn den Kern der Religion darstellt. Abū l-Ḥasan ʿAlī al-Huǧwīrī (gest. ca. 466/1072) beschreibt das Wissen in „Die Entschleierung des Verhüllten“ (Kašf al-maḥǧūb) ebenfalls mit der klaren Betonung auf der Einheit von Wissen und Handeln. „Der Erhabene beschreibt die Gelehrten mit: ‚Wahrlich, es fürchten Gott von Seinen Dienern die Wissenden‘ (K 35:28) und der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte: ‚Die Suche nach Wissen ist eine Pflicht ( farīḍa) für jeden Muslim‘63 und er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte auch: ‚Sucht das Wissen, und wenn es in China ist.‘64“65
Das Wissen sei vielfältig und das Leben kurz, fährt er fort und beschreibt, dass in diesem Sinne die Konzentration auf dasjenige Wissen essentiell sei, das Nutzen bringe. Zudem verhalte es sich so, dass es möglich sei, viel zu handeln mit wenig Wissen aus Büchern. Das Wissen bedürfe eines Abgleichens mit dem Handeln. Er führt an, er habe eine Gruppe gekannt, die das Wissen dem Handeln und eine andere Gruppe, die das Handeln dem Wissen vorgezogen habe. Beides aber sei inkorrekt, da eine Handlung ohne Wissen keine Handlung sei. Die Handlung werde zur Handlung, wenn sie im Wissen geschehe, denn der Diener bedürfe der Ausrichtung auf die Wirklichkeit. Ebenso sei die Bevorzugung des Wissens falsch, da Bildung, Lernen und Aufnahme allgemein Handlungen seien und der Diener dafür belohnt werde. Er fasst zusammen, das Wissen des Dieners beziehe sich auf die Angelegenheiten Gottes und die Gotteserkenntnis, innerlich und äußerlich. Dementsprechend hätten die Gegenstände in der Religion einen Stamm oder eine Grundlage (wurde meist mit „Methode“ übersetzt: aṣl, pl. uṣūl) und einen Zweig oder eine Fachunterdisziplin ( farʿ, pl. furūʿ), der davon abgehe, wobei beide eine innere und äußere Dimension aufweisen.66 So stellt beispielsweise „das Äußere der Grundlagen das Sprechen des Glaubensbekenntnisses dar und das Innere der Grundlagen die Erlangung von Erkenntnis. Das Äußere der Fachdisziplin ist die Ausführung einer zwischenmenschlichen Handlung und das Innere der Fachdisziplin stellt
62
Ebenda, S. 439. Kanz: U. a. Ibn ʿAdī, Bayhaqī, al-Ḫaṭīb, Abū Dawūd aṭ-Ṭayālisī, Nr. 28651 und Varianten: Nr. 28652–4. 64 Überliefert von Bayhaqī, al-Ḫaṭīb, Ibn ʿAbd al-Barr, Daylamī, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf alḫafāʾ, Bd. 1, S. 124. 65 Abū l-Ḥasan ʿAlī al-Huǧwīrī, Kašf al-maḥǧūb, Hg. Ibrāhīm Šatā, Kairo: Dār at-Turāṯ, al-ʿArabī, 1974, S. 14. 66 Ebenda, S. 14–6. 63
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
die Verbesserung der Absicht dar. Und die Durchführung des einen ohne das andere ist unmöglich.“67
Jede Handlung bedarf also eines inneren Gegenstücks, der richtigen Absicht oder des richtigen Wissens. As-Sakandarī, wesentlicher Bezugspunkt der Lehre Ibn ʿAǧības, bringt es auf den Punkt, wenn er das wirkliche Wissen das „nützliche Wissen“ nennt.68 Er schreibt, dass wenn im Koran oder in der Sunna von „Wissen“ die Rede sei, meine dies immer das „nützliche Wissen“, das eigentlich Ehrfurcht bedeute. Er nennt dazu das Aya: „Wahrlich Gott fürchten von Seinen Dienern die Wissenden“ (K 35:28) und erklärt, dass Gott offensichtlich dem tatsächlichen Wissen Ehrfurcht voraussetze. Das kommt, schreibt er weiter, ebenfalls in den folgenden Ayas zum Ausdruck: „Jenen wahrlich, denen vordem Wissen gegeben wurde“ (K 17:107) und „die im Wissen fest Gegründeten“ (K 3:7) und „Oh Herr, mehre mein Wissen“ (K 20:114). Und im Hadith: „Die Wissenden sind die Erben der Propheten.“69 In all diesen Texten meint das Wissen immer das nützliche Wissen, das stärker ist als die Leidenschaft (hawā) und welches das Ego im Zaume hält, also zur richtigen Handlung anleitet. As-Sakandarī konkludiert mit einer Absage an das rein intellektuelle Wissen, das keine gute Handlung nach sich zieht: „Dies ist eine absolute Notwendigkeit, da die Rede Gottes, des Erhabenen und die Rede des Gesandten Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, zu hoch gestellt sind, als dass sie mit etwas anderem in Verbindung gebracht werden könnten.“70 Was hier in den Zitaten zu Tage tritt, ist die konsequente Perspektive in der religiösen Lehre im Sinne der prophetischen Erziehung, dass die sufische Lehre nicht lediglich theoretisch behandelt werden kann, sondern immer das Handeln und damit die Praxis miteinbezieht. Das entscheidende Kernelement hinsichtlich der Auslegung der Religion in seiner Gesamtheit ist, wie es in dem Ausdruck vom „nützlichen Wissen“ enthalten ist: Das beste Wissen stellt jenes dar, das sowohl Wissen als auch Handeln umfasst und nicht allein an einem der beiden hängt. Das ist das Wissen der Herzen. Dementsprechend bildet die Einheit von Wissen und Handeln den Grundstein für die Erfahrung von Glaube. Es steht am Anfang einer langen Kette, die zur Erkenntnis führt. Ibn ʿAǧība: „Der Zeuge des Wissens ist die Handlung und der Zeuge der rechten Handlung ist ein Zustand. Der Zustand ist Zeuge des Erlebens [wörtlich des Geschmacks: ḏawq] und das Äußerste des Erlebens ist die Dankbarkeit, welche die Abwesenheit bedeutet von allem außer dem Wirklichen (al-Ḥaqq). Das Äußerste der Dankbarkeit ist die Bewusstheit, die die Schau der Einflüsse durch die Wirklichkeit [der göttlichen Manifestationen] bedeutet und die den Maßstab der Gewissheit (al-yaqīn) darstellt und das Ruhen bei dem Herrn 67
Ebenda, S. 17–8. Ibn ʿAṭāʾ Allah as-Sakandarī, Tāǧ al-ʿArūs al-ḥāwī li-tahḏīb an-nufūs, Kairo: Dār Ǧawāmiʿ al-Kalim, o. J., S. 69–77. 69 Kanz: Ibn an-Naǧār, Nr. 28679 und Variante: Ibn ʿAdī, Nr. 28677. 70 As-Sakandarī, Tāǧ al-ʿarūs al-ḥāwī li-tahḏīb an-nufūs, S. 69–70. 68
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
145
der Welten. Das ist das [Seelen-]Ruhen während des Verlaufs der Bestimmungen (huwa s-sukūn ʿinda maǧārī l-aqdār) und das Unterlassen sich in der Planung und der Auswahl zu versteifen. Es ist die Zufriedenheit mit dem, was vom Vorrat der Bestimmungen hervorgebracht wird und die Hingabe an die Normen des Einen, des Allgewaltigen.“71
Der 231. Lehrsatz as-Sakandarīs lautet: „Das nützliche Wissen ist, welches seine Strahlen in der Brust ausbreitet und damit die Überzeugung des Herzens offenlegt.“72 Ibn ʿAǧība kommentiert dazu zusammenfassend: Dasjenige Wissen, das mit Ehrfurcht notwendigerweise einhergeht, ist das nützliche Wissen. Anderes Wissen, das nicht damit einhergeht, ist es nicht. Das Wissen, welches sich in der Brust ausbreiter, ist die Kühle der Gewissheit oder die Süße des wahrhaften Glaubens, des īmān. Die Überzeugung meint hier die Vergesslichkeit, schreibt er weiter, die von der Zufriedenheit mit dem Ego herrührt. Das wiederum stammt von der Liebe zum Diesseits, was die Ursache aller Fehler darstellt. Wenn diese Dinge schließlich dem Herzen offengelegt werden, breiten sich darin die Strahlen des Wissens aus und die negativen Einflüsse schwinden.73 Es kann noch einen Schritt weiter gegangen werden, wie es im 233. Lehrsatz heißt: „Das Wissen, wenn es in Verbindung mit der Ehrfurcht steht, so ist es deins. Wenn nicht, so ist es gegen dich.“74 Ibn ʿAǧība schreibt dazu: „Wissen in Begleitung von Ehrfurcht (ḫašya) schützt den Menschen vor der Vergesslichkeit und ihren Ursachen. […] Wissen ohne Ehrfurcht jedoch ist eine Plage, denn es zeugt gegen den Menschen. Wie die Sünde im Wissen darum schwerer wiegt als die Sünde ohne zu wissen, dass es Sünde ist. Im Hadith, das al-Ġazālī erwähnt, sagt er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden: ‚Wehe dem Unwissenden einmal und wehe dem Wissenden zehnmal.‘ […] Und der große Meister und Gottesfreund Ibn Abū Ǧamra sagte über die Gelehrten seiner Zeit: ‚Tatsächlich sind sie Lehrer, was bedeutet, sie bilden aus im Beruf des Wissens. Sie sind Handwerker und keine Wissenden (Gelehrten).‘“75
Das verschiedene Ebenen umfassende Wissen bildet in seiner Abgrenzung zu dem rein geistigen Wissen der Bücher aus erkenntnistheoretischer Sicht gewissermaßen den Kern der Lehre der Sufis. Ibn ʿIyād formuliert das explizit, dass Wissen und Handeln das Kernstück der Lehre der Sufis sei, egal wie sehr die Wege sich unterscheiden und wie viele sie seien.76 Das Studium, der intellektuelle Wissenserwerb, darf nach Ibn ʿAǧība nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern benötigt eine Verbindung zur realen Lebenswelt des Menschen, die durch Tat und Erfahrung geprägt wird. In der 35. Ḥikma des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī (gest. 709/1309) heißt es: „Dass du einen Unwissenden begleitest, der mit seinem Ego nicht zufrieden ist, ist besser 71
SD, S. 269–70. IH, S. 484. 73 Ebenda. 74 Ebenda, S. 485. 75 IH, S. 485. 76 Ibn ʿIyād, Al-mafāḫir al-ʿaliyya fī l-maʾāṯir aš-Šāḏiliyya, S. 49–55. 72
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
für dich, als einen Wissenden zu begleiten, der mit seinem Ego zufrieden ist.“77 Und Ibn ʿAǧība kommentiert: „Das Begleiten von jemandem, der mit seinem Ego nicht zufrieden ist, ist reiner Nutzen […] und das Begleiten von jemandem, der mit seinem Ego zufrieden ist, ist reines Übel, selbst wenn er der meist Wissende der Menschen wäre.“78
Hier tritt der die Ebenen vereinende Ansatz auf die Spitze getrieben hervor, der die Kontemplation des Inneren eindeutig höher gewichtet, als die Lehren im Äußeren. Die aus dem Zitat rührende Kritik an einem vergeistigten Menschen, der sein Wissen und seine Person trennt, da er zwar vielleicht eine gewaltige Menge an Wissen besitzt, dieses aber nicht verinnerlicht hat und es lediglich wie ein Schulfach unterrichtet, wird hinfällig, sobald inneres und äußeres Wissen miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Methode, Wissen und Handeln in Eins zu setzen, ist entscheidend für die Lehre Ibn ʿAǧības. Nur wer diesen Weg der Erkenntnis geht, kann laut Ibn ʿAǧība Wissen erlangen, das über die Theorie und spekulative Erkenntnis hinausgeht. Nur auf diesem Weg kann eine Handlung tatsächlich „herzlich, innerlich“79 werden.80 Zum Beleg für diese Meinung nennt Ibn ʿAǧība beispielsweise die Gelehrten Ibn Rušd, al-Ġazālī und al-Qušayrī, die die Gotteserkenntnis ebenfalls über die Kenntnis der Normen setzten.81 Aus einer anderen Perspektive betrachtet, bedeutet etwas ohne die entsprechende innere Beteiligung zu tun, die Beschäftigung mit dem Jenseits zu vernachlässigen. Ibn ʿArabī bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Der Mensch ist nicht vollkommen im Wissen, bis er zwischen dem äußeren Wissen und dem inneren Wissen vereint. Der Erhabene spricht tadelnd über ein Volk ‚Sie wissen was vom diesseitigen Leben äußerlich sichtbar ist. Auf das Jenseits achten sie nicht.‘ [K 30:7]“82
Insofern liegt in der Gewichtung des Inneren über das Äußere immer auch ein soteriologisches Element verborgen. Nur eine ganzheitliche Betrachtung der Religion, wie es in der Darstellung der Auslegung des Gabriel-Hadith schon zum Ausdruck kam, führt zu wirklichem Wissen, das mit dem höchsten Ziel der Religion – der Erkenntnis – in Verbindung steht. Und insbesondere vor diesem Hintergrund geben die Anweisungen der Tugendlehre ihren wahren Wert preis. So soll die Tugend der Askese laut Ibn ʿAǧība etwa dazu führen, dass sich das Herz bewegt, und nicht lediglich den Geber verarmen. Er nennt dazu das Hadith: „Askese ist es nicht, das Erlaubte zu verbieten und nicht die Vergeudung 77
IH, S. 116.
78 Ebenda. 79
BM, Bd. 1, S. 203. Ebenda, S. 203. 81 Ebenda, S. 361. 82 Zitiert aus ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī, Al-kibrīt al-aḥmar fī bayyān ʿulūm aš-Šayḫ alakbar, Hg. ʿAbd Allāh ʿUmar, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, o. J., S. 53. 80
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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von Vermögen. Vielmehr ist Askese, dass du mehr auf das vertraust, was in der Hand Gottes liegt, als auf das, was in deiner Hand liegt.“83 Das nützliche Wissen wird zusammenfassend mit der Erweiterung durch die Tat oder Handlung definiert sowie in Abgrenzung zu dem äußeren, intellektuellen Wissen. Wirkliches Wissen ist für Ibn ʿAǧība nur solches, das beide Ebenen, das Innere und Äußere, umfasst. Wenn nun das nützliche Wissen nicht im Intellekt zu verorten ist, sondern mit einem Prozess im Inneren des Menschen in Verbindung steht, welcher ist dann der Sitz des Wissens und wie werden überhaupt die verschiedenen Kräfte des Inneren des Menschen beschrieben? 3.1.1.4 Der Locus für das Wissen – Ego, Verstand, Herz und Seele Das Wissen, das sowohl Wissen als auch Handeln umfasst, ist das Wissen des Herzens. Bisher wurde in der Studie der Begriff „Herz“ synonym zu dem „Inneren“ verwendet und hin und wieder auch zu dem Vorgang, wenn sich die Dimensionen des Inneren und Äußeren vereinen. Was es genauer mit diesen Begrifflichkeiten auf sich hat, wird in diesem Kapitel behandelt und daraus resultierend die Frage gestellt, was durch welche innere Kraft verstanden werden kann. Anders formuliert lautet die Frage: Welche Information wird an welchem Ort (Locus) im Menschen abgelegt?84 Allgemein wurden aus der Perspektive der religiösen Lehren den verschiedenen Begriffen für das Innere des Menschen unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet. Im Kalam besteht ein Diskurs, in dem das Selbst (nafs) des Menschen und seine Seele (rūḥ) im Mittelpunkt stehen, jedoch wird dabei entweder gegen die Lesart der Philosophie argumentiert, wie das Beispiel Avicenna zeigt85 oder die Eschatologie zur Frage der Auferstehung der Menschen am Jüngsten Tag diskutiert.86 Aus der Perspektive des Sufitums sind zum einen die Wesenheiten der inneren Kräfte von Belang und zum anderen die Unterscheidungen zwischen den Begriffen, denn je nachdem, welcher Blickwinkel innerhalb der Disziplin eingenommen wird, kommt ein anderer Aspekt zum Tragen. Die Lehre von den inneren Kräften des Menschen spielt in der Disziplin Sufitum eine zentrale Rolle und viele einflussreiche Werke, wie etwa das Iḥyāʾ al-Ġazālīs oder auch das Qūt al-qulūb des Abū Ṭālib al-Makkī (gest. 386/996) behandeln die inneren Fähigkeiten des Menschen beziehungsweise dessen Beschaffenheit ausführlich.87 Hinsichtlich der Translation dieser Lehre in einen 83
IH, S. 134; das Hadith in Kanz mit leicht anderem Wortlaut: Tirmiḏī, Ibn Māǧa, Nr. 6059. Vgl. dazu Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 89–94. 85 Vgl. ʿAbd ar-Raʾūf al-Munāwī, Šarḥ al-Munāwī ʿalā qaṣīdat an-nafs li-Ibn Sīnā, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Books-Publisher, 2015. 86 Vgl. Aḥmad aṣ-Ṣāwī, Ḥāšiyat aṣ-Ṣāwī ʿalā ǧawharat at-tawḥīd, fī ʿilm al-kalām, S. 177–85. 87 Vgl. beispielsweise Teil 30 über die Einflüsse, die das Herz bewegen: Abū Ṭālib al-Makkī, Qūt al-qulūb fī muʿāmalat al-maḥbūb wa waṣf al-murīd ilā maqām at-tawḥīd, Hg. Maḥmūd ar-Riḍwānī, Kairo: Dār at-Turāṯ, 2001. 84
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
heutigen Wissenschaftsbegriff nennt Murata sie „spirituelle Psychologie“.88 Titus Burckhardt verwendet diesen Ausdruck ebenfalls und erläutert ihn indem er sagt, die Psychologie der Sufis hebe sich im Allgemeinen von der in weiten Teilen „profanen“ Psychologie ab, da sie nicht lediglich von den Einflüssen der Welt auf den Menschen ausgehe, sondern darüber hinaus den Einfluss des Göttlichen auf die Seele miteinbeziehe.89 Ganz im Sinne einer Wissenschaft von der Seele (Psyche) auch im heutigen Sinne beginnt Ibn ʿAǧība grundlegend damit, dass der Mensch im Anfang der Welt ausgeliefert ist. Die ersten Empfindungen, die der Mensch begreift, seien die notwendigen (ḍarūriyya), greifbaren (ḥissī) Dinge, wie Hunger, Schmerz und Kälte.90 „Danach lernt er zwischen seiner Mutter und anderen zu unterscheiden, zwischen Nah und Fern und schließlich lernt er die Phantasie kennen, die Angst und Einbildungen hervorrufen kann, sodass er sich vor Angelegenheiten fürchtet, von denen er glaubt, dass sie ihm schaden und die Angelegenheiten liebt, von denen er glaubt, sie nützten ihm.“91
Das bedeutet, der Mensch ist im Anfang gewissermaßen schwach und kommt bedürftig zur Welt – wie Ibn ʿArabī es beschreibt, befindet er sich in einem Zustand der Vergesslichkeit, wenn er auf die Welt kommt. Seine Fähigkeiten bilden sich erst mit Reife und Alter aus.92 Was nun die Unterscheidung zwischen den verschiedenen inneren Kräften des Menschen betrifft, verkörpern sie für Ibn ʿAǧība kurzgefasst aus einer bestimmten Perspektive die Entwicklungsphasen der Seele. Hierbei stellt die Seele die umfassende Bezeichnung für die Verbindung zwischen Mensch und Gott dar, nach dem Aya: „Sag: ‚die Seele gehört zur Angelegenheit meines Herrn‘“ (K 17:85). Ibn ʿAǧība führt aus: „Wisse: das Ego, der Verstand, das Herz, die Seele und das Geheimnis (oder das innerste des Innern: sirr) sind Entwicklungsphasen der subtilen, lichtgestaltigen Seele. […] Jede dieser Entwicklungsphasen hat eine Grenze an Wissen und Verständnis, die nicht übertreten wird.“93
Die Seele ist also allgemein der Sammelbegriff für die Kräfte oder Elemente des Innern und benennt gleichzeitig etwas Bestimmtes. Als bestimmtes Element stellt die Seele gewissermaßen die dritte Stufe dar, die der Mensch auf dem Weg zur Erkenntnis erreicht. Doch der Reihe nach:
88 Murata, 89
The Tao of Islam, Part 4. Titus Burckhardt, Introduction to Sufi Doctrine, Bloomington IN: World Wisdom, 2008,
90
FI, S. 332.
92
Vgl. Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs, S. 164–8. FI, S. 330.
S. 27.
91 Ebenda. 93
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
149
1. Das Ego (nafs): Generell gilt für die Disziplin Sufitum, dass das Ego im Speziellen die niederen Kräfte des Menschen bezeichnet. Nach dem koranischen Aya: „Wahrlich das Ego gebietet das Schlechte“ (K 12:53). Damit ist das Ego gemeint, beschreibt Ibn ʿAǧība, das den Menschen in Richtung der weltlichen Gelüste zu beeinflussen sucht ohne Rücksicht auf die daraus resultierenden Konsequenzen.94 Wie etwa die Befriedigung der körperlichen Gelüste, aber auch die metaphysischen, wie die Gier nach Macht und Ansehen. Die Grenze des Verstehens des Egos ist der „Schmuck des äußeren Scheins“95, weil es völlig mit den Leidenschaften oder Begierden beschäftigt ist und den Schöpfer nicht schaut, wie Ibn ʿAǧība es beschreibt, da in der Schau des Diesseits verhangen.96 Das Ego (nafs) kann auch mit Selbst übersetzt werden und sich auch zum Guten wenden, wird dann aber das „beruhigte Ego“ (vgl. Koran 89:27) oder das „beruhigte Selbst“ genannt, was an anderer Stelle ausgeführt wird. 2. Der Verstand (ʿaql). Er kann ebenfalls das Innere des Menschen bezeichnen. Er besitzt die Fähigkeit zwischen dem wirklich Nützlichen und Schädlichen zu unterscheiden, jedoch ist er begrenzt darauf, zu beweisen oder Belege zu liefern, die alle auf die axiomatische Formel zurückgehen: Jedes Ding bedarf einer Ursache. Oder: „Jedes Geschöpf bedarf eines Schöpfers.“97 Ibn ʿAǧība beschreibt den Verstand, der für scholastische Belege verwendet wird, als ein begrenztes Mittel zur Erkenntnis, da dieser nicht Wissen und Handeln umfasst, sondern auf der theoretischen Ebene verbleibt und damit keine inneren Zustände zulässt beziehungsweise ermöglicht.98 Diese beiden, das Ego und der Verstand, sind „verdunkelt“ beziehungsweise das Dunkel überwiegt sie, da sie mit der greifbaren Welt (ḥiss) zu sehr verwoben sind.99 3. Das Herz (qalb): Im Gegensatz zu den ersten beiden sind „das Herz, die Seele und das Geheimnis (sirr) die Loci für die [göttlichen] Lichter.“100 Das Herz ist laut Ibn ʿAǧība der Locus oder der Spiegel des göttlichen Lichtes, das Licht eine Metapher für die Gewissheit. Wird das Herz mit den guten Eigenschaften belegt, vergehen die schlechten und die ruhige Gewissheit (yaqīn) um den ursprünglichen Einheitsglauben tritt ein – der Mensch erinnert (ḏikr) sich dann seiner Natur nach an seinen Schöpfer, was wiederum mit wirklichem Wissen und Verstehen ausgedrückt werden kann. Dieses Licht wächst im Herzen an, bis die Sehnsucht nach dem Schöpfer eintritt, was die höchste Stufe und damit auch die Grenze des Herzenswissens darstellt.101 94
BM, Bd. 3, S. 293–6. FI, S. 331. 96 Ebenda. 97 FI, S. 330. Darauf und auf die eigentliche Natur des Verstandes (ʿaql) wird im Kapitel zu den Streitthemen zwischen Sufitum und Kalam genauer eingegangen, 3.2.1.2. 98 Ebenda. 99 Vgl. IH, S. 348. 100 IH, S. 349. 101 Ebenda; FI, S. 331–3. 95
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
4. Über dem Herzen steht die Seele (rūḥ), die in gewisser Hinsicht den Locus für die Meditation bildet. „Die Meditation ( fikra) ist das Reisen des Herzens in den Manifestationen des Herrn.“102 Wobei hier das Herz im übertragenen Sinne zu verstehen ist. Ibn ʿAǧība: „Solange die Seele durch Rebellion, Sünden, Begierden und Schändlichkeiten verdunkelt bleibt, wird sie Ego genannt. Wird sie dann gezügelt und gebunden, wie das Kamel angebunden wird, wird sie Verstand genannt. Sodann schwankt sie zwischen Unachtsamkeit und Anwesenheit hin und her und wird deswegen Herz genannt [Wortspiel mit dem arab. qalb, das ursprünglich drehen oder wenden bedeutet]. Beruhigt sie sich dann und findet Frieden und Ruhe von der Anstrengung des Menschseins, wird sie Seele genannt. Wird sie schließlich noch von der Dunkelheit des Greifbaren geläutert, wird sie Geheimnis genannt.“103
Das Herz stellt den metaphorischen Ort für die Seele dar, während diese die Seite des Menschen abbildet, die dem Göttlichen zugewandt ist. Gelangt der Reisende zu seiner Seele, begreift er, wie die Manifestationen des Göttlichen in der Welt wirken. Und die Anschauung der göttlichen Manifestationen ist die Grenze des Wissens und Verstehens der Seele. Der Mensch, wird er seiner Seele gewahr, findet Ruhe von der Anstrengung der Reise, ist jedoch noch nicht am Ziel.104 5. Das Geheimnis (sirr) steht abschließend noch über beziehungsweise liegt noch hinter der Seele. Das Erreichen des Innersten bedeutet das Ende des Weges, nach dem Aya: „Und dass bei deinem Herrn das Ende ist“ (K 53:42), wobei diese Begriffe, wie die Reise selbst, letztendlich Metaphern sind. Ein Ende kann es nur im Wissen oder Verstehen des Menschen geben, nicht bezogen auf das Göttliche. Die Phase des Geheimnisses oder Innersten ist vor der Allgemeinheit verborgen und der Locus für die vollkommene Schau.105 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība in seinem Werk die Begriffe nicht durchgehend einheitlich verwendet, sondern sie spielerisch, poetisch gebraucht, oft synonym zueinander und andeutet, dass das eine im anderen verbogen liegt. Das ist vor dem Hintergrund des möglichen Perspektivenwechsels nur folgerichtig; Ego, Verstand, Herz, Seele und Geheimnis sind von außen betrachtet eins und von innen betrachtet viele.106 Aus einer anderen Perspektive kommen dem Ego und dem Verstand, die in der obigen Darstellung eher negativ konnotiert sind, wichtige Aufgaben zu. So ist der Verstand aus Perspektive der Theologie fähig, die Normen der Scharia und des Kalam abzuleiten.107 Darüber hinaus geht laut Ibn ʿAǧība, wenn das 102 MT, S. 50. Auf die Meditation ( fikra) wird im Kapitel zur išāra genauer eingegangen (4.3.1). 103 IH, S. 148. 104 Vgl. ebenda, S. 390; FI, S. 331. 105 Vgl. FI, S. 331–2. 106 Vgl. beispielsweise IH, S. 42; MT, S. 26–8. 107 Vgl. IH, S. 42. Darauf wird im folgenden Kapitel zu den Streitpunkten zwischen Sufis und Mutakallimun genauer eingegangen, 3.2.1.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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Innere geläutert wurde, der menschliche Verstand in den „großen Verstand“108 (ʿaql akbar) ein, was bedeutet, dass das kleine Licht des Verstandes metaphorisch in das Licht des ursprünglichen, göttlichen Verstandes aufgenommen wird, „wie das Mondlicht bei Sonnenaufgang.“109 Diese Interpretation des Verstandes erinnert stark an die Schule des andalusischen Gelehrten und Sufi ʿAbd al-Ḥaqq Ibn Sabʿīn (gest. 669/1270), der seine Theologie im Unterschied zu vielen anderen wesentlich auf dieser Prämisse vom Verstand als Mittel zur Erkenntnis aufbaute.110 Diese Idee sollte jedoch nicht zu falschen Schlüssen führen; eine eigehende Lektüre seiner Werke zeigt laut Vincent Cornell, dass Ibn Sabʿīn, wie auch Ibn ʿAǧība, die Begriffe nicht verabsolutiert, sondern sie im Kontext der Gotteserkenntnis deutet und verwendet.111 Schon Zarrūq geht auf Ibn Sabʿīns Neigung zur Logik und Philosophie ein, mit dem Hinweis, diese sei eine der Schulen der Sufis.112 Das Ego kann wie der Verstand als Ausgangspunkt genommen werden, um den Aufstieg der Seele zu zeigen. Das Ego ist auf basaler Ebene dafür verantwortlich, dass der Mensch am Leben bleibt und dahingehend laut Ibn ʿAǧība durchaus auch positiv zu bewerten.113 Es kann durch die Läuterung des Herzens aufsteigen und sich beruhigen, sodass es nicht mehr nur um die überlebenswichtigen Funktionen kreist, was zur Folge hat, dass es anstatt nach den eitlen Begierden den guten Dingen zustrebt. Dann wird es das „beruhigte Ego“ (an-nafs al-muṭmaʾinna) und das „zufriedene Ego“ (an-nafs ar-rāḍiya oder marḍiyya) genannt, wie es im Aya zum Ausdruck kommt: „O du beruhigtes Ego [oder Seele], kehre zurück zu deinem Herrn, zufrieden und von Seinem Wohlgefallen getragen!“ (K 89:27–8). Hinzugefügt kann noch das „eingebende Ego“ (an-nafs al-mulhama) werden (K 91:8).114 Die Lehre von den verschiedenen Egos nimmt in anderen Schulen der Sufis großen Raum ein, spielt bei Ibn ʿAǧība jedoch keine große Rolle.115 Mit dem Weg, dem Aufstieg der Seele des Menschen, verhält es sich so, dass er nicht linear oder eindimensional verläuft, sondern viele Dimensionen umfasst. Dementsprechend ist die „Vereinigung der Ebenen des Inneren und des Äußeren“ entweder ein Synonym für das „Herz“ oder umfassender als das. 108
MT, S. 29.
109 Ebenda.
110 Vgl. ʿAbd al-Ḥaqq Ibn Sabʿīn, Rasāʾil Ibn Sabʿīn, Hg. Aḥmad al-Mizaydī, Beirut: Dār alKutub al-ʿIlmiyya, 2007. Beispielsweise die darin enthaltene Abhandlung „Ar-risāla al-faqīriyya“ (S. 53–72), in der durchaus die Neigung zu einem philosophischen Stil zu sehen ist. 111 Vincent J. Cornell, „The All-Comprehensive Circle (al-Iḥāṭa): Soul, Intellect, and the Oneness of Existence in the Doctrine of Ibn Sabʿīn“, in Sufism and Theology, Hg. Ayman Shihadeh, S. 31–48. 112 Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf, S. 85–6. 113 MT, S. 27. 114 Vgl. BM, Bd. 3, S. 296; BM, Bd. 8, S. 323–4. 115 Vgl. zu den verschiedenen Egos beispielsweise die Ausführungen von az-Zabīdī, Itḥāf sādat al-muttaqīn, Bd. 8, S. 375–9.
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Synonym ist es, wenn das Herz unter dem Aspekt des Spiegels verstanden wird, was den ersten möglichen Locus für wirkliches Wissen bildet. Verschieden sind die beiden Begrifflichkeiten unter dem Aspekt, dass die „Vereinigung der Ebenen des Inneren und des Äußeren“ alle oben angeführten Entwicklungsphasen der Seele umfassen. Wie es sich mit den verschiedenen Bezeichnungen auch verhalten mag, vor dem Hintergrund der Läuterung von den verborgenen Götzen, den negativen Eigenschaften, steht das Herz im Allgemeinen für den Locus des Wissens. Ibn ʿAǧība: „Das Herz, wenn es geläutert wurde, erweitert seinen Kreis des Schauens und das gesamte Sein (wuǧūd) wird darauf geprägt.“116 Die Prägung ist hier im Sinne des Wissens zu verstehen, das in das geläuterte Herz eintreten kann. Durch die Läuterung, die der Weg durch die Vereinigung von Wissen und Handlung, von Innen und Außen, verursacht, entsteht eine Tabula rasa, die im Anschluss Platz für die Wirklichkeiten bietet, für die Manifestationen der göttlichen Eigenschaften. Die göttlichen, die guten Eigenschaften wirken folglich im Menschen und das Herz wird im Einheitsglauben auf Gott ausgerichtet. Die scheinbaren Widersprüche der Welt (ḍiddayn) wie Innen und Außen werden versöhnt.117 Gelangt der Diener dorthin, ist das Gebet nicht mehr einfach äußerlich, sondern der Zustand und die Schau der göttlichen Manifestationen in der Welt sind selbst eine Art Gebet. Das ist das „herzliche Gebet“118, wie Ibn ʿAǧība es an einer Stelle nennt, in dem die Wirklichkeit mit den Augen des Herzens geschaut wird, in der sich die Scharia und die Wirklichkeit (ḥaqīqa) verbindet, das Äußere und Innere.119 Zusammengefasst ist das Innere, bestehend aus verschiedenen Bestandteilen, eine „subtile Herrlichkeit, durch die der Mensch zum Menschen wird.“120 Überwiegen die lasterhaften Eigenschaften im Menschen, überwiegt sein Ego. Überwiegen andererseits die guten Eigenschaften, überwiegt die Seele im Menschen. Ibn ʿAǧība: „Wie das Auge der Ort für die Sehkraft ist und das Ohr der Ort für das Hören und die Nase der Ort für das Riechen und alle auf ein einziges Selbst zurückgehen, ist das Ego der Ort für die lasterhaften Eigenschaften und die Seele der Ort für die preisenswerten Eigenschaften.“121
Im Stufengebilde des Gabriel-Hadith ausgedrückt: Auf der Stufe des islām nennt das Innere sich Ego, auf der Stufe des īmān nennt es sich Herz, auf der Stufe des iḥsān nennt es sich Seele und darüber hinaus Geheimnis.122 116
SBMS, S. 304. Vgl. IH, S. 44, 617. 118 BM, Bd. 1, S. 231. 119 Ebenda. 120 MT, S. 26. 121 Ebenda, S. 26. 122 Vgl. ebenda. 117
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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3.1.2 Die Quellen Ibn ʿAǧības Während in den vorangegangenen Kapiteln die Methoden und Grundlagen beziehungsweise Rahmenbedingungen für das Wissen diskutiert wurden, soll in den folgenden Kapiteln das Wissen hinsichtlich seiner Quellen bei Ibn ʿAǧība untersucht werden. Das unterteilt sich in textuelle Quellen und Quellen der spirituellen Erfahrung. 3.1.2.1 Koran und Sunna Die Bezugnahme auf Koran und Sunna dient einerseits dazu, das Fundament der Religion zu beschreiben und bildet sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner jeder theologischen Betrachtung hinsichtlich der Quellen.123 Andererseits dient die Einheit der beiden Elemente Koran und Sunna dazu, einen bestimmten Aspekt des Wesens der Religion zu beschreiben, das im Zusammenspiel zwischen Gott und Seinem Propheten zum Vorschein kommt. Das Fundament beschreibend sagte al-Ǧunayd al-Baġdādī: „Dieser unser Weg ist gebunden an den Koran und die Sunna.“124 Mit dem Weg ist hier die Schule der Sufis allgemein gemeint. Ibn ʿAǧība zitiert al-Ǧunayd gerne und viel, im Besonderen zu diesem Thema. Beispielsweise mit den Worten: „Mein Herz wird berührt von Seiten der Enthüllung, ich nehme sie jedoch nicht an ohne die zwei gerechten Zeugen: das Buch und die Sunna.“125 Die Versicherung, die in diesen Aussagen liegt, hat den Grund, dass falsche Deutungen von Quellen im Gewand des Sufitums in der Geschichte der Theologie ein bekanntes Phänomen sind. Wie im Kapitel zur Genese der Lehre Ibn ʿAǧības (2.3) bereits erwähnt, befanden sich die Sufis dabei zwischen zwei Extremen: Einerseits durch Sekten, die eine offensichtlich extreme Auslegung zu verbreiten trachteten und andererseits falsche Deutungen von Seiten der Gelehrten, die den Sufis mitunter vorgeworfen wurden. In diesem Zusammenhang stellt die Bezugnahme auf Koran und Sunna ein geflügeltes Wort dar und soll das gemeinsame Fundament betonen. Wer immer über das Sufitum spricht, bedarf gewissermaßen des steten Grundes der beiden elementaren Komponenten der Religion. Ibn ʿAǧība betont diesen Aspekt an vielen Stellen, wie bereits an verschiedentlich erwähnt. Jedoch auch ohne den Blick auf Apologetik stellt sich die Frage nach dem Maßstab, wenn Kernelemente der Theologie betroffen sind. Laut der Tradition der Šāḏiliyya bedarf die Religion eines fruchtbaren Grunds und Bodens, der nicht korrumpiert ist und der ein Minimum an Schutz bietet; nicht nur vor den Irrungen im theologischen Diskurs, sondern auch vor den eigenen Irrungen, 123
Vgl. Murata und Chittick, The Vision of Islam, S. 28–30, 132–4. ʿAbd al-Karīm al-Qušayrī, Ar-risāla al-Qušayriyya, Hg. ʿAbd al-Ḥalīm Maḥmūd, Kairo: Dār aš-Šaʿb, 1989, S. 80. 125 IH, S. 463. 124
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
wie bei al-Ǧunayd oben schon angeklungen ist. Ibn ʿAǧība zitiert Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī: „Wenn deine Eingebung (kašf ) dem Buch und der Sunna widerspricht, halte fest am Buch und der Sunna und lass von deiner Eingebung ab und sage zu dir selbst: ‚Wahrlich, Gott der Erhabene legte die Bewahrung (oder Schutz: ʿiṣma) in das Buch und in die Sunna, jedoch ist mir diese nicht zu eigen in meinen Eingebungen, meiner Inspiration sowie meiner Wahrnehmung.‘ Zudem ist es Konsens (iǧmāʿ), dass man sich in seinen Handlungen nicht an Eingebungen halten muss. Und nicht an Inspiration und nicht an seine Wahrnehmung, außer nachdem sie mit dem Koran und der Sunna abgeglichen wurden.“126
Das Festhalten an Koran und Sunna erfüllt also eine doppelte Funktion. Einerseits bietet sie ein Fundament für die Auslegung der Lehren, zum anderen gibt sie dem Individuum einen Leitfaden an die Hand. Anders betrachtet ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit des eigenen Anspruchs darauf, die religiöse Lehre zu vertreten, ein Thema, dass in gewisser Hinsicht im Zentrum der Disziplin des Sufitums steht. Das Sufitum kreist, wie bereits beschrieben, um den inneren Wert der aufrichtigen Ausrichtung auf Gott (ṣidq at-tawaǧǧuh ilā Allāh). Wird dieser fundamentale Grundsatz korrumpiert, ist die ganze Religion korrumpiert, da das Sufitum den Kern der Religion darstellt. Ohne Seele kein lebendiger Körper und ohne gute innere Ausrichtung im Glauben (ʿaqīda) keine gute Tat und kein Wachstum. Dementsprechend ist die Ablehnung falscher Ziele und Motivationen im Werk Ibn ʿAǧības ein durchgängiges Thema. Manche Leute, die sich als Sufis ausgeben, nennt er an einer Stelle schlicht „Diebe“127, da sie die Aussagen der Sufis verwenden und sich selbst zuschreiben. Sie behaupteten, auf hohen Stufen zu stehen, hätten aber selbst nichts davon erfahren.128 Und andere Leute, schreibt er an anderer Stelle, gingen noch weiter und missachteten offen die äußeren Normen unter dem Vorwand der Askese.129 Eine andere Verfehlung hinsichtlich der aufrichtigen Ausrichtung in der Religion ist die übertriebene Gewichtung der äußeren Normen, was mitunter zur Ablehnung der sufischen Auslegung führt. Das kam ebenfalls bereits im Teil zur Biographie Ibn ʿAǧības und der Geschichte der Šaḏiliyya zur Sprache. In seiner Koranexegese taucht das Motiv des falschen Gelehrten oft an der Stelle auf, wenn die Gläubigen von den Leugnern bedrängt werden.130 Der Fehler liegt dabei stets in der falschen Gewichtung der religiösen Lehre, die ihren Ursprung in einer Krankheit des Herzens hat. Denn wenn das Herz von der Liebe zur Macht oder zum Ansehen ergriffen ist, schreibt Ibn ʿAǧība, glaubt der Gelehrte das Richtige zu tun, irrt jedoch und verwechselt äußerliche Ehrungen mit 126 Ebenda. 127
FI, S. 57. Ebenda, S. 57–8. 129 BM, Bd. 7, S. 342–3. 130 Vgl. etwa BM, Bd. 1, S. 330. 128
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
155
Dienerschaft. Das Streben nach Ansehen selbst ist falsche Liebe zur diesseitigen Welt, da Dienerschaft und Demut bedeutet, dass es gleich ist, ob einem im Äußeren etwas gegeben wird oder nicht.131 Die Frage nach der richtigen Intention und dementsprechend nach der aufrichtigen Ausrichtung auf Gott in Bezug zu den Handlungen der Menschen ist es auch, was Ibn ʿAǧība dazu gereicht, die Einheit von Koran und Sunna aufzuzeigen. Das folgende Beispiel muss insbesondere unter diesem Gesichtspunkt der Einheit betrachtet werden. Geschieht das nicht, entsteht bei der Fragestellung eine Normativität, die den Blick für das dahinterliegende Prinzip verstellt. Mit Gewichtung auf die Herzenserkenntnis lösen sich die scheinbaren Widersprüche, die der Verstand kreiert. Ibn ʿAǧība: „Es bereitete das koranische Aya einigen vortrefflichen Leuten Schwierigkeiten: ‚Tretet ins Paradies ein für eure Taten‘ [K 16:32] in Bezug zu seiner Aussage, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, ‚Keiner von euch wird eintreten ins Paradies durch seine Taten.‘132 Die Antwort ist, dass das Buch und die Sunna zwischen Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) hervortreten. Oder auch zwischen Gesetzgebung und Verwirklichung, da sie beide in einer speziellen Sache an einer Stelle schariatisch eingeführt wurden und an einer anderen Stelle durchgeführt. Und sie wurden beide an einer Stelle durchgeführt und an einer anderen schariatisch eingeführt. So gab der Koran Gesetz an einer Stelle und die Sunna verwirklichte es. Und es gab die Sunna Gesetz an anderer Stelle und der Koran verwirklichte es. Der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, verdeutlichte dies, als herabgesandt wurde ‚Und wir sandten herab zu dir das Gedenken (ḏikr), damit du den Menschen erklärst, was ihnen hinabgesandt wurde‘ [K 16:44] […]. Der Kern dessen ist, dass der Koran durch die Sunna gebunden ist und die Sunna gebunden durch den Koran.“133
Ibn ʿAǧība spielt hier in der Erklärung für die zwei scheinbar widersprüchlichen Aussagen auf die Anlässe der Herabsendung des Korans an (asbāb an-nuzūl). Manchmal tat der Prophet etwas und der Koran reagiert darauf und manchmal kommt der Koran und der Prophet handelt danach. Dass das „Buch und die Sunna“ zwischen „Scharia und Wirklichkeit“ hervortritt, meint in diesem Sinne, dass die Religion nicht eindimensional festgehalten werden kann. Vielmehr liegt ihre Natur in der Mehrdimensionalität ihrer Erscheinung. Je nachdem, wo der Mensch innerlich steht, führt Ibn ʿAǧība aus, verhält er sich anders zu den äußerlichen Taten. „Tretet ins Paradies ein für eure Taten“ ist eine Anweisung auf der Ebene der Scharia und „Keiner von euch wird eintreten ins Paradies durch seine Taten“ ist die Verwirklichung auf der Ebene der Wirklichkeit (ḥaqīqa), der inneren Welt. Aus diesem Grund bedarf der Mensch zweier Augenpaare, eines für die Scharia, die äußere Welt und eines für die Wirklichkeit (ḥaqīqa), sodass er beide Ebenen, die den Taten und den Absichten Rechnung tragen, zu 131
IH, S. 342. Belege für das Hadith wurden bereits oben angeführt. 133 IH, S. 29–30. 132
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
vereinen vermag.134 Auf die Vereinigung deutet das in diesem Zusammenhang scheinbar kryptische Aya vom Gedenken (ḏikr) (K 16:44), das hier nicht den Koran oder die Erläuterungen des Propheten meint, wie von den Theologen oft vorgebracht,135 sondern das Element darstellt, durch das der Mensch die Dualität der Welt zu überwinden in der Lage ist. Ibn ʿAǧība gibt noch eine weitere Erklärung für das Dilemma an, die an den aufsteigenden Charakter des Stufengebildes islām, īmān und iḥsān angelehnt ist. Sie lautet, dass Gott gewusst habe, als Er die Menschen zum Einheitsglauben (tawḥīd) rief, sie würden dies nicht ohne Begierlichkeit tun und so versprach Er ihnen zunächst eine Vergeltung für ihre Taten. Und als dann ihr Stand im Islam gefestigt war, löste der Prophet die Menschen aus dieser Situation des Handels und führte sie zur wahrhaftigen Dienerschaft (ʿubūdiyya) und der Verwirklichung der Stufe der aufrichtigen Ergebenheit (iḫlāṣ). Dort schließlich habe er zu ihnen gesagt: „‚Es tritt keiner von euch ein ins Paradies durch sein Handeln.‘ Und Gott der Erhabene weiß es am besten.“136 Das stellt die Erklärung aus Sicht der Reisenden auf dem Weg der Erkenntnis dar. Anders ausgedrückt bedarf der Mensch im Anfang eines Anreizes und kann durch den Weg der inneren Läuterung in seinem Herzen dorthin gelangen, wo die Liebe das Verhältnis bestimmt und das Verlangen nach dem Paradies nicht mehr im Vordergrund steht, sondern die Erkenntnis beziehungsweise die vollkommene Dienerschaft. Die Einheit der beiden Elemente zeigt sich zudem, wenn der Koran mit der göttlichen Sphäre und die Sunna mit der prophetischen verknüpft wird. Koran: „Auch vor dir entsandten Wir nichts außer Männer, denen wir offenbarten – so fragt die Leute des Gedenkens (ḏikr), falls ihr es nicht wisst – mit den deutlichen Beweisen und den Schriften. Und wir sandten herab zu dir das Gedenken (ḏikr), damit du den Menschen erklärst, was ihnen hinabgesandt wurde“ (K 16:43–44). Ibn ʿAǧība erläutert dazu, es sei die Sunna, die Gewohnheit Gottes, Menschen zu den Menschen zu entsenden, welche die Botschaft von Engeln entgegennehmen.137 In diesem Sinne sind Koran und Sunna schlicht eins, da es dem göttlichen Willen entspricht, Gesandte mit einer Botschaft zu den Menschen zu entsenden. Auf diese Weise umfasst der Begriff „Koran und Sunna“ die Botschaft des Gesandten und beschreibt sie zugleich. Im Koran spricht Gott den Propheten Muḥammad direkt mit den Worten an: „Wahrlich, du bist von gewaltigem Charakter (ḫuluq)“ (K 68:4). Wie viele Sufis erläutert Ibn ʿAǧība dieses Aya mit der Aussage der Prophetenfrau ʿĀʾiša, als sie nach dem Charakter des Pro134
Ebenda, S. 29. Vgl. etwa Faḫr ad-dīn ar-Rāzī, Mafātīḥ al-ġayb, 32 Bde., Hg. Ḫalīl al-Mīs, Libanon: Dār al-fikr, 1981, Bd. 20, S. 38–9. 136 IH, S. 30. 137 BM, Bd. 4, S. 26–7. 135
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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pheten gefragt wurde und antwortete: „Sein Charakter war der Koran.“138 Die prophetische Sunna entstammt dementsprechend unmittelbar dem Koran; die beiden Elemente Koran und Sunna bedingen sich.139 Doch was hat es mit der Eingebung, der Eröffnung auf sich, von der oben im Zitat al-Ǧunayds die Rede war und die aus dem Zusammenspiel der Ebenen resultiert? 3.1.2.2 Die Erfahrung des Herzens (ḏawq, mukāšafa und ilhām) Im Kapitel zu den Grundlagen des Sufitums (3.1) wurde zur Tragweite (istimdād) des Sufitums definiert, sie erstrecke sich auf den Koran und die Sunna sowie die „Eingebungen (ilhāmāt) der Rechtschaffenen und Eröffnungen der Gotteskenner (ʿārifūn).“140 Das bedeutet, durch den Koran und die Sunna ist das Fundament gegeben, doch für die richtige Interpretation des Fundaments bedarf es in der Lehre der Sufis eines weiteren Mittels – der Erfahrung des Herzens. Während im Fiqh und im Kalam für die Findung der rechten Interpretation der Verstand genügt, ist auf der Ebene des Sufitums die Interpretation durch das geläuterte Herz gefragt. Wie kommt dieser Prozess zustande und welche Unterschiede bestehen zwischen den Begriffen, die damit in Beziehung stehen? Kurzgesagt wird der Mensch durch die Vereinigung von Innen und Außen in einen Zustand versetzt, der mit „Schmecken“ (ḏawq) beschrieben wird. D. h. das Schmecken oder das Kosten beziehungsweise das Wahrnehmen im Innern (ḏawq) bezeichnet den Vorgang des Begreifens im Herzen. Die inhaltlich verwandten Begriffe der Auffindung (mukāšafa) und der Eingebung (ilhām) beschreiben jeweils andere Vorgänge, kreisen jedoch alle um die Erfahrung des Menschen, wenn ihm Läuterung im Herzen wiederfährt.141 Die Erfahrung auf dem Weg bildet allgemein die dritte Quelle der Schule Ibn ʿAǧības: „Der Weg des Sufitums basiert auf dem Buch, der Sunna und den Eingebungen der Wissenden [oder Gotteskenner; ilhāmāt al-ʿārifīn], deren Verstehen erleuchtet und deren Herzensspiegel gereinigt wurde, sodass sich darin manifestierte, was wahr (ḥaqq) ist und verging, was nichtig (bāṭil) ist. Ihr Weg ist gegründet auf der Verwirklichung (taḥqīq).“142
Die Erfahrung des Schmeckens (ḏawq) beschreibt Ibn ʿAǧība in seinem Lexikon der sufischen Fachbegriffe als „ein Ausdruck für die Blitze der [göttlichen] Lichter“143, die den Verstand treffen, sodass die kontingenten Dinge vor dem inneren 138
Kanz: Aḥmad, Muslim, Abū Dawūd, Nr. 18378. BM, Bd. 8, S. 113–4. 140 TF, S. 16; FI, S. 357. 141 Vgl. dazu etwa Ghandour, Ali: Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs, Kapitel 6.3. 142 FI, S. 357. 143 MT, S. 39. 139
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Auge des Betroffenen verschwinden und er die „ewigen Lichter“144 schaut.145 Das heißt, der Mensch erfährt durch das Schmecken eine Abwesenheit von seinem egoistischen Selbst und erhascht einen Augenblick der Unendlichkeit, das Auge seines Herzens öffnet sich für einen Wimpernschlag. Dieser Vorgang kann so lange zunehmen, bis er in Dank (šukr) mündet, führt er an anderer Stelle aus, was das „Äußerste des Schmeckens“146 darstellt beziehungsweise dessen Grenze. Denn je weiter sich das Auge des Herzens öffnet, desto klarer schaut es die wirklichen Ursachen der Dinge, dass alle Dinge letztlich gegeben werden, ein Geschenk sind. In diesem Sinne ist „Dank das Geständnis des Herzens der Wohltaten.“147 Darüber hinaus kehrt Freude ein, wenn im Herzen erkannt wird, dass letzten Endes die Dinge alle ihren Ursprung bei Gott haben, führt Ibn ʿAǧība zu dem Aya an: „Sag: ‚Über die Gnadengabe Gottes und über Seine Barmherzigkeit, darüber sollen sie sich freuen‘“ (K 10:58).148 Die Erfahrung des Schmeckens geschieht also, wenn ein „Wissen über die Wirklichkeit“149 einer Sache erlangt wird, schreibt Ibn ʿAǧība zusammenfassend.150 Sodann muss unterschieden werden, zwischen dem Schmecken der Wirklichkeit auf der höchsten Stufe (ḥaqīqa) und dem sich wiederholenden Vorgang, der durch die Stufen führt. Wie so oft, ist das Thema mehrdimensional. Das Schmecken selbst, schreibt er, ist ein Erleben im Herzen und wenn es durch Mühe und Achtsamkeit gelingt, behält der Diener diesen Zustand bei; dann geht das Schmecken in ein Trinken (šurb) über, wird also erhöht und dauert an.151 Was das Schmecken auf den verschiedenen Stufen angeht, führt er aus, zeigen die göttlichen „Lichter“, die durch die Läuterung in das Herz einkehren, dem Reisenden den Weg. Auf der äußeren Ebene der Hingabe (islām) leiten sie ihn an zur Tat, wenn etwa jemand die Schönheit einer Sache erkennt und daraufhin Gefallen an der damit zusammenhängenden Tat findet. Die Tat resultiert dann in einer Erfahrung, die die positiven Eigenschaften des Charakters hervorbringt und die zweite Stufe des Glaubens (īmān) verkörpert. Geht er in diesen Eigenschaften auf, schmeckt er die Lichter der höchsten Wirklichkeit auf der Ebene der Vervollkommnung (iḥsān).152 Das ist die höchste Form des Schmeckens. Auf einer abstrakteren Ebene kann auch gesagt werden, dass wenn dem Menschen die Herzenserfahrung bis zu einem gewissen Grade widerfährt, gedenkt (ḏikr) er seinem Herrn im Innern nicht mehr nur mit der Zunge, aus 144 Ebenda. 145 Ebenda. 146
SD, S. 269. MSW, S. 256. 148 Vgl. BM, Bd. 3, S. 173–4. 149 MT, S. 39. 150 Ebenda. 151 Ebenda, S. 39–40. Darauf wird im Kapitel zur „ewigen Essenz“ in Kapitel 5.3 genauer eingegangen. 152 IH, S. 109; vgl. BM, Bd. 3, S. 174. 147
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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Überzeugung oder Notwendigkeit, sondern aufrichtig im Geiste und darüber hinaus noch mit seiner Seele.153 Je stärker das Herz das göttliche Licht (der Manifestationen) spiegelt, desto mehr neigt der Mensch den göttlichen Eigenschaften zu – die Ebenen verschmelzen. Sein inneres Auge schaut dann in zunehmendem Maße die göttlichen Manifestationen und schließlich „wird ihm enthüllt (yukšaf lahū).“154 Der Aspekt der Auffindung oder Enthüllung (mukāšafa) bezeichnet ähnlich dem Schmecken den Zustand des Erlebens, der Erfahrung, wenn das Vergängliche aus dem Herzen weicht und das Ewige aufleuchtet. So kann das Entdecken auch ein „Entdeckeln“ genannt werden, der Vorgang, wenn der Schleier des Vergänglichen entfernt wird.155 Vor dem Entdecken existiert laut Ibn ʿAǧība noch ein Zustand, wenn das verschleierte Herz bei Gott anwesend ist: die Anwesenheit (muḥāḍara). In diesem Zustand schaut das Herz jedoch nicht, sondern ist aufgrund von Belegen durch den Verstand oder durch andauernde Erinnerung (wahrscheinlich durch andauernden Ritus des ḏikr) blind. Widerfährt dem Herzen im Anschluss daran die Auffindung des verborgenen Göttlichen (mukāšafa), bedarf das Herz keiner Belege durch den Verstand mehr, sondern schaut selbst.156 Dadurch entsteht eine erhöhte Gewissheit (yaqīn), die über das bloße Fürwahrhalten eines Berichts über die Existenz beispielsweise einer fremden Stadt hinausgeht. Der Diener schaut die Stadt nun mit eigenen Augen. Die Begriffe der Anwesenheit (muḥāḍara), der Auffindung oder Enthüllung (mukāšafa) sowie der noch darüber liegenden Begegnung (musāmara), hier nicht weiter ausgeführt, scheint Ibn ʿAǧība trotz der inhaltlichen Überschneidungen unter denen des Schmeckens (ḏawq) und des Trinkens (šurb) einzuordnen, denn die Erläuterungen rund um die Enthüllung vermitteln den Eindruck, dies geschehe auf dem Weg zur Erkenntnis. Die Beschreibung zum Schmecken in seinem Lexikon für die Fachbegriffe der Sufis beginnt wiederum mit den Worten, Schmecken geschehe nach dem Wissen von der Wirklichkeit. Demnach würde das Schmecken ein Resultat der Enthüllung darstellen.157 Eine andere Erklärung für die inhaltliche Überschneidung der Ausdrücke wäre die Rückführung des Schmeckens auf den Verstand und die Enthüllung auf das Herz, was, wie im Kapitel zum Locus des Wissens (3.1.1.4) ausgeführt, beides das Innere des Menschen beschreiben kann. Und die verschiedenen Traditionen der Sufis haben entweder den Bezug zum Verstand oder den zum Herzen in den Vordergrund gestellt. Insofern wären die begrifflichen Überschneidungen erneut lediglich sprachlicher Natur und die Inhalte dieselben. 153
Vgl. MT, S. 22. IH, S. 588–9. 155 Vgl. MT, S. 41. 156 Ebenda. 157 Vgl. ebenda, S. 41–2. 154
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Zur Erfahrung des Menschen auf dem Weg der Sufis zählt außerdem die Erfahrung mit den verschiedenen Stimmen und Hindernissen, die im Innern auftauchen. Diese können gut oder schlecht sein, richtig oder falsch, Erkenntnis verhindern oder fördern. Allgemein begreift der Mensch während der Entdeckung (kašf ) des Göttlichen die niedere Natur des Diesseits; dass es eine Einbildung (wahm) darstellt, wenn er glaubt, sie hätte Bestand im Herzen. Eine Einbildung ist laut Ibn ʿAǧība „schwächer als der Zweifel und meint hier das Gegenteil von Gewissheit.“158 Grund für Einbildungen ist die Liebe zu allem Diesseitigen. Einbildungen verhindern die Meditation ( fikra) des Herzens, sind Schleier, die den Menschen vom Verstehen und Wissen abhalten. Ihre Quiddität ist „absolutes Nichtsein“159, da alles wirkliche Sein nur Gott zugesprochen werden kann, „denn Gott war schon als nichts mit Ihm bestand und Er ist jetzt noch immer so.“160 Ibn ʿAǧiba verweist in diesem Zusammenhang auf die Weisheit des as-Sakandarī: „Nicht verhüllt dich vor Gott das Bestehen eines Seins mit Ihm, da nichts mit Ihm ist. Jedoch verhüllt dich vor Ihm eine Einbildung mit Ihm.“161 Eigentlich besteht also keine Entfernung zwischen dem Diener und seinem Herrn, „außer der Schleier des dichten Egos und der Anhaftungen des Herzens.“162 Diese Hindernisse zu überwinden ist der Weg zu Gott.163 Im Speziellen existieren in den Geist eintretende Gedanken oder Regungen (ḫawāṭir) oder auch Stimmen, die laut Ibn ʿAǧība entweder von einem Engel, einem Teufel oder dem Ego stammen. Die Eingebung (ilhām) ist die Stimme eines Engels, die zum Richtigen, zum Guten führt. Einflüsterung (waswās) stammt von einem Teufel und verführt zum Falschen und Schlechten, wobei sie auch zu einer scheinbar guten Tat verleiten kann, dies jedoch nur, um an Ansehen zu gewinnen oder als Frömmelei. Und was den Menschen dazu ruft, seinen Begierden zu folgen und nachlässig zu sein, das stammt vom Ego und wird Einfälle (hawāǧis; sing. hāǧis) genannt. Das Ego jedoch, schreibt er, ist weit schwerer zu überwinden, da es mit der menschlichen Existenz stärker verwoben ist.164 Das reine Herz wiederum, wenn es die Wirklichkeiten geschmeckt und erkannt hat – es kann nun von Herzenserfahrung gesprochen werden – dient als Spiegel für die göttlichen Lichter und Wissen oder Verstehen entsteht. Das stellt tatsächliche Kommunikation dar und geschieht durch „Impressionen“ (wāridāt; sing. wārid), die im Gegensatz zu den eintretenden Gedanken oder Regungen (ḫawāṭir, ein eher umfassender Begriff ) vollkommen positiv sind.165 Die Impressionen werden von den Manifestationen (taǧalliyāt) Gottes in der 158
IH, S. 159. SNS, S. 79. 160 Ebenda. 161 Ebenda; IH, S. 318. 162 IH, S. 516. 163 Vgl. ebenda, S. 516. 164 MT, S. 25. 165 Vgl. ebenda, S. 25–6. 159
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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Welt hinterlassen, die in jedem erschaffenen Ding durch die göttlichen Namen und Eigenschaften wirken, worauf im weiteren Verlauf noch eingegangen wird. Im Sinne der Erkenntnis ist es eine entscheidende Aufgabe des Wegreisenden, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stimmen des Innern zu erkennen, denn die wahrhaftige Stimme der Eingebung, ist wie oben erwähnt die Quelle, aus der für die rechte Interpretation der Religion geschöpft wird. Das bedeutet, der Mensch bemüht sich um das Schmecken der Wirklichkeit hinter dem Schein der Dinge, sodass er schließlich die Stimmen seines Innern klar erkennt und der Eingebung folgen kann. Die Eingebung (ilhām) stellt also letztlich ein Resultat der Verwirklichung des Glaubens im Herzen dar. Das ist nur konsequent, denn sie ist Teil der Offenbarung (waḥy). Im Koran lautet es: „Und es steht keinem Menschen zu, dass Gott zu ihm spricht, außer durch Offenbarung (waḥy) oder hinter einem Vorhang [Schleier: ḥiǧāb] oder indem Er sendet einen Gesandten, der offenbart mit Seiner Erlaubnis, was Er will“ (K 42:51). Ibn ʿAǧība interpretiert, dass die Gotteskenner (awliyāʾ) von Gott durch die göttlichen Manifestationen angesprochen werden können.166 An anderer Stelle unterteilt Ibn ʿAǧība die Offenbarung (waḥy) in vier: Traum, Eingebung (ilhām), Normen und Benachrichtigung. Und das gereinigte Herz des Gotteskenners, schreibt er, teilt drei davon mit den Propheten, nur die Normen sind den Propheten vorbehalten.167 Das führt zu der Frage nach dem Erbe der Propheten, ein Thema, das Ibn ʿAǧība oft aufgreift. 3.1.2.3 Das Erbe der Propheten Das Erbe beziehungsweise die Erben der Propheten ist ein in der Koranexegese Ibn ʿAǧības auffälliges Thema. Der Grund dafür ist die Betonung der Rolle des Gotteskenners, der die Stellung des Propheten für den Gläubigen einnimmt. Sehr oft wenn im Koran die Propheten genannt werden, vergleicht er sie mit den Gotteskennern, die durch die Herzenserkenntnis fähig seien, die Religion auf die rechte Weise zu deuten, um die Menschen auf die richtige Weise anzusprechen, wie schon ʿAzzūzī und Vimercati Sanseverino herausgearbeitet haben.168 Die Betonung der Gotteskenner als die Erben der Propheten bildet allgemein ein Thema in der Literatur der Sufis und insbesondere eine Parallele zu der Lehre Ibn ʿArabīs von den Gotteskennern, die die Rangstufen der Propheten und Gesandten erben.169 166
BM, Bd. 6, S. 408; vgl. auch K 91:8. BM, Bd. 1, S. 318. 168 ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 245–53; Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique”, S. 217–30; ders., Expérience initiatique et commentaire coranique. Etude thématique de l’exégèse spirituelle d’Aḥmad Ibn ʽAjība (m. 1225/1809), Masterarbeit (1), S. 146–8. 169 Vgl. Michel Chodkiewicz, The Seal of the Saints. Prophethood and Sainthood in the Doctrine of Ibn ʿArabī, Cambridge: The Islamic Texts Society, 1993, Kapitel 5. 167
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Das wirkliche Wissen, das dem Menschen auf umfassende Weise im Diesseits und Jenseits nützt, ist bereits bei al-Ġazālī ausgiebig Thema und auch er behandelt die Frage nach dem Vorrang der verschiedenen Wissenschaften aus verschiedenen Perspektiven. Dabei gibt er dem inneren Wissen, also dem Wissen, das das Handeln miteinschließt, deutlich Vorrang, wie nicht zuletzt die Stoßrichtung des Iḥyāʾ überhaupt aufzeigt, in dem vor allem ethisch-theologische Fragen behandelt werden.170 Das prophetische Wissen besteht bei Ibn ʿAǧība allgemein aus den Elementen, die im Stufengebilde des Gabriel-Hadith zum Ausdruck kommen.171 Im Speziellen jedoch stellt das wirkliche Wissen dasjenige dar, das den größten Vorrang genießt, da es der Prophetie am nächsten kommt. Mit anderen Worten, das wirkliche Wissen ist das nützliche Wissen: As-Sakandarī schreibt schon dazu: „Bedenke die Aussprüche des Gesandten Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden: ‚Die Wissenden sind die Erben der Propheten.‘172 Und ‚Die Wissenden meiner Gemeinschaft sind wie die Propheten der Kinder Israels.‘173 Und ‚Wahrlich, die Propheten erbten keinen Dinar und keinen Dirham, jedoch erbten sie das Wissen.‘174 Und ‚Wahrlich das Diesseits ist verdammt, verdammt ist, was darin, außer das Gedenken Gottes (ḏikr Allāh) und was dieses unterstützt sowie ein Wissender und ein Lernender.‘175 Und ‚Wahrlich, die Engel bedecken den nach Wissen Suchenden mit ihren Flügeln.‘176 Und die Aussagen des Erhabenen: ‚Gott bezeugt: Wahrlich, kein Gott außer Ihm und die Engel und die Wissenden. Er sorgt für das Recht‘ (K 3:18). Und ‚[So erhöht Gott die unter euch, die gläubig sind] und die, denen Wissen gegeben, um Rangstufen‘ (K 58:11). Und ‚Nein, er besteht aus Zeichen, den klaren, in der Brust derer, denen gegeben das Wissen‘ (K 29:49). Überall, wo das Wissen auftaucht im Buch Gottes, des Erhabenen oder den Aussprüchen des Gesandten, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, ist das nützliche Wissen gemeint, das die Leidenschaft löscht.“177
Das nützliche Wissen, wie im entsprechenden Kapitel dazu behandelt (3.1.1.3), das durch die Läuterung der Seele erreicht wird, ist demnach das Wissen, das die Menschen auch heute mit dem Erbe der Propheten verbindet und bewahrt werden soll. Und die Vermittlung dieses Wissens geschieht maßgeblich durch das geläuterte Herz. Im Koran lässt Gott den Propheten sprechen: „Sag: Das ist 170 Vgl. insbesondere az-Zabīdīs Kommentar zu dem Iḥyāʾ, Itḥāf sādat al-muttaqīn, Bd. 1, S. 186–221. 171 Vgl. BM, Bd. 2, S. 139. 172 Belege für dieses Hadith bereits oben genannt; siehe laut al-ʿAǧlūnī bei Aḥmad und vielen anderen, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 60. 173 Viele Hadith-Gelehrte waren der Ansicht, dies sei kein Hadith; al-ʿAǧlūnī führt mögliche Überliefererketten an und verweist auf den Inhalt, der theologisch richtig sei, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 60. 174 Kanz: Aḥmad, Abū Dawūd, Tirmiḏi, Nasāʾī, Ibn Māǧa, Nr. 28746. 175 Kanz: Ibn Māǧa, Buḫārī, Muslim, Ṭabarānī (in Al-awsaṭ), Nr. 6084. 176 Kanz: Ibn ʿAbd al-Barr, Nr. 28698; vgl. dazu genauer al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 1, S. 124. 177 As-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan, S. 22.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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mein Weg: Ich rufe zu Gott in Einsicht, ich und die, die mir folgen“ (K 12:108). Ibn ʿAǧība kommentiert dazu, dass ein Mensch nicht fähig sei, zu Gott zu rufen, bevor nicht die Augen seines Herzens geöffnet sind und er keinen Einbildungen mehr unterliegt. Unter dieser Voraussetzung bestehen, wie im Kapitel zum Ruf zum Glauben (2.2.1) erwähnt, drei Arten des Rufes zu Gott: 1. zur Kenntnis der Normen (Scharia), 2. zur Kenntnis der Belege für den Glauben (ʿaqīda) und 3. der Ruf zur Erkenntnis Gottes selbst durch das Schmecken (ḏawq), das Erfahren des Glaubens. Der dritte ist laut Ibn ʿAǧība „der wirkliche Ruf […]. Die Leute auf dieser Stufe sind die Leute der prophetischen Erziehung (tarbiya nabawiyya) und ihr Ruf ist der nützlichste.“178 Der Besitzer des höchsten nützlichen Wissens ist es also, der laut Ibn ʿAǧība am besten dazu geeignet ist, das prophetische Erbe anzutreten, welche Ebene er für seinen Ruf auch wählt. Ist die Bedingung des nützlichen Wissens nicht gegeben, verhält es sich anders. An anderer Stelle schreibt er dazu: „Das von den Propheten Geerbte ist das Ziel des Wissens und seine Frucht. Das Ziel ist seine Achtung und Kenntnis, nicht lediglich die seines Rahmens (rusūm). Denn dieser ist ein Mittel. Wenn das Erstrebte nicht erreicht wird, nützt das Mittel nichts. Aufgrund dessen erbt der Gelehrte des Rahmens nichts, da er nicht das prophetische Erbe selbst zu wahren beabsichtigt.“179
Wie beispielsweise der Wächter eines Gartens, der den Zaun bewacht, aber nicht darauf achtet, ob die Pflanzen in den Beeten gedeihen. Der Rahmen meint hier die äußerlichen Lehren der Theologie, wie etwa die Kenntnis der Normen. Einen markanten Dreh- und Angelpunkt der prophetischen Lehre als Weg der Läuterung des Herzens bilden die frühen Muslime, die ersten Generationen nach den Gefährten des Propheten Muḥammad. Die Salaf Ṣāliḥ, die rechtschaffenen Altvorderen, wie manchmal übersetzt wird, stellen einen Ankerpunkt in der Theologie dar, da zu diesen Zeiten keine religiöse Lehre bestand und das prophetische Erbe eigentlich ausschließlich in der Einheit von Wissen und Handeln weitergegeben wurde. Ibn ʿAǧība: „Wisse, dass die Schule der Sufis ist, sich an das Vorzüglichste in jeder Sache zu halten. Nach den Worten des Erhabenen: ‚So verkünde Freude jenen Meiner Diener, welche auf das Wort hören und dem Besten von ihm folgen‘ [K 39:17–18]. Und die beste der Schulen hinsichtlich der Glaubenslehre ist die Schule der Salaf; die Glaubenslehre der Erhabenheit Gottes über alle Dinge (tanzīh), die Verneinung [Seiner] Ähnlichkeit (tašbīh), die Übertragung der ambigen Stellen (al-mutašābih) sowie das Festhalten an der Überlieferung (mā warad), wie es überliefert wurde, was keiner Einschränkung bedarf und eingegrenzt wird durch Dinge, die frei von Zweifel sind. Ohne Hinzufügung – und das ist auch, woran die frühen Sufis festhielten.“180 178
BM, Bd. 3, S. 322. IH, S. 486. 180 Ebenda, S. 99. 179
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Während im Kalam die frühen Generationen und ihre Auslegung der Religion als vornehme Zurückhaltung verstanden wird, die möglich war, da die prophetische Lehre noch nicht durch äußere Einflüsse herausgefordert wurde,181 zielt Ibn ʿAǧība hier noch auf etwas Anderes ab. Denn, wie er weiter ausführt, wahrten die Wissenden nicht lediglich die prophetische Glaubenslehre und die richtige Auslegung der ambuigen Stellen, sondern haben auch gewusst, auf welche Weise sie mit wem sprechen können.182 So erscheint die Zurückhaltung der frühen Muslime nicht nur einfach als Luxus, der möglich gewesen war, da noch keine abwegigen Auslegungen im Raum standen. Vielmehr war das Wissen in der Frühzeit noch eng mit dem Handeln verbunden und in diesem Sinne der Glaubenslehre wurde die Religion durch Wissen und Handeln vermittelt. Das ist der Geist, den Ibn ʿAǧības gewahrt sehen will. Und in diesem Sinne reißt die Linie der prophetischen Lehre mit dem Propheten Muḥammad als dem letzten Propheten nicht ab. Im Gegenteil, schreibt Ibn ʿAǧība, „sendet Gott den Menschen zu aller Zeit Gesandte, die zu Gott rufen. Diese sind die Gottesfreunde, die Wissenden, die Nachfolger der Propheten.“183 Ihre Herzen seien rein, vervollständigt er, und sie verfielen keinen falschen Einbildungen, was sie durch die Eingebung (ilhām) befähige, die prophetische Lehre zu vermitteln.184 Manche dieser Erben verfassten nun Werke über das Wissen der Sufis, was zu der Frage nach den textuellen Quellen Ibn ʿAǧības führt. 3.1.2.4 Textuelle Quellen Ibn ʿAǧības Nach den Quellen im Zusammenhang mit der Inspiration muss schließlich noch auf die textuellen Quellen eingegangen werden. Dass die allgemein wichtigste Quelle des Wissens für Ibn ʿAǧība nicht theoretischer und textueller Natur ist, sondern praktischer, ergibt sich aus der Präferenz des Sufitums – als Disziplin, der ein praktisches Element zugrunde liegt – als höchste der Disziplinen, wie an verschiedenen Stellen bereits erwähnt wurde. Doch welche Implikationen hat diese Gewichtung für die textuelle Auseinandersetzung? Beispielsweise bedarf es laut Ibn ʿAǧība, um etwa den Koran zu interpretieren, vor allem eines geläuterten Herzens, das die Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) vereint, wie er in den Voraussetzungen für den Exegeten des Korans (šurūṭ al-mufassir) schreibt.185 Doch welche Tradition beziehungsweise welche Gelehrte zieht er dafür zu Rate? Im Muster des Gabriel-Hadith ausgedrückt, könnte gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība auf der Ebene des Fiqh ein mālikitischer Gelehrter war, auf der Ebene des 181 Vgl. ʿAbd al-Ġanī an-Nābulusī, Al-fatḥ ar-rabbānī wa l-fayḍ ar-raḥmānī (asrār aš-šarīʿa), Hg. Muḥammad ʿAṭā, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1985, S. 163–9. 182 FI, S. 99–100. 183 BM, Bd. 7, S. 341. 184 Ebenda. 185 TF, S. 57.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
165
Kalam ein ašʿarītischer Mutakallim und auf der Ebene des Sufitums ein Meister der Šāḏiliyya. Doch stellt sich die Frage, ob er seine Haltung im Laufe seines Lebens veränderte, beispielsweise hinsichtlich der Positionen Ibn ʿArabīs oder des ašʿarītischen Kalam? Um sich einer Antwort auf diese Fragen zu nähern, gilt es im ersten Schritt einen kurzen Blick auf die verwendeten Quellen in anderen Lehren zu richten, die Quellen der im Rahmen dieser Studie bedeutsamen Ebenen – Fiqh, Kalam und Sufitum. Auf der Ebene des Fiqh ist nicht festzustellen, dass er mit seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum eine entscheidende Wendung vollzogen hat. Überhaupt scheint sein Interesse für das Fiqh nicht besonders groß gewesen zu sein. Michon listet zwei Werke auf, die sich offensichtlich mit Fiqh beschäftigen, von denen Ibn ʿAǧība nur eins zu Ende gebracht hat.186 Als mālikitischer Gelehrter war er eigentlich durch seine Ausbildung mit hohen Ehren ausgestattet und nicht zufällig hatte er vor seiner Wende zum Sufitum der Darqāwiyya Richter werden sollen. Wie bereits erläutert, stellt das Fiqh einen Teil der Religion und des Weges dar. Zusätzlich, wie ʿAzzūzī herausgearbeitet hat, gibt Ibn ʿAǧība im Fiqh mitunter den Meinungen anderer Schulen Vorzug vor der mālikitischen Schule, wobei er sich im Allgemeinen an diese hält.187 Das stellt jedoch für einen Gelehrten vom Statut Ibn ʿAǧības keinen ungewöhnlichen Vorgang dar.188 An einigen wenigen Stellen in späteren Werken führt er jedoch eine Interpretation zur Anwendung des Fiqh an, die der frühe Gelehrte Ibn ʿAǧība wahrscheinlich nicht ohne weiteres verfasst hätte. Er schreibt, dass der Sufi, der Gelehrte, der wahre Erkenntnis erlangt habe, sich von den anderen Gelehrten, die ihr Wissen lediglich über den Weg des Verstandes erlangt haben, in gewisser Hinsicht unterscheide. Der wahrhaftige Sufi, schreibt er, „folgt eigentlich nicht Mālik oder anderen, da er die Scharia von ihrem Ursprung nimmt.“189 Das rührt daher, schreibt er an anderer Stelle, dass wer die innere Wirklichkeit hinter den Dingen erkennt, sie auch in den Dingen selbst schaut und damit fähig ist zwischen Richtig und Falsch in der Welt zu unterscheiden, nicht aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten, sondern durch sein geläutertes Herz – er verbindet Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) miteinander.190 Eine solche Auslegung stellt in der Geistesgeschichte der Islamischen Theologie kein Novum dar,191 im Falle Ibn ʿAǧības bedeutet sie mindestens ein deutliches Bekenntnis zur Schule der Sufis 186 Michon,
Le Soufi, S. 90–1. Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 387–90. 188 Vgl. Spevack, The Archetypal Sunnī Scholar, S. 71–88. 189 SNS, S. 70. 190 STIA, S. 266. 191 Vgl. dazu etwa Muḥammad Ḥusayn Maḫlūf, Bulūġ as-sūl fī madḫal ʿilm al-uṣūl, Kairo: Dār al-Baṣāʾir, 2009, S. 214–8; Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs, S. 54–7; aš-Šaʿrānī behandelt diese Frage ausführlich in einem Werk Al-Mīzān al-kubrā, Kairo: Šarikat al-Quds, 2011, besonders S. 39–41 sowie allgemein 17–90. 187 ʿAzzūzī,
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
seiner Lehrer. Er wendet sich damit nicht von seiner Rechtsschule ab, macht jedoch deutlich, dass die Herzenserkenntnis der Sufis praktische Auswirkungen haben kann. Der Sufi, schreibt er, wenn er Koran und Sunna vollkommen verinnerlicht hat, „fragt sein Herz nach Rat.“192 Was die Ebene des Kalam anbelangt, wurde bereits in den vorausgehenden Kapiteln Ibn ʿAǧības Neigung zu der Schule der Salaf dargestellt, die von der theoretischen Diskussion über Gott und seine Eigenschaften Abstand hielten, da sie das Wissen nicht getrennt von der Handlung verstanden. Ibn ʿAǧība nimmt diese Lehre sehr wörtlich, was sich durchaus mit der Wandlung zum Sufi-Gelehrten trifft, der das Sufitum unbedingt höher als den Kalam gewichtete. Wie schon erwähnt, schreibt er in seiner Autobiographie, er habe die Menschen, wenn er sie zum Glauben rief, immer zuerst zum „besonderen Einheitsglauben“ (tawḥīd ḫāṣṣ) eingeladen. Und wenn jemand dem nicht zugeneigt gewesen sei, habe er mit ihm über den „Einheitsglauben des Belegs“ (tawḥīd ad-dalīl) gesprochen, „bis Gott, der Erhabene, ihm den Einheitsglauben der Schau eröffnet (tawḥīd al-ʿiyān).“193 Das bedeutet, er sprach mit den Menschen und lehrte zunächst den Einheitsglauben des Herzens. Wenn dies scheiterte und der Rezipient nicht in der Lage war, diese Form von Glaube zu akzeptieren, wandte er die Mittel des Kalam an, bis der Zuhörer vielleicht eines Tages bereit wäre, sich dem Einheitsglaubens des Herzens zu widmen. Im späteren Werk Ibn ʿAǧības fällt auf, dass er bis auf wenige Ausnahmen keine Aussagen zur Glaubenslehre (Kalam) macht. Eher auffällig, wie ʿAzzūzī ebenfalls anmerkt, ist die Anwendung der Fachbegriffe der Sufis, wenn es sich im tafsīr nicht vermeiden lässt, über eine Angelegenheit zu sprechen, die unmittelbar mit dem Kalam in Verbindung steht. Er gibt diese Lehre gewissermaßen zugunsten des Sufitums auf. So verweist er beispielsweise an einer Stelle im tafsīr einfach auf die Ebene des Sufitums, anstatt das Thema ausführlich im theoretisch-theologischen Teil auszuführen und geht dann in der išāra genauer auf das Thema ein.194 In gewisser Weise präferiert er damit tatsächlich die Lehre der Salaf, weil er das Sufitum vorneanstellt und damit auch über die theoretische Diskussion. Greift das nicht, bleibt die Glaubenslehre als Rückhalt, die den Menschen zu seiner Zeit begreiflich ist, in der Hoffnung, dass sie vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt zu mehr in der Lage sein werden. Eine späte Abhandlung in der er fraglos an einigen wenigen Stellen auf Lehren aus dem Kalam zurückgreift, ist das Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar, die Abhandlung zum Schicksal, das sich gegen die Meinung einiger Rechtsgelehrter zur Frage nach dem Verbleib in einer Stadt ausspricht, in der die Pest ausgebrochen ist. Darin spricht er vom Konsens der Gemeinde (iǧmāʿ al-umma) sowie von Ahl as-sunna, die sunnitischen Gelehrten sind gemeint, auf 192
STIA, S. 266. Fahrasa, S. 76; BM, Bd. 1, S. 34–5; MT, S. 30–2. 194 ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 242–3. 193
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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die er sich bezieht.195 Allerdings sind die Aussagen aus dem Kalam darin dennoch wenige. Die Abhandlung ist ansonsten von dem sufischen Stil des späten Ibn ʿAǧība geprägt. Er scheint also mit dem Kalam nicht vollständig abgeschlossen zu haben; wenn es notwendig und nützlich ist, greift er darauf zurück. Auf das Verhältnis von Kalam und Sufitum wird im folgenden Kapitel noch speziell und ausführlich eingegangen. Bezüglich der Quellen im Sufitum stellen sich einige Fragen. Grundlegend kann festgehalten werden, dass Ibn ʿAǧība ab einem gewissen Zeitpunkt selbst zum Sprachrohr wird und er im Sinne der Eingebung (ilhām) als dritte Quelle, wie in den vorherigen Kapiteln ausgeführt, die Schriften auslegt. Die Interpretation durch Eingebung, die išāra, ob nun des Korans oder anderer Texte oder der Realität und Wirklichkeit, ist die wichtigste Quelle für Ibn ʿAǧība. Darauf wird im folgenden Teil zur išāra selbst genauer eingegangen. Was die Auseinandersetzung mit den textuellen Quellen anbelangt, geschieht diese vordergründig zum einen durch die Bezugnahme auf seine unmittelbaren Meister al-Būzīdī, ad-Darqāwī und ʿAlī al-Ǧamal und zum anderen durch die Bezugnahme auf die Tradition der Šāḏiliyya, die in seiner Linie zu seiner Zeit lebendig und verbreitet war. Durch Ibn Layūn at-Tuǧībī (gest. 750/1350), Ibn al-Bannā as-Saraqusṭī (gest. 821/1418), Muḥammad ibn ʿAlī aš-Šuṭībī (gest. 963/1556),196 ʿAbd ar-Raḥmān al-Maǧḏūb,197 Yūsuf al-Fāsī, ʿAbd Allāh al-Habṭī (gest. 1001/1593),198 Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī, Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī, Ibn ʿAbbād ar-Rundī, Aḥmad Zarrūq sowie die grundlegenden Schriften und Aussagen der frühen Sufis, wie die Schriften der Gelehrten und Sufis Abū l-Qāsim al-Ǧunayd, al-Muḥāsibī, as-Sulamī, Abū Ṭalib al-Makkī (gest. 386/996), alQušayrī, al-Ġazālī und andere. Diese beziehungsweise deren Werke oder Lehren zitiert er beispielsweise im Īqāẓ al-himam regelmäßig. Darüber hinaus verwendet er jedoch auch die Schriften von Gelehrten, die im Laufe der Zeit Einzug in die Tradition der Sufis in Marokko hielten. Die folgenden tauchen ebenfalls im Īqāẓ al-himam auf. Dazu zählen ʿAbd Allāh al-Harawī (gest. 481/1089), ʿAbd al-Qādir al-Ǧaylānī (gest. 561/1166), Aḥmad ar-Rifāʿī (gest. 578/1182), Ibn ʿArabī, Ibn al-Fāriḍ, ʿAbd al-Ḥaqq Ibn Sabʿīn (gest. 669/1270), aš-Šuštarī, al-Ǧīlī (gest. 832/1428) und aš-Šaʿrānī sowie einige andere. Einen speziellen Fall stellt in der Koranexegese und selten in anderen Werken199 der Sufi Ruzbihan al-Baqlī (gest. 606/1209) dar, den Ibn ʿAǧība durchgehend al-Wartaǧibī nennt.200 Dieser war im damaligen Marokko vermutlich 195
SD, S. 280–8. Vgl. al-Fāsī al-Fihrī, Mirʿāt al-maḥāsin, S. 415–6. 197 Vgl. ebenda, S. 106. 198 Vgl. ebenda, S. 117; Muḥammad al-Habṭī, Ṯalāṯ rasāʾil fī at-tawḥīd wa l-haylala, Hg. Ḫālid Zuhrī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2002. 199 Im tafsīr zitiert er ihn durchweg. Darüber hinaus auch im SNS, S. 117. 200 Vgl. Aresmouk und Fitzgerald in der Einleitung zu The Immense Ocean, S. xxi; Vimercati Sanseverino: „Commentaire coranique“, S. 215; vgl. auch Alan A. Godlas, The ʿArāʾis al-Bayãn. 196
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
nicht bekannt. Die Quellen im tafsīr weichen in der Sufi-Auslegung geringfügig, jedoch nicht außerordentlich, ab.201 Dabei stellt sich die Frage, welche Werke dieser Gelehrten Ibn ʿAǧība bekannt waren und welche er vielleicht absichtlich nicht verwendete, um nicht unnötig Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein. Claude Addas stellt im Vorwort zu Ibn ʿAǧības Abhandlungen zum „Meer der Einheit“ (baḥr al-waḥda) in der Ausgabe von Michons Bearbeitung die Frage, inwiefern Ibn ʿAǧība von Ibn ʿArabī beeinflusst war. Sie kommt in ihrer kurzen Darstellung zu dem Schluss, dass, wenn Ibn ʿAǧība in Kontakt mit Ibn ʿArabīs Lehren gewesen sein sollte, dann mit Werken, die Ibn ʿArabīs Lehren behandeln, wie etwa der Kommentar des Saʿīd al-Farġānī (gest. 700/1301) Muntahā al-madārik zu dem berühmten Gedicht Ibn al-Fāriḍs at-Tāʾiyya,202 den Ibn ʿAǧība erwähnt gelesen zu haben oder er habe es aus taktischen Gründen vermieden, Ibn ʿArabīs Namen vermehrt zu erwähnen.203 Zudem sei, fährt sie fort, die Verwendung des Wortes taǧallī (Manifestation) in den Werken der beiden Gelehrten gleich und allgemein stellt Addas fest, dass obwohl die Terminologie etwas verschieden sei, inhaltlich keine Unterschiede bestünden.204 Zudem ist auffällig und kann hinzugefügt werden, dass Ibn ʿAǧība den Terminus von der „Einheit des Seins“ (waḥdat al-wuǧūd) nicht verwendet, mit der Ibn ʿArabīs Lehre nicht selten beschrieben wurde, sondern den Begriff „Meer der Einheit“ (baḥr al-waḥda), worauf in Teil 5.3 genauer eingegangen wird. Die Beobachtungen von Addas sind prinzipiell richtig und eine eingehende Lektüre Ibn ʿAǧības Werk lässt einige Schlüsse zu; dass erstens Ibn ʿAǧība einige Werke, nicht wenige, aus der Tradition Ibn ʿArabīs gekannt hat und er sich zweitens mehrfach explizit zu den Gelehrten wie Ibn ʿArabī, al-Ǧīlī und Ibn al-Fāriḍ äußert. Dass Ibn ʿAǧība mindestens ein Werk von Ibn ʿArabī kannte, ergibt sich daraus, dass er später (1216/1801) einen Kommentar zu einem Gebet Ibn ʿArabīs schreibt: Šarḥ taṣliyyat Ibn ʿArabī.205 Darüber hinaus war ihm der Brief von Ibn ʿArabī an Faḫr ad-dīn ar-Rāzī (gest. 606/1209) bekannt, in dem Ibn ʿArabī diesen dazu auffordert vom Kalam abzulassen und sich der Gotteserkenntnis der Sufis zu widmen.206 Und wie Vimercati Sanseverino bemerkt, The Mystical Qurʾanic Exegesis of Ruzbihan al-Baqlī, Doktorarbeit (in Teilen anerkannt), University of California, Berkeley, CA, 1991. 201 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 41–110. 202 Saʿd ad-dīn al-Farġānī, Muntahā al-madārik fī šarḥ tāʾiyyat Ibn al-Fāriḍ, Hg. ʿĀṣim alKayyālī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007. 203 TW, S. 15; The Autobiography, S. 146. 204 TW, S. 9–15. 205 STIA. Das Gebet, das Ibn ʿAǧība kommentiert, findet sich hier: Muḥyī d-dīn Ibn ʿArabī, Maǧmūʿ awrād wa ṣalwāt, Kairo: Dār al-Karz, 2014, S. 260; für eine Überprüfung der Authentizität des Gebets siehe Osman Yahya, Histoire et Classification de l’Œuvre d’Ibn ʿArabī. Etude Critique I–II, Damaskus: Institut Français de Damas, 1964, S. 351. Dort wird es Aṣ-ṣalāh aḏ-ḏātiyya genannt. 206 IH, S. 277; der Brief bei Muḥyī d-dīn Ibn ʿArabī, Rasāʾil Ibn ʿArabī, Hg. Maḥmūd alĠurāb, Beirut: Dār Ṣādir, 1997, S. 239–47.
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
169
nennt Ibn ʿAǧība an einigen weiteren Stellen in der Koranexegese (tafsīr) Ibn ʿArabī und es zeigt sich, dass er durchaus mit verschiedenen Positionen dessen Theologie vertraut gewesen ist.207 Zunächst kann festgehalten werden: Ibn ʿAǧība lässt an keiner Stelle Zweifel daran, dass Ibn ʿArabī und eben jene anderen, die seiner Schule zugeschrieben werden, wie beispielsweise Ibn al-Fāriḍ, aš-Šuštarī und Ibn Sabʿīn, zu den erleuchteten Sufis gehörten, die manchmal zu Monisten erklärt wurden, da sie ihre Erfahrungen im Meer der Einheit in Büchern niederschrieben. Das sei überhaupt ein schwieriges Unterfangen, schreibt er, da der Ausdruck der Sprache begrenzt sei und Erfahrungen des Herzens in der Einheit das „Verstehen des Verstandes“208 übersteige.209 Nur aufgrund dessen seien sie falsch beschuldigt worden von jenen, die keine Kenntnis über das Sufitum haben.210 Nicht in der Genealogie, jedoch aber geistig schreibt Ibn ʿAǧība sich damit der Schule Ibn ʿArabīs zu. Auch al-Ǧīlīs Werk war Ibn ʿAǧība vertraut. Im tafsīr verweist er auf dessen bekanntes Buch „Der vollkommene Mensch“ (Al-insān al-kāmil) und beschreibt detaillierte Positionen al-Ǧīlīs zu den Bewohnern der Hölle, die einen Streitpunkt darstellen. Er lehnt diese Positionen nicht ab, sondern vermerkt, dass diese aus einer bestimmten Perspektive der Theologie möglich seien, wenn auch die Texte ihrem äußeren Wortlaut nach dem entgegenstehen.211 Auch das von Ibn ʿAǧība öfter verwendete Beispiel vom Göttlichen, das in der Welt wirkt wie das Wasser in einem Eisbrocken, geht auf das Gedicht al-Ǧīlīs ʿAyniyya zurück, das er auch etwa in Al-insān al-kāmil anführt.212 An verschiedenen Stellen in der Koranexegese (tafsīr) führt er zudem den Gedichtkommentar des ʿAbd arRazzāq al-Kāšānī (gest. 730/1330) an (Kašf al-wuǧūh al-ġurr li-maʿānī naẓm ad-durr),213 der zur direkten Linie der Schule Ibn ʿArabīs zählt.214 Überhaupt zitiert Ibn ʿAǧība die Gedichte al-Ǧīlīs und Ibn al-Fāriḍs in seinem gesamten Werk überaus oft und gerne.215 Auch aš-Šaʿrānī ist ihm ein Begriff. Er kennt dessen Werk Al-ʿuhūd al-Muḥammadiyya (Die Muḥammadanischen Verträge)216 und dessen berühmtes Werk über die Klassen der Gelehrten (Ṭabaqāt 207
Vimercati Sanseverino: „Commentaire coranique“, S. 215–6. BM, Bd. 2, S. 165. 209 Ebenda. 210 SNS, S. 72. 211 BM, Bd. 7, S. 37; vgl. das Kapitel über die Anhänger anderer Religionen bei ʿAbd alKarīm al-Ǧīlī, Al-insān al-kāmil, S. 246–73. 212 Vgl. MT, S. 36; TW, S. 42; ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī, Al-insān al-kāmil, S. 93. 213 ʿAbd ar-Razzāq al-Kāšānī, Kašf al-wuǧūh al-ġurr li-maʿānī naẓm ad-durr, Hg. Aḥmad al-Mizaydī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2005 (auf Seite 125 findet sich die Stelle, die Ibn ʿAǧība im tafsīr zitiert: BM, Bd. 2, S. 404). 214 Vgl. BM, Bd. 2, S. 404, 426; Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. xviii. 215 Namentlich nennt er ihn auch etwa im IH, S. 314; ansonsten nennt er ihn meist Ṣāḥib al-ʿayniyya, vgl. IH, S. 322–3. 216 IH, S. 98; vgl. ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī, Lawāqiḥ al-anwār al-qudsiyya fī bayyān alʿuhūd al-Muḥammadiyya, Hg. Muḥammad al-Adlabī, Allepo: Dār al-Qalam al-ʿArabī, 1993. 208
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
aš-Šaʿrānī)217 und korrigiert dessen Meister ʿAlī al-Ḫawwāṣ an einer Stelle mit größter Höflichkeit.218 Wie al-Ġazālī geht Ibn ʿAǧība auch von der Rechtschaffenheit des Abū Manṣūr al-Ḥallāǧ aus. In seinem Innern habe Zeit seines Lebens die Erfahrung so stark überwogen, dass er entschuldigt sei hinsichtlich seiner missverständlichen Aussagen.219 In den Kommentaren zu aš-Šuštarīs Gedichten wiederum und in den Kommentaren zu Ibn al-Fāriḍs Gedichten liegt eine Antwort auf die von Claude Addas aufgeworfene Frage nach der Terminologie Ibn ʿAǧības. Es erscheint bei genauer Betrachtung naheliegend, die Frage zu stellen, woher Ibn ʿAǧība seine Begriffe nimmt, anstatt zu fragen, woher mögliche Lücken stammen. Wenn er die Terminologie Ibn ʿArabīs nur bedingt übernimmt, woher stammen die restlichen Begriffe? In den von ihm kommentierten Gedichten selbst nämlich findet sich Ibn al-Fāriḍs Metapher von dem „ewigen Wein“ (al-ḫamra al-azaliyya) für das göttliche Wesen, ebenso bei aš-Šuštarī.220 Überhaupt sind die Parallelen zu ašŠuštarī auffällig und lassen sich teilweise rekonstruieren. So zitiert Ibn ʿAǧība an vielen Stellen Ibn Layūn at-Tuǧībīs Werk,221 der „ Die wissenschaftliche Abhandlung über das Sufitum“ (Ar-risāla al-ʿilmiyya fī t-taṣawwuf ) des aš-Šuštarī zusammenfasste unter dem Titel „Der wegweisende Erwerb zur wissenschaftlichen Abhandlung über den Weg der Selbstlosen im Sufitum“ (Al-ināla al-ʿalamiyya fī r-risāla al-ʿilmiyya fī ṭarīq al-mutaǧarridīn min at-taṣawwuf ).222 Die Erkenntnis, dass Ibn ʿAǧības Wortwahl u. a. auf aš-Šuštarī zurückgeht und damit weniger auf Ibn ʿArabī, wird dadurch beeinträchtigt, dass at-Tuǧībī in seiner Zusammenfassung einen entscheidenden Kommentar anhängt. Er (nicht aš-Šuštarī, dessen Werk bisher nicht aufgetaucht ist) weist den Leser explizit auf die Einflüsse Ibn ʿArabīs auf die Schule der Sufis und besonders deren Fachbegriffe hin.223 So ist hinsichtlich der Wortwahl möglicherweise die Al-ināla des Tuǧībī näher an Ibn ʿArabīs Wortschatz, als aš-Šuštarī selbst.
217
IH, S. 67. IH, S. 555; vgl. auch ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī, Durar al-ġawwāṣ ʿalā fatāwā Sayyidī ʿAlī al-Ḫawwāṣ, Kairo: Al-Maktaba al-Azhariyya li-t-Turāṯ, 1998. 219 SNS, S. 124–5; vgl. az-Zabīdī, Itḥāf sādat al-muttaqīn, Bd. 12, S. 21–2. 220 SHIF, S. 18–9, 47; für das Gedicht selbst und zwei weitere Kommentare dazu vgl. Šarḥ dīwān Ibn al-Fāriḍ min šarḥay Badr ad-dīn al-Būrīnī wa ʿAbd al-Ġanī an-Nābulusī, Hg. Muḥammad an-Namirī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007, S. 245–67; zu Ibn al-Fāriḍ vgl. beispielsweise Issa J. Boullata, Toward a Biography of Ibn al-Fāriḍ (576–632 A. H./1181–1235 A. D.), Arabica, 28 (1981), S. 38–56; im Dīwān des aš-Šuštarī finden sich viele Nennungen und Verweise auf den „ewigen Wein“ (auch al-ḫamr al-qadīm), vgl. Abū l-Ḥasan aš-Šuštarī, Dīwān Abī l-Ḥasan aš-Šuštarī. Šāʿir aṣ-Ṣūfiyya al-kabīr fī l-Andalus wa l-Maġrib, Hg. ʿAlī Sāmī anNaššār, Alexandria: Al-Maʿārif, 1960, S. 86–7, 111. 221 Vgl. beispielsweise IH, S. 54, 415, 495; SNS, S. 70. 222 Ibn Layūn at-Tuǧībī, Al-ināla al-ʿalamiyya fī r-risāla al-ʿilmiyya fī ṭarīq al-mutaǧarridīn min at-taṣawwuf. 223 Ebenda, S. 172. 218
3.1 Grundlagen und Quellen des Sufitums
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Dass Ibn ʿAǧība die Werke Ibn ʿArabīs und al-Ǧīlīs nicht vordergründig verwendete, da diese Namen bei der gelehrten Öffentlichkeit einen schlechten Ruf hatten, ist möglich, seine Verwendung von Ibn al-Fāriḍ, aš-Šuštarī und anderen lässt jedoch auch einen anderen Schluss zu. Dieser ist schlicht, dass Ibn ʿAǧība vor allem auf der Tradition aufbaut, die ihm von seinen Meistern vermittelt wurde. Er respektiert die Eingebungen beziehungsweise die theologischen Einsichten der Sufis anderer Traditionen, bleibt gewissermaßen seiner Linie jedoch treu. So ist at-Tuǧībīs Werk Al-ināla (beziehungsweise aš-Šuštarīs Abhandlung) für den Grundgedanken Ibn ʿAǧības zu dem „einfachen Einheitsglauben“ (tawḥīd al-ʿāmma) und dem „speziellen Einheitsglauben“ (tawḥīd al-ḫāṣṣa) sowie dem „besonderen Einheitsglauben“ (tawḥīd ḫāṣṣat al-ḫāṣṣa) aufschlussreich. Dort beschreibt at-Tuǧībī die Religion, mit der alle Propheten und Gesandten zu den Menschen gekommen seien, als die Religion des Einheitsglaubens, die alle drei Stufen umfasst, islām, īmān und iḥsān. Und die Menschen unterschieden sich schließlich hinsichtlich der Tiefe ihres Bekenntnisses. Auf der ersten Stufe durch bloße Überzeugung, auf der zweiten durch intellektuelle Belege und auf der dritten durch die Gotteserkenntnis.224 Dass tawḥīd als Fachbegriff in Lexika der Sufis auftaucht, geht bis in die Frühzeit zurück, wie Michon bereits gezeigt hat.225 Die Unterscheidung zwischen einem einfachen und einem speziellen Einheitsglauben findet sich wörtlich etwa bei al-Qušayrī, wird dort jedoch nicht ausdifferenziert, sondern lediglich genannt.226 Hier, in der Differenzierung des Einheitsglaubens, erscheint eine deutliche Parallele von Ibn ʿAǧība zu at-Tuǧībī beziehungsweise aš-Šuštarī. Jedenfalls finden sich auf den Spuren der direkten Tradition Ibn ʿAǧības viele Hinweise auf die Verwendung der Begriffe im Werk. Der „ewige Wein“ wird etwa auch schon von seinem Meister al-Būzīdī in einem Gedicht verwendet, dass Ibn ʿAǧība selbst kommentiert.227 Und auch der Meister ad-Darqāwīs, der Meister ʿAlī al-Ǧamal verwendet die Metapher vom Wein, um zu zeigen, wie die göttlichen Eigenschaften auf den Diener abfärben können. Er nennt dazu auch explizit die Weinode des Ibn al-Fāriḍ.228 Diesen Beispielen ließen sich weitere anschließen. Dass die Schulen der Šāḏiliyya und Ibn ʿArabīs aufeinandertreffen, geht bis in die Frühzeit der Šāḏiliyya zurück, so dokumentiert as-Sakandarī ein Treffen zwischen dem Schüler Ibn ʿArabīs Ṣadr ad-dīn al-Qūnawī (gest. 1274/673) und aš-Šāḏilī selbst.229 Auch sonst ist Ibn ʿArabīs Lehre nicht abwesend in den Schriften der Šāḏiliyya, viel eher muss davon ausgegangen werden, dass die 224
Ebenda, S. 157–8. Le Soufi, S. 168. 226 Al-Qušayrī, Ar-risāla al-Qušayriyya, S. 497. 227 STB. 228 At-Tamsamānī, Kitāb Sayyidī ʿAlī al-Ǧamal, S. 140. 229 Vgl. As-Sakandarī, Laṭāʾif al-minan, S. 72–3. 225 Michon,
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Schulen aufeinander abfärbten, wie Geoffroy feststellt.230 Auch at-Tuǧībīs Hinweis auf den Einfluss der Schule Ibn ʿArabīs ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Die Schwierigkeiten zwischen den Gelehrten des Äußeren, wie Ibn ʿAǧība die Gegner der Sufis gerne nennt, und den Sufis hatten über die Jahrhunderte komplizierte Auswirkungen. Ob es as-Suyūṭīs Verteidung von Ibn ʿArabīs Lehre ist231 oder die milde oder bisweilen auch heftige Kritik an seiner Person von anderer Seite,232 am Ende kann statuiert werden, dass diese Debatten zu einer gewissen Abwesenheit der Schule Ibn ʿArabīs in der Literatur Ibn ʿAǧības führt. In Marokko sind diese Debatten etwa durch die Briefe Ibn ʿAbbāds belegt, der sich zwar zu Gunsten Ibn ʿArabīs (und etwa Ibn Sabʿīns) äußert, jedoch verhalten bleibt dessen Person gegenüber.233 All dies kann tatsächlich zu dem Gedanken führen, Ibn ʿAǧība habe die Schriften Ibn ʿArabīs und al-Ǧīlīs nicht übermäßig verwendet, da er es vermeiden wollte, von den Gelehrten allgemein im falschen Licht gesehen zu werden, was die Verbreitung seines Sufi-Weges, der Darqāwiyya, unter Umständen erschwert hätte. Es ist auch auffällig, dass viele seiner Schriften im Sufitum als Gedichtkommentar verfasst sind, was so interpretiert werden könnte, er habe dadurch die Gelehrten zum Sufitum einladen wollen,234 denn die ekstatischen Ausdrücke in den Gedichten der Sufis waren im damaligen Nordafrika durchaus toleriert.235 Diesem Gedanken stehen einige späte Werke Ibn ʿAǧības entgegen, u. a. der Kommentar zu Ibn ʿArabīs Gebet (STIA) und die Abhandlung zum „Meer der Einheit“ (TW), die mit dem Stil Ibn ʿArabīs vergleichbar sind und die Wirklichkeit hinter dem Sagbaren in Worte zu fassen versuchen. Diese Theorien widersprechen einander nicht unbedingt, möglich wäre auch eine Vorsicht Ibn ʿAǧības anzunehmen, er aber dennoch ab einem gewissen Zeitpunkt einige Dinge explizit ausdrücken wollte, zu welchem Anlass auch immer. Wie dem auch sei, diese Angelegenheit stellt eine offene Forschungsfrage dar.
3.2 Theologie und Sufitum 3.2.1 Kalam und Sufitum Dass die Sufis mit den Gelehrten des Kalam seit der Frühzeit der Islamischen Theologie miteinander streiten, ist hinlänglich bekannt.236 Dass seit jeher 230 Geoffroy, Entre ésotérisme et exotérisme, les Shâdhilis, passeurs de sens (Égypte – xiii-xv siècles), S. 117–129. 231 Vgl. ebenda, S. 121. 232 Vgl. etwa El-Rouayheb, Islamic Intellectual History, S. 312–45. 233 Ibn ʿAbbād ar-Rundī, Ar-rasāʾil al-kubrā, S. 275–6, 403, 417, 430. 234 Für diesen Hinweis sei Ruggero Vimercati Sanseverino gedankt. 235 Vgl. El-Rouayheb, Islamic Intellectual History, S. 237–48, vgl. auch 255–6. 236 Vgl. Ahmet T. Karamustafa, Sufism. The Formative Period, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007.
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aber auch die Gemeinsamkeiten beleuchtet wurden und ein reger Austausch zwischen den beiden Disziplinen bestand, wird oft übersehen. Wie Francesco Chiabotti im Kontext der monumentalen Gestalt al-Qušayrīs bemerkt, waren die Überschneidungspunkte schon in der Frühzeit der Theologie Streitpunkt, die Sufis standen jedoch den Gelehrten des Kalam nicht zwangsweise verfeindet gegenüber, sondern waren mitunter Verbündete beziehungsweise selbst Mutakallimun.237 Auch in den Jahrhunderten vor Ibn ʿAǧība wurde heftig um die Rechtmäßigkeit der sufischen Auslegung, ihre verschiedenen Methoden und Interpretationen gestritten, wobei die Stimmen noch immer divers gewesen sind, wie El-Rouayheb gezeigt hat. So unternimmt etwa aš-Šaʿrānī (gest. 973/1565) die Anstrengung, die Lehren Ibn ʿArabīs mit den Lehren der Gelehrten des Kalam zu versöhnen.238 Ein anderes Beispiel ist an-Nabulusī (gest. 1143/1731), der beispielsweise in Al-wuǧūd al-Ḥaqq wa l-ḫiṭāb aṣ-ṣidq und anderen Werken die Schule Ibn ʿArabīs vehement verteidigt und sie letztendlich der der Mutakallimun (und der Philosophen) vorzieht.239 In der späten Phase der muslimischen Gelehrsamkeit (etwa 9./15.– 12./18. Jhdt.) kann von einer Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung gesprochen werden, in der die beiden Disziplinen nicht als verfeindet gelten, sondern als einander ergänzende Lehren. Das gilt auch etwa für den Zeitgenossen Ibn ʿAǧības, Aḥmad aṣ-Ṣāwī (gest. 1241/1826), der in seinem Superkommentar zu dem Standardwerk im Kalam in Ägypten damals, „Der Edelstein des Einheitsglaubens“ (Ǧawharat at-tawḥīd) Ibn ʿArabīs Ansichten wie selbstverständlich neben die Ableitungen der Kalamgelehrten stellt.240 Die Frage, die sich für Ibn ʿAǧības Religionsbegriff stellt, ist nun, auf welche Weise er die Streitpunkte angeht und welche Lösungen er bereitstellt. Das wurde in den vorausgehenden Kapiteln bis zu einem gewissen Grad durch die Darstellung des Stufengebildes von Fiqh, Kalam und Sufitum beantwortet und im ersten Kapitel zu den Grundlagen, Methoden und Quellen des Sufitums bei Ibn ʿAǧība ausgeführt. Wie aber verhält es sich bei Ibn ʿAǧība hinsichtlich der Quiddität der göttlichen Essenz und Seiner Eigenschaften; was bedeutet es aus Sicht der Normen, wenn der Sufi sagt, er habe Gott erkannt? Und welche Rolle kommt dem Verstand zu, wenn er einerseits für die Ableitung der Normen des Kalam verwendet wird, im Sufitum sein Gebrauch jedoch als unzulänglich gilt, da er lediglich in der Lage ist festzustellen, dass ein jedes Ding eines Schöpfers bedarf ? Und, wie im vorigen Kapitel aufgeworfen, inwiefern präferiert Ibn ʿAǧība das Sufitum als theoretische Disziplin über die Lehren des Kalam? Dieses Kapitel 237 Chiabotti,
Entre souisme et savoir islamique, S. 439–52. Islamic Intellectual History, S. 238–40. 239 Ebenda, S. 332–43. 240 Aṣ-Ṣāwī, Ḥāšiyat aṣ-Ṣāwī ʿalā ǧawharat at-tawḥīd, fī ʿilm al-kalām, beispielsweise S. 43. 238 El-Rouayheb,
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behandelt das Verhältnis der Lehren des Kalam und des Sufitums hinsichtlich einiger herausstechender Themen, die Ibn ʿAǧība wiederholt zur Sprache bringt. 3.2.1.1 Trennendes und Verbindendes Um die Gegenstände des Streits und die Lösungen bei Ibn ʿAǧība darzustellen, ist es zuvor erforderlich, seine Darstellung von den Grundzügen der Disziplin uṣūl ad-dīn zu erfassen. Sie wird hier in konzentrierter Form wiedergegeben. Er definiert, wie zuvor erwähnt, diese Lehre als „die Ableitung der grundlegenden, glaubensrelevanten (iʿtiqādiyya) Normen.“241 Als Synonyme nennt er die Lehre des Kalam und die Lehre des tawḥīd (des Einheitsglaubens) und unterteilt sie auf übliche Weise in ilāhiyyāt, nabawwiyāt und samʿiyyāt: die Angelegenheiten Gottes betreffend, den Propheten betreffend sowie den Glauben an die überlieferten Glaubenssätze, die theologischen Gegenstände, die nicht Objekt der rationalen Betrachtung sind, wie beispielsweise die Auferstehung oder der Glaube an die Engel.242 An anderer Stelle beschreibt er die Lehre des Kalam als „die Kenntnis von den Glaubensgrundlagen der Religion hinsichtlich der gesicherten Belege.“243 Daraufhin folgt das Thema der Lehre. Dieses sind, „die kontingenten (mumkin), die notwendigen (wāǧib) und unmöglichen (mustaḥīl) Dinge. Alternativ auch: Das Wesen Gottes. Oder: Alle kontingenten Dinge (mumkināt). Oder: Alles zusammen.“244 Hier zeigt sich seine Ausbildung in der Kalam-Schule der Sanūsiyya – die erwähnten Beschreibungen und Themen sind im Kalam gängige Begriffe – worauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden muss.245 Als Begründer der Lehre nennt er für die Sunniten Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī, wobei er darauf verweist, dass dieser eigentlich die Schule der damals sogenannten Muṯbita aufzeichnete und diese Schule im Nachhinein nach ihm benannt wurde, er sie aber nicht eigentlich gründete. Die tatsächliche Begründung liege im Koran, was Gott zum Gründer mache. Was die Tragweite (istimdād) der Lehre anbelangt, ordnet Ibn ʿAǧība den Kalam den verstandeslastigen Angelegenheiten zu, da die Zuordnung von Notwendigem, Unmöglichem und Kontingentem damit zusammenhänge, ob etwas bestätigt oder abgelehnt werde.246 Bezüglich des Urteils des Gesetzgebers (ḥukm aš-šāriʿ fīhī), schreibt er, stellt der Kalam eine farḍ kifāya dar, also eine Pflicht, die nur einzelne aus der 241
Fahrasa, S. 104. Ebenda, S. 104; vgl. auch Marcia Hermansen, „Eschatology“, in Classical Islamic Theology, Hg. Tim Winter, S. 309. 243 TF, S. 13. 244 Ebenda, S. 13. 245 Vgl. Yūsuf as-Sanūsī, Šarḥ al-ʿaqīda al-kubrā, Hg. Yūsuf Aḥmad, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2006, S. 314–24. 246 TF, S. 14. 242
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Gemeinschaft wahrnehmen müssen, um sie zu erfüllen. Der einer Schule zugehörige Laie, der muqallid, ist nicht sündhaft und schon gar kein Ungläubiger, da es keine Pflicht ist sich damit zu beschäftigen und keine Voraussetzung für den Glauben (īmān).247 Diese Erwähnung erscheint im Kontext zunächst zusammenhangslos, in den zwei Jahrhunderten zuvor war jedoch die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Gläubigen, der keine Kenntnis von der Glaubenslehre hatte, eine in der Theologie heftig diskutierte Frage.248 Der Forschungsgegenstand des Kalam ist, führt er weiter aus, entweder hinsichtlich der theoretischen Ziele zu formulieren, wie beispielsweise, dass Gott Einer ist oder hinsichtlich der Mittel, die zu Schlüssen führen, wie etwa die Erschaffenheit der Welt oder dass das Nichts kein Ding ist. Forschungsgegenstand können etwa auch axiomatische, notwendige (ḍarūrī) Aussprüche sein, wie etwa, dass Gegensätze sich nicht vereinen. Darüber hinaus kann laut Ibn ʿAǧība der Konsens als Beweis für manche überlieferten Glaubenssätze (samʿiyyāt) gelten. Den Vorzug und Rang der Lehre des Kalam verknüpft er mit ihren Zielen. Jedoch, betont er dazu, gelten die Lehren des Kalam nur unter der Voraussetzung, dass der Vermittelnde zu den „Leuten der Erleuchtung“ (ahl at-tanwīr) gehöre, da das Thema selbst eine solch große Verantwortung mit sich bringe. Als Ziele bezeichnet er beispielsweise „das Erhalten von Gewissheit im Diesseits“, „die Hinwegnahme der Schwere des taqlīd“, da der Glaube nicht eigentlich eine Sache des Verstandes ist und „das Bewahren der Säulen der Religion vor den zweifelhaften Dingen der Verfälscher.“249 Was den Zusammenhang der Lehre mit den anderen Disziplinen anbelangt, verweist er auf das Thema des Kalam, das ja bereits beschrieben wurde: Da schließlich alle Lehren in der Kenntnis von Gott und Seinem Gesandten münden, zitiert er den Kalam-Gelehrten al-Ḥasan al-Yūsī (gest. 1102/1691), ist davon nichts richtig, was in Ignoranz gegenüber Gott und Seinem Gesandten geschieht, wobei die Lehre des Kalam zu einer Art Kenntnis von Gott und Seinem Gesandten führt. Das negiert Ibn ʿAǧība nicht, merkt aber an, dass die Kenntnis von Gott und Seinem Gesandten nicht auf den Kalam beschränkt sei, da andernfalls die Masse der Muslime aus dem Kreise des Glaubens herausfiele.250 Es bliebe nur übrig, wer diese Disziplin beherrscht. Diese zehn Punkte zur Lehre des Kalam (Definition, Forschungsgegenstand der Lehre, Begründer der Lehre usw.) sind im späteren Werk Ibn ʿAǧības insgesamt kurzgehalten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass er dort zum Kalam auf Abstand geht, wie schon ʿAzzūzī bemerkt hat.251 Im Wesentlichen ist ein ašʿarītisches Grundmuster zu erkennen, mit einer anhaltenden Kritik des 247 Ebenda. 248
Vgl. El-Rouayheb, Islamic Intellectual History, S. 173–203. TF, S. 14. 250 Ebenda, S. 14. 251 ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 246. 249
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Sufis am Kalam.252 Das wird etwa an der Stelle deutlich, wenn er die Bedingung für den Erwerb und die Weitergabe des Kalam nennt, nämlich zu den Sufis zu zählen, indem nicht lediglich theoretisch über Gott gesprochen wird, sondern aufgrund authentischer Erfahrung durch das Schmecken des Glaubens (ahl aḏḏawq).253 Ibn ʿAǧība hatte in den frühen Jahren seiner Schaffenskraft als Gelehrter kleinere Abhandlungen zu Themen verfasst, die den Kalam zwar berühren, jedoch nicht hauptsächlich zum Gegenstand hatten.254 Sein Interesse scheint in frühen Jahren anderen Gebieten, wie dem theoretischen Sufitum, Fiqh, Hadith und Koranwissenschaften gegolten zu haben. Nichtsdestotrotz war er ein ausgebildeter Mutakallim, der die große und kleine Glaubenslehre (ʿaqīda) des Muḥammad Ibn Yūsuf as-Sanūsī, dem einflussreichen Gelehrten des Kalam des 9./15. Jahrhunderts, sowie Logik und Rhetorik studiert hatte.255 Dieses Wissen taucht manchmal auf, wenn er etwa in der Abhandlung zum Schicksal den Unterschied von Erwerb (kasb) und Einkommen (rizq) durch Gott darstellt, woraus deutlich wird, dass er offensichtlich mit der Materie vertraut ist256 oder wenn er den Erwerb (kasb) des Menschen aus Sicht der Sufis darstellt.257 Wie dem auch sei, Ibn ʿAǧība nimmt nach seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum Abstand zum Kalam und verweist darauf, dass die Lehre des Kalam unzulänglich in ihrer Natur sei, da sie das Herz nicht miteinschließe. Die Methode, die näher an der prophetischen Lehre orientiert sei, liege, wie bereits in den Kapiteln zu den Quellen beschrieben, in der Herangehensweise der frühen Muslime (Salaf), die die theoretische Beschäftigung mit der Theologie ablehnten.258 Ibn ʿAǧības Nennung von al-Yūsī ist insofern interessant, als dessen Rolle und die as-Sanūsīs bisher zu wenig wissenschaftliche Beachtung bekommen hat. As-Sanūsīs Betonung der intellektuellen Beschäftigung mit den Normen der Glaubenslehre war im 11./12. bzw. 16./17. Jahrhundert heftig umstritten und al-Yūsī vertrat eher einen gemäßigten Standpunkt.259 Ibn ʿAǧība muss um diese Debatten gewusst haben. Inwiefern sie eine Rolle für das Kolloquium seines Studiums in jungen Jahren spielten, ist eine offene Forschungsfrage. Für den späten Ibn ʿAǧība ist das jedoch unerheblich, da er dem Kalam in seinem auf das 252
Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 240–47. Vgl. TF, S. 14. 254 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 90–1; ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 297–399; Ibn ʿAǧība, Risāla fī l-ʿaqāʾid wa ṣ-ṣalāh, Manuskript, siehe Appendix II, fols. 1–4 behandeln Fragen im Kalam, fols. 5–9 drehen sich um Fiqh. 255 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 40–1. 256 Vgl. SD, S. 274–5. 257 Vgl. TW, S. 74. 258 Vgl. dazu auch ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 240–7. 259 Vgl. El-Rouayheb, Islamic Intellectual History, S. 204–31; as-Sanūsī, Šarḥ al-ʿaqīda alkubrā, S. 68–105. 253
3.2 Theologie und Sufitum
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Gabriel-Hadith gegründeten Stufengebilde eine dem Sufitum untergeordnete Stellung zumisst. Allgemein auffällig ist die Ähnlichkeit zu der Lehre des Sufitums, wie im Kapitel zu den Grundlagen schon bemerkt wurde. Nach der theoretischen Abhandlung des Kalam geht er an mehreren Stellen in der Beschreibung der verschiedenen Lehren über zur Beschreibung der Lehre des Sufitums. Diese ist die Einsichtnahme in: „die Ableitung der inneren Normen (al-aḥkām al-bāṭina), was auf die Fruchtbarmachung des Herzens zurückgeht, durch seine Läuterung von den schändlichen Eigenschaften und seine Verzierung mit den preisenswerten Eigenschaften, um bereit zu sein für die von Gott verliehenen Geschenke und göttlichen Manifestationen sowie die Berücksichtigung des Benehmens zur rechten Zeit. Wird von diesem genommen und von der Sunna, nennt es sich die Lehre des Sufitums. Das teure Buch Gottes ist voll davon, vielmehr ist es sein Kern und seine Essenz und jeder, der sich mit seiner Exegese befasst ohne die Durchführung der Lehre des Sufitums, der ist Nutznießer und kreist um die Schale, nicht um den Kern.“260
Im Anschluss daran nennt er, wie zuvor zur Lehre des Kalam, die (in Kapitel 3.1.1.2 aufgeführten) zehn grundlegenden Prinzipien der Disziplin des Sufitums. Wichtig sind an dieser Stelle die übereinstimmenden oder überlappenden Punkte zwischen Kalam und Sufitum. Auffällig ist die einleitende Beschreibung, wenn es zum Kalam heißt: „die Ableitung der grundlegenden glaubensrelevanten (iʿtiqādiyya) Normen“ und zum Sufitum: „die Ableitung der inneren Normen (al-aḥkām al-bāṭina).“ Auffällig ist zudem, dass das Thema dasselbe ist – das Wesen Gottes.261 Auf die Überlappung der Definition zum Wesen Gottes wird im Kapitel zu dem Wesen und den Eigenschaften Gottes (3.2.1.3) genauer eingegangen. In der Gegenüberstellung der beiden Ableitungen, der „glaubensrelevanten Normen“ und der „inneren Normen“, liegt nun das verbindende Element verborgen und die systematische Darstellung, die Überschneidungspunkte auf diese Weise hervorzuheben ist sehr wahrscheinlich Ibn ʿAǧības eigener Verdienst. Die Tendenz, das Sufitum in Einklang mit dem Kalam zu bringen, lässt sich auch bei Zarrūq feststellen,262 eine solche Systematik wie bei Ibn ʿAǧība jedoch noch nicht. Ibn ʿAǧība war sich seiner Herangehensweise bewusst. Wie schon verschiedentlich erwähnt, verfuhr Ibn ʿAǧība auf seiner ungefähr dreijährigen Reise durch Marokko so, dass er die Menschen zunächst zum Einheitsglauben des Herzens rief und erst anschließend, falls das keinen Erfolg hatte, sprach er mit ihnen über den Einheitsglauben, der mit dem Verstand nachzuvollziehen ist. Tatsächlich vergleicht er sich an dieser Stelle direkt mit dem Gelehrten as-Sanūsī: 260
TF, S. 14–15. TF, S. 15–6. 262 Vgl. Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf. 261
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„Der Scheich as-Sanūsī rief die Menschen zum allgemeinen Einheitsglauben […] und wir, Gott sei es gedankt, rufen sie zum speziellen Einheitsglauben.“263 Der Kalam ist bei Ibn ʿAǧība auch deshalb untergeordnet, weil „jede Disziplin der islamischen Lehre eine passende Zeit hat und ihr dann für den Moment oder eine Zeitspanne genüge getan ist. Anders verhält es sich mit dem Sufitum, auf das niemand zu keiner Zeit verzichten kann.“264 Dieses Argument bezieht sich u. a. darauf, dass das Sufitum eine individuelle Aufgabe ist, im Gegensatz zum Kalam, der lediglich von einigen wenigen in der Gemeinde beherrscht werden soll ( farḍ kifāya). Das Sufitum umfasst die gesamte Religion (kullī), „da keine Handlung und kein Wissen besteht, ohne die Voraussetzung der aufrichtigen Ergebenheit (iḥlāṣ), die da die wahrhaftige Ausrichtung (ṣidq at-tawaǧǧuh) ist.“265 Die Kritik am Kalam kann als roter Faden in seinem Werk bezeichnet werden. Es ist die Kritik an einem verstandeslastigen und veräußerlichten Blick auf die prophetische Lehre. Denn je mehr Raum der Beweisführung des Verstandes gegeben wird, desto weniger Raum bleibt für die innere Dimension der išāra. Die Interpretation des Sufis will keine Grenze aufzeigen, sondern den Raum öffnen. Denn das prophetische Wissen wurde nicht allein in die Kenntnis der Normen (aḥkām) gelegt, sondern vielmehr in den Bereich der inneren Erkenntnis. Das von den Propheten geerbte Wissen ist, wie er schreibt, das Wissen, das das gesamte Innere erfasst und „nicht der Einheitsglaube, den Beleg und Beweis [im Kalam] erbringen und der Zunahme und Abnahme kennt. Denn möglicherweise begegnet dieser Zweifeln und Einbildungen, die da unmöglich sind hinsichtlich der Wahrheit der Propheten, der Frieden sei mit ihnen.“266 Ibn ʿAǧība führt dazu weiterhin Aḥmad Zarrūq an und dessen bedeutendes Werk „Grundlagen des Sufitums“: „Die Betrachtung des Sufis ist spezieller als die des Exegeten des Korans (mufassir) und des Interpreten des Hadith (ṣāḥib fiqh al-ḥadīṯ), da sie beide nichts außer die Norm (ḥukm) und die Bedeutung zum Ausdruck bringen. Er jedoch [der Sufi], geht darüber hinaus mit dem Ersuchen eines Hinweises (išāra), mit der Begrenzung, die wir dazu festlegten [hinsichtlich des Rahmens der Normenlehre].“267
Die Frage nach dem Umgang mit der Lehre des Kalam ist nicht auf den wissenschaftlich-theologischen Diskurs beschränkt, sondern betrifft allgemein die Frage, wie der Mensch in die Religion hineinwachsen soll. Dass die intellektuelle Beschäftigung das entscheidende Kernelement der Theologie darstellt, ist, wie schon al-Ġazālī schreibt, abwegig, da die frühen Araber (die Adressaten) nur mit der äußerlichen Bestätigung (taṣdīq) der Glaubensgrundsätze beauftragt wur263
Fahrasa, S. 84. TF, S. 16. 265 Ebenda. 266 SHIF, S. 14. 267 TF, S. 55. Und vgl. Zarrūq, Qawāʿid at-taṣawwuf, S. 81. 264
3.2 Theologie und Sufitum
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den. Was aber das Suchen und Streben hinsichtlich des Sammelns von Belegen, im Sinne des Kalam, anbelangt, führt dieser aus, so wurden sie damit gar nicht beauftragt. Wenn der Mensch aber wünscht, sich auf das Jenseits auszurichten, soll er sich mit seinem Handeln und seiner Gottesehrfurcht auseinandersetzen und seinem Ego das Folgen der Begierden verbieten, was zur Folge hat, dass ein göttliches Licht sein Herz erreicht. Das lässt ihn schließlich die Wirklichkeiten hinter den Glaubensgrundsätzen erkennen. Dazu lautet es im Koran: „Und diejenigen, welche sich um Unseretwillen bemühen, werden Wir Unsere Wege leiten, siehe Allah ist wahrlich mit denen, die Vollkommenes tun“ (K 29:69).268 Diese gedankliche Ausrichtung markiert die Trennlinie, die bei der Vermittlung der Glaubenslehre geschieht. Denn wenn eine Lehre vermittelt wird, wie beispielsweise der Glaube an das Schicksal, kann dies auf verschiedene Weise erfolgen. Es kann der Fokus auf der Ablehnung bestimmter Lehren liegen, wie zum Beispiel die Ablehnung des Fatalismus der Ǧabriyya. Es kann aber auch der Fokus auf die rationale Herleitung der Beweise aus dem Koran und der Sunna gelegt werden. Und schließlich ist es möglich, dass der Fokus darauf gerichtet wird, dem Zuhörer oder Leser die Lehre vom Schicksal und der Bestimmung näher zu bringen, nicht normativ, sondern durch Verweise (išāra) auf die eigentliche Natur der Dinge, was es nützt, an derlei zu glauben oder auch was es für den Menschen bedeutet an das Schicksal zu glauben, selbst wenn schreckliche Dinge passieren mögen.269 Das ist die Theologie der Sufis. Eine vergeistigte Theologie, die sich lediglich um die Normen dreht, ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil des Einheitsglaubens der Sufis, da dabei angenommen wird, der maßgebliche Locus für das Wissen sei der Verstand. Dass dem Verstand eine wichtige Rolle zukommt, bleibt unbestritten, nur bildet die prophetische Lehre in ihrem Kern etwas anderes ab. Der Intellekt sucht Belege und Beweise, „der Bericht (ḫabar) ist jedoch nicht wie die Schau (ʿiyān).“270 D. h., das Ziel des Glaubens ist eigentlich Gewissheit und Wissen über die Wirklichkeit (Schau) der Dinge im Herzen zu erlangen. Sich auf den Zweifel zu stützen läuft dem zuwider. Ibn ʿAǧība: „Unsere Gemeinschaft [die abrahamitische, ḥanīfe] bedeutet, sich das Auslöschen des Beigesellens und des Zweifels zur Religion zu nehmen […]. Daran halten wir fest im Äußeren und im Inneren. Um diesen Pol drehen sich die Bahnen des Sufitums, auf dass im Herzen kein Argwohn verbleibe und kein Verdacht hinsichtlich des Erscheinens des Wirklichen 268 Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Qawāʿid al-ʿaqāʾid, Hg. Mūsā Muḥammad ʿAlī, Beirut (s. n.), 1985, 75–80; vgl. auch sein „Ilǧām al-ʿawām ʿan ʿilm al-kalām“, in Maǧmūʿat rasāʾil al-Imām al-Ġazālī, S. 319–55. 269 Vgl. etwa Muḥammad al-Kūmī al-Bakkī, Taḥrīr al-maṭālib limā taḍammanathū ʿaqīda Ibn al-Ḥāǧib, Hg. Nizār Ḥamādī, Beirut: Muʾassasat al-Maʿārif, 2008, S. 100–1, 62–7, 84–95. In diesem Werk werden die Schulen der Muttakallimun, der Hadith-Gelehrten und der Sufis verhandelt, gegenübergestellt und verglichen. 270 SNS, S. 82.
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und Seiner Singularität im Sein (wuǧūd). Dies, da sie [die Sufis] die Rangstufen der Schau erreichen und sich erheben über die Stufe des Glaubens an das Verborgene.“271
Ibn ʿAǧība kritisiert die Gelehrten des Äußeren (ʿulamāʾ aẓ-ẓāhir) oder die „Leute des Rahmens“ (Ahl ar-rusūm) an vielen Stellen, teils auch mit heftigen Worten: „Das Sitzen bei ihnen [den Gelehrten des Äußeren] ist heute schlimmer als mit 70 sorglosen, armen und unwissenden Menschen aus dem Volk (ʿāmmī), da sie nichts kennen außer das Äußere der Scharia. Und sie glauben, dass wer ihnen im Äußeren widerspricht, falsch liegt oder abgeirrt ist (ḍāll). Sie strengen sich hernach an auf alle, die ihnen widersprochen haben, zu antworten und sind überzeugt, dass sie guten Ratschlag geben. Tatsächlich aber betrügen sie.“272
An anderer Stelle nennt er dazu das Hadith: „Das Wissen ist Religion (dīn) und das Gebet ist Religion, so gebt acht, von wem ihr euch die Religion aneignet und wie ihr das Gebet betet, denn ihr werdet gefragt am Tage der Auferstehung.“273 Das gilt, folgert er, insbesondere für den Erwerb von Lehren in Fragen des Kalam (ʿilm at-tawḥīd), da sie den Kern der Religion betreffen. Sie sollten nur von den „Leuten der Erleuchtung“ (ahl at-tanwīr) vermittelt werden.274 Glaubenslehre ist gewissermaßen ein der Religion innewohnendes Element, nur aber der Fokus, die Ausrichtung ist bedeutend. Diese die Ebenen von Kalam und Sufitum verbindende Herangehensweise zeigt sich an verschiedenen Stellen seines Werkes. Etwa zum Aya: „Wir werden sie sehen lassen Unsere Zeichen an den Horizonten und an ihnen selbst“ (K 41:53). Das Erkennen und Bezeugen der Zeichen (āyāt), kommentiert er, deutet darauf hin, den Einen Schöpfer als wahrhaftige Ursache hinter allem zu erkennen, in Form der Herzenserkenntnis, wie es der Ausdruck „an ihnen selbst“ beschreibt. „An den Horizonten“ wiederum weist auf die Methode des Belegs im Äußeren hin, dass ein jedes Ding einer Ursache bedarf.275 Beides kann also zusammenfallen oder nebeneinander auftauchen. Das kommt besonders deutlich in seiner Auslegung der Geschichte des Propheten Abraham zum Ausdruck. Dieser scheint an der bekannten koranischen Stelle (K 6:75–9) oberflächlich betrachtet zuerst einen Stern als seinen Herrn anzusehen, danach den Mond, als er sieht, dass auch dieser untergeht, die Sonne und schließlich Gott allein, da alles andere versagt hat. Tatsächlich verhalte es sich so, schreibt Ibn ʿAǧība, dass die Erzählung zeige, wie Abraham seinem Volk, das Götzen anbetete, den Einheitsglauben anhand von Belegen nahebrachte. Der wiederholte Ausspruch Abrahams: „Das ist mein Herr“ (in Richtung der Sterne, des Mondes und der Sonne) sei als rhetorisches Mittel zu verstehen, im 271
Ebenda, S. 82. IH, S. 130. 273 Belege für das Hadith bereits oben genannt. 274 STB, S. 100–2. 275 BM, Bd. 6, S. 371. 272
3.2 Theologie und Sufitum
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Sinne: Könnt ihr denn nicht sehen, dass diese Dinge alle vergänglich sind und damit nicht der Herr sein können?276 Der Prophet als Gotteskenner kannte die Natur der Dinge aus sich selbst heraus und wusste, wie er zu den Menschen sprechen sollte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība dem Kalam eigentlich nicht feindselig gegenüber steht, vielmehr ist er für ihn Teil der Theologie. Wohl aber kritisiert er jene, die den Kalam beziehungsweise die Normen des Äußeren in den Vordergrund stellen und den Rang der inneren Dimension der Dinge negieren. Entscheidend ist für ihn, dass die Religion angemessen vermittelt wird und das Herz im Vordergrund steht. 3.2.1.2 Die Rolle des Verstandes (ʿaql) „Wenn ein Selbst im Begierdenkerker gefangen, das der Verstand fest in seinem Griff hält Und das Greifbare der Formen klug es beschäftigt, sieht es nichts außer den Kosmos allerseits […] Wenn nun eine Seele zum geheiligten inneren Kern durchdringt, zum Verstehen der verborgenen Essenz hinter der Form […] Liegt dort das Königreich Gottes nach seiner Weite benannt, wer es erkennt, dessen Augen öffnen sich in seinem Innern.“277 – Ibn ʿAǧība –
Die Definitionen für ʿaql (Verstand, Intellekt) sind viele und welche Aufgabe ihm zukommt differiert aufgrund verschiedener Betrachtungsweisen.278 Hinsichtlich des Themas der Vereinbarkeit von Kalam und Sufitum stellt sich zum Verstand nun die Frage, welche Rolle ihm in der Theologie eigentlich zukommt, wenn er nicht gerade für die Ableitung der Normen verwendet wird, und welcher Art seine Wesenheit ist. Wie im vorigen Kapitel zum Trennenden und Versöhnenden am Beispiels des Propheten Abraham gezeigt, greifen die Ebenen des Sufitums und des Kalams, wenn man sie vom Standpunkt der prophetischen Lehre aus betrachtet, ineinander; je nach dem, was benötigt wird, wird das eine oder andere in den Vordergrund gebracht. Dazu drängt sich die Flexibilität der Begriffe erneut auf. Auf den Verstand als möglicher Locus für das Wissen wurde im entsprechenden Kapitel (3.1.1.4) bereits hingewiesen, wobei dort das Herz und die Seele als eigentliche Loci des Wissens dargestellt wurden. Ibn ʿAǧība kennt als Vertreter der späten Phase und insbesondere als Rezipient der Lehren aš-Šuštarīs noch eine andere Betrachtungsweise. Ibn ʿAǧība beschreibt den Verstand (ʿaql) in seinem Lexikon für sufische Fachbegriffe folgendermaßen: „Der Verstand ist ein Licht, das zwischen Nützlichem und Schädlichem unterscheidet und den Besitzer davon abhält Missetaten zu begehen. Oder ein seelisches Licht (nūr rūḥānī), 276
BM, Bd. 2, S. 283. Der Anfang eines Gedichts aus dem Diwan Ibn ʿAǧības, in Fahrasa, S. 118. 278 Al-Ǧurǧānī liefert beispielsweise mehr als sieben Blickwinkel und Definitionen, vgl. Taʿrīfāt, S. 69–70. 277
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
mit dem das Selbst die notwendigen und theoretischen Lehren begreift. Oder eine den Weg bereitende Kraft für die Aufnahme des Wissens. Er wurde Verstand (ʿaql) genannt, da er den Besitzer davon zurückhält (yaʿqil) Dinge zu tun, die nicht erwünscht sind.“279
Sprachlich wird der Verstand (ʿaql) auf Arabisch üblicherweise auf die Zügel des Kamels zurückgeführt (ʿiqāl al-baʿīr), was es dem Reiter ermöglicht das Tier zu lenken.280 Um zu verdeutlichen, was dem Verstand aus Perspektive des Sufitums zugrunde liegt, hilft erneut die Metapher des Lichts. Im Mikrokosmos des Menschen, beschreibt Ibn ʿAǧība, sei lediglich ein kleines Licht vorhanden, das Verstand genannt wird, während im Makrokosmos der große Verstand ruht. Der kleine Verstand bezieht sein Licht nun von dem großen Verstand, „wie der Mond sein Licht von der Sonne bezieht.“281 Wenn anschließend das Licht des kleinen Verstandes durch die Läuterung auf dem Weg die dritte Stufe im Glauben, die der Vervollkommnung (iḥsān), betritt und „über ihm die Sonne der Erkenntnis aufgeht, wird sein Licht in das Licht des großen Verstandes aufgenommen. Wie die Aufnahme des Mondlichts während des Sonnenaufgangs.“282 Dann sieht der Mensch, was er zuvor nicht in der Lage gewesen war, zu sehen, „da der kleine Verstand schwach ist und nichts wahrnimmt außer die Notwendigkeit, einem Ding seinen Ursprung zuzuweisen. Er nimmt nicht wahr, was dahinter liegt. Im Gegensatz zum großen Verstand, der den ewigen Schöpfer wahrnimmt, vor seiner Manifestation und danach, durch die Reinheit seines Lichtes und die Heftigkeit seiner Strahlen. […] Den großen Verstand jedoch erhalten nur die Geliebten, die Gott der Erhabene erwählt für Seine Kenntnis im Besonderen. Was den kleinen Verstand betrifft, so wird er den besonderen und den gemeinen Menschen gegeben. Er unterteilt sich in zwei; einen geschenkten Verstand (mawhūb) und einen erworbenen (maksūb) Verstand. Der geschenkte ist jener, den Gott ihm als Talent gibt, während der erworbene jener ist, der durch Erfahrung, Übung und Prüfung erworben wird. […] Und besaßen die Seelen vor den Körpern Verstand? Tatsächlich besaßen sie davor Verstand [hier im Plural: ʿuqūl], entnommen aus dem großen Verstand. Aus diesem Grund bestätigten sie die Herrschaft (rubūbiyya). Vielmehr konnten sie die Dinge wissend wahrnehmen, wie es der Scheich Ibn al-Bannā sagte. Die Erkenntnis und Wahrnehmung geschehen durch den Verstand. Wenn sie [die Seelen] dann in die Welt der Körper gelangen, nimmt Gott diesen Verstand von ihnen, der da vom großen Verstand ist und pflanzt in sie den kleinen Verstand, während des Heranwachsens des Kindes im Bauch.“283
Die rhetorische Frage, ob die Seelen vor der Geburt einen Verstand besaßen und die Bestätigung der Herrschaft ist eine Anspielung auf die im Koran erwähnte Befragung Gottes der Menschen vor dem Diesseits: „‚Bin Ich nicht euer Herr?‘ Sie sagten: ‚Ja, wir bezeugen es‘“ (K 7:172). Ein solcher Dialog kann nur stattfinden, wird argumentiert, wenn eine Fähigkeit zum Verstehen, ein Verstand, 279
MT, S. 29. Vgl. al-Ǧurǧānī, Taʿrīfāt, S. 69–70. 281 MT, S. 29. 282 Ebenda. 283 Ebenda, S. 29–30. 280
3.2 Theologie und Sufitum
183
vorhanden ist. Bei seiner Geburt wird der Mensch in dieser seiner ursprünglichen Natur geboren, führt Ibn ʿAǧība an anderer Stelle aus, wie der Prophet Muḥammad sagte: „Jedes Neugeborene wird in der ursprünglichen Natur ( fiṭra) geboren.“284 Mit dem Heranwachsen erhält er schließlich seinen vollen Verstand und wird durch ihn fähig, zwischen Nützlichem und Schädlichem zu unterscheiden. Das Erkennen von Nützlichem und Schädlichem ist von großer Bedeutung und wird von Ibn ʿAǧība als wichtiges Element betont. Die Argumente, um den Verstand im Sinne des „kleinen Verstandes“ als erkenntnisfähig zu beschreiben, erscheinen zunächst überzeugend. Schließlich ist er es auch, der in der Lage ist, die Bemessung der Zeit zu begreifen und überhaupt die greifbaren Dinge in der Welt zu ordnen. Zum Beleg verweist Ibn ʿAǧība auf Personen, deren Verstand verrückt ist und die meist kein im üblichen Sinne geregeltes Zeitgefühl besitzen.285 Durch den Verstand können, schreibt er weiter, überhaupt erst Körper, Formen und Orte eingeordnet werden, die die Sinne generieren, was zusammen mit der Fähigkeit, die Zeit zu unterteilen, in dem Begreifen der Ebene der „Weisheit“ (ḥikma) mündet, im Begreifen dieser Welt durch die Ratio, also letztlich die Empirie.286 Die Weisheit bezeichnet an dieser Stelle alles, was anhand der Zeit und der Körper festzustellen ist. Auf die „Welt der Weisheit“ als Gegenpol zur „Welt der Allmacht“ wird in einem späteren Kapitel genauer eingegangen (siehe 3.2.2.1). Jedoch darf bei der Betrachtung des Verstandes, ob nun im Sinne des „großen“ oder „kleinen“ nicht der eigentliche Zweck aus dem Blickfeld geraten: die Gotteserkenntnis, die durch die Läuterung des Inneren geschieht. Und diese, daran lässt Ibn ʿAǧība nie einen Zweifel, tritt auf der Ebene der Seele ein, die im metaphysischen Ort (Locus) des Herzens waltet beziehungsweise dahinter liegt. Wenn die Strahlen der Erkenntnis durch die Seele das Herz treffen, strahlt dieses gewissermaßen weiter auf den Verstand aus. In der Welt vor dem Diesseits (vgl. Koran 7:172) war eine solche Anordnung noch nicht vorhanden und erneut sollte die Bemerkung Ibn ʿAǧības bedacht werden, dass aus einer bestimmten Perspektive Ego, Verstand, Herz und Seele ein und dasselbe sind. Auf diese Weise wiedersprechen sich die Ideen vom „erleuchteten“ Verstand und dem Herzen als Locus für das Wissen nicht, sondern komplementieren einander in gewisser Weise.287 Anders ausgedrückt kommt dem Verstand als „Zügel“ im Geschirr des Reittiers zwar eine wichtige Position zu, der Reiter allerdings – die Seele – ist der Herrscher des Königreichs des Herzens. Das sahen verschiedene Strömungen in 284 IH, S. 529; das Hadith in Kanz: U. a. Tirmiḏī, Ṭabarānī und Muslim, Buḫārī mit Variante, Nr. 1306–8. 285 SNS, S. 108. 286 Ebenda. 287 Vgl. ebenda, S. 108–9.
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
der Geistesgeschichte anders und die Verwechslung von Reiter und Zügel etwa schreibt Ibn ʿAǧība den Philosophen zu, die glauben, der Verstand befinde sich im Gehirn (dimāġ). Manch andere argumentieren, schreibt er, tatsächlich befinde sich die Fähigkeit zu verstehen, das Verständnis, im Herzen. Sie führen dazu das Aya an: „Sind sie nicht im Land umhergezogen, sodass sie Herzen (qulūb) haben, mit denen sie verstehen (yaʿqilūn)“ (K 22:46). Und wieder andere sagen, es sei eine Mischung aus diesen beiden Meinungen.288 Die Kritik an Philosophen wie Avicenna (Ibn Sīnā, gest. 427/1037) ist bei Ibn ʿAǧība allgemein, sie würden versuchen, Gott ohne Mittel (wāsiṭa) zu erreichen. Das Mittel meint das prophetische Wissen, das mit der Überwindung des Egos einhergeht, mit der Vereinigung von Wissen und Handeln. Gewissermaßen versuchen diese, den Verstand ohne das Herz zu bemühen. Dasselbe veranschlagt er auch in bestimmtem Maße für die Gelehrten des Kalam, die, wenn auch nicht alle, der Theologie zwar nicht unbedingt eine übertriebene Rationalität unterlegen, dennoch aber die Orientierung nicht auf das Wesentliche, das Herz, legen, sondern auf die Erkenntnis des Verstandes.289 Bezüglich der Lehren u. a. des Kalam beurteilt Ibn ʿAǧība den menschlichen Verstand im Allgemeinen als schwache Kraft. Der Verstand der Menschen ist „schwach und begrenzt und kann nichts wahrnehmen von der Einheit (tawḥīd) und der Kenntnis (maʿrifa), außer die Tatsache, dass ein Ding einen Schöpfer benötigt. Davon ausgehend schließt er auf die Eigenschaften dieses Schöpfers, auf Basis dessen, was er von den erschaffenen Dingen wahrnehmen kann; wie Seine Einsheit (waḥdāniyya), Seine Ewigkeit, Seine Unendlichkeit, Seine Macht, Seine Lebendigkeit sowie die restlichen Seiner bekannten Eigenschaften. Er ist nicht sicher vor Fehlern und nicht gefeit vor Einbildungen und Einflüssen, da er sich an einem Ort der Entfernung befindet und ihm nichts bleibt, außer der Glaube an das Verborgene. Und wer bei seinem Verstand stehenbleibt und alles, was er durch ihn wahrnimmt, zur höchsten Stufe der Perfektion erklärt, der ist betrogen und mit komplexer Ignoranz (al-ǧahl al-murakkab) geprüft. Der Erhabene sagt: ‚der Mensch wurde in Schwäche erschaffen‘ (K 4:28), was allgemein und für die Schwäche des Verstandes gilt sowie für anderes.“290
In dieser Aussage liegt eine deutliche Kritik am Kalam und Ibn ʿAǧība zeigt sich hier als Vertreter der sogenannten negativen Theologie, ähnlich der Position Ibn ʿArabīs.291 Zumindest erklärt er die Fähigkeit der Ableitung des Verstandes für beschränkt und nicht geeignet für die Gotteserkenntnis. Der Verstand könne lediglich Gott als Ursache aller Dinge ausmachen. Denn, so schreibt er an anderer Stelle, wer mit dem Verstand Belege für die Erkenntnis Gottes sucht, der ist anfällig für Einbildungen, falsche Vorstellungen und Zweifel, wenn er auch überzeugt ist von seinem Glauben (īmān). Misst der Mensch der 288
Ebenda, S. 108–9. Vgl. ebenda, S. 100–1. 290 FI, S. 330. 291 Vgl. dazu etwa Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 59, 62, 182. 289
3.2 Theologie und Sufitum
185
Verstandeserkenntnis einen hohen Wert zu, wird ihm die Stufe des Glaubens verschleiert.292 Mit Einbildungen sind in diesem Zusammenhang alle Formen gemeint, die der Mensch fähig ist, sich einzubilden, was zur Folge hat, dass er im Dunkeln seiner Sinne verbleibt und die Wirklichkeit nicht zu schauen vermag. Das hindert ihn daran, vom Glauben zur Vervollkommnung überzuwechseln, von der zweiten Stufe im Stufensystem des Gabriel-Hadith in die dritte. Misst er den intellektuellen Belegen in seinem Innern Bedeutung zu, vermag er es nicht, aus dem „Kreis der geschaffenen Dinge“293 herauszutreten.294 Insbesondere die Gelehrten des Kalam befinden sich, schreibt er weiter, in Gefahr, von derartigen Einbildungen vor der Wirklichkeit verschleiert zu bleiben, vor allem wenn sie glauben, sie wüssten mehr von Gott als andere Menschen, eben durch die Erbringung von Belegen durch den Verstand (istidlāl). Das macht sie bezüglich des Sufitums zu einfachen Anfängern, betont er, da sie einer schwerwiegenden Einbildung unterliegen. „Dies gilt für alle Lehren, Zustände und Gedanken.“295 Die verschiedenen Lehren haben alle eine Grenze hinsichtlich ihres Interpretationsrahmens. Die Religion umfasst sie im Muster des Gabriel-Hadith alle, wie in der folgenden bildlichen Darstellung zu sehen: Fiqh/begrenzt durch Materie Kalam/begrenzt durch Verstand Sufitum/potentiell unbegrenzt durch die Erkenntnis des Herzens (išāra) Religion (dīn)
Abb. 3: Die drei Lehren im Muster des Gabriel-Hadith und ihr Rahmen
Verweilt der Mensch auf dem Weg der Erkenntnis in der Betrachtung der Dinge durch den Verstand, kann ihm das schaden. Jedoch, schränkt Ibn ʿAǧība ein, dürfe nicht vergessen werden, dass die „Anklage des Verstandes“296, also die Schädlichkeit des übermäßigen Gebrauchs des Verstandes, lediglich in Bezug 292
SNS, S. 86–9. Ebenda, S. 86. 294 Vgl. ebenda, S. 86. 295 Ebenda, S. 87. 296 Ebenda, S. 103. 293
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
auf die Erfahrung der Herzenserkenntnis gelte. Wer sich nicht dem Weg der Sufis verschrieben habe, der bedürfe seines Verstandes in größerem Maße. Ergo erscheine dem Sufi der Verstand als unzulänglich und dem Gläubigen, der Belege sucht, erscheine er als notwendig.297 Ibn ʿAǧība hat als Sufi ganz in der Tradition von Sufis wie Ibn ʿArabī, Ibn Sabʿīn und aš-Šuštarī keine Scheu, die Lehren der Philosophen und Mutakallimun zu bestätigen oder abzulehnen. Sein Fokus ruht ganz auf der Gotteserkenntnis im Sinne der prophetischen Lehre. So kann er die Lehre der frühen Philosophen von drei Begriffsvermögen – dem angeborenen, natürlich gegebenen, dem durch Erfahrung im Leben erworbenen und dem der Propheten und Gotteskenner – als richtig anerkennen, ohne den Ursprung aller Dinge, den Schöpfer, zu vergessen, der in allen Formen des Verstehens wirkt. Das entscheidende und verbindende Element ist für ihn die Vereinigung der Ebenen des Inneren und Äußeren, von Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa).298 Wie viele Sufis späterer Tage in der Geschichte der Theologie, ordnet sich auch Ibn ʿAǧība damit in eine Schule ein, die eine Alternative zur scheinbaren Dichotomie der Positionen von Philosophie und Kalam bildet. Wie ʿAbd arRaʾūf al-Munāwī (gest. 952/1546) in seinem Kommentar zu Avicennas Gedicht über das Selbst, sieht auch Ibn ʿAǧība kein Problem in Avicennas Lehre von der Natur, wenn diese im Sinne des Äußeren als Gegenpol zum Inneren, der Seele, verstanden wird.299 Ibn ʿAǧība lehnt konkret as-Sanūsīs Urteil in seiner „Großen Glaubenslehre“ (Šarḥ al-kubrā) dazu ab, Avicennas Meinung sei eine Abirrung. Aus Sicht des Sufitums könne durchaus gesagt werden, dass die äußere Welt ihren eigenen Gesetzen folge, während das Göttliche im Innern durch das Herz zu erkennen sei. Problematisch wird die Angelegenheit bei Avicenna lediglich, schreibt er, wenn der Verstand als Mittel über die prophetische Botschaft gestellt wird. Dann steht nicht mehr die prophetische Lehre im Vordergrund, sondern der Verstand und nicht der Glaube, sondern der äußere Beleg.300 D. h. übertragen in heutige Begrifflichkeiten, um einen Sprung zu wagen, dass Ibn ʿAǧība im Prinzip keinen Widerspruch zwischen Theologie und Naturwissenschaft sieht. In diesem Sinne ist zusammenfassend der verständige Mensch derjenige, der Wissen und Handeln zu verbinden weiß beziehungsweise das Innere und Äußere, ganz gleich, welche Begriffe verwendet werden. Ibn ʿAǧība zitiert al-Ǧunayd dazu an einer Stelle. Als dieser gefragt wurde, wann ein Mensch als verständig beschrieben werden könne, antwortete er verkürzt wiedergegeben: Wenn er die Angelegenheiten zu trennen vermag, zu prüfen und weiß, was notwendigerweise untersucht werden muss. Auf diese Weise versteht er, wie er den Erfordernissen 297
Ebenda, S. 103–7. FI, S. 333; vgl. auch Ibn Sabʿīn, Rasāʾil Ibn Sabʿīn, S. 296. 299 Vgl. ʿAbd ar-Raʾūf al-Munāwī, Šarḥ al-Munāwī ʿalā qaṣīdat an-nafs li-Ibn Sīnā, S. 42. 300 SNS, S. 130. 298
3.2 Theologie und Sufitum
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begegnen kann. Auf wen das zutrifft, der zählt zu den Verständigen. Er weiß in jeder Situation das Bessere vorzuziehen und wozu er verpflichtet ist. Gott spricht im Koran: „Die auf das Wort hören und dem Besten von ihm folgen. Diese sind es, die Gott leitet und sie sind die Verständigen“ (K 39:18). Das Beste in allen Dingen ist das Bleibende im Diesseits und Jenseits.301 3.2.1.3 Das Verhältnis des göttlichen Wesens zu den Eigenschaften „Der Kosmos besteht, da Er ihn bestehen lässt und ist ausgelöscht durch die Einhaftigkeit Seines Wesens.“302 – Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī –
Wie zuvor in der Beschreibung der Lehren bei Ibn ʿAǧība erwähnt, teilen sich Sufitum und Kalam in ihren Theorien das Thema oder den Gegenstand (mawḍūʿ): das geheiligte Wesen Gottes. Die Herangehensweise der beiden Lehren an das Thema des Wesens (aḏ-ḏāt) und wie es zu den Eigenschaften (aṣ-ṣifāt) steht, unterscheidet sich jedoch grundlegend.303 Bei der Gegenüberstellung der beiden Sichtweisen stoßen zwei Schulen aufeinander, weil sich zum einen die Termini unterscheiden und zum anderen, weil beide Seiten mit der gewählten Darstellung unterschiedliche Ziele verfolgen. Während die Gelehrten des Kalam die Texte mit dem Ziel interpretieren, Belege für die Existenz Gottes und Seine Eigenschaften zu finden, will der Sufi die Wirklichkeit hinter den Dingen aufzeigen. Im Kalam wird durch die Demonstration von Beweisketten argumentiert und im Sufitum durch das Mittel der Metapher und der Allegorie – der išāra. Der Mutakallim sucht, wie Chittick es zusammenfasst, durch den Verstand die Unvergleichlichkeit Gottes zu beweisen, den Unterschied zwischen Göttlichkeit und dem Menschen, während der Sufi dem Menschen einen Weg zu Gott weisen möchte und die Gegensätze zu vereinen sucht.304 Was bedeutet jedoch das Wesen Gottes als Gegenstand der Theologie, wie ist das zu verstehen? Dazu bedarf es zunächst eines kleinen Exkurses in die Geschichte der Islamischen Theologie. In der späten Phase der Theologie hatte, wie bereits erwähnt, in den Jahrhunderten vor Ibn ʿAǧība eine Versöhnung zwischen den beiden Schulen begonnen. Aš-Šaʿrānī (gest. 973/1565) hatte es sich u. a. zur Aufgabe gemacht, die Gemeinsamkeiten der Schulen des Kalam und des Sufitums aufzuzeigen, allerdings gibt er der sufischen Lesart letztlich den Vorrang. Er bringt die Debatten um die rechte Auslegung zum Thema der Göttlichkeit beziehungsweise der göttlichen Essenz überspitzt auf die Formel, der Konflikt zwischen den Gelehrten wäre zu vermeiden gewesen, hätten die Gelehrten des Kalam eine grundlegende Unterscheidung getroffen, die hier im Folgenden noch genauer beschrieben 301
FI, S. 304. Der Lehrsatz 141 des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī, IH, S. 332. 303 Vgl. dazu auch Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 202–5. 304 Chittick, The Sufi Path of Knowledge, Kapitel 1.4 (The Essence and Divinity), S. 59–76. 302
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
wird.305 Diese Unterscheidung oder besser Kriterium stellt eine Zusammenfassung der Lehre Ibn ʿArabīs dar beziehungsweise der Schule all jener Sufis, die den Kalam als höchste der Lehren als zu apologetisch ablehnten.306 Nach den bisherigen Ergebnissen zu urteilen, kann Ibn ʿAǧība dieser Schule im Allgemeinen zugerechnet werden. Im Laufe der Studie wird ein differenzierterer Blick möglich werden. Es folgt eine Zusammenfassung der Lösung aš-Šaʿrānīs. Das Kriterium besteht zunächst darin, das Wirken Gottes in den Herzen der Menschen in zwei Kategorien einzuteilen. Die erste dieser Manifestationen, der Selbstoffenbarungen Gottes (taǧallī), ist die der absoluten, reinen Erhabenheit über alles, was der Geist in der Lage ist zu erfassen. Darauf deutet das Hadith: „Es war Gott und nichts mit Ihm.“307 Sowie das Hadith: „Die wahrhaftigsten Worte, die der Dichter spricht, sind die Worte Labīds: ‚Sind nicht alle Dinge außer Gott nichtig?‘“308 Womit gemeint ist, dass alle Dinge von Gott abhängig sind, wie es im Koran zum Ausdruck kommt: „Und erschaffen haben Wir den Himmel und die Erde und was zwischen beiden nicht nichtig“ (K 38:27). Diese Manifestation der Erhabenheit (tanzīh) kann nur negativ erfasst werden, was bedeutet, dass Seine Erhabenheit und Majestät durch die Begrenztheit der Geschöpfe hinsichtlich Seines Wesens und Seiner Eigenschaften beschrieben wird. Diese Manifestation wird bei den Sufis die „Präsenz der aḥadiyya (Einhaftigkeit)“ genannt.309 Die zweite Manifestation für die Herzen der Gläubigen erfolgt laut aš-Šaʿrānī durch das Gleichnis und den Vergleich (tašbīh), was durch die Anwesenheit Seiner Namen und Eigenschaften geschieht, wenn Er sich ihnen zum Beispiel durch die Erschaffung, das Einkommen (rizq) oder das Herbeiführen des Todes und des Lebens zeigt. Obwohl Er doch erhaben ist über jeden Vergleich, vollzieht Er dies aus Barmherzigkeit und Güte zu ihnen, da sie unfähig sind, Ihn gänzlich zu erfassen. Diese Manifestation kommt im Koran zum Ausdruck, wenn es heißt: „Und Gott ist mit euch“ (K 47:35). „Und Er ist mit euch, wo ihr auch seid“ (K 57:4).310 Er ist nicht nur erhaben über alles was Ihm zugeschrieben werden kann, sondern auch „mit“ jemandem. Diese Manifestation wird bei den Sufis die „Präsenz der wāḥidiyya (Einsheit)“ genannt. Sie ist verschieden von der Manifestation der Einhaftigkeit (aḥadiyya), die schon vor der Erschaffung des Kosmos bestand hatte, als „noch kein Ge305 ʿAbd
al-Wahhāb aš-Šaʿrānī, Mīzān al-ʿaqāʾid aš-Šaʿrāniyya al-mušayyada bi-l-kitāb wa s-sunna al-Muḥammadiyya, Hg. ʿĀṣim al-Kayyālī, Beirut: Books-Publisher, 2013, S. 16. 306 Vgl. Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs, S. 83–9 sowie 278–85; Chodkiewicz, An Ocean Without Shore; William C. Chittick, The Self-disclosure of God: Principles of Ibn Al-ʻArabī’s Cosmology, Albany NY: SUNY Press, 1998. 307 Überliefert bei Ibn Ḥabbān, al-Ḥākim, Ibn Abū Šayba, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 119–20. Al-ʿAǧlūnī führt einige Varianten und Überliefererketten zu diesem Hadith an. 308 Kanz: Buḫārī, Muslim, Ibn Māǧa, Nr. 7978. 309 Aš-Šaʿrānī, Mīzān al-ʿaqāʾid, S. 15. 310 Ebenda, S. 15–6.
3.2 Theologie und Sufitum
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schöpf seinen Schöpfer suchte“ und „kein Versorgter seinen Versorger.“311 Wenn nun jemand, führt aš-Šaʿrānī weiter aus, Ayas, Hadithe oder Aussagen der Gelehrten lese oder höre, solle er sie entweder der Manifestation der Erhabenheit zuweisen oder der Manifestation des Vergleiches. Auf diese Weise lösten sich die scheinbaren Widersprüche zwischen den Ayas, den Hadithen und den Aussagen der Gelehrten. Die Meinungsunterschiede vieler Gelehrter des Kalam kämen nur zustande, da sie jeweils eine der Manifestationen favorisierten und die andere vernachlässigten. Hätten sie beiden Ebenen auf diese Weise Rechnung getragen, wäre kein Streit entstanden und sie hätten Erkenntnis über den Glauben erlangt. Die wahre Gotteserkenntnis komme nur durch beide in Kombination zustande, da Gott, der Wirkliche, sich den Menschen auf diese Weise zu erkennen gegeben habe.312 Ende der Zusammenfassung. Die Methode aš-Šaʿrānīs in der Beschreibung des göttlichen Wirkens in der Welt, insbesondere in den Herzen der Diener, in ein vor und nach der Manifestation, der Selbstoffenbarung Gottes, zu unterteilen, ist ein stetes Thema bei Ibn ʿAǧība, zumindest in seinem späten Werk und ist speziell ein Merkmal der Schule der Sufis nach Ibn ʿArabī.313 Eine seiner Abhandlungen zum „Meer der Einheit“ trägt eben diesen Titel: „Über die ewige Essenz, vor und nach der Manifestation.“314 Zunächst beschreibt er allgemein das Folgende: „Wisse, dass der Wirkliche, hocherhaben ist Er, Wesen und Eigenschaften ist, ewig und andauernd. Ich meine vor der Manifestation und nach ihr. Denn Seine Eigenschaften sind ewig, da das Wesen ewig ist und die Eigenschaft trennt sich nicht von dem Charakterisierten. Wenn das Wesen sich manifestiert, haften ihm die Eigenschaften an, sind in ihm verborgen und wenn sich die Eigenschaften manifestieren, haftet ihnen das Wesen an. Aus diesem Grund ist das Wesen äußerlich (ẓāhir) und die Eigenschaften innerlich (bāṭin). Mit den Eigenschaften sind die Eigenschaften der Bedeutungen (ṣifāt al-maʿānī) gemeint sowie alle Attribute der Vollkommenheit. Jedem, dem Manifestation und Erscheinung widerfahren, der befindet sich zwischen dem Wesen und den Eigenschaften. Das Wesen ist nicht getrennt von den Eigenschaften und die Eigenschaften sind nicht getrennt vom Wesen. Der Zusammenhalt zwischen diesen beiden im Sein (wuǧūd) ist, was gemeint ist mit der Aussage: ‚Das Wesen ist die Essenz der Eigenschaften.‘ Das bedeutet: ihre Erscheinung ist eine. Ebenso heißt es, dass das Greifbare die Essenz der Bedeutung darstellt, was bedeutet, dass ihre Erscheinung geeint ist.“315
Einige der im Zitat getätigten Aussagen sind leicht mit dem Kalam in Übereinstimmung zu bringen beziehungsweise einige davon stammen aus dem Kalam. Beispielsweise die Aussage: „das Wesen ist die Essenz der Eigenschaften“, die generell als Muster für die ašʿarītische Schule hinsichtlich der Beziehung von 311
Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 15–6. 313 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 212–20. 314 TW, S. 36. 315 MT, S. 46. 312
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Wesen und Eigenschaften angesehen werden kann.316 Die Übereinstimmung Ibn ʿAǧības Erläuterung mit der Darstellung aš-Šaʿrānīs ist recht offensichtlich und wird im weiteren Verlauf noch deutlicher zum Vorschein kommen. Auf den Begriff und das Konzept der Manifestation (taǧallī) wird in einem späteren Kapitel (siehe 5.3.1) genauer eingegangen. Für den Moment genügt eine kurze Beschreibung des Begriffspaars Manifestation (taǧallī) und Verhüllung (sitr): „Das Verhüllen [durch den Schleier] ist bei ihnen [den Sufis] ein Ausdruck für die Abwesenheit des Dieners von seinem Herrn. Als Erholung, als Abstieg oder durch Beschäftigung mit einer Sache. Die Manifestation ist ein Ausdruck für das Enthüllen des Dieners durch die Erhabenheit des Herrn.“317
Der Terminus Manifestation (taǧallī), beschreibt das Erscheinen Gottes für den Menschen in der Welt, Seine Selbstoffenbarung. Das geschieht durch die Eigenschaften der Bedeutungen (ṣifāt al-maʿānī), die im ašʿarītischen Kalam als die Macht, der Wille, das Wissen, das Sprechen, das Hören, das Sehen und das Leben definiert sind.318 Der Kalam-Gelehrte, schreibt Ibn ʿAǧība, strebt mit der Feststellung der Eigenschaften der Bedeutungen eine Beschreibung Gottes und Seiner Unvergleichlichkeit an, sodass argumentativ auf die Existenz Gottes geschlossen werden kann. Die Menschen erhalten von diesen Eigenschaften ein begrenztes Maß, während ihr Quell bei Gott liegt. Das ist die Argumentation der „Leute des Äußeren.“319 Sie deuten von der vorhandenen Wirkungskraft (aṯar) im Sein auf das Bestehen der Eigenschaften Gottes.320 Das ist die negative Theologie, wie sie auch im ersten Unterscheidungskriterium aš-Šaʿrānīs oben beschrieben wird. Tatsächlich, aus Perspektive des Sufitums, aus der immer auch nach der Wirkung auf den Menschen gefragt wird, sind jedoch die menschlichen Eigenschaften lediglich ein Abglanz der göttlichen Eigenschaften, denen keine wirkliche Kraft anhaftet.321 Der Sufi-Gelehrte zielt darauf ab, die Erscheinungen Gottes durch Hinweise oder Metaphern (išāra) zu erläutern und zwar auf eine Weise, die sich nicht auf den rationalen Verstand begrenzt, sondern den Menschen in seiner gesamten Existenz zu fassen sucht. Ibn ʿAǧība: „Wisse, dass das Wesen sich durch nichts manifestiert, außer in den Erscheinungen der Eigenschaften (maẓāhir aṣ-ṣifāt), da, wenn es sich in dir ohne Mittler manifestierte, die erschaffenen Dinge vergingen und ausgelöscht würden. Aus diesem Grund wird gesagt, dass die Manifestation des Wesens durch Majestät (ǧalālī) sich vollzieht und die Manifestation der Eigenschaften durch Schönheit (ǧamālī). […] Die Manifestation der Eigenschaften 316 An-Nābulusī,
Al-wuǧūd al-Ḥaqq wa l-ḫiṭāb aṣ-ṣidq, S. 127. MT, S. 242. 318 Vgl. as-Sanūsī, Šarḥ al-ʿaqīda al-kubrā, S. 164–73. 319 IH, S. 527. 320 Vgl. ebenda. 321 Vgl. TW, S. 82; Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 62. 317
3.2 Theologie und Sufitum
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vollzieht sich durch Wirkungskraft (aṯar), was Anschauung und Erkenntnis erlaubt und durch Schönheit geschieht. Das lässt sich ausweiten und es kann in Form eines Gleichnisses gesagt werden, dass alles, was sich in Majestät manifestiert, Wesen ist und alles in Schönheit Eigenschaften. Das bedeutet: ‚Armut ist Wesen und Reichtum Eigenschaft. Niedrigkeit ist Wesen und Ehre Eigenschaft. Schweigen ist Wesen und Rede Eigenschaft.‘ Und so weiter. So drückte es der Scheich unserer Scheichs aus, Sayyidī ʿAlī al-Ǧamal alʿAmrānī, möge Gott mit ihm zufrieden sein.“322
Die Position Ibn ʿAǧības und seiner Tradition zur Frage nach dem Wesen Gottes und wie es sich zur Welt verhält, geschieht auch hier pragmatisch im Hinblick auf den Menschen. Es wird nicht versucht, argumentativ eine intersubjektiv nachzuvollziehende Beweiskette zu bilden, wie es im Kalam der Fall ist. Am Beispiel von Armut und Reichtum, Niedrigkeit und Ehre, wird das Thema von der Vereinigung der Gegensätze verdeutlicht, gewissermaßen eine andere Logik angewandt. Während der Verstand lediglich feststellen kann, dass es diese Unterschiede gebe oder geben müsse, sieht der Sufi darin den Weg des Menschen verborgen. Dessen Aufgabe ist es, diesen Polen Rechnung zu tragen. Einerseits die eigene Dienerschaft zu leben, die vom Verstehen von Armut und Unvermögen abhängt, nach dem Koran: „O ihr Menschen, ihr seid Bedürftige Gottes! Und Gott ist der unübertrefflich Reiche, der zu Lobende“ (K 35:15). Und sich andererseits auf die Herrschaft Gottes auszurichten, sich an den guten, göttlichen Eigenschaften zu orientieren und sich Gottes Herrschaft hinzugeben.323 Zur Frage nun, wie, durch welche Mittel der Mensch das Göttliche in der Welt schauen könne, schreibt Ibn ʿAǧība: „Tatsächlich beauftragt Er dich im Diesseits, Ihn zu schauen durch das Mittel der geschaffenen Dinge, da du hier nicht in der Lage bist, die Wirklichkeit Seines geheiligten Wesens in der Gewaltigkeit Seiner Omnipotenz ohne Mittler zu schauen. Dies, da deine Fassung schwach ist, selbst wenn es von Seiten des Verstandes erlaubt ist.“324
Die Erkenntnis Gottes geschieht durch das Mittel der erschaffenen Dinge, die nur im Sein Bestand haben, da die göttlichen Eigenschaften sie durch ihre Implikationen (aṯar, pl.: āṯār) erhalten. Und die Eigenschaften sind wiederum unabdingbar vom Wesen Gottes. Ergo führt der Weg zu Gott über die geschaffenen Dinge und die göttlichen Eigenschaften. Es kann dagegen eingewendet werden, dass in dieser Herangehensweise eine Verwässerung des Prinzips der Unvergleichlichkeit (tanzīh) Gottes liege, wie es im Hadith des Propheten Muḥammad lautet: „Meditiert über die Schöpfung und meditiert nicht über den Schöpfer, denn ihr vermögt es nicht, Gott Sein wahres Maß zuzumessen.“325 Ibn ʿAǧība kommentiert das mit den Worten: 322
MT, S. 47. Vgl. BM, Bd. 6, S. 118–9. 324 IH, S. 276. 325 Kanz: Abū š-Šayḫ, Nr. 5706; das Hadith wurde verschieden überliefert, vgl. auch Kanz: Abū Nuʿaym, Nr. 5714. 323
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
„Er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, verbat die Meditation über die wahre Beschaffenheit des Wesens und das Verstehen der Wirklichkeit desselben. Die Meditation über die Gewaltigkeit des Wesens, dessen Ewigkeit, Beständigkeit, Einheit und Manifestationen, dessen Erscheinen und Verborgenheit, diese verbat er nicht. Denn sie ist der Grund für die Erkenntnis, im Wissen um das Unvermögen, die Wesenheit zu verstehen.“326
Letztlich geht alles auf das Wesen zurück, schreibt Ibn ʿAǧība. Alle Dinge sind, argumentiert er wie folgt, abhängig von Ihm, Er jedoch nicht von ihnen, denn „nichts ist Ihm gleich“ (K 42:11). Jedoch zeigt Er sich in Seinen Namen in der Welt, wie Ibn ʿAbbās zu dem Aya kommentierte: „Und dienstbar gemacht hat Er euch, was in den Himmeln und auf der Erde allesamt, von Sich“ (K 45:13). Ibn ʿAbbās: „In jedem Ding liegt ein Name Seiner Namen und jedes Ding hat seinen Namen von Seinem Namen.“327 Um das Verhältnis von Gottes Wesen zu Seinen Eigenschaften darzustellen, muss zwei Seiten Rechnung getragen werden; einerseits der Erhabenheit Gottes und andererseits, wie Er in der Schöpfung wirkt. Da der Verstand lediglich in der Lage ist, Trennungen vorzunehmen und Belege zu generieren, die der Ratio unterliegen, scheitert der Versuch, beide Seiten gleichermaßen zu berücksichtigen. Unter Zuhilfenahme des Gleichnisses gelingt dieses Unterfangen, da es gerade darauf aus ist, den einenden Aspekt hervorzuheben. Der Ansatz Ibn ʿAǧības präferiert deutlich die Herangehensweise der Sufis, ohne die des Kalam zu negieren. Zusammengefasst bedeutet sie, dass Gottes Selbstoffenbarung, Seine Manifestation in der Welt, gewollt ist, damit die Menschen sie erkennen können, während gleichzeitig die Verschiedenheit in der Welt, wie sie in Seinen Namen zum Ausdruck kommt, verschwindet, wenn auf Gott selbst geschaut wird. In komprimierter Form ist das in der Weisheit as-Sakandarīs ausgedrückt: „Der Kosmos besteht, da Er ihn bestehen lässt und wird ausgelöscht durch die Einhaftigkeit Seines Wesens.“328 3.2.1.4 Die Ablehnung von Monismus ( ḥulūl und ittiḥād) Das Thema vom Verhältnis zwischen dem göttlichen Wesen und den göttlichen Eigenschaften war in der Geschichte der Theologie von Zeit zu Zeit mit großer Spannung geladen. Der Grund dafür war unter anderem eine bestimmte Kritik vonseiten des Kalam. Ibn ʿAǧība beschreibt den Grund für die Kritik an den Leuten des Innern (ahl al-bāṭin), den Sufis, folgendermaßen: „Der Grund für die Kritik der Leute des Äußeren an den Leuten des Innern ist, dass die Leute des Innern, wenn sie emporsteigen zu den Wegbahnen der Gewässer der reinen Einheit (tawḥīd), manche von ihnen dazu übergehen die inneren Wirklichkeiten mit Ausdruck zu versehen. Dieser Ausdruck bleibt immer begrenzt. Aus diesem Grund verstanden 326
IH, S. 540. Ebenda, S. 325. 328 Ebenda, S. 332. 327
3.2 Theologie und Sufitum
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sie [die Leute des Äußeren] etwas Anderes, als was sie [die Leute des Innern] meinten und [die Sufis] wurden des Monismus (ḥulūl) und der Vereinigung (ittiḥād) bezichtigt. Obwohl sie frei sind von derlei, wie Ibn ʿArabī, aš-Šuštarī und Ibn al-Fāriḍ und andere. Diese sind innerste Wahrheiten (oder Geheimnisse; asrār), die nicht durch bloßen Ausdruck verstanden werden können, vielmehr werden sie erlangt durch Begleitung [eines Meisters] und den Weg [zur Erkenntnis]. Andere wiederum formulierten sie [die innersten Wahrheiten] durch subtile Hinweise (išāra) und feinen Ausdruck und bedeckten sie mit einer Art äußerlicher Religion (tašrīʿ), sodass es angenommen und bestätigt wurde; wie Ibn ʿAṭāʾ Allāh, möge Gott mit ihm zufrieden sein, und seine Scheichs al-Mursī, aš-Šāḏilī und Ibn Mašīš. Auf diese Weise blieben sie bewahrt vor der Kritik. Alle jedoch sind Gottesfreunde, möge Gott mit ihnen zufrieden sein.“329
Monismus beziehungsweise ḥulūl, wörtlich „sich Auflösen in etwas“ und ittiḥād, wörtlich „Vereinigung mit etwas“, sind Vorwürfe von Seiten des Kalam, die die Auslegung mancher Sufis betreffen beziehungsweise die Metaphern und Gleichnisse der Sufis, wenn etwa von der Vereinigung mit Gott gesprochen wird oder dem Ankommen bei Gott. Beide Begriffe bezeichnen dasselbe Prinzip, nur aus verschiedenen Blickwinkeln. Ḥulūl ist dabei die Variante, wenn etwas sich in einer anderen Sache löst, wie beispielsweise das Wort Rosenwasser impliziert, dass ein Anteil Rose im Wasser enthalten ist.330 Theologisch meint es die Vorstellung, Gott wohne in allen Dingen, ähnlich dem Rosengehalt im Wasser und sei auch dementsprechend in allen Dingen wahrzunehmen. Dabei ergäbe sich jedoch gleichzeitig eine Abhängigkeit Gottes von der Welt – wenn aus zwei Dingen eins wird. Monismus haben die Sufis zu aller Zeit abgelehnt, da im Falle einer Abhängigkeit Gottes von der Welt der Herr Seinen Status als Herr verlieren würde, was für Gott unmöglich ist. Wie das Beispiel vom Rosenwasser jedoch zeigt, weist es oberflächlich gewisse Ähnlichkeiten zu der Darstellung im vorigen Kapitel über das Wesen und die Eigenschaften Gottes auf, wenn es etwa heißt, dass die göttlichen Manifestationen in der Welt zu erkennen sind. Wie schon Burckhardt konstatiert, hat dieser Punkt auch in der Moderne für viel Missverständnis gesorgt.331 Das einfachste, grundlegende Argument dazu ist schlicht, dass im Bild vom Rosenwasser zwei Elemente enthalten sind, beziehungsweise dass die Anschuldigung des Monismus immer zwei getrennte Elemente voraussetzt, die anschließend verbunden werden. Die Schule der Sufis nimmt, wie Ibn ʿAǧība schreibt, jedoch nie ein zweites Element an, in dem sich etwas lösen beziehungsweise das mit etwas vereinigt werden könne. Vielmehr verhalte es sich so, dass die Sufis, wenn sie über ihre Erfahrungen der Schau der göttlichen Manifestationen berichten, zu dem Schluss kommen, dass nur der Eine bestehe.332 Was die Ver329
SNS, S. 72. Vgl. al-Ǧurǧānī, Taʿrīfāt, S. 44. 331 Burckhardt, Introduction to Sufi Doctrine, S. 17–9. 332 BM, Bd. 2, S. 165; vgl. auch An-Nābulusī, Al-wuǧūd al-Ḥaqq wa l-ḫiṭāb aṣ-ṣidq, S. 83–4. 330
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
einigung (ittiḥād) anbelangt, gilt prinzipiell die gleiche Annahme, da eine Vereinigung zwei getrennte Körper voraussetzt. Grundsätzlich bedarf es bezüglich der Frage nach Gottes Beziehung zur Welt einer wichtigen Differenzierung, der Unterscheidung zwischen dem Wesen Gottes vor und nach der Manifestation, wie bereits im vorausgehenden Kapitel dargestellt. Hinsichtlich des Monismus sind die zwei auf der Hand liegenden Varianten, dass Gott entweder vollkommen ohne Verbindung zur Welt besteht und auf der anderen Seite, dass Er in allen Dingen existiert, wie an-Nābulusī es an einer Stelle vereinfacht. Es hängt davon ab, welcher Aspekt stärker betont wird. Wird durch das Mittel des Verstandes die Unvergleichlichkeit Gottes betont, erscheint es unmöglich, dass Gott in der Welt wirkt und wird die Ähnlichkeit betont, erscheint Gott seines erhabenen Ranges streitig gemacht.333 Die Antwort des Kalam auf dieses Dilemma ist das Prinzip der „Aneignung“ (kasb). Der Mensch eignet sich etwa eine Handlung an oder erwirbt sie, ohne sie wirklich zu besitzen, da letztendlich alle Dinge von Gott stammen. Der Mensch führt eine Tat aus, der Erschaffer der Tat ist jedoch Gott.334 Die Antwort der Sufis ist nicht gänzlich verschieden, Ibn ʿAǧība verneint die Lehre der „Aneignung“ nicht, sondern bestätigt sie, erweitert sie jedoch. Er drückt es folgendermaßen aus: Gott legt in den Menschen die Geheimnisse (asrār) des Wesens, der Eigenschaften und der Wirkungsmächte, verbirgt diese jedoch in Weisheit durch Schleier. Die Taten des Dieners sind allesamt von Gott, da es keinen Handelnden im Kosmos gibt außer Gott. Wie es im Koran lautet: „Und dein Herr erschafft, was Er will und erwählt. Nicht haben sie eine Wahl“ (K 28:68) und „Wenn Gott es wollte, dann hätten sie einander nicht bekämpft. Doch Gott tut, was Er will“ (K 2:253). Der Schöpfer, schreibt er weiter, legt ein Siegel über das Herz des Dieners, welches „das Licht der Einheit der Taten blendet (ġašā bihī nūr tawḥīd al-afʿāl).“335 Das hat zur Folge, dass er im Äußeren wählen kann, was ihn glauben lässt, er könne wählen etwas zu tun oder es zu unterlassen. „Das kann jeder, der bei Verstand ist, von sich selbst behaupten, dass er zwischen Gefühlsregungen und anderem unterscheiden kann. […] Das ist es, was bei Ahl as-sunna [in der sunnitischen Theologie] kasb genannt wird und bei den Sufis ḥikma [Weisheit]. Demnach lautet es: Die Macht bringt hervor und die Weisheit bedeckt. Und aufgrund dieser Wahl im Äußeren kamen die Scharias [šarāʾiʿ, pl. von Scharia] und anhand ihrer findet die Abrechnung statt und schließlich Belohnung oder Strafe. In Wirklichkeit existiert kein Handelnder außer Gott, was aber ein Geheimnis der Geheimnisse der Göttlichkeit darstellt, das Gott verborgen hat vor Seinem Diener. Er gab ihm die Wahl im Äußeren.“336
333 An-Nābulusī,
Al-wuǧūd al-Ḥaqq wa l-ḫiṭāb aṣ-ṣidq, S. 51–2. Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 207–11. 335 TW, S. 68–70. 336 Ebenda. 334
3.2 Theologie und Sufitum
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Das Konzept der ḥikma (Weisheit) und dessen Gegenstück der Allmacht (qudra) wird im folgenden Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein sowie im Kapitel zur Willensfreiheit (5.3.2.1). Für die Betrachtung des Monismus genügt es zunächst festzuhalten, dass alles Wirken letztlich von Gott, dem Wirklichen, ausgeht und dass im Allgemeinen für den Menschen ein Schleier über der Angelegenheit liegt, bis er Gotteserkenntnis erlangt. Ibn ʿAǧība betont oft, dass die Dinge nicht einfach nach ihrem äußeren Wortlaut beurteilt werden dürfen. Wenn in einem Gedicht etwa oder in einer sonstigen Schrift zur Disziplin des Sufitums die Worte ḥulūl oder ittiḥād auftauchen, sei damit nicht gemeint, wie es der äußere Schein vermuten lassen könne, dass zwei Körper miteinander verschmelzen oder vollständig eins werden, da dies unmöglich sei im Hinblick auf die Erhabenheit Gottes und falsch hinsichtlich der Glaubenslehre (iʿtiqād). Vielmehr sei damit gemeint, „wie es in den Ḥikam des Imam as-Sakandarī heißt: ‚Es verhüllt dich nicht vor Gott die Existenz eines Seins mit Ihm, da nichts mit Ihm ist, sondern es verhüllt dich die Einbildung eines Seins mit Ihm.‘ Er sagte außerdem: ‚Dein Eintreffen bei Gott ist das Erreichen von Wissen über Ihn. Wenn nicht, ist Er erhaben darüber, sich mit etwas zu verbinden oder dass sich etwas mit Ihm verbindet.‘ Das ist die Bedeutung des ittiḥād, wenn sie von den Sufis verwendet wird.337
Wie auch die Begriffe ḥulūl „sich Auflösen in etwas“ und ittiḥād „Vereinigung mit etwas“, darf auch nicht etwa das Wissen über Gott wörtlich verstanden werden, führt er an anderer Stelle aus. Denn Gott zu erreichen, wie es selbst der „Weg zu Gott“ impliziert, ist unmöglich. Vielmehr ist es im übertragenen Sinne zu verstehen. Dass der Mensch bei Gott ankommt am Ende der Reise oder des Weges, meint das Aufsteigen des Egos, bis es in der Anschauung der Schönheit der göttlichen Manifestationen vergeht. Dass nur Gott im Herzen bleibt, ist das wirkliche Wissen.338 Wenn in den Gedichten der Sufis die Sehnsucht nach Vereinigung erwähnt wird, ist damit weiterhin gemeint, dass der Mensch sich mit den göttlichen Eigenschaften verbindet. „Der Pol Ibn Mašīš sagte: ‚Das Getränk der Liebe ist das Vermengen der Eigenschaften mit den Eigenschaften, des Benehmens mit dem Benehmen, der Lichter mit den Lichtern, der Namen mit den Namen, der Attribute mit den Attributen, der Taten mit den Taten.‘“339 Das verweist auf die Tugendlehre der Sufis, auf den Weg im Inneren zur Vervollkommnung. Auf diesem Weg wächst die Absicht zur Sehnsucht nach dem Ursprung und mündet in der Liebe, sodass die Menschlichkeit vervollkommnet wird.340
337
SHIF, S. 46 und vgl. S. 46–8. IH, S. 455. 339 SHIF, S. 46. 340 Darauf wird im Kapitel zu den Wegstationen (5.1) genauer eingegangen. 338
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Aufgrund des scheinbaren Monismus wird den Sufis manchmal kufr (Unglaube), zandaqa (Ketzerei) oder schlicht bidʿa (schlechte Neuerung) vorgeworfen. Ibn ʿAǧība entschuldigt das und rät jedem, dem das angedichtet werde, an sich zu halten und die Geschehnisse ruhen zu lassen, da sonst „das Schwert des Ḥallāǧ über ihm schwebe.“341, er also in Gefahr gerate, von den Leugnern der Gotteserkenntnis angegriffen zu werden. Die Leugner entschuldigt er durch ihre Ignoranz und ihr mangelndes Verstehen des Sufitums. Dies geschehe aus Angst, da ihr Glaube darauf aufbaue. Tatsächlich leugneten die Leute des Äußeren das innere Wissen, da ihr Verstehen sich nicht auf das Ziel erstrecke und das Wissen der Sufis nicht eigentlich in Büchern zu finden ist. Die Gründe dafür, sich nicht auf den Weg der Gotteserkenntnis einzulassen, sind viele. Ibn al-Bannā asSaraqusṭī dichtete dazu, wie Ibn ʿAǧība anführt: „Jeder sieht, dass kein Verständnis über seinem – und kein Wissen jenseits dem eigenen Verhüllt vor dem Schauen der Stufen – gibt er vor wissend zu sein und suchend“342
Er kommentiert diese Verse, dass in diesen Bewegungen zwischen den Menschen eine Gewohnheit Gottes (sunnat Allāh) mit seinen Geschöpfen liege. Wie es im Aya lautet: „Jede Partei freut sich über das, was sie hat“ (K 23:53 und 30:32). Die Menschen hätten Sehnsucht nach dem, was über ihrer Stufe (im Sinne geistiger Einsicht) liege, wendeten sich diesem jedoch nicht zu, vielleicht aus Stolz oder aus Sorge sowohl ihre Stellung als auch ihre Position in der Gesellschaft zu verlieren. Das Selbstverständnis, es gebe kein Verständnis über dem eigenen und kein Wissen darüber, sei eine Form von Ignoranz, denn „über jedem, der Wissen hat, ist wahrlich ein Wissender“ (K 12:76). Und nicht zuletzt hieße es im Koran: „Und gegeben ist euch vom Wissen nur wenig“ (K 27:85). Das wirkliche Wissen könne nicht durch „Aneignung“ (kasb) erlangt werden, sondern ist eine Gabe Gottes. Im Umgang mit dem Wissen, welches Thema auch immer Gegenstand der Betrachtung sei, dürfe nicht vergessen werden, dass nur das Wissen der Menschen, die Lehren und inneren Einsichten, Grenzen kenne. Die Möglichkeit, dass jemand existiere, der mehr weiß als man selbst, sei hoch. Andernfalls könne Gott Seinen Propheten, der der höchste aller Wissenden ist, nicht auffordern zu sagen: „Und sag: ‚Mein Herr, vermehre mir mein Wissen‘“ (K 20:114).343 3.2.2 Das Wirken Gottes in der Welt Während im vorangegangenen Kapitel die Grenzen und Differenzen zwischen Kalam und Sufitum ausgelotet wurden, wird in diesem letzten Teil zur religiösen Lehre auf drei Hauptmotive eingegangen, die gewissermaßen Schlüssel für das Werk Ibn ʿAǧības bilden. Alle drei sind in vorherigen Kapiteln angesprochen 341
FI, S. 349. Ebenda, S. 350. 343 Ebenda. 342
3.2 Theologie und Sufitum
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worden und sollen nun ausreichend Platz bekommen. Das Ziel der Darstellung der Motive ist, das Wirken Gottes in der Welt durch Metapher und Gleichnis greifbar werden zu lassen. Das erste Motiv ist die Dualität von Innen und Außen sowie von einigen anderen verwandten Begriffspaaren, wie etwa Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) oder Weisheit (ḥikma) und Allmacht (qudra). Dieses bildet das Grundmuster für die Erklärung von Gottes Wirken in der Welt sowie das Grundmuster für die Hinweise darauf, wie der Mensch das Wirken Gottes in der Welt erkennen kann. Das zweite Motiv ist die Lichtmetapher, die aufgrund ihrer koranischen Nennung (siehe K 24:35) oft selbsterklärend ist, jedoch im Sufitum allgemeine und speziell in der Šāḏiliyya lange Tradition besitzt. Das dritte Motiv ist die Liebe, die einerseits den Menschen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen begleitet und andererseits den Grund für das Sein bildet. 3.2.2.1 Die Dualität der Welt – Innen und Außen, Scharia und Wirklichkeit „Die Scharia ist die Essenz der Wirklichkeit […] und die Wirklichkeit ist die Essenz der Scharia.“344 – Ibn ʿAǧība –
Die Einteilung der wahrnehmbaren Welten in eine äußere und eine innere Welt (aẓ-ẓāhir wa l-bāṭin) ist von fundamentaler Bedeutung in der Disziplin des Sufitums. Überhaupt ist die Dualität ein Thema, das die religiöse Lehre im Koran und der Sunna durchzieht. Es sind komplementäre Begriffe, die den Kosmos prägen – den im Menschen und den, in dem der Mensch lebt, Mikround Markokosmos, wie Chittick veranschaulicht: Außen und Innen, Licht und Dunkelheit, Diesseits und Jenseits, Macht und Weisheit, Himmel und Erde, Nähe und Ferne, Körper und Seele, Tag und Nacht, Dienerschaft und Herrschaft, Trennung und Vereinigung.345 Zum Motiv von Innen und Außen beziehungsweise zur Dualität des Erschaffenen besteht bei Ibn ʿAǧība eine Reihe von verwandten Begrifflichkeiten, wie etwa das Motiv von Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa). Die meisten dieser Begrifflichkeiten finden sich seit der Frühzeit der Theologie im Sprachgebrauch der Sufis; entweder schon als Begriffspaar oder alleinstehend und, abhängig von der Schule oder Tradition, erst später zusammengeführt. Michons Rekonstruktion zu den Begrifflichkeiten der Sufis zeigt, dass Ibn ʿAǧības Wortschatz tendenziell an al-Qušayrī angelehnt ist.346 Ganz grundsätzlich bringt al-Ġazālī den Umstand von der Dualität in der Welt in seiner Erläuterung zum Aya des Lichts (K 24:35) im Miškāt al-anwār („Die Nische der Lichter“) auf eine Formel: 344
MT, S. 45. The Sufi Path of Knowledge, S. 12–7. 346 Michon, Le Soufi, S. 166–71. 345 Chittick,
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
„Wisse, dass die Welt zwei Welten ist, eine seelische und eine körperliche. So du willst, sagst du greifbar und verstehbar oder du sagst hohe und niedrige. All diese Begriffe sind ähnlich und unterscheiden sich lediglich hinsichtlich des Ausdrucks. Wenn du sie beschreiben willst, wie sie selbst sind, sagst du körperlich und seelisch. Wenn du sie beschreiben willst hinsichtlich ihrer erfassbaren Essenz, sagst du greifbar und verstehbar. Und wenn du sie beschreiben willst hinsichtlich ihrer Beziehung zueinander, sagst du hohe und niedrige. Vielleicht nennst du eine der beiden die Welt des Königreiches und des Zeugnisses und die andere die Welt des Verborgenen und des Reiches der Majestät […]. Und bestünde zwischen diesen beiden keine Verbindung und keine Relation zueinander, wäre der Weg des Emporsteigens zu Ihm versperrt. Wäre das nicht möglich, wäre auch die Reise zur herrlichen Anwesenheit unmöglich sowie die Nähe zu Gott, auf das niemand vermag sich Gott zu nähern.“347
Allgemein verhält es sich, dass das Verständnis des Menschen von außen nach innen wandern soll, wie es auch die Stufen des Gabriel-Hadith implizieren, von körperlichem Gottesdienst über die Glaubensüberzeugung hin zur inneren Anschauung. Anders ausgedrückt besteht das übergeordnete Ziel darin, die Stufen zu vereinen, jedoch bleibt grundsätzlich festzuhalten, dass das Verweilen im Äußeren negativ ist. Auf die Spitze getrieben stellt Ibn ʿAǧība dies in der koranischen Erzählung über die Weigerung Iblīs’ dar, sich vor dem ersten Menschen, Adam, niederzuwerfen (K 7:11); jeder der bei dem Äußeren des Seins verbleibe, der falle der Leugnung anheim. Hätte Iblīs das Innere Adams gesehen, wäre er der erste der sich Niederwerfenden gewesen.348 Einige Varianten des Motivs der Dualität, die Ibn ʿAǧība durchgehend in seinem Werk verwendet, sind Scharia (šarīʿa) und Wirklichkeit (ḥaqīqa), Weisheit (ḥikma) und Allmacht (qudra), Greifbares (ḥiss) und Bedeutung (maʿnā) sowie Äußeres (ẓāhir) und Inneres (bāṭin). Alle Varianten haben gemeinsam, dass beide Elemente notwendigerweise ihren Platz in der Wahrnehmung des Menschen brauchen und jede einzelne Variante für sich genommen deutet auf ein spezifisches Merkmal, um den verschiedenen Gegenständen in der Theologie gerecht zu werden. Im Folgenden können nur einige der Begriffspaare behandelt werden, die im Werk Ibn ʿAǧības vorkommen. Wichtig ist die Darstellung dieser insofern, als sie das in dieser Studie viel verwendete Motiv der Vereinigung der Ebenen verdeutlichen. Ibn ʿAǧība vertritt sehr explizit die Meinung, dass die Fähigkeit zur Unterscheidung der Ebenen für den Menschen von grundlegender Bedeutung ist. Er schreibt dazu: „Wer auf das Innere schaut, der entschuldigt den Diener und wer auf das Äußere schaut, der entschuldigt ihn nicht. Es ist Plicht (wāǧib) für den Menschen und besonders für den Wissenden (ʿārif ), auf die inneren Angelegenheiten mit dem Auge der Wirklichkeit (ḥaqīqa) zu schauen und die Geschöpfe zu entschuldigen, da sie gezwungen sind in frei 347 Al-Ġazālī, 348
Maǧmūʿat rasāʾil al-Imām al-Ġazālī, S. 299. BM, Bd. 2, S. 353.
3.2 Theologie und Sufitum
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gewählten Formen. Und mit dem Auge der Scharia auf die äußeren Angelegenheiten, damit die Rechte aufrechterhalten werden.“349
In der im Menschen auftauchenden Dualität liegt ein Gegensatz, der logisch, durch den Verstand allein, nicht zu lösen ist. Auch wenn die inneren Motive eines Menschen, etwa zu einer Straftat, nachvollziehbar seien, schreibt er, müsse dennoch das Recht gewahrt bleiben, andernfalls werde der Ebene des Äußeren Unrecht getan, was auch für das Gegenteil gelte; die Motive der Menschen dürften nicht mit zornigem Auge betrachtet werden. Auf diese Weise sei das Aya zu verstehen: „Wollte dein Herr, hätten alle auf der Erde geglaubt“ (K 10:99). Denn darin liege die eigentliche Aufgabe des Menschen, führt Ibn ʿAǧība aus: Die Vereinigung der Gegensätze. Wenn diese Aufgabe auch nicht logisch zu lösen sei, sei der Mensch doch ein Abbild des Seins (wuǧūd) und „das edelste aller existierenden Dinge“ und es wurden „in ihn die Geheimnisse der göttlichen Weisheit gelegt“, sodass er fähig sei „die Gegensätze zu versöhnen und Geeignetes miteinander zu vereinen.“350 Das ist laut Ibn ʿAǧība die Bedeutung des Ayas: „Losgelassen hat Er die beiden Wasser, die zusammentreffen. Zwischen beiden ist ein Isthmus (barzaḫ), den sie nicht überschreiten“ (K 55:19). Die Wasser treffen zusammen, übertreten aber nicht den Isthmus beziehungsweise den Zwischenraum (barzaḫ). Wer nun diesen Isthmus betrete, der werde fähig die Gegensätze zu versöhnen.351 Der Weg auf den Istmus ist der Weg der Erkenntnis. Das Begriffspaar von Außen und Innen oder des Äußeren und des Inneren (aẓ-ẓāhir wa l-bāṭin) oder auch (in einer anderen Übersetzungsvariante) des Offenbaren und des Verborgenen stellen gewissermaßen die kleinste und grundlegendste Einheit der Begriffspaare dar. Ibn ʿAǧība verwendet sie durchgehend in seinem Werk. Zwar führt er sie in seinem Lexikon für Sufiterminologie (MT) nicht als eigenes Begriffspaar auf, jedoch sind diese, wie in der Tradition seiner Schule üblich, Standard und drücken aus, was sie auch sprachlich bedeuten, eine Dualität ähnlich Schale und Kern einer Frucht. So unterteilt er beispielsweise, wie schon erwähnt, in seiner Autobiographie (Fahrasa) die Lehren in „äußere und innere Lehren“ (al-ʿulūm aẓ-ẓāhira wa l-bāṭina).352 Und ebenfalls in seinem Werk zu den „Methoden der Koranexegese“ (uṣūl at-tafsīr, TF), wo er die Koranwissenschaften in äußere und innere unterteilt.353 Die Begriffe des Äußeren und des Inneren beziehungsweise des Offenbaren und Verborgenen finden sich jedoch auch in der Liste der Schönen Namen Gottes. Im Koran heißt es dazu: „Er ist der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene, und Er ist alle Dinge wissend“ (K 57:3). Ibn ʿAǧība kommentiert dazu: 349
IH, S. 617. Ebenda, S. 617. 351 Ebenda, S. 617–8. 352 Fahrasa, S. 87. 353 TF, S. 51–6. 350
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
„Er ist der Erste ohne Anfang und der Letzte ohne Ende. Er ist der Offenbare und es existiert kein Offenbares [oder Äußeres: ẓāhir] neben Ihm und Er ist der Verborgene [oder das Innere: bāṭin], wenn Er in Erscheinung tritt. Anders formuliert ist Er der Offenbare durch Seine Manifestationen und der Verborgene durch das, was über sie [die Manifestationen] ausgebreitet wurde, in Form des Gewandes Seiner Hochherrlichkeit. Eine weitere Betrachtungsweise lautet: Er ist der Offenbare durch Seine Macht (qudra) und der Verborgene durch Seine Weisheit (ḥikma). Zusammenfassend bedeutet das, Er ist der Offenbare in Seiner Verborgenheit und der Verborgene in Seiner Offenbartheit. Wodurch Er sich offenbart, ist, was in Ihm verborgen liegt und was in Ihm verborgen liegt, ist, wodurch Er sich offenbart. Sein Name ‚der Offenbare‘ (aẓ-Ẓāhir) bedingt die Verborgenheit der Dinge, ihren Verbrauch und schließlich ihr Verschwinden, da keine Offenbartheit neben Ihm existiert. Und Sein Name ‚der Verborgene‘ (al-Bāṭin) bedingt das Erscheinen ihrer [der Dinge] Greifbarkeit, damit Er verborgen in ihnen weilt. In den Ḥikam lautet es: ‚Er lässt alles Ding erscheinen, da Er der Verborgene ist. Und Er verbirgt das Sein aller Dinge, da Er der Offenbare ist.‘“354
Außen und Innen beziehungsweise die Elemente der Dualität bedingen also einander und je nach Perspektive tritt das eine oder andere in den Vordergrund. Zur Verdeutlichung kann das Modell des Äußeren und Inneren auch auf das Fiqh oder die Grammatik angewendet werden. In seinem Kommentar zu einigen Gedichtsversen des al-Ǧunayd erläutert Ibn ʿAǧība verschiedene Ebenen der Gebetswaschung (wuḍūʾ ): „Wisse, o Bruder, das zwei Arten von Reinheit (ṭahāra) existieren. Eine greifbare Reinheit (ḥissī) und eine Reinheit auf der Bedeutungsebene (maʿnawī). Die greifbare Reinheit unterteilt sich in zwei, eine kleine und eine große, was bekannt ist [kleine und große rituelle Waschung]. Die Reinheit unterteilt sich ebenfalls in zwei; eine äußere und eine innere Reinheit. Die äußere Reinheit ist die Reinheit der Gliedmaßen von den Untaten, während die innere die Reinheit des Herzens ist von Unreinheiten und Eifersucht sowie der Rebellion gegen den Belohnenden, den Herrscher, den Bezwingenden.“355
Das Begriffspaar vom Äußeren und Inneren taucht meist im Zusammenhang mit anderen Paaren auf. Etwas spezieller ist das verwendete komplementäre Begriffspaar von dem Greifbaren und der Bedeutung. Im Lexikon für die Fachbegriffe des Werkes lautet es zu den greifbaren Dingen (ḥiss) und der Bedeutung (maʿnā): „Das Greifbare (ḥiss) ist ein Ausdruck für das Verfestigen der Dinge im Äußeren und die Bedeutung (maʿnā) ist ein Ausdruck für ihre Subtilität im Inneren. So sind die geschaffenen Dinge Formen, welche die Bedeutungen tragen. […] Das Beispiel für den Kosmos ist wie ein Eisbrocken: Sein Äußeres ist Eis und sein Inneres Wasser. Auf diese Weise verhält es sich mit dem Kosmos. Sein Äußeres ist Greifbares und sein Inneres Bedeutung. Die Bedeutung stellt den innersten Kern des subtilen Wesens dar, das die Dinge erhält. Auf diese Weise nehmen die Bedeutungen ihren Lauf in den Formen der Bahnen des Wassers im Eisbrocken. […] Aus diesem Grund besteht das Greifbare nicht, außer durch 354 355
BM, Bd. 7, S. 322; vgl. auch TF, S. 172–3. SATH, S. 2.
3.2 Theologie und Sufitum
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Bedeutung und die Bedeutung tritt nicht in Erscheinung außer durch das Greifbare. […] Das Erscheinen der Bedeutung ohne Greifbares ist unmöglich und das Schauen des Greifbaren ohne Bedeutung Ignoranz und Dunkelheit. Deswegen heißt es in den Ḥikam: ‚Der Kosmos ist gänzlich Dunkel und wird erleuchtet durch die Erscheinung des Wirklichen darin.‘ Der Wirkliche, erhaben ist Er, kann nicht gesehen werden außer durch das Mittel der Manifestationen in dieser Welt.“356
Hier erscheint die Beziehung von Bedeutung und Greifbarem als unabdingbar für das menschliche Verstehen. Sich auf dem Isthmus zwischen den Gegensätzen aufzuhalten, wird hier in Form der Metapher eines Eisbrockens verdeutlicht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um das Erkennen des Dieners handelt, nicht um das Wissen selbst. Es befinden sich alle Menschen in jenem Meer, in dem der Eisbrocken schwimmt. Die Frage ist, inwieweit sie erkennen, wo sie sich befinden.357 Das kommt überdies im Aya zum Ausdruck: „Und Wir sind ihm näher als die Halsschlagader“ (K 50:16). Gott ist den Geschöpfen näher als ihre eigene Halsschlagader, so die offensichtliche Bedeutung, das bedeutet aber nicht zwangläufig, dass sie Ihm nahe sind. Er ist es laut Ibn ʿAǧība zu ihnen, da „die Nähe des Wirklichen zu Seinen Geschöpfen die Nähe der Bedeutungen (maʿānī) zu den Formen (awānī) [ein anderes Wort für die Schale, das Äußere] ist, da diese sie vollständig umfassen und sie durch sie aufrecht erhalten bleiben.“358 So kann auch in der Metapher gesagt werden, führt Ibn ʿAǧība an anderer Stelle aus, dass das Eis die Eigenschaften bildet und das Wasser das Wesen.359 Das Beispiel vom Eisbrocken im Meer ist eine Metapher zur Verdeutlichung der kosmischen Zusammenhänge. Im Menschen, im Mikrokosmos, bedarf es einer Reise, um zur Ebene des Inneren (bāṭin), der Bedeutungen oder der Wirklichkeit, durchzudringen. Um jedoch dorthin zu gelangen, schreibt Ibn ʿAǧība, bedarf es der Auslöschung oder des Vergehens des eigenen Selbst ( fanāʾ ), die hohe Stufe auf dem Weg der göttlichen Nähe. Dort, in der inneren Welt, existieren schließlich keine Zuschreibungen wie etwa Ort und Zeit. Nach dem Hadith qudsī: „Gott, der Erhabene, spricht: ‚Der Sohn Adams schmäht die Zeit, Ich aber bin die Zeit. In Meiner Hand liegen Nacht und Tag.‘“360 Er treibt es sodann auf die Spitze: „Wenn du davon nicht überzeugt bist und du überzeugt bist von der Existenz deines Egos und vom Feststehen deiner eingebildeten Greifbarkeit, wirst du nichts schauen, außer Ferne. Wer bist du hinsichtlich deiner greifbaren Nähe zu Seinem subtilen Licht, dass du glaubst, du könnest Ihn mit deinem körperlichen Auge sehen? Du verweilst in der 356
MT, S. 35–6. Vgl. IH, S. 456. 358 BM, Bd. 7, S. 194 und vgl. S. 194–6. 359 IH, S. 325. 360 Ebenda, S. 455–7; das Hadith u. a. bei Muslim und Buḫārī, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 323. 357
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Welt der Geister (ʿālam al-ašbāḥ) solange du entfernt bist von der Welt der Seelen (ʿālam al-arwāḥ), im Zustand deiner Nähe zu Ihm.“361
Die Thematik von Nähe (qurb) (und ihrem Gegensatz der Ferne) und Ankunft (wuṣūl) verweist auf den Weg, den der Mensch zur Herzenserkenntnis gehen muss; der Weg, der auf den Isthmus führt. Die Dualität in der Welt kann auf folgende Weise bildlich dargestellt werden.
Wirklichkeit (ḥaqīqa), Macht (qudra), Bedeutung (maʿnā), Seele (rūḥ), Die inneren Normen (al-aḥkām al-bāṭina), Innerliche Bestimmungen ( fiqh al-qulūb)
Scharia (šarīʿa), Weisheit (ḥikma), Greifbares (ḥiss), Körper (ǧasad), die äußeren Normen (al-aḥkām aẓ-ẓāhira), Äußerliche Bestimmungen ( fiqh aẓ-ẓāhir)
Abb. 4: Der Isthmus zwischen den Ebenen
Die Linien in der Mitte symbolisieren den Isthmus zwischen den beiden Gegensätzen beziehungsweise den komplementären Begriffen. Das Begriffspaar „Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa)“, das schon in der Betrachtung und Darstellung des Gabriel-Hadith aufgetaucht ist, hilft, um den Blick für den Isthmus weiter zu schärfen. Diese Konstellation ist eine Reduktion des Musters von Scharia, Weg (ṭarīqa) und Wirklichkeit (ḥaqīqa), um dem Rezipienten den Weg auf den Isthmus zu verdeutlichen. Das komplementäre Begriffspaar Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) definiert Ibn ʿAǧība in seinem Lexikon der sufischen Fachbegriffe folgendermaßen: „Die Scharia ist die Essenz (ʿayn) der Wirklichkeit, da Er [uns] zu ihr verpflichtet hat. Und die Wirklichkeit ist die Essenz der Scharia, da [wir] beauftragt mit ihr sind von Seiten der Scharia. So kann […] alles Scharia genannt werden, womit etwas erreicht wird oder was ein Grund ist für das Verstehen, denn die Gründe [oder Mittel] sind allesamt Scharias (šarāʾiʿ, sing. šarīʿa), wie die Ziele allesamt Wirklichkeiten (ḥaqāʾiq) sind. Aus diesem Grund ist das Greifbare die Scharia der Bedeutung, da mit ihr begriffen wird; die Anstrengung ist die Scharia der Schau, die Niedrigkeit die Scharia der Ehre, die Armut die Scharia des Reichtums usw. Und das Pflügen und Pflanzen ist die Scharia des Erntens der Früchte. Deswegen heißt es: ‚Wer Scharia pflanzt, wird Wirklichkeit ernten und wer Wirklichkeit pflanzt, wird Scharia ernten.‘“362 361 362
Ebenda, S. 458. MT, S. 45–6.
3.2 Theologie und Sufitum
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Während also die Wirklichkeit das Ziel darstellt, ist die Scharia das Mittel. Die Handlung des Menschen, der Weg, der Wissen und Handlung gleichermaßen miteinbezieht, überbrückt die Ebenen. Die schlichte Aufteilung in zwei Ebenen erreicht an dieser Stelle eine Grenze. Die Aufteilung in zwei Seiten ist notwendig, der eigentliche Zweck der Darstellung von Dualität liegt jedoch darin, aufzuzeigen, wie sich die Ebenen vereinen. Die Dinge greifen ineinander und es zeigt sich, dass der Kern einer Sache die Oberfläche einer anderen Sache darstellen kann. So ist etwa die Armut die Scharia des Reichtums, da das innerliche Entsagen vom Diesseits einen Reichtum bei Gott, im Inneren, zur Folge hat. Die Niedrigkeit als Scharia der Ehre hat den Hintergrund, dass Werte wie Demut und Zurückhaltung in der äußeren Welt zwar wie Niedrigkeit aussehen können, in Wirklichkeit bei Gott aber als Ehre angesehen werden.363 Um diese Verquickung der Ebenen zu verdeutlichen, hilft es, ein weiteres Begriffspaar zu betrachten: die Begriffe Macht (qudra) und Weisheit (ḥikma): „Die Macht (qudra) ist Ausdruck für das Erscheinen der Erscheinungsformen nach dem Willen [Gottes]. Die Weisheit (ḥikma) ist Ausdruck für deren Fließen [der qudra] durch das Bestehen von Gründen und Ursachen. Es tritt die Macht hervor und die Weisheit bedeckt sie. Die Macht trennt sich nur selten von der Weisheit; durch ein Wunder (muʿǧiza) oder ein Mirakel (oder Huldwunder: karāma).“364
Dieses Begriffspaar steht metaphorisch direkt in Verbindung zu dem Bild von den Meeren, die aufeinandertreffen. Ibn ʿAǧība beschreibt die Weisheit (ḥikma) als „ein volles Meer, das Mittel und Ursachen hervorbringt, den Schleier vorhält und das Innerste schützt. Es bedeckt den vergrabenen Schatz, verbindet die Normen mit ihren Ursachen, setzt die Scharia der Völker fest und bedeckt, was aus dem Element der Macht (qudra) hervortritt mit ihrem Gewand. Es verhüllt, was von den Geheimnissen der Herrschaft erscheint durch die Ehre der Hochheiligkeit (kibriyāʾ) und schützt die Wirklichkeit (ḥaqīqa).“365
Wer sich allein mit der Weisheit, den Mitteln und Gründen zufriedengibt, der bleibt verhüllt. Wer allerdings die Anstrengung unternimmt und sich aufmacht zur Schau der Macht (qudra), der erlangt wirkliche Erkenntnis.366 Das Meer der Macht (qudra) ist „ein übervolles Meer, das keinen Anfang und kein Ende kennt, verbirgt und erscheinen lässt, bewegt und beruhigt, gibt und nimmt, senkt und erhebt und die Maße aller Dinge liegen darin bestimmt. Um den Mittelpunkt seines Kreises verlaufen die Bahnen der Gestirne der Fügungen. Wenn die Macht etwas hervorbringen will aus dem Meer des Schick363
Vgl. IH, S. 194. MT, S. 34–5. 365 SD, S. 279. 366 Vgl. ebenda. 364
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
sals, das von Ewigkeit her besteht, bedeckt es die Weisheit mit dem Gewand der Gründe und Ursachen, sodass der Schatz begraben bleibt und die Geheimnisse der Herrschaft bedeckt und das unterscheidende Merkmal zwischen Gotteskenner und Ignoranten erscheint.“367
Obwohl das Äußere überwunden werden soll, ist es, um das Kapitel zusammenzufassen, dennoch notwendig, da ohne die Reise zur Erkenntnis und die entsprechenden Wegstationen die Schau des Göttlichen den Menschen überfordert. Aus diesem Grund verwendet Ibn ʿAǧība gerne die Metapher, dass „die Sonne der Wolken bedarf “368, womit der Umstand gemeint ist, dass der Mensch grundsätzlich nicht bloßen Auges in die Sonne zu schauen vermag. Er kann wohl die Macht, das Innere, die Bedeutungen oder die Wirklichkeit erkennen beziehungsweise sie mit seinem inneren Auge schauen, muss aber vorher den Weg auf den Isthmus zurücklegen. Anders ausgedrückt soll der Mensch beiden Meeren gerecht werden, beiden Ebenen ihren rechten Platz zukommen lassen, um das Wirken Gottes in der Welt zu erkennen. Die Gegensätze herrschen solange über den Menschen, bis er die Waage zwischen den Ebenen zu halten erlernt. Der Mensch vermag dies, da er von Gott die Fähigkeit bekam, die Gegensätze in sich zu tragen, die „des Lichts und der Dunkelheit, der Kraft der Bewegung und der Starre.“369 3.2.2.2 Die Lichtmetapher – das göttliche Wirken in der Welt „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis von Seinem Lichte: Eine Nische, in der eine Leuchte. Die Leuchte in einem Glas. Das Glas gleicht einem Stern, einem funkelnden. Angezündet von einem Baum, einem gesegneten, einem Ölbaum, nicht östlich und nicht westlich, dessen Öl leuchtet beinahe, ohne dass es berührt hätte das Feuer. Licht über Licht. Gott leitet zu Seinem Licht, wen Er will und Gott prägt die Gleichnisse für die Menschen. Und Gott ist alle Dinge wissend.“ – Koran 24:35 –
Die Lichtmetapher ist koranischen Ursprungs (vgl. auch K 2:257, 5:15–6, 5:44–6, 6:122, 13:16, 24:40, 39:22, 57:9) und unterlegt insbesondere den Wortschatz Ibn ʿAǧības, wenn er die Art und Weise des Wirken Gottes in der Welt beschreibt. Wie Ibn ʿAǧība selbst erwähnt, vertrat al-Ġazālī in seinem Werk „Die Nische der Lichter“ (Miškāt al-anwār) die These, dass Gott die Dinge durch Seinen Namen „Das Licht“ aus dem Nichts ins Sein bringt.370 Obwohl in der Tradition der Šāḏiliyya die Emphase nicht maßgeblich auf dem Namen Gottes „Das Licht“ für die Darstellung liegt,371 ist sie doch insgesamt geprägt von einem intensiven Gebrauch der Metapher vom Licht für die Erläuterung des göttlichen Wirkens im Kosmos. 367
Ebenda, S. 278–9. Ebenda, S. 279. 369 IH, S. 240. 370 BM, Bd. 5, S. 85; al-Ġazālī, Maǧmūʿat rasāʾil al-Imām al-Ġazālī, S. 287–9. 371 Vgl. etwa TF, S. 182. 368
3.2 Theologie und Sufitum
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So wird beispielsweise in vielen der Lehrsätze (der Ḥikam) des Ibn ʿAṭāʾ Allāh asSakandarī das Wirken des Lichts in der Welt oder im Menschen beschrieben.372 Die Lichtmetapher birgt eines der komplementären Begriffspaare des Geschaffenen, Licht und Dunkelheit, und eignet sich hervorragend, um die Dualität in der Welt und das Wirken Gottes darzustellen. Insbesondere, um die Selbstoffenbarung Gottes, Seine Manifestation in der Welt, aufzuzeigen und wie sie vom Menschen erkannt werden kann. Das Aya von der Nische des Lichts bietet einen ersten Hinweis. Ibn ʿAǧība kommentiert das Aya 24:35 allegorisch auf folgende Weise: Der Kosmos ist gänzlich ein Teil des Lichtes des Wirklichen, von Gott. Das verhält sich so, da Er der Ursprung aller Dinge ist, ihr Erschaffer – es befindet sich Sein Licht in der Welt, Er ist jedoch die ultimative Quelle des Lichts und die Dinge bestehen nur durch Ihn. Das bedeutet, dass Er in ihnen zu finden ist, Sein Licht und Sein Geheimnis. Wie das Licht aufzufinden ist, verdeutlicht das Beispiel von der Nische und der Leuchte. Es ist nur ein Teil Seines Lichts in die Welt gegeben, da Er das Beispiel einer Nische wählt, einer Aushöhlung in einer Wand, die begrenzt ist. Die Leuchte in der Welt ist nun die Quelle des Lichts, die den Kosmos ins Sein bringt, „von dieser Leuchte aus verzweigen sich die erschaffenen Dinge.“373 Die anschließende stufenweise Erläuterung über den Ursprung des Lichts, über das Glas und den Ölbaum, gipfelt in der Aussage „Licht über Licht“, da die Natur des Erschaffenen in Stufen unterteilt ist – das Licht zeigt sich verschieden stark auf den verschiedenen Ebenen.374 Dass der Kosmos gänzlich Licht ist, ist aus der Perspektive richtig, wenn Gott als Ursprung gesetzt wird. Aus der Perspektive des Menschen ist laut Ibn ʿAǧība der Kosmos dagegen zunächst „gänzlich Dunkelheit“375, da er erst mit wachsender Erkenntnis fähig wird, den wirklichen Ursprung hinter den Dingen wahrzunehmen. So heißt es an anderer Stelle im Koran: „Damit Gott rechtleitet jene, die Seinem Wohlgefallen folgen, die Wege des Friedens, und Er rechtleitet sie aus den Finsternissen zum Licht, mit Seiner Erlaubnis“ (K 5:16). Die Rechtleitung ist laut Ibn ʿAǧība in Stufen aufgeteilt, wie es im Stufensystem des Gabriel-Hadith hinreichend zum Ausdruck kommt. So kann die Dunkelheit, aus der jemand geführt wird, zum einen der Schritt von Leugnung (kufr) zu Glaube (īmān) sein, aber auch der Schritt aus dem Glauben der Normativität des Kalam zum Glauben der Anschauung, wie ihn die Sufis lehren, was den Worten „Licht über Licht“ entspricht.376 372 Yunus Wesley hat aufgezeigt, welch hohe Gewichtung der Text der Lehrsätze (Weisheiten; Ḥikam) dem Thema des Lichts und der Schau desselben zumisst: Wesley, Illuminated Arrival, S. 25. 373 BM, Bd. 5, S. 85. 374 Ebenda, S. 83–5. 375 IH, S. 72. 376 BM, Bd. 2, S. 164; BM, Bd. 5, S. 84.
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Aus der Perspektive des Menschen stellt die Nische die Brust des Menschen dar und die Leuchte das Licht, von der die Lichter der Stufen des islām, des īmān und des iḥsān ausgehen. Ibn ʿAǧība: „Das Glas ist das reine Herz, weswegen Er es mit dem funkelnden Stern vergleicht. Das Öl ist das nützliche Wissen, dass die Gewissheit stärkt, weswegen Er es mit dem Leuchten in Verbindung bringt. […] Licht über Licht bedeutet, das Licht des Glaubens (īmān) wird dem Licht der Hingabe (islām) hinzugefügt. Oder, das Licht der Vervollkommnung (iḥsān) wird dem Licht der Hingabe (islām) und des Glaubens (īmān) hinzugefügt.“377
Kurzgesagt ist der Kosmos für den Gotteskenner gänzlich Licht, aber für den Verschleierten gänzlich Dunkel, fasst Ibn ʿAǧība zusammen.378 Der Weg der Erkenntnis führt aus dem Dunkel der Anhaftung an das Diesseits zur Anschauung des Lichts. Das Licht wird im geläuterten Herzen gespiegelt und je reiner der Spiegel, desto deutlicher schaut der Mensch die Wirkungskräfte der göttlichen Namen und Seiner Eigenschaften – Seiner Selbstoffenbarung – und die Erkenntnis wächst; Wissen über Gottes Wirken entsteht. Dabei sind die Lichter noch nicht das Ende des Wahrnehmbaren. Hinter den Lichtern liegen die Geheimnisse: „Die Lichter sind ein Ausdruck für das, was von den verdichteten, göttlichen Manifestationen erscheint und die Geheimnisse sind ein Ausdruck für das, was in ihnen verborgen liegt an subtilen Bedeutungen. Die Geheimnisse sind feiner als die Lichter: Die Geheimnisse haften dem Wesen an und die Lichter den Eigenschaften, da diese ihre Spuren (Implikationen; arab. āṯār) sind. Das Wesen befindet sich nach der Manifestation zwischen den äußeren Lichtern und den inneren Geheimnissen.“379
Das Licht ist demnach sinnbildlich synonym für die Manifestationen Gottes zu verstehen, da es das Dunkel des Diesseits aus dem Herzen des Menschen vertreibt. Oder es kann gesagt werden, dass der Wirkliche das Dunkel der Ignoranz durch Seine Selbstoffenbarung hinwegnimmt und das Wissen erscheinen lässt. Im Koran wird die Ignoranz auch mit dem Tod verglichen und das Wissen mit dem Leben und wem Leben gegeben, dem wird ein Licht gegeben: „Gleicht denn einer, der tot war und den Wir zum Leben erweckt, und dem Wir Licht gegeben, damit er unter den Menschen wandelt, einem, der in Finsternissen ist und nicht aus ihnen herauskommt?“ (K 6:122).380 Das Licht begleitet den Menschen durch die Stufen, durch die er zum Wissen der Gotteserkenntnis aufsteigt. Jede Stufe enthält verschiedene Lichter, deren Schau den Menschen auf seinem Weg leiten, wie Ibn ʿAǧība es ausdrückt. Er schaut beispielsweise das Licht des Strebens und vermag zur Handlung überzugehen, da sie ihm „versüßt“381 (yaḏūq ḥalāwatahū) erscheint. Danach erreichen 377
BM, Bd. 5, S. 84. Ebenda, S. 85. 379 MT, S. 47. 380 Vgl. BM, Bd. 2, S. 313–4. 381 IH, S. 109. 378
3.2 Theologie und Sufitum
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ihn die Lichter des inneren Handelns, was ihm die Aufrichtigkeit „versüßt“ und leicht macht.382 An einer anderen Stelle schreibt er: Das Licht ist gleich „einem Punkt auf dem Herzen des Dieners“383, der von der Bedeutung eines Namens oder einer Eigenschaft stammt, dessen Bedeutung sich auf das Ganze ausbreitet, bis er das Gute vom Schlechten zu unterscheiden vermag.384 Wie beschrieben, hängt es bei der Lichtmetapher entscheidend davon ab, welche Perspektive eingenommen wird. Etwa das Wirken Gottes in der Welt oder das Wirken Gottes in der Führung des Menschen. Im Menschen, schreibt Ibn ʿAǧība, sind die Lichter die Soldaten des Herzens, die gegen das Heer des Egos, die Begierden, kämpfen. Erst wenn sein Herz vom Wissen erleuchtet ist, halten darin die guten Eigenschaften Einzug. Auf der Stufe des islām leuchtet das Licht das Dunkel des Vergessens, des Leugnens und der Sünde aus. Auf der Stufe des īmān leuchtet es die verborgenen Götzen aus, sodass nur noch die positiven Eigenschaften bleiben. Auf der Stufe des iḥsān schließlich werden die Reste all dessen, was Gott ähnlich erscheint ausgeleuchtet und es bleibt nur der Eine, das Licht.385 Aus der Metaperspektive des Kosmos insgesamt betrachtet, erschuf Gott ein Licht, von dem Er alles Sein abstrahlen lässt, die Leuchte, wie in der Lichtmetapher benannt. Alle Manifestationen der göttlichen Eigenschaften strahlen davon ab. Die Lichter sind Eigenschaften, deren Spuren (oder Implikationen) wiederum als äußere Manifestationen wahrnehmbar sind, als „Verdichtung und Subtilität, Begrenzung und Spezifizierung, Gestaltung und Ausformung, Ehrbarkeit und Erniedrigung […] sowie andere Unterscheidungen der Implikationen (āṯār) und Veränderungen der Rangstufen. Diese sind alle von den Implikationen (āṯār) der ewigen Eigenschaften, die da sind: Die Macht, der Wille, das Wissen und das Leben – die Eigenschaft wird nicht von dem Charakterisierten getrennt.“386
Das Licht strahlt also durch die Eigenschaften, Namen und deren Spuren in der Welt. Dort manifestiert es sich und der Mensch, dessen Herzensauge geöffnet, vermag es zu schauen. Die Lichtmetapher stellt eine Möglichkeit dar, die Zusammenhänge im Kosmos, das Wirken Gottes in der Welt, aus Perspektive des Sufitums heraus zu beleuchten. 3.2.2.3 Das Motiv der Liebe Während die Dualität maßgeblich zur Beschreibung der Welt gereicht und die Lichtmetapher für das Wirken Gottes in der Welt und im Menschen, wird das Motiv der Liebe von Ibn ʿAǧība verwendet, um die Verbindungen der geschaffe382 Ebenda. 383
Ebenda, S. 147.
385
Ebenda, S. 149–51. SSIM, S. 150.
384 Ebenda. 386
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
nen Dinge und deren Anziehungskraft untereinander darzulegen, insbesondere die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Liebe ist ein starkes koranisches Motiv; Gott liebt etwa die „Sich Reinigenden“ (K 9:108) und „liebt nicht die Hochmütigen“ (K 16:23), Er liebt die „Gottvertrauenden“ (K 3:159) und liebt nicht das Unrecht, Er liebt die Vollkommenheit (K 2:195) und nicht die Übertretung (K 2:190). Im Koran lässt Gott Seinen Gesandten sprechen: „Sag: ‚Wenn ihr liebt Gott, dann folgt mir, damit euch liebt Gott und euch vergibt eure Vergehen. Gott ist der unübertrefflich Vergebende, der Barmherzige‘“ (K 3:31). Gott ist einerseits der Geliebte und andererseits der Liebende, wie es beständig von den Sufis betont wird; unter anderem zu dem Aya: „Er liebt sie und sie lieben Ihn“ (K 5:54), so auch bei Ibn ʿAǧība.387 Die Gedichte der Sufis und ihre Betonung der Liebe, wie es auch bei Ibn ʿAǧība der Fall ist, können zu der Annahme führen, anzunehmen, sie sei der bei den Sufis höchst gelegene Wert. Doch so einfach ist es nicht. Wie Ibn ʿArabī geht Ibn ʿAǧība allgemein davon aus, dass die Erkenntnis (maʿrifa) letztlich höher zu gewichten sei, als die Liebe: „Tatsächlich ist die Erkenntnis (maʿrifa) höher als alle anderen Stufen, denn mit ihr bleibt kein Rest von Schleier mehr bestehen, anders als bei der Liebe (maḥabba).“388 Das schlägt sich auch maßgeblich in seiner Darstellung der Wegstationen des Gläubigen nieder, die in einem späteren Kapitel (5.1) behandelt werden. Dass die Liebe dennoch so hoch gewichtet wird, ergibt sich aus einer Schlussfolgerung zum fundamentalen Prinzip des Einheitsglaubens (tawḥīd), wie Chittick es zusammenfasst: Alle Bewegung und Anziehung (als Folge der Liebe) in der Welt läuft letztendlich bei Gott zusammen und führt zu Ihm zurück. Denn das arabische Wort für den Einheitsglauben tawḥīd oder „Vereinung“ impliziert, dass etwas zusammengeführt wird, was zuvor getrennt war.389 In dieser knappen Darstellung schwingen beide Elemente mit; die Liebe explizit durch die Anziehungskraft und die Erkenntnis implizit in der Bewegung, da, wie in verschiedenen vorigen Kapiteln beschrieben, der Einheitsglaube im Herzen der Verwirklichung (taḥqīq), des Weges bedarf, einer Bewegung hin zur Erkenntnis. Der Liebe liegt also gewissermaßen die Erkenntnis zugrunde – beide sind miteinander verwoben. Die Liebe (maḥabba) ist – anders als die Erkenntnis – wechselweise sowohl von Gott zum Menschen als auch vom Menschen zu Gott möglich, weshalb sie in der Dichtung ein so vorzügliches Mittel darstellt. Aus diesem Grund sowie wegen des eben genannten Aspekts der Liebe als Triebkraft hinter dem Einheits387
TF, S. 154–5. BM, Bd. 1, S. 162; zur Interpretation Ibn ʿArabīs dazu vgl. Chittick, Ibn ʿArabī. Erbe der Propheten, S. 41; Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 380–1. 389 William C. Chittick, „The Pivotal Role of Love in Sufism“, in Eranos Jahrbuch 2009– 2010–2011: Love on a Fragile Thread, Hg. Fabio Merlini, u. a. Einsiedeln: Daimon Verlag, 2012, 255–73, S. 272. 388
3.2 Theologie und Sufitum
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glauben, heißt es in Gedichten nicht selten, die Liebe sei die Religion dieses und jenes (Sufis). Auch bei Ibn ʿAǧība findet sich dieses Motiv: „Die Liebe ist meine Religion“.390 Und ein Gedicht (qaṣīda) Ibn ʿAǧības beginnt mit den Worten: „Mein Geliebter schenkte mir vom Trunk der Liebe ein.“391 Was die Liebe Gottes anbelangt, schreibt Ibn ʿAǧība, besteht sie von Ewig her, ist der spezielle Wille Gottes und geht der Liebe des Menschen voraus, nach der koranischen Aussage: „O ihr, die ihr glaubt, wenn einer unter euch von seiner Religion abfällt, dann wird Gott Leute bringen, die Er liebt und die Ihn lieben“ (K 5:54), wie auch die Umkehr zunächst von Seiten Gottes erfolgt und anschließend erst der Diener bereut (Koran 9:118).392 Er weist hier darauf hin, dass in beiden Ayas Gott Seine Liebe und die Reue, die Er dem Diener zukommen lässt, zuerst nennt. Die hier zutage tretende Idee entspricht der akbarītischen Lehre von der urewigen Essenz, die ebenfalls in Teil 5 speziell Gegenstand der Betrachtung sein wird. Die Liebe ist die Kraft, die hinter dem Willen zum Kennenlernen, zur Erkenntnis der Einheit Gottes steht. Die Argumentation hinter dem Prinzip der Erkenntnis bei Ibn ʿAǧība lautet zusammengefasst so: Gott erschuf die Menschen in ihrer ursprünglichen Natur ( fiṭra), in der sie die Gotteserkenntnis und das Merkmal der Dienerschaft (ʿubūdiyya) in sich tragen; sie bestätigten Seine Herrschaft in der Seelenwelt vor dem Diesseits, wie es im Koran lautet: „‚Bin Ich nicht euer Herr?‘ Sie sagten: ‚Ja‘“ (K 7:172).393 Und die Dienerschaft ist weiterhin überhaupt der Grund für die Erschaffung des Menschen, ebenfalls nach der koranischen Aussage: „Und erschaffen habe Ich die Dschinn und die Menschen nur, damit sie Mir dienen“ (K 51:56). Wobei die Worte „damit sie Mir dienen“ von Ibn ʿAbbās als „damit sie Mich erkennen“ ausgelegt wurden.394 Und die von Gott gewollte Erkenntnis der Menschen wird nun als die ultimative Bewegung der Liebe Gottes verstanden, wie sie sich in dem überlieferten Ausspruch niederschlägt, Gott spricht: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte [wörtl. liebte es,] erkannt [zu] werden. Da erschuf Ich die Schöpfung, damit sie Mich erkennen.“395 Und aus dieser Liebe heraus schuf Gott, so Ibn ʿAǧība, die Leuchte aus der koranischen Lichtmetapher (K 24:35), das Licht, 390
Vgl. IH, S. 508. Fahrasa, S. 115. 392 BM, Bd. 2, S. 197. 393 Ebenda, Bd. 2, S. 294. 394 Vgl. STB, S. 17; in einer anderen Variante nennt Ibn ʿAǧība den Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq als Quelle für diese Aussage, vgl. BM, Bd. 7, S. 225. 395 Das Hadith bei l-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 121. Al-ʿAǧlūnī führt die Meinungen einiger Gelehrter an, die alle angeben von keiner starken oder schwachen Überliefererkette für dieses Hadith zu wissen. Er führt aus, dass die Aussage jedoch inhaltlich stimme, nach dem oben aufgeführten Aya (K 51:56): Gott erschuf die Menschen, damit sie Ihm dienen, was mit der Interpretation des Ibn ʿAbbās, das dienen meine hier erkennen, dem Prinzip nach der Aussage entspricht: Gott erschuf die Welt, damit die Menschen Ihn erkennen. Und das Mittel für das Kennenlernen ist die Liebe. 391
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
damit sie einen Weg zu Ihm finden.396 Insbesondere aber die Verquickung von Liebe und Erkenntnis erscheint deutlich in der Wortwahl des Hadith. Gott wollte also, dass sich die Menschen Ihm nähern und wenn sie ihrer ursprünglichen Natur nach handeln, der ḥanīfen Religion, erhalten sie Seine Liebe. Dementsprechend ist die religiöse Lehre Ibn ʿAǧības immer auch darauf ausgerichtet, die Liebe des Menschen zu wecken. Die Liebe aus der Perspektive des Menschen erfolgt aus zwei Gründen, schreibt er: Erstens wenn der Mensch auf die vollkommenen Gaben schaut, die Gott ihm vermacht hat, denn die Herzen folgen dem, der sie gut und wohltätig behandelt. Jedes Mal, wenn der Mensch die „unzähligen Gaben“ Gottes wahrnimmt, „ist das wie eine Saat, die in die gute und reine Erde des Herzens gepflanzt wird.“397 Und immer wenn der Mensch die Gaben wahrnimmt, wird sein Herz weiter erleuchtet und der Glaube nimmt zu.398 Zweitens schaut der Mensch, wenn die Schleier vor seinem Herzen fallen, die Schönheit Gottes und Seine Vollkommenheit. Und „die Schönheit wird von Natur aus geliebt.“399 Diese Liebe, die aus der Anschauung der Schönheit entsteht, ist an die Befähigung von Seiten Gottes gebunden. Tatsächlich sind es also zwei Arten der Liebe, wie die berühmte Sufimeisterin Rābiʿa al-ʿAdawiyya (gest. 180/796) es schon in dem berühmten Vers, an Gott gerichtet, ausdrückt: „Ich liebe Dich zwei Lieben: Die Liebe der Leidenschaft Und die Liebe, die Du ermöglichst.“400
Anders ausgedrückt fährt Ibn ʿAǧība fort, bestehen zwei Formen der Liebe, eine höher als die andere. Die erste und niedrigere ist die der Leidenschaft, die sich an den Gnadengaben Gottes orientiert. Sie ist niedriger, da darin eine Art Handelsaustausch mit Gott liegt und an Hoffnung und Furcht gebunden ist. Die zweite Art der Liebe ist wirklicher, da sie keine Erstattung erwartet. Letztendlich lässt sich die Liebe aus diesem Grund auf die Erkenntnis zurückführen; Liebe steigt und sinkt mit dem Maße der Erkenntnis: Wird die Schönheit oder die Vollkommenheit Gottes – die zwei Gründe für die Liebe – erkannt, erfasst die Liebe das Herz.401 Doch abgesehen von dieser theoretisch-theologischen Ebene verwendet Ibn ʿAǧība die Liebe gerne in einem sehr praktischen und greifbaren Sinne. Das kommt in der Betonung des Weges zur Erkenntnis zum Ausdruck, wobei dann die Verbindung von Liebe und Erkenntnis deutlicher werden. Dazu lautet ein von den Sufis und auch Ibn ʿAǧība viel zitiertes Hadith qudsī: 396
BM, Bd. 7, S. 225; STB, S. 17. BM, Bd. 1, S. 160–1. 398 Ebenda; vgl. auch MT, S. 19. 399 BM, Bd. 1, S. 161. 400 Ebenda, Bd. 1, S. 161. 401 Ebenda, S. 161–2. 397
3.2 Theologie und Sufitum
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„Gott spricht: ‚Nichts, wodurch Mein Diener sich Mir nähert, ist Mir lieber, als was Ich ihm als Pflicht auferlegte. Mein Diener hört nicht auf, sich Mir durch freiwilliges Tun zu nähern, bis Ich ihn liebe. Und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich sein Hören, mit dem er hört, sein Sehen, mit dem er sieht, seine Hand, mit der er etwas greift, und sein Fuß, mit dem er geht.‘“402
Das beschreibt die Verwirklichung des Einheitsglaubens im Herzen; das Streben und die Bewegung des Menschen münden letztlich in der angestrebten Vereinigung mit dem Geliebten. Dieser Prozess nun, wie die Liebe das Herz erfasst, enthält verschiedene Stufen und kann wiederum aus mehreren Perspektiven dargestellt werden. Eine Perspektive erfolgt durch die Betrachtung der Absicht und des Willens des Menschen im Allgemeinen und eine zweite stellt eine systematische Perspektive der Wegstationen dar, an deren Ende die Liebe steht.403 Die erste, allgemeine Perspektive folgt dem Motiv des Liebenden (muḥibb) und des Geliebten (maḥbūb) und stellt ein bei Ibn ʿAǧība grundlegendes Thema dar, wie schon oben angedeutet. Er verwendet es frei in den meisten seiner Werke und spielt auf Dichtung und weltliche Liebe an. Zwar ordnet er sie unter der Erkenntnis ein, das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ihr eine äußerst gewichtige Rolle in seiner Lehre gibt. Die Begriffe und Themen die Ibn ʿAǧība dazu behandelt, können hier nur stark verkürzt wiedergegeben werden. Die Liebe (maḥabba) selbst beschreibt Ibn ʿAǧība mit den Worten: „Liebe ist eine andauernde Neigung mit einem verwirrten Herzen.“404 In dieser Beschreibung liegt schon die in den meisten Begriffen des Sufitums enthaltene Mehrstufigkeit angedeutet. Äußerlich zeigt sie sich durch Taten, führt er weiter aus, innerlich durch die Läuterung und Annahme der erwünschten Eigenschaften und auf der Seelenebene durch die Anschauung des Geliebten.405 Die Liebe schließt zudem die Sehnsucht (ištiyāq) und die Leidenschaft (šawq) ein. Wenn der Liebende die Spuren des Geliebten erblickt, vergeht die Leidenschaft vielleicht, die Sehnsucht aber bleibt.406 Denn die wirkliche Liebe kennt kein Ende, schreibt er an anderer Stelle. Die Liebe zur Erreichung des Paradieses ist wiederum begrenzt, denn das Paradies ist ein erschaffenes Ding, „ein Kosmos vieler Kosmen“407, wer es ersehnt, sehnt sich noch immer nach einem erschaffenen Ding und nicht nach dem Geliebten selbst.408 Ganz grundlegend soll der Mensch auf dem Weg seinen Willen (irāda) auf das Ziel ausrichten, den Geliebten. In diesem Sinne ist „der Wille die Absicht, den Geliebten zu erreichen, durch Anstrengung oder das Erweisen von Liebe zu 402 Vgl. IH, S. 506; MSW, S. 248. Ibn ʿAǧība gibt das Hadith meist nur in Teilen wieder; das Hadith in Kanz: Buḫārī, Nr. 21327. 403 Vgl. MSW, 255. 404 MT, S. 8. 405 Ebenda. 406 Ebenda, S. 12. 407 SNS, S. 74. 408 Ebenda.
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
Gott durch was Ihn zufrieden sein lässt […].“409 Dieser Wille ist Voraussetzung für die Begehung des Weges der Erkenntnis und von ihm leitet sich das arabische Wort für Aspirant (murīd) ab. Dieser Wille steigt auf dem Weg an, da durch die Anstrengung (muǧāhada) die Schleier fallen und die Schönheit erblickt wird, was wiederum die Liebe anwachsen lässt. Das ist es, was laut Ibn ʿAǧība im Aya zum Ausdruck kommt: „Und gedulde dich mit denen, die anrufen ihren Herrn am Morgen und am Abend, und suchen Sein Antlitz!“ (K 18:28). Sie suchen, wie er es interpretiert, besser wollen (yurīdūn) Sein Antlitz, sind auf Ihn selbst aus, auf nichts Anderes. Sie verehren Gott in Liebe; „ihr Gottesdienst geschieht aus dem Willen heraus, Ihn selbst zu erkennen.“410 Aus dieser ersten Perspektive ist die Liebe die Kraft, die sich mit der Erkenntnis abwechselt: Erkenntnis befeuert die Liebe und die Liebe treibt weiter zu mehr Erkenntnis an. Am Ende jedoch, schreibt Ibn ʿAǧība wie bereits erwähnt, steht die Erkenntnis höher, da die Liebe impliziert, dass noch ein Schleier vorhanden ist. Denn ein Liebender beispielsweise flieht vor den Menschen, gibt ihnen also Gewicht, der Erkennende jedoch fürchtet nichts.411 Die zweite Perspektive, aus der die Liebe von einem praktischeren Winkel betrachtet werden kann, erfolgt bei Ibn ʿAǧība unter der Überschrift „Die Stufen der Vertrauten“ oder „die Stufen der Angenäherten“ (maqāmāt al-muqarrabīn).412 Dabei stellt die Liebe das ausgemachte Ziel dar, die höchste Stufe der Reise aus der Binnenperspektive des Menschen. Diese Stufen der Vertrauten oder auch die Stufen des Weges (maqāmāt as-sulūk) erwähnt Ibn ʿAǧība an verschiedenen Stellen in seinem Werk. Sie sind 12 an der Zahl und lauten: 1. Umkehr (tawba), 2. Furcht (ḫawf ), 3. Hoffnung (raǧāʾ ), 4. Frömmigkeit (waraʿ), 5. Askese (zuhd), 6. Geduld (ṣabr), 7. Dank (šukr) 8. Gottvertrauen (tawakkul) 9. Zufriedenheit (riḍā), 10. Aufgabe (taslīm), 11. Konzentration (murāqaba) und 12. Liebe (maḥabba).413 Diese Stufen stellen eine systematische Herangehensweise an die Liebe dar und werden in Teil 5 ausführlicher diskutiert.
3.3 Zusammenfassung In der ersten Hälfte des Teils zur religiösen Lehre wurde auf die Grundlagen und Methoden des Sufitums und die Quellen bei Ibn ʿAǧība eingegangen (3.1.1). Es zeigt sich, dass er das Sufitum erstaunlich schlüssig in den Kanon der Religiösen Lehren einzupflegen weiß und dies in Übereinstimmung mit der Ordnung aus dem Gabriel-Hadith. Das Sufitum lässt sich laut Ibn ʿAǧība wie auch die Normen 409
MT, S. 13. SNS, S. 74; vgl. auch BM, Bd. 4, S. 161–2. 411 BM, Bd. 1, S. 162. 412 MSW, S. 255. 413 Ebenda, S. 255–9; vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 215–7 bzw. 215–36. 410
3.3 Zusammenfassung
213
des Kalam und des Fiqh aus den Themen des Korans ableiten. Während in der Glaubenslehre die äußeren Normen behandelt werden, werden im Sufitum die inneren betrachtet. Wie in den Kapiteln zum nützlichen Wissen und dem Locus für das Wissen zu sehen, begründet Ibn ʿAǧība den Begriff des Wissens auf die im Sufitum übliche Weise, das Herz und dessen Erkenntnis stehen im Mittelpunkt, der Verstand dient als Hilfsmittel. Zudem fällt auf, dass sein Verständnis von Wissen, wie es in seinem Lebenswandel deutlich wird, unmittelbar mit dem Handeln, der Praxis, in Verbindung steht; ohne Tun kein Wissen. Insofern ist Wissen erkenntnistheoretisch bei Ibn ʿAǧība deutlich von der Philosophie und dem Kalam abgegrenzt. Kapitel 3.1.2: Hinsichtlich der Quellen, die auf der Herzenserfahrung ruhen, baut er auf seinen Vorgängern auf und interpretiert die Begriffe und Themen des Sufitums auf solche Weise, dass von einer ihm eigenen Systematik gesprochen werden kann. Das grundlegende Motiv von Koran und Sunna erweitert er um die Eingebung der Meister der Sufis, da, was die Herzen anbelangt, die Weitergabe von Glaube und nicht eigentlich Texte den Mittelpunkt der religiösen Lehre bilden können. Vielmehr ist laut Ibn ʿAǧība eine Tradition vonnöten, in der das prophetische Erbe lebendig von Mensch zu Mensch vermittelt wird. Dabei erscheint erneut der Zusammenhang zwischen dem Gabriel-Hadith und der Auslegung Ibn ʿAǧības, indem er den Kalam als notwendigen Teil der Prophetie beleuchtet: Wenn die Umstände es erfordern, kann der Gotteskenner in der Vermittlung von Religion auf Belege des Verstandes zurückgreifen, wohlwissend, dass es das eigentliche Ziel es ist, das Herz anzusprechen. Die textuellen Quellen bei Ibn ʿAǧība stellen ein noch weitgehend unerforschtes Gebiet dar. Allgemein formt er die Gelehrsamkeit seines Studiums und das praktische Sufitum zu einer neuen Synthese, wobei er sich methodisch nicht offensichtlich bei der akbarītischen Schule anlehnt, sondern mehr bei der Tradition seiner Meister der Šāḏiliyya, ohne die Schule Ibn ʿArabīs inhaltlich außen vor zu lassen. Er zeigt sich mindestens in seinen späten Werken als Vertreter einer Variante der negativen Theologie, wobei er souverän mit Meinungen des Kalam und der Philosophie umzugehen weiß. Als gelehrter Sufi lehnt er die Meinungen beider Richtungen je nach Übereinstimmung mit der Schule der Sufis ab oder stimmt ihnen zu. Im Kapitel zu Kalam und Sufitum (3.2.1) zeigt sich die komplizierte Dynamik zwischen den beiden Fächern, zum einen durch die inhaltlichen Überschneidungen und zum anderen durch die historisch bedingte Rivalität. Durch die Systematik des Gabriel-Hadith wird die Spannung jedoch weitgehend aufgehoben. Ibn ʿAǧība verstrickt sich nicht in theologischen Diskussionen, sondern orientiert sich hierarchisch an dem Muster Fiqh, Kalam und Sufitum und präferiert konsequenterweise das Sufitum, um die religiöse Lehre dazulegen. Um nun die sufische Methode für die religiöse Lehre, d. h. ihre Weitergabe darzustellen, bedient sich Ibn ʿAǧība verschiedener anderer Mittel, insbesondere
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3. Teil: Die religiöse Lehre und das Sufitum
der Metaphorik, der Allegorie, der išāra. Dazu wurden zum Ende des dritten Teils (3.2.2) einige grundlegende Motive betrachtet, gewissermaßen ontologische Annahmen, die sein Werk unterlegen: die Dualität in der Welt, die Lichtmetapher und die Liebe. Diese Vorarbeit ermöglicht es im Anschluss, die Methode Ibn ʿAǧības das Verstehen betreffend beziehungsweise seine Hermeneutik, die išāra, genauer zu betrachten.
4. Teil
Verstehen und Deuten – die išārī-Interpretation Ibn ʿAǧības (Hermeneutik) Nachdem nun im Teil über den Religionsbegriff der theoretisch-theologische Rahmen und die Entwicklungen der Lehre Ibn ʿAǧības diskutiert wurden und im Teil zur religiösen Lehre sein Sufitum, dessen grundlegende Methoden, Annahmen und Beziehung zum Kalam genauer erörtert wurde, wird in diesem Teil auf die Methode des Verstehens selbst eingegangen. Diese soll es dem Menschen ermöglichen, Zugang zur Offenbarung – der Botschaft des Propheten Muḥammad im umfassenden Sinne – zu bekommen beziehungsweise sein Herz für die Zeichen Gottes in der Welt zu öffnen. Die Methode bestehe in der Schule der Sufis grundsätzlich darin, wie Gril und Vimercati Sanseverino es ausdrücken, dem Menschen Hinweise (išāra) auf seinem Weg zur Erkenntnis zu geben, sodass sein Glaube sich entwickeln könne.1 Methode meint in diesem Zusammenhang also die išāra. Welche Systematik steckt dahinter? Im Kapitel über den Religionsbegriff (2.2 Der Ursprung der Religion) wurde beschrieben, dass Ibn ʿAǧība die koranische Botschaft immer auch auf den individuellen Gläubigen überträgt. Auch der Götzendienst ist relevant für den Leser, um ihn auf die verborgenen Götzen in seinem Inneren hinzuweisen. Dieser vierte Teil ist nun der Methode gewidmet, wie ein solches Verstehen zustande kommen kann. Dies meint zuvorderst das Erleben und nicht lediglich das intellektuelle Nachvollziehen eines Gedankenganges, wie etwa den, dass der Götzendienst auch auf die Gläubigen angewandt werden kann, im Sinne der verborgenen Leidenschaften. In diesem Sinne bedeutet Hermeneutik für den Religionsbegriff bei Ibn ʿAǧība, auf das Verstehen einzugehen und darauf wie dieses zustande kommt sowie auf die Deutung und Interpretation des Gegenstands des Verstehens. Verstehen und Deuten sind in der Lehre, der Vermittlung von Religion, insbesondere auch durch das Zwischenmenschliche geprägt. Aus diesem Grund ist die Methode der Sufis abseits der textuellen, intellektuellen Ebene gewissermaßen mit der „prophetischen Erziehung“ (tarbiya nabawiyya) gleichzusetzen, womit das Erlernen der guten Charaktereigenschaften gemeint ist, die der Mensch in seinem Innern kultivieren soll. Es wäre ein Fehler, die išāra als bloße Textgattung zu ver1 Gril, „The Prophetic Model“, S. 86–7; Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 217–8.
216
4. Teil: Verstehen und Deuten
stehen, weil damit der eigentliche Zweck verfehlt würde. Als Textgattung wäre sie leicht zu verwechseln mit etwa den in der Rhetorik gebräuchlichen Tropen. Da die Methode der Sufis, um das richtige Verstehen von den Dingen zu erwirken, sich textuell mitunter im Stil unterscheidet, und um die Methode Ibn ʿAǧības dort richtig einordnen zu können, wird der Darstellung der išāra bei Ibn ʿAǧība ein Überblick über die Methoden früherer Gelehrter vorausgeschickt, angefangen mit der Methode der Salaf. Eine solche Geschichte der Theologie zur Legitimierung seiner eigenen Methode ist auch in Ibn ʿAǧības Werk vorhanden. Das erste Kapitel dieses Teils behandelt anschließend die išāra im Werk Ibn ʿAǧības, wie er sie von der Exegese unterscheidet, ihre Funktion in der Lehre und welche verschiedenen Formen der išāra bestehen. Der zweite Teil dreht sich sowohl um die nicht-textuelle išāra, den Hinweis, der das Verstehen des Herzens und damit die prophetische Erziehung ermöglicht, als auch um die Grenzen und Voraussetzungen der išāra.
4.1 Die Auslegung der Sufis (išāra) in der Geschichte der Theologie Die išāra ist an das innere Wissen (ʿilm al-bāṭin) geknüpft. Dieses wird durch die išāra in der Literatur der Sufis entweder implizit repräsentiert, wenn in einem Werk ausschließlich oder hauptsächlich Gegenstände im Fach Sufitum behandelt werden (wie beispielsweise Ibn ʿAǧības Kommentar zu den Ḥikam) oder explizit, wenn das Werk verschiedene Lehren umfasst und der Raum um die Dimension des Sufitums erweitert wird (wie beispielsweise sein Korankommentar). Das war nicht immer der Fall. Ähnlich wie im Fach Kalam wird, klärt Zarrūq auf, im Sufitum ein Unterschied zwischen der Lehre in der Frühzeit (der rechtschaffenen Salaf) und der Lehre der Nachfolgenden (der Ḫalaf ) angenommen.2 In der Frühzeit sei das innere Wissen beziehungsweise die Kenntnis von einer inneren Dimension unter den Menschen verbreitet gewesen, wie es etwa in der Exegese der Gefährten des Gesandten Gottes Muḥammad zur Geltung komme. Die Religion sei noch nicht durch die Wirren der äußeren Umstände erschüttert worden, sodass eine Aufteilung der Lehre in die verschiedenen Zweige notwendig gewesen wäre. Wie auch die Gefährten von der Figur des Propheten direkt lernten, lehrten sich die frühen Sufis untereinander im persönlichen Austausch.3 Aš-Šuštarī schreibt diesbezüglich, es bestehe Konsens darüber, dass die Gefährten des Propheten Muḥammad aufgrund ihres Wissens vom Jenseits solch großen Vorzug vor dem Rest der Muslime genießen, nicht aber aufgrund ihres Wissens von den Normen (aḥkām) und der Fatwa oder dergleichen. Beispiels2 Zarrūq, 3
ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 54–5. Ebenda, S. 55.
4.1 Die Auslegung der Sufis in der Geschichte der Theologie
217
weise wird über Abū Bakr, den ersten Kalifen, berichtet, dass ihm nicht etwa Vorrang vor anderen zukam durch vieles Beten, Fasten und Fatwas, sondern durch seine innere Achtung und Ehre (waqr).4 Schließlich fand in der formativen Phase, der Frühzeit, eine Ausdifferenzierung der Begriffe und Lehren statt, die, wie erwähnt auch das Sufitum erfasste. Erste deutliche Spuren der Auslegung durch išāra hinterlässt Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq (gest. 148/765), die von ʿAbd ar-Raḥmān as-Sulamī (gest. 412/1021) überliefert werden, der die direkte Wortbedeutung des koranischen Texts in seinen Aussprüchen als Anlass für weiterführende Hinweise nimmt. Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq schreibt zur Exegese allgemein: „Das Buch Gottes enthält vier Dinge: Den Ausdruck (ʿibāra), den Hinweis (išāra), Subtilitäten (laṭāʾif ) und Wirklichkeiten (ḥaqāʾiq). Der Ausdruck ist für die Allgemeinheit, der Hinweis für die Elite, die Subtilitäten für die Gotteskenner und die Wirklichkeiten für die Propheten.“5
Hier erscheint die išāra lediglich als zweite von vier Stufen des Verstehens, wobei es zu bedenken gilt, dass sich die Ausdrucksweise, die Begriffe der Gelehrten, wie sich noch zeigen wird, über die Jahrhunderte veränderte. Zunächst ist von Bedeutung, dass die išāra über dem einfachen Ausdruck des koranischen Textes steht, also ein erhöhtes Verstehen kennzeichnet. Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiqs Unterscheidung ist insofern von Relevanz, da die Menschen der These nach in der Frühzeit die Religion (dīn) als ein Ganzes betrachteten, das die innere Dimension selbstverständlich miteinschloss. Der Übergang von innerer und äußerer Dimension war fließend. In diesem ursprünglichen Sinne geht die išāra über die bloße Auslegung eines Textes hinaus und kann auf vielfältige Weise erfolgen. Sie taucht im Zusammenhang mit koranischen Ayas oder Hadithen auf, aber auch im Zusammenhang mit einfachen alltäglichen Handlungen, wie noch zu sehen sein wird, welche die äußere und innere Ebene in Beziehung zueinander setzen. In der Frühzeit des Islams, schreibt Ibn ʿAǧība, sei das innere Wissen leichter zugänglich und der Glaube lebendig durch die Anwesenheit der Gefährten und deren Nachfolger gewesen, welche die Religion in ihrer Gesamtheit erfassten und dieser Ausdruck durch Überlieferung und verschiedene Arten der išāra verliehen. Das ermöglichte einen Zugang zum Glauben für eine breite Masse an Menschen, da das Wissen (der Glaube) auf verschiedenste Weise gefunden werden konnte. Die Wirren des Diesseits aber, schreibt er, hinterließen Spuren und der Zugang wurde enger, was zur Folge hatte, dass ein großer Teil des inne4 Zitiert nach at-Tuǧībī, Al-ināla al-ʿalamiyya fī r-risāla al-ʿilmiyya fī ṭarīq al-mutaǧarridīn min at-taṣawwuf, S. 125. 5 Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq, Spiritual Gems. The Mystical Qurʾān Commentary Ascribed to Ǧaʿfar aṣṢādiq as contained in Sulamī’s Ḥaqāʾiq al-Tafsīr from the text of Paul Nwyia, Louisville KY, Fons Vitae, 2011, S. xxxi; vgl. auch Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 13.
218
4. Teil: Verstehen und Deuten
ren Wissens verloren ging, beziehungsweise die Menschen, die es beherrschten seltener wurden. Er zitiert al-Ǧunayd dazu, der berichtet: „Ich saß jahrelang mit Leuten zusammen, die sich über Lehren (ʿulūm) austauschten von denen ich nichts verstand und die ich nicht kenne. Ich wurde jedoch gar nicht geprüft sie zu negieren, vielmehr nahm ich sie an und liebte sie, ohne dass ich sie verstand.“6 Zarrūq schreibt, dass die Prophetengefährten das lebendige Vorbild des Propheten Muḥammad selbst vor Augen hatten, danach allerdings das prophetische Wissen langsam schwächer wurde. Aus diesem Grund wurde das innere Wissen in Form gegossen und das Sufitum entstand (taṣawwuf ), was allerdings mit einer gewissen Begrenzung des Wissens einherging, da von nun an sich seit dieser Zeit dieser Disziplin speziell gewidmet wurde, um höhere Stufen desselben zu erlangen.7 Alle Lehren der Theologie, kann hinzugefügt werden, entstanden auf diese Weise, sie kristallisierten sich aus dem Meer des prophetischen Wissens durch Tradition und Ausdifferenzierung heraus. Ibn ʿAǧība betont allerdings, dass unabhängig davon wie es sich mit dem Schwinden der inneren Lehren auch verhält, dennoch das Gute und das Wissen von der prophetischen Erziehung lebendig sein wird bis zum Ende der Tage und zitiert dazu einige Autoritäten der Šāḏiliyya. Auch wenn darüber ein Schleier liegen mag, der durch den Missbrauch von Wissen zustande komme.8 Hier distanziert er sich von falschen Auslegungen, die unter dem Namen des Sufitums vorgebracht wurden und die gewissermaßen noch immer der Grund sind, dass das innere Wissen aus dem Sichtfeld gerate. Zum Beleg führt er das Hadith des Propheten an: „Meine Gemeinde ist wie der Regen. Es ist nicht bekannt, ob sein Anfang besser ist oder das Ende.“9 Dieses Narrativ über das innere Wissen trifft sich mit bereits in dieser Studie erörterten Fragen: Es ist das Herz, welches den Locus für das nützliche oder wirkliche Wissen bildet und wodurch ein Mensch wissend genannt wird. Dieses Wissen ist das oberste der religiösen Lehren (ʿulūm ad-dīn), da, wie im Kapitel zu den Grundlagen (3.1) gezeigt wurde, es jeden Menschen betrifft ( farḍ ʿayn) und nicht wie viele andere Lehren nur einige wenige Personen ( farḍ kifāya). Das bedeutet, es ist theoretisch jedem zugänglich, unabhängig von seinem intellektuellen Stand. Das innere Wissen meint in diesem Zusammenhang die Verwirklichung der inneren Normen, wie der aufrechten Absicht, der Umkehr, der Liebe und der Demut sowie das Unterlassen von Neid, Frömmelei und Arroganz. Wenn dieser Weg anschließend bis zu einem bestimmten Grad begangen wurde, wird der Gläubige befähigt, durch das Mittel der išāra über die Religion 6
SHIF, S. 25 und vgl. S. 24–6.
7 Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 55–7; vgl. SHIF, S. 24–6; vgl. dazu auch den Brief von
Ibn ʿAbbād an aš-Šāṭibī, Ibn ʿAbbād, Letters on the Ṣūfī Path, S. 184–94. 8 SHIF, S. 26–7. 9 Ebenda; FI, S. 28; vgl. auch Zarrūq, ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 54–7; das Hadith u. a. überliefert bei Tirmiḏī, Abū Yaʿlā, Daraquṭnī, al-Ḫaṭīb, Ṭabarānī, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 177.
4.1 Die Auslegung der Sufis in der Geschichte der Theologie
219
und nunmehr über das Wissen unter Berücksichtigung aller Aspekte, die das Äußere und das Innere umfassen, zu sprechen.10 Anders ausgedrückt umfasst sein Wissen dann die verschiedenen Ebenen der Religion: Scharia, Weg und Wirklichkeit. Diese Schule ist es, die von der Šāḏiliyya weitergeführt wurde, wie im Kapitel zur Genese der Tradition Ibn ʿAǧības (2.3) gezeigt. Die Interpretation der Sufis, im Vergleich mit anderen Lehren, entzieht sich in gewisser Weise jedoch einer formalen, systematischen Überprüfung, dem normativen und intersubjektiv nachvollziehbaren Rahmen. Der dadurch entstehende Eindruck, dass die sufische Lehre sich einer Wissenschaftlichkeit entzieht und der damit einhergehende Vorwurf von der Willkür in der Auslegung der Texte und der Religion allgemein, ist durch die gesamte Geschichte der Islamischen Theologie hinweg zu finden. Insbesondere in der Koranexegese war die Sufi-Interpretation Gegenstand des Streits, wie Kristin Z. Sands beschreibt. Die Schwierigkeit bestand darin, zu unterscheiden, wer schlicht seine Meinung über ein Aya kundtue und wer tatsächlich fähig sei, die Religion auf richtige Weise zu vermitteln. Denn der Prophet sagte: „Wer auch immer über den Koran spricht, nach seiner persönlichen Meinung; lass ihn seinen Sitz im Höllenfeuer einnehmen.“11 Im Laufe der Geschichte wurden nach den ersten Generationen der Muslime verschiedene Schulen der Sufi-Auslegung bekannt und anerkannt. Al-Ġazālīs Antwort auf die Anschuldigung der Willkür war letztendlich die Aussage: „Die Abschaffung der äußeren Dinge ist die Meinung der Bāṭiniyya, die das bloße Augenmerk auf eine der beiden Welten legten und die kein Gleichgewicht zwischen den beiden Welten kannten. […] So, wie die Abschaffung der Geheimnisse die Schule der Ḥašwiyya darstellt. Es folgt daraus, dass wer das Äußere entblößt, der ist ein Ḥašwī und wer das Innere entblößt, der ist ein Bāṭinī und wer zwischen beiden vereint, der ist vollständig. Dies, da der Prophet sagte: ‚Der Koran hat eine äußere Bedeutung (ẓāhir) und eine innere (bāṭin), eine Grenze (ḥadd) und einen Ausgangspunkt (muṭṭalaʿ).‘12 […] Vielmehr sage ich, dass Moses aus dem Befehl, er solle die Schuhe ausziehen (vgl. Koran 20:12), verstand, die beiden Welten zu verlassen. Er kam dem Befehl nach im Äußeren, durch das Ausziehen seiner Schuhe und im Innern durch das Ausziehen aus den beiden Welten. Das ist Beherzigung (iʿtibār), d. h. das Überwechseln von einem Ding zum andern, vom Äußeren zum Kern.“13
Rhetorisch klug anhand zweier Extreme ausformuliert, beschreibt al-Ġazālī hier nichts anderes, als was Ibn ʿAǧība an vielen Stellen erwähnt; der verständige Mensch beherzigt beide Seiten, Inneres und Äußeres, nur dann stellt sich wirkliches Verstehen ein. Der göttliche Befehl an den Propheten Moses in der Sure 10
Vgl. FI, S. 130–2.
11 Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 47 und vgl. S. 47–50; das Hadith in Kanz: Abū Dawūd und
at-Tirmiḏī, Nr. 2958. 12 Kanz: Ṭabarānī, Nr. 3086; vgl. auch al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 1, S. 189. 13 Al-Ġazālī, Maǧmūʿat rasāʾil al-Imām al-Ġazālī, S. 302; vgl. auch an-Nābulusī, Al-wuǧūd al-ḥaqq wa al-ḫiṭāb al-ṣidq, S. 89; Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 61–2.
220
4. Teil: Verstehen und Deuten
Ṭāhā, er solle die Schuhe ausziehen, beinhaltet demnach mindestens zwei Ebenen. Äußerlich soll er die Schuhe tatsächlich ausziehen und innerlich sein Selbst allein auf Gott ausrichten. Der äußerliche Ausdruck (ʿibāra) steht nicht im Gegensatz zu der inneren Deutung (išāra), vielmehr ergänzen sie einander. Lange vor al-Ġazālī hatte Abū Naṣr as-Sarrāǧ beschrieben, was ein vertrauenswürdiger Sufi-Interpret des Korans niemals tun würde: Die Reihenfolge der Wörter im Koran ändern, Dienerschaft und Herrschaft in irgendeiner Art verwechseln und Wörter des Korans umgestalten.14 In der Frühzeit der Theologie, der formativen Periode, wurde in der Lesart späterer Sufis ein gewisser Konsens durch al-Ġazālī erzielt. Dieser formulierte eine Synthese zwischen akademischer Gelehrsamkeit, Pietät und Sufitum, die übergreifend akzeptiert wurde.15 Der späte al-Ġazālī, der sich maßgeblich dem Sufitum widmete, verwendete über die erwähnte Synthese hinaus eine Methode für die sufische Interpretation (išāra), die Sands unter dem Begriff „striking similitudes“16, ein Gleichnis geben (ḍarb al-miṯāl), zusammenfasst, wie sie im obigen Zitat zum Ausdruck kommt. Diese Methode ist nach dem koranischen Thema des Gleichnisses (maṯal) benannt, dem im Koran eine bedeutsame Rolle zukommt. Ein Gleichnis ist deshalb verständlich, weil der Mensch die beiden Welten, des Inneren und des Äußeren, des Körpers und der Seele, zu begreifen in der Lage ist und so kann von der einen auf die andere verwiesen werden.17 Es wird die eine Ebene mit der anderen „verglichen“, ganz im deutschen Wortsinne des Gleichnisses. Beispiele dafür wurden in den Kapiteln zur Dualität der Welt, dem Licht-Aya und der Liebe hinreichend gegeben (siehe 3.2.2). Ein prominentes Beispiel für die Interpretation durch išāra nach al-Ġazālī ist Ibn ʿArabī. Wie bereits erwähnt, war Ibn ʿArabī Anhänger der negativen Theologie und stand dem Kalam kritisch gegenüber, wenn damit die Vermittlung von Religion erfolgen sollte. Dies, da er die Rolle des Verstandes als der des Herzens untergeordnet verstand. In diesem Zuge stellt er auch die Exegese, die vornehmlich unter Zuhilfenahme des Verstandes geschieht, taʾwīl, unter die Exegese, die das Herz in den Mittelpunkt stellt. Damit wird der die Exegese der Sufis, zu der eigentlichen Interpretation, da diese umfassender ist.18 Da aber die Sufis mitunter von den „Gelehrten des Äußeren“ attackiert wurden, nannten einige ihre Auslegung tafsīr išārī, allegorische Exegese.19 Die Verwendung des Begriffs tafsīr išārī, der „allegorischen Exegese“ oder wörtlicher „verweisende Deutung“, ist vor allem durch die Gestalt des al‑Qušayrī (gest. 465/1074) bekannt, der den Begriff ausdrücklich für die sufische 14
Vgl. Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 35. Vgl. Karamustafa, Sufism. The Formative Period, S. 174. 16 Sands, S. 37. 17 Vgl. Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 37–9. 18 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 199–202. 19 Vgl. Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 40. 15
4.1 Die Auslegung der Sufis in der Geschichte der Theologie
221
uslegung der Quellen verwendet. Die Absicht al-Qušayrīs bestand darin, wie A Sands und Chiabotti schreiben, die Schule der Sufis zugänglicher zu machen und Systematik und Überprüfbarkeit zu generieren. Seine Vorgänger Sahl at-Tustarī (gest. 283/896) und as-Sulamī lesen sich gewissermaßen aus Perspektive des Intellektuellen schwieriger, weil bei ihnen weniger klare Sprache verwendet wird. Durch die „Wissenschaftlichkeit“ al-Qušayrīs wurde sein Werk im Allgemeinen nicht angegriffen sondern vielmehr zum Standard in der Disziplin des Sufitums späterer Jahrhunderte.20 Belege sind dafür Kommentare zu seinem Werk, wie etwa der Kommentar des Zakariyya al-Anṣārī (gest. 926/1520) zu seinem Sendschreiben.21 Jedoch, wie auch immer die Auslegung und Methode der Sufis beziehungsweise der Vorgang von išāra bezeichnet wird, es bleibt das Ringen um die Oberhand, die Frage, welche Art der Exegese höher zu gewichten sei. Der Hintergrund dafür ist die Gewissheit im Glauben. Die Schwierigkeit beim Verstehen der Theologie besteht allgemein darin, sich der Bedeutung einer Angelegenheit sicher zu sein. Daraus leitet sich der Anspruch auf die orthodoxe Meinung ab.22 Die Gelehrten des Kalam beziehungsweise der uṣūl sind sich wohl bewusst darüber, dass ihre Exegese immer auch ein Moment des Zweifels beinhaltet. Das wird für die Normen der Scharia offen mit dem Ausdruck vom „Überwiegen der Vermutung“ (ġalabat aẓ-ẓann) formuliert, die zur Gewissheit über eine Angelegenheit führen soll.23 Für den einflussreichen Kalam-Gelehrten Faḫr ad-dīn ar-Rāzī war streckenweise der Zweifel an der Meinung anderer sogar Voraussetzung für die Diskussion im Kalam.24 Der Sufi hingegen opponiert gegen diese Methode, da wahrer Glaube über den Zweifel erhaben ist beziehungsweise es das Ziel der Religion ist, diesen auszuräumen und Liebe und Erkenntnis zu erwirken. Insofern ist die richtige Auslegung, tafsīr, solcher Natur, dass sie den Glauben vermehrt, ohne gleichzeitig Zweifel zu sähen.25 Die Schwierigkeit, die sufische Auslegung nachzuvollziehen, besteht bis heute. Für den aktuellen Kontext schreibt Chittick dazu hinsichtlich der Auslegung des Korans bei Ibn ʿArabī:
20
Vgl. Chiabotti, Entre soufisme et savoir islamique, S. 582; Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 71. Muṣṭafā al-ʿArūsī, Natāʾiǧ al-afkār al-qudsiyya fī bayyān maʿānī šarḥ ar-risāla alQušayriyya, 4 Bde., Hg. ʿAbd al-Wāriṯ ʿAlī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007 (Superkommentar zu dem Kommentar des Zakariyya al-Anṣārī); siehe dafür auch Karamustafa, Sufism. The Formative Period, die Kapitel 2 „Mystics outside Baghdad“ und 3 „The spread of Baghdad Sufism“. 22 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 199–200. 23 Vgl. ebenda, S. 249. 24 Vgl. dazu Ayman Shihadeh, „The Mystic and the Sceptic in Fakhr al-Dīn al-Rāzī“, in Sufism and Theology, Hg. Ayman Shihadeh. 25 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 200–5. 21 Vgl.
222
4. Teil: Verstehen und Deuten
„It is not uncommon for contemporary scholars to criticize Ibn al-ʿArabī or other Koran interpreters for reading the Koran out of context. But the context of a text is defined by oneʼs own understanding of the textʼs limitations and horizons. Ibn al-ʿArabī had many good reasons for claiming that ‚Every existing thing finds in the Koran what it desires.‘ (III 94.2). Modern scholars find historical and literary contexts, and traditional Muslims find the speech of God, escaping all human attempts to delimit and define it.“26
Zwischen Ibn ʿArabī und Ibn ʿAǧība liegen über fünf Jahrhunderte. Wie in den Kapiteln zur Tradition Ibn ʿAǧības (2.3) und zu den textuellen Quellen (3.1.2.4) dargestellt, versteht sich die Šāḏiliyya in Teilen als in Ibn ʿArabīs Tradition befindlich. Wie jedoch verhielt sich Ibn ʿAǧība dazu, wie beschreibt er die Methode durch išāra? Das soll in den folgenden Kapiteln schrittweise erörtert werden. Dass er die Ansätze verschiedener Gelehrter in sein Werk einfließen ließ, wurde bereits an verschiedenen Stellen aufgegriffen; so dienen ihm etwa al-Qušayrī, alĠazālī und Zarrūq als Basis, Ibn ʿArabīs Tradition als Inspiration und aš-Šuštarī, Ibn al-Fāriḍ und die anderen Šāḏilī-Gelehrten sind Vorbild für Sprache und Systematik.
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība „Unsere Lehre ist gänzlich išāra“27 – Ibn ʿAǧība –
Die Auslegung der Sufis von der Religion zielt darauf ab, dem Menschen die tiefere Bedeutung eines Sachverhalts zu eröffnen, um ihm auf diese Weise etwas von der Religion zu vermitteln. Wie im vorigen Kapitel zur Geschichte der Auslegung der Sufis gesehen, ist der Terminus für diesen Vorgang der Auslegung variabel und nicht vordergründig von Bedeutung. Ob von Gleichnis (ḍarb almiṯāl) die Rede ist, von Interpretation oder von tafsīr išārī, gemeint ist damit die Methode zu interpretieren, durch die das Verstehen des Herzens gefördert wird. Die išāra verweist auf die Wirklichkeiten hinter den greifbaren, offensichtlichen Dingen, auf die Zusammenhänge in der Welt, von einer Ebene auf die andere, von Innen auf Außen und vice versa – auf die Manifestationen Gottes.28 In der Interpretation durch išāra wird das Erleben des Individuums in den Mittelpunkt gestellt und nicht die intellektuelle Debatte wie im Kalam. Mit dem Fokus auf dem Einzelnen kann die Interpretation auch gleichzeitig von der textuellen Haftung gelöst werden, die im Sufitum durch die Definition von Wissen durch „Wissen und Handeln“ generell lediglich als Stütze dient. Die Interpretation im Sufitum beansprucht ein umfassendes Wissen von der Religion, das erst durch das Meistern der obersten Stufe vollständig wird und diese Stufe ist der 26
Ebenda, S. 242. SBMS, S. 310; TW, S. 36. 28 Vgl. IH, S. 198–202. 27
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
223
Raum der išāra. Ibn ʿAǧība bringt das in seinem Werk oft mit der Aussage zum Ausdruck: „Unsere Lehre ist gänzlich išāra“ (ʿilmunā kulluhū išāra).29 Umfassend ist die Interpretation des Sufis, da es die beiden Stufen davor, miteinschließt und im Sinne des Gabriel-Hadith die höchste Form des Verstehens bietet: „Die Lehre des Sufitums (ʿilm at-taṣawwuf) ist der Herr der Lehren und ihr Oberhaupt, sie ist Quintessenz der Scharia und ihr Fundament. Wie sollte es nicht so sein, wo sie doch Erklärung (tafsīr) ist für die Stufe des iḥsān, der Stufe des Schauens und des Zeugnisses. Wie auch die Lehre des Kalam (ʿilm al-kalām) Erklärung ist für die Stufe des īmān und die Lehre des Fiqh Erklärung für die Stufe des islām. Alle diese [Stufen] wurden zusammenfassend im Hadith des Gabriel, der Frieden sei mit ihm, erwähnt. Und wenn feststeht, dass sie die vorzüglichste Lehre ist, wird deutlich, dass die Beschäftigung damit das Beste ist, womit sich Gott dem Erhabenen genähert werden kann, aufgrund der dadurch zu erhaltenden besonderen Erkenntnis. Es ist die Erkenntnis des Schauens.“30
Zu Ibn ʿAǧības Methode, die sufische Auslegung theoretisch zu rechtfertigen, sie aus den Quellen abzuleiten und einen Rahmen zu definieren, kann gesagt werden, dass sie sich im Allgemeinen nicht von den Methoden der großen Vorbilder und Vorgänger im Sufitum unterscheidet. Mitunter wurde angenommen, Ibn ʿAǧības Methode unterscheide sich maßgeblich von der Ibn ʿArabīs und neige sogar etwa der Avicennas zu.31 Wie im Kapitel zu Kalam und Sufitum (3.2) gezeigt, bekennt sich Ibn ʿAǧība jedoch an vielen Stellen zu Ibn ʿArabī und dessen Schule und distanziert sich tendenziell von der Avicennas. Das Ziel der Sufis hinsichtlich der Interpretation bleibt, trotz unterschiedlicher theologischer Verfahren die Methode zu beschreiben, dasselbe, wie Sands ihren Vergleich der verschiedenen Methoden der Sufis abschließt: Zwar unterscheide sich der Stil der Gelehrten, ihre hermeneutische Basis, ihre Grundannahmen zur Religion und den darin enthaltenen Ebenen; das tiefergehende Verständnis, das vermittelt werden soll, bleibt jedoch dasselbe.32 Wie Michon schon festgestellt hat, ist der Stil der išāra in Ibn ʿAǧības Werk nah an dem al-Qušayrīs angelehnt, sowohl was die Fachbegriffe betrifft, als auch den Stil im tafsīr Al-baḥr al-madīd.33 Auffällig ist die Verwendung des Begriffs tafsīr išārī oder kurz išāra, was auch der Wortwahl al-Qušayrīs für die sufische Auslegung entspricht.34 Dieser Begriff geht auf die koranische Geschichte der Maria zurück.35 Dort wird der Begriff išāra im Sinne eines Hinweises oder 29
Beispielsweise TW, S. 36. MT, S. 1. 31 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 261. 32 Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 40, 136–9. 33 Michon, Le Soufi, S. 148–51 und 166–71; Chiabotti, Entre soufisme et savoir islamique, S. 336. 34 Vgl. ʿAbd al-Karīm al-Qušayrī, Laṭāʾif al-išārāt, 3 Bde., Hg. ʿAbd al-Laṭīf ʿAbd ar-Raḥmān, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2015. Die Interpretation auf der Ebene des Sufitums wird oft klar mit dem Wort išāra gekennzeichnet. 35 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 246. 30
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4. Teil: Verstehen und Deuten
Verweises an einer Stelle genannt. Die Jungfrau Maria bringt ihren Sohn, den Propheten Jesus, zu den Leuten, die daraufhin sprechen: „Sie sagten: ‚O Maria, begangen hast du eine Sache, eine unerhörte‘“ (K 19:27), woraufhin sie (mit der Hand) auf ihn, das Jesuskind in der Wiege, zeigte: „Da zeigte sie auf ihn“ ( fa ʾašārat ilayhī. Koran 19:29). Und eben im doppelten Sinne, getreu dem Prinzip der išāra, deutet schon al-Qušayrī das Aya: äußerlich habe sie auf ihr Kind gezeigt, innerlich verwies sie jedoch auf Gott.36 Das arabische Wort išāra kennt viele Bedeutungen, die letztendlich alle ein interaktives Element beinhalten. So heißt es etwa, das ureigentliche Verb dazu (šāra von š-a-r) bedeute, den Honig (aus der Bienenwabe) zu sammeln. Ebenso wurde das Verb verwendet, um auszudrücken, dass etwas vorgezeigt wird, wie etwa Vieh auf dem Markt. Im Verbstamm des besagten Substantivs išāra, dann ʾašāra (a-š-a-r), drückt es einen Hinweis oder Verweis, ein Zeigen oder Aufzeigen aus, wenn etwa jemand mit der Hand in einem bestimmten Kontext auf etwas verweist, um eine Handlungsanweisung zu geben oder etwas aufzuzeigen. Zudem wird das Verb metaphysisch abstrahiert verwendet, um einen Ratschlag mitzuteilen, wie es schließlich auch in der Verwendung des Substantivs šūrā, der Beratschlagung, zur Anwendung kommt.37 Als Vertreter der späten Phase der Theologie waren Ibn ʿAǧība die Methoden der früheren Gelehrten, die sufische Auslegung methodologisch darzulegen, bekannt. An verschiedenen Stellen seines Werkes diskutiert er verschiedene Herangehensweisen. Die wohl am deutlichsten forcierte Begründung ist die Nennung des Gabriel-Hadith, mit dem Verweis, wie oben im Zitat, dass alle drei Stufen der Religion bei ihrer Auslegung berücksichtigt werden müssen. Daraus ergibt sich die Folgerung: „Wer über die Normen des islām spricht, wird Faqīh genannt, wer über die Normen des īmān spricht, wird Uṣūlī genannt und wer über die Normen des iḥsān spricht, wird Sufi genannt.“38 Und die Lehre der Sufis besteht aus išāra – wer über das Sufitum spricht, tut dies durch das Mittel der išāra. Hier wird, wie in den Kapiteln zu den Grundlagen und Quellen des Sufitums (3.1) bereits dargelegt, die išāra systematisch als Methode in den Kanon der theologischen Methoden eingefügt. An einer Stelle in al-Futūḥāt al-ilāhiyya (FI) geht Ibn ʿAǧība auf Einwände von Seiten der Kritiker des Sufitums ein und sagt, dass prinzipiell auch Belege für tiefere Bedeutungen durch den äußeren Wortlaut eines Ayas (ẓāhir al-āya) durch ein Gleichnis bestünden.39 Beispielsweise in den folgenden Ayas: Im Aya über das Licht (K 24:35), bereits im vorigen Teil (3.2.2.2) behandelt und in dem 36 Al-Qušayrī,
Laṭāʾif al-išārāt, Bd. 2, S. 240. Vgl. Muḥammad Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, Hg. ʿAlī al-Kabīr u. a., Kairo: Dār al-Maʿārif, 1981, S. 2356–8; Edward Lane, Arabic-English Lexicon, 8 Bde., Beirut: Libraire du Liban, 1968, Bd. 4, S. 1616. 38 FI, S. 66–7. 39 Ebenda, S. 329–30. 37
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
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Aya, als Gott den Propheten anspricht mit den Worten: „Wahrlich, die dir huldigen, huldigen Gott. Die Hand Gottes ruht über ihren Händen“ (K 48:10). Die historische Begebenheit erzählt, dass der Gesandte Gottes seine Hand während des Bundes, den er den Gefährten abnahm (bayʿat ar-riḍwān), über die Hand des jeweiligen Gefährten legte. Dieser koranische Vergleich, schreibt Ibn ʿAǧība, deutet auf die Vereinigung, die durch die Nähe zu Gott zustande kommt.40 Dass Gott Seine Hand mit der des Propheten vergleicht, ist für sich genommen höchst erstaunlich und kann gewissermaßen nicht als einfache Metapher abgetan werden, so die Argumentation. Das Aya verweist zudem auf ein anderes, wie Ibn ʿAǧība in seiner Koranexegese erklärt, in dem Gott den Propheten direkt anspricht: „Nicht du hast geworfen, als du geworfen, sondern Gott hat geworfen“ (K 8:17). Unter Hinzuziehung des Hadith qudsī, dass, wenn sich der Diener seinem Herrn durch die Pflichten, die Sunna und freiwilligen Gottesdienst annähere, dieser sein Hören, sein Sehen und seine Hand sei,41 entsteht schließlich die Vereinigung der Ebenen, auf die verwiesen wird. Das Gleichnis deutet nicht einfach auf Gott als Ursprung aller Dinge und Schöpfer aller Handlungen, sondern darüber hinaus auf die Nähe des Propheten Muḥammad zu Gott, auf die Reinheit seines Herzens, auf den Propheten als Gotteskenner (ʿārif bi-Llāh).42 Der Vergleich oder das Gleichnis ist unter der Annahme von den komplementären Ebenen von „Außen und Innen“ oder „Greifbarem und Bedeutung“ zu verstehen. So deutet laut Ibn ʿAǧība, um ein weiteres Beispiel anzuführen, der äußere Wortlaut des Ayas: „Er ist der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene“ (K 57:3) ebenfalls auf eine tiefere Bedeutungsebene.43 Auch Faḫr ad-dīn ar-Rāzī sieht in dem arabischen Wortlaut eine besondere Herausforderung für die Exegese.44 Erst der Gedanke, dass das Göttliche sich zwischen den Gegensätzen offenbart, verdeutlicht die Aufzählung. Der Verstand kann die Gegensätze nicht vereinen, lediglich feststellen, dass es tatsächlich so ist und den Wortlaut abstrahieren; Gott ist aus der Perspektive des Kalam unzweifelhaft offenbar und verborgen zugleich, da Er der Schöpfer im absoluten Sinne ist, auch jeglichen Anfangs und Endes, ja Er ist der Erste und Eine und der Letzte im Sinne des Ewigen und er macht die Dinge offenbar und verbirgt sie, wenn Er will. Dann allerdings, folgt man dieser Argumentation, wäre der Gehalt des Ayas, wie einige Gelehrte erwiderten, nicht besonders.45 Denn diese Botschaft ist überhaupt zentral im Koran und in gewisser Weise nichts Neues. Wird das Aya jedoch als Hinweis verstanden, eröffnet sich eine andere Perspektive, aller40
BM, Bd. 7, S. 140. Der Beleg für dieses Hadith wurde bereits angeführt. 42 BM, Bd. 7, S. 140–1. 43 Ebenda, S. 322. 44 Ar-Rāzī, Mafātīḥ al-ġayb, Bd. 29, S. 210–5. 45 Vgl. ebenda, S. 215. 41
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4. Teil: Verstehen und Deuten
dings muss dafür auf die Ebene des Sufitums gewechselt werden. In der išāra Ibn ʿAǧības zu diesem Aya wird die Aufzählung dieser Eigenschaften als Hinweis verstanden, dass das Herz des Menschen als Locus für das innere Wissen fähig ist, die Gegensätze in sich zu vereinen, wie im Kapitel über die Dualität in der Welt (3.2.2.1) dargelegt. Gott weist den Menschen auf die Dualität, die Gegensätze in der Welt hin, die letzten Endes auf die Einheit Gottes deuten.46 Wie Sufis vor ihm war sich Ibn ʿAǧība darüber bewusst, dass die Interpretationen mancher Stellen in den Augen mancher der „Gelehrten des Äußeren“ befremdlich wirken können, da die išāra mitunter zwei weit entfernte Bedeutungen miteinander in Beziehung setzt, den Wortlaut und die išārī-Bedeutung, die aufgezeigt wird; beispielsweise wenn die Kaaba als Herz des Menschen interpretiert wird47 oder das Wasser als das Wissen des Herzens.48 Aus diesem Anlass führt auch er, wie viele Sufis, die Argumentation durch das Hadith zu den verschiedenen Ebenen des Korans an. Es ist in verschiedenen Varianten überliefert. Der Prophet al-Muṣṭafā sagte: „Der Koran hat eine äußere Bedeutung (ẓāhir) und eine innere (bāṭin), eine Grenze (ḥadd) und einen Ausgangspunkt (maṭlaʿ).“49 Dieses Hadith erlaubt es dem Interpreten, darauf zu verweisen, schreibt er, dass es für jedes Aya viele Bedeutungen gibt, die von dem überlieferten, historischen Anlass abweichen, wie es die vier Begriffe im Hadith anklingen lassen (Darauf wird in einem folgenden Kapitel genauer eingegangen). Die Sufis bestätigen die überlieferten historischen Darstellungen, verweisen jedoch darauf, dass alle Dinge je nach Perspektive mehrere Bedeutungen bergen können. Insofern stellt die Auslegung der Sufis keine Exegese im herkömmlichen Sinne dar, sondern Hinweise (išāra) auf weitere Bedeutungen.50 Diese Argumentation erinnert erneut an den Ansatz al-Qušayrīs, der durch die schlichte Umbenennung der sufischen Interpretation in „Hinweis“ (išāra) erzielte, dass seine Auslegung als mögliche Methode Anerkennung fand. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ibn ʿAǧība letztendlich wie Ibn ʿArabī der Meinung war, dass die Auslegung der Sufis die höchste Form der Interpretation darstellt und jedoch nicht alle Menschen fähig sind, diese auf die richtige Weise zu verstehen.51 Ibn ʿAǧība benennt den Unterschied im Stil oder der Herangehensweise klar und deutlich: Ibn ʿArabīs oder auch aš-Šuštarīs Ansatz war deshalb der Kritik ausgesetzt gewesen, weil sie offen ausgesprochen haben (ʿibāra), was sie in der Welt des Inneren gesehen hatten. Andere, wie asSakandarī hatten ihre Erlebnisse verschleiert und nannten es Hinweise (išāra), 46
BM, Bd. 7, S. 322. Vgl. BM, Bd. 2, S. 225. 48 Vgl. ebenda, S. 375. 49 Das Hadith ist in verschiedenen Varianten überliefert, etwa Kanz: Ṭabarānī, Muslim, Nr. 3086; zu den verschiedenen Varianten des Hadith vgl. Sands, Ṣūfī Commentaries, S. 8–12. 50 Vgl. IH, S. 449. 51 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 246–7. 47
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
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was sie weniger angreifbar machte. Richtig liegen sie laut Ibn ʿAǧība jedoch alle.52 Der Stil, die gewählte Sprache, führt zu dem nächsten Thema, das eine prominente Stellung einnimmt: die Sprache der Sufis, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausbildete. 4.2.1 Die Sprache der Sufis Die Fachbegriffe der Sufis (iṣṭilāḥāt aṣ-Ṣūfiyya) sind ein wichtiges Mittel, um die Lehre der Sufis zu erfassen. Sie sind, wie in anderen Fächern, wichtig für die Verständlichkeit und dienen darüber hinaus, wie im Kapitel zur Dualität der Welt (3.2.2.1) erörtert, zur Darlegung und Verdeutlichung theologischer Annahmen. Werke zu den sufischen Fachbegriffen wurden schon recht früh in der Geschichte der Islamischen Theologie verfasst. Michon gibt einen umfassenden Überblick zur Entwicklung der Fachbegriffe, angefangen mit al-Ḥallāǧ (gest. 309/922) und as-Sarrāǧ aṭ-Ṭūsī (gest. 378/988), über al-Qušayrī und Ibn ʿArabī, hin zu al-Ǧurǧānī und Ibn ʿAǧība. Die Begriffe wurden über die Jahrhunderte ausdifferenziert und je nach Tradition unterschiedlich verwendet.53 So taucht beispielsweise der Begriff ṭarīqa zwar bei al-Qušayrī im Kapitel zur Scharia und ḥaqīqa auf, steht aber weniger im Vordergrund. Bei Ibn ʿAǧība dagegen stellt er einen eigenen Begriff dar. Ebenfalls bilden sich etwa die Begriffspaare ḥiss und maʿnā (Greifbares und Bedeutung) sowie ḥikma und qudra (Weisheit und Macht) später heraus.54 Al-Ǧurǧānī definiert den „Fachbegriff “ oder „Terminus“ (iṣṭilāḥ) folgendermaßen: „Der Fachbegriff ist der Ausdruck für einen Konsens einer Gruppe von Personen über die Benennung einer Sache durch einen Namen, was ihn aus seiner ursprünglichen Stelle befördert. Der Fachbegriff ist das Hervortreten des Ausdrucks aus einer sprachlichen Bedeutung, hin zu einer anderen, aufgrund einer Verbindung zwischen den beiden. Es wird gesagt, der Fachbegriff ist der Konsens einer Gruppe durch das Festsetzen eines Ausdrucks bezüglich der Bedeutung. Es heißt, der Fachbegriff ist das Hervortreten einer Sache aus einer sprachlichen Bedeutung, hin zu einer anderen, um das Gemeinte zu verdeutlichen. Es wird außerdem gesagt, der Fachbegriff ist ein spezieller Ausdruck unter einer besonderen Gruppe von Personen.“55
Ibn ʿAǧības Lexikon zu den Fachbegriffen der Sufis (Miʿrāǧ at-tašawwuf ilā ḥaqāʾiq at-taṣawwuf ) basiert in weiten Teilen auf dem Sendschreiben (risāla) al-Qušayrīs sowie einigen anderen nachfolgenden Werken und stellt gewissermaßen eine Aktualisierung des vorhandenen Erbes dar.56 Am Anfang des Lexikons beschreibt Ibn ʿAǧība den Grund für das Verfassen eines solchen Werkes, 52
SNS, S. 72. Le Soufi, S. 166–71. 54 Vgl. ebenda, S. 166. 55 Al-Ǧurǧānī, Taʿrīfāt, S. 13. 56 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 162–72. 53 Michon,
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4. Teil: Verstehen und Deuten
nämlich, wie bei al-Ǧurǧānī im Zitat oben zu sehen, die Übereinkunft über Begrifflichkeiten im Fach: „Es [das Sufitum] umfasst besondere Wirklichkeiten und feine Ausdrücke, zu deren Anwendung die Sufis übereingekommen sind. Wer es drum anstrebt, darin einzutauchen, muss deren Bedeutungen ergründen und seine [des Sufitums] Bedeutungen erfassen.“57
Aus Sicht der normativen Theologie sind die Fachbegriffe der Sufis, wie schon im Kapitel zum Monismus beschrieben, teils unverständlich und können mitunter häretisch erscheinen, wenn der Interpret keine ausreichende Kenntnis über sie besitzt. So ist etwa das Ankommen (wuṣūl) des Menschen bei Gott durch seinen Weg nicht wörtlich zu verstehen, da ein Ankommen einen Ort und einen Zeitpunkt beschreibt, was für Gott unmöglich ist. Vielmehr ist das Ankommen in der Sprache der Sufis von dem so oft im Koran genannten Bild vom Wege des Menschen abgeleitet und meint ein Wissen über Gott. Aus Sicht des Sufitums ist, schreibt Ibn ʿAǧība, die Interpretation des Sufis spezieller und feiner als die des Koranexegeten (mufassir) oder Hadith-Gelehrten, da der Sufi sich mit Blick auf das Individuum der nicht begrenzten Seite der Religion zuwendet und der Exeget wie auch der Hadith-Gelehrte der begrenzten.58 Unbegrenzt ist der Ausdruck des Sufis insofern, da er auf die menschliche Erfahrung beziehungsweise seine innere Erfahrung (ḏawq) zurückgeht, deren Grundlage die Basis des Sufitums bildet – die Ausbildung des Charakters durch die Beschäftigung mit den Werten und inneren Normen wie etwa der lauteren Absicht, der Integrität, der Liebe, der Umkehr und dem Gottvertrauen. Um diesen Werten wirklich gerecht zu werden, argumentiert Suʿād al-Ḥakīm, müsse die Sprache gänzlich ausgeschöpft werden und könne nicht auf eine Lehre begrenzt bleiben.59 Das ist nur richtig und konsequent, da, wie in einem folgenden Kapitel noch gezeigt werden soll (4.2.4), die išāra auf alles in der Theologie angewendet werden kann. Das Innere des Menschen steht mit allem, was äußerlich ausgedrückt werden kann in Verbindung. In gewisser Hinsicht sind die Fachbegriffe selbst Hinweise (išāra), da sie Ausdrücke der Erlebnisse der Sufis sind. Sie „sind Benennung dessen, was ihre Seelen erfuhren, ihr Innerstes schmeckte, von der Glorie des Wirklichen und Seiner Majestät.“60 Das Wort išāra ist ja selbst nicht wörtlich zu verstehen, sondern dient im eigentlichen Wortsinn als Verweis auf eine innere Angelegenheit. Dennoch bildet die išāra in Textform eine Metapher oder ein Gleichnis, wie wenn das Wirken Gottes in der Welt koranisch mit dem Licht umschrieben wird. Sprachlich existiert ergo ein Überschneidungspunkt mit anderen Lehren. 57
MT, S. 213. TF, S. 55. 59 Al-Ḥakīm, Al-muʿǧam aṣ-Ṣūfī, S. 15–20. 60 IH, S. 455. 58
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
229
Es kann demzufolge gefragt werden, welcher Unterschied zwischen der sufischen Auslegung und dem Begriffspaar al-ḥaqīqa wa l-maǧāz (Wirklichkeit und Metapher), das etwa in der Koranwissenschaft auftaucht, besteht. Das ist insofern von Interesse, weil aus dieser Perspektive die sufische Auslegung kritisiert wurde. In der Normenlehre beziehungsweise in den Lehren, in denen Methoden diskutiert werden (den uṣūl) spielen die Rhetorik, die Sprachwissenschaft, die Etymologie und kontextbezogen das Wissen von den Tropen (hier ʿilm al-bayān) eine bedeutende Rolle, um wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit und möglichst hohe Evidenz der theologischen Auslegung im Fiqh oder im Kalam o. a. herzustellen. Auch Ibn ʿAǧība führt zu den Voraussetzungen für den Exegeten des Korans das Wissen über die Sprachwissenschaft an. Wer sich im Bereich des Textes ausdrücke, müsse sich an gewisse Regeln halten.61 Bei den Begriffen al-ḥaqīqa wa l-maǧāz (Wirklichkeit und Metapher) handelt es sich um einen Diskurs, bei dem nach der ursprünglichen Bedeutung eines Wortes gefragt wird und danach, inwiefern diese Bedeutung verworfen werden kann, um dem Wort selbst eine andere Bedeutung zu geben. Das ist der Fall, wenn beispielsweise ein mutiger Mann als Löwe bezeichnet wird. Im Koran findet sich dazu unter anderen das Aya: „Frage die Stadt“ (K 12:82). Hier wird die Präposition „in“ ausgespart, sodass der Eindruck entstehen kann, die Stadt selbst solle gefragt werden. Rhetorisch wird damit ausgedrückt, dass „in der Stadt“ nachgefragt werden solle, ergo die Menschen in der Stadt. Das stellt die einfache Form der Metapher dar.62 Das Begriffspaar Wirklichkeit und Metapher dient im Fach der Methodenlehre der Rechtsfindung (uṣūl al-fiqh), der Bestimmung der Bedeutung eines Begriffes und dient somit letztendlich der Ableitung der Normen.63 In der Koranexegese werden derlei Vorgänge etwa zur Offenlegung der eigentlichen Bedeutung des Textes hinsichtlich der Rhetorik des Korans verwendet. Dabei werden alternativ die Begriffe tašbīh/maṯal (Vergleich oder Übertragung) oder istiʿāra (Sinnbild oder Metapher) angewandt.64 Im Kalam werden bezüglich der Begriffe Wirklichkeit und Metapher (alḥaqīqa wa l-maǧāz) die Bedeutung der Attribute und Eigenschaften Gottes diskutiert, inwiefern diese metaphorisch zu verstehen sind und welche die Wirklichkeit ist, die dem zugrunde liegt.65 Koran: „Der Barmherzige lehrte den Koran, Der erschaffen den Menschen, ihn gelehrt die Rede“ (K 55:1–4). In der 61
TF, S. 58. beispielsweise ʿAbd ar-Raḥmān al-Banānī, Ḥāšiyat al-ʿallāma al-Banānī ʿalā šarḥ al-Ǧalāl al-Maḥallī ʿalā matn Ǧamʿ al-ǧawāmiʿ, 2 Bde., Hg. Muḥammad Šāhīn, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2013, Band 1, S. 475–80; ar-Rāzī, Mafātīḥ al-ġayb, Bd. 18, S. 194. 63 Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Al-mustaṣfā min ʿilm al-uṣūl, 2 Bde., Hg. Muḥammad Tāmir, Kairo: Dār al-Ḥadīṯ, 2011, Bd. 2, S. 30–2. 64 Vgl. TF, S. 58–9; BM, Bd. 6, S. 378–82. 65 Vgl. etwa an-Nābulusī, Al-fatḥ ar-rabbānī, S. 151–4; aṣ-Ṣāwī, Aḥmad: Ḥāšiyat aṣ-Ṣāwī ʿalā ǧawharat at-tawḥīd, S. 103–12. 62 Vgl.
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4. Teil: Verstehen und Deuten
Lehre des Kalam wird betont, dass die „Rede“ (bayān) oder Ausdruckskraft des Menschen, die dem Menschen gelehrt wurde, sich von der göttlichen Wirklichkeit unterscheidet. Wenn es nun im Hadith lautet „Wahrlich, Gott erschuf Adam nach Seinem Bilde“66, stellt das laut an-Nābulusī eine Metapher dar und keine Wirklichkeit (ḥaqīqa). Die Worte, die der Prophet Muḥammad überbrachte, sind, führt er aus, Wahrheiten, deren wahre Bedeutungen sich bei Gott befinden. Er erschuf den Menschen, wie im Hadith mit arabischen Worten ausgedrückt, „nach Seinem Bilde“, dies ist jedoch metaphorisch zu verstehen; Er erschuf ihn nicht nach Seinem wirklichen Bilde.67 Zu dem Namen des „Barmherzigen“ führt Ibn ʿAǧība in der Beschreibung des Ayas 55:14 aus: „Wisse, dass der ‚Barmherzige‘ (ar-Raḥmān) zu den besonderen Namen des erhabenen Wesens zählt. Mit ihm kann kein anderer bezeichnet werden, außer der Erhabene. Nicht im Sinne einer Wirklichkeit (ḥaqīqa) und nicht im Sinne einer Metapher (maǧāz), da dies mit der Wohltat etwas zu erschaffen einhergeht, was niemandem außer Ihm zugeschrieben werden kann. Anders verhält es sich mit dem ‚Erbarmer‘ (ar-Raḥīm), da dies mit der Wohltat der Unterstützung einhergeht und möglich ist, anderen als Ihm, dem Erhabenen, metaphorisch zuzuschreiben.“68
Es ist möglich, die Auslegungen der Sufis auf ihre Form hin zu untersuchen. So können manche Auslegungen (išāra) sprachlich als Gleichnis identifiziert werden, wie etwa der koranische Vergleich, wie er im Aya des Lichts (K 24:35) genutzt wird. Oder auch als Metapher (oder andere Trope), Entlehnung oder Allegorie (maǧāz, maǧāz ʿaqlī, istiʿāra, kināya usw.).69 Hussein Akash führt länger aus, wie die Auslegung der Sufis entweder einen Tropus bildet oder unter Rückbezug auf die lexikalische Bedeutung eines Wortes erfolgt oder semantische Erweiterungen vorgenommen werden, um auf etwas hinzuweisen.70 Derlei Überlegungen sind sprachlich theoretisch relevant, spielen aber im Sufitum prinzipiell keine Rolle. Die sprachliche, textuelle Analyse trägt nicht zum besseren Verständnis der išāra im Sinne des Sufitums bei. Das tatsächliche Anliegen, das Ibn ʿAǧība mit ihr verfolgt, ist ein anderes. Denn wird das Herz in die Interpretation miteinbezogen, verliert die Metapher oder das Gleichnis ihren theoretischen Charakter. Das eigentliche Ziel der Verwendung der išāra ist es, das Herz anzusprechen und damit die Bedeutungen der religiösen Lehre auf einer tieferen Ebene zu erfassen, als es der Verstand vermag. Auf dieser Ebene spielt die Rhetorik keine Rolle, zur išāra fähig ist auch ein Mensch, der des Le66 Überliefert bei Muslim, Buḫārī und Aḥmad, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 1, S. 336. In einer Variante „… nach dem Bilde des Barmherzigen.“ 67 Vgl. an-Nābulusī, Al-fatḥ ar-rabbānī, S. 152. 68 BM, Bd. 7, S. 278. 69 Vgl. ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 315–37. 70 Hussein Ali Akash, Die sufische Koranauslegung. Semantik und Deutungsmechanismen der išārī-Exegese, Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 2006, S. 75–91.
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
231
sens und Schreibens unkundig ist. Die eigentliche Bedeutung der sufischen Auslegung liegt in der lebendigen Vermittlung. Dieser Gedanke führt wieder zurück zur Ausgangsfrage, was išāra im Unterschied ist, verglichen mit der üblichen Wortbedeutung, die allgemein bekannt ist oder mit einer einfachen Geschichte, die erzählt wird, die ebenfalls voller Andeutungen auf Weisheiten sein kann. 4.2.2 Ausdruck (ʿibāra) und Hinweis (išāra) Die Interpretation von Religion, maßgeblich des Korans, bedarf Weite und Flexibilität, um allen Menschen gerecht zu werden. Die Methode der Sufis durch die išāra sucht eben das zu ermöglichen. Steht die intellektuelle Diskussion im Vordergrund, sind die Interpretationsmöglichkeiten durch die Anzahl der Aussagen und die Grenze des Verstandes limtiert. Religion als Rechtleitung im umfassenden Sinne wird erst ermöglicht, wenn innere und äußere Ebene zusammen betrachtet werden. Im Zusammenhang mit den äußeren und inneren Lehren führt Ibn ʿAǧība aus diesem Grund in seinem methodologischen Werk zur Koranexegese (TF) zu Anfang das Aya an: „Nichts ließen Wir im Buche aus“ (K 6:38). Sowie das Hadith: „Es versteht der Mensch erst wirklich, wenn er im Koran viele Aspekte sieht.“71 Im Folgenden fügt er einige Interpretationen des Hadith von früheren Gelehrten und Sufis an: „Der Koran hat eine äußere Bedeutung (ẓāhir) und eine innere (bāṭin), eine Grenze (ḥadd) und einen Ausgangspunkt (maṭlaʿ).“72 Diese Interpretationen liefen darauf hinaus, schreibt er, dass die äußere Bedeutung eines Ayas die sprachliche Bedeutung meine oder die historische Erzählung und die innere die Auslegung dessen. Und die Grenze weise auf die Grenze der Sprache hin, während der Ausgangspunkt „das Schauen des Sprechers über ein Aya hinaus“73 darstelle. Damit sei gemeint, dass sich dem Rezitator während des Lesens die göttlichen Manifestationen offenbarten; Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq sagte: „Gott manifestiert sich für Seine Diener in Seiner Rede, aber sie sehen es nicht.“74 Es ist insbesondere die Verbindung der Ebenen, die im Hadith über die verschiedenen Bedeutungen erwähnt werden, die dem Menschen einen Zugang zur prophetischen Botschaft ermöglicht. Aus diesem Grund sollte die išāra nicht als bloße literarische Textgattung verstanden werden, die den Leser oberflächlich erfreut, sondern stellt vielmehr die Deutung eines heiligen Textes oder einer anderen Angelegenheit für das Herz dar. Das ist mit dem Ausspruch aṣ-Ṣādiqs gemeint, die Menschen würden nicht sehen, wenn sie nur bei dem äußeren 71 TF, S. 51; das Hadith ist bei az-Zabīdī als Rede des Prophetengefährten Abū d-Dardāʾ aufgeführt. Weitere Varianten bei Abū Nuʿaym und Ibn ʿAbd al-Barr. Manche Varianten gehen auch auf den Propheten Muḥammad zurück, vgl. az-Zabīdī, Itḥāf as-sādat al-muttaqīn, Bd. 5, S. 130–7. 72 Beleg für das Hadith bereits an früherer Stelle aufgeführt. 73 TF, S. 52. 74 Ebenda.
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4. Teil: Verstehen und Deuten
Schein verblieben. In diesem Sinne verbindet die išāra zwischen einem historischen Anlass, der die äußere Bedeutung beschreibt und der Offenbarung oder Botschaft, die für alle Menschen offen ist.75 Das Erleben oder Schauen der göttlichen Manifestationen nun befähigt den Menschen ab einem bestimmten Punkt auf dem Weg der Erkenntnis, die tieferen Bedeutungen eines Ayas zu erkennen. Dabei wird der Schritt vom Ausdruck (ʿibāra) zum Hinweis (išāra) vollzogen. Dies geschieht, wenn eine Information mitgeteilt wird, diese jedoch eine verborgene Bedeutung enthält, die nur dem Rezipienten zugänglich ist, der sein Herz dafür öffnet. Um diesen zentralen Gedanken darzustellen wiederholt Ibn ʿAǧība das folgende Muster an verschiedenen Stellen seines Werkes. Es stellt ein wichtiges Moment dar, um dem Leser die Ebenen zu verdeutlichen, die in der Sprache enthalten sind. Das Muster ist, vom sprachlichen Ausdruck (ʿibāra) zur sufischen Auslegung (išāra) überzuwechseln beziehungsweise von einer auf die andere Ebene zu verweisen. Vom Äußeren auf das Innere zu deuten oder von der Form auf den Inhalt. Die Darstellung erfolgt nicht immer nach dem gleichen Muster, sondern ist auf das entsprechende Werk zugeschnitten. Handelt es sich etwa um Koranexegese, betont er das komplementäre Begriffspaar, dass die Religion sich in eine äußere und eine innere Dimension unterteile und die išāra die Möglichkeit bietet die innere zu beschreiben. Dies, da die Koranexegese eine sehr umfassende Lehre ist, die einen möglichst offenen und abstrakten Rahmen bedingt.76 In den Ausführungen zum Schicksal (SD) betont er wiederum den Aspekt von Macht und Weisheit (ḥikma und qudra) hinsichtlich der išāra, da dieser Aspekt eine inhaltliche Schnittmenge mit dem Kalam aufweist.77 Der Kommentar zu den Ḥikam schließlich ist ein Werk, das nur sufische Inhalte behandelt und lässt aus diesem Grund mehr als einen der Aspekte zu.78 Das Muster: Im Kommentar zu den Ḥikam unternimmt Ibn ʿAǧība drei Schritte, um die verschiedenen Ebenen zu beschreiben: Ausdruck (ʿibāra), Hinweis (išāra) und symbolische Geste (ramz). Die išāra sei klarer und deutlicher als der sprachliche Ausdruck, wobei die symbolische Geste (ramz) aus Sicht des Sufitums einen Gegenstand noch genauer beschreibe, da sie am weitesten vom Äußeren entfernt liege.79 Die išāra ist deswegen genauer als der sprachliche Ausdruck, weil sie nicht lediglich eine weiterführende Erläuterung eines Gegenstandes anbietet. Auf der Ebene des Ausdrucks, der in diesem Sinne alle äußeren Lehren einschließt, findet etwa die Diskussion statt, in welchem Kontext ein koranisches Aya ent75
Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 217–8. TF, S. 55–62. 77 SD, S. 270. 78 Siehe zu den verschiedenen Bezeichnungen der äußeren und inneren Ebene das Kapitel „Die Dualität der Welt“, 3.2.2.1. 79 IH, S. 198. 76
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
233
standen ist (asbāb an-nuzūl), welche grammatische Lesart vor diesem Hintergrund vorzuziehen ist und schließlich, welche Normen sich unter Berücksichtigung der uṣūl daraus ableiten. Der Ausdruck bezeichnet die Ebene der äußeren Lehren, die auf die Sinne und das Begreifen des Verstandes zurückgehen.80 Die išāra hingegen weist dem Aya darüber hinaus eine Bedeutung zu, die den Leser oder Rezipienten mit einbezieht und in direkte Beziehung setzt. Liest der Gläubige beispielsweise die Geschichten über die Mekkaner und deren Götzendienst, weiß er, dass historisch damit die Mekkaner, die Gegner des Propheten gemeint sind. Für ihn selbst spielt das keine Rolle auf der äußeren Ebene. Für sein Herz kann es jedoch eine bedeutende Rolle spielen, wenn die Anweisung, den Götzendienst zu unterlassen mit der Läuterung des Selbst erklärt wird.81 Unter Hinzuziehung dieses Gedankens wird es erst möglich, dass alles im Koran Erwähnung findet (vgl. Koran 6:38). Dieser Übergang von der äußeren Wortbedeutung des Götzendienstes (širk) etwa zur Läuterung des Herzens von den schlechten Eigenschaften stellt keine Leugnung des äußeren Wortlautes dar. Die äußere Bedeutung bleibt erhalten. Allerdings „versteht der Mensch erst wirklich, bis er im Koran viele Aspekte sieht“, wie es im bereits erwähnten Hadith heißt. Schon as-Sakandarī schreibt, wie Ibn ʿAǧība anführt, dass wenn argumentiert wird, eine allegorische Auslegung stelle eine Abänderung der Rede Gottes dar, dies in der Auslegung der Sufis nicht der Fall sein kann. Es wäre der Fall, sollte jemand behaupten, die sufische Auslegung wäre die einzig richtige Bedeutung. Das wäre dann eine Abänderung der Rede Gottes.82 Der sufische Hinweis ist in dem Sinne genauer als der Ausdruck oder die äußerliche Interpretation, da er gewissermaßen ein „fließendes Verstehen“ ermöglicht, das sich nicht auf eine oder einige wenige Disziplinen beschränkt, wie etwa, wenn Sprachwissenschaft und Hadith für die Interpretation eines Ayas angewandt werden. Die išāra besitzt den ursprünglichen Anspruch, der nur den Glauben im Fokus hat und sich von der rationalen Ebene abhebt. Das kommt in der dritten genannten Ebene, der symbolischen Geste, genauer zum Ausdruck. Die symbolische Geste (ramz), schreibt Ibn ʿAǧība, ist eine verborgene Angelegenheit, die zwischen den Geliebten stattfindet, wie es beispielsweise im Hadith auftaucht: Der spätere zweite Kalif, ʿUmar Ibn al-Ḫaṭṭāb, berichtet: „Der Gesandte Gottes sagte zu Abū Bakr aṣ-Ṣiddīq: ‚Ich möchte dich zu etwas einladen.‘ Dieser erwiderte: ‚Und was ist das, o Gesandter Gottes?‘ Worauf er antwortete: ‚Es ist dieses!‘ Und der Prophet wies auf eine Sache hin, die niemand außer den beiden kannte.“83 Das verhält sich so, da wenn Nähe, Liebe und Vertrauen zwischen zwei Menschen herrscht, es keiner Absprache und keines äußerlichen 80
Vgl. TF, S. 51–5. Vgl. BM, Bd. 4, S. 365. 82 TF, S. 55. 83 IH, S. 198; das Hadith wird erwähnt bei ʿAlī Burhān ad-dīn al-Ḥalabī, As-Sīra al-ḥala81
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4. Teil: Verstehen und Deuten
Ausdrucks bedarf. Es ist bekannt, was der andere will. In dieser Situation wäre es müßig, dem anderen mit Worten etwas zu erklären und genauso verhält es sich ebenfalls mit dem Menschen auf dem Weg zur Erkenntnis. Je näher er dem Ziel rückt, desto deutlicher erscheint ihm der Weg und er wird zunehmend unabhängiger von den gesprochenen Worten, von der äußerlichen Ebene. Diese Begebenheit zeigt außerdem die Wichtigkeit des Zwischenmenschlichen des Vorgangs der išāra auf. Die Vermittlung von religiösen Inhalten und auch von Wissen allgemein besitzt verschiedene Stufen. Die Menschen wiederum unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, mit dem Herzen zu verstehen. So besitzt die išāra keine Bedeutung für die Ignoranten, schreibt Ibn ʿAǧība, die nichts außer dem äußerlichen, sprachlichen Ausdruck kennen. All jene, die sich am Beginn des Weges der Sufis befinden, verstehen die wahre Bedeutung eines theologischen Gegenstands, wenn sie die išāra hören. Eine dritte Gruppe wiederum vernimmt sie und ihr Verständnis befindet sich jedoch schon näher an der wahren Bedeutung als es die išāra zu zeigen vermag. Diese letzte Gruppe bedarf der išāra nicht mehr, da sie sich bereits dort befinden, von wo aus sie gegeben wird.84 Die Frage danach, wer die sufische Auslegung versteht, führt schließlich zum Zweck der išāra. Der eigentliche Zweck ist, den Menschen zu Gott zu rufen oder anders ausgedrückt, den Menschen dort hinzuführen, dass er in die Lage versetzt wird, zur wirklichen Erkenntnis gelangen zu können – der Erkenntnis des Herzens. Die išāra ist für die „Hungrigen“, die nach „Nahrung“ suchen, wie es Ibn ʿAǧība ausdrückt.85 Die išāra ist ein Wegweiser für den Reisenden zu Gott. Je schärfer er mit den Augen seines Herzens zu sehen vermag, desto besser findet er den Weg, desto mehr schaut er von den göttlichen Manifestationen in der Welt, die sich in den Gegensätzen offenbaren. Der Scheich Ibn Mašīš sagte zu seinem Aspiranten aš-Šāḏilī: „Schärfe die Sicht des Glaubens [al-īmān] und du findest Gott in allen Dingen. Bei allen Dingen und mit allen Dingen. Vor allen Dingen und nach allen Dingen. Über allen Dingen und unter allen Dingen. Nahe zu allen Dingen und alle Dinge umfassend. […]. Und ausgelöscht wird alles durch Seine Eigenschaften, des Ersten und Letzten, des Äußeren und Inneren. Und Er, Er ist Er. Es war Gott und kein Ding war mit Ihm und Er ist in diesem Moment wie Er immer schon war.“86
4.2.3 Die Funktion der išāra auf dem Weg – Zeichen und Wegweiser Wie im vorigen Kapitel dargelegt, besteht die Methode der išāra darin, von einer Ebene auf die andere zu verweisen oder auch den Weg zu weisen. Das Motiv, den Weg durch Hinweise oder Zeichen zu weisen, zählt zu den grundlegenden biyya, 3 Bde., Hg. al-Ḥāǧ Manṣūr Aḥmad, Ägypten: Maṭbaʿat al-ʿĀmira, 1292 n. H. (1876), Bd. 1, S. 198. 84 IH, S. 199–201. 85 Ebenda, S. 201. 86 Ebenda, S. 73–4.
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
235
Motiven des Korans. Die Ayas stellen eben solche Zeichen für den Menschen dar. Ein Aya beziehungsweise (arab. für) Zeichen kann auf vielfältige Weise verstanden werden. Einerseits ist ein koranisches Aya ein Vers im Buch des Korans. Andererseits stellt ein Aya auch ein Zeichen in der Welt und im Menschen selbst dar, wie es im Koran unablässig betont wird. Etwa: „Wir werden sie sehen lassen Unsere Zeichen (āyātinā) an den Horizonten und in ihnen selbst“ (K 41:53). Das Erkennen der Zeichen deutet darauf, den Schöpfer, den Wirklichen als wahrhaftige Ursache hinter allem zu erkennen. Das, schreibt Ibn ʿAǧība, könne in Form der Herzenserkenntnis stattfinden wie es die Worte „in ihnen selbst“ beschreiben oder durch das Verstehen „an den Horizonten“, was auf die Methode der Belege des Verstandes hinweise.87 Aus dieser Perspektive sind die Ayas Ausdruck für die göttlichen Manifestationen in der Welt und im Menschen. Je schärfer die Augen des Herzens des Gläubigen sehen, desto mehr der Zeichen oder Manifestationen Gottes vermag der Mensch in der Welt zu erkennen. Anders ausgedrückt, je lauterer das Herz des Menschen, umso klarer spiegeln sich darin die göttlichen Lichter. Sieht er mit seinem Herzen, schaut er die Zeichen des Göttlichen überall in der Welt. Das wurde bereits im Kapitel zum Wirken Gottes in der Welt behandelt. Die Ayas im Koran sind andererseits mit der richtigen Auslegung der Religion verbunden. Das Aya über die Ayas selbst bildet dafür einen Schlüssel: „Er ist es, der herabgesandt auf dich die Schrift, in ihr sind eindeutig klare Zeichen (āyāt muḥkamāt) – sie sind die Mutter der Schrift – und andere mehrdeutige (āyāt mutašābiha). Diejenigen die abweichen in ihrem Herzen, folgen dem, was in ihr mehrdeutig, im Streben nach Zwietracht und nach Deutung. Doch ihre Deutung weiß keiner außer Gott und diejenigen, die im Wissen tief gegründet (ar-rāsiḫūn fī l-ʿilm), sie sagen: ‚Wir glauben daran. Alles hat seinen Ursprung bei unserem Herrn.‘ Nur die lassen sich ermahnen, die bei Verstand sind“ (K 3:7).
Wie Sands konkludiert, waren die meisten Gelehrten und Sufis auf dem Standpunkt, dass die „eindeutig klaren Zeichen“ all jene Zeichen meinen, die für die gesamte Menschheit verständlich sind, während die „mehrdeutigen“ Zeichen für jene gedacht sind, „die im Wissen tief gegründet“ sind, ob nun auf der Ebene des Kalam oder des Sufitums.88 Ibn ʿAǧība drückt es auf folgende Weise aus: Die eindeutigen Zeichen (āyāt muḥkamāt) sind vor falscher Interpretation durch Klarheit des Ausdrucks geschützt. Die mehrdeutigen Zeichen (āyāt mutašābiha) können einerseits falsch gedeutet werden, von denen, deren Herzen eine der Wahrheit entgegengesetzte Neigung und Zweifel aufweisen. Andererseits können sie auch von denen gedeutet werden, die ihr Herz geläutert haben und so im Wissen tief gegründet wurden (ar-rāsiḫūn fī l-ʿilm). Ihr Herz ist im Einheitsglauben verankert und sie sind fähig, das Mehrdeutige richtig zu verstehen 87
BM, Bd. 6, S. 371. Ṣūfī Commentaries, S. 17, 28.
88 Sands,
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4. Teil: Verstehen und Deuten
und auszulegen. Sie verstehen, wie die Vielheit in der Welt auf die Einheit Gottes zurückgeht, dass alles seinen Ursprung bei Gott hat.89 Das befähigt sie, die Religion individuell zu vermitteln. Dieser Gedankengang führt erneut zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem, der die išāra gibt, und dem Rezipienten. Wie im Kapitel zur Šāḏiliyya gezeigt wurde, spielt dieses Element eine entscheidende Rolle, insbesondere in der Linie der Darqāwiyya, der Tradition Ibn ʿAǧības. Vimercati Sanseverino fasst es zusammen, wenn er schreibt, dass Ibn ʿAǧība in seinen Erläuterungen auf der Ebene der išāra nach dem Fokus auf das Herz oft direkt auf den Meister, den Scheich, zu sprechen kommt.90 Einen Schwerpunkt auf den Gotteskenner, den Scheich, zu legen, ist nach dem prophetischen Vorbild aus der Perspektive der Sufis nur folgerichtig (vgl. dazu auch das Aya K 3:7). Der Koran wurde nicht ohne den Propheten Muḥammad als Vorbild und ersten Interpreten gesandt. Es war gewissermaßen der Wille Gottes, die Ebene des Zwischenmenschlichen zu betonen. In diesem Sinne ist die išāra der spezielle Ruf zu Gott, d. h. sie ermöglicht es dem Suchenden, die Zeichen in sich selbst zu finden, sich selbst zu finden (vgl. Koran 41:53). Der Gotteskenner gibt dem Suchenden den Hinweis, der gerade in seiner Lage, auf seiner Wegstation auf dem Weg von Bedeutung ist. Der Suchende, wenn er sein Herz durch Läuterung vorbereitet, erkennt die auf Gott deutenden Zeichen und Hinweise, wie die Dinge in seinem Inneren mit der Schöpfung in Verbindung stehen. Aus dieser Perspektive trifft die Aussage zu: „Wer sich selbst erkennt, der erkennt seinen Herrn.“91 Die Zeichen deuten auf die Vereinigung der Ebenen, darauf, dass alles seinen Ursprung bei Gott hat. So deutet laut Ibn ʿAǧība etwa das Bestehen der Seele im Körper auf Gott. Sie habe keinen Ort im Körper und auch wie sie sich darin befindet, sei unbekannt, dennoch befinde sie sich im ganzen Körper. Ebenso verhalte es sich mit dem Wirklichen; auch „Er ist an jedem Ort präsent und doch erhaben über Ort und Zeit.“92 Die göttliche Ordnung spiegelt sich im Menschen, der Makrokosmos im Mikrokosmos. Auf die Spitze getrieben wird die Metapher des Zeichens als Wegweiser im Menschen, der zur Deutung der Religion fähig ist. Dieser Mensch kann mit dem Aya gleichgesetzt werden. Wie die Zeichen, die Ayas, sich im Koran befinden, befinden sie sich auch in der Welt. Der im Wissen fest gegründete Gotteskenner 89
BM, Bd. 1, S. 287–90; TW, S. 52–3; IH, S. 201. Vimercati Sanseverino, Expérience initiatique, (1), S. 165. 91 Vgl. FI, S. 370; das Hadith bei al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 234. Al-ʿAǧlūnī argumentiert dort: Wenn auch die Überliefererkette dieses Hadith keinen Bestand hat, ist es dennoch inhaltlich richtig laut u. a. as-Suyūṭī und Ibn ʿArabī. Das Hadith wird auch von al-Māwardī in einer anderen Variante überliefert. Die Prophetenfrau ʿĀʾiša erzählt, dass der Prophet gefragt wurde: „Wer von den Menschen kennt Gott am besten (man aʿraf an-nās bi-Rabbihī)?“ Er antwortete: „Wer sich selbst am besten kennt (aʿrafuhum bi-nafsihī).“ 92 FI, S. 371. 90
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
237
deutet nun die Zeichen im Koran und in der Welt durch seine Schau der göttlichen Manifestationen und wird damit selbst zu einem Wegweiser, einem Zeichen.93 Dass die Zeichen einerseits im Koran und andererseits in der Welt und schließlich sogar als Mensch auftauchen können, lenkt die Aufmerksamkeit noch einmal auf die verschiedenen Formen der išāra. 4.2.4 Verschiedene Formen der išāra Wie bereits an diversen Stellen aufgetaucht ist, bestehen verschiedene Formen oder Erscheinungsweisen der išāra. Es wurde erwähnt, dass išāra textuell und nicht-textuell erfolgen kann, also textuell oder zwischenmenschlich. Auf die išāra als zwischenmenschliches Element wird in den folgenden Kapiteln zur Vermittlung durch išāra (4.3) noch genauer eingegangen. Wenn die textuelle Form betrachtet wird, kann išāra dem Anspruch nach, die Beziehungen der Dinge zueinander zu erklären, auf alles angewendet werden. Dahingehend wird in diesem Kapitel eine Darstellung einiger Formen der išāra aus den Werken Ibn ʿAǧības vorgenommen. Der Rahmen, in dem sie erfolgt, unterscheidet sich nach der jeweiligen Disziplin, wie etwa tafsīr, Fiqh oder Sprachwissenschaft. Die išāra ist für Ibn ʿAǧība, wie schon erwähnt, nicht lediglich eine literarische Gattung, sie steht vielmehr für die Perspektive aus der Herzenserkenntnis heraus – das Wissen der Sufis ist „gänzlich išāra.“94 Die Zeichen Gottes sind überall zu finden in der Welt, infolgedessen kann die išāra alles beschreiben und findet sich in allen Disziplinen, die ja Teilaspekte des Seins beleuchten. Im Laufe der Studie sind bereits einige Formen der išāra zum Tragen gekommen. Erwähnt wurde Ibn ʿAǧības Herangehensweise in der Koranexegese, die išāra getrennt von der sprachlichen, theologischen und historischen Ebene zu behandeln. Auch erwähnt wurde, dass die Ausdeutung des Gabriel-Hadith, wenn etwa übertragen auf die Stufen der Gewissheit (yaqīn), selbst išāra darstellt. Ebenso kann die išāra ein Hadith betreffen oder Gedichte oder Ereignisse im alltäglichen Leben; da dem Verstehen des Menschen auf der Herzensebene durch die göttlichen Manifestationen aus einer bestimmten Perspektive keine Grenzen gesetzt sind, ist auch der Rahmen der išāra nicht begrenzt. Natürlich ist das Verstehen des Menschen begrenzt, potentiell jedoch ist es unendlich, da Gott sich dem Menschen auf unendliche verschiedene Weisen eröffnen kann. Bezüglich der Verwendung im Fiqh sind die Verse des Gedichts von alǦunayd ein bekanntes Beispiel, zu denen Ibn ʿAǧība einen kleinen Kommentar verfasste. al-Ǧunayd sagte:
93 94
Vgl. BM, Bd. 2, S. 121; BM, Bd. 1, S. 116. Vgl. etwa SBMS, S. 310.
238
4. Teil: Verstehen und Deuten
„Verrichte das wuḍūʾ mit dem Wasser des Verborgenen, so du ein Innerstes besitzt – Wenn nicht, verrichte das tayammum mit Erde oder Stein. Wähle einen Imam, dem du zuvor Imam warst – Und bete das Morgengebet zu Anfang des Nachmittags [oder der Zeit; al-aṣr]. Dies ist das Gebet der Wissenden von ihrem Herrn – So du von ihnen bist, bewässere das Land mit der See.“95
Ibn ʿAǧība erläutert zum ersten Vers: Es existieren zwei Arten von Reinheit (ṭahāra). Eine äußerliche, greifbare und eine innere, seelische, wobei die innere die größere ist und auf die Reise zu Gott verweist. Der wahrhaft Gläubige sucht mithin vor allem die innerliche Reinheit durch Abkehr von sündhaften Handlungen und allen Dingen, die vor seinem inneren Auge groß erscheinen neben dem Herrn. Dadurch wird er befähigt, mit seinem Herzen zu glauben. Dies nach dem Aya, wenn das Gebet (und damit das wuḍūʾ), der Glaube an das Verborgene und die Gewissheit des Menschen zusammenfallen: „Alīf Lām Mīm. Dies die Schrift, darin kein Zweifel, Rechtleitung für die Gottesfürchtigen, die glauben an das Verborgene, verrichten das Gebet und von dem spenden, was ihnen beschert, und die an das glauben, was auf dich herabgesandt und was vor dir herabgesandt, und die gewiss sind übers Jenseits. Sie werden rechtgeleitet von ihrem Herrn und sie sind es, denen es wohl ergeht“ (K 2:1–5).96
Der Imam, der im zweiten Vers gewählt werden soll, ist der Prophet, schreibt Ibn ʿAǧība, im umfassenden Sinne, als Richtschnur und Vorbild, wie es sich in Koran und Sunna wiederfindet.97 Der Mensch, wenn er sich in Rebellion (maʿṣiya) gegenüber dem Schöpfer befindet, hält sich selbst für den Imam. Sich am Propheten auszurichten bedeutet seinem Ruf zu folgen. Das Morgengebet (al-faǧr) steht laut Ibn ʿAǧība für den Menschen in seiner Jugend, während der Nachmittag oder die Zeit (al-ʿaṣr) das Alter symbolisiert. Damit soll ausgedrückt werden, dass die Anbindung an den wahren Glauben von hoher Dringlichkeit ist, da niemand wissen kann wann er sterben wird und es zu spät für die Umkehr auf den rechten Weg sein könnte. Das Land im dritten Vers schließlich, symbolisiert die Scharia, die durch das Wasser der See oder des Meeres der Wirklichkeit (ḥaqīqa) bewässert wird.98 Die išāra auf der Ebene des Kalam wird verwendet, um etwas zu verdeutlichen, wie es etwa der Fall ist mit Schicksal und Bestimmung. Der Glaube an das Schicksal verweist auf der sufischen Ebene auf die Seelenruhe. Gleichermaßen ist die Lehre von der Einheit (tawḥīd) an die Schau der göttlichen Manifestationen in der Welt geknüpft. Diese beiden Themen werden im folgenden Teil 5 ausführlich behandelt. 95
SATH, S. 321. Ebenda, S. 322. 97 Vgl. Koran 3:31. 98 SATH, S. 326. 96
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
239
Bezüglich der Sprachwissenschaft verbindet Ibn ʿAǧība die Regeln der Grammatik mit den Regeln, die die Herzen verbinden. Die Definition von Rede (kalām) etwa lautet bei Muḥammad Ibn Āǧurrūm (gest. 723/1323): „Die Rede ist zusammengesetzter Ausdruck, der durch Setzung Sinn ergibt.“99 In der išāra Ibn ʿAǧības heißt es dazu: „Die Rede bei den edlen Leuten [den Sufis] ist zusammengesetzter Ausdruck bezüglich des Gesagten und des Zustands“100 – sodass die Rede auf Gott verweise, denn das Gesagte müsse den Zustand des Gegenübers miteinbeziehen.101 Zu dem Abschnitt über Subjekt und Prädikat schreibt er, dass die Substantive im Nominativ auf die Namen Gottes deuten. „Die Erscheinungsformen der Implikation [oder Spur; aṯar], die da die Manifestationen des Wirklichen sind, deuten auf die Existenz der Namen und die Namen deuten auf die Existenz der Eigenschaften. Die Eigenschaften deuten wiederum auf die Existenz des Wesens in den Manifestationen, da die Eigenschaft sich nicht von ihrem Besitzer löst. Auf diese Weise deutet das Erscheinen dieser Welt auf den Vermögenden (al-Qādir), der sie durch Sein Vermögen in Erscheinung treten lässt und der Vermögende wiederum deutet auf das Bestehen des Vermögens durch Ihn hin. So deutet das Vermögen auf die Existenz des Wesens in diesen Manifestationen, da die Eigenschaft untrennbar ist von ihrem Besitzer. Wenn die Eigenschaften in Erscheinung treten, tritt das Wesen in Erscheinung und wenn das Wesen in Erscheinung tritt, treten die Eigenschaften in Erscheinung. Das ist die Bedeutung, wenn gesagt wird: ‚Das Wesen ist die Essenz der Eigenschaften‘, das bedeutet, sie sind eng verbunden in Erscheinung und Manifestation.“102
Aus diesem Gedanken, wie bereits im Kapitel zu Kalam und Sufitum (3.2.1) erörtert wurde, resultiert, schließt Ibn ʿAǧība, dass das handelnde Subjekt auf der Ebene der Wirklichkeit (ḥaqīqa) Gott ist. So ist das Subjekt vor allen Dingen Gott und das Prädikat sind die Manifestationen, die durch das Erscheinen Seiner Spuren in der Welt in Erscheinung treten.103 Die Liste der Beispiele für die verschiedenen Formen der Verwendung und Anwendungsgebiete der išāra ließe sich fortsetzen. Die išāra schafft ein Verbindungsglied aller Dinge insofern, als sie Kommunikation zwischen den Ebenen ermöglicht. Dass in den Regeln der Grammatik Hinweise auf die göttlichen Manifestationen zu finden sind, erscheint oberflächlich betrachtet weit hergeholt. Unter der Annahme, dass die Manifestationen in allen Dingen zu erkennen sind, ist es jedoch vielmehr eine Notwendigkeit, dass auch dort ein Hinweis auf das Göttliche und eben Seine Spuren entdeckt werden können. Schon al-Qušayrī hatte im 5./11. Jahrhundert einen solchen Kommentar verfasst, Naḥw al-qulūb (Die Grammatik der Herzen), in dem er die Grammatik 99
FQ, S. 204. Ebenda, S. 206. 101 Ebenda, S. 206–7. 102 Ebenda, S. 271. 103 Ebenda, S. 272. 100
240
4. Teil: Verstehen und Deuten
der Sprache mit dem Wirken Gottes in der Welt in Beziehung setzt. Im Vergleich erscheint hier wieder die Nähe der Herangehensweise oder des Stils von Ibn ʿAǧība zu al-Qušayrī.104 So verschiedentlich die Formen der išāra ausfallen und so vielfältig ihre Anwendungsgebiete sein mögen, bleibt ihr Ziel doch ein einziges: den Menschen Hinweise auf dem Weg zu geben, wodurch es ihm ermöglicht wird, die Wirklichkeiten hinter den Dingen zu erkennen. Auch wenn sich die Erscheinungsformen auf den verschiedenen Ebenen unterscheiden, die išāra bedarf der Differenzierung oder Begrenzung nicht, der andere Lehren unterworfen sind, da sie die Bedeutungsebene (maʿnā) der Dinge im Kosmos beleuchtet, die unendlichen Charakter besitzt, im Gegensatz zu den greifbaren Dingen (ḥiss), die begrenzt sind.105
4.3. Vermittlung und Rahmen der išāra In diesem Kapitel wird der Blick auf die Lehre und Vermittlung von beziehungsweise durch išāra gerichtet sowie auf die Rahmenbedingungen, die damit einher gehen. Wurde die išāra bisher tendenziell als Methode für die Interpretation beleuchtet, wird in diesem Kapitel die Auswirkung auf den Menschen ins Auge gefasst, das individuelle Verstehen, das laut Ibn ʿAǧība vor allem im Zwischenmenschlichen zu verorten ist. Wie die Sufis oft betonen, Ibn ʿAǧība bildet keine Ausnahme, liegt ihr Wissen gerade nicht in den Büchern verborgen, sondern ist bei lebendigen Personen zu finden. Folgerichtig liegt in der Betrachtung der menschlichen Ebene ein wichtiger Schlüssel für das richtige Verständnis der išāra. Das richtet den Fokus erneut auf den Perspektivenwechsel, den Ibn ʿAǧība in seinen Werken oft vollzieht. Manchmal beschreibt er die Auslegung der Sufis durch allgemein theologische Mittel für die Aspiranten, die Suchenden, unter Hinzuziehung eines bestimmten Maßes an Nachvollziehbarkeit, wenn es etwa um einfache ethische Fragen geht. Um die išāra und das damit einhergehende Verstehen des Herzens jedoch darüber hinaus zu beschreiben, bedarf es der Perspektive des Gotteskenners, des Meisters oder Scheichs, der von dem Prozess des Verstehens berichtet, den er gemeistert hat. Der Meister erklärt dem Aspiranten den Weg, ergo ist die išāra, wie bereits im Kapitel zu dem aus dem Gabriel-Hadith abgeleiteten Stufengebilde behandelt wurde, immer auch die Interpretation dessen, der den Gegenstand des Sufitums gemeistert hat, sein Selbst; wie auch der Faqīh Recht und Ritus, das fiqh, gemeistert hat und im Anschluss daran es zu erläutern in der Lage ist. 104 ʿAbd al-Karīm al-Qušayrī, Naḥw al-qulūb. Aṣ-ṣaġīr wa l-kabīr, Hg. Aḥmad al-Ǧandī, Kairo: Dār al-Kutub wa l-Waṯāʾiq al-Qawmiyya, 2008. 105 Vgl. TW, S. 42.
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
241
Um sich dem Themenkomplex der Vermittlung durch išāra, der Lehre, zu nähern, werden drei Schritte unternommen. Im ersten Schritt wird die Herleitung des Verstehens des Herzens, die Meditation und Einsicht ( fikra und naẓra), beschrieben – wie wird das Verstehen ausgelöst, wie geschieht išāra oder besser woher stammt sie? Im zweiten Schritt wird die prophetische Erziehung (tarbiya nabawiyya) beleuchtet und dem Aspekt der lebendigen Weitergabe von Wissen Raum gegeben. Im dritten Schritt wird der Blick auf die Grenzen und Voraussetzungen für die Interpretation der Sufis gerichtet. 4.3.1 Die Meditation des Herzens ( fikra) – die unendlichen Bedeutungen der Dinge „Meditation ist das Wandern des Herzens in den göttlichen Manifestationen.“106 – Ibn Aǧība –
Welche ist die Kraft, die zur išāra befähigt? Allgemein geht die išāra von dem Wissenden in der Disziplin Sufitum aus. Insbesondere jedoch die Sehkraft des Herzens ermöglicht dem Menschen entweder sie zu verstehen oder schließlich selbst zu geben. Um diese Kraft zu verstehen, ist es nötig einen Aspekt aufzugreifen, der bisher noch nicht ausreichend zur Sprache gekommen ist – die Meditation beziehungsweise die Einsichtnahme durch das Herz. Die Begriffe Meditation ( fikra) und Einsicht (naẓra) beleuchten laut Ibn ʿAǧība den Aspekt, wenn das Herz die göttlichen Manifestationen schaut oder sich in ihnen bewegt. Die Meditation erfolgt, nachdem der Suchende sich, wie es die Stufen des Gabriel-Hadith nahelegen, zunächst in äußerem Gottesdienst ausgezeichnet hat und das Gottesgedenken (ḏikr) in sein Inneres vorgedrungen ist. Sein Gottesdienst wechselt dann über ins Herz.107 Die Meditation wird im Sufitum allgemein aus dem Hadith abgeleitet: „Eine Stunde Meditation (tafakkur) ist besser als ein Jahr Gottesdienst.“ In einer Variante des Hadiths lautet es auch „besser als 60 Jahre Gottesdienst“.108 Das Wort Meditation, fikra oder tafakkur, ist im Rahmen des Sufitums, in allen sprachlichen Spielweisen zu verstehen: nachsinnen, untersuchen, sich widmen, meditieren oder Einsicht in etwas nehmen.109 Die Sprache des Herzens ist es gerade, die keine Beschränkung durch den sprachlichen Ausdruck will, sondern sich im Gegenteil eher dem (äußerlich) Sprachlichen entzieht und die Bedeutungen der Dinge in den Vordergrund stellt. Solange der Mensch seine Aufmerksamkeit vornehmlich auf den äußeren Schein richtet, ist sein Herz außen vor. 106
MT, S. 50. BM, Bd. 1, S. 418. 108 Vgl. dafür az-Zabīdī, Itḥāf as-sādat al-muttaqīn bi-šarḥ iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Bd. 13, S. 305. Er diskutiert auch die Überliefererkette. 109 Vgl. Lane, Arabic-English Lexicon, Bd. 6, S. 2431. 107
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4. Teil: Verstehen und Deuten
Der Gottesdienst und die Konzentration auf das Innere, der Weg des Menschen (ṭarīq), führen kurz gesagt dazu, dass das Herz sich für den Glauben öffnet. Ibn ʿAǧība schreibt: „Wer nicht meditiert, der reist nicht.“110 D. h. die Öffnung des Herzens hat zur Folge, dass die göttlichen Lichter darin eintreten. Das nennt Ibn ʿAǧība die „Meditation des Fürwahrhaltens und Glaubens“111, die erste Form des Verstehens, die gewissermaßen den Reisenden begleitet. Darüber liegt die „Meditation des Schauens“, die das Ende der inneren Reise bedeutet. Diese Form der Meditation bildet die „Leuchte des Herzens.“112 Die Lichter lassen dann das Herz erstrahlen; hat der Suchende einst nach den Lichtern gesucht, spiegelt er sie nun selbst. Im Kapitel zum Kalam und Sufitum (3.2.1) wurde bereits auf den Aspekt eingegangen, dass über das Wesen Gottes nicht nachgesonnen werden dürfe, ja gewissermaßen könne. Wie Ibn ʿAǧība beschreibt, dürfe wohl aber über die Eigenschaften und die Erhabenheit des göttlichen Wesens nachgesonnen werden. Die Meditation über die göttlichen Manifestationen in der Welt sei gerade der Grund für die Erkenntnis, mit Rücksicht auf die Einsicht, dass die Wesenheit Gottes unbegreiflich ist. Er führt weiterhin ein Hadith an: „Meditiert über die Schöpfung und meditiert nicht über den Schöpfer, denn ihr vermögt es nicht Gott Sein wahres Maß zuzumessen.“113 Und er fügt hinzu, dass für die Menschen, deren Herzen noch verschleiert sind, jedoch gelte, sie sollten nur über die erschaffenen Dinge meditieren. Denn für sie seien die Dinge hinter dem Schleier das Verborgene, zu dem sie keinen Zugang hätten. Sie lebten in der Trennung von der Gotteserkenntnis und verharrten auf dem Beleg des Verstandes. Dadurch glaubten sie, ihnen komme eine hohe Position zu, was gerade einen besonders großen Schleier bilde.114 Zum einen sind also nicht alle Menschen unmittelbar zur Meditation fähig, zum anderen sollte die Einschränkung, die im Hadith zum Ausdruck kommt, nicht auf fälschliche Weise restriktiv ausgelegt werden. Da die Sufis sich der Begrenztheit der Meditation bewusst seien, schreibt Burckhardt, die darin zum Ausdruck komme, dass nur über die Eigenschaften und Erhabenheit des göttlichen Wesens meditiert werden könne, nicht aber über das Wesen selbst, könne auch von einer „weisen Ignoranz“ bei ihnen gesprochen werden. Diese stehe im Gegensatz zu dem Ansatz der Philosophen, die mit ihrer Suche nach dem letzten Urgrund einer „ignoranten Gelehrtheit“ aufsäßen. Das Denken im Sinne des verstandeslastigen Prozesses verbleibe letztlich dabei, die Dinge zu trennen, wogegen die Meditation, das Nachsinnen, die 110
IH, S. 539. MT, S. 50. 112 Ebenda. 113 Der Beleg für dieses Hadith ist bereits an früherer Stelle erfolgt. 114 IH, S. 540–2; SNS, S. 87. 111
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
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Zusammenhänge im Kosmos fokussiere, die göttlichen Eigenschaften und ihre Implikationen in der Welt.115 Das Herz beziehungsweise die Sehkraft des Herzens (baṣīra) schaut die Einheit aller Dinge, die Einheit im Kosmos, die auf den Schöpfer verweist.116 In diesem Sinne sind die Ayas als die Zeichen in der Welt zu verstehen, die auf Gott deuten. Alle Manifestationen, ob der Wechsel von Tag und Nacht oder Himmel und Erde, alles deutet letzten Endes auf die Einheit, die sich zwischen den Gegensätzen zeigt.117 Der Verstand schaut darin nur die Trennung, das Herz aber kann die Gegensätze vereinen. Die Sufis und so auch Ibn ʿAǧība führen dazu gerne das Hadith qudsī an: „Gott der Erhabene sagt: ‚Es fasst Mich Meine Erde nicht und nicht Mein Himmel, jedoch fasst Mich das Herz Meines gläubigen Dieners.‘“118 Wird die Perspektive der Bedeutungen der Dinge angenommen, die göttlichen Manifestationen in der Welt, der Gegenstand der Betrachtung des sich öffnenden Herzens, muss eine Endlosigkeit, eine Weite akzeptiert werden, die den Möglichkeiten Gottes entspricht, sich zu zeigen. So kann das folgende Aya auf verschiedene Weise verstanden werden: „Und wenn alle Bäume auf Erden Federn würden und wüchse das Meer hernach zu sieben Meeren [von Tinte], Gottes Worte würden nicht erschöpft“ (K 31:27). Wird die Metapher im Aya als die potentiellen Worte verstanden, die Gott in der Lage ist zu sprechen, da Gottes Eigenschaft der Rede ewig ist und unvergleichlich, bleibt die Interpretation auf der intellektuellen Ebene verhangen. Konsequenzen für das Individuum ergeben sich zunächst nicht.119 Auf der Ebene des Sufitums, wird das Herz für die Meditation über die Dinge geöffnet, verhält es sich anders. Ibn ʿAǧība schreibt zu dem Aya in der išāra: „Die Eigenschaften des Schöpfers, erhaben ist Er, sind alle vollkommen, unbeschränkt und unbegrenzt, hinsichtlich etwa des Wissens, der Macht, des Willens und der Rede. Die Eigenschaften des Dieners hingegen sind alle beschränkt und begrenzt. Es ist möglich, dass der Wirkliche Seinen Diener durch eine Eigenschaft Seiner Eigenschaften unterstützt, die unbegrenzt sind. Wenn Er ihn in der Eigenschaft der Rede (kalām) unterstützt, wird er von Dingen sprechen, denen der Verstand nicht gewachsen ist und er kann es nicht zurückhalten. Und spräche er sein ganzes Leben, seine Rede erschöpfte sich nicht.“120
Anders ausgedrückt ist die Eigenschaft des Menschen zu sprechen und sich auszudrücken begrenzt. Läutert er sich aber und verwirklicht seine Dienerschaft, wird er von den „göttlichen Lichtern“ unterstützt. Die Bedeutungen durch išāra 115 Burckhardt,
Introduction to Sufi Doctrine, S. 95. Vgl. STB, S. 40. 117 Vgl. BM, Bd. 1, S. 416. 118 IH, S. 521. Dieses Hadith wird auch im Iḥỵāʾ des al-Ġazālī verwendet. Wenn auch die Überliefererkette keinen Bestand hat, trifft es sich inhaltlich mit anderen Hadithen, siehe dazu genauer bei al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 175. 119 Vgl. etwa Aḥmad aṣ-Ṣāwī, Ḥāšiyat aṣ-Ṣāwī ʿalā tafsīr al-Ǧalālayn, 4 Bde., Hg. Ṭāhā Saʿd, Kairo: Šarikat al-Quds, 2006, Band 3, S. 430. 120 BM, Bd. 5, S. 399; vgl. auch K 18:109. 116
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4. Teil: Verstehen und Deuten
sind demgemäß unerschöpflich, da sie bei dem Sprecher Gotteserkenntnis voraussetzen, im Zitat durch die göttliche Unterstützung ausgedrückt. Und da die Rede durch die išāra so gesehen nicht eigentlich von dem Sprecher selbst stammt, sondern göttlichen Ursprungs ist, weiß der Sprecher der išāra oft selbst nicht, was er spricht.121 Das bedeutet, in seiner Rede wird mehr transportiert, als der Inhalt der Worte dem äußerlichen Ausdruck nach den Anschein hat. Äußerlich gibt der Scheich seinem Aspiranten vielleicht nur ein einfaches Beispiel, tatsächlich aber kann in genau diesem Beispiel eine lang ersehnte Antwort für den Novizen liegen. Das verhält sich im Gegensatz zu der Exegese der normativen Theologie, deren Blick auf die Religion durch die Grenze des Verstandes verschleiert ist und bei der gerade nur über das gesprochen werden kann, was der Mensch bereits weiß und was in Büchern steht.122 Doch nicht nur im zwischenmenschlichen Austausch spielen die möglichen, unendlichen Bedeutungen eine Rolle, auch im Ritus kommt ihnen eine besondere Stellung zu. Das liegt zum einen am rituellen Gegenstand selbst, wie Burckhardt schreibt, und zum anderen daran, dass im Ritual Wissen und Handeln einer Person zusammenlaufen. Wissen im Sinne der Absicht, mit der der Rezitierende beginnt und Handeln im Sinne der Durchführung des Ritus. Ein besonders interessantes Beispiel ist, fährt er fort, der Ritus der Koranrezitation. In der Koranrezitation liegt eine spezielle Zusammenkunft von Wissen und Handeln, da, wie Burckhardt es ausdrückt, der Mensch nicht direkt am Unendlichen teilhaben kann, wohl aber zunächst indirekt durch die Konzentration auf das Symbol, in diesem Fall der Koran, am Unendlichen Anteil hat.123 Der Koran besitzt ontologisch gewissermaßen eine besondere Beschaffenheit, an der der Mensch durch Rezitation teilhaben kann. Wie die Sufis vor ihm betont Ibn ʿAǧība deswegen das innerliche Benehmen beim Rezitieren des Korans und listet zehn Regeln auf, die schon al-Ġazālī aufgestellt hat.124 Ibn ʿAǧības Version ist eine Zusammenfassung derselben,125 zudem auf seine Lehre und seinen Stil anpasst und hier in leicht verkürzter Form wiedergegeben. In der Auflistung tauchen viele der bisher diskutierten Punkte zur išāra in konzentrierter Form auf. Der Rezitierende soll laut Ibn ʿAǧība (al-Ġazālī) Folgendes beherzigen: 1. Das Verstehen der Erhabenheit des koranischen Textes und die Gnade, die Gott den Menschen damit übermittelt, von Seinem majestätischen Thron hinunter zu den Geschöpfen, ihrem Verstehen entsprechend. Wäre die majestätische Rede Gottes des Erhabenen nicht durch die Buchstaben bedeckt, würden die geschaffenen Dinge vergehen durch seine Gewaltigkeit. 121
Vgl. BM, Bd. 5, S. 399. Vgl. TF, S. 51; IH, S. 199; SNS, S. 87. 123 Burckhardt, Introduction to Sufi Doctrine, S. 89–90. 124 Vgl. Sands, Sūfī Commentaries, S. 30–4. 125 Vgl. al-Ġazālī, Iḥyāʾ, Bd. 1, S. 367–78. 122
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
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Die Dinge bestehen, weil Gott sie erhält, wie auch Moses, möge Gott ihm Frieden schenken, Seine Rede nicht ertragen hätte, hätte Gott es ihn nicht ertragen lassen. 2. Die Würdigung des Sprechers, der Gott, der Erhabene, ist. Auf diese Weise versteht das Herz des Lesers die Erhabenheit des Sprechers und versteht, dass der Text, den er liest nicht von einem Menschen stammt. Und er versteht, dass im Lesen des Korans eine Gefahr liegt. Deswegen wurde ʿIkrama, als er den Koran (einmal) öffnete, ohnmächtig. 3. Die Präsenz des Herzens (ḥuḍūr al-qalb). Es zu unterlassen, das Ego sprechen zu lassen. Sollte der Rezitierende ein Aya unachtsam lesen, wiederholt er es. 4. Das Nachsinnen (tadabbur), was nach der Präsenz des Herzens erfolgt. So meditiert er vielleicht über etwas anderes als den Koran, obwohl er den Koran sich selbst rezitieren hört, was kein Nachsinnen ist. Wie der Imam ʿAlī sagte: „Es liegt nichts Gutes im Gottesdienst, in dem kein Verstehen vorhanden ist. Und es liegt nichts Gutes in einer Rezitation, in der kein Nachsinnen vorhanden ist.“126 5. Der Versuch zu verstehen. Das bedeutet, jedes Aya seiner Natur nach zu betrachten. Denn wer ihn wirklich verinnerlicht, für den umfasst der Koran die Nennung der Eigenschaften Gottes, Seine Wirkungskräfte, die Zustände Seiner Propheten, der Frieden sei mit ihnen, die Zustände der Lügner und wie sie untergingen. Die Erwähnung Seiner Anweisungen und Verbote, Paradies und Hölle. Er umfasst die Handlungen Gottes, Seine Eigenschaften und die Entschleierung Seines Wesens. 6. Das Unterlassen von allem, was das Verstehen verhindert. Das sind meistens die folgenden vier Dinge: Erstens, die richtige Artikulation der Buchstaben. Zweitens, das Folgen einer Denkschule (oder Tradition; taqlīd maḏhab), denn das verhindert das Verstehen der Bedeutungen. Drittens, das Andauern von Sünden, Arroganz oder der Liebe zum Diesseits. Denn im Koran heißt es: „Abwenden werde Ich von Meinen Zeichen diejenigen, die sich hochmütig verhalten auf der Erde, unrecht“ (K 7:146). Er wird sie abhalten, die Bedeutungen zu verstehen. Viertens, dass der Leser einen äußerlichen Korankommentar gelesen hat und nun glaubt, dass nur das, was von der Überlieferung bestätigt wurde, richtig ist. Das ist ein Schleier vor dem Herzen, denn der Koran hat ein Äußeres, ein Inneres und eine Grenze und einen Ausgangspunkt. Das Verstehen der Bedeutungen ist unendlich und jeder versteht nach dem Maße seiner Fähigkeit. 7. Die persönliche Anwendung (taḫṣīṣ). Das bedeutet, der Rezitator ist überzeugt, dass jedes Aya ihn direkt anspricht. Hört er eine Anweisung oder einen Befehl, ein Versprechen oder eine Androhung oder die Geschichten der vorausgegangenen Völker, verinnerlicht er es und wendet es auf sich 126
BM, Bd. 6, S. 225.
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4. Teil: Verstehen und Deuten
selbst an. Der Koran wurde nicht alleine für den Gesandten Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, gesandt, sondern als Heilung, Barmherzigkeit und Licht für die Welten. 8. Die Affektivität. Das Herz wird von den verschiedenen Implikationen betroffen, je nach Aya. Je nach Verstehen tritt ein unterschiedlicher Zustand und Befinden ein. Furcht, Hoffnung, Zusammenziehen und Weite. 9. Das Aufsteigen. Das bedeutet, er erhebt sich (innerlich), sodass er die Rede von Gott hört, nicht von ihm selbst oder einem anderen. Dazu bestehen drei Stufen. Erstens, der Diener liest, als lese er für Gott, den Erhabenen selbst, als stünde er vor Ihm. Sein Zustand ist Frage und Annäherung. Zweitens, dass er mit seinem Herzen bezeugt, als würde Gott ihn durch die Worte direkt ansprechen und ihm zusprechen durch die Gnaden und die Vollkommenheit der Gaben. Das ist die Stufe der Scham und der Würdigung. Drittens: Er sieht in der Rede den Sprecher und schaut nicht auf sich selbst und nicht auf die Rezitation, er geht in der Anschauung auf. Das ist die Stufe der Nahen. Diese höchste Stufe erwähnt Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq mit seiner Aussage: „Bei Gott, Gott manifestiert sich für Seine Geschöpfe in Seiner Rede, aber sie sehen es nicht.“127 10. Die Verleugnung von eigener Kraft und Stärke und sich selbst mit einem zufriedenen Auge zu betrachten.128 4.3.2 Prophetische Erziehung (tarbiya nabawiyya) Wie bereits an verschiedenen Stellen erwähnt, spielt der Meister, der Scheich eine zentrale Rolle in der Lehre Ibn ʿAǧības beziehungsweise in seiner Tradition, der Šāḏiliyya.129 Allgemein kommt dem Scheich im Sufitum eine besondere Stellung zu, da er, wie im Kapitel zur Šāḏiliyya gesehen, seine Überlieferungskette zurück bis zum Propheten führt. Gemeint ist damit, dass er einen Erben des inneren Wissens der Propheten verkörpert, das innere Wissen, das nicht in Büchern vererbt wird, sondern erfahren und lebendig vermittelt wird, wie Gril es beschreibt.130 Und für die Vermittlung des inneren Wissens besteht das Mittel der išāra – das Wissen der Sufis oder ihre Lehre (ʿilm).131 Der Scheich ist aufgrund seines Erbes, des inneren Wissens, das alle drei Stufen des Gabriel-Hadith umfasst, fähig, die Religion auf die Weise zu vermitteln, wie es dem Gegenüber angemessen ist, was den Fokus unmittelbar auf das Zwischenmenschliche richtet. In diesem Sinne nimmt er als Erbe des 127
BM, Bd. 6, S. 226. Ebenda, S. 224–6. 129 Vgl. Michon, Le Soufi, S. 64–80; Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 224–30. 130 Gril, The Prophetic Model of the Spiritual Master in Islam; vgl. auch ʿAzzām, At-tawāṣul aṣ-Ṣūfī bayn al-mašriq wa l-maġrib, S. 57–88. 131 Vgl. SBMS, S. 310. 128
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
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prophetischen Wissens, wie bereits im Kapitel zu Meister und Aspirant erwähnt, die Stellung des Propheten für den Aspiranten ein. Die Stellung des Propheten unter den Gläubigen ist theologisch, auf der Ebene des Sufitums, von höchster Bedeutung, denn im Koran lautet es: „Der Prophet ist den Gläubigen näher, als sie sich selber“ (K 33:6).132 Das Zwischenmenschliche wird in der Sufi-Literatur oft mit dem Wort „Benehmen“ bezeichnet. Das Benehmen (adab, pl. ādāb) zwischen dem Scheich und dem Murīden und den Murīden, den Brüdern und Schwestern untereinander, bildet in der Literatur der Sufis ein eigenes, großes Genre, das sich in verschiedene Zweige aufteilt.133 Vorbild ist dafür das Benehmen der Gefährten des Propheten Muḥammad gegenüber diesem als Führer der Gemeinschaft und Gesandter Gottes sowie das Benehmen untereinander.134 Ibn ʿAǧība beschreibt den richtigen Umgang in vielen seiner Werke und in seiner Biographie ist bereits zum Ausdruck gekommen, dass sich der Aspirant dem Meister auf sehr wirkungsvolle und praktische Weise untergeben soll, wenn er den Weg der Erkenntnis gehen will, da dieser die Praxis mit einschließt. Das Benehmen umfasst laut Ibn ʿAǧība eine innere und äußere Dimension. Äußerlich soll er dem Scheich in seinen Anweisungen folgen, sich respektvoll ihm gegenüber zeigen, ihn aufsuchen, so oft es ihm möglich ist und nicht unaufgefordert sprechen, wie es schon im Koran heißt: „O ihr, die ihr glaubt, nicht erhebt eure Stimmen über die Stimme des Propheten und nicht sprecht laut zu ihm, wie ihr sprecht untereinander, sodass nicht vereitelt werden eure Werke, ohne dass ihr es merkt!“ (K 49:2).135 Das innerliche Benehmen beinhaltet, das Beste von ihm in vollkommener Gutmütigkeit zu denken und überzeugt zu sein, dass er den Reisenden auf dem Weg zu führen (tarbiya) und ihm Hinweise zu geben vermag sowie in seiner Anwesenheit von dem eigenen Wissen Abstand zu nehmen und das eigene Ego ihm gegenüber auszublenden.136 Doch bevor das Benehmen genauer betrachtet wird, einige Gedanken zur zwischenmenschlichen Beziehung und wie diese im Verhältnis zur išāra steht. 132
Vgl. BM, Bd. 6, S. 8–9. Genre kann etwa unterteilt werden in die Bereiche Ethik, Ratschläge und Hagiographie. Vgl. für den Bereich Ethik das Werk des Meisters von Ibn ʿAǧība, Muḥammad al-Būzīdī, Al-ādāb al-marḍiyya. Dieses beleuchtet insbesondere das Benehmen zwischen Scheich und Aspirant und den Geschwistern untereinander; vgl. auch ʿAbd al-Wahhāb aš-Šaʿrānī, Al-anwār fī ādāb aṣ-ṣuḥba ʿind al-aḫyār, Hg. Anas aš-Šarqāwī, Damaskus: Maktaba Abū Ayyūb al-Anṣārī, 2007; für den Bereich Ratschläge vgl. Abū Madyan ibn Aḥmad al-Fāsī al-Fihrī, Al-mawārid aṣ-ṣāfiya min šarḥ an-naṣīḥa al-kāfiya, Hg. Hišām Ibn Muḥammad Ḥayǧir, Casablanca: Dār Ibn Ḥazm, 2013; für den Bereich Hagiographie vgl. Abū Nuʿaym al-Iṣbahānī, Ḥilyat al-awliyāʾ. 8 Bde., Hg. Sāmī Ǧāhīn, Kairo: Dār al-Ḥadīṯ, 2009. 134 Vgl. dazu Zarrūq, ʿUddat al-Murīd, S. 54–5; IH, S. 174–80; al-Ǧabūrī, Al-ʿahd wa l-bayʿa ʿind as-sāda aṣ-Ṣūfiyya, S. 37–58. 135 Vgl. auch BM, Bd. 7, S. 162–3. 136 IH, S. 177. 133 Das
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4. Teil: Verstehen und Deuten
Für den Religionsbegriff bei Ibn ʿAǧība ist das Benehmen insofern von Bedeutung, als in der Art und Weise der Unterweisung durch den Scheich das praktische Element der išāra zum Vorschein kommt, der Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Im wörtlichen Sinne bedeutet die išāra auch zeigen, wenn auch nur mit der Hand auf etwas. Da die išāra subtiler und feiner ist als der sprachliche Ausdruck, kommt sie umso mehr im zwischenmenschlichen Austausch zur Geltung. So haben die Aussprüche der Sufis oft auch einen sehr praktischen Charakter. Abū l-ʿAbbās al-Mursī legte das Hadith „Erleichtert und erschwert nicht!“137 auf folgende Weise aus: „Leitet sie [die Menschen] zu Gott und leitet sie nicht zu etwas anderem. Denn wer dich in Richtung Diesseits leitet, der hat dich betrogen. Wer dich zur Tat anleitet, der ermüdet dich. Wer aber auf Gott hinweist, der gab dir Ratschlag.“138 Im Kapitel zur sufischen Auslegung wurde erwähnt, dass die išāra als subtiler Hinweis noch die höhere Ebene der symbolischen Geste (ramz) kennt. Hierzu passt die schon erwähnte Begebenheit, von der Ibn ʿAǧība berichtet, als der Prophet Muḥammad einmal dem Gefährten Abū Bakr aṣ-Ṣiddīq im Beisein anderer Hinweise gab, die kein anderer verstand, wohl aber Abū Bakr. Er kommentiert, zwischen den Liebenden bedürfe es nur weniger Worte, da das Verstehen auf einer höheren Ebene stattfinde.139 Das ist ein hochgegriffenes Beispiel, zeigt jedoch erneut das subtile Wesen der išāra auf. Demgemäß dient die išāra als Mittel für die prophetische Erziehung, also für die Anleitung oder Lehre, um dem Menschen zu weiterer Erkenntnis zu verhelfen. Wie in anderen Lehren auch, gibt der Meister dem Novizen Aufgaben oder Ratschlag, sodass der Novize sich entwickeln kann. Nur geschieht Lehren und Lernen im Sufitum unter der Bedingung der Einbeziehung der beiden Ebenen von Innen und Außen – zu lernen bedeutet, den Weg in diesem Sinne zu gehen, die Gegensätze zu vereinen. Das eigentliche Wesen der išāra ist zudem, wie die Geschichte zwischen dem Propheten und Abū Bakr ebenfalls zeigt, von Liebe geprägt. Ibn ʿAǧība vergleicht den Scheich in seiner Koranexegese unter anderem mit dem Vater.140 Deutlich kommt die Natur des Verhältnisses auch im Aya zum Tragen: „Gekommen ist euch aus eurer Mitte ein Gesandter. Er leidet, wenn ihr in Bedrängnis seid, sorgend für euch, zu den Gläubigen gütig und barmherzig“ (K 9:128).141 Und: „Wahrlich, ihr habt an dem Gesandten ein Vorbild, ein schönes“ (K 33:21).142 Der Scheich, als Stellvertreter des Propheten für den Suchenden, ist ein Hüter, ein Wegweiser und Führer, der sich liebevoll zuwendet und leitet. Das Verhältnis 137
Kanz: Muslim, Buḫārī, Aḥmad, Nr. 5326. Laṭāʾif al-minan, S. 129. 139 IH, S. 198. 140 BM, Bd. 2, S. 28. 141 Vgl. BM, Bd. 3, S. 139–40. 142 Vgl. BM, Bd. 6, S. 20. 138 As-Sakandarī,
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
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vom Scheich zu seinem Murīden richtet sich nach diesem Vorbild. Denn das Festhalten an einer Richtschnur im Leben, dem Gehorsam, kann nur heilsam wirken, wenn eine Basis (die Liebe) für die Erziehung des Innern besteht.143 So vergisst beispielsweise das Kind zuweilen, dass die Eltern für sein Wohl sorgen, wenn sie ihm manchmal streng erscheinen, wo das Verhältnis doch die allermeiste Zeit von inniger Liebe geprägt ist. Der Mensch hält, nach seinem Ursprung suchend, Ausschau nach Hinweisen auf dem Weg. Und er ist damit immer auch automatisch demjenigen in Liebe zugeneigt, der ihm bei seiner Suche weiterhilft. Je stärker nun der Wille eines Menschen ist, den Weg der Erkenntnis zu gehen, desto eifriger sucht er nach Hinweisen und heftet sich, wenn er einen lebendigen Wegweiser gefunden hat, an dessen Fersen. Wie schon im Kapitel (4.2.3) über „Die Funktion der išāra auf dem Weg – Zeichen und Wegweiser“ erwähnt, kann der Meister als derjenige, der den Weg durch Hinweise deutet, selbst als das größte Zeichen, selbst als išāra gesehen werden. Dementsprechend unterteilt Ibn ʿAǧība die Menschen in Suchende (ṭālibūn), Aspiranten (murīdūn) und Gefundene (murādūn). Der Suchende ist, wer einen Meister sucht oder sich wünscht den Weg der Erkenntnis zu gehen. Der Aspirant ist, wer einen Scheich gefunden hat, der für ihn den Platz des Propheten ausfüllt und dem er auf der Reise folgen kann. Die Gefundenen sind all jene, die bereits den Rang der Gotteserkenntnis erreicht haben.144 An anderer Stelle vergleicht Ibn ʿAǧība den Scheich mit dem Arzt, der die Wunden heilt. Der Arzt kennt die Krankheiten und weiß wie sie zu heilen sind. Der Scheich als Gottesfreund sieht die Einheit aller Dinge, wie sie auf Gott zurückgehen und weist den Aspiranten darauf hin, abhängig von seinem inneren Zustand. Versteht der Murīd die Hinweise, geht er weiter auf dem Weg und sein Herz wird von den göttlichen Lichtern erfüllt. Auf diese Weise kann das Herz heilen.145 Da der Meister als Übersetzer der Wirklichkeiten selbst auch Zeichen ist, liegt im Benehmen gegenüber ihm ein Schlüssel, um die Vermittlung durch išāra zu verstehen. Insofern nun, wie das Benehmen als Sinnbild für die Beziehungsfähigkeit des Menschen stehen kann, ja für das Sufitum allgemein, lässt sich das Benehmen gegenüber dem Meister in den größeren Zusammenhang einreihen. Im Īqāẓ al-himam fasst Ibn ʿAǧība das Benehmen allgemein zusammen, hier verkürzt wiedergegeben. Er unterteilt es in das Benehmen in Bezug auf Gott, das Benehmen gegenüber dem Scheich und das Benehmen gegenüber den Brüdern und Schwestern. Das Benehmen in Bezug auf Gott meint das Benehmen in Anbetracht der Verschiedenheit der Menschen. So ist es beispielsweise im all143
Vgl. ebenda; IH, S. 314–6, 128–31. S. 252. Diese Unterteilung wurde in der Studie nicht systematisch übernommen. Suchender, Aspirant und manchmal auch Novize stehen in der Studie im Allgemeinen für den Murīden, für denjenigen, der sich entschieden hat, den Weg der Erkenntnis zu gehen. 145 FI, S. 125; STB, S. 103–7. 144 FI,
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4. Teil: Verstehen und Deuten
gemeinen, öffentlichen Rahmen nötig, diesen zu wahren, sich für das Gute einzusetzen und das Schlechte zu vermeiden. In den Angelegenheiten, welche den Weg der Erkenntnis und die Gottesfreunde betreffen, solle man sich etwa für das Gottesgedenken und die Liebe zum Propheten einsetzen.146 Das Benehmen gegenüber dem Scheich, wie oben schon kurz beschrieben, unterteilt er in acht Punkte, vier äußere und vier innere. Das äußerliche Benehmen: 1. Dem Scheich in seinen Anweisungen Folge zu leisten. 2. Sich in Gegenwart des Scheichs auf beste Weise zu verhalten. 3. Ihm nach Vermögen zu dienen. 4. Ihn aufzusuchen so oft es möglich ist, da im direkten Austausch eine besondere Verbindung liegt; Ibn ʿAǧība vergleicht das mit dem Durstigen und dem Gastwirt, der das Wasser ausgibt. Das innerliche Benehmen: 1. Zu glauben, dass der Scheich fähig ist, dass er ein Meister ist und die Murīden führen kann (tarbiya), da er zwischen der Scharia und der Wirklichkeit (ḥaqīqa) zu verbinden weiß. 2. Seine Verehrung, also das Wahren seiner Würde, ob er ab- oder anwesend ist. 3. Der Aspirant soll sich bei dem Scheich frei von seinem Verstand machen, von allen Würden, seinem Wissen und Handeln, außer was der Meister ihm aufgibt. 4. Ihn nicht für einen anderen zu verlassen, da das die Absicht des Weges vergiftet.147 Das Benehmen mit den Geschwistern unterteilt Ibn ʿAǧība ebenfalls in vier Punkte: 1. Ihre Würde zu wahren, ob sie an- oder abwesend sind. 2. Ihnen etwa Ratschlag zu geben, sie zu besuchen und zu unterrichten, wenn sie unwissend sind. 3. Sich gegenüber ihnen demütig zu verhalten, ihnen zu dienen, freundlich und gerecht zu sein. 4. Sie als rein und vollkommen anzusehen, selbst wenn es äußerlich anders erscheint. Denn der Gläubige findet eine Ausrede für seinen Bruder, wenn nicht, dann soll er den Fehler bei sich selbst suchen. „Der Gläubige ist der Spiegel seines Bruders“148, wie es im Hadith heißt. Ibn ʿAǧība erläutert, dass wer in sich vor allem Gutes trägt, der wird auch in den anderen Menschen ihr Gutes sehen, wer aber verwirrt ist, der sieht in anderen Verwirrung. Ibn ʿAǧība schließt die Darstellung mit den Worten, das der Weg (ṭarīq) gänzlich Benehmen ist.149 Das vollkommene Benehmen, dessen Ziel die prophetische Erziehung ist, zeigt zusammenfassend eine Beziehung auf, wie es in vielen Definitionen von Sufitum zum Vorschein kommt. Etwa bei al-Ǧīlī, der es folgendermaßen an einer Stelle beschreibt: „Sufitum ist gänzlich Eigenschaft. Das heißt die göttlichen Eigenschaften. Sufitum ist die Annahme dieser [Eigenschaften].“150 Und Ibn ʿAǧība: „[Sufitum ist] die Annahme aller guten Eigenschaften und das Verlassen 146
IH, S. 74–5. Ebenda, S. 175–7. 148 Kanz: Al-ʿAskarī, Nr. 768, Abū Dawūd mit einer Variante, Nr. 767, vgl. auch aṭ-Ṭayālisī, Nr. 672. 149 IH, S. 177–9. 150 Al-Ǧīlī, Al-manāẓir al-ilāhiyya, S. 48. 147
4.2 Die išāra bei Ibn ʿAǧība
251
aller schlechten Eigenschaften.“151 Natürlich sind in diesen Beschreibungen die Eigenschaften im umfassenden Sinne gemeint, als Ergebnis eines Prozesses, des Erkenntnisweges. Die Ratschläge, wie sich gegenüber Gott, dem Meister und den Geschwistern verhalten werden solle, weisen auf das lebendige Moment der išāra hin. Išāra ist dahingehend die Methode, das eigene Benehmen gegenüber Gott und der Schöpfung zu verbessern. 4.3.3 Voraussetzungen für die išāra Anschließend an die Betrachtungen zur išāra selbst stellt sich zum einen die Frage nach der Kompetenz, den persönlichen Anforderungen an den Vermittler und zum anderen die Frage nach den Grenzen, denen die išāra unterliegt. Die Grenzen sind insoweit von Bedeutung, als die išāra eine Auslegung der religiösen Lehre darstellt und die Interpretation eines Gelehrten fehlerhaft sein kann. Die persönlichen Anforderungen an denjenigen, der eine išāra im Sinne der prophetischen Erziehung oder als Ruf zu Gott gibt oder niederschreibt, sind aus diesem Grund hoch, da sie gewährleisten sollen, dass der Rezipient keiner fehlgeleitenden Interpretation zum Opfer fällt. Schließlich wird bei der išāra der Anspruch erhoben, die Botschaft der Religion auf umfassende Weise zu vermitteln. Es gilt zunächst bei der išāra immer zu bedenken, dass sie nicht den Anspruch der normativen Auslegung teilt, die Bedeutung eines Texts, etwa eines Ayas, endgültig oder mit großer Sicherheit zu bestimmen, wie es im Fiqh und Kalam angestrebt wird. Im Gegenteil, der Vermittler sucht durch išāra verschiedene Aspekte aufzuzeigen, wofür die Ambiguität durchaus als Mittel dient, wie sie etwa auch in den Verschiebungen der alternativen Begriffe für die Stufen des Gabriel-Hadith zum Ausdruck kommen, wenn Glaube (īmān) mit Gewissheit (yaqīn) und Gottesdienst (ʿibāda) in Beziehung gesetzt wird. Wie Zarrūq anführt, beriet auch der Gesandte Gottes die Menschen unterschiedlich, je nach ihrer Verfassung.152 Der allgemeine Rahmen, den der Interpret auf der Ebene des Sufitums einzuhalten hat, fußt auf den Ausführungen, die im Kapitel zu den Grundlagen des Sufitums (3.1) diskutiert wurden, dass beispielsweise der koranische Wortlaut nicht verändert werden dürfe,153 Scharia und Wirklichkeit sich in einem Gleichgewicht befinden und die Normen der Tugendlehre beziehungsweise Ethik eingehalten werden sollen. Dort wurde einiges zu den Voraussetzungen gesagt (siehe auch Kapitel 3.2 zum Verhältnis von Kalam und Sufitum). Wie aber gesehen wurde, ist die išāra insbesondere ein Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation und birgt durch den Anspruch, die Religion auf der Herzensebene zu vermitteln, auch Gefahren. Prinzipiell sind viele Gelehrte 151
IH, S. 16. ʿUddat al-murīd aṣ-ṣādiq, S. 55. 153 Vgl. etwa TF, S. 55. 152 Zarrūq,
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4. Teil: Verstehen und Deuten
in der Lage, Bedeutungen für ein Aya mitzuteilen, etwa durch die geltenden Regeln der Koranexegese oder im Fiqh. Wird dort eine fehlerhafte Ableitung vorgenommen, wirkt sich das zumeist äußerlich aus und jemand folgt beispielsweise einer falschen Interpretation, was seinen Ritus anbelangt, oder liegt schlicht einer Falschinformation auf. Eine Fehlinterpretation im Sufitum, auf Ebene der išāra jedoch, hat größere Konsequenzen, da ein verwirrtes Herz auf lange Sicht gravierender ist, als ein einfacher Fehler im Äußeren. Ergo muss nach den Anforderungen im Speziellen gefragt werden. Die grundlegende Voraussetzung für die Auslegung durch išāra besteht laut Ibn ʿAǧība in der Erlaubnis durch den Scheich, der bereits die Stufen der Erkenntnis erklommen hat. Das bedeutet, der Scheich ist der Meinung der Murīd sei geeignet für die Lehre. Dabei ist es unerheblich, ob der Murīd die arabische Sprache hervorragend beherrscht. Von Wichtigkeit sind die Bedeutungen – ob der Murīd in der Lage ist, die Wirklichkeiten (ḥaqāʾiq) hinter dem Schein der Dinge zu erfassen. Wäre es anders, führt Ibn ʿAǧība aus, hätte dem Propheten Aaron die Ehre gebührt, die Botschaft zu überbringen. Der Gesandte Moses sagt im Koran: „Und mein Bruder Aaron, er ist beredter mit der Zunge als ich“ (K 28:34). Gelingt es einem Menschen beides zu vereinen, zeugt das von Vollkommenheit, schreibt Ibn ʿAǧība, wie es bei Al-Ġazālī, aš-Šuštarī, aš-Šāḏilī, al-Mursī und as-Sakandarī der Fall war.154 Die išāra bedarf weniger äußerer Voraussetzungen, denn innerer. Das Wissen um den Ruf zum Einheitsglauben ist nicht an die Theologie gebunden. Viel wichtiger ist es, die Bedeutungen der Lehre zu vermitteln. Was das äußere Wissen betrifft, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, ist sie auf die wissenschaftliche Theorie beschränkt. Der Schüler lernt aus Büchern und von den Erläuterungen des Lehrers dazu. Das ist allgemein die Beschäftigung mit den Belegen aus den Quellen (istidlāl), um durch das Mittel des Verstandes die Religion zu deuten.155 Das ist jedoch nicht zu vergleichen mit dem Verhältnis von Scheich zu Murīd im Sufitum, das geprägt ist durch seelische Erziehung (riyāḍa und sulūk aṭ-ṭarīq) – ob sie einhergeht mit einem intellektuellen Studium oder nicht. Denn die prophetische Erziehung, am Vorbild der Gefährten, schließt das innere Wissen ein.156 Der Lehrsatz 184 des as-Sakandarī lautet: „Wem es erlaubt wird zu deuten, dessen Ausdruck gelangt in schöner Weise an die Ohren der Geschöpfe und dessen išāra zieht sie an.“157 Wem jedoch die Erlaubnis nicht gegeben wird, kommentiert Ibn ʿAǧība, dessen Auslegung gelange nicht zum Herzen der Zuhörer. Dieser hat das notwendige Verständnis der verschiedenen Ebenen noch nicht erlangt und ist nicht in der Lage, zu den Menschen entsprechend des Hadith zu 154
IH, S. 403–4. Vgl. SNS, S. 86. 156 Vgl. IH, S. 460. 157 IH, S. 403. 155
4.4 Zusammenfassung
253
sprechen: „Sprecht zu den Menschen nach dem Maße ihres Verstehens.“158 Denn wer am Anfang des Weges steht, bedarf anderer Hinweise als der, der sich am Ende befindet.159 Der Vermittler von išāra ist aufgefordert, sie nur an jemanden weiterzugeben, der fähig ist, sie aufzunehmen und mit dem Wissen, das sie beinhaltet, umzugehen weiß. Dies, da die göttlichen „Geheimnisse“ geschützt werden müssen, wie Ibn ʿAǧība an vielen Stellen schreibt, womit die inneren, tiefen Bedeutungen der Lehre gemeint sind. Das entspricht der Natur der Sache. Denn wichtige Informationen werden nur an vertraute Personen weitergegeben.160
4.4 Zusammenfassung Ziel des vierten Teils war es, die Methode der išāra darzustellen, als Werkzeug zur Anbindung des Menschen an die prophetische Lehre. Es wurde, auch aufbauend auf den Ergebnissen aus Teil 3, festgestellt, dass Ibn ʿAǧība als Vertreter der späten Phase der Theologie verschiedene Perspektiven der sufischen Auslegung bekannt sind und er sich auf die Tradition der Sufis im Allgemeinen bezieht. Methodisch ist er jedoch dem Stil al-Qušayrīs sowie den Ableitungen der ihm nahen Gelehrten der Šāḏiliyya zugeneigt. Ibn ʿAǧība unterscheidet deutlich zwischen dem sprachlichen Ausdruck der äußerlichen Lehren in der Theologie und der Auslegung eines Meisters im Sufitum. Die išāra existiert als textuelle Quelle für die Lehre der Sufis und folgt dann eigenen Regeln, wie der richtigen Verwendung der Fachbegriffe in der Disziplin Sufitum. Ibn ʿAǧība versteht sie aber darüber hinaus als Methode, dem Gottessucher praktische Hinweise zu geben; sie sind Wegweiser auf dem Weg des Reisenden. Die išāra stellt die Auslegung eines gereinigten Herzens dar, des Scheichs, was insbesondere in der persönlichen Vermittlung des Glaubens, nach dem Vorbild der Beziehung zwischen dem Propheten und seinen Gefährten, von statten geht. Ziel der išāra als Hinweis ist, das Verstehen des Herzens zu erwirken, sodass die göttlichen Manifestationen erkannt werden können. Während der Verstand nur fähig ist, die begrenzten Bedeutungen der historischen Überlieferung zu erfassen, die in Büchern festgehalten sind, vermag das Herz die unendlichen Bedeutungen aufzunehmen, die insbesondere im Koran liegen, aber auch als Zeichen in der Welt, innerhalb und außerhalb des Menschen, zu erkennen sind. In diesem Sinne vermittelt die išāra zwischen dem Herzen (dem Individuum) und der religiösen Lehre beziehungsweise der Botschaft des Propheten. 158
Der Beleg für das Hadith wurde bereits an früherer Stelle aufgeführt. IH, S. 404–5. 160 Vgl. ebenda, S. 406. 159
5. Teil
Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre „Die Sufis sähen heute und ernten heute.“1 – Al-ʿArabī ad-Darqāwī –
Dieser letzte Teil der Studie beleuchtet einige wesentliche Themen der Lehre Ibn ʿAǧības, zu denen er ein Werk oder eine Abhandlung verfasste, die regelmäßig in seinen Werken auftauchen und hervorgehoben erwähnt werden. Die Auswahl erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel ist es, einige theologische Gegenstände durch das Mittel der išāra genauer zu betrachten. Methodik und Stil der išāra wurden im vorigen Teil behandelt. In diesem Teil wird die (angewandte) išāra an konkreten Beispielen dargestellt. Da laut Ibn ʿAǧība der Kalam durch seinen Schwerpunkt auf der Ratio nicht ausreichend zum Verstehen gereicht, sucht er durch Allegorie, Metapher und Verweis (išāra) den Kern der Dinge offenzulegen. Die Frage, die sich im Anschluss an das „Akzeptieren“ (taṣdīq) der Glaubensgrundsätze auf der Ebene des Kalam stellt, ist, wie zum tatsächlichen Glauben durchgedrungen werden kann. Während sich in der normativen Theologie die Diskussion um die Frage dreht, wer im Jenseits durch welche Kriterien – durch sein Glaubensbekenntnis etwa – erlöst wird und ins Paradies eingeht,2 erfolgt die Diskussion im Sufitum mit dem Ziel, wie im Diesseits wahre Erkenntnis erlangt werden kann. Den Sufis genügt die Aussicht im Allgemeinen nicht, die Wirklichkeit erst im Jenseits zu erfahren und sie setzen das Ziel der Gotteserfahrung im Diesseits an. Aus diesem Grund nennen sie ihren Weg auch den „Weg des Jenseits“3. Erkenntnis ist in diesem weiten Sinne mit der Eschatologie verbunden – der Weg der Erkenntnis führt zur Vollendung und Erlösung beziehungsweise zur Vervollkommnung (iḥsān), wie es im Gabriel-Hadith genannt wird. Einfache Erfüllung der Normen genügt den Sufis nicht: Entweder handelt der Diener mit seinem Herrn, schreibt Ibn ʿAǧība oder er sucht nach Erkenntnis. Wer im Diesseits lediglich danach trachtet, gute Werke anzuhäufen, der feilscht mit Gott um seinen Platz im Jenseits. Diese Absicht, schreibt er, ist weit weniger hoch zu bewerten, als die Suche nach Erkenntnis, denn der Diener hat im Diesseits die 1
BM, Bd. 2, S. 302 und 402–4. Vgl. Faḫr ad-dīn ar-Rāzī, Kitāb al-arbaʿīn fī uṣūl ad-dīn, S. 405–10; Chittick, The Sufi Path of Knowledge, Kapitel 6 „Soteriology“, S. 253–331. 3 Gril, The Prophetic Model, S. 79. 2
256
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Möglichkeit dazu, sich auf den Weg zu ihr zu begeben.4 Diese Herangehensweise, die Gegenstände des Sufitums mit der Vollendung, Erlösung oder Errettung zu verknüpfen, ist nicht neu und findet sich u. a. bei al-Ġazālī im Iḥyāʾ wieder, der im Kapitel über die „errettenden Dinge“ (munǧiyāt) die grundlegenden Themen des Sufitums behandelt, wie Reue, Geduld, Dankbarkeit, Gottvertrauen, Liebe Zufriedenheit, Aufrichtigkeit, Konzentration und Meditation.5 Im zweiten Teil wurde der Weg (ṭarīq) als integraler Bestandteil der Lehre der Sufis beziehungsweise Ibn ʿAǧības Religionsbegriffs gezeigt. Wie der Weg, die einzelnen Wegstationen, Aufgaben und Charaktereigenschaften in Ibn ʿAǧības Lehre detailliert aussehen, die zur Gotteserkenntnis (maʿrifa) führen, die zur Interpretation durch išāra befähigt, wird in Kapitel 5.1 erörtert. In Kapitel 5.2 wird die Norm des Schicksals behandelt. Das eignet sich zum einen, um das Verhältnis von schariatischer Norm und išārī-Interpretation derselben konkret zu beleuchten und zum andern, die praktische Relevanz der išārī-Interpretation der Religion darzustellen, die Ibn ʿAǧība oftmals betont (Wissen und Handeln gleich wirkliches oder nützliches Wissen). Das Kapitel 5.3 ist dem „Meer der Einheit“ (baḥr al-waḥda) gewidmet beziehungsweise dem speziellen Einheitsglauben. Während im Kalam der Einheitsglaube (tawḥīd) tendenziell unter trennenden Aspekten beleuchtet wird – Gott ist erhaben über die Welt – und der Verstand im Vordergrund steht, wie im dritten Teil gesehen, erfolgt die Darstellung des Einheitsglaubens bei Ibn ʿAǧība auf der Ebene des Sufitums durch išāra: Er zeigt durch Gleichnis und Metapher auf, wie die Dinge auf Gott deuten. In Kapitel 5.4 werden schließlich zwei Motive erläutert, die in der Literatur der Sufis traditionell eine herausragende Stellung einnehmen. Das Gottesgedenken (ḏikr) und das Gebet für den Propheten (aṣ-ṣalāh ʿalā an-Nabī). Diese zeigen ebenfalls einen praktischen Aspekt der Lehre Ibn ʿAǧības auf, sie sind gewissermaßen die praktischen Fortbewegungsmittel auf dem Weg. Insbesondere aber das Gebet für den Propheten nimmt Ibn ʿAǧība zum Anlass, um die Ebene der išāra mit einzubeziehen und, um die Erkenntnis des Menschen im Licht der prophetischen Lehre zu betrachten.
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen (manāzil) der Reise zu Gott Auf dem Weg zur Erkenntnis durchläuft der Aspirant laut Ibn ʿAǧība die drei Stufen (maqāmāt; sing. maqām) islām, īmān und iḥsān. Jede dieser drei unterteilt sich wiederum in drei Stationen. Die Hingabe (islām) in: tawba, taqwā und istiqāma (Umkehr, Gottesehrfurcht und Aufrichtigkeit). Der Glaube (īmān) in: 4
BM, Bd. 1, S. 268. Iḥyāʾ, Vierter Teil „munǧiyāt“.
5 Al-Ġazālī,
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
257
iḫlāṣ, ṣidq und ṭumaʾnīna (aufrichtige Ergebenheit, Wahrhaftigkeit und Seelenruhe). Und die Vervollkommnung (iḥsān) in: murāqaba, mušāhada und maʿrifa (Konzentration, Anschauung und Erkenntnis). Jede der Stufen und Stationen durchläuft der Diener, indem er eine entsprechende Entwicklung vollzieht, wodurch er zunehmend Gewissheit erlangt. „Und jeder befindet sich auf der Stufe, wo er sich aufhält.“6 D. h. er befindet sich innerlich auf der Station, die ihn gerade beschäftigt. In den Werken Ibn ʿAǧības finden sich verschiedene Anordnungen zu den Wegstationen und Stufen, wie schon ʿAzzūzī bemerkt.7 Die eine Variante lautet: Umkehr, Furcht, Hoffnung, Frömmigkeit, Askese, Geduld, Dankbarkeit, Gottvertrauen, Zufriedenheit, Hingabe, Konzentration und Liebe.8 Die zweite Variante ist die oben erwähnte, die sich an den Stufen des Gabriel-Hadith orientiert: 1. Umkehr, Gottesehrfurcht und Aufrichtigkeit. 2. aufrichtige Ergebenheit, Wahrhaftigkeit und Seelenruhe. Und 3. Konzentration, Anschauung und Erkenntnis. Im Kapitel zur Liebe (3.2.2.3) wurde bereits erwähnt, dass Ibn ʿAǧība die Erkenntnis höher als die Liebe gewichtet.9 Vor diesem Hintergrund scheint die zweite Variante der Lehre Ibn ʿAǧības im Allgemeinen eher zu entsprechen. Und tatsächlich findet sich an einer Stelle, dass er die beiden Ordnungen miteinander vermengt und folgendermaßen ordnet: Umkehr, Gottesehrfurcht, Aufrichtigkeit, Askese, Frömmigkeit, Furcht, Hoffnung, Zufriedenheit, Hingabe, aufrichtige Ergebenheit, Wahrhaftigkeit, Seelenruhe, Konzentration, Anschauung und schließlich Erkenntnis.10 Da Ibn ʿAǧība das berühmte Werk al-Harawīs „Die Wegstationen der Reisenden“ (Manāzil as-sāʾirīn) bekannt war, muss davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich gewesen wäre, sich auf eine genaue Ordnung festzulegen. Denn darin werden die Stufen auf sehr einprägsame Weise in zehn Themenblöcken beschrieben: Anfänge, Türen, Handlungen, Benehmen, Grundlagen, Heilungen, Zustände, Heiligkeiten, Wirklichkeiten und Ziele.11 Der praktische Ansatz der Lehre der Šāḏiliyya lässt den Schluss zu, dass Ibn ʿAǧība es schlicht für nicht notwendig hielt, eine genaue Ordnung zu erstellen. Aus dem Grund, dass in der Šāḏiliyya tendenziell weniger auf die theoretische Darlegung des Sufi-Weges Wert gelegt und mehr auf die persönliche und individuelle Vermittlung geachtet wird. Das folgt dem Gedanken: wenn jemand die Stufen in der Theorie beherrscht, hat er sie noch nicht in der Praxis durchlaufen. 6
MT, S. 23. Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 210–36. 8 MSW, S. 255–9. 9 Vgl. BM, Bd. 1, S. 162. 10 IH, S. 399. 11 Vgl. al-Munāwī, Šarḥ manāzil as-sāʾirīn, S. 65; das hat auch schon ʿAzzūzī bemerkt, AšŠayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 215. 7 ʿAzzūzī,
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Hinzu kommt, dass Ibn ʿAǧība die Ordnung, an deren Ende die Liebe steht, die „Stufen der Angenäherten“ (maqāmāt al-muqarrabīn) nennt, was darauf schließen lassen könnte, dass er sie eher denjenigen zuordnet, die bereits ein bestimmtes Maß an Gotteserkenntnis erlangt haben; ebenso seine Erläuterung, der Kenner (al-ʿārif ) durchlaufe diese Stufen.12 Abseits der Diskussion, welche Ordnung der Stufen welcher vorzuziehen ist, ermöglicht die Ordnung der Liebe schlicht eine andere Perspektive auf den Weg, die auch einen wichtigen Aspekt der Lehre Ibn ʿAǧības beleuchtet. Wie dem auch sei, es kann davon ausgegangen werden, dass Ibn ʿAǧība die Variante nach dem Gabriel-Hadith als umfassender versteht, in der das Augenmerk auf dem sich auf dem Weg befindenden Reisenden liegt und bei der die Erkenntnis als letztendliches Ziel steht. Diese Ordnung der Stationen innerhalb der Stufen führt Ibn ʿAǧība auf den Gelehrten und Sufi Abū ʿAbd Allāh as-Sāḥilī (gest. 753/1352) aus der andalusischen Provinz Málaga zurück.13 Die folgende Abbildung fasst sie zusammen.14 Hingabe (islām)
Umkehr (tawba)
Gottesehrfurcht (taqwā)
Aufrichtigkeit (istiqāma)
Glaube (īmān)
Wahrhaftigkeit (iḫlāṣ)
Aufrichtige Ergebenheit (ṣidq)
Seelenruhe (ṭumaʾnīna)
Vervollkommnung (iḥsān)
Konzentration (murāqaba)
Anschauung (mušāhada)
Erkenntnis (maʿrifa)
Abb. 5: Die Stationen auf der Reise zu Gott
Die Stationen werden theoretisch entlang der in der Abbildung ersichtlichen Pfeile bereist. Dabei gilt es jedoch die folgenden Punkte zu bedenken. Den Stationen, den Unterteilungen der Stufen, gehen im Menschen entsprechende Zustände (aḥwāl, pl. von ḥāl) voraus. Zuerst, beschreibt Ibn ʿAǧība, gelangt das Herz in einen erhöhten Zustand, in dem es von einer Bedeutung gestreift wird, 12
MSW, S. 255. BM, Bd. 2, S. 221; das Werk des as-Sāḥilī Buġiyat as-sālik fī ašraf al-masālik war nicht auffindbar für mich, es scheint vergriffen zu sein. ʿAzzūzī nennt den Standort eines Manuskripts: Bd. 1, S. 213. 14 Eine ähnliche Darstellung/Abbildung findet sich bei ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 214. Dort wird auch die Verknüpfung zu den Bezeichnungen aus dem Gabriel-Hadith deutlich, wobei m. E. sein Schema durch ein Punkte- und Liniensystem verkompliziert wird. Dieses soll wahrscheinlich auf den Umstand hindeuten, dass die Stufen und Stationen aufeinander aufbauen, mehrdimensional sind und nicht einfach wie die Etappen eines Marathons durchlaufen werden können. Darauf wird im Folgenden noch eingegangen. 13
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
259
„die eine Spur der Liebe ist.“15 Bemüht sich der Mensch im Anschluss, schreibt er weiter, und es gelingt ihm, diesen Zustand zu erhalten, erlangt er Stabilität (tamkīn) und er kann sich zu der entsprechenden Station begeben – der Zustand wird zur Station. Reue oder Umkehr beispielsweise nehmen unter Umständen zu oder ab, bis sie zu einer Station werden.16 „Das gilt für alle Stationen und Stufen. Bedingung ist dabei, sich nicht auf die nächst höhere Stufe zu erheben, ehe alle Kriterien erfüllt wurden. Denn wer keine Reue hat, dessen Konversion [ināba; Konversion des Inneren weg vom Falschen hin zum Richtigen] ist nicht richtig. Und wer keine Konversion hat, dessen Aufrichtigkeit ist nicht richtig. Wer nicht fromm ist, der kann nicht asketisch sein und so weiter.“17
Innerhalb der Stufen verhält es sich dementsprechend jeweils so, dass der erste Schritt den Anfang darstellt, der zweite Schritt das Herz darin stabilisiert und der dritte Schritt das Ende der Stufe verkörpert. Auf der Stufe islām bedeutet das, dass der Diener mit der Umkehr beginnt, Sicherheit in der Gottesehrfurcht findet und die Stufe in Aufrichtigkeit beendet. In der Stufe īmān bedeutet es, dass er mit aufrichtiger Ergebenheit beginnt, zu konstanter Wahrhaftigkeit gelangt und schließlich Seelenruhe findet. In der Stufe iḥsān bedeutet das, dass er sich zu Beginn auf die göttlichen Manifestationen konzentriert und durch stete Wachheit zur Anschauung gelangt. Das Ende dieser Stufe und die höchste Form von Gottesdienst ist schlussendlich die Erkenntnis.18 Von entscheidender Bedeutung ist es, zu bedenken, dass bei dem Stufengebilde von einer mehrdimensionalen Wirklichkeit des Menschen ausgegangen wird und nicht von einer linearen, eindimensionalen Entwicklung, worauf im Kapitel zu Ego, Herz, Verstand und Seele (3.1.1.4) genauer eingegangen wurde. Der Mensch geht durch die Stufen der Religion und beginnt im Allgemeinen mit der ersten Stufe, da das Äußere die offensichtliche und zugänglichste Stufe bildet. Der Glaube wächst mit dem Fortschritt auf dem Weg, mit zunehmender Gewissheit (yaqīn). Die Wahrnehmung beziehungsweise die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist jedoch unabhängig von der Existenz der Wirklichkeit im Innern: wenn sich ein Mensch etwa auf der ersten Stufe, islām, der Gewissheit befindet (Wissen der Gewissheit: ʿilm al-yaqīn), sind dennoch die beiden anderen Stufen īmān und iḥsān in ihm vorhanden, jedoch sein Erkenntnisvermögen reicht nicht aus diese zu erkennen.19 Weg und Ziel sind im Menschen gewissermaßen angelegt. In den folgenden Kapiteln (5.1.1–5.1.3) werden die einzelnen Stationen des Weges zur Erkenntnis bei Ibn ʿAǧība dargestellt. 15
MT, S. 23. Ebenda, S. 23–4. 17 Ebenda, S. 24. 18 Vgl. MSW, S. 245. 19 Vgl. TW, S. 76. 16
260
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
5.1.1 Islām – Hingabe 5.1.1.1 Tawba – Umkehr Tawba ist die Station der Umkehr auf der Stufe islām – Hingabe. Umkehr meint im Allgemeinen den initialen Entschluss, sich auf die Reise zur Herzenserkenntnis zu begeben. Sie ist der umfassende Begriff für eine Reihe von Schritten, die der Mensch vollzieht, wenn er sein Herz vom Diesseits abwendet und dem richtigen nächsten Schritt auf dem Weg zuwendet. Umkehr, schreibt Ibn ʿAǧība, ist demgemäß „die Rückkehr von einer schlechten Handlung, hin zu einer guten. Von einer niedrigen Eigenschaft zur Umsetzung einer hohen Eigenschaft. Oder von der Anschauung der Schöpfung dahin, einzutauchen in die Anschauung des Wirklichen.“20 Für eine vollständige Umkehr bedarf es einiger Schritte, schreibt er. Diese sind: den Fehler zu bereuen (nadam) und zu unterlassen und zu verweigern darauf zu beharren. Wenn der Fehler oder die Untat sich auf andere Personen erstreckt, stellt der Ausgleich dafür eine eigene Pflicht ( farḍ) dar. Die Umkehr kann unabhängig davon erfolgen. Zudem kann sich von einer Sünde abgewandt werden, während gleichzeitig auf einer anderen beharrt wird.21 Die aufrichtige Umkehr (at-tawba an-naṣūḥ) besteht, schließt er, praktisch aus vier Dingen: Die ausgesprochene Bitte um Vergebung, die Unterlassung auf körperlicher Ebene, innerlich nicht darauf zu beharren und schlechte Gesellschaft zu meiden.22 Im Koran heißt es: „O ihr, die ihr glaubt, kehrt um zu Gott in aufrichtiger Umkehr!“ (K 66:8, vergleiche etwa auch K 2:54, 2:222, 39:53, 42:25). Das beschreibt die Umkehr allgemein; die Umkehr im Speziellen bedeutet etwas anderes. Im Speziellen, führt Ibn ʿAǧība aus, unterscheidet sie sich von Stufe zu Stufe, da der Diener sich nur von dem abwenden kann, was er auch begreift. Und mit wachsendem Verstehen begreift er stetig Neues, das ihn von der Erkenntnis abhält. Auf der ersten Stufe bedeutet aufrichtige Umkehr, sich von den Sünden und allgemein von schlechten Handlungen abzuwenden. Auf der zweiten bedeutet sie, sich von schlechten Eigenschaften, Irrtümern und Fehltritten abzuwenden, und auf der dritten Stufe bedeutet sie, sich von allem abzuwenden, was das Innerste von Gott ablenkt, wenn dem Greifbaren Beachtung geschenkt wird. Die Umkehr stellt dahingehend nicht lediglich eine Aufgabe dar, die erledigt werden kann. Vielmehr bedeutet sie, dass der Diener durch sie eine Chance erhält, sich zu bessern, nachdem er unachtsam wurde, wie es den Menschen zu eigen ist.23 Die Sufis haben zu allen Zeiten die Wichtigkeit der Umkehr betont. Der Grund dafür liegt in der Natur des Herzens. Denn was in den Spiegel des Herzens fällt, das füllt den Menschen aus. Spiegelt sich darin allein der Genuss 20
MT, S. 3.
22
Ebenda, S. 4. BM, Bd. 8, S. 93.
21 Ebenda. 23
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
261
des diesseitigen Lebens, schreibt Ibn ʿAǧība, prägt sich dessen dunkle Natur, der äußere Schein der Dinge, auf das Herz und verschleiert seine Sicht, sodass die wahre Schönheit der Dinge verborgen bleibt. Wessen Spiegel aber rein und geläutert, der gibt dem göttlichen Licht in der Welt seinen Raum; die Schleier lüften sich und die Schönheit der Wirklichkeit hinter den Dingen erscheint. Er nennt dazu das Hadith: „Die Herzen rosten, wie das Eisen rostet. Und wahrlich, der Glaube trägt sich ab, wie ein neues Gewand sich abträgt.“24 In den Weisheiten as-Sakandarīs lautet es: „Von den Zeichen des Herzenstodes ist es, nicht darüber traurig zu sein, was dir an Übereinstimmungen [mit der Religion] entgangen ist und von der Reue abzulassen, was du an bestehenden Fehltritten getan.“25 Demgemäß gilt es laut Ibn ʿAǧība zu erkennen, inwiefern das eigene Innere erkaltet ist und es durch die Hinwendung zum Guten zu beleben. Wer dann einen Fehler erkennt, der schwankt zwischen Furcht und Hoffnung.26 „Furcht ist eine Unruhe, die das Herz ergreift, da es etwas Schändlichem anhaftet oder ihm ein Desiderat verloren ging.“27 Die Furcht hat zur Folge, führt Ibn ʿAǧība weiter aus, dass der Mensch sich neu ausrichtet. Die Allgemeinheit der Menschen hat Furcht vor Strafe und davor, Belohnungen könnten ihnen verweigert werden. Die Furcht derer, die fortgeschritten auf dem Weg sind, ist dagegen, gescholten zu werden und es zu verpassen, weiter auf dem Weg voranzuschreiten. Die Furcht all jener, die sich auf der höchsten Stufe befinden, ist schließlich, verschleiert zu werden aufgrund von schlechtem Benehmen gegenüber dem Schöpfer.28 Jedoch soll die Furcht nicht das Gemüt belasten, sodass die Hoffnung sinkt. Denn „die Sünde erscheint dir gewaltig, bis sie dich davon abhält guten Mutes (ḥusn aẓ-ẓann) zu Gott zu stehen.“29 Die Hoffnung (raǧāʾ) ist die „Ruhe des Herzens“ während auf einen ersehnten Gegenstand oder eine Person gewartet wird, schreibt er, unter der Bedingung, dass man auf das Ziel hinarbeitet.30 Für die Allgemeinheit der Menschen, führt er aus, bedeutet Hoffnung die höchsten Ziele zu erreichen und deren Früchte zu ernten. Für die Menschen auf dem Weg bedeutet sie Zufriedenheit und Annäherung und in der höchsten Stufe ist die Hoffnung, die Anschauung des Göttlichen möge sich festigen und das Erkennen der inneren Bedeutungen möge zunehmen. Er fasst zusammen: „Furcht und Hoffnung sind für das Herz wie die zwei Flügel des Vogels. Nur mit beiden kann er fliegen.“31 24
IH, S. 64; das Hadith in Kanz: Al-Bayhaqī, Nr. 42130. IH, S. 140. 26 Ebenda, S. 140–1. 27 MT, S. 4. 28 Ebenda. 29 IH, S. 141 (Dies ist Weisheit Nr. 48 des as-Sakandarī). 30 MT, S. 4. 31 Ebenda. 25
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Furcht und Hoffnung sind Kräfte, die im Innern des Menschen auf allen Stufen wirken. Sie äußern sich allerdings je nach Verfassung verschieden. Nach den verschiedenen Blickwinkeln des Stufengebildes kann auch gesagt werden, dass auf der ersten Stufe der Diener im Äußeren gefangen bleibt und lediglich auf das Vermeiden von Verbotenem und der Durchführung des Gebotenen achtet. Auf der zweiten Stufe besteht die Aufgabe, Geist und Gewissen von Üblem zu befreien und einen guten Charakter anzustreben. Auf der dritten Stufe heißt es, das Innerste anzustrengen, bis es durch Übung Form annimmt. Furcht und Hoffnung regen sich, schreibt Ibn ʿAǧība an einer Stelle, wenn der Mensch entweder Majestät oder Schönheit sieht. Wer Majestät erblickt, der wird von einer Art der Furcht ergriffen, je nach seiner inneren Verfassung. Und wer Schönheit schaut, der wird entsprechend seiner inneren Verfassung von Hoffnung erfasst.32 Furcht ist dementsprechend der Zustand, wenn das Innere von der Gewaltigkeit der Majestät erfasst und die eigene Unvollkommenheit erkannt wird. Hoffnung hingegen ist, wenn die Schönheit der Dinge erscheint, die das Innere von Natur aus anzieht. Umkehr bedeutet auch, sich Gottes zu erinnern. Im Koran heißt es: „Und gedenke deines Herrn, wenn du vergessen“ (K 18:24) und Ibn ʿAǧība paraphrasiert in der išāra: „Und gedenke deines Herrn, wenn du vergessen hast, was [dir] neben Ihm erscheint.“33 Einfacher ausgedrückt: in seinem eigenen Selbst verhangen zu sein, lediglich um die eigenen Bedürfnisse zu kreisen, bedeutet, die äußere Schale der Dinge zu betrachten, die den Diener daran hindern seines Herrn zu gedenken. Wer sich aus diesem Kreis entsprechend seiner Stufe und Station befreit, dessen Erkenntnis nimmt zu und er kann sich in gleichem Maße wie der Fortschritt auf den guten Charakter ausrichten. Die Umkehr ist zusammenfassend zum einen ein Prinzip, das den Diener auf seinem Weg in wechselnden Erscheinungen begleitet und zum anderen steht sie zu Beginn der Reise und bildet die erste Station auf der ersten Stufe des islām. Wer beschließt, den Weg zu beschreiten, der erhebt sich aus den Niederungen des Vergessens und gereift dazu, den Weg vor sich zu erkennen. 5.1.1.2 Taqwā – Gottesehrfurcht Taqwā ist die Station der Gottesehrfurcht oder Gottesfurcht auf der Stufe islām – Hingabe. Während der Prozess der Umkehr bedeutet, das Herz vom Falschen zu lösen und dem Richtigen zuzuwenden und damit auch eine grundsätzliche Ausrichtung auf dem Weg, stellt die taqwā, Gottesehrfurcht, den nächsten Schritt auf dem Weg dar, was impliziert, dass der Weg erkennbar ist. Gottesehrfurcht meint, laut Ibn ʿAǧība, grundlegend: „das Gebotene zu befolgen und das Ver32 33
IH, S. 26–7. BM, Bd. 4, S. 159.
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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botene zu meiden, im Inneren und Äußeren. Oder Gehorsam zu leisten und sich der Rebellion zu versagen.“34 Die Gottesfurcht ist zwar der nächste Schritt, dennoch eine sehr basale Angelegenheit. Im Koran heißt es: „O ihr Kinder Adams, Wir haben euch herabgesandt Kleidung, um eure Scham zu bedecken und Prunkgewänder. Aber die Kleidung der Gottesfurcht, die ist besser. Dies gehört zu den Zeichen Gottes, auf dass sie sich mahnen lassen“ (K 7:26). Die Gottesehrfurcht mit der Kleidung des Menschen zu vergleichen, welche die Blöße bedeckt, beschreibt laut Ibn ʿAǧība die gewonnene Fähigkeit die Dienerschaft (ʿubūdiyya) des Menschen im Unterschied zur Herrschaft zu erkennen, ergo Ge- und Verbote zu erkennen und zu achten. Scham oder Blöße bestehen, da die Dienerschaft selbst mangelhaft ist und erst durch das Kleid der Gottesehrfurcht verziert wird.35 Zur Wallfahrt (ḥaǧǧ) heißt es: „Und versorgt euch mit Wegzehrung, doch: Die Gottesfurcht ist die beste Wegzehrung“ (K 2:197). Da die Wallfahrt auf der Interpretationsebene des Sufitums die Reise des Herzens meint, verdeutlicht die Metapher von der Wegzehrung den weiterführenden Aspekt, dass die Gottesehrfurcht nicht lediglich auf Ge- und Verbote begrenzt bleibt, sondern wie die Umkehr mehrere Aspekte besitzt.36 Demgemäß findet sich die Gottesehrfurcht auf allen drei Stufen. Das kommt in dem Aya zum Ausdruck, wenn es heißt: „Für die, die glauben und verrichten gute Werke, ist keine Sünde in dem, was sie essen, wenn sie gottesfürchtig sind und glauben und verrichten gute Werke [ʿamilū – Tun], dann gottesfürchtig sind und glauben [āmanū – Glauben], dann gottesfürchtig sind und Gutes tun [aḥsanū – Perfektion]. Und Gott liebt die Schönhandelnden“ (K 5:93).
Ibn ʿAǧība erläutert wie folgt: Gottesfurcht auf der ersten Stufe, islām, beschreibt das Vermeiden von Beigesellen und Rebellion, was vornehmlich auf die körperliche, äußere Ebene abzielt – auf das Tun. Das zeigt sich im Aya: „So fürchtet Gott, so viel ihr könnt!“ (K 64:16). Auf der Stufe islām ist das eng verbunden mit Furcht und Hoffnung, wie im Kapitel zur Umkehr (5.1.1.1) erwähnt.37 Auf der zweiten Stufe, īmān, meint die Gottesehrfurcht das Herz, das Innere, vor Unachtsamkeiten und Gefahren zu schützen, wie es im Aya heißt: „Und fürchtet Mich allein, o ihr, denen ein Innerstes gegeben“ (K 2:197). Dort erkennt der Reisende bereits Schönheit und Majestät und verhält sich entsprechend entweder schamvoll oder ehrfürchtig. Die Aufgabe besteht darin, sich von lasterhaften Dingen zu befreien. Auf der dritten Stufe, iḥsān, meint Gottesehrfurcht die Abwesenheit von allem, was Gott während der Anschauung gleich erscheint. Dort schaut 34
MT, S. 9. BM, Bd. 2, S. 356. 36 Vgl. BM, Bd. 1, S. 193; vgl. auch Koran 5:2, 5:8, 9:108–9, 49:3, 74:56 und auch 2:194, 3:172, 3:198, 5:93, 7:201. 37 Vgl. IH, S. 582; BM, Bd. 8, S. 67–9. 35
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
der Diener die Gewaltigkeit und Vollkommenheit Gottes, was ihn zu Liebe und Lobpreis führt. Das wird mit den koranischen Worten „dann gottesfürchtig sind und Gutes tun (aḥsanū – Perfektion). Und Gott liebt die Schönhandelnden“ ausgedrückt.38 Zur Unterscheidung der Stufen der Gottesfurcht führt Ibn ʿAǧība das Aya an: „O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott in wahrer Furcht“ (K 3:102). Er schreibt, dies beziehe sich auf die innere Dimension, ob nun die beiden Ebenen īmān und iḥsān oder lediglich die Stufe des iḥsān gemeint seien. Das Aya „So fürchtet Gott, so viel ihr könnt“ (K 64:16) verweise jedoch deutlich auf die äußere Welt des islām.39 Denn die äußerlichen Mittel sind begrenzt und der Glaube eine Angelegenheit des Herzens, dessen Möglichkeiten weiter gefasst sind, als die der Körper. Als weiterführender Schritt nach der Umkehr sei die Gottesehrfurcht, führt er an einer Stelle aus, damit verbunden, dass der Mensch geprüft werde. Denn „jeder Wissende hat Aussetzer, jeder Gottesdiener kennt Härte und jeder Strebsame wird erschöpft.“40 Der Prophet Muḥammad sagte: „Die Heftigkeit befällt die Besten meiner Gemeinschaft.“41, was bedeute, dass prinzipiell jeder Diener schwachen Momenten ausgesetzt sei.42 Ibn ʿAǧība vergleicht die Gottesehrfurcht mit einem Mann, der ein Haus betritt. Im Haus befinden sich Skorpione und Schlangen aber auch Gold und Silber. Ist das Haus dunkel, kann er nicht zwischen Schädlichem und Nützlichem unterscheiden. Bringt er jedoch eine Leuchte mit, ist er in der Lage, die richtigen Dinge zu greifen und die falschen zu meiden. Die Leuchte im Innern des Dieners ist die Gottesehrfurcht. Als textuelle Grundlage führt er dazu an: „O, die ihr glaubt, wenn ihr fürchtet Gott, beschert Er euch Unterscheidung“ (K 8:29). Das bedeutet, es wird dem Menschen durch die Unterscheidung ein Licht gegeben, mit dem er zwischen Richtig und Falsch erkennen kann. Nach dem Aya: „Gleicht denn einer, der tot war und den Wir zum Leben erweckt, und dem Wir Licht gegeben, damit er unter den Menschen wandelt, einem, der in Finsternissen ist und nicht aus ihnen herauskommt?“ (K 6:122) und „Ist einer, dem Gott die Brust geweitet für die Ergebung, sodass er von Licht von Seinem Herrn getragen“ (K 39:22). Dieses Licht, schließt Ibn ʿAǧība den Gedanken, begleitet den Reisenden durch die Stufen und Stationen und lässt ihn jeweils neue Erkenntnisse gewinnen.43 Die Gottesehrfurcht stellt den Schritt nach dem Entschluss dar, den Weg überhaupt zu gehen oder sich neu auf ihn auszurichten. Eine Richtung ist noch nicht vorhanden, wohl aber Klarheit und Unterscheidung. Wie im koranischen 38
MT, S. 9; IH, S. 582. BM, Bd. 1, S. 354–5; BM, Bd. 8, S. 68. 40 BM, Bd. 2, S. 445. 41 Kanz: Ṭabarānī, Nr. 5801. 42 BM, Bd. 2, S. 445. 43 IH, S. 150–1. 39
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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Bild von der Opfergabe, stellt das Opfern der diesseitigen Leidenschaften ein Mittel dar, um das Licht der Gottesehrfurcht leuchten zu lassen: „Nicht wird erreichen Gott ihr Fleisch, nicht ihr Blut, vielmehr erreicht Ihn eure Gottesfurcht“ (K 22:37). Die Ayas um diese Worte (K 22:30–7) beschreiben den Vorgang der Opfergabe, über die der Name Gottes gesprochen wird. Das gehört zu den „Kultsymbolen Gottes“ (šaʿāʾir Allāh), wie es heißt. Das bedeutet laut Ibn ʿAǧība auf der Ebene der išāra, dass die Aufgabe tatsächlich darin bestehe, das niedere Selbst zu opfern, um der Seele Raum zu schaffen. Wer das tue, der erhalte taqwā und ehre die Kultsymbole Gottes gewissermaßen auf einer höheren Ebene.44 5.1.1.3 Istiqāma – Aufrichtigkeit Istiqāma ist die Station der Aufrichtigkeit oder Integrität in der Stufe islām – Hingabe. Ibn ʿAǧība definiert Aufrichtigkeit als „die Anwendung des Wissens der Aussagen des Gesandten, Gott schenke ihm Frieden, seiner Taten, Zustände und Sitten, ohne Übertreibung, ohne wählerisch zu sein und ohne sich den Illusionen der Einflüsterung zu beugen. Ohne den Rahmen der Verordnungen zu verlassen, ihre Grenzen und akzeptierten Normen. Sie bedeutet, uns nah zu Gott, dem Erhabenen, zu halten, in Wahrhaftigkeit zu aller Zeit.“45
Während die Umkehr einen initialen Entschluss zur Reise bedeutet und die Gottesehrfurcht ein Mittel, um auf dem Weg davor geschützt zu sein, das Falsche für das Richtige zu halten, stellt die Aufrichtigkeit die innere Ausrichtung für die Reise dar. Eine erste Annäherung an die Aufrichtigkeit bietet der Blick auf die duale Natur des Menschen. Äußerlich aufrichtig zu sein, ist laut Ibn Aǧība verbunden mit der Hingabe an die Weisheit (ḥikma) im Sinne der äußerlichen Umstände, denen Rechnung getragen werden muss, sodass die Dienerschaft des Menschen (ʿubūdiyya) zum Tragen kommt. Innerliche Aufrichtigkeit liegt in der Fähigkeit, sich der inneren Erkenntnis durch Hingabe an die Allmacht (qudra), zu widmen.46 Im Koran lautet es: „Wahrlich, denen, die sagen: ‚Unser Herr ist Gott‘ und die aufrichtig sind, senden Wir herab die Engel: ‚Fürchtet euch nicht und seid nicht bedrückt und freut euch auf den Garten, der euch stets versprochen!‘“ (K 41:30). Ibn ʿAǧība kommentiert, dass das für jene gilt, die sich auf beiden Ebenen, innerlich und äußerlich, aufrichtig hingeben. Denn der Ursprung der Aufrichtigkeit liegt im Einheitsglauben (tawḥīd).47 Interessant ist hier nun die gesteigerte Intensität. Während bei der Gottesehrfurcht (taqwā) noch das Unterscheiden von größter Bedeutung war, deutet die vollkommene Aufrichtigkeit, äußerlich und innerlich, auf das Vereinen. 44
BM, Bd. 4, S. 423–5. MT, S. 10. 46 IH, S. 195–6. 47 BM, Bd. 6, S. 358–9. 45
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Die Aufrichtigkeit unterscheidet sich je nach Sache und Verfassung des Trägers. In den Aussagen einer Person, schreibt Ibn ʿAǧība, bedeutet aufrichtig zu sein etwa, üble Nachrede zu unterlassen. In den Taten bedeutet sie, von schlechten Neuerungen abzulassen und in den Zuständen, nicht die Sitte der Scharia zu verlassen. Die Allgemeinheit der Menschen versteht, führt er aus, unter Aufrichtigkeit die Einhaltung der Sunna. Wer sich auf dem Weg befindet, versteht darunter die Aneignung des prophetischen Benehmens. Auf der höchsten Stufe bedeutet Aufrichtigkeit, sich innerlich an Gott, dem Barmherzigen, auszurichten, indem der Diener in der Anschauung aufgeht.48 In den Weisheiten as-Sakandarīs steht: „Wenn von dir eine Sünde ausgeht, soll dies kein Grund sein, zu verzagen und dich von der Aufrichtigkeit gegenüber deinem Herrn abzuhalten. Denn möglicherweise ist das deine letzte Missetat, die Er dir bestimmt hat.“49 Der Reisende könne einmal stolpern oder sich verirren, schreibt Ibn ʿAǧība, er solle sich jedoch dadurch nicht von seinem Ziel abbringen lassen. Vielleicht sei dergleichen, wie etwa eine Durststrecke, auch ein Zeichen für den Menschen und eine Barmherzigkeit. Wenn er falle, könne er wieder aufstehen: „Bedenke, dass viele große Sufis auch einmal etwa Diebe waren und schließlich zu Meistern wurden, wie Ibrāhīm Ibn Adham, al-Fuḍayl und Abū Yaʿzā. Als Vorbild soll dir das dienen bezüglich deiner Haltung zu Gott. Der Erhabene spricht: ‚Sag: O meine Diener, die ihr euch maßlos verhaltet gegen eure eigenen Seelen, verzweifelt nicht an Gottes Barmherzigkeit! Gott vergibt die Sünden allesamt. Er ist der unübertrefflich Vergebende, der Barmherzige‘ (K 39:53) und der Erhabene spricht: ‚Er sagte: Und wer verzagt an der Barmherzigkeit seines Herrn außer den Abgleitenden?‘ (K 15:56) […]. Und der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sprach: ‚Die Kinder Adams vergehen sich und die besten derer, die sich vergehen sind jene, die bereuen‘50 Er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte auch: ‚Wahrlich, Gott liebt den Geprüften, den Bereuenden.‘51 Das bedeutet, Er liebt jene, die viel sündigen und viel bereuen. ‚Wahrlich, Gott liebt diejenigen, die sich zuwenden und die sich reinigen‘“ (K 2:222).52
Durch die Aufrichtigkeit richtet sich der Diener auf sein Ziel aus, wie es im deutschen Wortsinn „der Aufrechte“ enthalten ist, welche die richtige Ausrichtung enthält. „Euer Gott ist der Gott, der Eine. So seid aufrichtig gegen Ihn und bittet um Vergebung Ihn“ (K 41:6). Wirkliche Aufrichtigkeit gegenüber Gott, kommentiert Ibn ʿAǧība dazu, wird durch die Läuterung des Innern von den verborgenen Götzen erlangt.53 Wer solch eine Aufrichtigkeit besitzt, der nähert sich dem wahrhaften Glauben, der seinem Wesen nach ein Wunder darstellt: „Das wahrhaftige Wunder (karāma) ist Aufrichtigkeit in der Religion und wahr48
MT, S. 10. IH, S. 345. 50 Kanz: Nasāʾī, Aḥmad, Tirmiḏī, Ibn Māǧa, Muslim, al-Ḥākim, Nr. 10220. 51 Kanz: Aḥmad mit leicht anderem Wortlaut, Nr. 10186. 52 IH, S. 345–6. 53 BM, Bd. 6, S. 345. 49
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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hafte Gewissheit.“54 Diese Form der Aufrichtigkeit begleitet den Reisenden und verlässt ihn nicht, da sie, wie auch die vorigen Eigenschaften, zur Dienerschaft (ʿubūdiyya) zählt.55 Als letzte Station auf der Stufe des islām kommt der Aufrichtigkeit eine Brückenfunktion zu. Sie deutet auf die nächste Stufe, auf den Glauben – īmān.56 Der Grund dafür ist, dass die drei Stationen einer jeden Stufe eine Einheit bilden. Die Umkehr bildet den Anfang und durch die Gottesehrfurcht wird der Diener gefestigt. Am Ende der ersten Stufe ist seine Gewissheit gereift und er sieht den Weg deutlicher vor sich, da er sich durch Aufrichtigkeit auf sein Ziel ausrichten kann.57 Wer nun wahrhaft auf sein Ziel ausgerichtet ist, der ist bereit in den Glauben einzutauchen, der schlussendlich „die Herzen belebt,“ wie Ibn ʿAǧība zu dem Aya kommentiert: „Und: ‚Wenn sie sich auf dem geraden Weg hielten (istaqāmū), gäben Wir ihnen reichlich Wasser zu trinken‘“ (K 72:16).58 5.1.2 Īmān – Glaube 5.1.2.1 Iḫlāṣ – Aufrichtige Ergebenheit Die Station der aufrichtigen Ergebenheit in der Stufe des īmān – des Glaubens. Aufrichtige Ergebenheit oder die Reinheit der Absicht (iḫlāṣ) stellt für den Reisenden einen konkreten Schritt dar, das verborgene Beigesellen aus seinem Innern zu lösen. „Aufrichtige Ergebenheit bedeutet, die Geschöpfe zu verlassen für die Beschäftigung mit Gott, dem Wirklichen und Ihm, dem Erhabenen, allein gehorsam zu sein, durch die Intention oder durch die Abwesenheit des Herzens davon, was nicht der Herr ist.“59
Zur Erklärung, wieviel die aufrichtige Ergebenheit oder Reinheit der Absicht gegenüber dem äußeren Schein wiegt, lautet es in den Weisheiten as-Sakandarīs: „Die Taten sind aufgestellte Formen und deren Seelen ist das Bestehen der aufrichtigen Ergebenheit (iḫlāṣ) in ihnen.“60 Taten, schreibt Ibn ʿAǧība dazu, umfassen körperliche Handlungen oder solche des Herzens. Beide sind bloß und leer, wenn sie nicht mit aufrichtiger Ergebenheit angefüllt werden. Daraus resultierend drückt sie die Verneinung der Frömmelei oder Augendienerei (riyāʾ ) und des verborgenen Beigesellens aus. Diese rühren von der Verwunderung beziehungsweise der Beachtung des eigenen Egos, da die Anschauung des eigenen Selbst verhindert, die Handlung selbstlos zu verrichten.61 In diesem 54
IH, S. 397, 443. Vgl. IH, S. 419. 56 Vgl. BM, Bd. 7, S. 91. 57 Vgl. MSW, S. 245. 58 BM, Bd. 8, S. 170. 59 MT, S. 10. 60 IH, S. 49. 61 Ebenda, S. 49. 55
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Sinn ist aufrichtige Ergebenheit, etwas um des Guten willen zu tun, für Gott, nicht im eigenen Interesse. Im Koran lautet es dazu: „Jedoch wurde ihnen nichts Anderes befohlen, als zu dienen Gott, aufrichtig in der Religion, reinen Glaubens, das rituelle Gebet zu verrichten und zu geben die Almosen, denn dies ist die Religion, die beständige“ (K 98:5). Eine gottesdienstliche Handlung kann, kommentiert Ibn ʿAǧība, aus verschiedenen Gründen ausgeführt werden. Entweder ist die Intention auf ein diesseitiges Ziel gerichtet, auf ein jenseitiges Ziel oder aber eine Handlung vermengt beide Absichten. Erfolgt sie allein aus Streben nach Ansehen oder dergleichen, fällt sie in die Kategorie der Frömmelei und wird abgelehnt. Erfolgt sie aus aufrichtiger Ergebenheit zu Gott, ist sie gut. Ist beides in einer Handlung vorhanden, richtet sich ihre Güte nach der überwiegenden Seite.62 Zur aufrichtigen Ergebenheit zu Gott heißt es im Hadith, in dem Gott über sich selbst berichtet: „Er sagt: ‚Ich bin reicher, als alle Teilhaber! Wer Mir einen anderen beigesellt, den verlasse Ich und seinen Teilhaber.‘“63 Und der Prophet Muḥammad sagte: „Das Fürchtenswerteste, was ich für meine Gemeinschaft fürchte, ist das verborgene Beigesellen, das da die Frömmelei ist.“64 Ibn ʿAǧība führt diese Hadithe an, um die verschiedenen Aspekte der aufrichtigen Ergebenheit zu beschreiben, die sich allgemein nach der Maxime richten, die verborgenen Götzen aus dem Innern zu entfernen. Für die Allgemeinheit der Menschen bedeutet, schreibt er, demnach die aufrichtige Ergebenheit, etwas für Gott hinsichtlich des diesseitigen und jenseitigen Lebens, zu tun, um Lohn zu erhalten und vor Strafe bewahrt zu bleiben. Diese Leute sehnen sich nach Unversehrtheit, Geld und paradiesischen Gelüsten. Sie beabsichtigen, das eigene Handeln nicht anhand der Meinung anderer auszurichten. Wer sich dagegen auf dem Weg der Erkenntnis befindet, für den findet aufrichtige Ergebenheit statt, indem er nur auf das Jenseits ausgerichtet ist, dort jedoch, in Liebe und Lobpreis, keinen Lohn erwartet. Die höchste Ebene der aufrichtigen Ergebenheit ist, etwas mit Gott (bi-Llāh) zu tun, als Sein Diener, in vollkommener Übereinstimmung mit der göttlichen Herrschaft. Das bedeutet, aller Kraft und Stärke sowie allem, was der reinen Absicht und Ausrichtung auf Gott entgegensteht, zu entsagen.65 Als erste Station auf der Stufe des Glaubens kommt der aufrichtigen Ergebenheit eine bedeutende Rolle zu. Mit einer reinen Absicht beginnt wirklicher Glaube, der in Übereinstimmung mit der Strebenskraft (himma) des Reisenden steht. Er ist nun in der Lage, die göttlichen Manifestationen zu erahnen und 62
BM, Bd. 8, S. 358. Kanz: Muslim, Ibn Māǧa, Nr. 7474. 64 Kanz: Ibn Māǧa der Bedeutung nach, Nr. 7489, Varianten dazu u. a. bei Aḥmad, Ṭabarānī, und al-Ḥākim, Nr. 7505. Ebenfalls Kanz: Ṭabarānī, 7513; beide Hadithe nennt Ibn ʿAǧība in IH, S. 50. 65 IH, S. 50; MSW, S. 246; MT, S. 10. 63
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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Glauben zu erfahren.66 Die Weisheit 42 as-Sakandarīs lautet: „Reise nicht von Sein zu Sein, denn das ist wie der Esel, der um die Mühle kreist. Er reist zu dem Punkt, an dem er auch beginnt. Reise vielmehr vom Sein zum Erschaffer des Seins. ‚Und dass bei deinem Herrn das Ende ist‘ (K 53:42).“67 Von Sein zu Sein zu reisen, kommentiert Ibn ʿAǧība, drückt den Vorgang aus, wenn jemand dem Diesseits entsagt, um Ansehen zu erlangen. Dies, da auch metaphysische Gegenstände zum Diesseits zählen. Das mag dem Menschen als Reise erscheinen, er dreht sich jedoch lediglich im Kreis.68 „Nichts ist schwerer für das Ego, als aufrichtige Ergebenheit. Jedes Mal, wenn der Diener sich bemüht, der Frömmelei zu entsagen, erscheint sie in einer anderen Farbe. Der Diener läutert sich von ihr nur durch sein Vergehen [seines Selbst] und seine vollständige innere Abwesenheit von allem [was Ihm gleich erscheint]. Aus diesem Grund sagen einige [Sufis], dass aufrichtige Ergebenheit nur im Herzen wachsen kann, wenn jemand sein Ansehen unter den Leuten verliert und die Leute ihr Ansehen bei ihm verlieren.“69
Ein weiteres Kriterium für die aufrichtige Ergebenheit liegt im Aya: „Sag: ‚Wenn das ewige Haus bei Gott euch allein eigen, unter Ausschluss anderer Menschen, dann wünscht euch den Tod, wenn ihr doch wahrhaftig seid!‘“ (K 2:94). Denn „jede Handlung, die durch [die Erinnerung an] den Tod nichtig wird, ist mangelhaft und jeder Zustand, den [die Erinnerung an] den Tod zunichtemacht ist schwach und wer vor dem Tod flüchtet, dessen Behauptung über die Liebe [Gottes] ist falsch.“70 Das trifft sich mit der Auslegung, der Mensch solle seine Taten Gott widmen, also in Anbetracht des Jenseits. Auf der Stufe des Glaubens befindet sich der Mensch nun tatsächlich auf dem Weg und ist beauftragt, nicht mehr nur den rechten Weg zu finden und Gutes von Schlechtem zu unterscheiden, sondern auf dem Weg voranzuschreiten. Durch die Ausrichtung des Innern auf das Ziel im Sinne der Aufrichtigkeit und der Kraft, die in der aufrichtigen Ergebenheit liegt, kommt der Reisende voran. Die Kraft der aufrichtigen Ergebenheit, die den Diener antreibt, ist die Liebe in ihm, die von der nun wachsenden Gewissheit (yaqīn) über Gott im Herzen ausgeht. Der Mensch erahnt die göttliche Schönheit, der er sich in Liebe von Natur aus zuwendet. Eine der Weisheiten des as-Sakandarī lautet: „Du liebst nichts, ohne dass du diesem Diener bist. Und Er liebt es nicht, dass jemand anderes Diener hat.“71 Ibn ʿAǧība kommentiert das pointiert mit den Worten: „Das Herz, wenn es etwas liebt, wendet sich diesem zu, beugt sich ihm und ist ihm gehorsam.“72 66
Vgl. IH, S. 92. IH, S. 124. 68 Ebenda, S. 125. 69 BM, Bd. 2, S. 125–6. 70 Ebenda. 71 IH, S. 448. 72 Ebenda. 67
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Und der Diener besitzt nur ein Herz, nach dem Aya: „Nicht geschaffen hat Gott einem Mann zwei Herzen in seiner Brust“ (K 33:4). Dieses Herz kennt, schreibt er, nur ein Antlitz – je mehr es seinen Herrn erkennt, desto weniger bleibt es verschleiert. Wer seine Natur läutert und sich aus den Fesseln seines Egos befreit, der tritt ein in die Liebe zu seinem Herrn.73 5.1.2.2 Ṣidq – Wahrhaftigkeit Ṣidq ist die Station der Wahrhaftigkeit in der Stufe des īmān – des Glaubens. Die Wahrhaftigkeit (ṣidq) ist das Herzstück des Glaubens. Sie ist der innere Kern der aufrichtigen Ergebenheit (iḫlāṣ). Wahrhaftigkeit ist „der Umsturz der Freuden des Egos, während das Antlitz auf Gott, den Erhabenen, ausgerichtet ist, gestützt auf die Kühle der Gewissheit. Oder: Die Ausgeglichenheit des Äußeren und Inneren hinsichtlich der Aussagen, der Taten und der Zustände sowie das Festhalten an der Zurückhaltung, um die Geheimnisse des Barmherzigen zu schützen.“74
Die Wahrhaftigkeit wird an vielen Stellen im Koran erwähnt. Etwa: 2:177, 6:40, 33:23, 54:55. So auch: „O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott und seid mit den Wahrhaftigen!“ (K 9:119). „Die Wahrhaftigkeit ist ein scharfes Schwert“, schreibt Ibn ʿAǧība, „wenn sie auf etwas gelegt wird, schneidet es hinein.“75 In den Aussagen eines Menschen äußert sich das so, führt er aus, dass sie ihn vor der Lüge bewahrt. In den Taten bewahrt sie ihn vor der Frömmelei (riyāʾ ). Und in den Zuständen bewahrt sie ihn vor einer falschen oder schlechten Absicht, wie etwa, sich Anerkennung zu wünschen.76 Kurzgefasst bedeutet es, die Wahrhaftigkeit zu beherzigen, sein Inneres zu läutern, damit es sich nicht auf etwas Anderes richtet, als auf den Wirklichen. Darum ist Wahrhaftigkeit „die Stütze des Weges der Reisenden und das Tor der die Anwesenheit [des Göttlichen] Erkennenden.“77 Zu Beginn der Stufe des Glaubens (īmān) erahnt der Diener die göttlichen Manifestationen eher, als dass er sie erkennt. Sein Erleben beschränkt sich auf ein Schmecken oder Kosten (ḏawq). Durch die Wahrhaftigkeit aber gelangt er in die Lage, zum „Getränk des Einheitsglaubens“78 (mašrab at-tawḥīd) zu gelangen, wie Ibn ʿAǧība es auch ausdrückt, indem er seine Aufmerksamkeit gänzlich von seinem Ego abwendet und auf den Einen, den Wirklichen richtet.79 Der Einheitsglauben ist nicht mehr nur ein mehr oder minder entferntes Ziel, sondern hält langsam Einzug im Herzen. 73
IH, S. 449–10; vgl. BM, Bd. 6, S. 7. MT, S. 10. 75 BM, Bd. 3, S. 132. 76 Ebenda, S. 132–3. 77 MSW, S. 246. 78 Ebenda. 79 Ebenda; MT, S. 39. 74
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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Im Vergleich mit der aufrichtigen Ergebenheit (iḫlāṣ), schreibt Ibn ʿAǧība, meint diese die Auslöschung vom verborgenen Beigesellen während die Wahrhaftigkeit (ṣidq) die vollständige Reinigung im Anschluss bedeutet, wie Gold während der Raffination von Überresten gereinigt wird.80 Dem Ego zu schmeicheln, führt er aus, und seinen Leidenschaften nachzueifern ist mit der Wahrhaftigkeit nicht vereinbar, wohl aber auf der Station der aufrichtigen Ergebenheit noch möglich. Wahrhaftigkeit löscht diese aus. Wahrhaftigkeit kann nur wirklich erlebt werden, wenn nicht dem eigenen und dem Ego anderer geschmeichelt wird. Der Unterschied zwischen der aufrichtigen Ergebenheit und der Wahrhaftigkeit ist, dass bei ersterer das verborgene Beigesellen geläutert wird und bei zweiterer das Herz von den Resten der Heuchelei befreit, indem es von Einbildungen geläutert wird. Das Kriterium für die Wahrhaftigkeit ist, schließt er diesen Gedanken, dass es dem Diener gleich ist, ob etwas im Geheimen oder öffentlich geschieht. Er schämt sich seiner Schlechtigkeit nicht, würde sie selbst der gesamten Menschheit bekannt. Dies, da Niedrigkeit und Ansehen der Leute kein Gewicht in seinem Herzen haben, nur das Ansehen bei seinem Herrn.81 Wahrhaftigkeit bedeutet darauf aufbauend, mehr als eine reine Absicht in sich zu tragen. Wahrhaftigkeit bedeutet, schreibt er an anderer Stelle, das Gute zu tun, ohne zu glauben, dass dies aus eigener Kraft oder Stärke geschehen kann; ohne den Blick auf das eigene Selbst, was mit einem Fehlen von Einflüsterungen und Einbildungen einhergeht. Ist das der Fall, tritt der Lobpreis Gottes in das Herz des Dieners; er hofft nicht auf Lohn, sondern nur auf die Zufriedenheit Gottes und Seine Gnadengabe: „Sag: ‚Über die Gnadengabe und über Seine Barmherzigkeit, darüber sollen sie sich freuen. Das ist besser als das, was sie ansammeln‘“ (K 10:58). Denn wenn das Herz vom Ballast des Diesseits befreit wird, kann es als Spiegel der göttlichen Manifestationen dienen, was Anlass zur Freude ist.82 Demgemäß verknüpft Ibn ʿAǧība die Wahrhaftigkeit mit den höchsten Rängen der Dienerschaft. Der Gottesfreund Abraham betet im Koran: „Und verleihe mir einen Ruf, einen wahrhaftigen, bei den Späteren!“ (K 26:84). Die Wahrhaftigkeit, schreibt er, werde hier mit dem Ruf verbunden, als Teil der ursprünglichen ḥanīfen Religion. Der Ruf hallt im Diesseits und Jenseits nach, wie es im Hadith heißt: „Wenn Gott einen Diener liebt, ruft Er Gabriel und spricht: ‚Wahrlich, Gott liebt diesen jemand.‘ Da liebt Gabriel diesen. Sodann ruft Gabriel den Leuten des Himmels zu: ‚Wahrlich, Gott liebt diesen jemand, so liebt ihn!‘ Daraufhin lieben ihn die Leute des Himmels. Hernach wird ihm Anerkennung auf Erden gegeben.“83 80
MSW, S. 246. Ebenda, S. 246; MT, S. 10. 82 Vgl. IH, S. 288–9; BM, Bd. 3, S. 174. 83 BM, Bd. 5, S. 180; das Hadith in Kanz: Muslim und Buḫārī, Nr. 30761. 81
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Zusammenfassend bestehen mehrere Ebenen der Wahrhaftigkeit. Zu Beginn besteht sie daraus, „hinsichtlich gottesdienstlicher Handlungen die Freuden des Diesseits und Jenseits abzulehnen.“84 Für die tatsächlich Reisenden besteht sie darin, alles abzulehnen, was von der Beschäftigung mit Gott abhält.85 Die höchste Form der Wahrhaftigkeit besteht schließlich darin, alle Beachtung von Dingen abzulehnen, die vom Einheitsglauben ablenken: „Äußerlich ist das Dienerschaft, im Innern jedoch Freiheit.“86 Wenn dann durch die Reinheit der Absicht, die Wahrhaftigkeit, das Herz geläutert ist, wird der Mensch fähig, sich der göttlichen Allmacht zu übereignen und den eigenen Plänen und Wünschen zu entsagen. Bleibt dieser Zustand im Herzen erhalten, tritt schließlich eine Ruhe ein, Ruhe von der Verwirrung, die das Diesseits im Herzen verursacht. Diese Ruhe führt zu dem nächsten Schritt auf dem Weg. 5.1.2.3 Ṭumaʾnīna – Seelenruhe Ṭumaʾnīna ist die Station der Seelenruhe in der Stufe des īmān – des Glaubens. Seelenruhe (ṭumaʾnīna) ist die Ruhe, die das Herz schließlich überkommt, wenn der Reisende sich um aufrichtige Ergebenheit und Wahrhaftigkeit bemüht. Sie ist „die Ruhe eines zu Gott hingewandten Herzens, frei von Unsicherheit und Störung, vertrauend auf seine Sicherheit und genügsam in seinem Wissen oder fest in seiner Erkenntnis.“87 Seelenruhe erfasst den Diener, wenn er ausreichend Hinweise auf Gott begreift, indem er sowohl über sie meditiert ( fikra), als auch durch andauernden Gehorsam und Anstrengung oder wenn der Schleier durch Einsicht und wahre Erkenntnis gelüftet wird.88 Die Ruhe des Herzens geht laut Ibn ʿAǧība mit einer gewissen Schau der göttlichen Wirklichkeit einher. Denn wenn Ruhe auf der Oberfläche des Herzens einkehrt und die Vorurteile und Einbildungen ausgeräumt werden, dann kommt die wahre Natur des Herzens zu tragen, die in der Erkenntnis des Göttlichen in der Welt liegt. Über der stillen Oberfläche gehen dann gewissermaßen die göttlichen Lichter auf. Diese sind auf der Stufe des Glaubens jedoch noch schwach und lediglich ein Abglanz dessen, was auf der Stufe des iḥsān vorhanden ist.89 Kurzgefasst unterteilt er die Seelenruhe an einer Stelle in drei: 1. Die Seelenruhe des Gedenkens, 2. die Seelenruhe der Nähe und 3. die Seelenruhe der Schau. Die erste Form tritt ein, beschreibt er, wenn das Herz Gottes gedenkt, nach dem Aya: „Die, die glauben und deren Herzen im Gedenken Gottes ruhen – ja, im 84
MSW, S. 246. Vgl. ebenda. 86 Ebenda. 87 MT, S. 11. 88 Vgl. ebenda, S. 11–2. 89 Vgl. SBMS, S. 303–6. 85
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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Gedenken Gottes ruhen die Herzen“ (K 13:28). Die zweite Form, die Seelenruhe der Nähe, tritt ein, wenn der Diener in seinem Herzen auf Gott konzentriert ist. Die dritte und höchste Form der Seelenruhe findet sich schließlich erst in der wahren Gewissheit.90 Prinzipiell, schreibt Ibn ʿAǧība, kann Seelenruhe in Anbetracht der Existenz Gottes auch durch Hinweise (adilla) und deren Verstehen erlebt werden, wie es die Gelehrten durch ein geistiges Studium tun (Kalam). Diese ist jedoch nicht mit der Seelenruhe vergleichbar, die das Herz ergreift und damit die Gottesschau ermöglicht. Er zitiert dazu Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī „Tatsächlich ist das Gedenken Gottes nichts anderes, als das, was dem Herzen Ruhe beschert und wenn sich hernach die göttlichen Lichter der Wirklichkeiten ausbreiten.“91 Im Koran lautet es: „Und unter den Menschen manch einer, der dient Gott am Rande nur. Trifft ihn Gutes, ist er gefasst (iṭmaʾanna). Trifft ihn aber eine Prüfung, wendet er sich zurück zu seinem Weg. Er verliert das Diesseits und das Jenseits. Dies, der Verlust, der offenkundige“ (K 22:11). Seelenruhe kann, kommentiert Ibn Aǧība, verschiedene Formen annehmen und im Kontext verschieden wahrgenommen werden. Wirkliche Seelenruhe jedoch findet sich nur auf der Reise, welche die Herzenserkenntnis zum Ziel hat. Denn die Auslegung der Religion durch den Verstand ist mangelhaft und hilft im Angesicht der Prüfung nur ungenügend.92 Das Ziel der Seelenruhe kann so formuliert werden, dass das Gedenken Gottes (oder schlicht der Glaube), das durch die Läuterung der vorangegangenen Stufen in das Herz getreten ist, nun im Herzen verbleiben soll – es tritt Ruhe ein vor dem Chaos der Welt. Im Koran heißt es dazu: „Wenn ihr habt verrichtet das Gebet, dann gedenket Gottes im Stehen, Sitzen und im Liegen auf den Seiten. Und wenn ihr sicher seid (iṭmaʾnantum), verrichtet das Gebet. Das Gebet ist für die Gläubigen Vorschrift zu bestimmten Zeiten“ (K 4:103). In der Wiederholung des Ausdrucks „Gebet“ in diesem Aya liest Ibn ʿAǧība, dass damit nicht mehr nur das rituelle Gebet gemeint sein kann, da es mit der Seelenruhe verbunden wird. Der Diener betet in dieser Station nicht mehr nur zu bestimmten Zeiten, sondern andauernd im „Herzensgebet“ (aṣ-ṣalāh al-qalbiyya).93 Das sind „die in ihren Gebeten Beständigen“ (K 70:23).94 Zu einem beruhigten Herzen wird im Koran gesprochen: „O du Seele, eingetaucht in Ruhe! Kehre zurück zu deinem Herrn, zufrieden und von Seinem Wohlgefallen getragen! Tritt ein zu Meinen Dienern“ (K 89:27–9). Wenn tatsächlich durch Übung und Anstrengung Ruhe in das Herz einkehrt, kommentiert Ibn ʿAǧība, überwiegt die Seele des Menschen alle anderen Kräfte. Fern von den 90
MSW, S. 247. BM, Bd. 3, S. 349. 92 Bd. 4, S. 407–8. 93 BM, Bd. 2, S. 99. 94 Ebenda. 91
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
göttlichen Manifestationen zu sein, erscheint ihm dann als nagendes Feuer. Der Ruf, „Kehre zurück zu deinem Herrn“, meint die Rückkehr der Seele zur Gottesschau, nachdem sie durch die Anschauung des Diesseits verschleiert war.95 Ein Merkmal der Seelenruhe ist ganz im Wortsinn der „Ruhe“, dass ihren Träger in Not und Schwierigkeiten nichts erschüttert. In allen Dingen und Geschehnissen sieht er die Allmacht wirken.96 Als letzte Station vor der höchsten Stufe der Religion, iḥsān, bildet sie wie die Aufrichtigkeit (istiqāma) einen Übergang. Das Verstehen oder Schauen der göttlichen Manifestation, das die Seelenruhe ermöglicht, birgt die Schau, die das Mittel zur letztendlichen Gotteserkenntnis darstellt. Nach den Worten im Koran: „Sag: ‚Schaut, was in den Himmeln und auf der Erde.‘ Nichts nützen die Zeichen und die Warnungen den Leuten, die nicht glauben“ (K 10:101). Nur durch die Läuterung der inneren Götzen, das Polieren des Spiegels und der damit einkehrenden Ruhe wird der Übergang in die dritte Stufe möglich. Der Reisende schaut die göttlichen Manifestationen in der Welt, wenn auch schwach.97 Gewissermaßen muss der Spiegel des Herzens erst ruhen, um die göttliche Schönheit fassen zu können. Die 14. Weisheit as-Sakandarīs lautet: „Der Kosmos ist dunkel und leuchtet durch die Erscheinung Gottes darin. Wer nun den Kosmos sieht und Ihn darin nicht schaut, dabei, davor oder danach, dem fehlen die Lichter; die Sonnen seiner Erkenntnisse sind verdeckt durch die Wolken der Eindrücke.“98 Das bedeutet, der Suchende kann Gott in der Welt erkennen, in Himmel und Erde, in der Dualität, wenn er sein Herz beruhigt und die Lichter eintreten lässt.99 Das führt unmittelbar zur Ebene der Vervollkommnung des Glaubens. 5.1.3 Iḥsān – Vervollkommnung 5.1.3.1 Murāqaba – Konzentration Murāqaba ist die Station der Konzentration oder Wachheit in der Stufe des iḥsān – der Vervollkommnung. Der Mensch ist von einfacher Gewissheit über die grundlegenden Werte und Eigenschaften (islām) in die Stufe des Glaubens (īmān) gewechselt, wo seine Gewissheit über den Einheitsglauben maßgeblich gewachsen ist. Erfüllt daraufhin die Seelenruhe den Diener gänzlich, kann er in die Stufe der Vervollkommnung (iḥsān) wechseln. Auf dieser Stufe beschränkt sich die Kenntnis seiner selbst nicht mehr nur auf das Herz, sondern erstreckt sich auf die Seele. War die Ebene der Seele in der Stufe des Glaubens noch eine Ahnung, ist sie auf der Ebene der Vervollkommnung zugänglich.100 Das ent95
BM, Bd. 8, S. 323. Vgl. ebenda. 97 Vgl. BM, Bd. 3, S. 193–4. 98 IH, S. 72–3. 99 Vgl. ebenda, S. 72–5. 100 Vgl. ebenda, S. 148. 96
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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spricht dem Gleichnis von der Kenntnis einer Stadt, das schon öfters erwähnt wurde; der ansteigenden Gewissheit, die der Mensch erlangt, wenn er zunächst von einer Stadt gehört hat und sich auf den Weg dorthin macht (islām). Gelangt er zu ihr, glaubt er fest an ihre Existenz, da er sie mit eigenen Augen sieht (īmān). Betritt er sie schließlich, lernt er ihre Wege kennen und erkennt die Stadt von innen (iḥsān).101 Wie im Kapitel zum Stufengebilde (2.1) beschrieben, gilt es zu bedenken, dass die Ebene der Vervollkommnung (iḥsān) ungemein schwer mit Worten auszudrücken ist, da sie gänzlich in den Rahmen des Erlebens, der išāra, fällt. Dementsprechend ist die Sprache, die Ibn ʿAǧība verwendet, von Metapher und Gleichnis geprägt sowie von einer Systematik, die sich der Tendenz nach in der Tradition der Šāḏiliyya verorten lässt, wie auch in den Kapiteln zu den textuellen Quellen (3.1.2.4) und zur Lichtmetapher (3.2.2.2) erörtert. Die Stufe der Vervollkommnung baut auf den beiden vorigen Stufen auf. Das bedeutet, sie gehen nicht verloren, sondern bilden das Fundament für die dritte Stufe. Wie verschiedentlich gesehen hatten allgemein alle Werte bisher mehrere Dimensionen, in der dritten bleibt das zum Teil erhalten, die Perspektive ändert sich jedoch. In der Lichtmetapher ausgedrückt, kommen nun nach den Lichtern Gottes, den Spuren der göttlichen Manifestationen in den Stufen der Hingabe (islām) und des Glaubens (īmān), die Lichter der Vervollkommnung (iḥsān) hinzu. Die Erkenntnis der Lichter – der Zeichen Gottes in der Welt – baut aufeinander auf, nach den koranischen Worten: „Licht über Licht.“ (24:35).102 Ibn ʿAǧība definiert die Konzentration (murāqaba) mit den folgenden Worten: „Konzentration ist bleibendes Wissen des Dieners von der Kenntnis des Herrn. Oder die Wahrung der Rechte Gottes im privaten und öffentlichen Rahmen, frei von Einbildungen und wahrhaftig im Respekt. Sie ist der Ursprung alles Guten.“103
Die Erkenntnis des Menschen, dass Gottes Erscheinung in der Welt erfahrbar ist, gelingt durch Annäherung an das Licht der Wahrheit. Das Wissen Gottes umfasst ohnehin alle Dinge und Er ist dem Menschen näher als seine eigene Halsschlagader: „Und Wir sind ihm näher als die Halsschlagader“ (K 50:16). Die Nähe Gottes zu den Dingen ist jedoch nicht mit der Nähe des Menschen zu Gott gleichzusetzen. Dafür ist es nötig, dass er sich auf die Reise begibt.104 Gelingt es dem Diener, die Station der Konzentration zu erreichen, hat das Licht seiner Erkenntnis stark zugenommen. Nach der Definition fährt Ibn ʿAǧība fort und sagt, dass die Kenntnis, „die mit der Konzentration gewonnen wird, das Maß 101
Vgl. SD, S. 289. Vgl. IH, S. 149; BM, Bd. 5, S. 84. 103 MT, S. 7. 104 Vgl. BM, Bd. 7, S. 194. 102
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
der Anschauung (mušāhada) bestimmt“105, welche die nächste Station der Vervollkommnung darstellt. Wie auch Erkenntnis ohne die Reise erlangt werden kann, die dann jedoch lediglich auf geistigem Weg erfolgt und nicht das Herz umfasst, kann auch die Konzentration ohne die Dimension des Herzens und der Seele erfolgen. Demnach „bedeutet für die Leute des Äußeren (ahl aẓ-ẓāhir) Konzentration, die Gliedmaßen vor Fehltritten zu bewahren.“106 Für all jene, die sich mit der inneren Dimension beschäftigen, „bedeutet sie, das Herz vor den Einflüssen von Einbildungen und Unaufmerksamkeiten zu schützen.“107 Die Konzentration auf der höchsten Ebene meint laut Ibn ʿAǧība schließlich, das Innerste davor zu bewahren, sich auf etwas anderes einzulassen, als auf Gott.108 Die Konzentration des Reisenden umfasst alle drei Ebenen, was schon ein bestimmtes Maß an Vollkommenheit ergibt: „Durch die Seelenruhe füllt sich das Herz mit Gott an, der Einheitsglauben (tawḥīd) wird rein im Herzen und es wird zur Seele gesprochen: ‚Es ist für dich an der Zeit, deine Quelle zu reinigen und dass du dich dem Ersehnten näherst. Konzentriere dich denn auf deinen Herrn, auf dass Er es dir andauern lässt. Dadurch erhältst du Anschauung, wodurch Er mit dir anwesend ist, nah bei dir. Wird dein Innerstes gereinigt, ist dies der Platz für den Blick Gottes.‘“109
Die Station wird Konzentration oder Wachheit genannt, da sich die Gewissheit im Herzen nun zwar auf der höchsten Stufe befindet, jedoch noch nicht gefestigt ist – die Aufgabe besteht darin, die Konzentration zu halten. Koran: „So achtet [fa-rtaqib; das Verb zum arabischen murāqaba] auf den Tag, an dem der Himmel hervorbringt einen Rauch, einen offenkundigen, der die Menschen bedeckt“ (K 44:10–1). Ibn ʿAǧība kommentiert dazu, dass der Erkennende darauf achten solle, dass nicht der Rauch der äußeren Schale der Dinge die Sonnen der Erkenntnisse verdecke.110 Gelingt die Konzentration auf der Stufe der Vollkommenheit, gilt für den Diener, wie es im Koran heißt: „Wo ihr euch hinwendet, ist das Antlitz Gottes“ (K 2:115). Er vermag es, Gott beziehungsweise die Zeichen Gottes in allen Dingen zu erkennen; er durchschaut die Hülle des Diesseits und sieht das göttliche Licht darin.111 Mit der ersten Station der Vervollkommnung beginnt er, sich der wahren Erkenntnis zu nähern und er gerät in den Bannkreis der höchsten Form des Gottesdienstes. Ibn ʿAǧība beschreibt: Während in der ersten Stufe die Lichter der Manifestationen von Ferne gesehen wurden und in der zweiten 105
MT, S. 7.
106 Ebenda. 107 Ebenda. 108 Ebenda. 109
MSW, S. 247. BM, Bd. 7, S. 46–7. 111 Vgl. BM, Bd. 1, S. 123. 110
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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Stufe von nahem, beginnen sie nun, sich mit ihm zu verbinden (ittiṣāl). In der Metapher heißt das, dass auf der Stufe der Hingabe die Lichter schwach sind wie die der Sterne. Auf der Stufe des Glaubens sind sie mittelstark wie das des Mondes und auf der Stufe der Vervollkommnung sind sie strahlend wie das Licht der Sonne. Oder auch: „das Licht der Hingabe strahlt, wie das der Sterne.“112 Das Licht des Glaubens strahlt, wie der „Mond der Einheit“ (tawḥīd). Und das Licht der Vervollkommnung strahlt, wie „die Sonne der Erkenntnis.“113 Die Konzentration kann zwischen dem Herzen und der Seele pendeln. Ibn ʿAǧība zählt sie an einigen Stellen zu der Stufe des Glaubens (īmān), da sie wie vieles mehrdimensional ist.114 Sie stellt den Beginn und die Vorbereitung für die Station der Anschauung (mušāhada) dar und zielt darauf ab, dass eine gewisse Vereinigung geschieht, wie es in der Definition angedeutet wird: „Konzentration ist bleibendes Wissen des Dieners von der Kenntnis des Herrn.“115 Denn von Kenntnis erlangtes Wissen ist wirkliche Annäherung. Annäherung und Vereinigung sind letztlich nichts anderes, als Wissen und Gewissheit, dass Ort und Zeit keine wirkliches Sein aufweisen. Der Kosmos ist beständig, da Gott ihn im Sein erhält. Gleichzeitig besteht er nicht, da derjenige, der das Wesen der Dinge erkennt, sieht, dass im Innern alles Eins ist. „Das Licht Seiner Einheit löscht das Sein des Kosmos aus.“116 Ibn ʿAǧība zitiert dazu auch das Hadith qudsī, das besagt: „Gott, der Erhabene, spricht: ‚Der Sohn Adams schmäht die Zeit, Ich aber bin die Zeit. In Meiner Hand liegen Nacht und Tag.‘“117 Raum und Zeit bestehen nur, insofern sie als von Gott in ihrer Vielheit erhalten werden. Wird der Blick dagegen auf die Einheit gerichtet, in der letztlich alles auf Gott, den Einen, verweist, wird die Vielheit nichtig. 5.1.3.2 Mušāhada – Anschauung Mušāhada ist die Station der Anschauung oder Kontemplation in der Stufe des iḥsān – der Vervollkommnung. Bei andauernder Konzentration wird dem Reisenden die Anschauung (mušāhada) der göttlichen Manifestationen eröffnet (kašf ). Auf dieser Station sind die inneren Augen des Menschen so weit geöffnet, dass die vergänglichen Dinge in ihm vergehen und nur die Anschauung des Ewigen bleibt. Im Koran lautet es: „Nicht erreichen Ihn die Blicke, aber Er erreicht die Blicke“ (K 6:103). Denn die Blicke der vergänglichen Form des Menschen vermögen Ihn nicht zu erfassen. Die Seele allerdings vermag dies, 112
IH, S. 253. Ebenda, S. 252–3. 114 BM, Bd. 1, S. 122; IH, S. 390. 115 MT, S. 7. 116 IH, S. 457. 117 Ebenda; das Hadith u. a. bei Muslim und Buḫārī, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 323. 113
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nach den koranischen Worten „Sag: ‚Die Seele ist von der Angelegenheit meines Herrn‘“ (K 17:85).118 Auf der dritten Stufe, wo der Diener nach und nach in der Schau aufgeht und seine Seele zum Tragen kommt, geschieht es schließlich, dass das Hadith qudsī sich bewahrheitet: „Mein Diener fährt nicht fort, sich Mir durch zusätzliche Gebete zu nähern, bis Ich ihn liebe. Und wenn Ich ihn liebe, bin Ich sein Hören, mit dem er hört, sein Sehen, mit dem er sieht, seine Hand, mit der er greift und sein Fuß, mit dem er geht.“119 Dort handelt der Mensch nicht mehr für Gott (li-Llāh), sondern mit Gott (bi-Llāh), wie die Sufis es und Ibn ʿAǧība auch gerne ausdrücken.120 Ibn ʿAǧība beschreibt die Anschauung auf folgende Weise: „Anschauung (mušāhada) und Betrachtung (muʿāyana). Anschauung (mušāhada) ist das Sehen des subtilen Wesens in den Erscheinungen seiner greifbaren Manifestationen. Sie wandeln sich dann zurück in die Verdichtung des Subtilen. Steigt anschließend die Liebe [zwischen dem Diener und seinem Herrn], sodass sich die verdichteten Lichter in ihren subtilen Zustand zurückverwandeln, ist das Betrachtung (muʿāyana). Das Dichte wird wieder subtil. Die Betrachtung ist schärfer und subtiler als die Anschauung und vollständiger. Mit anderen Worten: die Schau des Wesens ist nur durch ein Mittel möglich, das die subtilen Geheimnisse zu den Erscheinungen der Manifestationen verdichtet. Denn das Subtile kann nicht wahrgenommen werden, solange es subtil bleibt. Dementsprechend ist das Sehen der Manifestation in verdichteter Form Anschauung und wenn sie durch das Eingehen in das Meer der Einheit zu ihrem Ursprung zurückkehren, ist es Betrachtung. Es wird auch gesagt, dass beide synonym sind.“121
Zunächst scheint Anschauung eine gewisse Einseitigkeit in sich zu tragen, im Sinne, dass der Diener seinen Herrn schaut. Tatsächlich aber findet eine wechselseitige Bewegung statt, da die Lichter der Manifestationen in ihrer in den vergänglichen Dingen verdichteten Form, sobald sie erkannt werden, zurück ins Subtile gleiten. Mit steigender Liebe verstärkt sich dieser Prozess. Der zuvor wirkende Schleier hatte die Verbindung von Seele und Lichtern unterbrochen. Wird der schützende Schleier von den Dingen genommen, schaut der Diener das Wesen in den Manifestationen und Gott „schaut dich in der Welt Seines Königreiches. Du schaust Seine Herrschaft und Er schaut deine Dienerschaft.“122 Die Anschauung ist es letztlich, auf die der Prophet im Gabriel-Hadith hinwies, als er sagte: „Vervollkommnung ist, dass du Gott anbetest, als sehest du Ihn, selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich.“123 Sie ist, wie Ibn ʿAǧība schreibt, reine Anbetung und Lobpreis. Sie bedarf keiner Anstrengung. Anstrengung geht 118
Vgl. BM, Bd. 4, S. 124–6; IH, S. 148, 390. Der Beleg für dieses Hadith wurde bereits an früherer Stelle angeführt. 120 MSW, S. 248. 121 MT, S. 9. 122 IH, S. 553 und vgl. S. 553–4. 123 Vgl. BM, Bd. 2, S. 4; der Beleg für das Hadith wurde bereits an früherer Stelle erbracht. 119
5.1 Der Weg zur Erkenntnis – die Stationen der Reise zu Gott
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ihr voraus, wenn aber Anschauung das Innere ergreift, beruhigt sich alles andere und es bleibt nur Kontemplation und Achtsamkeit in der göttlichen Präsenz.124 Die Wechselseitigkeit des Anschauens hat zur Folge, dass das Selbst beziehungsweise das Ego des Dieners vergeht. Denn es ist unmöglich, dass die Seele neben dem Göttlichen etwas anderes schaut.125 Schaut die Seele die Manifestationen wahrhaftig, vergeht das Selbst des Menschen ( fanāʾ ) und er kann nichts anderes mehr wahrnehmen.126 Der Diener ertrinkt im Meer der Einheit und sieht nur noch das Wirken Gottes, sich selbst aber nicht mehr.127 Schaut die Seele auf diese Weise, gerät sie in eine Art der Verzückung (sukr), die eine extreme Form des Erlebens oder des Schmeckens (ḏawq) darstellt.128 Diese Form des Erlebens hat eine Vereinigung zur Folge (ǧamʿ), die den Reisenden zunächst von der Schau der Welt vollständig entrückt.129 Das bedeutet nicht, dass der Mensch in diesem Stadium verloren ist, vielmehr baut die Anschauung wie gesagt auf den vorigen auf. Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī erläutert das Aya „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde“ auf folgende Weise: „‚Gott ist das Licht der Himmel und der Erde‘; das Licht der Himmel der Seelen durch die Anschauung Seiner [Gottes] und das Licht der Erde der Egos durch Einsicht und Dienstbarkeit.“130 In der Verzückung der Anschauung liegt eine Art der Verwirrung, da das Erlebnis, in der Schönheit der Manifestationen aufzugehen, den Menschen überwältigt. Die Frage, die sich anschließend stellt, lautet, ob der Diener der Verzückung, die bis zur Ekstase reichen kann, Herr zu werden in der Lage ist. War der Diener zuvor mit dem Dunkel des Diesseits angefüllt, schreibt Ibn ʿAǧība, reist die Seele nun durch Länder von Licht, nach dem Aya: „Sag: ‚Schaut, was in den Himmeln und auf der Erde!‘“ (K 10:101). Denn, führt er an, in dem Aya heißt es nicht, der Mensch solle die Himmel und die Erde anschauen, sondern es heißt, er solle schauen, was darin verborgen liegt.131 Die Antwort ist laut Ibn ʿAǧība, dass der Diener je nach seiner seelischen Stärke zur Schau der inneren Lichter in der Lage ist: „Die seelische Stärke hängt von der Bereitschaft ab, und die Bereitschaft wiederum vom Grad der Leere von inneren Hindernissen.“132 Abgesehen davon manifestiert sich Gott nur in dem Maße, wie es der Diener auch zu tragen vermag, fährt Ibn ʿAǧība fort. Nach dem Aya: „Gott fordert von niemandem mehr, als er vermag“ (K 2:286). Ließe Gott es zu, dass sich dem Diener mehr Manifestationen offenbaren, als er tragen 124
IH, S. 225; vgl. auch SSIM, S. 153–4. Vgl. IH, S. 147. 126 Vgl. ebenda, S. 371. 127 Vgl. MT, S. 33. 128 Vgl. ebenda, S. 39. 129 Vgl. IH, S. 464–5. 130 BM, Bd. 5, S. 85. 131 SHIF, S. 20–1; IH, S. 541; BM, Bd. 3, S. 193–4. 132 STB, S. 89. 125
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
kann, würde er vernichtet.133 Die Menschen unterscheiden sich, schreibt er, in dem Maß, das sie ertragen. Was dem einen erträglich ist, lässt andere schmelzen. Der Unterschied richtet sich nach der Nähe des Dieners zu seinem Herrn und bestimmt das Maß der wahrnehmbaren Manifestationen. Die Nähe des Dieners richtet sich wiederum nach der Reinheit seines inneren Spiegels, die sich nach dem Maße seiner Askese (zuhd) richtet. Und die Askese, im Sinne der Freiheit des Herzens von allem, was von Gott ablenkt, richtet sich nach der Strebenskraft des Reisenden, die da wie „die Flügel der Seele“134 ist, die in die Anwesenheit Gottes führen. Abschließend zu diesem Gedanken führt das Hadith an: „Wahrlich, Gott versorgt den Diener entsprechend dem Maße seiner Strebenskraft.“135 5.1.3.3 Maʿrifa – Erkenntnis Maʿrifa ist die Station der Erkenntnis oder der Gotteserkenntnis in der Stufe des iḥsān – der Vervollkommnung. Die Erkenntnis, Gotteserkenntnis oder Herzenserkenntnis (maʿrifa) ist das Ziel der Reise und die letzte Station auf der höchsten Stufe. Sie stellt die höchste Form des Gottesdienstes dar, in dem der Diener allein auf seinen Herrn ausgerichtet ist.136 Die letzte Verwirrung, die auf der Station der Anschauung noch herrschte, weicht der Lauterkeit der Erkenntnis. Das geschieht durch die wahrhafte Gewissheit (ḥaqq al-yaqīn) und die vollkommene Ausrichtung des Innern auf Gott. Ibn ʿAǧība definiert die Erkenntnis auf folgende Weise: „Die Erkenntnis ist das Meistern der Anschauung und ihrer Verbindung. Sie bedeutet dauerhafte Schau mit einem liebenden Herzen, das nichts außer seinen Herrn schaut und sich nicht etwas anderem zuwendet. Dies, während Gerechtigkeit aufrechterhalten und der Rahmen der Scharia eingehalten wird. Das sind die Grenzen der Stufen, die mit der Erkenntnis enden.“137
Mit der Erkenntnis hat die Reise ein Ende. Sie ist das Ziel, schreibt Ibn ʿAǧība, nach den koranischen Worten: „Und dass bei deinem Herrn das Ende ist“ (K 53:42). Er fährt fort: In der Metapher des Weges oder der Reise des Menschen zu seinem Herrn stellt die Erkenntnis das Ankommen dar (al-wuṣūl ilā Allāh). Tatsächlich ist sie kein Ankommen, da Gott keinen Ort besetzt, der erreicht werden könnte. Die Erkenntnis ist vielmehr die, dass der Eine wahrhaftig Eins ist und dies den Diener vollkommen einnimmt – der Einheitsglaube ist vervollkommnet. Denn die Erkenntnis einer Sache bedeutet, dass die Distanz zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten verschwindet.138 133 Ebenda. 134
STB, S. 89; MT, S. 6. STB, S. 89–90; das Hadith in Kanz: Abū Nuʿaym, Nr. 628. 136 Vgl. BM, Bd. 7, S. 225. 137 MT, S. 9; MSW, S. 248. 138 BM, Bd. 7, S. 257; IH, S. 125, 112. 135
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Das Ankommen ist eigentlich Wissen von Gott. Ibn ʿAǧība: „Die Bedeutung des Ankommens bei ihnen [den Sufis] ist die Durchsetzung des Wissens Seines Seins allein. Dein Ankommen bei Ihm ist deine Wahrnehmung von deinem Nichtsein, bis dieses dein Nichtsein notwendig ist und dein Wissen von Seinem Sein ebenso. Das sei dir Zusammenfassung hinsichtlich dieser Angelegenheit, aber du kannst es nicht wahrnehmen. Diesbezüglich sagten einige und manches davon ist von aš-Šuštarī: Zwischen Auf- und Untergang – ist verworren die Liebespoesie Vergehe, oh der du nie warst – dass bleibt, der nie vergeht Dabei meint das Vergehen das Erkennen, was das Ankommen bedeutet, dessen Grund das Wandern der Meditation ist.“139
Im Gabriel-Hadith lautet es für die Beschreibung der dritten Stufe: „Vervollkommnung ist, dass du Gott anbetest, als sehest du Ihn, selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich.“ Auf der Ebene der išāra, merkt Ibn ʿAǧība an, könne innerhalb dieses Satzes innegehalten werden. Wörtlich übersetzt lautet das Hadith an der besagten Stelle: „Und wenn du nicht bist Ihn sehend“ ( fa-ʾin lam takun tarāhū). Wird nun nach „Und wenn du nicht bist“ ( fa-in lam takun) pausiert und das letzte Wort dieses Satzes „Ihn sehend“ (tarāhū) als eigener Satz verstanden, ergibt sich der Sinn neu, der besagt: Wenn du nicht mehr bist (in der Anschauung vergehst), siehst du Ihn.140 Die Gotteserkenntnis (maʿrifat Allāh) lässt alles vergehen, bis dass nur die Nähe zum Geliebten in der Anschauung bleibt. Dabei bleibt der Mensch zwar bestehen, seine Natur wird jedoch verändert. Als Beispiel dient Ibn ʿAǧība dafür die über dem Horizont aufgehende Sonne. Geht die Sonne auf, erstrahlt der bis dahin dunkle Raum zwischen Himmel und Erde. Das erstrahlende Licht stammt nicht vom Himmel oder der Erde selbst, sondern von der Sonne. Ebenso verhält es sich, schreibt er, mit dem göttlichen Licht, das im Innern des Menschen angelegt ist. Wenn Gott es will, lässt Er diese Lichter der Herrschaft erstrahlen, sodass sie die Seele des Menschen einnehmen. Das führt zur Veränderung des Lebens auf der Erde und lässt den Himmel des Innern erstrahlen.141 Die Erkenntnis ist einerseits das Ziel und damit gleichzeitig Fundament der Religion, entzieht sich jedoch andererseits einer greifbaren Darstellung, da jeder Mensch verschieden ist und in seiner Natur begrenzt. Ibn ʿAǧība: „Gott der Erhabene sagt: ‚Und nicht bemaßen sie Gott nach Seinem wahren Maß‘ [K 6:91], was bedeutet; sie erkennen Ihn nicht mit der richtigen Erkenntnis. Und Gott, der Erhabene, sagt: ‚Du siehst ihre Augen überfließen von Tränen kraft der Wahrheit, die sie erkennen.‘ [K 5:83]. Er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte: ‚Wahrlich die Stütze des Hauses ist sein Fundament und die Stütze der Religion (dīn) ist die Kenntnis 139
IH, S. 455. STB, S. 88. 141 IH, S. 524–6. 140
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
von Gott dem Erhabenen.‘142 Hier ist mit Erkenntnis die Ermöglichung des Zustands der Anschauung gemeint, begleitet von der Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit und des Erhalts von Weisheit. […] Die Grenze der Erkenntnis wird auch beschrieben mit: ‚Die Kenntnis von der Essenz einer Sache wie sie ist.‘ Und die Geschöpfe unterscheiden sich diesbezüglich.“143
Zur Essenz einer Sache vorzudringen ist mit einem Hindernis behaftet. Erkenntnis resultiert aus der Lauterkeit, die sich mit der Überwindung der Extreme, der Dualität in der Anschauung einstellt. In der Anschauung der göttlichen Manifestationen vergeht der Diener. Zuvor pendelte er zwischen den Manifestationen; er schaut entweder im Greifbaren (ḥiss) oder auf der Ebene der Bedeutungen (maʿnā). Das bedeutet, er schaut jeweils nur eine Seite der Dinge und ist währenddessen von der anderen Seite abgewendet. Der in der Anschauung Vergehende schaut vor allem die innere Welt der Dinge. Das ist ein Zeichen für das Vergehen ( fanāʾ ), das noch einen Mangel aufweist, da die Schau noch nicht auf das Ganze gerichtet ist.144 Weitet sich im Anschluss der Fokus des Dieners, mehrt sich seine Liebe und es wird ihm möglich, beide Seiten gleichzeitig wahrzunehmen, Greifbares und Bedeutungen, Weisheit (ḥikma) und Allmacht (qudra), Scharia und Wirklichkeit. Das ist höher und vollkommener als das Vergehen; es ist das Bestehen oder Verbleiben (baqāʾ). Denn Gott manifestiert sich tatsächlich zwischen den Gegensätzen, zwischen Greifbarem und Bedeutungen, zwischen Weisheit und Allmacht.145 In der Vereinigung beider Ebenen liegt die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis verborgen.146 Der Rang der Erkenntnis als Ziel der Reise und die damit einhergehende Nähe offenbart sich in den koranischen Worten – darauf wurde an früherer Stelle bereits einmal verwiesen – wenn Gott zu Seinem Gesandten spricht: „Wahrlich, die dir huldigen, huldigen Gott. Die Hand Gottes ruht über ihren Händen“ (K 48:10). Das Aya handelt vom Bund zwischen dem Propheten Muḥammad und seinen Gefährten zur Schlacht von Ḥudaybiya, bei dem die Gefährten die Hand des Propheten einzeln in die ihre nahmen. Prinzipiell gleicht die Bedeutung dem Aya: „Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht Gott“ (K 4:80). Jedoch zeigt die Metapher von der gehuldigten Hand die Dynamik, die in der Gotteserkenntnis des Propheten liegt. Sein Wesen und seine Taten sind durch142 Für dieses Hadith konnte ich keinen Beleg in den Quellen finden. Inhaltlich ist die Aussage jedoch vor dem Hintergrund der Erkenntnis als Ziel im Sinne des Einheitsglaubens nur folgerichtig. Gott erschuf die Menschen und Dschinnen, damit sie Ihm dienen (Koran 51:56) beziehungsweise Ihn erkennen, wie Ibn ʿAbbās dieses Aya auslegte. Der Grund für Religion überhaupt ist demnach ganz ursprünglich die Erkenntnis und ergo das Fundament der Religion; vgl. dazu auch die kurze Diskussion, die al-ʿAǧlūnī zum Hadith „Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden …“ anführt: al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 121. 143 MSW, S. 248–9. 144 Vgl. IH, S. 371; MT, S. 33. 145 Vgl. MT, S. 33–4. 146 Vgl. IH, S. 617.
5.2 Schicksal und Bestimmung
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zogen vom göttlichen Licht, als ein vollkommener Spiegel. Das geht laut Ibn ʿAǧība so weit, dass an dieser Stelle sprachlich nicht einmal ein Vergleichspartikel verwendet wird, der auf eine Metapher hinweist (kāf at-tašbīh): Die Hand Gottes steht für die Hand des Propheten; es wird Gott gehuldigt in der Form des Propheten.147 Selbiges ist im Aya zu erkennen, in dem Gott den Propheten direkt anspricht und sagt: „Nicht du hast geworfen, als du geworfen, sondern Gott hat geworfen“ (K 8:17).148 Mit der Gotteserkenntnis endet die Suche im Innern und der in der Anschauung vergangene Reisende ist in der Wirklichkeit aufgegangen. Die Suche hatte im Äußeren begonnen, mit dem Ringen, was richtig und was falsch sei. Auf dem Weg begab er sich in die Tiefen des Selbst und verlor sich schließlich in den Manifestationen, je näher er an seinen inneren Kern gelangte. Anders ausgedrückt ist der Fokus oder die Meditation seines Herzens ( fikra) zu Anfang von der Welt abgelenkt und wird dann im Laufe des Weges auf die göttlichen Lichter gerichtet. Die Meditation intensiviert sich, bis der Fokus seiner Seele den innersten Kern der Dinge wahrnimmt. Dann wandelt sich die Meditation in Einsicht (naẓra) und schließlich in Hingabe in die Präsenz Gottes.149 Für den am Ziel Angekommenen existieren, schreibt Ibn ʿAǧība, keine Allegorien (išārāt) mehr. Während andere Vergleich und Metapher für das Verstehen einer Sache benötigen, schaut er mit dem bloßen Auge seines Herzens, versteht die Dinge aus sich selbst heraus und gibt selbst išāra, wenn es verlangt oder notwendig ist. War die išāra für ihn Nahrung auf dem Weg, ist er nun selbst in der Lage, andere zu versorgen. Sein Herz befindet sich in Sicherheit.150 Er zitiert al-Ǧunayd al-Baġdādī, der über den Gotteskenner sagte: „Ein Diener von seinem Ego entworden. Andauernd im Gedenken seines Herrn. Er wird Seiner Wahrheit gerecht. Er schaut Ihn mit seinem Herzen. Sein Herz hat die Lichter seiner Rechtleitung verbrannt. Sein Trunk ward geläutert vom Kelch Seiner Liebe. Der Allmächtige manifestiert sich ihm über die Schleier des Verborgenen hinweg. Wenn er spricht, dann durch Gott. Wenn er schweigt, dann von Gott. Wenn er sich bewegt, dann mit der Erlaubnis Gottes. Wenn er sich niederlässt, dann mit Gott. Er ist durch Gott, für Gott, mit Gott, von Gott und zu Gott.“151
5.2 Schicksal und Bestimmung (al-qaḍāʾ wa l-qadar) Das Thema von Schicksal und Bestimmung taucht durchgehend und in verschiedenen Formen, in den Werken Ibn ʿAǧības auf. Das geschieht zum einen explizit, wenn zum Beispiel die Seelenruhe und Gewissheit behandelt werden 147
BM, Bd. 7, S. 140–1. Vgl. BM, Bd. 3, S. 15. 149 Vgl. MT, S. 50. 150 IH, S. 198–202. 151 Ebenda, S. 200. 148
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
und zum anderen implizit, wenn die menschlichen Fähigkeiten Wille (iḫtiyār) und Planung (tadbīr) Gegenstand der Betrachtung sind.152 Die Abhandlung Ibn ʿAǧības „Die Kette der Perlen eingedenk von Schicksal und Bestimmung“ (Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar, SD) behandelt maßgeblich den theologischen Topos des Schicksals und bildet Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels. Die Planung und der Wille des Menschen sowie seine Fähigkeit sich im Rahmen des Schicksals zu entscheiden, ist ein in der Šāḏiliyya traditionell wichtiges und viel behandeltes Thema.153 Der Grund dafür ist, dass Bestimmung und Schicksal ein und dasselbe mit dem göttlichen Willen sind. Was Gott bestimmt, das erscheint dem Menschen als sein Schicksal, wie Ibn ʿAǧība es ausdrückt.154 Wenn angenommen wird, dass auf der normativen Ebene das Schicksal ein Bestandteil des Glaubens ist, stellt sich die Frage nach der Bedeutung hinter der Anweisung zur Zufriedenheit mit dem Schicksal. Zufriedenheit ist ein innerer Zustand, der nicht erzwungen werden kann. Sie kann nicht erreicht werden, ohne der inneren Dimension des Menschen ausreichend Platz zu gewähren. Dementsprechend zählt Ibn ʿAǧība die Hingabe in die göttliche Ordnung durch das Überwinden der eigenen Wünsche zur ḥanīfen Religion, die das Herz des Menschen und dessen Erkenntnis in den Mittelpunkt stellt.155 So sind sowohl Schicksal und Bestimmung beziehungsweise der göttliche Wille als auch die Planung und der Wille des Menschen auf ihre Bedeutung auf der Ebene der išāra hin zu untersuchen. Dieses Kapitel ist thematisch wie gesagt an die Abhandlung Ibn ʿAǧības zum Schicksal angelehnt. Zuerst wird die Norm (oder Glaubenssatz) des Schicksals diskutiert sowie ihre Bedeutungen auf der Ebene des Sufitums, als das Ziel der Norm. Darauf folgt die Argumentation Ibn ʿAǧības zum Thema der Prüfung des Menschen durch etwa Krankheit und der damit einhergehende Komplex der Gewissheit und Zufriedenheit. Im letzten Unterkapitel wird auf Gehorsam und Rebellion (Sünde) eingegangen. 5.2.1 Das Schicksal in den Quellen Bestimmung und Schicksal (al-qaḍāʾ wa l-qadar) sind ein in der Theologie seit jeher viel diskutiertes Thema, sowohl im Kalam als auch im Sufitum.156 Die Gründe sind vielschichtig; zwei stechen bei der Lektüre Ibn ʿAǧības Werk heraus 152
Vgl. etwa IH, S. 37. dazu etwa das Werk des as-Sakandarī, At-tanwīr fī isqāṭ at-tadbīr; vgl. auch Gril, „L’enseignement d’Ibn ʿAtâ’ Allâh al-Iskandarî, d’après le témoignage de son disciple Râfi’ Ibn Shâfi’“, in Une voie soufie dans le monde – la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 95. 154 SD, S. 270–1. 155 Vgl. BM, Bd. 1, S. 135. 156 Vgl. etwa Abū Bakr al-Bayhaqī, Al-muntaqā min kitāb al-qaḍāʾ wa l-qadar, Hg. Rabīʿ Šātilā, Beirut: Dār al-Mašārīʿ, 2005; vgl. auch Aš-Šaʿrānī, Al-yawāqīt wa l-ǧawāhīr, Bd. 2, S. 382–92. 153 Vgl.
5.2 Schicksal und Bestimmung
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und beide betreffen das Grundverständnis von Religion als Einladung zur Gotteserkenntnis. Der erste Grund ist die bloße Ausrichtung an einer religiösen Norm, ohne ein entsprechendes Gegenstück im Innern zu suchen. Der zweite Grund ist, dass sich in der Frage nach der Bestimmung des Menschen die Frage nach seiner Willensfreiheit spiegelt. Das wird in diesem Kapitel nur am Rande behandelt und im nachfolgenden Kapitel zum „Meer der Einheit“ (5.3) noch einmal aufgegriffen. Die Ausrichtung auf eine Norm beziehungsweise Glaubenssatz, in diesem Fall die des Glaubens an das Schicksal, ohne der inneren Dimension den entsprechenden Raum zu geben, wird von Ibn ʿAǧība vehement kritisiert. Eine Norm ohne ihre Bedeutung entspricht gewissermaßen einer Form ohne Inhalt, nach der Weisheit des Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī: „Die Taten sind aufgestellte Formen und deren Seelen ist das Bestehen der aufrichtigen Ergebenheit in ihnen.“157 Was bedeutet das jedoch genau, was ist die Bedeutung hinter der Norm vom Schicksal? Das Schicksal kann ja nicht wie Normen im Fiqh etwa ohne weiteres praktisch erläutert werden. Wie in der Biographie Ibn ʿAǧības erwähnt, kam er während seiner Lebenszeit verschiedentlich mit der Pest in Kontakt. Etwa im Jahre 1214/1800 kam es zu einem Vorfall, der ihn auch selbst betraf und in dessen Verlauf er sich gegen die Haltung einiger Gelehrter in einer Abhandlung richtet.158 Der Anlass für die Abhandlung mit dem Titel „Die Kette der Perlen eingedenk von Schicksal und Bestimmung“ (Silk ad-durar fī ḏikr al-qaḍāʾ wa l-qadar, SD) ist konkret die Anweisung einiger Gelehrter, aus Besorgnis vor dem schwarzen Tod, die Stadttore verschließen zu lassen und die Kranken zu meiden. Das ist keine akzeptable Auslegung für Ibn ʿAǧība, da durch diese Methode lediglich, wie er schreibt, „versucht wird das Schicksal abzuwenden und zwar durch vorbestimmte Mittel und List“159 – also das Schicksal mit Schicksal abzuwenden. Der Grund für diese falsche Auslegung liegt laut Ibn ʿAǧība in der Annahme, das „Bücherwissen“160 reiche aus, um ein Problem anzugehen, was eine Umschreibung dafür ist, dass sie sich lediglich äußerlich auf die Normen beziehen, und aber tatsächlich das Wissen nicht ihr Herz erreicht hat.161 Die angeprangerte geistige Fatalität bezieht sich also zum einen auf den theoretischen Umstand, die Religion als bloße Durchsetzung der Normen und Glaubenssätze zu verstehen und zum anderen auf die theologische Auslegung, die in der Handlung resultiert, vor der Krankheit schlicht zu flüchten beziehungsweise sich zu Hause einzusperren. In vorigen Kapiteln wurde bereits die Lehre vom „nützliche Wissen“ bei den Sufis behandelt, welches Wissen und Handeln 157
IH, S. 49. Vgl. Michon, Le Soufi, S. 91; SD, S. 282. 159 SD, S. 269. 160 Ebenda. 161 Vgl. ebenda. 158
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
umfasst; diese Lehre widerspricht einer solchen Herangehensweise diametral. Die Durchsetzung von Normen ohne ein Gegenstück durch das Sufitum, ergo einen Weg zu der Bedeutung der Norm zu propagieren, entspricht nicht den allgemeinen Zielen der Religion: Ein Glaubenssatz wie das Schicksal, der in Koran und Sunna eine wichtige Stelle einnimmt, ist ohne Entsprechung auf der Ebene des Sufitums leer und bloße intellektuelle Beschäftigung, was in der Praxis verheerende Auswirkungen haben kann.162 Das Schicksal (qadar) als theologischen Gegenstand beschreibt Ibn ʿAǧība als das Maß, das einer Sache zugemessen wird. Das ist „ein Ausdruck für das Wissen Gottes, das alle Dinge noch vor ihrer Existenz umfasst.“163 In der erfassbaren Welt erscheint nichts, das nicht vorher im Wissen Gottes und in seinem Maß bekannt war. „Keine Aussage, keine Tat, keine Bewegung und kein Ruhen“164, die Ihm nicht zuvor in seinem Maße bekannt ist. Die Bestimmung Gottes für den Menschen ist synonym zu Seinem Willen, der die Dinge umfasst, unabhängig davon, ob sie in Erscheinung getreten sind oder nicht oder es noch werden. Im Koran heißt es: „Und Wir kennen unter euch die Vorauseilenden und Wir kennen die Zurückbleibenden“ (K 15:24).165 Die Ayas, die Ibn ʿAǧība zum Schicksal anführt sind unter anderen: „Wir haben alles nach Maß erschaffen“ (K 54:49). Denn alles, was im Sein erscheint, beträgt ein bestimmtes Maß; das Tun eines Dieners, sein Unterlassen und alle Dinge auf die er keinen Einfluss besitzt. Das Herz des Verstehenden (al-ʿāqil) wird durch dieses Wissen laut Ibn ʿAǧība auf einer sehr basalen Ebene erleichtert, da es ihm zur Gewissheit verhilft, dass das Schicksal alle Angelegenheiten und Zustände umfasst.166 „Und aufgezählt haben Wir alles in einem Verzeichnis, einem offenkundigen“ (K 36:12). Aufgezeichnet sind die Taten der Menschen in der „wohlverwahrten Tafel“ (al-lawḥ al-maḥfūẓ), einem offenkundigen Verzeichnis, was sich an Gutem und was sich an Schlechtem ereignen wird.167 „Und jedes Ding hat bei Ihm ein Maß“ (K 13:8). Gott kennt das Maß an Erkenntnis einer jeden Seele und mit welchen Schwierigkeiten sie ringt.168 Und weiter heißt es im Koran: „Und der Befehl Gottes ist ein Beschluss, ein beschlossener“ (K 33:38).169 Vergleiche auch Koran 3:145, 6:2, 6:60–1, 7:34, 8:42, 13:39, 35:11, 40:67–8, 57:22, 65:3, 71:40 sowie „Beschließt Er eine Sache, so spricht Er nur: ‚Sei‘ und sie ist“ (K 2:117).170 162
Vgl. SNS, S. 100–1. SD, S. 270. 164 Ebenda. 165 SD, S. 281; BM, Bd. 3, S. 405–6. 166 BM, Bd. 7, S. 273. 167 Vgl. auch BM, Bd. 6, S. 145–6. 168 Vgl. auch BM, Bd. 3, S. 336. 169 Vgl. auch BM, Bd. 6, S. 34. 170 SD, S. 271–3. 163
5.2 Schicksal und Bestimmung
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Aus dem Hadithkorpus führt Ibn ʿAǧība unter anderen die folgenden Hadithe an: „Er [der Prophet Muḥammad] sagte zu Ibn ʿAbbās, möge Gott mit ihm zufrieden sein: ‚O Ibn ʿAbbās, ich lehre dich einige Worte: Hüte Gott und Er wird dich behüten. Bewahre Gott und du wirst Ihn vor dir finden. Kenne Gott im Wohlstand und Er wird dich in der Not kennen. Und wisse, dass wenn du fehlgehst, dies nicht geschieht, um dir zu schaden. Und was dir schadet, geschieht nicht, damit du fehlgehst.‘“171 Der Prophet sagte zu Abū Hurayra: „Es ist der Stift getrocknet über alles, was dir begegnet, o Abū Hurayra.“172 Und er sagte auch: „Alle Dinge besitzen ein Maß, auch Vermögen und Unvermögen.“173 Er sagte weiterhin: „Wahrlich, das Einkommen verlangt nach dem Diener, wie auch sein Todeszeitpunkt ihn verlangt.“174 Und im bereits aufgeführten Gabriel-Hadith lautet es: „Īmān bedeutet, dass du an Gott glaubst, Seine Engel, Seine Bücher, Seine Gesandten, an den Jüngsten Tag und an die Bestimmung – ihr Gutes und Schlechtes.“175 Aufgrund dieser Quellenlage ist der Glaube an das Schicksal laut Ibn ʿAǧība bindend für den Gläubigen durch Konsens der Gelehrten. Zusätzlich jedoch, schreibt er, ist aber auch derjenige sündhaft durch Konsens, der vom Schicksal überzeugt ist, aber doch unzufrieden in seinem Innern, wenn es eintrifft. Denn wer sich an die Normen hält, aber das Sufitum verneint, der ist korrumpiert. Bei den rechtschaffenen frühen Muslimen (as-Salaf aṣ-ṣāliḥ), führt er weiter aus, wurden aus diesem Grund die Worte bekannt, wenn gefragt werde: „Was verlangst du?“ War die Antwort: „Was Gott bestimmt.“176 Und in den Weisheiten as-Sakandarīs (Nr. 22) heißt es: „Es erscheint kein Atemzug von dir, ohne dass er eine Bestimmung in dir erfüllt.“177 Schließlich belegt laut Ibn ʿAǧība auch der Weg der Sufis durch Inspiration und Erfahrung (kašf und wuǧdān) das Schicksal, in dem sich das Wissen und der Wille Gottes umfassend spiegeln. Die Hinweise darauf werden, schreibt er, im Zusammentreffen von Weisheit (ḥikma) und Allmacht (qudra) beschrieben, in der Lehre der Sufis davon, dass wahrhaftige Erkenntnis in der Überwindung der Dualität in der Welt liegt. Die Wirklichkeiten (ḥaqāʾiq, pl. von ḥaqīqa) sind von der Weisheit verhüllt, bis der Diener sich auf den Weg begibt und die Weisheit nach und nach als Schleier erkennt und die Allmacht und ihre Bewegungen schaut. Wer aber verschleiert ist, betont Ibn ʿAǧība, der sieht in den Vorgängen der Welt eine Abfolge von Ereignissen, sodass etwa gesagt wird: „Dieser hat das getan, woraufhin ihm jenes widerfahren ist.“178 Zu glauben, dass dies alles ist 171 Kanz: Abū Nuʿaym, Ṭabarānī in Variante, Nr. 8661. Eine andere Variante ebenfalls Kanz: Ṭabarānī und Ibn Ḥibbān, Nr. 631. 172 Kanz: Buḫārī, Nasāʾī, Nr. 543. 173 Kanz: Sufyān, Nr. 1549. 174 Kanz: ohne Angabe, Nr. 591. Vgl. die Variante in Kanz: Ṭabarānī und Ibn ʿAdī, Nr. 16609. 175 SD, S. 273–5. 176 Ebenda, S. 275–6. 177 Ebenda, S. 276; IH, S. 96. 178 SD, S. 277.
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und keinen Blick auf die innere Ebene zu richten, ist ein „gewaltiger Schleier“179 vor der Wahrheit und kann dazu führen, dass der Glaube im Innern gänzlich verloren geht. Dann bleibt vom Glauben nur die Schale des intellektuellen Wissens.180 5.2.2 Das Ziel der Norm und die duale Natur der Welt Was verbirgt sich hinter der Norm des Schicksals? Der Glaubenssatz selbst beschreibt im Kalam lediglich, wie Ibn ʿAǧība es mehrfach erwähnt, dass Schicksal (qaḍāʾ) das Wissen und die Zuteilung Gottes aller Dinge in rechtem Maße umfasst, unabhängig von Raum und Zeit. Es ist möglich, die Bestimmung (qadar) davon getrennt zu betrachten. Die Bestimmung (qadar) bezieht sich dann eher auf das Wissen Gottes aller Dinge, nach ihrem Maß und unabhängig von Zeit. Und das Schicksal (qaḍāʾ ) eher auf den Akt der Verteilung oder die Norm. Tatsächlich aber ist die entscheidende Information, dass der göttliche Wille, Sein Wissen und Seine Macht alles umfassen.181 Auf der Ebene des Sufitums reicht es nicht aus, von der Norm des Schicksals zu wissen und von ihr überzeugt zu sein. Das Ziel ist vielmehr laut Ibn ʿAǧība die Umsetzung der Norm und sie nicht einfach intellektuell zu kennen, sondern das Herz mit einzubeziehen. Kurzgefasst bedeutet es, sich dem Schicksal zu ergeben, die eigene Gewissheit zu üben (tarbiyat al-yaqīn), wie er es nennt.182 Dies bedeutet gewissermaßen die Praxis der Norm des Schicksals. Im Zuge dessen gibt Ibn ʿAǧība die folgende Reihe von Schritten an, die der Diener durchläuft, wenn er seinen Weg finden will, der für ihn auf der Welt bereit liegt. Das Wissen bildet dafür den Anfang und die Frage ist jeweils anschließend an jeden Schritt, ob der Schritt gut ausgeführt wurde und der nächste Schritt getan werden kann, was mit dem Wort „Zeuge“ umschrieben wird: „Der Zeuge des Wissens ist die Handlung und der Zeuge der rechten Handlung ist ein Zustand. Der Zustand ist Zeuge des Erlebens [wörtlich des Kostens: ḏawq] und das Äußerste des Erlebens ist die Dankbarkeit, welche die Abwesenheit bedeutet von allem außer dem Wirklichen [Gott]. Das Äußerste der Dankbarkeit ist die Bewusstheit, die die Schau der Implikationen durch den Wirklichen bedeutet und die den Maßstab der Gewissheit (al-yaqīn) bildet und das Ruhen bei dem Herrn der Welten. Das ist das [Seelen-] Ruhen während des Verlaufs der Bestimmungen (huwa as-sukūn ʿinda maǧārī l-aqdār) und das Unterlassen, sich in der Planung und der Auswahl zu versteifen. Es ist die Zufriedenheit mit dem, was vom Vorrat der Bestimmungen hervorgebracht wird und die Hingabe an die Normen des Einen, des Allgewaltigen.“183 179 Ebenda. 180 Ebenda.
181 Vgl. ebenda, S. 270–1; vgl. zum Unterschied von Schicksal und Bestimmung etwa asSunbāwī, Ḥāšiyat Ibn al-Amīr, S. 198–201. 182 SD, S. 278. 183 Ebenda, S. 269–70.
5.2 Schicksal und Bestimmung
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Diese Schritte ähneln im Wesentlichen den Stationen und Stufen des Weges, wie im vorigen Kapitel beschrieben wurde. Es ist jedoch ein anderer Blickwinkel in das Prisma, das die Erkenntnis zum Ziel hat. Die höchste Stufe der Erkenntnis (ḥaqq al-yaqīn) ist prinzipiell identisch mit der Stufe der Vervollkommnung (iḥsān). Das Ziel des Schicksals ist in diesem Sinne, Ruhe zu finden in den vom Schicksal gezeichneten Bewegungen, was mit dem Wort Zufriedenheit (riḍā) ausgedrückt wird. Ibn ʿAǧība gibt dafür das Beispiel eines Kindes, das das Schreiben erlernt. Eine Methode dafür ist, dass der Lehrer dem Kind die Buchstaben in Form von Punkten zeichnet, sodass das Kind, wenn es die Punkte miteinander verbindet, den Buchstaben schreibt. Ebenso verhält es sich, schreibt er, mit dem Diener und dem ewigen Wissen der Bestimmung. Wenn er den Buchstaben seines Weges vollständig schreibt, kann er seinen Herrn erreichen.184 Es könnte eingewendet werden, dass eigentlich zwei Wege im Raum stehen. Ein innerer Weg, der mit dem Wissen beginnt und mit der Gewissheit endet. Und ein anderer, der sich im äußeren Leben des Menschen abspielt und seine Schwierigkeiten und Möglichkeiten, Behinderungen und Aufgaben umfasst. Tatsächlich aber sind diese beiden Wege ein und derselbe. Die Vereinigung von äußerer und innerer Ebene stellt gerade ein wichtiges Merkmal für die Erkenntnis dar, wie verschiedentlich im Laufe der Studie gezeigt wurde.185 Die Welt erscheint dem Menschen natürlicherweise als dual. Das Ziel besteht darin, die Dualität zu überwinden und die Einheit der Ebenen zu verstehen, auf den Isthmus zwischen den Gegensätzen zu gelangen. Zunächst erscheint es dem Menschen, als seien die beiden Ebenen getrennt voneinander zu betrachten. Das Begriffspaar Weisheit (ḥikma) und Macht (qudra) im Speziellen verweist darauf, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, beide Ebenen zu vereinen. Im Kapitel zur Dualität in der Welt (3.2.2.1) wurde dieses Begriffspaar bereits vorgestellt. An dieser Stelle bedarf es noch eines etwas genaueren Blickes darauf. Beides, Weisheit und Allmacht, sind in der poetischen Sprache Ibn ʿAǧības Meere, die ineinandergreifen beziehungsweise jeweils die Essenz des anderen spiegeln. Das Charakteristikum der Weisheit ist es, Ursache und Wirkung aufzuzeigen und damit die Bewegungen der göttlichen Allmacht, die im Kosmos wirkt, zu bedecken. Das Charakteristikum der Allmacht ist wiederum, dass sie die Weisheit in Bewegung setzt und die Dinge zum Vorschein bringt: „Will die Allmacht aus dem Meer des Schicksals ein Ding hervorbringen, das von Ewigkeit her bekannt, verhüllt die Weisheit es mit dem Mantel von Ursache und Wirkung.“186 Aus Perspektive der Gotteserkenntnis eröffnet sich dem Menschen das „Geheimnis der Weisheit“ oder das „Innerste der Weisheit“187 (sirr al-ḥikma), wie Ibn ʿAǧība es nennt, durch die Schau der Bewegungen der Allmacht hinter 184
Ebenda, S. 271. Vgl. etwa BM, Bd. 7, S. 281; FI, S. 322. 186 SD, S. 278–9. 187 Ebenda, S. 279. 185
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
dem Schleier. Der Wissende schaut den Kern der Dinge und der Ignorante begnügt sich mit der Schale, schreibt er, nach den koranischen Worten: „Gleichen einander etwa, die wissen und die nicht wissen?“ (K 39:9).188 In der išāra seiner Koranexegese schreibt er zu diesem Aya, dass sie sich insbesondere in der Art des Wissens unterscheiden. Während der Gotteskenner (ʿārif ) durch Gott auf die Dinge verweist, da sein Wissen durch Erfahrung erlangt wurde, ist der Ignorante darauf angewiesen mit den Dingen auf Gott zu verweisen. Das gilt auch für die Normen, die durch Intellekt und Beweisführung aufgestellt und abgeleitet wurden. Auch die Normen verweisen auf Gott, sind aber damit noch nicht erfüllt.189 Herzenserkenntnis beziehungsweise die Schau der göttlichen Manifestationen in der Welt oder die Betrachtung des Wirkens der Allmacht entsteht im Menschen, wenn die beiden Ebenen ineinandergreifen: „Aus diesem Grund wird Gottes Erscheinen, das Seinen Namen ‚der Äußere‘ (oder ‚der Offenkundige‘; aẓ-Ẓāhir) erfordert, Allmacht genannt. Und das Verbergen Seiner Erscheinung, das Seinen Namen ‚der Innere‘ (al-Bāṭin) erfordert, Weisheit.“190 Beide Ebenen bedingen einander. Wenn Gott sich in der offenkundigen Welt manifestiert, wird das Allmacht genannt und wenn sich die Erscheinung der Manifestation verbirgt, Weisheit. In Seiner Weisheit verschleiert Gott die Geheimnisse durch die Dualität in der Welt, erst mit der Erleuchtung des Herzens vereinen sich die Ebenen im Verstehen.191 Der Grund für das Verbergen der Allmacht vor dem gemeinen, unwissenden Auge liegt laut Ibn ʿAǧība darin, dass die Wirklichkeit verborgen bleibt, bis sie von jemandem gefunden wird beziehungsweise sie will von jemandem gefunden werden, der bereit ist sie zu tragen, sie zu erkennen. Da nun der Mensch auf seinem Lebensweg zur Erkenntnis erst die Fähigkeit erlernt, das göttliche Licht zu schauen, funktioniert die Weisheit als Schutz für die Bewegungen der Allmacht und auch als Schutz für den Menschen. In diesem Sinne bedürfen beide Seiten einander, sind sie zwei Seiten einer Medaille: „Die Essenz der Weisheit ist die Allmacht und die Essenz der Allmacht ist die Weisheit.“192 Denn der Handelnde ist, erklärt er, Einer, Gott der Eine, auf den die Namen und Eigenschaften zurückgehen. Er wirkt durch Seine Namen und ist der Handelnde in Ursache und Wirkung (Weisheit), wie Er auch die Allmacht bewegt, welche die Dinge ins Sein bringt und kreiert.193 Dieses Zusammenspiel ist es, das das Wissen Gottes in der Welt verwirklicht. Wenn dem Diener etwas bestimmt ist und die Zeit des Erscheinens gekommen, 188
Ebenda, S. 279. BM, Bd. 6, S. 254–5. 190 MT, S. 34. 191 Vgl. IH, S. 259–60. 192 SD, S. 279. 193 Ebenda. 189
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„bewegt Gott den Diener hin zu dieser Sache, meistens durch ein Mittel. Auf diese Weise erfüllt er seinen von ewig her bestimmten Anteil, verhüllt durch den Schleier der göttlichen Weisheit. Der Ignorant verbleibt bei der Schale der Ursache, der Wissende jedoch bricht zur Schau des Verursachers der Ursache durch.“194
Dasselbe trifft auf ein Dorf oder eine Stadt zu, schreibt er. Wenn es von ewig her bestimmt ist, dass eine Plage oder Prüfung eintreffen soll – oder eben die Pest – bewegt die Allmacht die Menschen zu den entsprechenden Mitteln, die das Schicksal eintreffen lassen. Nach dem Aya: „Und wenn Wir eine Stadt vernichten wollen, befehlen Wir ihren Vermögenden. Wenn sie freveln in ihr, dann bewahrheitet sich das Wort in ihnen“ (K 17:16).195 Der Komplex der Willensfreiheit sei für den Moment außer Acht gelassen. Was Ibn ʿAǧība durch die Erläuterung des Zusammenspiels von Weisheit und Allmacht verdeutlichen will, ist zunächst praktischer Natur. Vor dem Hintergrund der Herzenserkenntnis besteht das grundlegende Ziel des Schicksals wie erwähnt schlicht darin, die eigene Gewissheit zu schulen oder zu üben und so Zufriedenheit zu erlangen. Und die Steigerung der Gewissheit, schreibt Ibn ʿAǧība an anderer Stelle, ist nichts anderes, als die Reise des Dieners zu seinem Herrn. Wer mit seinem Ego zufrieden ist und keinerlei Reise anstrebt, der wird verschleiert bleiben. Wahre Zufriedenheit jedoch liegt, erklärt er, in der Verwirklichung der Schau des Herzens oder der Seele, die in der Beschreitung des Weges zu finden ist.196 5.2.3 Krankheit und Prüfung und das Wirken Gottes In seiner Abhandlung zum Schicksal schließt Ibn ʿAǧība an die Erläuterung der dualen Natur von Weisheit und Allmacht (ḥikma und qudra) eine Erläuterung von Krankheit und Ansteckung an, die das bisher Gesagte verdeutlicht. Das Diesseits sei der Ort, an dem die Menschen beauftragt sind, zu handeln (dār at-taklīf ), im Gegensatz zum Jenseits, schreibt er überleitend. Und die Erkenntnis stelle das Hauptmerkmal für die Erfüllung des Auftrages (taklīf ) dar.197 Anschließend führt er das Beispiel der Krankheit zur Unterscheidung zwischen Kenntnis und Unkenntnis bezüglich des Schicksals an. Die Aussage einer Person im Zusammenhang der Pest „hätte ihn dieser und jener nicht dorthin gebracht, wäre er nicht dort gewesen“198 und damit nicht gestorben, sei falsch, schreibt Ibn ʿAǧība, denn der Wissende sei sich im Klaren über die ewige Bestimmung und sagt: „Dann hätte ihn die Allmacht an diesen Ort gebracht und er wäre dennoch gestorben.“ Wiederum könne eingewendet 194 Ebenda. 195
Ebenda; vgl. auch BM, Bd. 4, S. 85–6. IH, S. 116–8. 197 SD, S. 279–80. 198 Ebenda, S. 280. 196
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
werden, dass „würde er überhaupt nicht gehen, stürbe er nicht.“199 Das jedoch sei ein Irrglaube, der aus geistiger Spekulation heraus geboren werde. Es sei eine Einbildung (wahm) zu glauben, dass mit den Mitteln der Weisheit die Bewegungen der Allmacht beeinflusst werden könnten. Die greifbaren Dinge der Weisheit von Ursache bis Wirkung seien allesamt Schleier; selbst wenn der Intellekt sie begreifen könne, blieben sie doch bestehen, es sei denn, die Norm werde nicht nur dargelegt, sondern auch verstanden und gelebt.200 Das folgt konsequent dem Muster Ibn ʿAǧības, dass erst wenn der Glaube im Herzen Einzug hält, der Mensch sich dem Verborgenen gewiss werden kann und dies im Angesicht der Prüfungen, die auf dem Weg lauern. Der Verstand oder spekulative Überlegungen allein genügen dafür nicht. Das kommt auf der Ebene der išāra etwa auch in dem Aya zum Ausdruck, das für die Gefährten des Propheten herabgesandt wurde, die in Furcht lebten während der Belagerung Medinas durch das übermächtige Heer der Mekkaner zur Zeit des Grabenkampfes (ġazwat al-ḫandaq): „O ihr, die ihr glaubt, gedenkt der Gnade Gottes über euch, als Heere zu euch kamen, da sandten Wir gegen sie Wind und Heere, die ihr nicht gesehen. Und Gott ist das, was ihr tut, sehr wohl sehend“ (K 33:19). Wer sich auf den Weg der Herzenserkenntnis begebe, der wird geprüft werden, kommentiert Ibn ʿAǧība dazu. Diese Prüfung gehe aber auch mit einer Unterstützung einher, sodass sich das Gold von der Verschmutzung reinige.201 Das im Angesicht eines angreifenden Heeres nicht einfache gedankliche Arbeit genügt, versteht sich in gewisser Hinsicht von selbst. Es ist der Psyche schlicht nicht möglich, in einer solchen Situation die tieferliegende Ebene des Herzens zu ignorieren. Ansteckung und Übertragung sind laut Kalam unmöglich etwas anderem zuzuordnen, als dem göttlichen Willen, fährt Ibn ʿAǧība nach der Überlegung zum unmöglichen Abwenden des Schicksals fort. Jede Abweichung davon würde bedeuten, dass eine andere Kraft bestünde, die neben dem Schöpfer wirkt. Er führt dazu die Ayas an: „Gott ist der Erschaffer aller Dinge“ (K 13:16). Sowie: „Doch fügten sie damit keinem Schaden zu, es sei denn mit Gottes Willen“ (K 2:102). Und das Hadith: „Es gibt keine Infektion und keine Übertragung.“202 Die Ableitung der Gelehrten des Kalam ist folglich, schreibt er, dass wer glaubt, es bestünde die Möglichkeit der Ansteckung durch die Natur allein, der verlasse damit den Glauben durch Konsens. Und wer glaube, dass Infektion möglich sei, indem eine Kraft in der Krankheit die Übertragung auslöse, der sei korrumpiert ( fāsiq). Jedoch, korrigiert Ibn ʿAǧība, ist das unter der Bedingung zu verstehen, dass der Glaube gut ist, wenn geglaubt wird die Übertragung finde durch die 199 Ebenda. 200
Ebenda: vgl. auch BM, Bd. 4, S. 86. BM, Bd. 6, S. 11–4. 202 Kanz: Aḥmad, Buḫārī und Muslim, Nr. 28596. Sowie Kanz: Aḥmad und Ibn Māǧa, Nr. 28599. 201
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Allmacht Gottes und Seine Bestimmung statt; durch die Mittel der Weisheit, die von der Allmacht gelenkt werden.203 Diese letzte Position führt Ibn ʿAǧība weiter aus: Tatsächlich widerspricht der Glaube an Gott als Schöpfer aller Dinge nicht der Überzeugung von der Übertragung einer Krankheit. Das folgt dem Gedanken: Wenn Gott es bestimmt hat, wird Er die Umstände so lenken, dass eintritt was Er will. Aus welchem Grund auch immer. Was im Wissen und der Bestimmung Gottes liegt, trifft zur rechten Zeit am rechten Ort ein. Die Gründe verdecken dann die Bewegung der Allmacht beziehungsweise den göttlichen Willen durch Seine Weisheit. Das kann auch ohne offensichtlichen Anlass geschehen. Zudem kommt, dass das eben angeführte Hadith zur Infektion („Es gibt keine Infektion und keine Übertragung.“) einen Kontext hat. Im besagten Hadith heißt es weiter, der Prophet sagte: „Es gibt keine Infektion und keine Übertragung.“ Da fragten sie: „O Gesandter Gottes, was ist mit den Kamelen, die wie umnebelt werden? Wenn ein räudiges Kamel zu ihnen stößt, bekommen alle die Krätze.“ Der Prophet antwortete: „Und wer aber übertrug [die Krankheit] ursprünglich?!“204 Mit dieser Antwort verweist der Prophet, schreibt Ibn ʿAǧība, auf den eigentlichen Verursacher aller Dinge, Gott, wenn auch die Gründe und Ursachen es bedecken. Das Hadith ist also nicht wörtlich zu nehmen. Dasselbe gilt für die Heilung einer Krankheit, führt er weiter aus. Im Hadith heißt es: „Gott sendet keine Krankheit herab, ohne dass er dafür eine Medizin schickt.“205 Ibn ʿAǧība erklärt das so: Gott bedeckt das Krankwerden einer Person durch Mittel im Äußeren, durch den Schleier der Weisheit, wie Er auch die Heilung der Krankheit durch Medizin bedeckt.206 Heilung steht, geht die Argumentation weiter, ebenso nicht im Konflikt mit Gottvertrauen (tawakkul), wenn dabei angenommen wird, dass die Heilung letztendlich von Gott ausgeht. Im Koran lautet es: „Und wenn trifft die Menschen ein Schaden, rufen sie [oder bitten sie, Bittgebet; duʿāʾ] zu ihrem Herrn und kehren um zu Ihm. Wenn Er sie dann kosten lässt von Seiner Barmherzigkeit, dann stellt eine Gruppe von ihnen Anderes neben den Herrn“ (K 30:33. Vgl. auch K 57:22–3). Das Bittgebet, schreibt er, mit dem sie ihren Herrn anrufen (duʿāʾ), ist wie die Medizin ein Grund oder eine Ursache, da es eine Anrufung darstellt, die Antwort aber bei dem Barmherzigen liegt. Nur aber der Glaube oder die Überzeugung, dass das Mittel letztendlich verantwortlich für die Heilung sei, ist falsch und entspricht einer Form des Beigesellens (širk), entweder in der Überzeugung (iʿtiqād) oder in der Anlehnung (istinād), also der Herzensneigung zum Mittel, was den Einheitsglauben beeinträchtigt.207 203
SD, S. 280. Ebenda, S. 281; das Hadith mit diesem Zusatz in Kanz: Aḥmad und Ibn Māǧa, Nr. 28599. 205 Kanz: Al-Ḥākim mit leicht anderem Wortlaut, Nr. 28079. 206 SD, S. 281. 207 SD, S. 281; BM, Bd. 5, S. 365–6. 204
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Die Handlungen sind gewissermaßen ein Spiegel der Einheit von Weisheit und Allmacht. Ibn ʿAǧība nennt weiterhin das Hadith: „Wer den Menschen nicht dankt, der dankt Gott nicht.“208 Wer aber den Menschen dankt, erläutert er, soll dabei nicht annehmen, dass sie der letztendliche Grund für eine Sache sind. Und „demnach ist ein Grund notwendig und in der inneren Schau ist er abwegig.“209 Dies, da im Herzen das Ziel die Anschauung ist – aus Perspektive der Allmacht ist der eigentliche Grund für eine Sache niemals nur der äußere Vorgang. Weisheit und Allmacht sind Eigenschaften Gottes (Vgl. Koran 33:1 und 18:45) und beiden muss Rechnung getragen werden.210 Zwar erfolgt die Bewegung prinzipiell von der Weisheit hin zur Schau der Allmacht. Erst aber die Vereinigung bringt Vollkommenheit, wie im Kapitel zur Erkenntnis (5.1.3.3) gezeigt wurde. Der praktische Umgang Ibn ʿAǧības mit der Pest, mit Krankheit, gleicht der Herangehensweise der frühen Muslime, wie er selbst erwähnt. Er führt die Begebenheit an, als Ibn ʿAbbās in die Levante zurückkehrte und informiert wurde, dass die Pest dort aufgetaucht sei. Seine Reaktion war, vor der Pest nicht zu fliehen, aber all jene zu entschuldigen, deren Herzen nicht für vollkommenes Gottvertrauen bereit waren. Das ist schließlich auch der Rat Ibn ʿAǧības. Er rät, sich nicht einzusperren und die Toten zu waschen und zu beerdigen. Er geht so weit zu sagen, dass es eine besonders große Prüfung der eigenen Gewissheit und des Gottvertrauens sei, dorthin zu gehen, wo die Pest vorzufinden ist. Sein Argument dafür sind die Ayas: „Wo ihr auch seid, euch ereilt der Tod und wärt ihr in Burgen, in hochgebauten“ (K 4:78) und „Gesetzt hat Gott allem ein Maß“ (K 65:3), „Und nichts, wovon Wir keine Vorräte hätten, aber Wir senden es hinab in bestimmtem Maße nur“ (K 15:21).211 Gleichzeitig betont er, dass aus normativer Sicht das Fliehen aus einer Plage befallenen Stadt allgemein falsch (ḥarām) sei, nach dem Hadith des Propheten: „Wenn es an einem Ort geschieht, an dem ihr euch aufhaltet, so verlasst diesen nicht.“212 Das Betreten einer von einer Plage befallenen Stadt wiederum sei verpönt (makrūh), wenngleich das von der Situation und Gewissheit des Dieners abhänge. So ist es einerseits überliefert, dass der Prophet, sagte: „Fliehe den Leprösen, wie du vor dem Löwen fliehst.“213 Und andererseits ist es überliefert, dass er mit ihm zusammen aß.214 Auf dieses Urteil beziehungsweise diese Auslegung kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden und es bedarf noch weiterer Forschung dazu. 208
Kanz: Aḥmad, Tirmiḏī, Nr. 6443. SD, S. 281. 210 Vgl. ebenda, S. 281–2. 211 Ebenda, S. 283 und vgl. 283–8. 212 Kanz: Tirmiḏī (in Fußnote des Herausgebers), Nr. 11757. 213 Kanz: Ibn Ǧarīr, Nr. 28340. 214 Vgl. SD, S. 282–3. 209
5.2 Schicksal und Bestimmung
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Krankheit ist aus Perspektive der Sufis wie viele Bewegungen des Schicksals für den Menschen insofern von Bedeutung, als sie eine Prüfung darstellt, um ihm selbst das Maß seiner inneren Gewissheit zu offenbaren und sie weiter zu üben. Ibn ʿAǧība führt dazu das Hadith an: „Die Pest ist ein Zeugnis für jeden Muslim.“215 An anderer Stelle zitiert er in diesem Zusammenhang den Propheten David, dem Gott eingab: „O David, du willst und Ich will und es wird nur geschehen, was Ich will. Wenn du Mir nun überlässt, was Ich will, lasse Ich dir zukommen, was du willst. Wenn du Mir nicht überlässt, was Ich will, werde Ich dich ermüden in dem, was du willst und dennoch wird nur das sein, was Ich will.“216 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība zur Norm des Schicksals die Gewissheit, die Ruhe des Herzens, in den Vordergrund stellt. Die Ruhe des Herzens stellt gewissermaßen die innere Bedeutung oder das Ziel des Glaubenssatzes dar. Sie wird durch die Prüfungen in der Welt gefordert und ergibt sich aus der Harmonie, die in der Einheit von Weisheit und Allmacht verborgen liegt. Wie aber sieht diese Ruhe im Herzen, Seelenruhe oder Gewissheit über Gottes Wirken genau aus? 5.2.4 Gewissheit (yaqīn), Zufriedenheit (riḍā) und Aufgabe (taslīm) Die Weisheit 136 as-Sakandarīs lautet: „Sollte dir das Licht der Gewissheit aufgehen, siehst du das Jenseits näher bei dir, als dass du dorthin reist. Du siehst die Schönheiten des Diesseits und wie der Mantel des Vergehens über ihnen ausgebreitet liegt.“217
Die Lichtmetapher, die Ibn ʿAǧība durchgehend verwendet, beleuchtet die Gewissheit auf folgende Weise: „Das Licht ist ein Ausdruck für die Gewissheit, die sich im Herzen manifestiert und die im Reiz (oder der Süße) der Handlung resultiert. Wird die Gewissheit stärker, wird auch das Licht stärker und der Reiz nimmt zu, bis er mit dem Reiz der Schau zusammentrifft.“218 Gewissheit, beschreibt Ibn ʿAǧība aus einer anderen Perspektive, ist „die Ruhe des Herzens und seine Gelassenheit durch das Schwinden von Zuneigung [zum Diesseits] und Störung. Es heißt: Wie das Wasser, wenn es in einem Becken gelassen wird – es beruhigt und ebnet sich.“219 An anderer Stelle schreibt er: „Gewissheit ist das Wissen, das nicht von Einbildung gestört wird, nicht mit Zweifel durchsetzt ist und das nicht von Störung begleitet wird.“220 Die Gewissheit ist dreistufig und synonym zu den Stufen islām, īmān und iḥsān, wie im Kapitel zum Stufengebilde bereits erwähnt. Die erste Stufe vom Wissen der Gewissheit (ʿilm al-yaqīn), schreibt Ibn ʿAǧība, beschreibt das in215
Ebenda, S. 282; das Hadith in Kanz: Aḥmad, Muslim, Buḫārī, Nr. 28433. S. 91; vgl. zum Standpunkt Ibn ʿAǧības bezüglich der Überlieferungen aus der jüdischen Theologie (die Isrāʾīliyāt) ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 217–39. 217 IH, S. 316. 218 Ebenda, S. 254. 219 SD, S. 288. 220 IH, S. 316; vgl. auch MT, S. 17. 216 IH,
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
tellektuelle Wissen; dabei wird von den Zeichen in der Welt auf den Schöpfer geschlossen. In der Lichtmetapher: Das Licht der Gewissheit wird durch Reflexion über die Vielfältigkeit der Welt und die Einheit Gottes gestärkt und der Diener gelangt zu dem Schluss, dass die Welt in den Händen der Allmacht Gottes liegt. Die zweite Stufe (ʿayn al-yaqīn) beginnt dann, wenn das Innere, das Herz, anschließend an diese Reflexion nach Erkenntnis dürstet und ein Verlangen nach Vereinigung entwickelt. Dann gibt Gott ihm ein, die Geschöpfe zu verlassen und sich dem Gedenken Gottes zu widmen. Schließlich wandert das Herz durch die Lichter der Manifestationen, bis es zur Schau der Zeichen gelangt, die zuvor nur bloße Information waren. Die dritte Stufe (ḥaqq al-yaqīn) besteht schließlich darin, die Schau der Lichter zu festigen, was durch Zunahme der Liebe letztlich in der Gotteserkenntnis mündet.221 Abhängig von der Stufe nun verhält sich das Innere, wenn das Schicksal eintrifft. Die Gewissheit impliziert immer auch einen vorausgehenden Prozess. Es bedarf der Übung der Gewissheit, einem Weg, um dem Schicksal angemessen zu begegnen. Die Übung der Gewissheit zeigt sich verschiedentlich und kann anhand von verschiedenen Motiven ausgemacht werden. Ibn ʿAǧība führt die folgenden detailliert auf: Die Sicherheit des Einkommens (1), die Furchtlosigkeit vor den Geschöpfen (2), Lob und Tadel, Befristung der Lebensspanne (3) sowie alle Bewegungen der Bestimmung, wie die Auferweckung nach dem Tod (4) und was danach geschieht.222 Seine Belege für die Motive werden hier zusammengefasst wiedergegeben. (1) Was die Sicherheit des Einkommens anbelangt, sind die Ayas, die das Thema behandeln zahlreich: „Und kein Tier gibt es auf der Erde, dessen Versorgung nicht bei Gott läge. Und Er kennt seine Lagerstätte und seinen Ort. Alles ist in einer Schrift, einer offenkundigen“ (K 11:6). Und „Gott ist es, der euch erschaffen und dann euch Unterhalt gewährt. Dann wird Er euch abberufen und dann lebendig machen“ (K 30:40). Vgl. auch Koran 20:132, 35:3, 40:64, 51:56, 65:4. Der Prophet Muḥammad sagte: „Wahrlich, die Seele der Heiligkeit gab mir ein, dass keine Seele stirbt, bis nicht ihr Einkommen vollständig verbraucht ist. Fürchtet Gott und seid huldreich, wenn ihr bittet.“223 Das Wissen um diese Ayas und Hadithe ist intellektuelles Wissen. Das Wissen über die zweite Stufe der Gewissheit macht es anschließend nötig, sich innerlich und äußerlich Gott zu widmen. Dann gibt ihm Gott ohne Grund, nach den koranischen Worten: „Und wer Gott fürchtet, dem eröffnet Er einen Ausweg und versorgt ihn so, wie er nicht damit gerechnet. Und wer vertraut auf Gott, dem ist Er Genüge. […] Und wer Gott fürchtet, dem schafft Er in seiner Angelegenheit Erleichterung“ (K 65:3–4).224 221
Vgl. SD, S. 288–9; MT, S. 18. SD, S. 290; vgl. MT, S. 17; vgl. auch IH, S. 335–6. 223 Kanz: Abū Nuʿaym, Nr. 9290. 224 SD, S. 290–1. 222
5.2 Schicksal und Bestimmung
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Die Sicherheit des Einkommens wird, schreibt Ibn ʿAǧība weiter, durch den Mantel der Weisheit bedeckt, der in Form von Mitteln und Wegen der Umstände den Anschein von Beständigkeit gibt. Ohne diesen Mantel wäre das Diesseits nicht der Ort von Beauftragung (taklīf ) und Aufgabe im Sinne des Loslassens. Der Schleier der Weisheit bildet aber die Prüfung, „auf dass die Eigenschaft des Glaubens hervortrete.“225 Erst dann, wenn Inneres und Äußeres nach der Reise vereint sind, findet der Diener wirklich Ruhe im Herzen. Das intellektuelle Wissen weicht dem Wissen des Herzens.226 (2) Die Furchtlosigkeit vor den Geschöpfen findet auf der ersten Stufe durch die Betrachtung der Ayas, dass niemand handelt außer Gott, statt: „Doch fügten sie damit keinem Schaden zu, es sei denn mit Gottes Willen“ (K 2:102). Der Prophet Abraham spricht: „Ich fürchte nicht das, was ihr Anderes neben Ihn stellt, es sei denn, mein Herr will etwas“ (K 6:80). „Und hätte es dein Herr gewollt, hätten sie es nicht getan“ (K 6:112). Vgl. auch Koran 2:153, 7:195, 37:96, 28:68. Der Prophet Muḥammad sagte zu Ibn Abbās: „Wisse, dass sollten die Menschen allesamt sich zusammenschließen, um dir in einer Sache zu schaden, die Gott dir nicht bestimmt hat, werden sie es nicht vermögen. Die Stifte sind getrocknet und die Seiten zusammengerollt.“227 Dass niemand außer Gott handelt, bleibt, schreibt Ibn ʿAǧība erneut, intellektuelles Wissen, bis der Diener Vereinigung sucht und schließlich sieht, dass niemand außer der Allmacht die Dinge bewegt. Wer seine Gewissheit stärken möchte, erläutert er, der soll sie üben und sein Innerstes erforschen, indem er seine Angst überwindet. Wenn er schließlich jemanden findet, der ihn zu Gott führt, einen Scheich, schließt er diesen Gedanken, wird es ihm möglich die höchste Form des Einheitsglaubens zu erlangen.228 (3) Die Befristung der Lebensspanne kann ebenfalls zur Prüfung gereichen. Für manchen mag es geeignet sein, dass er sich entweder durch Geduld in der Not oder Ruhe in schwierigen Situationen seiner Gewissheit bewusst wird. Hier wendet er erneut das Muster aus dem vorigen Punkt an.229 (4) Was die Auferweckung nach dem Tod anbelangt, sind die Belege in Koran und Hadith zahlreich und wer davon überzeugt ist, der erhält erste Gewissheit. Was aber die zweite und dritte Stufe betrifft, schreibt Ibn ʿAǧība, werden die Menschen sie allesamt erleben, wenn sie sterben. Derjenige aber, der sein Herz läutert auf dem Weg, dessen Schau vermengt Zeit und Ort und er wird Wissen darüber schon im Diesseits erlangen, wie es im Hadith des Ḥāriṯ Ibn Mālik zum Ausdruck kommt, der sagte: „Es ist mir, als sähe ich die Bewohner des Paradieses, wie sie sich gegenseitig besuchen. Als sähe ich die Bewohner des Feuers, wie sie einander bejammern.“ Der Prophet erwidert ihm: „Du hast geschaut, halte 225
Ebenda, S. 291. Vgl. BM, Bd. 8, S. 74. 227 Kanz: vgl. Aḥmad (in seinem Werk al-Musnad), Tirmiḏī, al-Ḥākim, Nr. 5691. 228 SD, S. 292. 229 Ebenda, S. 292. 226
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
daran fest. Ein Diener, in dessen Herz das Licht Gottes eindrang.“230 Ende der Zusammenfassung der Motive. Die Gewissheit steht, wie bereits zum Ausdruck gekommen ist, in Verbindung mit anderen guten Eigenschaften des Charakters beziehungsweise mit Stationen auf dem Weg, wie der Zufriedenheit (riḍā) und der Aufgabe (taslīm), dem Gottvertrauen (tawakkul) sowie der Seelenruhe (sakīna). Sie sind alle Früchte des Glaubens, der in das Herz eintritt.231 Zufriedenheit (riḍā) und Aufgabe (taslīm) stehen bei Ibn ʿAǧība in enger Verbindung zum Thema des Schicksals und deuten meist auf die Zufriedenheit des Dieners mit der vom Schöpfer zugeteilten Bestimmung. Bezüglich der Zufriedenheit kommt es darauf an, auf was sie gerichtet wird. In der 35. Weisheit des as-Sakandarī lautet es: „Der Ursprung aller Rebellion, Nachlässigkeit und Gier ist die Zufriedenheit mit dem Ego. Und der Ursprung allen Gehorsams, Wachheit und Reinheit ist dein Mangel an Zufriedenheit mit ihm.“232 D. h. die Zufriedenheit mit dem Ego beziehungsweise die schlechten Eigenschaften, die zum Beispiel durch Einbildungen und Liebe zur Macht entstehen, kommen zustande, wenn der Mensch sich nachlässig verhält. Wenn er nachlässig mit sich selbst wird, schreibt Ibn ʿAǧība, gibt er sich schließlich mit seiner Lage zufrieden, was ihn sich den schlechten, negativen Eigenschaften zuneigen lässt.233 Im Gegensatz zur Zufriedenheit mit dem Ego bildet die Zufriedenheit mit dem Schöpfer und Seinem Willen eine der höchsten Stufen. Zufriedenheit (riḍā) schreibt Ibn ʿAǧība, bedeutet, „den Beschwernissen mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu begegnen oder Freude, die das Herz empfindet, wenn die Bestimmung eintrifft. Oder die Wahl Gott zu überlassen, in dem was Er plant und ausführt. Oder Herzensruhe und das Unterlassen der Verneinung der Dinge, die von dem Einen, dem Gewaltigen eintreffen.“234
Die Aufgabe (taslīm), im Sinne der Hingabe und Unterwerfung, drückt den naheliegenden und den die Zufriedenheit vervollständigenden Aspekt aus, dass vor dem Eintreffen einer Begebenheit des Schicksals ein Prozess der Loslösung von dem dem Menschen eigenen Eigensinn vollzogen werden muss, um mit dem zugeteilten Los, wenn es eintrifft, zufrieden sein zu können. Die Aufgabe des Schicksals besteht laut Ibn ʿAǧība schließlich darin, die „Planung zu unterlassen und die Wahl zu treffen, sich in Ruhe in die Ströme des Schicksals zu begeben.“235 Die Aufgabe (taslīm) ist die Haltung, keine egoistischen Pläne zu 230 Ebenda, S. 293; vgl. IH, S. 317; das Hadith überliefert mit Varianten in Kanz: Ṭabarānī und Ibn ʿAsākir, Nr. 36988–36991. 231 Vgl. IH, S. 267; MT, S. 6–7. 232 IH, S. 114. 233 Ebenda, S. 114–5; IH, S. 219. 234 MT, S. 7. 235 Ebenda.
5.3 Das Meer der Einheit
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schmieden und die eigene Planung zu unterlassen, sodass Gutes oder Schlechtes beide gleich viel im Herzen wiegen, wenn sie eintreffen.236 Da die Stufen viele sind, unterscheidet sich die Zufriedenheit je nach Fortschritt auf dem Weg. Auf der ersten Stufe bestehen laut Ibn ʿAǧība Zufriedenheit und Aufgabe darin, Geduld und Anstrengung aufzubringen; auf der zweiten Stufe darin die Ruhe zu bewahren, wenn die Gedanken der Abneigung und des Widerwillens eintreten. Und auf der dritten Stufe bedeuten sie Freude und Ruhe, ohne Abneigung, „wobei die ersten Gedanken, wenn eine schlimme Sache eintrifft, allen vergeben werden, da die menschliche Natur schwach und niemand vor ihnen gefeit ist.“237 Die Zufriedenheit des Menschen mit dem Schicksal ist demnach keine passive Haltung, wie es in den Aussagen Ibn ʿAǧības zunächst den Anschein haben mag. Lediglich die oberflächliche Beschäftigung mit der Norm des Schicksals, die intellektuelle Auseinandersetzung, ist statisch, da sie durch den Verstand begrenzt ist. Die Bewegungen des Herzens, die dem Menschen im Diesseits möglich sind, spiegeln sich in der Reise. Sie führen aus den Niederungen des Egos hinauf in die Gottesliebe, aus der Armut des Diesseits zum Reichtum des Gehorsams in Gott.238 Ibn ʿAǧība bringt es an einer Stelle auf die Formel: Äußerlich soll der Mensch Gott anbeten und bestimmte Dinge unterlassen (Scharia). Innerlich, auf der Ebene der Wirklichkeit (ḥaqīqa), soll er Ihn schauen, wenn Schicksal und Bestimmung eintreffen. Beide Ebenen müssen, schließt er an, verbunden werden, um den Glauben zu erfüllen.239 In diesem Kapitel wurde das Topos der Willensfreiheit, die zum Thema Schicksal meist auftaucht, ausgespart, was sich allgemein mit dem Duktus Ibn ʿAǧības trifft. Er betrachtet die Frage des Schicksals meist durch die Linse der Praxis und lässt sich nicht auf theoretische Diskussionen ein. Vielmehr löst er den Komplex des Schicksals durch die Antwort, dass im Willen Gottes gewissermaßen eine Aufgabe liege, die der Mensch zu lösen habe. Und als Mittel zur Lösung habe Er ihm die guten Charaktereigenschaften gegeben, die Möglichkeit zu üben, um auf dem Weg zur Erkenntnis voranzuschreiten. Auf die Willensfreiheit wird im Laufe des folgenden Kapitels (5.3.2.1) eingegangen.
5.3 Das Meer der Einheit (baḥr al-waḥda) Ein Schlüsselelement für die Lehre Ibn ʿAǧības stellt das Motiv dar, wie dem Menschen die Einheit Gottes offenbar wird. Die Erkenntnis der Einheit Gottes (tawḥīd) im Herzen des Menschen ist das höchste Ziel des Glaubens und das 236
Vgl. IH, S. 97. MT, S. 7. 238 Vgl. IH, S. 219. 239 SATH, S. 326–7. 237
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Ende des Weges. In diesem Kapitel wird dieser „spezielle Einheitsglaube“ (tawḥīd ḫāṣṣ)240, beziehungsweise einige Aspekte dessen unter Zuhilfenahme der išāra, der Allegorien und Erläuterungen Ibn ʿAǧības, beleuchtet. Während die Lehre von der Gotteserkenntnis üblicherweise den Vorgang im Menschen (Mikrokosmos) beschreibt, der sich auf die Reise zu Gott begibt, zeigt die Lehre von den Manifestationen den Prozess auf, wie das göttliche Licht durch Seine Namen, Eigenschaften und Wirkungskräfte (afʿāl) in die Welt gelangt (Makrokosmos). Wobei die beiden Ebenen, wie in vorigen Kapiteln verschiedentlich behandelt, eigentlich nicht wirklich zu trennen sind. Die Lehre von der „Einheit des Seins“ wird üblicherweise auf Ibn ʿArabī zurückgeführt und behandelt das Wirken Gottes in der Welt aus der Perspektive des Sufitums unter Verwendung der Fachbegriffe dieser Disziplin.241 Der Begriff „Einheit des Seins“ oder „Einheit der Existenz“ (waḥdat alwuǧūd), von Ibn ʿArabī selbst nicht verwendet, ist wahrscheinlich seit ʿAbd ar-Raḥmān al-Ǧāmī in der Theologie mit der Lesart Ibn ʿArabīs verbunden.242 Ibn ʿAǧība verwendet den Begriff „Einheit des Seins“ nicht, wohl aber eine verwandte, etwas poetischere Bezeichnung: Das „Meer der Einheit“ (baḥr al-waḥda).243 Einen anderen Begriff, der ebenfalls mit der Schule Ibn ʿArabīs in Zusammenhang gebracht wird, die „Manifestation“ (taǧallī), verwendet er allerdings durchgehend in seinem Werk.244 Wie dem auch sei, die Methode zur Erörterung über Gottes Wirken in der Welt bei Ibn ʿAǧība und Ibn ʿArabī gleicht sich letztendlich im entscheidenden Punkt. Der Kerngedanke bei beiden lautet, wie bereits in Teil 3 zum Kalam beschrieben, dass es von absoluter Notwendigkeit ist, das Wirken Gottes und Sein Sein in ein Vor und Nach der Manifestation zu unterteilen.245 Ibn ʿAǧība betont zur Darlegung des Themas, dass die Diskussion über das Meer der Einheit nicht durch Belege und Beweise geführt werde, sondern auf der Ebene der išāra.246 Er nimmt sich dieses Themas besonders in zwei Abhandlungen an, von denen in der ersten die „göttliche Essenz“ vor und nach der Manifestation (taǧallī) in der Welt behandelt wird.247 In der zweiten Abhandlung widmet er sich den Schleiern, die er Talismane nennt, die im Kosmos über den 240
Fahrasa, S. 36. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 3–8; vgl. zum Einfluss der Lehren Ibn ʿArabīs auf die Šāḏiliyya Geoffroy, „Entre ésotérisme et exotérisme, les Shâdhilis, passeurs de sens (Égypte – xiii–xv siècles)”, in Une voie soufie dans le monde, Hg. Éric Geoffroy, S. 117–29. 242 Vgl. Murata, Chinese Gleams of Sufi Light, S. 113–21. 243 Vgl. etwa IH, S. 456; BM, Bd. 1, S. 63–4. 244 Für den Begriff der Manifestation vgl. William C. Chittick, The Self-disclosure of God: Principles of Ibn Al-ʻArabī’s Cosmology. 245 Vgl. aš-Šaʿrānī, Mīzān al-ʿaqāʾid aš-Šaʿrāniyya al-mušayyada bi-l-kitāb wa s-sunna alMuḥammadiyya, S. 14–7. 246 TW, S. 36. 247 In diesem Zusammenhang verwendet Claude Addas und andere den Begriff Theophanie im Sinne einer Selbstoffenbarung Gottes in der Welt (TW, Addas im Vorwort, S. 11). 241 Vgl.
5.3 Das Meer der Einheit
301
Wirkungskräften, den Eigenschaften und der Essenz beziehungsweise dem göttlichen Wesen liegen. Im Mittelpunkt der Abhandlungen steht das „Wesen des Wirklichen“ (ḏāt alḤaqq). Der Begriff, den Ibn ʿAǧība verwendet, um sich diesem anzunähern, ist im Stile der išāra seines Meisters al-Būzīdī die „göttliche Essenz“ oder wörtlicher der „ewige Wein“ (al-ḫamra al-azaliyya).248 Wie der Vergleich mit dem Wein und auch dem Meer zeigt, verwendet Ibn ʿAǧība für seine Ausführungen im Allgemeinen metaphorische, allegorische Sprache, die sich tendenziell aus Gedichten speist. Die Allegorie des ewigen Weins ist an die Weinode Ibn alFāriḍs angelehnt.249 Die Grundbegriffe der Sufi-Lehre vom Wirken Gottes in der Welt, wurden bereits in Teil 3 dieser Studie eingeführt. Die beiden eben erwähnten Abhandlungen dienen im Folgenden als Orientierung. 5.3.1 Das Sein (wuǧūd) Gottes und Seine Manifestation (taǧallī) 5.3.1.1 Die göttliche Essenz (al-ḫamra al-azaliyya) Um sich dem Thema der göttlichen Essenz anzunähern, wird bei den Sufis traditionellerweise ein Hadith qudsī zu Hilfe genommen, so auch bei Ibn ʿAǧība. Gott spricht: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte [wörtl. liebte es,] erkannt [zu] werden. Da erschuf Ich die Schöpfung, damit sie Mich erkennen.“250 Es fasst in komprimierter Form die Lehre von der göttlichen Manifestation zusammen und wird im Laufe des Kapitels verschiedentlich auftauchen.251 Die göttliche Essenz, metaphorisch für das erhabene Wesen Gottes, ist und war vor der Erschaffung der Welt ein subtiler Schatz, „licht und strahlend, beseelt und körperlos. Ursprünglich ohne Beginn, ewig ohne Ende. Ohne Maß und Grenze. Aufgrund ihrer Subtilität kann sie nicht geschaut und durch Wissen und Betrachtung nicht erfasst werden. Im Zustand des Schatzes besitzt sie keine Form und keinen Rahmen, keine Substanz und keinen Körper. Vielmehr ist sie dort reine Bedeutung ohne greifbar zu sein, reine Herrschaft ohne jegliche Dienerschaft. Denn die Dienerschaft gehört zu den Aspekten der Formen und des Rahmens.“252
„Im Zustand des Schatzes“ meint hier die dem Menschen unzugängliche Wesenheit Gottes, als Er sich noch nicht in irgendeiner Form offenbart hatte. Un248 MT, S. 51; vgl. ebenfalls die Kommentare zu Gedichten: SHIF, STB und SNS. In den Gedichtkommentaren tauchen diese Worte regelmäßig auf. 249 Vgl. SHIF, S. 13–9. 250 Zur Einstufung des Hadith aus Perspektive der Hadithwissenschaft vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 121. Wenn es kein Hadith des Propheten Muḥammad ist, so ist die Aussage jedoch dem Inhalt nach richtig, im Sinne der Erkenntnis, die in der Schule der Sufis das Ziel allen Gottesdienstes ist, wie schon verschiedentlich an anderer Stelle beschrieben. 251 Vgl. Chittick, The Sufi Path of Knowledge, S. 66; STB, S. 17. 252 TW, S. 38.
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
abhängig von allen geschaffenen Dingen existierte sie in ewiger Vollkommenheit und das verhält sich noch immer so. Das steht im Kontrast zur Dienerschaft, die gänzlich zu den geschaffenen Dingen zählt.253 Das Erscheinen der Dienerschaft bedeutet, dass nun die Rede von der göttlichen Manifestation in der Welt ist. Erscheint eine Eigenschaft des Menschen in der Welt, schreibt Ibn ʿAǧība, liegt darin die Essenz „gefärbt“254 verborgen, als Schleier, sodass das Innerste bewahrt bleibt und die Dualität der Welt von Außen und Innen entsteht. Die menschlichen Eigenschaften bedecken die göttlichen Manifestationen.255 Manifestiert sich eine Eigenschaft der göttlichen Essenz, ist darin immer „Greifbares und Bedeutung enthalten, Dienerschaft und Herrschaft. Das Greifbare ist das Äußere und ist der Ort für die Dienerschaft, während die Bedeutung das Innere darstellt und den Ort für die Herrschaft bildet. Denn es besteht keine äußerliche Majestät, ohne dass darin innerliche Schönheit liegt und keine äußerliche Schönheit, ohne dass sie innerlich Majestät enthält.“256
Wenn die göttliche Essenz sich manifestiert, konkludiert Ibn ʿAǧība, nimmt sie sich einen Schleier, welcher Art die Manifestation auch ist, ob majestätisch in Form von Macht und Erhabenheit oder schön in Form von Feinheit und Glanz.257 Dazu mehr im folgenden Kapitel. Ob nun aber Manifestation eintritt oder nicht, ist für das erhabene Wesen Gottes nicht von Bedeutung. In den Weisheiten as-Sakandarīs heißt es: „Es war Gott und nichts war mit Ihm. Und Er ist auch in diesem Moment wie Er war.“258 Das bedeutet, kommentiert Ibn ʿAǧība, dass kein Ding neben Ihm in aller Ewigkeit besteht und auch die erschaffenen Dinge, wenn sie in der greifbaren Welt Form annehmen, lediglich ein Abbild der Essenz sind, weder verschieden dazu noch ein Zusatz in irgendeiner Form. Demgemäß hat die „Färbung des Weins“259 durch den Schleier in der Welt keinen Effekt auf die eigentliche Essenz, die erhaben und vollkommen unabhängig von der Welt existiert.260 Der Zustand der göttlichen Essenz selbst kommt laut den Sufis und auch Ibn ʿAǧība im Hadith zum Ausdruck, als der Gesandte Gottes gefragt wird: „Wo befand sich unser Herr bevor er die Schöpfung erschuf ?“ Er antwortete: „Er befand sich in einer Wolke, über der keine Luft und unter der keine Luft war.“261 253 Vgl. dazu die Erläuterungen von William C. Chittick, „The Five Divine Presences from al-Qūnawī to al-Qayṣarī“, The Muslim World, 72 (1982), S. 107–28. Dort werden fünf verschiedene Ansätze diskutiert, wie sich bei den Sufis die Essenz oder das Wesen zur Welt verhalten. 254 TW, S. 38. 255 Ebenda, S. 38; STB, S. 17. 256 STB, S. 18. 257 TW, S. 39; IH, S. 105. 258 IH, S. 116; TW, S. 40. 259 TW, S. 38. 260 Ebenda, S. 38, 40. 261 Ebenda, S. 40; das Hadith in Kanz: Ibn Ǧarīr, Abū aš-Šayḫ, Nr. 1185.
5.3 Das Meer der Einheit
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Keine Luft, schreibt Ibn ʿAǧība, da noch keine solche existierte und kein Oben und kein Unten. Die Kategorien wie Oben und Unten, alle Orte und die Zeit bestehen durch die Lichter, welche die Eigenschaften Gottes aufrechterhalten. Die Lichter jedoch sind lediglich Strahlen und nicht die Quelle. Letzen Endes besteht nur Gott, schreibt er, wie es im Aya zum Ausdruck kommt: „Und Gottes ist der Osten und der Westen. Wo ihr euch hinwendet, ist das Antlitz Gottes. Wahrlich, Gott ist der unübertrefflich Umfassende, der Wissende“ (K 2:115).262 As-Sakandarī verdichtet es in der Weisheit: „Die Universen bestehen durch Seine Schaffung und sind ausgelöscht durch die Einheit Seines Wesens.“263 Das bedeutet, kommentiert Ibn ʿAǧība, die Vielheit führt letztendlich zu einem einzigen Ursprung, dem Einen, dem Schöpfer. Sie kommt durch die Mittel der göttlichen Eigenschaften und deren Wirkungskräfte zustande. Diese bilden den Übergang des Lichts in die Welt.264 Die Motivation Gottes, die Welt zu erschaffen, interpretiert Ibn ʿAǧība mit der Liebe. Er führt dazu die folgenden Aussagen an: Im Hadith vom Schatz heißt es: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte [wörtl. liebte es,] erkannt [zu] werden. Da erschuf Ich die Schöpfung, damit sie Mich erkennen.“265 Im Koran heißt es: „Und erschaffen habe Ich die Dschinn und die Menschen nur, damit sie Mir dienen“ (K 51:56). Und in einem bekannten Ausspruch interpretiert der Prophetengefährte Ibn ʿAbbās das „dienen“ hier als die Erkenntnis, das Kennenlernen. Dementsprechend war der göttliche Wille, erkannt zu werden, eine Bewegung der Liebe.266 Anders ausgedrückt ist die Liebe spezieller als der Wille Gottes und richtet sich auf die Dinge in der Welt, je nachdem, wie weit sie durch die Erkenntnis getrennt sind. Gott will alles, aber Liebe erfolgt, wenn der Diener sich der Läuterung verschreibt und sich auf den Weg der ursprünglichen Religion macht. Folgt er lediglich seinen eigenen Gelüsten und egoistischen Wünschen, bleibt er entfernt von der Erkenntnis und damit der Liebe.267 Die Metapher beziehungsweise išāra von der göttlichen Essenz ist bei Ibn ʿAǧība ausgeprägt. Einige der Fachbegriffe nehmen mehr oder weniger Bezug auf das Bild des Trinkens von Wein, der Essenz, der das Diesseits vor Liebe vergessen lässt – es ist die Sehnsucht zum Geliebten, die zum Trinken anhält. Die Weinode Ibn al-Fāriḍs beginnt mit den Worten: „In Erinnerung an den Geliebten tranken wir von einem Wein – Betrunken wurden wir dadurch bevor noch die Rebe erschaffen.“268 262
BM, Bd. 1, S. 123; TW, S. 40. IH, S. 323. 264 Ebenda, S. 322–3. 265 STB, S. 17. 266 Vgl. BM, Bd. 7, S. 225. 267 Vgl. SD, S. 271. 268 SHIF, S. 18. 263
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Die Metapher des Weins, kommentiert Ibn ʿAǧība, wird gewählt, da er wie die Abwesenheit vom eigenen Ego trunken macht, durch die Schau der göttlichen Manifestationen. Wie der physische Wein dem Menschen den Verstand nimmt, nimmt auch der ewige Wein dem Menschen den Verstand. Demgemäß ist der sufische Fachbegriff des „Erlebens“ oder wörtlicher des „Schmeckens“ (ḏawq) zu verstehen. Dessen Steigerung ist das „Trinken“ (šurb), dessen Steigerung wiederum die „Trunkenheit“ (sukr).269 Je weiter der Diener durch die Abwesenheit seines Herzens von der Welt auf dem Weg voran schreitet, führt er aus, je mehr er von den Manifestationen wahrnimmt, desto mehr kann er von dem ewigen Wein trinken. Mit der Herzenserkenntnis endet schließlich die Trunkenheit und der Diener erlebt ein „Erwachen“ (ṣaḥuw).270 Der Becher, von dem der Wein getrunken wird, kann für verschiedenes stehen, etwa für das Leuchten der Lichter, das die Herzen anzieht.271 Die Natur oder das Wesen des Weines ist ewig und wer von ihm trinkt, dessen Wahrnehmung verschiebt sich, weswegen Ibn al-Fāriḍ dichtet, dass die Trunkenheit abseits von der Erschaffung der Rebe bestehe.272 5.3.1.2 Die göttliche Manifestation in der Welt Die göttliche Essenz ist für sich genommen unergründlich und erhaben über alle Vorstellungen, die von ihr erstellt werden. Neben den Theorien des Kalam und der Philosophie halten Sufis wie Ibn ʿAǧība es mit dem Modell von dem Meer der Einheit (baḥr al-waḥda), um das Wirken in der Welt zu erklären. Wie erwähnt besteht der wesentliche Unterschied zwischen dem Modell der Sufis und anderen Modellen in der Differenzierung zwischen der Essenz vor der Manifestation und nach der Manifestation. Ibn ʿAǧība nennt, wie oben bereits angeführt, die göttliche Essenz vor der Manifestation die Essenz „im Zustand des Schatzes“ ( fī ḥāl al-kanziyya) und danach „die Essenz nach der Manifestation“ (al-ḫamra baʿd at-taǧallī).273 Das Konzept der Manifestation ist koranischen Ursprungs (K 7:143). Er ist „ein Ausdruck dafür, wenn dem Diener von der Großartigkeit seines Herrn eröffnet (kašf ) wird.“274 Das geschieht, führt Ibn ʿAǧība an anderer Stelle aus, entweder durch das Erscheinen von Majestät und Stärke oder durch das Erscheinen von Schönheit und Feinheit. Eine Prüfung durch das Schicksal beinhaltet zum Beispiel durch die darin enthaltene Veränderung die göttlichen Eigenschaften in Form der Wirkung des Einflusses auf das Leben eines Menschen.275 Das Gegenteil zur Manifestation ist laut Ibn ʿAǧība der Schleier (satr), der über dem Diener 269
MT, S. 39. Ebenda, S. 40. 271 Vgl. MT, S. 39, 51. 272 Vgl. SHIF, S. 17–20. 273 TW, S. 36–42. 274 MT, S. 40. 275 Vgl. IH, S. 45. 270
5.3 Das Meer der Einheit
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liegt, was „Abwesenheit des Dieners von seinem Herrn“276 bedeutet, wenn er durch sein Ego abgelenkt ist.277 Für die Stufen auf dem Weg des Menschen bedeutet das, erklärt er, wer sich ausschließlich auf der ersten Stufe aufhält, dem wird nichts eröffnet, da er nur sein niederes Selbst schaut. Auf der zweiten Stufe befindet sich der Reisende abwechselnd zwischen Schleier und Eröffnung, da er für dauerhafte Anschauung noch zu schwach ist. Und auf der dritten Stufe schaut der Diener die Wirklichkeit hinter den Dingen zu aller Zeit.278 Manifestieren sich in der Welt die Eigenschaften der göttlichen Essenz durch Seinen Willen, geschieht das, indem der Schein der Eigenschaften erscheint. „Denn manifestierte sie [die Essenz] sich ohne Mittel (bilā wāsiṭa), vergingen die erschaffenen Dinge und würden zunichtegemacht.“279 „Als dann die Essenz (ḫamra) wollte, dass ihre Schönheit erscheine, ihre Lichter und Geheimnisse, ließ sie einen Teil (qabḍa) ihres Lichts erscheinen, greifbar und bedeutend. Aus Sicht der greifbaren Dinge ist er [dieser Teil] begrenzt und beschränkt und aus Sicht der Bedeutungen unbegrenzt und unbeschränkt. Er ist mit dem Meer der Bedeutungen verbunden, das kein Ende hat. Das Beispiel dafür ist ein Stück Eis in einem Meer ohne Küste. Aus Sicht der Festigkeit des Eisstückes, ist es begrenzt und aus Sicht des Wassers im Inneren, ist es verbunden mit dem Meer, das es in sich trägt. […] Zusammenfassend ist der Teil [des Lichts der Essenz], der im Meer der Bedeutungen erscheint, die Essenz des Meeres, aus dem er hervortritt. Die Geheimnisse der Herrschaft (rubūbiyya) befinden sich alle darin und wurden im Menschen zusammengefasst.“280
Wie im Kapitel zur išāra ausgeführt (vgl. 4.3.1), sind die möglichen Bedeutungen, die auf Gott als Wirklichkeit verweisen, unendlich. Aus ontologischer Perspektive ist der Grund das metaphorische Wasser, das den Kosmos durchdringt, wie es im Beispiel des Eises im Meer zum Vorschein kommt. Der Mensch, schreibt Ibn ʿAǧība, ist eine Kopie dieses Bildes vom Sein (wuǧūd), ein Mikrokosmos; er besitzt ein begrenztes Äußeres und ein potenziell unbegrenztes Inneres, in dem alles potentiell angelegt ist.281 Die Allegorie vom Menschen als Mikrokosmos (kawn, ʿālam ṣaġīr) des Kosmos (Makrokosmos: kawn, ʿālam akbar) bildet das Fundament für die Erkenntnis der göttlichen Manifestationen in der Welt. Dies nach dem Hadith qudsī: „Gott, der Erhabene, spricht: ‚Nicht Meine Erde und nicht Mein Himmel fasst mich, doch es fasst Mich das Herz Meines gläubigen Dieners.‘“282 Überwiegt das Licht der Erkenntnis im Menschen das Dunkel der menschlichen Begierden, erleuchtet es den Mikrokosmos, wodurch die Seele (rūḥ) des 276
MT, S. 40.
277 Ebenda. 278
Ebenda; vgl. IH, S. 252–5. MT, S. 46. 280 TW, S. 42. 281 Ebenda, S. 44. 282 IH, S. 520–1; auf den Beleg für dieses Hadith wurde bereits an früherer Stelle eingegangen; vgl. auch Koran 2:30 und 38:26. 279
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Dieners ihren ursprünglichen Anschluss an das Göttliche findet, an die „große Seele“ (ar-rūḥ al-aʿẓam), den Makrokosmos.283 Der Anschluss der Seele an das Göttliche findet stufenweise statt. Diese Stufen werden in den folgenden Kapiteln (5.3.2) thematisiert. Prinzipiell weitet sich die Erkenntnis des Dieners, je mehr er von dem Licht in den Manifestationen schaut. Schaut er dann das Innere einer Sache, verbindet er sich damit. Das bedeutet, er geht den Weg des göttlichen Lichtes zurück und folgt ihm zu seinem Ursprung.284 Die Lehre der Sufis vom Menschen als Abbild oder wörtlicher „Kopie des Seins“285 (nusḫat al-wuǧūd), wie sie auch Ibn ʿAǧība vertritt, hat weitreichende Folgen. Sie leitet sich auch bei Ibn ʿAǧība aus der koranischen Erzählung ab, als Gott den Propheten Adam die Namen, sprich die Bedeutungen aller Dinge lehrt und schließlich die Engel sich vor Adam niederwerfen lässt. Gott macht Adam zum Stellvertreter (ḫalīfa) auf Erden (vgl. K 2:30–4). Die Niederwerfung der Engel geschieht nun, sollte bedacht werden, nicht etwa vor Gott, sondern vor dem Menschen. Wie ist das zu erklären? Kurzgesagt stellt Gott laut Ibn ʿAǧība dem Menschen die Namen und die darin enthaltenen Bedeutungen und Geheimnisse potenziell zur Verfügung. Denn „die im Menschen vorhandene Seele ist ein Teil der großen Seele, was die Bedeutungen meint, die die Formen erhält.“286 Als Kopie des Seins spiegelt sich im Menschen gewissermaßen auch der Thron (al-ʿarš). Al-Ǧīlī vergleicht den Thron mit dem Körper des Menschen; wie der Körper das Herz, die Seele und den Verstand beherbergt, umfasst der Thron die Welt und alles, was darin enthalten ist.287 In einer vertraulichen Zwiesprache mit Gott (munāǧāt) sagt Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī: „O [Du], der sich durch Seine Barmherzigkeit auf den Thron setzte, wodurch der Thron in der Barmherzigkeit verborgen wurde, wie auch die Welten im Thron verborgen werden. Spuren hast Du durch Spuren zunichtegemacht und alles andere durch die Umfassungen der Bahnen der Lichter.“288
Dass die Dinge „verborgen werden“ ist eine Umschreibung für die Abstufungen der Lichter, die in Richtung des erhabenen Wesens zu und in Richtung der Welt abnehmen, kommentiert Ibn ʿAǧība. Die Barmherzigkeit ist eine unbedingte Eigenschaft Gottes, fährt er fort, die nicht von Seinem Wesen getrennt werden kann, da die Beschreibung einer Sache immer in Beziehung zu dem Gegenstand der Beschreibung steht. Wenn Gott davon spricht, sich auf den Thron zu setzen und den Namen „der Barmherzige“ verwendet, ist damit gemeint, dass 283
Vgl. BM, Bd. 1, S. 63. Vgl. IH, S. 520. 285 TW, S. 44. 286 BM, Bd. 1, S. 63. 287 Al-Ǧīlī, Al-insān al-kāmil, S. 143. 288 IH, S. 645; TW, S. 44; vgl. auch Koran 20:5 und 25:59. 284
5.3 Das Meer der Einheit
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die Barmherzigkeit den Thron umfasst, was wiederum bedeutet, dass auch die Geheimnisse des Wesens in Form der Lichter, die den Thron umfassen, darin enthalten sind. Ebenso liegt die Welt verborgen in der Barmherzigkeit, da sie im Thron verborgen liegt, der über der Welt steht.289 Tatsächlich, führt er weiter aus, kommt indes aus Sicht der Einheit den greifbaren Spuren (āṯār), dem Greifbaren in der Welt, kein wirkliches Sein zu. Sie sind Abfärbungen des Lichts einer höheren Stufe des Seins (wuǧūd). So werden die Spuren der greifbaren Welt zunichte, wenn der Blick auf den Thron geworfen wird, der in der Barmherzigkeit liegt und damit von der Eigenschaft selbst stammt. Und der Thron ist schließlich selbst eine Spur beziehungsweise Erscheinung, die auf das ursprüngliche Licht deutet, das von der Barmherzigkeit abstrahlt. Letztendlich deutet alles auf den Einen. Alles andere – dass etwas anderes Bestand haben kann außer Seinem Licht, dessen Bahnen alles umfassen, wie es oben im Zitat heißt – ist Einbildung.290 Aus diesem Grund ist wirklich wahres Sein (wuǧūd) nur bei Gott zu finden. Potenziell liegen die göttlichen Lichter in allen Dingen, ob greifbar oder nicht, verborgen. Der Mensch als Mikrokosmos ist verbunden mit dem Makrokosmos der Welt und erkennt beide Kosmen gleichermaßen, wenn sie auf dem Weg der Erkenntnis miteinander verschmelzen, wenn Inneres und Äußeres im Menschen zusammenfinden, wenn die Dualität in der Welt überwunden ist.291 Es ist kein Zufall, dass die Begriffe, die sich um die Wurzel des arabischen Wortes für Sein oder Existenz (wuǧūd) drehen, in enger Verbindung zu einer Variante des Begriffs vom Schmecken oder der Erfahrung (wuǧd) stehen. Die Erfahrung verdichtet sich, den Begrifflichkeiten Ibn ʿAǧības folgend, durch die Schau der Lichter der Manifestationen und dauert an (wuǧdān), bis die Seele durch Abwesenheit vom Ego die Wirklichkeit der Dinge schaut. Darin liegt wirkliches Sein (wuǧūd), alles andere Sein ist mehr Schein.292 Ibn ʿAǧība führt dazu einen Gedichtvers al-Ǧunayds an: „Mein Sein liegt darin, abwesend vom Sein zu sein – durch was mir in der Anschauung erscheint“293
Gott manifestiert sich zwischen den Gegensätzen, die im Zusammenspiel von Außen und Innen, Weisheit und Allmacht, Scharia und Wirklichkeit auftreten. In der Metapher der Reise ausgedrückt, beschreibt Ibn ʿAǧība, wachsen die Trauben für die Essenz in den Gärten des Königreichs, die der Reisende auf dem Weg zu seinem Herrn durchquert. Der Garten der göttlichen Herrschaft (malakūt) für die Schönheit der unendlichen Bedeutungen ist das äußerliche 289
IH, S. 645; BM, Bd. 4, S. 268. TW, S. 44–6; vgl. IH, S. 645; vgl. BM, Bd. 4, S. 268. 291 Vgl. IH, S. 644–5; TW, S. 44–8. 292 MT, S. 39; vgl. zum umfassenden Sein IH, S. 358. 293 MT, S. 39. 290
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Königreich der greifbaren Welt (mulk), die beide durch die Omnipotenz (ǧabarūt) gelenkt werden.294 Den Teil des Lichts, den der Schöpfer in die Welt gab, ist laut Ibn ʿAǧība äußerlich Scharia und innerlich Wirklichkeit (ḥaqīqa), äußerlich Königreich (oder Herrschaft) und innerlich göttliches Königreich. Und beide werden von den unendlichen Bedeutungen der Omnipotenz umfasst. Aus Sicht der Wirklichkeit werden auf diese Weise „die Zweige zurück zu ihren Wurzeln geführt.“295 Das bedeutet, die Manifestationen in der Welt können nicht ohne die Welt, das äußerliche Königreich, erscheinen. Beide bedingen sich, denn „Gott, der Erhabene, manifestiert sich in diesem Teil [des ersten erschaffenen Lichts] durch Seinen Namen ‚der Äußere‘, wie Er sich auch mit dem Namen ‚der Innere‘ manifestiert. Er lässt darin [im Licht] die Eigenschaften der Dienerschaft erscheinen, nachdem Er sich in ihm durch die Geheimnisse der Herrschaft manifestierte. Auf diese Weise vereinen sich in ihm die Gegensätze. Die Herrschaft und die Dienerschaft. Die Erscheinung gehört zur Herrschaft und die Form zur Dienerschaft sowie alles, was sich von ihm nach dieser Art manifestiert.“296
D. h. das göttliche Licht in der Welt in der Erscheinungsform durch die Abstrahlung von den Eigenschaften ist es, was der Diener in der Schau erkennt. Ibn ʿAǧība führt dazu die Weisheit des as-Sakandarī an: „Der Kosmos ist gänzlich dunkel. Wahrlich, wenn der Wirkliche in ihm erscheint, wird er erleuchtet. Wer nun den Kosmos sieht und darin, davor, danach oder mit ihm nicht Gott schaut, der entbehrt der Existenz der Lichter. Er ist verschleiert vor den Sonnen der Erkenntnisse durch die Wolken der Spuren.“297 Im Koran lautet es: „Strömen lassen hat Er die beiden Meere, die aufeinandertreffen. Zwischen ihnen eine Schranke, damit sie nicht ineinandergreifen. Welche Gnaden eures Herrn wollt ihr beide leugnen? Aus ihnen kommen Perlen hervor und Korallen“ (K 20:19–22). Die beiden Meere des Inneren und Äußeren sind es, kommentiert Ibn ʿAǧība, die durch den wahrhaftigen Glauben aufeinandertreffen, die der gesunde Verstand wie eine Schranke trennt. Durch die Erkenntnis werden dem Gotteskenner die „Perlen und Korallen“ der Lehren des Inneren und Äußeren offenbart.298 Die Metaphorik der Gleichnisse vom Wein, den Gärten und der Trunkenheit soll nicht davon ablenken, dass das Augenmerk hinsichtlich der Manifestation auf dem Lokus derselben liegt. „Der Wirkliche, erhaben ist Er, manifestiert sich zwischen den Gegensätzen, zwischen Greifbarem und Bedeutung. Zwischen Herrschaft und Dienerschaft, zwischen Allmacht und Weisheit. Allmacht ist Ausdruck für die Geheimnisse der Bedeutungen, die in den 294
Ebenda, S. 36–7; vgl. auch TW, S. 50. TW, S. 50. 296 Ebenda. 297 Ebenda, S. 52; vgl. IH, S. 72–3. 298 BM, Bd. 7, S. 281–2. 295
5.3 Das Meer der Einheit
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Formen bestehen und die Weisheit ist Ausdruck dafür, was in den Formen erscheint, deren Gestalten, Begrenzungen und Spezifizierungen.“299
Einfacher ausgedrückt sind die Gegensätze laut Ibn ʿAǧība überall vorhanden, entsprechend dem Muster von Innen und Außen. Alles, was in den Rahmen des Inneren fällt, zählt zum Bereich der Herrschaft (rubūbiyya) und alles, was in den Rahmen des Äußeren fällt zum Bereich der Dienerschaft (ʿubūdiyya). In der Herrschaft erscheint Vollkommenheit und in der Dienerschaft erscheint Schwäche. Dieses Verhältnis von der Schwäche und Vergänglichkeit des Äußeren und der Vollkommenheit und Grenzenlosigkeit des Inneren beruht auf der kosmischen Ordnung, die in der Schöpfung angelegt ist.300 Wie oben erwähnt lässt sich die Schau der Manifestationen in drei Stufen unterteilen. Die Schau meint hierbei die Schau der Gegensätze, in der die ewige Essenz erkannt werden kann. All jene Menschen, schreibt Ibn ʿAǧība, die lediglich die untersten, greifbaren Spuren oder Implikationen schauen, befinden sich auf der ersten Stufe. Sie sehen lediglich den Schein der Weisheit und damit ihre äußeren Formen. Das sind „die Leute von Beleg und Beweis der rechtschaffenen Allgemeinheit.“301 Dies kann auch den größten Gelehrten mit einschließen, wenn er in der Disziplin des Sufitums unwissend ist.302 Auf der zweiten Stufe verweilen all jene, die ihrem Ego entsagt haben und das Wirken der Allmacht in den Bedeutungen des göttlichen Königreichs durch das Mittel der äußeren Formen schauen. Ihr Ego vergeht in der Schau des Lichts ( fanāʾ ) und sie nehmen schließlich nichts mehr von den Formen und Geistern der greifbaren Welt wahr.303 Auf der dritten Stufe befindet sich, wer die Allmacht an ihrem Ort schaut und die Weisheit an ihrem Ort und wie sich beide vereinen. Diese Menschen schauen die Allmacht und respektieren die Weisheit. Sie werden weder von dem einen noch von dem anderen abgelenkt, sodass sie „verbunden sind in ihrer Trennung und getrennt in ihrer Verbindung. Wenn sie [von dem Wein] trinken, sind sie umso wacher und wenn sie abwesend sind, steigt ihre Anwesenheit. Das sind die Leute des Bestehens (baqāʾ).“304 Das Wissen und die Erkenntnis sind auf dieser Ebene nicht auf den eigenen Horizont beschränkt. Auf dieser Stufe kann sich der Diener, führt Ibn ʿAǧība aus, zwischen der Welt der Bedeutungen und der greifbaren Welt bewegen, zwischen dem Äußeren und Inneren. Die Gesetzmäßigkeiten, die auf der Reise des Dieners zu seinem Herrn von höchster Bedeutung waren, sind zum Teil hinfällig; so lässt ihn das Trinken des Weins nicht betrunkener werden, sondern hat die gegenteilige Wirkung. Trinkt er vom 299
TW, S. 52. Vgl. ebenda S. 52–3; IH, S. 276–7. 301 TW, S. 54. 302 Vgl. auch IH, S. 130. 303 TW, S. 54; vgl. IH, S. 276–7. 304 TW, S. 56. 300
310
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
ewigen Wein, wankt sein Schritt nicht, er wird fester.305 Ibn ʿAǧība zitiert dafür an anderer Stelle das Beispiel al-Ǧunayds, der einmal gefragt wurde: „Früher warst du gerührt während du zuhörtest [samāʿ; Gesang oder Rezitation], jetzt aber bewegst du dich kein bisschen?“ Da rezitierte er das Aya: „Und die Berge, die du siehst, du meinst von ihnen, dass sie fest gegründet, aber sie gehen dahin wie die Wolken“ (K 27:88).306 Im Koran heißt es über die Sabäer: „Wahrlich, die Sabäer hatten an ihrer Wohnstätte ein Zeichen: Zwei Gärten zur Rechten und zur Linken: ‚Esst von dem Unterhalt eures Herrn und seid Ihm dankbar! Ein Land, ein gutes und ein Herr: unübertrefflich vergebend‘“ (K 34:15). Ebenso, schreibt Ibn ʿAǧība in der išāra, besitze jeder Reisende und insbesondere jeder Gotteskenner zwei Gärten zu seinen Seiten: Die Gärten der Dienerschaft und der Herrschaft. Im Garten der Dienerschaft widmet er sich der Scharia und dem Wissen der Weisheit und im Garten der Herrschaft widmet er sich der Anschauung der Wirklichkeit und dem Wissen über die göttliche Essenz durch die Eigenschaften. Die Ernährung findet der Diener in der Süße der Handlungen im Garten der Dienerschaft und der Anschauung im Garten der Herrschaft. „Das ‚gute Land‘ stellt schließlich den Garten der Herrschaft dar, da nichts besser ist, als die Anschauung des Geliebten.“ Und „ein Herr: unübertrefflich vergebend“ ist Er, denn Er vergibt die Mängel, die im Garten der Trennung, der Dienerschaft auftauchen.307 Schließlich schreibt Ibn ʿAǧība gegen Ende der ersten hier diskutierten Abhandlung: „Das Wesen Gottes, des Erhabenen, ist ‚Notwendiges Sein‘ (wāǧibat al-wuǧūd), das aus sich selbst heraus besteht und durch die Eigenschaften der Bedeutungen beschrieben wird.“308 Das Verstehen des Menschen ist begrenzt, erklärt er, wie auch seine Ausdrucksweise, die mit einer Metapher oder einem Vergleich nur einen Aspekt wiedergibt. Wenn etwa das Wirken Gottes mit der Allmacht umschrieben wird, stellt sie lediglich einen Begriff dar, der auf etwas Höheres verweist, wie auch die Bedeutungen im Gegensatz zum Greifbaren auf das göttliche Licht im Innern der Dinge verweisen. Gleichermaßen verweist die Weisheit auf die Spuren – die Abstufungen des Lichts – die die Manifestationen in Formen, Bildern und Spezifikationen hervorbringen.309 Auch der ewige Wein, die göttliche Essenz und die Bilder vom Licht in den Dingen und dem Wasser, das den Kosmos innerlich und äußerlich spiegelt, sind Metaphern, schreibt er an anderer Stelle, die sich auflösen, wenn versucht wird sie von der Ebene der išāra zu entfernen und sie in Worte zu fassen, die dem Verstand genügen, nicht aber den Horizont des Innern zu weiten vermögen. Denn Worte sind leer, schreibt er, wenn sie nicht mit dem entsprechenden Glauben an 305 Ebenda. 306
BM, Bd. 5, S. 256–7. BM, Bd. 6, S. 81; TW, S. 58. 308 TW, S. 58. 309 Ebenda. 307
5.3 Das Meer der Einheit
311
den Inhalt vorgetragen werden. Eine išāra, wenn sie ausgedrückt und dabei in allzu deutliche Worte gefasst wird, verliert ihre Anbindung an die innere Ebene, die mit den unendlichen Bedeutungen in Verbindung steht.310 Ibn ʿAǧība schließt die Abhandlung mit einer Beschreibung der göttlichen Essenz: „Es ist das urewige Wesen, immerfort bestehend, subtil und verborgen, sich in den Formen und Zeichen manifestierend. Beschrieben durch die Eigenschaften der Vollkommenheit. Eins in der Ewigkeit und in dem, was nicht vergeht.“311 5.3.2 „Das Lüften des Schleiers“ Die Frage, inwiefern dem Menschen eine Freiheit des Willens zukommt, wurde im Kapitel zum Schicksal (5.2) lediglich berührt. In der Abhandlung zum Schicksal behandelt Ibn ʿAǧība diese nur kurz, da die Übung der Gewissheit im Vordergrund steht. Auf die Frage der Willensfreiheit geht Ibn ʿAǧība in der zweiten Abhandlung zum Komplex des „Meeres der Einheit“ mit dem Titel „Das Lüften des Schleiers vom innersten Kern der Dinge“ (kašf an-niqāb ʿan sirr lubb al-albāb) genauer ein. Darin diskutiert er das Verhältnis der Handlungen und Eigenschaften Gottes und des Menschen anhand der Schleier, die zwischen Ihm und dem Menschen liegen.312 Das Ziel der Abhandlung ist, schreibt Ibn ʿAǧība einleitend, zu beschreiben, wie der „Schleier der Einbildung zu heben“ oder der „Talisman von dem verborgenen Schatz zu nehmen“ ist.313 „Wisse“, beginnt er die Abhandlung, dass „der erhabene Schöpfer die Geheimnisse Seines Wesens, Seiner Eigenschaften und Seiner Wirkungskräfte dem Menschen anvertraute. Jedoch verschleierte Er sie durch Seine Weisheit und Unbezwingbarkeit.“314 Die Kraft, die den Menschen davon abhält das Wirken Gottes zu schauen und damit Seine Einheit zu erkennen, nennt Ibn ʿAǧība in diesem Zusammenhang Talisman (ṭalsam o. ṭilasm, pl. ṭalāsim), im metaphorischen Sinne eines Siegels oder einer Inschrift, der den Schatz davor bewahrt, geöffnet zu werden, ohne dass der Weg dahin zurückgelegt beziehungsweise die Aufgabe gelöst wurde, um den Schatz zu heben.315 Prinzipiell gilt, schreibt er an anderer Stelle, dass die Strahlen des von Gott ausgehenden Lichts in der Welt „allesamt verborgene und versiegelte (muṭalsama) Schätze sind. Denn die spezielle Norm gilt für das Ganze; die Formen sind Talismane für die Bedeutungen. Jede Person, die einen Schatz in sich trägt, wird durch ihn vor der Unachtsamkeit bewahrt und davor, sich mit dem Greifbaren zufrieden zu geben. […] Wer sein Selbst anstrengt, es fordert 310
IH, S. 198–9. TW, S. 60. 312 Ebenda, S. 68. 313 Ebenda. 314 Ebenda. 315 Ebenda; SHIF, S. 23. 311
312
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
und zügelt, bis es stirbt, dessen Seele lebt auf und dessen Schatz tritt zutage und dessen Geheimnis erscheint.“316
Ibn ʿAǧība nennt insbesondere drei Talismane, die das Herz des Menschen versiegeln: 1. Der Talisman der Einheit der Wirkungskräfte (ṭalsam tawḥīd al-afʿāl), 2. Der Talisman der Einheit der Eigenschaften (ṭalsam tawḥīd aṣ-ṣifāt) und 3. Der Talisman der Einheit des Wesens (ṭalsam tawḥīd aḏ-ḏāt). Die folgenden drei Unterkapitel behandeln jeweils einen der Talismane.317 Das Wort „Talisman“, erneut ein poetischer Begriff, wie für Ibn ʿAǧība typisch, entstammt der Sufiliteratur beispielsweise des Ibn ʿArabī und des Abū l-Mawāhib aš-Šāḏilī (gest. 908/1502).318 5.3.2.1 Die menschlichen Handlungen und der freie Wille Der erste Talisman liegt laut Ibn Aǧība auf der Einheit der Wirkungskräfte (ṭalsam tawḥīd al-afʿāl) beziehungsweise der Wahlfreiheit oder einfacher; auf den menschlichen Handlungen. Dass der vernunftbegabte Mensch von seiner Fähigkeit eine Wahl zu treffen überzeugt ist, ist Grundlage für die Diskussion, wie er schreibt. Der Mensch kann zwischen verschiedenen Bewegungen und Regungen unterscheiden und ist aufgrund dessen davon überzeugt: „Wenn er will, handelt er oder lässt es.“319 Diese Annahme fußt auf den grundlegenden Normen des Sufitums wie der Umkehr, Reue, Gottesehrfurcht, Aufrichtigkeit, Dankbarkeit, Askese, Liebe und Gottvertrauen. Nur wenn der Mensch beispielsweise zwischen Vertrauen und Angst entscheiden beziehungsweise unterscheiden kann oder zwischen Reue und dem Beharren auf der Richtigkeit einer falschen Handlung, kommt den Grundwerten der Religion überhaupt Wert zu. Wie im Kapitel zu den Grundlagen des Sufitums (3.1.1) diskutiert, basieren diese Grundlagen wiederum auf den allgemeinen Themen des Korans und der Sunna, die den Rahmen des Richtigen und Falschen in der Theologie abstecken. Die Lehre von der göttlichen Bestimmung (al-qadar) geht von einem absoluten Wissen Gottes aus, was die göttliche Bestimmung auf die Entscheidungen des Menschen ausweitet. An dieser Stelle würde im Fach Kalam die Debatte beginnen, inwieweit die menschliche Verantwortlichkeit und die göttliche Vorherbestimmung zusammenpassen. Die Antwort Ibn ʿAǧības darauf ist in Ansätzen schon behandelt worden, es müssen lediglich die Themen in den richtigen Zusammenhang gestellt und aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden: Die Verantwortung für die eigenen Handlungen und die Bestimmung Gottes 316
STIA, S. 260. Vgl. TW, S. 68–90. 318 Vgl. STIA, S. 259; TW, S. 88; Ibn ʿArabī, Al-futūḥāt al-Makkiyya, Bd. 5, (Kapitel 352), S. 343; Abū l-Mawāhib aš-Šāḏilī, Qawānīn ḥikam al-išrāq, Hg. Muḥammad Šaḥāta Ibrāhīm, Kairo: Al-Maktaba al-Azhariyya li-t-Turāṯ, 1999, S. 57. 319 TW, S. 70. 317
5.3 Das Meer der Einheit
313
sind keine gegenläufigen Prinzipien. Beide Aussagen beziehen sich auf verschiedene Ebenen, die Ebenen der Weisheit (ḥikma) und der Allmacht (qudra). Das mag für den Intellekt keine letztlich befriedigende Antwort darstellen. Eine wirkliche Antwort auf den scheinbaren Widerspruch lässt sich nach Ibn ʿAǧība nur auf dem Weg der Erkenntnis finden, wenn das Herz in den Mittelpunkt gestellt wird – wenn die Ebenen miteinander verbunden werden. Der Talisman, der über den Handlungen des Menschen liegt, besteht aus der Wahrnehmung der Weisheit (ḥikma).320 „Das ist es, was bei den Sunniten kasb [etwa: Erwerb einer Handlung] genannt wird und Weisheit (ḥikma) bei den Sufis. Dort [bei den Sufis] heißt es: ‚Die Allmacht lässt es erscheinen und die Weisheit bedeckt es.‘ Aufgrund dessen kamen die Scharias [šarāʾiʿ: Pl. von Scharia; der Propheten] und auf Basis dieser wird die Abrechnung stattfinden; Belohnung und Strafe. Tatsächlich existiert kein Handelnder außer Gott. Das ist jedoch eins der Geheimnisse der Herrschaft, das Gott vor Seinem Diener verborgen hat.“321
An anderer Stelle erklärt Ibn ʿAǧība dies auf folgende Weise: Die beiden Meere der Weisheit und Allmacht sind komplementär. Die Allmacht verfügt über die Weisheit, indem sie die Bewegungen erzeugt, denen die Weisheit unterliegt. Die Weisheit verfügt jedoch über die Allmacht durch Gebot und Verbot. Wenn nun beide hinsichtlich einer Sache oder Handlung übereinstimmen, nennt es sich Gehorsam und wenn sie nicht übereinstimmen, entsteht Rebellion oder Sünde. Dem kann entgegnet werden, fährt er fort, dass die Wirklichkeit, wenn sie ohne Scharia ausgelebt wird, in Rebellion und Sünde endet, da Falsch und Richtig nicht beachtet werden. Es fragt sich, wo dann der erwähnte Zusammenhang beziehungsweise die Komplementarität ist oder ob es dann nicht eher ein Verhältnis von Autorität ist. Tatsächlich aber, antwortet er, geschieht die Bezeichnung, dass etwas Sünde oder Rebellion ist, von Seiten der Scharia – wäre also die Scharia nicht, würde es nicht Rebellion genannt.322 Die Diskussion zum Thema der Freiheit des Menschen und wie und ob der Wille Gottes und des Menschen beide existieren können, ist weit verzweigt und dreht sich maßgeblich um den Punkt, wie Inneres und Äußeres sich zueinander verhalten.323 Die Antwort Ibn ʿAǧības basiert auf der Lehre von der Erkenntnis, die die Vereinigung der Gegensätze im Herzen des Menschen bezweckt; in dieser Erkenntnis liegt gewissermaßen wahre Freiheit. Das bedeutet: Auf dem Weg des Dieners zu seinem Herrn existiert Freiheit durch Läuterung. Dafür kann sich der Mensch entscheiden und das wird „die erworbene Freiheit“ (alḥurriyya al-kasbiyya) genannt, die „der Grund für die geschenkte Freiheit ist“324, wie Ibn ʿAǧība es im Eintrag zur Freiheit in seinem Lexikon zu den sufischen 320
Vgl. TW, S. 70.
321 Ebenda. 322
FI, S. 342–3. Vgl. FI, S. 340–5. 324 MT, S. 15. 323
314
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Fachbegriffen nennt. Allgemein jedoch „ist der Diener auf der Ebene der Wirklichkeit gezwungen, aber in einer Form der Willensfreiheit. Wer den Blick auf die Macht im Innern richtet, nennt es Wirklichkeit und wer den Blick auf die Form der Willensfreiheit richtet, nennt es Scharia.“325 Die Willensfreiheit verortet Ibn ʿAǧība demnach auf der Ebene der Weisheit. Auf der Ebene der Anschauung der göttlichen Manifestationen wirkt die Allmacht, die andere Gesetzmäßigkeiten innehat. Ibn ʿAǧība nennt dazu die folgenden Ayas: „Und dein Herr erschafft, was Er will und erwählt. Nicht haben sie eine Wahl. Preis Gott! Und Er ist erhaben über das, was sie neben Ihn stellen“ (K 28:68). Und: „Wahrlich, dein Herr tut, was Er will“ (K 11:107). Und: „Und wenn dein Herr gewollt hätte, hätte Er errichtet für die Menschen eine Gemeinschaft, eine einzige. Aber sie lassen nicht ab, uneins zu sein, außer diejenigen, derer dein Herr sich erbarmt“ (K 11:118–9). Und: „Wenn Gott wollte, dann hätten sie einander nicht bekämpft. Doch Gott tut, was Er will“ (K 2:253). Wenn auch der Mensch auf der Ebene der Weisheit beauftragt ist, schreibt er, kann aufgrund der Omnipotenz Gottes letzten Endes nur ein Handelnder bestehen. Der Mensch ist aufgefordert und besitzt eine Wahl im Äußeren, dem Meer der Weisheit, sodass sich später herausstellt, was richtig und was falsch gewesen ist. Nach den koranischen Worten: „Sag: ‚Gott hat den überzeugenden Beweisgrund. Hätte Er es gewollt, so hätte Er euch alle rechtgeleitet‘“ (K 6:149).326 Die Erkenntnis führt schließlich dazu, dass der Mensch mit verschiedenen Augenpaaren zu sehen in der Lage ist. Er schaut dann die Scharia, die Weisheit und wählt das richtige und er schaut die Wirklichkeit, die Allmacht, und nähert sich Gott an.327 Um das genauer ins Auge zu fassen, hilft die Allegorie vom Schatz und dem darüber liegenden Talisman. Der Talisman der Entscheidung „wird fest oder durchlässig, nach dem Maße der Durchlässigkeit und Feste des Schleiers“328, der den Diener von der Erkenntnis abhält. Erstarkt der Schleier durch die Liebe zum Diesseits, sucht der Mensch sein Glück in „Planung und Wahl, bis er etwa glaubt, dass er tatsächlich der Handelnde und Wählende ist.“329 Wird der Talisman andererseits durchlässig, erklärt Ibn ʿAǧība, nehmen die Planung und Sehnsucht danach die Kontrolle zu übernehmen, ab.330 Das lässt die Seele erstarken und sie beginnt sich des göttlichen Ursprungs zu erinnern. Die Gotteserkenntnis verändert alles. Versteht das Herz schließlich, fährt er fort, und lässt allen Dingen das richtige Maß zukommen, verbindet zwischen Innerem und Äußerem, sehnt sich nicht nach Planung und Kontrolle, hat die 325
FI, S. 240. TW, S. 70; vgl. IH, S. 26–8; vgl. BM, Bd. 2, S. 332–3. 327 Vgl. FI, S. 340. 328 TW, S. 70. 329 Ebenda, S. 70–2. 330 Ebenda; IH, S. 27. 326
5.3 Das Meer der Einheit
315
falsche Wahlfreiheit des Diesseits aufgegeben und schaut die göttlichen Manifestationen, dann „bricht der Talisman der Einheit der Handlungen. Er [der Diener] sieht dann, dass die Handlungen, dass sie allesamt von Gott sind, durch Erfahrung, Inspiration und nicht lediglich auf dem Wege des intellektuellen Wissens.“331 Wessen Schleier jedoch eine solche Feinheit nicht aufweist, der schreibt die Ursache der Geschehnisse immer jemandem zu, sich selbst oder jemand anderem, beispielsweise „wird er wütend aufgrund einer Beleidigung, obwohl er doch überzeugt ist, dass niemand anders handelt, außer Gott.“332 Die Herzenserfahrung des Glaubens durch die Erkenntnis lässt die Unstimmigkeiten zwischen den Ebenen verschwinden. Der Prophet sagte: „Handelt! Einem jeden wird leichtgemacht, wofür er erschaffen.“333 Die Aufforderung, zu handeln, argumentiert Ibn ʿAǧība, verweist auf die Ebene der Scharia und dass die Dinge für den Menschen leicht erreichbar sind, verweist auf die Ebene der Wirklichkeit. Er paraphrasiert das Hadith auf folgende Weise: „Wenn er, Gott schenke ihm Frieden, sagt: ‚Handelt!‘ bedeutet das: Orientiert euch auf der äußeren Ebene an der Tat, während ihr auf der Ebene der Wirklichkeit nicht die Handelnden seid.“334 „Der Diener pendelt zwischen Wirklichkeit und Scharia. Die Wirklichkeit ist Glaube im Innern während die Scharia Tat im Äußeren ist.“335 Ibn ʿAǧība nennt zur Veranschaulichung zwei Koranverse. Die Leugner argumentieren im Koran: „Hätte Gott es gewollt, so hätten weder wir, noch unsere Väter neben Gott Anderes gestellt“ (K 6:148). Die Götzendiener argumentieren an anderer Stelle: „Hätte der Barmherzige gewollt, hätten wir ihnen nicht gedient“ (K 43:20). Diese Aussagen ergeben Sinn, schreibt er, wenn die Allmacht als alleinig wirkende Kraft angesehen wird, was nur der Fall sein kann, wenn jeglicher äußerer Einfluss auf den Menschen geleugnet wird.336 Wird der innere Glaube, die innere Ebene als uneingeschränkter Maßstab verwendet, bedeutetet dies das absolute Gegenteil der Willensfreiheit. Wird die äußere Ebene von Richtig und Falsch nicht mit einbezogen, wird das Innere des Menschen, seine Intentionen und Regungen, nicht durch die Weisheit korrigiert und der Mensch kann das göttliche Licht in der Vielheit der Welt nicht erkennen.337 Ähnliches gilt für das Gegenteil, wenn nur die Weisheit, also das Äußere als Maßstab aller Dinge angenommen wird, wie im Kapitel zu Kalam und Sufitum (3.2.1) diskutiert. Es entsteht dann eine verkürzte Wahrnehmung, die letztlich zu einem korrumpierten Verstehen von Glaube führt. 331
TW, S. 72.
332 Ebenda. 333
Überliefert in dieser Variante bei Ṭabarānī, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 1, S. 132. TW, S. 74; vgl. IH, S. 29–30. 335 TW, S. 72. 336 Ebenda, S. 76. 337 Vgl. BM, Bd. 7, S. 10–1. 334
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Die innere Ebene unterliegt im Gegensatz zur äußeren nicht der Beauftragung des Menschen (taklīf ), fährt Ibn ʿAǧība fort. Sie unterliegt der Herrschaft Gottes, wie es im Aya zum Ausdruck kommt: „Er wird nicht gefragt danach, was Er tut. Doch sie werden befragt“ (K 21:23). Er erklärt: Die innere Ebene liegt nicht ursächlich im Einflussbereich des Dieners, vielmehr ist sie der Raum der göttlichen Herrschaft.338 In der išāra zu der koranischen Aussage „Hätte Gott es gewollt, so hätten weder wir, noch unsere Väter neben Gott Anderes gestellt“ (K 6:148), erläutert er, dass dies auf die meisten rechtschaffenen Muslime zutreffe, da sie ihr inneres Auge für die Scharia öffnen, aber nicht ausreichend für die Wirklichkeit.339 Die Trennung der Ebenen und der damit einhergehende Talisman der Willensfreiheit erfüllen einen bestimmen Zweck. Dieser besteht in der Aufgabe des Menschen, zur Erkenntnis zu gelangen: „Bestünden die göttlichen Geheimnisse enthüllt und ohne Mantel, wären die Geschöpfe allesamt reich [an Erkenntnis], da sie das Wissen erhalten, indem sie in das Meer der Einheit eintauchen.“340 Denn ohne den Schleier des Herzens gäbe es keine Notwendigkeit, die Reise zu Erlangung des wirklichen Wissens anzutreten. Ebenso wären, schließt er an, alle Menschen Wissende und Gelehrte, lägen die Geheimnisse des prophetischen Wissens entschleiert vor, da „das göttliche Wissen, das in ihnen verborgen liegt, erschiene, wodurch sie nicht mehr vom Wissen der Propheten abhängig wären.“341 Und wüssten die Menschen schließlich, ob sie elendig oder glückselig sind, entfielen die Normen: „Denn der Elendige spräche: ‚Mein Handeln nützt mir nichts, wozu also handeln?‘ Und der Glückselige spräche: ‚Ich bin glückselig, ich bedarf der Handlung nicht.‘“342 Den Menschen sind diese Dinge jedoch unbekannt; Gott hat sie vor Seinen Dienern verborgen. Alle sind eingeladen zum Gehorsam, der in der Vereinigung und der Erkenntnis Seiner Einheit liegt, sodass sich herausstelle, wer wahrlich vernünftig ist und wer es vernachlässigt hinter den äußeren Schein zu schauen. In den Weisheiten as-Sakandarīs heißt es: „Der Nachlässige, wenn er aufmerksam wird, schaut darauf, was er tut. Der Vernünftige schaut darauf, was Gott mit ihm tut.“343 Ibn ʿAǧība geht zum Schluss des ersten Talismans auf ein Hadith, eine Überlieferung, ein. In diesem Hadith wird erzählt, dass die Propheten Adam und Moses diskutierten. Moses sagt zu Adam: „Du bist der Grund, warum wir verloren gegangen sind und aus dem Paradies entfernt wurden.“ Adam antwortet: „O Moses, willst du mir vorwerfen, was Gott mir bestimmt hat, bevor ich er338
TW, S. 76. BM, Bd. 2, S. 333. 340 TW, S. 76. 341 Ebenda. 342 Ebenda. 343 IH, S. 272; vgl. TW, S. 74–8. 339
5.3 Das Meer der Einheit
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schaffen wurde?“ Diese Debatte, schreibt Ibn ʿAǧība, habe Adam gewonnen.344 Er fügt hinzu, dass diese Argumente in der Zwischenwelt (barzaḫ) ausgetauscht werden, also nach ihrem Tod. Deshalb könne nicht auf diese Weise im Leben auf der Welt argumentiert werden, denn die Welt sei der Ort der Beauftragung (taklīf ) und die Zwischenwelt beziehungsweise das Jenseits sei der Ort der Mitteilung und des Wissens (dār at-taʿrīf ). Dort gilt das Argument, das Schicksal sei bestimmt. Im Diesseits jedoch kommt dem Menschen eine Willensfreiheit im Äußeren zu, die es ihm möglich macht zu unterscheiden.345 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧība – aus der Perspektive des Menschen – dem Menschen eine Willensfreiheit zuschreibt, dieser jedoch einen bestimmten Rahmen gibt, den er mit der Weisheit (ḥikma) begrenzt. Zudem betont er auf verschiedene Weise, dass wirkliche Freiheit nur in der Erkenntnis liegt – in der Schau des göttlichen Lichts. Alle anderen gefühlten Freiheiten sind wahrscheinlich Schleier oder der Talisman der Wahl. 5.3.2.2 Göttliche und menschliche Eigenschaften (taʿalluq und taḫalluq) Der zweite Talisman, der den Menschen von der Erkenntnis abhält, ist der Talisman der Eigenschaften (ṭalsam tawḥīd aṣ-ṣifāt).346 Während der erste Talisman der Handlungen mit der Willensfreiheit direkt in Verbindung gebracht werden kann, da Handlungen zumeist eine konkrete Auswirkung auf die Außenwelt haben und somit eher flüchtiger und dynamischer Natur sind, sind die Eigenschaften des Menschen von innerer Natur und damit subtiler. Das bedeutet, dass die Handlungen des Menschen äußerlich leichter zu greifen sind und dadurch der Spekulation des Intellekts in größerem Ausmaß unterliegen, als die menschlichen Eigenschaften. Die wesentlichen menschlichen Eigenschaften wie etwa Kraft, Wille und Leben sind aus dieser Perspektive träge und ihr Rahmen damit auch weiter – ihre Existenz ist mit der Wahrnehmung und dem Sein des Menschen selbst verknüpft; aus dieser Perspektive sind die menschlichen Eigenschaften subtiler als die Taten. Ibn ʿAǧība beginnt mit den Worten: „Gott formte die menschliche Gestalt nach einem göttlichen Muster, sodass seine Eigenschaften den Eigenschaften des Barmherzigen gleichen. Er gab ihm Kraft, Wille, Wissen, Leben, Hören, Sehen und Rede, was im Hadith ausgedrückt wird: ‚Wahrlich, Gott erschuf Adam nach Seinem Bilde.‘“347
Die Eigenschaften des Menschen sind kontingent und mangelhaft, im Unterschied zu den Eigenschaften Gottes, die ewig und vollkommen sind. Allerdings 344 TW, S. 78; das Hadith in Kanz: Aḥmad, Muslim, Buḫārī, Abū Dawūd, Tirmiḏī, Ibn Māǧa, Nr. 548. 345 TW, S. 78. 346 Vgl. ebenda, S. 80. 347 Ebenda, S. 80; auf das Hadith aus Perspektive der Hadithwissenschaft wurde bereits an früherer Stelle eingegangen.
318
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
liegen die göttlichen Eigenschaften „im Menschen verborgen, wie die Früchte potenziell im Zweige enthalten sind oder wie die Butter in der Milch.“348 In anderen Worten, „sind die göttlichen, ewigen Eigenschaften in den kontingenten Eigenschaften des Menschen verborgen.“349 Die Relevanz der Eigenschaften entsteht, wenn der Mensch sich auf dem Wege der Erkenntnis der Einheit der Handlungen (tawḥīd al-afʿāl) bewusst geworden und durch Herzenserfahrung schaut, dass alle Handlungen ihren Ursprung nur in dem Einen haben. Dann steigt seine Sehnsucht beziehungsweise sein Streben den Schatz zu heben an und er widmet sich anschließend dem nächst Höheren, den Eigenschaften.350 Wenn die göttlichen Eigenschaften verborgen bleiben, da der Talisman der menschlichen Eigenschaften durch den Schleier des Egos besteht, ist der Mensch „überzeugt, dass er Kraft besitzt, die seine ist, er etwas will aufgrund seines Willens, dass er lebendig ist durch sein Leben, hört durch sein Gehör, sieht durch sein Sehvermögen und spricht durch seine Fähigkeit zu sprechen. In Wirklichkeit aber bestehen [diese] seine Eigenschaften durch die Eigenschaften Gottes und sind Strahlen ihrer Strahlen [der göttlichen Eigenschaften], die eigentlich keine Auswirkung haben.“351
Gewissermaßen hört der Mensch nur, weil Gott ihm diese Fähigkeit verleiht, was durch die Eigenschaften ausgedrückt wird. Wenn nun dieser „eingebildete Talisman“352 ebenfalls durch das Voranschreiten auf dem Weg des Dieners zu seinem Herrn bricht wie zuvor der Talisman der Handlungen und die Einheit der Eigenschaften dem Diener entschleiert wird, wird ihm eröffnet, dass er „keine Kraft besitzt, keinen Willen, kein Wissen und kein Leben, außer durch Seine Kraft und Seinen Willen.“353 Ibn ʿAǧība führt als Beispiel für die verborgene Potenz des Menschen an, dass Größe und Form hinsichtlich der Prinzipien eigentlich keine Rolle spielen. Eine Mücke etwa besitze abgesehen von der Größe viele Gemeinsamkeiten mit dem Elefanten und zusätzlich Flügel. Ebenso „enthält der Mensch alles, was im Sein (wuǧūd) vorhanden ist und besitzt zusätzlich Verstand und Erkenntnis [Erkenntnisvermögen].“354 Die menschlichen Eigenschaften, die die göttlichen Eigenschaften bedecken, stellen in diesem Sinne wie der Talisman der Handlungen eine Aufgabe dar, auf dass der Mensch sich von den Unreinheiten läutere, die mit dem Lauf des Schicksals entstehen, wie der Einfluss des Egos, teuflische Einflüsterungen und weltliche Begierden.355 Nur liegt der Talisman der Eigenschaften tiefer, da er von essentieller Bedeutung für den Menschen ist. 348 Ebenda. 349 Ebenda. 350
Vgl. IH, S. 92. TW, S. 82. 352 Ebenda. 353 TW, S. 82; vgl. auch STB, S. 27–9. 354 STB, S. 28. 355 Vgl. IH, S. 114. 351
5.3 Das Meer der Einheit
319
Bricht der Talisman der Eigenschaften, tritt ein, wie es im Hadith qudsī heißt: „Wenn Ich [Gott] ihn [den Diener] liebe, dann bin Ich sein Hören, mit dem er hört und sein Sehen mit dem er sieht.“356 An dieser Stelle endet Ibn ʿAǧības Darstellung dieses Talismans bereits, sie ist sehr kurz gehalten. Das Thema taucht allerdings oft in seinem Werk auf und wird auf verschiedene Weise erläutert. Es beschreibt den allgemeinen Anspruch, dass der Mensch sich einerseits an den vollkommenen Eigenschaften Gottes orientieren und andererseits die Natur seiner Dienerschaft bewahren soll. In den Weisheiten as-Sakandarīs lautet es dazu: „Verbinde dich mit den Eigenschaften der Herrlichkeit und verwirkliche die Eigenschaften deiner Dienerschaft.“357 Das lösen dieses Talismans entspricht gewissermaßen der metaphorischen Reise des Menschen zu Gott. Die Verbindung, die der Mensch zu den vollkommenen Eigenschaften auf dem Weg der Erkenntnis herstellen soll (taʿalluq), liegt in der Durchführung (taḥaqquq) der inneren Normen, wie es im Kapitel über die Stufen und Stationen (5.1) beschrieben wurde, die zur Folge haben, dass das Herz auf den Einen, auf Gott, ausgerichtet wird.358 Die Orientierung an den göttlichen Eigenschaften führt schließlich dazu, dass das Innere sich entsprechend formt (taḫalluq). „Das Formen des Inneren ist Anstrengung und die Verwirklichung [der Stufen] ist Anschauung.“359 Das kann auch hinsichtlich der schönen Namen Gottes ausgedrückt werden, die wiederum Beschreibungen für die Eigenschaften darstellen, an all denen sich der Mensch orientieren kann. Der Diener stellt zunächst eine Verbindung zu dem Namen her, indem er dessen Bedeutung zu begreifen sucht (taʿalluq). Weiterhin strengt er sich an, die Bedeutung des Namens in die Tat umzusetzen (taḫalluq). Und schließlich verwirklicht er die Bedeutung des Namens in seinem Herzen durch die Erfahrung (taḥaqquq), die ihm daraus erwächst.360 So beschreibt Ibn ʿAǧība beispielsweise für den Namen „der Lebendige“ (al-Ḥayy), die Bedeutung des Namens, mit der sich der Mensch zunächst verbinden könne, sei, dass er seine Seele mit der Nahrung des Wissens, der Erkenntnis und der Liebe belebe (taʿalluq). Diese Bedeutung tatsächlich umzusetzen heiße, das eigene Leben und das der anderen nicht mehr als eigentliches Leben wahrzunehmen, sondern nur noch als das von Gott gegebene Leben (taḫalluq). Die Verwirklichung dessen schließlich sei, dass der Mensch sich vollends in die Hände Gottes begebe und ihm die Schau des wirklichen Lebens, der Lebendigkeit Gottes zur Gewissheit gereife (taḥaqquq).361 356
TW, S. 82. IH, S. 295. 358 Vgl. ebenda, S. 295. 359 Ebenda; vgl. TW, S. 82. 360 Vgl. TF, S. 120. 361 Ebenda, S. 165. 357
320
5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Zusammenfassend findet die Verwirklichung der göttlichen Eigenschaften im Innern statt, so wie die Verwirklichung der Eigenschaften der Dienerschaft im Äußeren stattfindet. Freiheit im Innern bedeutet dahingehend die Anschauung der herrlichen Eigenschaften, während im Äußeren die Anschauung der Dienerschaft und Weisheit Zweck ist.362 Die Trennung der Ebenen beschreibt den Talisman der Eigenschaften, der das göttliche Geheimnis davor bewahrt, entdeckt zu werden, bevor der Weg nicht mit ganzem Herzen zurückgelegt wurde. In diesem Sinne können auch die Hadithe (qudsī) verstanden werden, die Ibn ʿAǧība an einer Stelle anführt: „Gott, der Gesegnete und Erhabene, spricht: ‚Die Herrlichkeit ist Mein Mantel und die Majestät Meine Hülle. Wer mit Mir um eine der beiden streitet, den zerbreche Ich.‘“363 Und der Prophet sagte: „Niemand ist eifersüchtiger als Gott. Er verbietet die Übeltaten, die offensichtlichen und die verborgenen.“364 Die Ebenen zu verwechseln, schreibt er, bedeutet Anmaßung; der Mensch ist seiner Natur nach Diener und ist gefragt, beide Meere, das der Weisheit und der Allmacht, zu versöhnen. Kommt dem Menschen im Äußeren nach Ibn ʿAǧība ein gewisses, eher geringes Maß an Freiheit zu, liegt in der Gotteserkenntnis die große Freiheit.365 5.3.2.3 Der Talisman der göttlichen Essenz Der Talisman der göttlichen Essenz (ṭalsam tawḥīd aḏ-ḏāt) deutet auf die Kenntnis der Manifestationen des göttlichen Wesens. Weil Gott erkannt werden will, offenbart Er sich in der Welt durch die Manifestationen auf verschiedene Weise. „Er lässt sie unter dem Erfordernis Seines Namens ‚der Äußere‘ erscheinen und verbirgt sie hernach und bedeckt sie unter dem Erfordernis Seines Namens ‚der Innere.‘“366 Nach diesem Muster liegen die göttlichen Geheimnisse im Menschen selbst verborgen: Die Dienerschaft, die dem Menschen durch seine Bedürftigkeit zu eigen ist, bedeckt das noble Innere. Aus der Perspektive der Wirklichkeit (ḥaqīqa) ist das Innere und das Äußere der menschlichen Form zunächst eins und nur durch mangelnde Erkenntnis getrennt. Im Zustand der Trennung von der Erkenntnis, erscheinen dem Menschen die Manifestationen als kontingente, äußere Erscheinungen. Auf der Ebene der Wirklichkeit jedoch, die durch Läuterung geschaut werden kann, existiert nichts anderes als der Schöpfer, der die Manifestationen auf immer wieder neue und verschiedene Weise hervortreten lässt.367 362
Vgl. ebenda, S. 237; IH, S. 295–6. Das Hadith in Kanz in Varianten: Aḥmad, Abū Dawūd, Ibn Māǧa, Nr. 7740 sowie Kanz: Al-Ḥākim, Nr. 7741. 364 Das Hadith in Kanz: Aḥmad, Muslim, Buḫārī, Tirmiḏī, Nr. 7064. 365 IH, S. 297–8; MT, S. 15. 366 TW, S. 84. 367 Vgl. ebenda; erneut sei bei Fragen über das Verhältnis von Wesen und Eigenschaften bei den Sufis auf den Artikel hingewiesen Chittick, „The Five Divine Presences from al-Qūnawī to al-Qayṣarī“, S. 107–28; vgl. ebenfalls al-Ǧāmī und Heer, The Precious Pearl. Al-Jāmī’s al-Durrah 363
5.3 Das Meer der Einheit
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Das Herz, wenn es gereinigt wird, umfasst den gesamten Kosmos durch die Anschauung, während der Kosmos in den Augen des Gottesfreundes schrumpft, schreibt Ibn ʿAǧība. Das Herz dessen jedoch, der sich auf dem Weg befindet, schaut mit beschränkter Sicht, da seine Wahrnehmung den äußeren Schein zu sehr fokussiert und das rechte Gleichgewicht der Ebenen noch ausbleibt.368 Trifft der Diener einen Meister, erwähnt er zu Beginn des Teils über den Talisman der göttlichen Essenz, einen Gotteskenner (ʿārif bi-Llāh), wird ihm in dessen Präsenz das rechte Gleichgewicht bewusst beziehungsweise er schaut mit seinem inneren Auge die Vereinigung der Ebenen in der Person des Meisters. Der Meister ist als Wegführer das Zeichen selbst, eine išāra. Das ist laut Ibn ʿAǧība das mächtigste Mittel, um das Ego zu überwinden. Das Ego des Dieners „bleibt fort durch die Schau seines Geliebten [des Meisters].“369 Allgemein gilt, dass das Ego abwesend ist, wenn sich der Diener in der Anschauung der Manifestation befindet, woher diese auch stammt ( fanāʾ ). Durch die Schau der Manifestationen entwird der Diener vom Kosmos und schaut dessen Schöpfer. Das ist die Vereinigung und sie bedeutet, dass der Talisman des Selbst des Menschen bricht: Der Talisman des göttlichen Wesens oder der Essenz ist das „illusionierte Bestehen des Dieners und das Beharren auf den menschlichen Eigenschaften.“370 Gelingt es dem Reisenden, auch diesen Talisman zu lösen, betritt er die Stufe des iḥsān, schaut die Wirklichkeit und erlangt die höchste Glückseligkeit. Die Erkenntnisse, die der Diener dort erlangt, sind für den Verstand nicht zugänglich und können nur durch Metapher und Gleichnis – išāra – dargestellt werden.371 Insbesondere für den Talisman der göttlichen Essenz gilt der Satz: „Gäbe es diesen Talisman nicht, das Geheimnis [oder das Innerste] würde offenkundig und es würde erworben von jemandem, dem es nicht gebührt.“372 Vielmehr muss es verdient werden, betont er, weil auf den inneren Wirklichkeiten der Schutz des Greifbaren und der Gewaltigkeit liegt. Das ist der Vorhang, der im Hadith erwähnt wird: „Es liegt zwischen den Menschen und dass sie ihren Herrn schauen nur der Vorhang der Herrlichkeit vor Seinem Antlitz im Paradiese Eden.“373 Wird der Talisman der göttlichen Essenz gelöst, verschleiert den Diener nichts mehr. Er schaut seinen Herrn zu jeder Zeit in allen Dingen. Er schaut, wie Ibn ʿAǧība auch schreibt „die Essenz des Barmherzigen.“374 Der Mensch hebt den Schatz der Gotteserkenntnis. Demgemäß weist Ibn ʿAǧība den drei al-Fākhirah. With a Commentary of ʿAbd al-Ghafūr al-Lārī. Translated with an Introduction by Nicholas L. Heer, S. 43–57 und den Kommentar des al-Lārī dazu auf den Seiten 127–43. 368 SBMS, S. 304–5. 369 TW, S. 84. 370 Ebenda, S. 86. 371 Vgl. TW, S. 86; MT, S. 72–3. 372 TW, S. 88. 373 Ebenda; das Hadith in Kanz: Buḫārī, Muslim, Tirmiḏī, Ibn Māǧa, Nr. 39228. 374 TW, S. 88.
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Talismanen im Sinnbild drei Schätze zu. Der erste Schatz ist die Weisheit, die das Greifbare in der Welt darstellt, dessen Talisman die menschlichen Handlungen sind. Der zweite Schatz, der die Essenz bewahrt, liegt in der Allmacht, wo die unendlichen Bedeutungen verborgen sind, in der Welt der Seelen. Der letzte Schatz schließlich ist das „subtile, überfließende Meer“375, von wo die Lichter der Herrlichkeit abstrahlen. Dort findet sich die Manifestation des „behüteten Schatzes, des verborgenen Innersten.“376 Auf der höchsten Stufe der Erkenntnis erlangt der Mensch wirkliche Freiheit. Er hat den Weg der Läuterung begangen und alle verborgenen Götzen zerschlagen. Das führt dazu, dass nach und nach die Talismane der Schätze vollständig brechen und die Schau seines Herzens sich erweitert. Wann immer es sich weitet, erlangt er einen Blick auf die göttlichen Lichter, was seine Liebe zunehmen lässt, und er trinkt von der ewigen Essenz. Auf diese Weise reist er weiter durch die Stationen bis er von sich selbst entwird und schließlich durch die vollkommene Vereinigung der Ebenen von Außen und Innen, Scharia und Wirklichkeit, seinen Platz bei Gott einnimmt, dort verbleibt (baqāʾ) und nun Gotteskenner genannt wird. Seine Augen schauen beide Welten gleichermaßen ohne die vorherigen Einschränkungen der Trennung – er ist frei. Das kommt im Hadith zum Ausdruck, als der Prophet gefragt wird, warum er so viel bete, obwohl doch Gott im Koran zu ihm sagt: „Wahrlich, gesiegt haben Wir für dich einen Sieg, einen offenkundigen, auf dass dir vergebe Gott deine frühere und spätere Sünde […]“ (K 48:1–2)? Da antwortete er: „Soll ich denn kein dankbarer Diener sein?!“377 Denn in der Gotteserkenntnis liegt wahre Glückseligkeit: „Die Anbetung [Gottesdienst] erfolgt dann aus Dankbarkeit und nicht aus Zwang“378, schließt Ibn ʿAǧība den Gedanken.379 An dieser Stelle kann gefragt werden, wie sich die Anschauung Gottes in dieser Welt und im Jenseits unterscheidet. Im Koran spricht Moses: „Mein Herr, zeige Dich mir, dass ich Dich schaue!“ (K 7:143). Und im Koran heißt es weiterhin über den Tag der Auferstehung: „An jenem Tage gibt es Gesichter, strahlende, auf ihren Herrn schauende“ (K 75:22–3). Was ist der Unterschied? Eine Antwort darauf gibt die Weisheit as-Sakandarīs: „Er gebietet dir im Diesseits die Schau auf Seine Erschaffungen zu richten. Und Er wird dir im Jenseits die Vollkommenheit Seines Wesens entschleiern.“380 Wie in den vorigen Kapiteln erörtert, bedarf der Mensch in dieser Welt der erschaffenen Dinge, um das Ewige darin zu erblicken. Das bedeutet anders ausgedrückt: Das Greifbare der Welt überwiegt die Bedeutungen beziehungsweise das Äußere überwiegt das Innere. Da 375
Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 90. 377 Vgl. MT, S. 15; das Hadith in Kanz: Abū Dawūd, Nr. 18581. 378 MT, S. 15. 379 Vgl. ebenda, S. 15; TW, S. 90; BM, Bd. 7, S. 135–7. 380 IH, S. 276. 376
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
323
jedoch, kommentiert Ibn ʿAǧība die Weisheit des as-Sakandarī, das Jenseits von gegenteiliger Natur ist, überwiegen dort die Bedeutungen und die Allmacht liegt offenkundig vor den Augen, sodass die Wirklichkeit der göttlichen Essenz greifbarer ist, als im Diesseits. Er zitiert dazu weiterhin Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī, der es in einer Litanei (ḥizb) auf folgende Weise ausdrückt: „Die Ehre des Diesseits liegt im Glauben und der Erkenntnis. Die Ehre des Jenseits in der Begegnung und der Anschauung.“381 Anders ausgedrückt existieren zwei verschiedene Arten von Manifestation der Essenz, schreibt Ibn ʿAǧība: Im Diesseits wird sich der Erkenntnis von weltlicher, dunkler Seite her genähert, weil das Äußere der Manifestation dunkel und das Innere licht ist, das Äußere Weisheit und das Innere Allmacht, das Äußere greifbar und das Innere Bedeutung. Im Jenseits aber verhält es sich so, dass die Mittel zur Wahrnehmung subtiler und lichter Natur sind. Das Äußere der Manifestation ist Licht und ihr Inneres ist ebenfalls Licht, ihr Äußeres ist Allmacht und ihr Inneres Weisheit, ihr Äußeres ist Bedeutung und ihr Inneres greifbar.382
5.4. Das Gottesgedenken (ḏikr) und das Gebet für den Propheten Das Gottesgedenken (ḏikr Allāh) oder einfach Gedenken (ḏikr) sowie das Gebet für den Propheten Muḥammad nehmen im Werk Ibn ʿAǧības eine bedeutsame Stelle ein. Eine beträchtliche Anzahl der Werke vor und nach seiner vollständigen Hinwendung zum Sufitum behandeln Gebete oder Lobgedichte, die in der Praxis der Sufis im Sinne des Gedenkens als Vermehrung (nawāfil; sing. nāfila) der allgemeinen gottesdienstlichen Handlungen praktiziert, gelesen, rezitiert oder auch nur überliefert werden. Fünf Werke behandeln Gebete oder Lobgedichte; wissenschaftliche Werke, die Koran, Hadith oder dergleichen behandeln sind etwa 12; Gedichtkommentare sind 13. Die Grenzen verlaufen fließend, da manche Gedichtkommentare eigentlich Lehrstücke darstellen, manch Kommentar zu einem Gebet eine theoretische Abhandlung ist und der Kommentar zu den Weisheiten as-Sakandarīs in mehrere oder keine der eben genannten Kategorien passt.383 Der Grund für die Konzentration auf die Gebete ist zum einen wie gesagt die hohe Stellung des Gedenkens in der Praxis der Sufis. Die verschiedenen Gebete, das Gottesgedenken, die Bittgebete oder Litaneien (ḥizb/taṣliya, ḏikr, duʿāʾ oder wird) können regelmäßig oder anlassgebunden zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten gelesen werden.384 Zum anderen bezieht sich das Gebet zumeist 381
Ebenda, S. 277.
382 Ebenda. 383
Vgl. Michon, Le Soufi, S. 90–1. Vgl. etwa Meftah, „L’initiation dans la Shâdhiliyya-Darqâwiyya“, in Une voie soufie dans le monde: la Shâdhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 237–48. 384
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
auf Gott und/oder den Propheten, was die Möglichkeit bietet, die grundlegende Verflechtung der göttlichen und der prophetischen Sphäre darzulegen. Zwischen diesen beiden, dem Gotteslob und dem Prophetenlob in Gebeten, wird in den folgenden Kapiteln um der Verständlichkeit willen unterschieden, obwohl die Gebete eine solche Trennung zumeist nicht aufweisen, vielmehr die Vereinigung dieser Ebenen betonen, worauf im dritten Unterkapitel zum Rang des Propheten Muḥammad (5.4.3) eingegangen wird. Dem Gottesgedenken (ḏikr) hat Ibn ʿAǧība keine eigene Abhandlung oder Schrift gewidmet, er greift es jedoch an vielen Stellen seines Werkes auf, es ist gewissermaßen allgemein und umfassend vorhanden. Das Gebet für den Propheten (aṣ-ṣalāh ʿalā an-Nabī) oder das Prophetenlob ist andererseits von herausragender Bedeutung in der Tradition der Šāḏiliyya. Ibn ʿAǧības Abhandlungen dazu stehen in einer langen Tradition des Kommentierens und Erklärens von Gebeten für den Propheten.385 Der Grund dafür ist die vollkommene Mittlerposition, die der Prophet als Gesandter von Gott einnimmt. Er ist der Gesandte Gottes, gleichzeitig der höchste Gotteskenner und das lebendige Vorbild und eignet sich damit auf beste Weise, um die Theologie der Sufis zusammenzufassen. Er ist der Auserwählte (al-Muṣṭafā), der vollkommene Mensch (al-insān al-kāmil). Und diejenigen, die den Weg bis zur Erkenntnis (maʿrifa) gegangen sind, nennt Ibn ʿAǧība an einer Stelle in seiner Koranexegese (tafsīr) daran angelehnt die, die „vollkommen sind in ihrer Menschlichkeit“ (al-kāmilīn fī l-insāniyya), da ihr Gottesdienst wahrhaftig ist auf allen Ebenen.386 5.4.1 Das Gottesgedenken (ḏikr Allāh) Theologisch, aus Perspektive des Sufitums, geht das Gedenken (ḏikr) der Meditation des Herzens ( fikr) voraus. Es wird allgemein hinsichtlich der Praxis der Sufis mit dem äußeren Gottesdienst assoziiert, den der Reisende auf dem Weg zur Erkenntnis verrichtet, um auf der äußeren Ebene seinen Anteil zu erfüllen. Das Gedenken soll während man auf dem Weg voranschreitet zum Herzen wandern und weiter zur Seele, wo es zur Meditation ( fikr) wird.387 Das Gedenken impliziert also zwei Aspekte, einen praktischen, der wiederum auf einen höheren verweist. Zunächst zur Stellung des Gedenkens allgemein in der Lehre Ibn ʿAǧības. Im Koran nimmt das Gedenken eine bedeutende Stellung ein, beispielsweise: 385 Vgl. zum Gottesgedenken Ibn ʿAṭāʾ Allah as-Sakandarī, Miftāḥ al-falāḥ wa miṣbāḥ alarwāḥ, Hg. Muḥammad Ibrāhīm, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2005; für einen Kommentar zu einem Gebet des Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī vgl. beispielsweise Dāwud Ibn Māḫillā, Al-laṭīfa almarḍiyya, bi-šarḥ duʿā aš-Šāḏiliyya, Hg. Muḥammad Naṣṣār, Kairo: Dār al-Karz, 2011; zum Gebet für den Propheten vgl. Muḥammad aṭ-Ṭayyib Ibn Kīrān, Šarḥ aṣ-ṣalāh al-Mašīšiyya, Hg. Bassām Bārūd, Abu Dhabi: Al-Maǧmaʿ aṯ-Ṯaqāfī, 1999. 386 BM, Bd. 1, S. 55. 387 Vgl. BM, Bd. 1, S. 418.
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
325
„So gedenkt Meiner, auf dass Ich auch eurer gedenke“ (K 2:152). Ibn ʿAǧība kommentiert dieses Aya mit dem Hadith: „Wer Gott gehorcht, der gedenkt Ihm, selbst wenn er wenig betet, fastet und den Koran rezitiert. Und wer gegen Gott rebelliert, der vergisst Gott, selbst wenn er viel betet, fastet und den Koran rezitiert.“388 Wobei die Bedeutung dieses Ayas umfassend sei und auch auf die Wegnahme des Schleiers des Herzens bezogen werden könne. Er paraphrasiert das Aya auf folgende Weise: „Gedenkt Meiner im Herzen, so gedenke Ich eurer, indem Ich die Schleier hinwegnehme.“389 In diesem Sinne sei das Gedenken ein grundlegendes Prinzip, nach dem Hadith qudsī: „Ich bin, wie Mein Diener mich vermutet. Er möge glauben über Mich, was er will. Ich bin mit ihm, wenn er Meiner gedenkt. Wer Meiner eingedenk ist, dem bin Ich eingedenk. Und wer Meiner in einer Gruppe gedenkt, dem gedenke Ich in einer besseren Gruppe, als der seinen […].“390 Im Koran heißt es weiterhin: „O ihr, die ihr glaubt, gedenkt Gottes in vielem Gedenken“ (K 33:41). Laut al-Qušayrī ist das ein Hinweis (išāra) auf die Liebe, wie Ibn ʿAǧība schreibt, nach dem Hadith: „Wer etwas liebt, der erwähnt es (oder: gedenkt dem) oft.“391 Auf diese Weise ist das Gottesgedenken beziehungsweise das Erinnern ein „Zeichen der Liebe Gottes.“392 Das Gedenken kann so gesehen auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Auf der ersten Stufe, so schreibt er zum Gedenken in seinem Lexikon zu den Fachbegriffen der Sufis, die allen Menschen unmittelbar zugänglich ist, gedenkt der Diener mit seiner Zunge. Begibt er sich auf den Weg der Erkenntnis, wird er fähig, Gott auch mit dem Herzen zu gedenken, wenn die guten Eigenschaften sich ausbreiten. Auf der höchsten Stufe gedenkt er Gottes mit seiner Seele, was Anschauung und damit das Schauen der göttlichen Manifestationen bedeutet.393 Prinzipiell gilt für Ibn ʿAǧība: „Das Gedenken ist ein wichtiger Pfeiler auf dem Weg der Sufis“ und „die vorzüglichste aller Handlungen, mit der der Murīd die Stufen durchquert und die nächstliegende ist das Gottesgedenken.“394 Damit deutet er vor allem auf die praktische Ebene. Das Gedenken ist zunächst ein freiwilliger Teil des äußerlichen Gottesdienstes. Im Koran lautet es: „Wenn ihr habt verrichtet das Gebet, dann gedenket Gottes im Stehen, Sitzen und im Liegen auf den Seiten“ (K 4:103). Dieses Aya besitzt verschiedene Bedeutungen. Zunächst verweist es laut Ibn ʿAǧība darauf, dass das Gedenken mit dem rituellen Gebet (ṣalāh) nicht beendet ist: Während die Gebete auf der Ebene der Obligation ( farḍ) zu bestimmten Zeiten stattfinden, ist das Gedenken ungebunden und 388
Kanz: U. a. Ṭabarānī und Ibn ʿAsākir, Nr. 1924. BM, Bd. 1, S. 150. 390 Ebenda; das Hadith in Kanz: Aḥmad, Muslim, Buḫārī, Tirmiḏī, Ibn Māǧa, Nr. 1135. 391 Überliefert von Abū Nuʿaym, vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 198. 392 BM, Bd. 6, S. 38. 393 MT, S. 22. 394 IH, S. 135. 389
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
zu jeder Zeit empfohlen.395 Diese Interpretation ist durchaus im unmittelbar praktischen Sinne zu verstehen. Ibn ʿAǧība überliefert zum praktischen Aspekt einen Bericht über den Imam ʿAlī, der über eine Begebenheit berichtet, als er einmal bei dem Propheten Muḥammad saß: „Ich fragte: ‚O Gesandter Gottes, was ist der kürzeste Weg zu Gott und der leichteste und der vorzüglichste für die Gottesdiener?‘ Der Prophet antwortete: ‚Dass du andauernd Gott gedenkst.‘ ʿAlī erwiderte: ‚Alle Menschen gedenken Gott.‘ Da sagte er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden: ‚O ʿAlī, es wird die Stunde nicht anbrechen, bis niemand mehr auf Erden verbleibt, der ‚Allāh’ spricht.‘ Da fragte ʿAlī: ‚Wie soll ich gedenken, o Gesandter Gottes?‘ Er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden, antwortete: ‚Schließe deine Augen und höre drei Mal von mir, dann sprich es mir nach und ich höre.‘ Dann sagte er, Gott segne ihn und schenke ihm Frieden: ‚Es gibt keine Gottheit außer Gott [lā ilāha illa Llāh].‘ Drei Mal mit geschlossenen Augen. Daraufhin wiederholte es ʿAlī ebenfalls.“396 Im Koran lautet es zudem: „Gedenke des Namens deines Herrn und widme dich Ihm mit Tiefe“ (K 73:8). Ibn ʿAǧība kommentiert, zu gedenken bedeute ein andauerndes Gedenken, durch bestimmte Formen von Gebeten, Koranrezitation und eben Gedenken in der Praxis der Sufis, zum Beispiel durch das Wiederholen der schönen Namen oder des tahlīl (lā ilāha illa Llāh; Es gibt keine Gottheit außer Gott).397 Aus diesen und anderen Ayas und Hadithen leiten die Sufis allgemein das Gedenken (ḏikr) oder hier genauer das Gottesgedenken (ḏikr Allāh) ab und haben es über die Jahrhunderte tradiert. Ǧalāl ad-dīn as-Suyūṭī beispielsweise diskutiert die Praxis des stillen und auch lauten ḏikr ausführlich anhand der vielen Hadithe dazu, auch die Praxis des Gedenken mit tahlīl, wie es oben im Hadith zwischen ʿAlī ibn Abī Ṭālib und dem Propheten Muḥammad erwähnt wird.398 Die Übertragung dieses Wissens nennt sich die „Unterweisung des Gedenkens“ (talqīn aḏ-ḏikr) und beschreibt den Vorgang, wenn der Scheich seinen Aspiranten eine bestimmte Form des Gedenkens lehrt. Von ʿAlī Ibn Abī Ṭālib wanderte das Gedenken laut Ibn ʿAǧība so die Überliefererkette entlang an al-Ḥasan al-Baṣrī und gelangt schließlich bei al-Ǧunayd al-Baġdādī an, von wo aus sich die verschiedenen Zweige entwickelten.399 Einer davon ist die Tradition Ibn ʿAǧības, wie im Kapitel über die Šāḏiliyya (2.3) dargestellt. 395
IH, S. 135. Ebenda, S. 136; für dieses konkrete Hadith konnte ich keinen Beleg finden. Hadithe mit ähnlichem Inhalt, die das Gesagte inhaltlich untermauern, finden sich bei as-Suyūṭī in seiner berühmten Abhandlung zum Thema ḏikr, vgl. in Al-ḥāwī li-l-fatāwā, Bd. 1, S. 387–94. 397 BM, Bd. 8, S. 177–9. 398 As-Suyūṭī, Al-ḥāwī li-l-fatāwā, Bd. 1, S. 387–94; vgl. ʿAbd al-Ḥayy al-Kattānī, „Risāla fī mašrūʿiyyat aḏ-ḏikr bi r-raqṣ wa iǧmāʿ aṭ-ṭuruq aṣ-Ṣūfiyya ʿalā ḏālik“, in Nuǧūm al-muhtadīn, S. 153–61; vgl. auch Koran 8:2, 13:28, 16:43, 29:45, 33:21, 73:8. 399 IH, S. 136. 396
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
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Das Gedenken bedeutet für die Praxis zunächst die Vermehrung der Gebete durch zusätzliche Ausübung von empfohlenen Ritualen (nawāfil), neben dem schlichten Gottesgedenken aber auch konkret die Wiederholung von bestimmten Bittgebeten und Gebeten oder Litaneien (wird, pl. awrād oder ḥizb; pl. aḥzāb). Da diese Praxis den direkten Kontakt zu dem Meister, dem Scheich voraussetzt, unterscheiden sich die Sufis diesbezüglich je nach Tradition des Meisters und dessen Auslegung. Ibn ʿAǧība macht in seinen öffentlich zugänglichen Werken zwar technische Angaben zu Texten, Phrasen und Gebeten, die er für verschiedene Anlässe empfiehlt, führt diese aber nicht aus.400 Er schreibt etwa an einer Stelle, dass ein Murīd der Šāḏiliyya Gottes mit tahlīl gedenken könne oder mit dem Namen Gottes ‚Allāh‘ (al-ism al-mufrad) oder mit dem Gebet für den Propheten (aṣ-ṣalāh ʿalā an-Nabī). Die Sufis befänden sich allerdings im Konsens darüber, dass Gott mit dem Namen ‚Allāh‘ gedacht werde. Welches Gottesgedenken für den Einzelnen zu wählen sei, hänge jedoch von der Verfassung des Menschen ab.401 Das Gedenken mit der Zunge beziehungsweise die Gebete, die gelesen oder rezitiert werden, wie auch die Koranrezitation, sind der äußerlich überlieferte Teil der Lehre. Der Zweck des Gedenkens ist, das Herz zu beruhigen, sodass es zur Anschauung der göttlichen Manifestationen bereit wird. Ibn ʿAǧība zitiert Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī, der sagte: „In Wirklichkeit ist Gedenken das, durch dessen Bedeutung das Herz beruhigt wird. Wenn der Herr sich in den Wirklichkeiten der Wolke der Lichter Seines Himmels manifestiert.“402 Wie es im Koran lautet: „Die, die glauben und deren Herzen im Gedenken Gottes ruhen – ja, im Gedenken Gottes ruhen die Herzen“ (K 13:28).403 Das führt zum Gedenken als theologisches Prinzip der Sufis. Das Gedenken (ḏikr) ist auf der Ebene des Sufitums das äußere Gegenstück zur Meditation ( fikr) im Innern. Da die beiden Ebenen von Außen und Innen einander bedingen, „ist das Gedenken Gottes im Äußeren ein Zeichen für die Liebe Gottes im Innern. Denn wer etwas liebt, der erwähnt es öfter. Die Liebe geschieht nun nicht, außer durch Erfahrung und Erkenntnis. Ergo wird im Äußeren nichts erwähnt, wenn es im Innern nicht auch geschaut wird, welcher Art die Schau auch ist, selbst wenn die Schau nicht wahrgenommen wird.“404
Auf die Meditation des Herzens wurde bereits in den Kapiteln zur išāra (4.3), zur Konzentration (murāqaba) (5.1.3.1) und zur Anschauung (mušāhada) (5.1.3.2) eingegangen. Zusammenfassend schreibt Ibn ʿAǧība dazu: „Wer nicht meditiert, der reist nicht und wer nicht reist, der kommt nicht an. Unser Meister al-Būzīdī 400
Vgl. etwa das LQ: Fahrasa, S. 83; TF, S. 319–20. TF, S. 319–20. 402 BM, Bd. 3, S. 349. 403 Vgl. ebenda. 404 IH, S. 533. 401
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
pflegte zu sagen: ‚Ein Sufi [wört. faqīr] ohne Meditation ist wie ein Schneider ohne Nadel.‘“405 Da nun die Meditation letztlich zum Vergehen des Egos führt, stellt sie ein wesentliches Mittel für den Reisenden dar. Meditation und Einsicht ( fikra und naẓra) stellen gewissermaßen höhere Ebenen des Gedenkens dar. „Aus diesem Grund heißt es, dass eine Stunde Meditation besser sei, als 70 Jahre Gottesdienst.“406 Das beschreibt eine weitere Bedeutung des Ayas (K 4:103) über das Gedenken nach dem Gebet (ṣalāh). Zuerst wird ein äußerliches Gebet verrichtet, schreibt Ibn ʿAǧība, dieses soll aber auf das Herz übergehen. Denn über das Gebet heißt es an anderer Stelle im Koran: „[…] die in ihren Gebeten andauernden“ (K 70:23). Das Gebet (ṣalāh) ist in diesem Sinne nicht auf das rituelle Gebet begrenzt, sondern beschreibt vielmehr eine Bewegung. Mit anderen Worten, die die Bewegung soll vom körperlichen Gebet zum „Herzensgebet“407, hin zum „Gebet der Anschauung“ führen, welches das im Koran erwähnte andauernde Gebet darstellt (vgl. K 70:23).408 5.4.2 Das Gebet für den Propheten Muḥammad Das Gebet für den Propheten Muḥammad (aṣ-ṣalāh ʿalā an-Nabī) ist von herausragender Bedeutung in der Lehre Ibn ʿAǧības und in der Theologie insbesondere der späten Phase.409 Für das Gebet für den Propheten gilt die gleiche Ordnung wie für das Gottesgedenken. Einerseits umfasst es eine bestimmte, äußere Form des Gebets, was sich in der regelmäßigen Praxis des Lesens der traditionellen Gebete der Šāḏiliyya spiegelt410 und andererseits verweist die Bezugnahme auf den Propheten auf ein höheres Prinzip – in diesem Fall das göttliche Prinzip, das mit der Sendung des Propheten einhergeht. Dieses steht im vorliegenden Kapitel im Vordergrund, wobei Praxis und Theorie hier nicht gänzlich zu trennen sind. Allgemein wird angeführt: Es war Gottes Wille, Propheten zu den Menschen zu senden und der Prophet Muḥammad ist das von Ihm auserwählte Vorbild, nach dem Aya: „Wahrlich, ihr habt an dem Gesandten Gottes ein Vorbild, ein schönes“ (K 33:21). Und das Gebet für ihn ist von besonderem Verdienst, etwa nach dem Hadith: 405
MT, S. 50. S. 138; vgl. BM, Bd. 8, S. 206; zum Beleg für dieses Hadith vgl. az-Zabīdī, Itḥāf assādat al-muttaqīn bi-šarḥ iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Bd. 13, S. 305. 407 BM, Bd. 2, S. 99. 408 Ebenda; vgl. auch BM, Bd. 8, S. 149. 409 Vgl. dazu Muḥammad aš-Šarqāwī, Sifr aš-šaǧara az-zakiyya min ḏaḫīrat al-muḥtāǧ fī ṣ-ṣalāh ʿalā ṣāḥib al-liwāʾ wa t-tāǧ, Hg. ʿAbd al-Maǧīd al-Būkārī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2012; Muḥammad al-Ašbīhī, Faḍl aṣ-ṣalāh ʿalā an-nabī al-muḫtār wa maḥāsin as-sādat al-aḫyār, Hg. Aḥmad al-Mizaydī, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007; Yūsuf an-Nabahānī, Šawāhid al-ḥaqq fī l-istiġāṯa bi-sayyid al-ḫalq, Beirut: Dār al-Fikr, 1990. 410 Der Scheich vermittelt dem Murīden das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten in einer bestimmten Form, vgl. TF, S. 320. 406 IH,
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
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„Wer für mich einmal betet, für den betet Gott zehn Mal. [Und:] Wer für mich zehn Mal betet, für den betet Gott hundert Mal. Wer für mich hundert Mal betet, für den betet Gott tausend Mal. Und wer es darüber hinaus aus glühender Liebe und Sehnsucht vermehrt, dem bin ich Fürsprecher und Zeuge am Tage der Auferstehung.“411
Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten stellen Mittel dar, um den Weg der Erkenntnis zur göttlichen Präsenz zu beschreiten. Die Einheit dieser beiden Themen rührt von nichts Geringerem als vom Glaubensbekenntnis (šahāda): „Es gibt keine Gottheit außer Gott und Muḥammad ist der Gesandte Gottes.“ Der erste Teil verweist auf die Einheit Gottes und dass alles im Herzen neben Gott eine Einbildung, ein verborgener Götze sein muss, wie im Kapitel zum Religionsbegriff (2.2) dargelegt. Der zweite Teil verweist auf die Orientierung des Herzens und auf das schöne Vorbild. Ibn ʿAǧība vergleicht die Suche nach Orientierung mit dem Kapitän eines Schiffes auf dem Meer. Das Meer ist das göttliche Meer der Einheit (tawḥīd), in dem der Mensch verloren gehen kann. Wer sich nun auf den eigenen Verstand verlässt, der sucht Rettung vor den Stürmen auf einem Berg, der untergeht, wenn das Wasser steigt. Wer sich aber die muḥammadanische Sunna zum Führer nimmt, der wird errettet.412 In dieser Aussage zeigt sich erneut die Ausrichtung Ibn ʿAǧības auf das Sufitum, das er hier dem Kalam als überlegen betrachtet, da der Kalam nicht auf den Glauben im Herzen abzielt, sondern auf den Verstand. Dem Propheten wahrhaftig zu folgen bedeutet, ihm nicht nur theoretisch zu folgen sondern vielmehr das Herz und den Verstand auf ihn, auf die muḥammadanische Sunna auszurichten. Die Bezugnahme auf den Gesandten Gottes stellt die konkrete Anbindung an die guten Charaktereigenschaften dar, die das Mittel für das Begehen des Weges der Erkenntnis sind, besser gesagt, die den Weg selbst darstellen. Die Ausrichtung auf den Propheten (siehe auch das Kapitel zur Aufrichtigkeit, istiqāma 5.1.1.3), die Praxis der Sunna, stellt nichts anderes dar, als das vollkommene Benehmen, nach der Aussage der Prophetenfrau ʿĀʾiša: „Sein Charakter war der Koran.“413 Und im Hadith heißt es: „Eignet euch die Sitten des Barmherzigen an!“414 Die Beziehung ist also gegenseitig.415 Überhaupt ist der Prophet und sein Wesen in diesem Sinne untrennbar mit dem Koran verbunden; das zeigt sich in vielen Ayas, beispielsweise: „Und wer gehorcht Gott und dem Gesandten ist mit 411 LQ,
S. 92; das Hadith in dieser Form bei Ṭabarānī. Es existieren viele verschiedene Hadithe dazu mit Zusätzen oder Auslassungen, alle jedoch mit dem gemeinsamen Nenner des Gebets für den Propheten, Kanz: Nasāʾī, Nr. 2159. Aḥmad, Muslim, Nr. 2162. Aḥmad, Buḫārī (in Al-adab), Nasāʾī, al-Ḥākim, Nr. 2163. Al-Bayhaqī, Nr. 2206. 412 SSIM, S. 169–70. 413 Kanz: Aḥmad, Muslim, Abū Dawūd, Nr. 18378. 414 Vgl. zu diesem Hadith as-Suyūṭī, Taʾyīd al-ḥaqīqa al-ʿaliyya, S. 105–6. Dort und anderweitig lautet es, sich die „Eigenschaften Gottes“ (aḫlāq Allāh) anzueignen; vgl. auch Kanz: AlḪaṭīb und Ibn an-Naǧār, Nr. 43643. 415 Vgl. IH, S. 234.
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
denen, die Gott begnadet, den Propheten, den Wahrhaftigen, den Zeugen und den Rechtschaffenen. Welch gute Gefährten!“ (K 4:69).416 Die Ayas, die sich auf das Verhältnis Gottes zu Seinem Propheten beziehen, sind zahlreich, vgl. zum Beispiel Koran 4:80, 4:59, 8:20, 24:54. Wird dabei von der historischen Begebenheit Abstand genommen und die Essenz der Aussagen vor dem Hintergrund der Ethik und der Beschäftigung mit dem Herzen ins Auge gefasst, erscheint ein klares Bild. Deutlich tritt es in den folgenden Ayas hervor: „Wer dem Gesandten gehorcht, der gehorcht Gott“ (K 4:80) und „Wahrlich, die dir huldigen, huldigen Gott“ (K 48:10) und „Sag: ‚Wenn ihr liebt Gott, dann folgt mir, damit euch liebt Gott und euch vergibt eure Vergehen‘“ (K 3:31). Ibn ʿAǧība leitet aus diesen Aussagen zum einen den Rang des Propheten ab – dazu mehr im folgenden Kapitel – und zum anderen, auf welche Weise es möglich sei, ihm – der Sunna – zu folgen auf dass die göttliche Liebe eintreffe.417 Denn die Sunna stellt einen Grundpfeiler des Sufitums dar beziehungsweise „das Gehen des Weges des Gesandten [ist] ein Eckpfeiler des Weges und Voraussetzung für den Aufgang der Lichter der Wirklichkeit.“418 Die Sunna kann auf verschiedene Weise gelebt werden, führt er an anderer Stelle aus. Äußerlich durch die Einhaltung der Normen, der sunan (Pl. von Sunna, also die einzelnen Taten nach der Sunna), im Sinne der Vermehrung der Gebete und der Orientierung am Lebensweg des Gesandten. Und innerlich mit der Annäherung an den Propheten, was durch die Läuterung des Selbst geschieht, durch den Weg der ursprünglichen Religion, wodurch sich der Diener das prophetische Benehmen aneignet. Der Gehorsam, wie in den obigen Ayas zu sehen, im Sinne der Einhaltung der göttlichen Ordnung, kann äußerlich oder innerlich sein. Dementsprechend ist die äußerliche Orientierung an der Sunna ein wichtiges Mittel. Die wirkliche Sunna bedeutet hingegen, das Herz auf den Gesandten Gottes auszurichten.419 Wie aber kann das Innere auf das Richtige, die Sunna konkret ausgerichtet werden, wie kann darauf hingearbeitet werden? Die äußeren Taten und die Aneignung der prophetischen Charaktereigenschaften sind wichtige Mittel. Ein besonderes Mittel besteht nun im Gebet für den Propheten. Ibn ʿAǧības Standpunkt lautet zusammengefasst, dass das Prophetengebet ein Mittel darstellt, der kosmischen Ordnung Rechnung zu tragen, die in der Entsendung der Propheten für die Menschen liegt. Es war der göttliche Wille, Propheten zu den Menschen zu senden, nach dem Aya: „Als Gott einging den Bund mit den Propheten: ‚Wenn Ich euch die Schrift gebe und die Weisheit […]‘“ (K 3:81; siehe auch Koran 5:12, 5:70).420 In diesem Sinne verkörpert die Religion eine Einladung 416
Vgl. BM, Bd. 2, S. 68–70. BM, Bd. 2, S. 78. 418 BM, Bd. 1, S. 309. 419 Vgl. BM, Bd. 2, S. 70. 420 Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 208; BM, Bd. 1, S. 340–3. 417
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
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zum Göttlichen, die auf Barmherzigkeit aufbaut. Denn alle Propheten wurden aus Barmherzigkeit geschickt und der Prophet Muḥammad ist „die Essenz der Barmherzigkeit“, wie Abū l-ʿAbbās al-Mursī es ausdrückt, da es im Koran heißt: „Und Wir entsandten dich nur als Barmherzigkeit für die Welten“ (K 21:107).421 Ergo bedeutet für den Propheten zu beten, Gott für Seine Barmherzigkeit zu loben. Das Prinzip des Gottesdienstes (ʿibāda) allgemein ist, sich Gott durch ein Mittel annähern zu wollen. Unmittelbare Annäherung käme einem Wunder gleich beziehungsweise dem reinen göttlichen Willen, der unmittelbar in der Welt wirkt. Der Diener benötigt grundsätzlich immer Mittel, um sich seinem Herrn anzunähern, wie es der Natur des Menschen als Diener entspricht. Die Mittel sind üblicherweise das Gebet, das Fasten sowie alle gottesdienstlichen Handlungen und das Unterlassen dessen, was dem Gehorsam widerspricht. Das kommt beispielsweise im Aya zum Ausdruck: „O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Gott und strebt nach Seinem Mittel und bemüht euch auf Seinem Wege“ (K 5:35).422 „Sein Mittel“ ist dahingehend alles Tun, das im Bestreben nach Gott verrichtet wird. Und das höchste und vorzüglichste Mittel ist nun laut Ibn ʿAǧība keine Tat oder Eigenschaft, sondern der Prophet selbst. Das Gebet für den Propheten entspricht insbesondere in diesem Sinne der Gott gewollten Ordnung der Sendung der Propheten. Das Lob des Gesandten Gottes ist demnach ein besonderes Mittel (wāsiṭa), um die Nähe Gottes zu erreichen und nicht einfach ein Werkzeug, sondern in gewisser Hinsicht die „Tür“, wie er es auch nennt, durch die der Diener tritt, um in die Präsenz des Herrn zu gelangen.423 Anders ausgedrückt erscheinen die guten Eigenschaften als Ziel des Weges im Propheten Muḥammad, resultierend aus seiner Gottesnähe. Das Vorbild des Propheten ist greifbar und es kann sich Gott nicht nur angenähert werden, indem die Sunna, seine Taten, Aussagen und Zustände als Vorbild und Mittel dienen, sondern auch, indem der Prophet selbst beziehungsweise sein Rang bei Gott zum Mittel wird. Der Mensch bittet Gott bei dem höchsten Mittel um Verbindung und Nähe. Auf seinen Rang deutet beispielsweise, schreibt Ibn ʿAǧība, dass das Aya: „Und Er lehrte Adam die Namen aller Geschöpfe“ (K 2:34) den hohen Rang des Propheten Adam beschreibt, da sich die Engel vor ihm niederwerfen müssen. Das Aya 33:56 über das Gebet für den Propheten Muḥammad: „Wahrlich, Gott und die Engel sprechen den Segen über den Propheten. O ihr, die ihr glaubt, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn in Ergebenheit!“, schließt jedoch Gott mit ein; Gott nennt sich mit den Engeln, was unmöglich sei im Falle der Niederwerfung (vgl. K 2:34).424 421
BM, Bd. 4, S. 397. Vgl. BM, Bd. 2, S. 181. 423 BM, Bd. 6, S. 53. 424 SSIM, S. 155; BM, Bd. 6, S. 54. 422
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
Im Gebet für den Propheten liegt in dieser Bitte um Nähe eine besondere Form der inneren Ausrichtung; es entsteht eine seelische Verbundenheit, wozu im Koran eben durch das Aya 33:56 aufgerufen wird. Durch das Gebet für ihn „prägt sich sein edles Bild auf das Selbst“425 des Betenden, denn durch die Erinnerung und Schau der Schönheit der prophetischen Vollkommenheit, in der sich die göttliche Vollkommenheit spiegelt, entsteht eine Bindung, die bis zur glühenden Liebe anwachsen kann. „Die Seelen sind zusammenhaltende Krieger, wer von ihnen sich kennenlernt, der verbündet sich und wer von ihnen sich ablehnt, der trennt sich“426, zitiert Ibn ʿAǧība das Hadith dazu. Damit verweist er auf die Dynamik, der das Innere des Menschen unterworfen ist. Erkennt das Herz die Schönheit in jemandem oder einer Sache, wird es davon angezogen: Die Schönheit wird von Natur aus geliebt.427 Und wie im folgenden Kapitel noch Thema sein wird, ist die Schönheit des prophetischen Lichtes eine besondere. Dass das Gebet für den Propheten einen besonderen Stellenwert in der Theologie einnimmt, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es seinen festen Platz im täglichen Ritualgebet (ṣalāh) hat, im „Abrahamitischen Gebet“ (aṣ-ṣalāh alIbrāhīmiyya). Darin wird zunächst für den Propheten Muḥammad und seine Familie und im Anschluss daran für den Propheten Abraham und seine Familie gebetet.428 Die Bedeutung des Gebets erstreckt sich jedoch weit über das Ritual hinaus. Denn das Gebet (ṣalāh) ist, dem arabischen Wortsinne nach, letztlich ein Ausdruck für den Wunsch nach Verbindung und Einheit.429 Das Gebet deutet darauf, dass der Betende Nähe zu dem Erbetenen, Angebeteten sucht und der Lobpreis ein Mittel dafür ist. Die Beziehung Gottes und der Engel zu Seinem Propheten und den Gläubigen durch das Gebet tritt im bereits erwähnten Aya besonders deutlich zutage: „Wahrlich, Gott und die Engel sprechen den Segen über den Propheten. O ihr, die ihr glaubt, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn in Ergebenheit!“ (K 33:56). Was hier mit „den Segen sprechen“ übersetzt wurde, lautet wörtlich ṣallū ʿalayhī und entstammt dem selben Wort, wie das Ritualgebet (ṣalāh). So kann auch übersetzt werden: „Wahrlich, Gott und die Engel beten für den Propheten […]“, in dem Sinne, dass eine Verbindung von Lobpreis und Zuneigung hergestellt wird, weswegen das „Abrahamitische Gebet“ eben diesen Wortlaut trägt: „O Allah, preise (oder bete für) Muḥammad und die Familie Muḥammads […]“.430 Dasselbe Muster findet sich in der Aussage: „Er ist es, der euch segnet, und Seine Engel, damit Er euch herausführt aus den Finsternissen ins Licht“ (K 33:43). „Der euch segnet“ ent425
LQ, S. 94. Ebenda; das Hadith in Kanz: Buḫārī, Muslim, Aḥmad, Abū Dawūd, Nr. 24660. 427 Vgl. BM, Bd. 1, S. 161. 428 Vgl. BM, Bd. 6, S. 52. 429 Vgl. SSIM, S. 149. 430 BM, Bd. 6, S. 52; das Hadith in Kanz: Al-Bayhaqī, Nr. 3991. Ibn ʿAsākir, Nr. 3998. Mālik, Muslim, Abū Dawūd, Tirmiḏī, Nasāʾī, Nr. 4013. 426
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
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springt auf Arabisch ebenfalls der Wurzel ṣallā und kann mit beten übersetzt werden. Das Gebet Gottes unterscheidet sich jedoch selbstverständlich, wie Ibn ʿAǧība anführt, und meint Barmherzigkeit, während das Gebet der Engel Bittgebete (adʿiya; sing. duʿāʾ ) und Gebete um Vergebung (istiġ fār) beinhaltet.431 Ibn ʿAǧība fasst für das Gebet für den Propheten zusammen: „Das Gebet für den Propheten Muḥammad stellt eine Leiter dar und einen Aufstieg hin zur Ankunft bei Gott. Denn die Vermehrung des Gebetes für ihn führt unweigerlich seine Liebe herbei und seine Liebe führt die Liebe Gottes, des Erhabenen, unweigerlich herbei. Und die Liebe Gottes, des Erhabenen, zu Seinem Diener, zieht ihn in Seine Präsenz. Mit oder ohne Mittel. Der Gesandte ist wie ein vertrauter Minister; wer es wünscht in die Anwesenheit der Könige zu gelangen, muss zuerst dem Minister dienen und ihm näherkommen, bis dieser ihn zum König führt. Er ist der gewaltigste Schleier Gottes und Seine vorzüglichste Tür und wer nicht durch seine Tür einzutreten wünscht, der wird verjagt und entfernt.“432
Zusammengefasst steht der Prophet Muḥammad für alles Gute, die schönen Charaktereigenschaften, die Essenz der Barmherzigkeit und Liebe. Indem nun der Gläubige eine Verbindung zum Propheten sucht, für ihn betet, preist er das Gute, die edlen Eigenschaften und schließlich auch die Barmherzigkeit selbst, den Willen Gottes. Gott kann, könnte eingewendet werden, wie es ja üblich ist, auch ohne die Einbeziehung des Propheten gedankt werden; das Gebet für den Propheten sollte jedoch nicht gegen das Gotteslob ausgespielt werden. Das Lob Gottes, wie das Gottesgedenken, bildet ein eigenes Motiv und Thema – es ist das Ziel allen Lobpreises, auch des Prophetenlobes. Jedoch schließt das Prophetenlob das Prophetentum mit ein und damit Seine Barmherzigkeit im Speziellen (vgl. K 21:107) und drückt ein besonderes Benehmen gegenüber Gottes Willen aus. Gott hat gewollt, dass die Menschen sich ein Mittel zur Anbetung nehmen; alle Gebete und alles Fasten (im Ritus der prophetischen Sunna) etwa sind ein Mittel zur Nähe Gottes, zu Seiner Zufriedenheit. Das größte und höchste Mittel liegt jedoch im Propheten Muḥammad selbst, wer ihn nicht würdigt, der missachtet laut Ibn ʿAǧība die göttliche Ordnung. Wer das höchste Mittel, den Auserwählten, den Minister außer Acht lässt, um mit dem Gleichnis Ibn ʿAǧības aus dem Zitat zu sprechen, der wird nicht zum König vorgelassen. 5.4.3 Der Rang des Propheten Muḥammad Das Gebet (ṣalāh) für den Propheten erfolgt durch den Lobpreis (madḥ) seiner Person beziehungsweise seines Ranges. Im Falle des Propheten ist das der höchste Rang, der einem Geschöpf zuteilwird. Der Lobpreis (madḥ) kann auf zwei verschiedene Arten erfolgen, schreibt Ibn ʿAǧība: Erstens durch das Lob seiner Person, seiner äußeren Schönheit und aller Dinge, die seine Vollkommenheit 431 432
BM, Bd. 6, S. 36. Ebenda, Bd. 6, S. 53.
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
innerlich und äußerlich beschreiben, wie sein Charakter und seine Wunder. Das ist das äußerliche Lob. Und zweitens durch das Lob seines Innersten, „seines ursprünglichen Lichtes“.433 An anderer Stelle unterteilt er die Menschen in drei Kategorien: 1. Die Leute, die für ihn beten in der Form, dass sie seinen innerlichen und äußerlichen Charakter verinnerlichen. 2. Die Leute, die für seine „lichtgestaltige Seele“ beten. Und 3. die Leute, die für sein „ursprüngliches Licht“ beten.434 Das Licht des Propheten und dessen Vorrang vor allem anderen behandelt Ibn ʿAǧība an vielen verschiedenen Stellen, vor allem, aber nicht ausschließlich in Schriften, die das Sufitum zum Gegenstand haben und stellt das Motiv dieses Kapitels dar. Insbesondere geht er darauf in den Kommentaren zu zwei Gebeten ein, das eine von ʿAbd as-Salām Ibn Mašīš und das andere von Ibn ʿArabī. In beiden Gebeten wird die Lichtmetapher auf den Propheten angewendet, die bereits im Koran selbst mit dem Propheten verknüpft wird: „O Prophet, gesandt haben Wir dich als einen Zeugen, als Verkünder froher Kunde und als Warner und als Rufer zu Gott mit Seiner Erlaubnis und als eine Leuchte, eine strahlende“ (K 33:45–6).435 Während das Licht, ausgehend von Gott selbst, in Richtung der greifbaren Dinge schwächer wird, ist es gleichzeitig in allen Dingen enthalten und somit das Göttliche und Seine Manifestationen in allem erkennbar (vgl. das Aya über das Licht Gottes 24:35).436 Und das höchste und am hellsten strahlende Licht in der Schöpfung aber ist laut Ibn ʿAǧība das des Propheten.437 Mit Blick auf die seelische Ebene ist im Sinne der išāra der Prophet Muḥammad sowie die Propheten allesamt nicht einfach Menschen, die ausgewählt wurden, um eine spezielle Aufgabe zu erfüllen, sondern darüber hinaus von einer übergeordneten Wesensart, die sich dem Verstand entzieht. Das kommt beispielsweise in der Geschichte von der Nachtreise und Himmelfahrt (al-isrāʾ wa l-miʿrāǧ) zum Ausdruck, wenn der Prophet Muḥammad die Propheten in den Himmeln begrüßt.438 Einen deutlichen Hinweis auf die gänzlich verschiedene Natur des Propheten Muḥammad eröffnet schließlich die Begegnung des Propheten mit Gott selbst während der Nachtreise: „Dann näherte er sich, kam weiter heran, bis auf zwei Bogenlängen oder näher. Da offenbarte Er Seinem Diener, was Er offenbarte. Nicht erlogen hat sein Herz, was er schaute. Wollt ihr mit ihm streiten darüber, was er erblickte? Und er sah Ihn ein weiteres Mal, beim Lotusbaum am äußersten Ende“ (K 53:8–14).
433
STIA, S. 259. FI, S. 20. 435 Vgl. BM, Bd. 6, S. 46; BM, Bd. 2, S. 143. 436 Vgl. BM, Bd. 5, S. 83–5. 437 STIA, S. 260; SSIM, S. 150. 438 Vgl. BM, Bd. 4, S. 76. 434
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
335
Und während Gott mit Seinem Propheten Mose durch einen Busch spricht, kommentiert Ibn ʿAǧība zu diesem Aya, lässt Er Seinen Geliebten zu sich kommen und spricht direkt mit ihm.439 Wie im Kapitel zur göttlichen Essenz (5.3.1) beschrieben wurde, wollte Gott erkannt werden und erschuf die Welt aus Liebe. Im Zuge dieser Beschreibung erwähnt Ibn ʿAǧība oft, dass das erste, was Gott erschuf, das Licht des Propheten Muḥammad war: „Als Gott, der Erhabene, sich manifestierte, um erkannt zu werden, ließ Er eine Handvoll von Seinem Licht erscheinen, zu dem Er sprach: ‚Sei Muḥammad!‘“440 Ibn ʿAǧība nennt dieses Licht des Propheten Muḥammad auch den „großen Adam“ (Ādam al-akbar)441, was sich mit der koranischen Aussage vom Propheten als dem „Ersten der Dienenden“ trifft: „Sag: ‚Hätte der Barmherzige ein Kind, so wäre ich der Erste der Dienenden‘“ (K 43:81). Denn der Prophet war das erste Geschöpf, das überhaupt die Einheit Gottes (tawḥīd) bezeugte, noch bevor der Kosmos ins Leben gerufen wurde.442 Über dem Licht des Propheten liegt jedoch ein Schleier, der bewirkt, dass nur das Herz desjenigen, dessen Spiegel gereinigt, ihn tatsächlich zu sehen vermag. Das prophetische Licht leuchtet so stark, schreibt Ibn ʿAǧība, dass Gott es mit einem Schleier bedeckt, dem „Schleier der Schönheit“, da die Schau des ungeschützten Lichtes zur Erblindung führen würde, weshalb auch „die Sonne der Wolken bedarf.“443 Die Existenz der Schleier zeigt, wie im Kapitel zur Manifestation Gottes (5.3.1) ausgeführt, die Ordnung des Kosmos auf und bildet entweder ein Hindernis oder eine Brücke, je nach dem Grade der Erkenntnis. So fungieren die Formen im Diesseits immer als Siegel für die Bedeutungen, die verborgen hinter einem Schleier liegen.444 Und der Prophet Muḥammad ist das Siegel der Propheten und der größte Talisman, der den Schatz der Gotteserkenntnis bewahrt. Er ist der „Schleier der Schönheit“ und aus seinem Geheimnis treten die Manifestationen nach der Hierarchie hervor, die das Licht von Gott aus über die verschiedenen Manifestationen hinab auf die Erde leiten.445 Die Entschleierung des Herzens ist 439
BM, Bd. 7, S. 245. TW, S. 48; Hadithe zu diesem bei den Sufis verbreiteten Thema gibt es viele. Etwa: „Ich war der erste der Menschen, der geschaffen wurde, jedoch der letzte der entsendet wurde.“ Überliefert von Ibn Saʿd. Variante: „Ich war der erste der Propheten, der geschaffen wurde, jedoch der letzte der entsendet wurde.“ Überliefert bei Abū Nuʿaym, Ibn Abū Ḥātim, Ibn Lāl, ad-Daylamī. Dieses Hadith trifft sich mit der Aussage: „Ich war ein Prophet, als Adam sich noch zwischen Seele und Körper befand.“ Überliefert u. a. bei Aḥmad, Buḫārī (in At-tārīḫ), Abū Nuʿaym, al-Ḥākim, Tirmiḏī. Tirmiḏī hält die Überliefererkette (isnād) für „ḥasan ṣaḥīḥ“. Vgl. al-ʿAǧlūnī, Kašf al-ḫafāʾ, Bd. 2, S. 118. 441 TW, S. 48. 442 Vgl. BM, Bd. 7, S. 40. 443 STIA, S. 260. 444 Vgl. ebenda. 445 Vgl. STIA, S. 260–1. 440
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
dahingehend verbunden mit der Erkenntnis der Wesenheit des prophetischen Lichts. Das Herz wird von dem Licht angezogen, da es in der inneren Welt den „Stoff aller Schönheit“ bildet und „den Ursprung aller Vollkommenheit“.446 Die Anschauung des Göttlichen wird aus diesem Grund dem zuteil, „der ihm folgt und sich seine Charaktereigenschaften aneignet.“447 Die Orientierung an dem „schönen Vorbild“ des Propheten (vgl. K 33:21) bildet die Schnittmenge der verschiedenen Lehren, angefangen mit den Stationen des Weges der Erkenntnis, über die inneren und äußeren Normen, bis zur Lehre von dem Meer der Einheit, in dem der Diener aufgefordert ist, die göttlichen Manifestationen zu erkennen. Wie im Kapitel über den Weg zu Gott (2.2.4) behandelt, kann die Sunna synonym zum Weg zu Gott verwendet werden und ist einer der Pfeiler der Religion. Der Prophet Muḥammad selbst ist nun der Pol, um den sich die gesamte Lehre dreht. Gott sandte die Propheten und zeichnete sie voreinander aus: „Dies die Gesandten. Ausgezeichnet haben Wir sie, die einen vor den anderen. Unter ihnen sind manche, zu denen sprach Gott und einige, die Er im Rang erhob“ (K 2:253).
Aber der Prophet Muḥammad verkörpert das höchste Ideal und ist die „Essenz der Barmherzigkeit“448, nach dem Aya: „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Welten entsandt“ (K 21:107). Die Bezeichnung des Propheten Muḥammad als Barmherzigkeit im Koran deutet Ibn ʿAǧība wie in der Tradition der Gelehrten der Šāḏiliyya üblicherweise in dem Sinne, dass die Propheten alle aus der Barmherzigkeit Gottes heraus gesendet wurden, um die Menschen zur Erkenntnis zu führen, der Prophet Muḥammad jedoch im Speziellen die Essenz der Barmherzigkeit darstelle.449 Das Licht des Propheten als Essenz der Barmherzigkeit ist laut Ibn ʿAǧība derart mit dem Willen und Wunsch Gottes, erkannt zu werden, verwoben, dass „ohne ihn das Sein (wuǧūd) nicht erscheinen und der angebetete Herr nicht erkannt würde. Denn er ist das Mittel oder der Mittler zwischen Gott und Seinen Geschöpfen.“450 Im Koran lautet es auch: „Der Prophet ist den Gläubigen näher, als sie sich selber“ (K 33:6). Das meint zunächst, wie Ibn ʿAǧība erläutert, die Ausrichtung des Gläubigen an der Sunna des Propheten und darüber hinaus, dass jedes Licht und jede Anschauung des Dieners nur durch die Vermittlung des prophetischen Lichtes möglich ist. Im Äußeren deutet das Aya darauf, dass der Diener sich mehr an der Sunna ausrichten soll, als an seinem Ego. Auf der Seelenebene führt das Licht des Propheten den Diener jedoch darüber hinaus zurück zu seinem Herrn.451 446
Ebenda, S. 262. Ebenda, S. 263. 448 BM, Bd. 4, S. 397. 449 Ebenda, Bd. 4, S. 397; BM, Bd. 7, S. 40. 450 STIA, S. 263. 451 BM, Bd. 6, S. 8–9. 447
5.4. Das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten
337
Die Orientierung am schönen Vorbild beziehungsweise am Licht des Propheten schließt den Kreis zum Gebet für ihn. Das Gebet für den Propheten wird in der Absicht gesprochen, an der Liebe und Barmherzigkeit teilzuhaben beziehungsweise in sie aufgenommen zu werden. Das Gebet des Ibn Mašīš beginnt mit den Worten: „O Gott, bete für den, von dem die Geheimnisse ausgehen und von dem aus die Lichter sich aufteilen.“ Das deutet laut Ibn ʿAǧība darauf, dass wer sich mit ihm verbindet, sich dem Ursprung der Lichter und damit letztlich Gott nähert.452 Auf diese Weise verkörpert das Gebet die Bitte nach Orientierung und das Licht des Propheten bildet einen Wegweiser, eine Leuchte in der Dunkelheit auf dem Weg. Während die Betrachtung der offensichtlichen, historischen Person und Gestalt des Propheten im Diesseits und das Lob seiner Vorzüge und Charaktereigenschaften eine Angelegenheit verbleibt, die maßgeblich das Äußere betont, schauen die Sufis darüber hinaus auf den Propheten mit den Augen des Liebenden. Denn als Essenz der Barmherzigkeit ist der Prophet nicht an die historische Person gebunden.453 Es verbleibt der Gottesdienst, wenn er sich nur an der äußeren Hülle des Propheten orientiert, äußerer Gottesdienst. Der Gottesdienst jedoch, der das Herz in den Mittelpunkt stellt, ist, wie Ibn ʿAǧība es auch nennt, der „herzliche Gottesdienst“ (ʿibāda qalbiyya), der von den „Leuten der Liebe“ (ahl al-maḥabba) ausgeübt wird, die ihr Inneres durch Meditation ( fikra) erfüllt haben.454 Die unmittelbare Schau des Gesandten Gottes ist den späteren Muslimen nicht vergönnt, nichtdestotrotz leuchtet das Licht der Prophetie unabhängig von Ort und Zeit. Je näher der Reisende dem Geliebten kommt, desto heller leuchtet das Licht der „strahlenden Lampe“ (K 33:46) des Führers und Ausrichtungspunkt auf dem Weg.455 Die Anbindung an den Propheten durch die Orientierung an seiner Person und seinem Licht führt auf umfassende Weise auf den geraden Weg, sofern es eine Anbindung durch Liebe ist. Die Liebe ist das Ergebnis auf dem Weg, wenn der Reisende beginnt, die Schönheit der göttlichen Manifestationen zu erkennen, die ihn der kosmischen Anlage entsprechend anziehen. Deswegen lautet es im Gebet des Ibn Mašīš: „Nimm mich [O Allāh] auf seinen [des Propheten] Weg in Deine Präsenz!“456
452
SSIM, S. 149–50. Vgl. ebenda, S. 158–9. 454 Ebenda, S. 154. 455 Vgl. FI, S. 20; STB, S. 58. 456 SSIM, S. 165. 453
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5. Teil: Ibn ʿAǧības išārī-Interpretation der religiösen Lehre
5.5 Zusammenfassung Ziel von Teil 5 war, nach der Theorie zum Religionsbegriff in Teil 2, der Diskussion der Grundlagen und Quellen Ibn ʿAǧības Sufitum in Teil 3 und der sufischen Methode zur Vermittlung der religiösen Lehre in Teil 4, nun seine Anwendung der išāra auf grundlegende Motive der Theologie zu beleuchten. Die Frage lautete: Wie gestaltet sich die Ausdeutung der Lehre, wenn die Erkenntnis des Herzens und nicht die Norm oder der Glaubenssatz im Mittelpunkt steht? In Kapitel 5.1 wurde der Weg zur Erkenntnis nachgezeichnet und argumentiert, dass Ibn ʿAǧība dem Stufengebilde des Gabriel-Hadith in der Systematisierung der Wegstationen treu bleibt. Anhand der Stufen wird deutlich, dass er zwischen Tugendlehre und der Lehre von der Gotteserkenntnis verbindet. Es geschieht eine Bewegung von außen nach innen, die mit der Gotteserkenntnis, dem vollkommenen Einheitsglauben, endet. In Kapitel 5.2 wurde gezeigt, wie Ibn ʿAǧība den Glaubenssatz vom Schicksal einordnet. Die duale Natur der Welt hat für den Menschen im Laufe seines Lebens offensichtliche Auswirkungen, die mit der Norm aus der Glaubenslehre nicht erklärt werden können. Durch den Verweis auf die innere Gewissheit, die als Ziel der Bewegungen des Schicksals formuliert wird, verschiebt sich der Fokus auf die innere Ebene. Anhand dessen kann das Schicksal und die damit einhergehenden Prüfungen als Messstein für die eigene innere Verfassung ausgemacht werden. Insofern liegt die Bedeutung der Lehre des Schicksals in der Verwirklichung der Gewissheit. Die Norm zeigt die Anweisung auf und die išāra die Verwirklichung. In Kapitel 5.3 wurde das Motiv des „Meeres der Einheit“ erörtert. Dabei zeigt sich, wie Ibn ʿAǧība durch die allegorische Darstellung (išāra) über die Verstandesebene hinausgeht und so ein Blick auf das Wirken Gottes ermöglicht wird, der die Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellt. Auf diese Weise lässt sich das Verhältnis Gottes zur Welt beziehungsweise die Beziehung zwischen Gott und Mensch weiterführend verstehen, ohne auf der normativen Ebene des Kalam verhangen zu bleiben. Hierbei werden zum einen Ibn ʿAǧības Perspektive und Stil seiner išārī-Interpretation von der Erhabenheit Gottes und Seiner Manifestation in der Welt erneut erkennbar; seine eigene Interpretation, die synthetisch Einflüsse Ibn ʿArabīs und der Šāḏiliyya, u. a. nach Ibn al-Fāriḍ und aš-Šuštarī, einbezieht. Zum anderen wird deutlich, inwiefern das menschliche Wollen und Wirken begrenzt ist und er erst wirkliche Freiheit erfährt, wenn sich Herzenserkenntnis einstellt. In Kapitel 5.4 schließlich wurde auf zwei weitere wichtige Aspekte der SufiLehre bei Ibn ʿAǧība eingegangen, deren Fundament in den Quellen gründet und darüber hinaus auf der Auslegung durch išāra baut, das Gottesgedenken und das Gebet für den Propheten. Diese bilden einerseits die traditionellen praktischen Mittel der Sufis, neben den Plichten und der Sunna, um auf dem Weg voran-
5.5 Zusammenfassung
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zukommen. Andererseits sind sie die Ausdeutung des Glaubensbekenntnisses. Das Gottesgedenken verkörpert die Anstrengung auf dem Weg durch Gottesdienst, die verborgenen Götzen auszulöschen; es ist die Vorstufe zur Meditation des Herzens. Das Gebet für den Propheten wiederum zeigt die Ausrichtung auf den Propheten als Quelle der Rechtleitung, die in seinen Eigenschaften zu finden ist, in der Tugendlehre und, höher als das, im Lobpreis seines Ranges bei Gott. Er ist das von Gott eingesetzte Mittel und das Gebet für ihn ehrt diese Stellung.
6. Teil
Resümee Das Forschungsinteresse der Studie bestand darin, Zielsetzung und Methode Ibn ʿAǧības zu erörtern beziehungsweise die Konzeption seines Religionsbegriffes zu untersuchen. Die These lautete, dass sein Religionsbegriff maßgeblich durch das Zusammenführen der Ebenen gestaltet wird, wie sie im Gabriel-Hadith zutage treten, und dass der išāra dabei, als Interpretation des Sufis, der höchste Rang eingeräumt wird. Die Darstellung der religiösen Lehre Ibn ʿAǧības wurde erörtert und es wurde dargelegt, welche Rolle die individuelle Erfahrung des Menschen darin einnimmt und in welchem Maße die Herzenserkenntnis im Vordergrund steht, die dem Menschen die Anbindung an die prophetische Lehre ermöglicht. Es wurde dargelegt, inwieweit die Herzenserkenntnis über die intellektuelle Beschäftigung hinausgeht und wie sie gewissermaßen zwischen dem Individuum und der historischen Offenbarung vermittelt. Der Lebensweg Ibn ʿAǧības stellt einen ersten Anhaltspunkt für seinen Religionsbegriff dar. Sein Wechsel vom gelehrten Sufi hin zum Sufi-Gelehrten markiert eine Trennlinie für seine Konzeption. Er beschreitet den Weg seiner Meister al-Būzīdī und al-Darqāwī und widmet sich vollkommen dem inneren Wissen und der sufischen Lebensweise. Teil der Praxis Ibn ʿAǧības ist es, die Menschen zum Sufitum einzuladen, was der Bewegung der Darqāwiyya Aufwind beschert. Dies führt aber auch zu den schicksalshaften Ereignissen in Tétouan, die offenbaren, dass Ibn ʿAǧības Lesart der Theologie nicht bei allen Gelehrten seiner Zeit beliebt gewesen ist. Er, beziehungsweise die Darqāwiyya, stößt auf Widerstand von Seiten einiger Gelehrter und Würdenträger, die Anstoß an Ibn ʿAǧības neuer Ausrichtung nehmen. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Abneigung der Gelehrten allein auf den offen vorgetragenen Gründen beruhte. Die Tradition der Šāḏiliyya sowie die auch sonst verbreiteten Schriften, die die Praktiken der Sufis – wie das laute Gottesgedenken und das Tragen von grober Kleidung – (mit Ausnahmen) tendenziell guthießen, waren ihnen mindestens theoretisch vertraut. Eine bessere Erklärung liefert ein Blick in die Geschichte Marokkos, in der ein langes Ringen um die richtige Auslegung des Sufitums zu beobachten ist. Wie im Kapitel zur Šāḏiliyya dargestellt, schwankte der Schwerpunkt der sufischen Lehre zwischen Gelehrsamkeit und reiner Spiritualität, wie etwa im Gegensatz der prominenten
342
6. Teil: Resümee
Figuren wie dem Gelehrten Abū Bakr ibn al-ʿArabī und dem Sufiheiligen Abū Yaʿzā zu sehen ist.1 Vor diesem Hintergrund ist der Schwerpunkt in Ibn ʿAǧības Lehre, die Praxis in den Vordergrund zu stellen, eigentlich nicht neu, sondern befindet sich im Spektrum der Auslegung der Lehre der Šāḏiliyya. Diese Verschiebungen in der Lehre geben Aufschluss über die Wandelbarkeit der Schule der Šāḏiliyya und wurden mittlerweile auf verschiedene Aspekte hin untersucht.2 Ibn ʿAǧība sieht im Widerstand gegen das Sufitum von Seiten der Gelehrten, die die Normen als Kern der religiösen Lehre sehen, allgemein eine Prüfung und Herausforderung. Er stellt sich theologisch nicht konfrontativ gegen sie; vielmehr löst er den allgemeinen theologischen Konflikt durch das Stufengebilde des Gabriel-Hadith auf und weist auf diesem basierend darauf hin, dass sie die menschliche Fähigkeit zur Herzenserkenntnis zugunsten der äußerlichen Lehren vernachlässigen. Im Speziellen zieht er jedoch eine Grenze, wenn die andere Position in Feindschaft und der Anschuldigung der schlechten Neuerung (bidʿa) mündet.3 Um den Religionsbegriff mit seinen verschiedenen Aspekten bei Ibn ʿAǧība darzustellen, wurde in Teil 2 zunächst das Stufengebilde aus dem Gabriel-Hadith untersucht. Dabei zeigt sich zum einen der inklusive Ansatz Ibn ʿAǧības, der die verschiedenen Disziplinen der religiösen Lehre von Fiqh, Kalam und Sufitum zu versöhnen vermag. Zum anderen eignet sich das Stufengebilde, um die Stufen abzubilden, die der Mensch auf seinem Weg zur Erkenntnis beschreitet, wie beispielsweise die Stufen der Gewissheit oder die Grundelemente des Weges der Erkenntnis von Scharia, Weg (ṭarīqa) und Wirklichkeit (ḥaqīqa). Ibn ʿAǧības Lesart des Gabriel-Hadith zeigt eine deutliche Präferenz der Herzenserkenntnis als höchste Form des Gottesdienstes, die durch das Sufitum erlangt wird. Bei der Untersuchung der Interpretationen des Gabriel-Hadith fällt die Vielfalt der Blickwinkel auf, die Ibn ʿAǧība einnimmt und herausfordert. Die Ebenen des Hadith bilden für ihn nicht lediglich eine Systematik, sondern zeigen auch die Schichten der menschlichen Wahrnehmung auf. Die Ebenen greifen ineinander, bauen aufeinander auf und bedürfen einander zum besseren Verstehen. Das muss so sein, da das menschliche Dasein mehr als eine Dichotomie benötigt, mehr als Dogmen, die es im Sinne eines stark normativen Religionsverständnisses zu erfüllen gilt. Aus Perspektive des Sufitums wurden im Kapitel zum Ursprung der Religion anschließend einige wesentliche Aspekte des Religionsbegriffs bei Ibn ʿAǧība beleuchtet, die bei der Lektüre seines Werkes auffallen. Den Ruf zum Glauben, der 1 Vgl. dazu genauer und ausführlich bei Vimercati Sanseverino, Fès et sainteté. Diese Monographie bietet einen Überblick über die Geschichte der Sufis in Marokko; vgl. auch insbesondere die Studie von Cornell, Realm of the Saint. Power and Authority in Morrocan Sufism. 2 Vgl. beispielsweise Honerkamp, „Ibn ʿAbbād, modèle de la Shādhiliyya“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy. 3 Vgl. FI, S. 286–91; BM, Bd. 1, S. 330.
6. Teil: Resümee
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in den Geschichten der Propheten sowie in Ibn ʿAǧības Leben eine maßgebliche Rolle spielt, interpretiert er dahingehend, dass er sich insbesondere auf die Einladung der Herzen zum Glauben bezieht. Obwohl er betont, dass die Lehren auf der Ebene der Vervollkommnung (iḥsān) nicht jedem unmittelbar in vollem Umfang vermittelt werden dürfen, zeigt sein Lebenslauf und auch die Betonung des Rufes in seinen Schriften, dass dennoch ein Weg gefunden werden soll, zur Herzenserkenntnis einzuladen beziehungsweise diese an die höchste Stelle zu setzen. Das bekannte koranische Thema vom Niederreißen der Götzen wird auf der Ebene des Sufitums als die Läuterung des Herzens gedeutet. Auf diese Weise erhalten die Lehren des Korans und der Sunna unmittelbare Relevanz für den Rezipienten, wenn auch der historische Zusammenhang nicht mehr von unmittelbarem Belang ist. Die Ayas über den Götzendienst und auch über das Leugnen der Wahrheit betreffen in diesem Sinne alle Muslime, da sie die verborgenen Begierden und Anhaftungen an das Diesseits verkörpern. Um das Ziel, den verborgenen Götzendienst auszulöschen, zu erreichen, wurden die Propheten mit der „ursprünglichen Religion“ (ad-dīn al-ḥanīf ) gesandt, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Jeder Mensch ist unterschiedlich und geht seinen eigenen Weg. Die Sufis und auch Ibn ʿAǧība, subsumieren diese Themen unter dem Begriff „der Weg“ (aṭ-ṭarīq), den Weg zur inneren Erkenntnis, die Erfüllung aller Stufen der Religion. In gewisser Hinsicht ist es genau dieser Weg – die zweite Stufe nach dem Gabriel-Hadith, mit dem Ziel der Erkenntnis – der den Unterschied zu einem rein normativen Religionsverständnis in der Konzeption der religiösen Lehre kennzeichnet. Im Kapitel zur Genese Ibn ʿAǧības Lehre wurde seine Tradition des Weges der Sufis, die Šāḏiliyya, vorgestellt, wie diese den Religionsbegriff dynamisch auslegt und wie Ibn ʿAǧība sich darin einreiht. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Sufitums in Marokko kann gesagt werden, dass Ibn ʿAǧības Betonung von der Wichtigkeit der Beziehung zwischen Scheich und Murīd eine Rückkehr zu den Wurzeln der Šāḏiliyya bedeutet.4 Diese Beziehung ist es, die dem praktischen Aspekt der Lehre der Sufis zugrunde liegt und ihren Ursprung eigentlich bei den frühen Muslimen hat, den Gefährten des Propheten und den rechtschaffenen Salaf, bei denen die Praxis im Vordergrund stand.5 Im dritten Teil wurde die religiöse Lehre Ibn ʿAǧības beleuchtet. Ibn ʿAǧība zeigt dabei eine spezielle Stringenz, mit der er seine Konzeption von Theologie ausarbeitet. Er versteht seine Ausbildung zum Gelehrten nicht als hinfällig, 4
Vgl. Vimercati Sanseverino, „Commentaire coranique“, S. 233–4. Vgl. Gril, The Prophetic Model; vgl. auch den Brief von Ibn ʿAbbād ar-Rundī an Abū Isḥāq aš-Šāṭibī, in Letters on the Ṣūfī Path, S. 184–8. Dort wird beschrieben, dass in der Frühzeit des Sufitums noch keine kanonisierte Form bestand und dennoch, vielleicht auch gerade deswegen, der prophetische Geist in besonderer Weise erhalten blieb – durch die Umsetzung der Inhalte und nicht der Form. 5
344
6. Teil: Resümee
sondern baut vielmehr darauf auf. Die Grundlagen des Sufitums interpretiert er, wie es die Meilensteine der Tradition der Šāḏiliyya traditionell vorgeben. Er bezieht sich auf Zarrūq und al-Ġazālī, bindet aber darüber hinaus die Lehren und Werke des Ibn al-Fāriḍ, aš-Šuštarī und Ibn ʿArabī ein. Ibn ʿAǧība entwickelt in seinen Jahren als Sufi-Gelehrter durchaus eine eigene Lesart. So verwirft er an einigen Stellen die Lehre des Kalam zugunsten von Erkenntnissen, die der Sufilehre entstammen, wenn er beispielsweise Muḥammad ibn Yūsuf as-Sanūsī kritisiert. Er präsentiert sich an einigen Stellen zudem als Vertreter der negativen Theologie im Stile Ibn ʿArabīs. Damit reiht er sich in die Riege späterer Gelehrter ein, wie etwa an-Nābulusī und Aḥmad aṣ-Ṣāwī, die die Lehre des Sufitums zur Hilfe nahmen, um Gegenstände in der Theologie zu diskutieren. Mindestens in seinen späten Jahren hat Ibn ʿAǧība wahrscheinlich einen solchen Weg eingeschlagen. Die Frage nach dem Einfluss der Schule des Ibn ʿArabī, kann auch getrennt von der Verwendung der Fachbegriffe erfolgen. Einfluss der Schule Ibn ʿArabīs könnte auch ohne die Übernahme seiner Fachbegriffe erfolgt sein. Wie im Kapitel (5. Teil) zum „Meer der Einheit“ zum Vorschein kommt, verwendet Ibn ʿAǧība durchgehend die poetische Sprache der Tradition seiner Meister – al‑Būzīdī, aš-Šuštarī etc. – und übernimmt die Sprache und Systematik der Schule Ibn ʿArabīs nur begrenzt, wenn auch am Ende dasselbe Ergebnis steht. Sollten ihm Werke von Ibn ʿArabī vorgelegen haben, worauf einige Stellen in seinem Werk hinweisen, ist er prinzipiell dennoch seiner Tradition treu geblieben. Der Name aš-Šuštarī lässt, das sei hier nur am Rande erwähnt, überhaupt die Vermutung zu, dass in der Šāḏiliyya einige Ideen aus der Gedankenwelt des ʿAbd al-Ḥaqq Ibn Sabʿīn (der Lehrer aš-Šuštarīs) transportiert worden sind. Zumindest erinnern einige Lehren und Begrifflichkeiten Ibn ʿAǧības deutlich an dessen Ausführungen, wie einige Male in dieser Studie zu Tage getreten ist. Es ist möglich anzunehmen, dass er Gedichte mit der išāra kommentiert hat, um die Gelehrten, die vornehmlich die Leser seiner Werke gewesen sein müssen, gewissermaßen unter dem Schirm der Poesie zur sufischen Interpretation einzuladen. Dem steht entgegen, dass er acht Jahre nach seiner vollständigen Wende zum Sufitum und acht Jahre vor seinem Tode die Abhandlungen zum „Meer der Einheit“ schrieb, die keinen Zweifel an seiner Ausrichtung lassen und die sprachlich teilweise an die Schule Ibn ʿArabīs erinnern. Diese Abhandlungen sind auch keine Gedichtkommentare. Wobei dies letztlich nicht gegeneinander ausgespielt werden muss; möglich ist auch, dass beides seine Richtigkeit besitzt – er die Gedichtkommentare im Sinne einer Einladung verfasste und dennoch nicht auf die Explikation zum „Meer der Einheit“ verzichten wollte, aus welchem Grund auch immer. Die Frage, inwiefern er mit den Werken der Schule Ibn ʿArabīs vertraut war, bleibt eine offene Forschungsfrage. Nicht zuletzt die Lichtmetapher zeigt die Tendenz seiner Tradition zur koranischen Allegorie. Wie in den Kapiteln zum Erbe der Propheten und zur spiri-
6. Teil: Resümee
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tuellen Erfahrung zum Tragen kommt, fasst Ibn ʿAǧība die Rolle der Sufis als die der Nachfolger der Propheten auf, die insbesondere durch die Gotteserkenntnis in der Lage sind, die Religion auf rechte Weise zu interpretieren. Das endet nicht bei dem Verstand, sondern erfolgt maßgeblich durch die išāra und damit auch durch Allegorie und Metapher. Gottes Wirken in der Welt kann durch das Mittel des Verstandes nur begrenzt erfasst werden. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Dualität der Welt, in Körper und Seele, Weisheit und Allmacht, Scharia und Wirklichkeit und anderen komplementären Begriffspaaren, die der Verstand nur als getrennte Elemente wahrnimmt. Er vermag es, sie zu unterscheiden, nicht jedoch sie zu verbinden. Im Gegensatz zum Verstand ist bei Ibn ʿAǧība das Herz der wirkliche Locus für das Wissen. Das Verstehen des Herzens, das das göttliche Wirken in der Welt zu schauen vermag, wird maßgeblich durch das Mittel der išāra erlangt beziehungsweise dargelegt, wie es im vierten Teil diskutiert wurde.6 Dabei wurde erörtert, dass Ibn ʿAǧības Methode sich hinsichtlich des Ziels nicht von der Methode anderer Sufis unterscheidet, wie etwa die Ibn ʿArabīs. Wohl aber wählt Ibn ʿAǧība den unverfänglichen Stil des al-Qušayrī, was sich schon in der Verwendung des Begriffs der Interpretation durch išāra (at-tafsīr bi-l-išāra) zeigt und der sich darüber hinaus vortrefflich in das Muster des Gabriel-Hadith als Interpretation des Sufis einfügen lässt. Der Faqīh vermittelt die praktischen Normen, der Uṣūlī den Kalam und der Sufi die Herzenserkenntnis. Die išāra stellt die Methode dar, die zwischen den Ebenen vermittelt. Anders als der Verstand, der das Trennende wahrnimmt, vermag die išāra durch Gleichnis und Verweis die Verbindungen der Dinge aufzuzeigen. Sie stellt gewissermaßen die Sprache dar, um die Dualitäten in der Welt im Herzen des Menschen zu versöhnen. Sie verbindet das Herz mit den unendlichen Bedeutungen, die in der Welt und insbesondere im Koran verborgen liegen. Die išāra ist die Stimme des geläuterten Herzens. Als Hermeneutik ist die išāra deswegen in einem sehr grundlegenden Sinne zu verstehen. Sie sollte nicht auf eine Textkategorie beschränkt werden. Ibn ʿAǧības Betonung von der Bedeutung des Scheichs für denjenigen, der den Weg der Erkenntnis wählt, zeigt auf die eigentliche Natur der Interpretation durch išāra. Sie verkörpert die Verwirklichung des Wissens durch die Erfahrung des Menschen (ḏawq) und damit die Einheit von Wissen und Handeln. Das tritt insbesondere in der prophetischen Erziehung zum Vorschein, in der der Hinweis, die išāra, zwischen zwei Menschen erfolgt. Durch die Betonung des zwischenmenschlichen Elements nimmt Ibn ʿAǧība tendenziell Abstand zum Bücherwissen. An einigen Stellen äußert er sich dazu explizit, indem er die Tradition durch Übertragung von Meister auf Aspirant über das Bücherwissen stellt. Allerdings ist sein Werk, die Niederschrift seiner Allegorien und Hinweise, auch selbst Beleg dafür, dass er dieses nicht verachtete, 6
Vgl. dazu insbesondere die vergleichende Studie von Sands, Sūfī Commentaries.
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6. Teil: Resümee
sondern es als Hilfsmittel betrachtete. Diese Vorstellung trifft sich mit dem Stil seiner Schriftsprache, die der des al-Qušayrī ähnelt, also eine Variante unter den Stilen der Sufis, die verglichen mit anderen unverfänglich anmutet. Wie der Blick in die Geschichte der Theologie gezeigt hat sowie die Untersuchung seiner grundsätzlichen Annahmen zur Hermeneutik der išāra, unterscheidet sich Ibn ʿAǧība inhaltlich und methodisch nicht von den anderen großen Exegeten der Sufis und er scheut nicht, seine Nähe zu Ibn ʿArabī, al-Ǧīlī und Ibn al-Fāriḍ auszudrücken. Im Stil jedoch weist er einen eigenen Duktus auf. Daraus kann bereits an dieser Stelle geschlussfolgert werden, dass die Interpretation durch išāra die These dieser Studie zunächst belegt: Als Interpretation des geläuterten Herzens, stellt sie die höchste Form der Interpretation dar, da sie die Ebenen von Innen und Außen vereint beziehungsweise dem Menschen einen Blick auf die Bedeutungen hinter den Normen ermöglicht. Im Muster des Gabriel-Hadith ist sie die Interpretation der höchsten Ebene; durch sie wird eine umfassende Perspektive auf die religiöse Lehre ermöglicht und dient Ibn ʿAǧība als wichtigster Bezugspunkt in der Lehre. Die Antithese bildet gewissermaßen die Interpretation durch den bloßen Verstand, wenn das Herz in den Hintergrund gestellt wird. Ibn ʿAǧība liefert für diese beiden widerstreitenden Ideen als Synthese die Konzeption von Religion durch die Ebenen des Gabriel-Hadith. Im fünften Teil wurde dieses Ergebnis schließlich an einigen wesentlichen Motiven aus Ibn ʿAǧības Werk verdeutlicht und seine Anwendung der išāra untersucht. Die išāra als Methode zur allegorischen Betrachtung der theologischen Gegenstände dient Ibn ʿAǧība, um aus der Perspektive der Gotteserkenntnis heraus zu sprechen. Beziehungsweise durch išāra kann die Verwirklichung der Erkenntnis (maʿrifa) beschrieben werden, unter Berücksichtigung der ontologischen Annahmen, wie sie in Teil drei dargestellt wurden. Aus der Perspektive der Vervollkommnung (iḥsān) wird der Weg (ṭarīq) beschrieben, der zur Erkenntnis führt. Ein entscheidendes Merkmal dieser Form von Erkenntnis ist, dass die Sufis sie im Diesseits ansetzen. Nur unter dieser Annahme ergibt die išāra tatsächlich Sinn. Denn wenn nicht angenommen wird, dass das Herz erkennen kann, bleibt von der Allegorie nur eine poetische Metapher übrig. Insofern beinhaltet die Erkenntnislehre Ibn ʿAǧības ein stark soteriologisches Moment. Der Weg zur Erkenntnis zielt aber, abhängig von der Person, nicht unbedingt auf Erlösung ab, sondern auf die Erfüllung aller Ebenen des Gabriel-Hadith. Es hat sich gezeigt, dass Ibn ʿAǧība die Erkenntnis beziehungsweise das Wissen über die Liebe stellt, wobei dies mit der Einschränkung zu verstehen ist, dass Liebe und Erkenntnis einander bedingen und sich in einem Wechselspiel befinden.7 Vor diesem Hintergrund entwirft er ein Bild von der Reise zu 7 Vgl. BM, Bd. 1, S. 162; Chittick, Ibn ʿArabī. Erbe der Propheten, S. 41; zu Wissen und Liebe vgl. insbesondere Burckhardt, Introduction to Sufi Doctrine, S. 21–4.
6. Teil: Resümee
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Gott, ausgerichtet an den Stufen des Gabriel-Hadith, das außen, in der greifbaren Sphäre beginnt. Die Wegstationen führen dann über die Verwirklichung der guten Charaktereigenschaften wie der aufrichtigen Ergebenheit (iḫlāṣ) und der Wahrhaftigkeit (ṣidq), zur Anschauung der göttlichen Manifestationen in der Welt durch das Herz. Gelingt es dem Diener diese Schau zu halten, kann ihm Erkenntnis wiederfahren, Gotteserkenntnis als die Verwirklichung der höchsten Ebene der Religion. Im Kapitel zu Schicksal und Bestimmung tritt ein Aspekt der išāra zutage, indem sie eine Norm aus der Theologie verdeutlicht und den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Als Glaubenssatz bildet das Schicksal eine Anweisung, die sich auch beispielweise im Gabriel-Hadith finden lässt. Wie sie aber umzusetzen ist, wird im Sufitum beschrieben. Die Auslegung der Norm vom Glauben an das Schicksal erfolgt bei Ibn ʿAǧība, wie auch traditionell in der Schule der Šāḏiliyya, durch das innere Gegenstück der Seelenruhe, durch die Gewissheit. Das Schicksal offenbart Prüfungen, die dem Menschen Anlass geben, seine innere Gewissheit oder Ruhe zu üben oder auch sich neu auf seinem Weg auszurichten. Auf diese Weise ist das Schicksal auch Chance und anhand dessen lässt sich speziell das Zusammenspiel von Außen und Innen erkennen beziehungsweise zwischen Weisheit und Allmacht unterscheiden: Durch die schicksalshaften Bewegungen im Äußeren wird der Mensch zur Übung seiner inneren Ruhe aufgefordert. Im dritten Kapitel (5.3) zum „Meer der Einheit“ wurde Ibn ʿAǧības Darstellung von der Selbstoffenbarung Gottes, den göttlichen Manifestationen in der Welt, beleuchtet. Er verwendet dafür poetische Sprache und die Bilder, die in seiner Tradition aus Gedichten bekannt sind. Die Darstellung beginnt, wie es in der sufischen Lesart üblich ist, mit der Unterteilung des göttlichen Wesens in vor der Manifestation und nach der Manifestation. Das Wesen Gottes ist vor der Manifestation erhaben über alle Vorstellung und Beschreibung. In der Bewegung Gottes, in Liebe die Welt zu erschaffen, ist es dem Menschen nun möglich, durch das Mittel der göttlichen Namen und Eigenschaften das Licht Gottes zu schauen, zu erkennen. Wann immer er das Licht schaut, entrückt ihn diese Erfahrung von seinem Selbst und er wird trunken vom Anblick des Geliebten und der Erkenntnis, die sich ihm auftut. Diese Erkenntnis des göttlichen Wirkens in der Welt in Form der Manifestationen ist es auch, die dabei hilft, sich dem Rätsel des menschlichen Willens anzunähern. Die Antwort Ibn ʿAǧības lautet zusammengefasst, dass die Taten und Eigenschaften, wie auch das Ego des Menschen eigentlich Schleier sind – Talismane oder Siegel auf dem Schatz in der poetischen Sprache der Abhandlung – die ihn von der Erkenntnis abhalten und gleichzeitig schützen. Denn die Erkenntnis bedarf der Reise und Vorbereitung, ansonsten verbrennt sie den Anschauenden, wie der ungeschützte Blick in die Sonne schadet. Wirkliche Freiheit findet sich nur in der Erkenntnis, davor bleibt sie ein Wunsch.
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6. Teil: Resümee
Im vierten Kapitel von Teil 5 wurde schließlich ein weiterer Aspekt behandelt, der mit der Praxis der Sufis in Verbindung steht und leider in der Forschung kaum Beachtung findet, obwohl er eine herausragende Stellung in der Theologie (vor allem, aber nicht ausschließlich) der Sufis einnimmt. Hierbei handelt es sich um das Ritual; das Gottesgedenken (ḏikr Allāh) und insbesondere um das Gebet für den Propheten (aṣ-ṣalāh ʿalā an-Nabī).8 Während das Gottesgedenken die tradierte Praxis darstellt, die das körperliche Gegenstück zur Meditation des Herzens ( fikr) bildet,9 stellt das Gebet für den Propheten ein eigenes Genre dar, dem sich auch Ibn ʿAǧība ausgiebig annimmt. Das Gebet für den Propheten ist zunächst, wie das Gottesgedenken, ein Pfeiler der Sufi-Praxis, darüber hinaus eignet es sich insbesondere für die Darstellung der Zusammenhänge in der Theologie der Sufis, da der Prophet Muḥammad als höchster Gotteskenner und Gesandter Gottes, Träger der Botschaft und erster Interpret des Korans, alle Aspekte in sich vereint. So wird mit dem Gebet für ihn aus Sicht der išāra der göttlichen Ordnung Rechnung getragen: Er wurde als Barmherzigkeit für die Welten entsandt und indem die Barmherzigkeit in Gestalt des Propheten gelobt wird, wird Gottes Wille gepriesen. Als „Erster der Dienenden“ (K 43:81) bildet er den wichtigsten Bezugspunkt, die Leuchte im Kosmos. Die im fünften Teil dargestellten Motive angewandter išāra zeugen erneut als Belege für die These, dass Ibn ʿAǧība die Vereinigung der Ebenen als entscheidendes Merkmal für die Lehre ausmacht. Die išāra ist durch Allegorie und Metapher, ungleich der verstandeslastigen Interpretation, gut geeignet, die großen metaphysischen Zusammenhänge darzustellen, ohne in einschränkende Normativität zu verfallen. Darüber hinaus präsentiert Ibn ʿAǧība sich als profunder Kenner der Sufilehre, der einen eigenen Ansatz entwickelt beziehungsweise die Methoden seiner Tradition weiterentwickelt und verschiedene Elemente synthetisiert. Das trifft sowohl auf die sufische Lehre selbst zu, als auch auf die Interpretationen der Normen und der gottesdienstlichen Handlungen. So versöhnt das Stufengebilde des Gabriel-Hadith in gewisser Weise die Sufi-Schulen des al-Ġazālī und den „Weg der Erleuchtung“ (ṭarīq al-išrāq), den Weg der Sufis, wie Ibn ʿArabī und aš-Šuštarī – wie Ibn ʿAǧība selbst schreibt – da in der Schule der Šāḏiliyya im Äußeren, mit der Scharia begonnen, dann der Weg beschritten und schließlich die Wirklichkeit erkannt wird.10 Die išāra deutet auf das innerliche Gegenstück zu den Normen. Das zeigt sich einerseits am Schicksal und dem Üben der Seelenruhe und der inneren Gewissheit, aber insbesondere am speziellen Einheitsglauben beziehungsweise 8
Vgl. Burckhardt, Introduction to Sufi Doctrine, S. 89–94. die Beschäftigung mit den Namen Gottes durch die Charakterlehre (taʿalluq und taḫalluq), eine andere Form der Verwirklichung des Gottesgedenkens, konnte im Rahmen dieser Studie nur am Rande eingegangen werden. Siehe Kapitel „Göttliche und menschliche Eigenschaften (taʿalluq und taḫalluq)“ (5.3.2.2). 10 Vgl. FI, S. 92–3. 9 Auf
6. Teil: Resümee
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dem Schauen des Meeres der göttlichen Einheit (baḥr al-waḥda). Von diesem kann eigentlich nicht berichtet werden, da es eine individuelle Erfahrung darstellt, wohl aber kann durch ein Gleichnis darauf gedeutet werden. Ibn ʿAǧības Ansatz, diese Themen darzustellen, ist nicht gänzlich neu und die Ergebnisse von anderen Sufimeistern bekannt. Wie gezeigt wurde, lässt sich beispielsweise das Thema vom „speziellen Einheitsglauben“ auf aš-Šuštarī zurückführen. Seine Darstellung desselben durch eine poetische Sprache, die sich von der Schule Ibn ʿArabīs teilweise abhebt, kann jedoch als neu bezeichnet werden: Er verbindet allgemein gesprochen den Stil al-Qušayrīs, die Systematik aš-Šuštarīs, die Sprache Ibn al-Fāriḍs und die Schule Ibn ʿArabīs und all dies auf Basis der Tradition der Šāḏiliyya. Und schließlich eignet sich die išāra auch, um etwa das Gebet für den Propheten Muḥammad zu erläutern beziehungsweise die Zusammenhänge, die sich im Kosmos auftun, wenn mit dem Auge der Vereinigung geschaut wird. Auch hier zeigen sich sein spezieller Stil und seine Methode. Die Forschung zu Ibn ʿAǧība befindet sich am Anfang. Durch die mittlerweile relativ gut zugänglichen Werke ist es möglich geworden, einen tiefergehenden Blick auf die Lehre Ibn ʿAǧības zu werfen, der auch die Konzeption seines Religionsbegriffes mit einschließt. Offene Fragen bestehen jedoch noch an vielen Stellen. Das betrifft die Einflüsse auf Ibn ʿAǧība von Seiten der Schule Ibn ʿArabīs, wie oben bereits erwähnt, aber auch etwa die Rezeption seines Werkes. Die Rezeption von Ibn ʿAǧības Werken ist, wie ʿAzzūzī erwähnt, bemerkenswert unbearbeitet.11 Was die Zeitgenossen Ibn ʿAǧības betrifft und deren unmittelbar folgende Generation, hat Michon deren Werke zum Teil verortet und zugänglich gemacht.12 Die Rezeption seiner Werke durch spätere Gelehrte stellt aber im Allgemeinen noch immer eine große Lücke dar.13 Das gilt ebenfalls für die Verbreitung der Ṭarīqa ʿAǧībiyya, die sich auf Ibn ʿAǧība direkt bezieht.14 Etwas besser ist es um die Ṭarīqa Darqāwiyya bestellt.15 Insgesamt kann festgehalten werden, 11 ʿAzzūzī,
Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 1, S. 11 und S. 132. ʿAbd al-Qadir al-Kūhins Imdād ḏawī l-istiʿdād und Muḥammad alMakkūdīs Al-iršād wa t-tibiyān sind dazu zu nennen. Vgl. Michon, Le Soufi, S. 296; ʿAzzūzī, Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība, Bd. 2, S. 483–96. 13 Zu nennen ist beispielsweise die Zusammenfassung von Ibn ʿAǧības Kommentar zur Grammatik des Ibn Āǧurrūm durch ʿAbd al-Qādir al-Kūhin, Ḫulāṣat šarḥ Ibn ʿAǧība ʿalā matn al-Āǧurrūmiyya fī t-taṣawwuf, Dār Ṭibāʿat al-ʿĀmira, s. l.: Dār Ṭibāʿat al-ʿĀmira, Jahresangabe uneindeutig; ʿAbd al-Ḥayy al-Kattānī hat in seinem Werk auf das Geschichtswerk Ibn ʿAǧības zurückgegriffen, Fahras al-fahāris wa l-aṯbāt wa muʿǧam al-maʿāǧim wa l-mašyaḫāt wa l-musalsalāt, S. 342–4, 602, 854–5, 1111–2; vgl. auch Michon, Le Soufi, S. 80–6; ʿAbd al-Ḥayy al-Kattānī erwähnt Ibn ʿAǧība zudem in seiner Abhandlung zur Rechtmäßigkeit des Gottesgedenkens in der Praxis der Sufis, vgl. „Risāla fī mašrūʿiyyat aḏ-ḏikr“, in Nuǧūm al-muhtadīn, S. 155. 14 Vgl. dazu etwa Ay, Ibn Acibe, S. 53–6; ʿAlī ar-Raysūnī, „Aš-Šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība wa imtidād ṭarīqatihī bi-Šafšāwun“, in Aʿmāl nadwa: aš-šayḫ Aḥmad Ibn ʿAǧība al-mufakkir wa l-ʿālim aṣ-ṣūfī, S. 138–40; ʿAbd as-Salām al-Ḫālidī, Al-kanz aṯ-ṯamīn fī kašf asrār ad-dīn, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2004 (Dieses Werk enthält mehrere Werke des ʿAbd al-Qādir al-Kūhin). 15 Vgl. etwa Mustafa Zekri, „La tarîqa Shâdhiliyya-Darqâwiyya: les ‚empreintes’ du shaykh 12 Insbesondere
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6. Teil: Resümee
dass das 12./18. Jahrhundert von der Forschung zum Sufitum bisher bemerkenswert ungeachtet geblieben ist. Und das obwohl gerade im 12./18. Jahrhundert in Marokko das Sufitum eine Erneuerung in vielerlei Hinsicht erlebte. Das betrifft nicht nur die Tradition der Šāḏiliyya, sondern auch andere Sufi-Bewegungen.16 El-Rouayheb kommt in seiner Erörterung der Gelehrtendiskurse im 11./17. Jahrhundert zu dem Schluss, dass, entgegen einer verbreiteten Annahme, die Gelehrsamkeit alles andere als in Stagnation verfallen war, weder im Einflussgebiet des Osmanischen Reiches, noch außerhalb dessen, arabischsprachig oder nicht. Er hat auch gezeigt, dass die Diskurse um das Sufitum, insbesondere bezüglich der Darstellung des speziellen Einheitsglaubens, von späteren Vertretern der Schule Ibn ʿArabīs die „Einheit des Seins“ (waḥdat al-wuǧūd) genannt, sich nicht einfach um die Frage drehten, ob diese Interpretation statthaft war oder nicht. Vielmehr wurden von aš-Šaʿrānī, an-Nābulusī und Ibrāhīm al-Kūrānī (gest. 1101/1690) etwa – allesamt anerkannte Gelehrte – verschiedene Methoden und Wege entwickelt, um das Sufitum mit der religiösen Lehre allgemein in Einklang zu bringen oder zumindest beide in das richtige Verhältnis zu setzen.17 Spevack schreibt zu Recht, dass in den späteren Jahrhunderten, nach dem 9./15. Jahrhundert, ein gewisser Konsens über die Ziele des Sufitums herrschte und lediglich zur Rolle der Lehren Ibn ʿArabīs keine Einigkeit bestand.18 Ibn ʿAǧības Synthese den Religionsbegriff mit den verschiedenen Ebenen von Fiqh, Kalam und Sufitum zu beschreiben, kann den genannten Gelehrten hinzugefügt werden. Seine Präferenz in der Theologie ruht eindeutig auf dem Sufitum, aber er schließt die anderen Lehren nicht aus, sondern durch das Paradigma des Gabriel-Hadith ein. Was für die Lehre allgemein gilt, gilt auch für die sufische Lehre: Er versteht die Schule al-Ġazālīs nicht als getrennt von der der Šāḏiliyya. Und er scheut sich nicht, eine Erkenntnis aus dem Sufitum als Korrektiv im Kalam einzusetzen, wahrt aber durch poetische Sprache eine Distanz zur Theorie. Schlussfolgernd kann formuliert werden, dass Ibn ʿAǧība eine Mittlerposition einnimmt in der Diskussion um die sufische Lehre von der „Einheit des Seins (waḥdat al-wuǧūd)“ beziehungsweise was die Niederschrift dieser Lehre anbelangt. Weder wählt er den theoretisch-theologischen Ansatz der Schule Ibn ʿArabīs, noch den zurückhaltenden Stil des Zarrūq. Er verbindet vielmehr beide auf seine eigene Weise. al-ʿArabî al-Darqâwî“, in Une voie soufie dans le monde: la Shādhiliyya, Hg. Éric Geoffroy, S. 229–36; Michon, „Un témoignage contemporain sur le šayḫ darqāwī (1737–1823)”, S. 385–92. 16 Vgl. etwa Vimercati Sanseverino, Kapitel „La fondation des grands ordres et le renouveau du soufisme: entre les influences extérieures et la réforme interne (12.-13./18.-19. Jhdt.)“, in Fès et sainteté. 17 El-Rouayheb, Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century, S. 344–8; vgl. auch Murata, Chinese Gleams of Sufi Light, S. 116–21. 18 Spevack, The Archetypal Sunnī Scholar, S. 155–60.
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Ibn ʿAǧības Werk eröffnet eine weite Perspektive auf die Theologie. Als Vertreter der späten Phase ist er in der Lage, einige Problemstellungen früherer Generationen aufzulösen und eine eigene, schlüssige und auf seiner Tradition aufbauende Konzeption der Theologie zu entwerfen. In dieser Studie wurde vornehmlich der Religionsbegriff behandelt. Weitere Studien sind nötig, grundlegende Studien zu bedeutenden Motiven, der Quellenlage, seines Einflusses auf spätere Gelehrte und zu seiner Tugendlehre (taʿalluq und taḫalluq), die in dieser Studie zu kurz gekommen ist, und auch Studien zu seiner Koranexegese stehen noch aus. Das Werk Ibn ʿAǧības ist ein Schatz, der es verdient, gehoben zu werden.
Appendix
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Appendix 1: Überlieferungskette Ibn ʿAǧības Die Überlieferungskette (silsila) der Meister Ibn ʿAǧības in der Šāḏiliyya (und Qādiriyya) im Sufitum laut Ibn ʿAǧība:1 Allāh Ǧibrīl Pr. Muḥammad (11/632) ʿAlī (40/661) Ḥasan (50/670) Ǧābir Saʿīd al-Ġazwānī Fatḥ as-Suʿūd Saʿd Saʿīd Aḥmad al-Marwānī Ibrāhīm al-Baṣrī Muḥammad al-Qazwīnī Šams ad-dīn Tāǧ ad-dīn Nūr ad-dīn Faḫr ad-dīn Tuqay ad-dīn ʿAbd ar-Raḥmān al-Madanī ʿAbd as-Salām Ibn Mašīš (625/1227) Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī (656/1258) Abū l-ʿAbbās al-Mursī (686/1287) Ibn ʿAṭāʾ Allāh as-Sakandarī (709/1309)
Appendix
Ḥasan al-Baṣrī (110/728) Ḥabīb al-ʿAǧamī (156/772) Dāwūd aṭ-Ṭāʾī (162/777) Maʿrūf al-Karḫī (199/815) Sarī as-Saqaṭī (253/867) Abū l-Qāsim al-Ǧunayd (298/911) Abū Bakr aš-Šiblī (334/945) Abū l-Faraǧ at-Tamīmī Abū l-Faraǧ at-Tarasūsī Abū ʿAlī b. Yūsuf al-Hikkārī Saʿīd al-Mubārak ʿAbd al-Qādir al-Ǧaylānī (561/1166) Šuʿayb Abū Madyan (594/1197)
Al-Barmadī Aḥmad al-Yamanī
ʿAbd ar-Raḥmān al-Fāsī (1096/1685)
M. b ʿAbd Allāh al-Kabīr (Vater)
Qāsim al-Ḫaṣṣāṣī Aḥmad ibn ʿAbd Allāh (Sohn) Al-ʿArabī b. A. b. ʿAbd Allāh ʿAlī al-Ǧamal (1194/1780) Al-ʿArabī ad-Darqāwī (1239/1823) Muḥammad al-Būzīdī (1229/1814) Aḥmad Ibn ʿAǧība (1224/1809)
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1 Fahrasa, S. 64–9; die Tabelle in ähnlicher Form bei Michon, Le Soufi, S. 304; vgl. auch Lings, A Sufi Saint, S. 232–3. Die Tabelle bei Lings ist identisch von al-ʿArabī ad-Darqāwī bis Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī; Vimercati Sanseverino, Anhang III „Tableaux des filiations spirituelles et tableaux généalogiques“, in Fès et sainteté.
Appendix 1: Überlieferungskette Ibn ʿAǧības
(Tarīqa Qādiriyya)
Dāwūd al-Bāḫilī (Bāqirī) M. Baḥr aṣ-Ṣafā ʿAlī Wafā (Sohn des aṣ-Ṣafā) Yaḥyā al-Qādirī A. b. ʿUqba al-Ḥaḍramī Aḥmad Zarrūq (899/1494) Ibrāhīm al-Faḥḥām ʿAlī aṣ-Ṣanhāǧī ad-Dawwār ʿAbd ar-Raḥmān al-Maǧḏūb (976/1569) Yūsuf al-Fāsī
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Appendix
Appendix 2: Manuskripte Manuskripte der Werke Ibn ʿAǧības aus der Ägyptischen Nationalbibliothek und der Bibliothek Alexandria. Ägyptische Nationalbibliothek: 1. Titel: Risāla fī l-ʿaqāʾid wa ṣ-ṣalāh, Verfasser: Ibn ʿAǧība, Aḥmad. Manuskript: 9 Seiten, Sammlung Šinqīṭī 7/4. Beginn nach der Einleitung: „Es obliegt dir die Glaubensüberzeugung, dass Gott vor dem Kosmos existierte (ʿalayka an taʿtaqid anna Llāh mawǧūd qabla l-akwān).“ Ende: „Und Gott segne unseren Herrn Muḥammad, seine Familie und seine Gefährten.“ Beschreibung: Gut erhaltene Kopie, recht gut leserlicher Duktus. Durch Fettschreibung in Kapitel unterteilt. Kopist/Schreiber unklar; nach der Handschrift zu urteilen von Aḥmad Ibn ʿAǧība selbst geschrieben.2 Bibliothek Alexandria: 1. Titel: Tashīl al-madḫal li-tanmiyat al-aʿmāl bi-n-niyya aṣ-ṣāliḥa ʿind al-iqbāl, Verfasser: Ibn ʿAǧība, Aḥmad. Manuskript (Maʿhad al-maḫṭūṭāt al-ʿarabiyya): 42 Seiten, Film Nr. 731, Manuskript Nr. 150, Manuskript ursprünglich aus der Sammlung Al-ḫazāna al-Ḥusayniyya 11948 (1). Beginn nach der Einleitung: „Die größte Gabe an den Diener ( fa-aʿẓam an-niʿam ʿalā l-ʿabd…) nach dem Glauben und dem Islam ist, dass Gott, der Erhabene, ihm die Verbesserung der Intention eingibt anlässlich der Absicht und dem Ziel.“ Ende: „Das ist das Ende dessen, was ich darlegen wollte (hāḏā āḫar mā qaṣadtu ǧamʿuhū…) und Du seist gepriesen.“ Beschreibung: Gut erhaltene Kopie, gut leserlicher Duktus, kleine Anmerkungen vorhanden, Überschriften in unterschiedlichen Schriftarten. 2. Titel: Risāla fī ḏamm al-ġība wa taqbīḥ šaʾnihā, Verfasser: Ibn ʿAǧība, Aḥmad. Manuskript (Maktaba al-baladiyya bi-Qurṭuba): 15 Seiten (60–74), Film Nr. 7 (B-19), Manuskript Nr. 23. Kopist: Muḥammad ibn Muḥammad ibn Muḥammad ibn Muḥammad Ibn Aḥmad al-Ḥasanī. Kopiert im Jahre 1321/1904. Beginn nach der Einleitung: „Wahrlich, das Körperteil Zunge ( fa-inna ǧāriḥat al-lisān…) zählt zu den schwierigsten Körperteilen.“ Ende: „Und gepriesen sei Gott, der Herr der Welten.“ Beschreibung: Gut erhaltene Kopie, mit kurzen Anmerkungen versehen.
2
Vgl. für seine Handschrift Michon, Le Soufi, S. 306.
Appendix 2: Manuskripte
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3. Titel: Šarḥ al-qaṣīda al-munfariǧa li-Ibn an-Naḥwī, Verfasser: Ibn ʿAǧība, Aḥmad. Manuskript (Maktaba al-baladiyya bi-Qurṭuba): 38 Seiten (94–131), Film Nr. 7 (B-19), Manuskript Nr. 23. Kopist: Muḥammad ibn Muḥammad ibn Muḥammad ibn Muḥammad Ibn Aḥmad al-Ḥasanī. Kopiert im Jahre 1322/1905. Beginn nach der Einleitung: „Das ist ein kleiner Kommentar zur ‚munfariǧa‘“. Ende: „Das ist das Ende der Abhandlung (…). Und gepriesen sei Gott, der Herr der Welten.“ Beschreibung: Gut erhaltene Kopie, das Gedicht ist in einer gesonderten Farbe geschrieben, einige wenige Anmerkungen vorhanden, wurde von einer Kopie abgeschrieben, die der Verfasser Aḥmad Ibn ʿAǧība selbst geschrieben hatte. 4. Titel: Al-anwār as-saniyya fī l-aḏkār an-nabawiyya, Verfasser: Ibn ʿAǧība, Aḥmad. Manuskript (Maktaba al-baladiyya bi-Qurṭuba): 19 Seiten (75–93), Film Nr. 7 (B-19), Manuskript Nr. 23. Kopist: Muḥammad ibn Muḥammad ibn Muḥammad ibn Muḥammad Ibn Aḥmad al-Ḥasanī. Kopiert im Jahre 1322/1905. Beginn nach der Einleitung: „Es fragten mich einige Brüder.“ Ende: „Es endet hier, was ich darlegen wollte von den herrlichen Lichtern (…).“ Beschreibung: Gut erhaltene Kopie. Es wird erwähnt, dass die Kopie von einer Kopie abgeschrieben wurde, die der Verfasser Aḥmad Ibn ʿAǧība selbst geschrieben hatte, angehängt ist ein Gedicht (urǧūza) und eine Kurzbiographie Ibn ʿAǧības, kurze Anmerkungen und Korrekturen vorhanden.
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Koranstellen 1:4 88 2:1–5 238 2:30–4 306 2:31 82 2:34 331 2:54 260 2:60 76 2:94 269 2:102 292, 297 2:115 96, 276, 303 2:117 286 2:125–143 90 2:132 90 2:133 58 2:152 325 2:153 297 2:159 75 2:177 270 2:189 122 2:190 208 2:193 91 2:195 208 2:197 62, 263 2:222 260, 266 2:253 194, 314, 336 2:256 85 2:257 204 2:286 279 3:7 144, 235, 236 3:18 162 3:19 88, 91 3:31 140, 208, 238, 330 3:52 58 3:52–3 58 3:76 87 3:81 330 3:85 58 3:95 87 3:102 67, 264
3:145 286 3:159 208 3:172 263 3:187 75 3:193 70 3:198 263 4:28 184 4:36 64, 78 4:48 89 4:59 330 4:69 330 4:78 294 4:80 282, 330 4:103 273, 325, 328 4:116 89 4:125 87, 92 4:145 89 5:3 58, 85 5:12 330 5:15–6 204 5:16 205 5:35 331 5:44–6 204 5:48 105 5:54 208, 209 5:70 330 5:83 281 5:93 50, 263 6:2 286 6:38 231, 233 6:40 270 6:60–1 286 6:75–9 180 6:79 87 6:80 297 6:91 281 6:103 68, 69, 277 6:112 297 6:122 204, 206, 264
372 6:125 58 6:148 315, 316 6:149 314 7:11 198 7:26 263 7:34 286 7:143 304, 322 7:146 245 7:172 67, 81, 86, 182, 183, 209 7:195 297 8:2 326 8:17 225, 283 8:20 330 8:24 70 8:29 264 8:42 286 9:108 208 9:118 209 9:119 270 9:128 248 10:25 70 10:58 80, 158, 271 10:99 199 10:101 274, 279 10:105 87 11:6 296 11:107 314 11:118–9 314 12:53 149 12:76 88, 196 12:82 229 12:100 64 12:108 163 13:8 286 13:16 204, 292 13:28 273, 327 13:36 78 13:39 286 14:44 70 15:21 294 15:24 286 15:56 266 15:99 53 16:23 208 16:32 96, 155 16:43–44 156 16:44 97, 155, 156 16:90 64
Koranstellen
16:120 87 16:123 87 16:125 71, 77 17:1 92 17:16 291 17:85 148, 278 17:107 144 18:24 262 18:28 136, 212 18:45 294 19:27 224 19:29 224 20:12 219 20:19–22 308 20:50 96 20:114 144, 196 20:132 296 21:23 316 21:107 331, 333, 336 22:11 273 22:26 80 22:30–7 265 22:36 62 22:37 265 22:46 184 22:78 87 23:53 196 24:35 197, 204, 205, 209, 224, 230, 275, 334 24:40 204 24:48 70 24:54 330 25:59 306 26:77–80 89 26:84 271 27:85 196 27:88 310 28:34 252 28:64 79 28:68 97, 194, 297, 314 29:6 80 29:45 326 29:49 162 29:69 93, 179 30:7 146 30:30 67, 81, 86 30:32 196 30:33 293
30:40 296 31:13 78 31:22 141 31:27 243 33:1 294 33:4 270 33:6 247, 336 33:19 292 33:21 248, 328, 336 33:23 270 33:38 286 33:41 325 33:43 332 33:45 70 33:45–6 334 33:46 337 33:56 331, 332 34:15 310 35:3 296 35:15 191 35:16 63 35:28 143, 144 36:12 286 37:96 297 38:26 305 38:27 188 39:9 290 39:17–18 121, 163 39:18 187 39:22 58, 204, 264 39:53 260, 266 40:64 296 40:67–8 286 41:6 266 41:30 265 41:53 180, 235, 236 42:11 192 42:13 70, 87 42:25 260 42:51 161 43:20 315 43:52–53 62 43:81 335, 348 44:10–1 276 45:13 192 47:35 188 48:1–2 322 48:10 225, 282, 330 48:28 94
Koranstellen
49:2 247 49:3 263 49:11 29 49:13 30 49:14 51 49:14–17 50, 59 50:16 201, 275 51:56 209, 282, 296, 303 53:8–14 334 53:42 69, 150, 269, 280 54:49 286 54:55 270 55:1–4 229 55:14 230 55:19 199 55:60 64 56:95 53 57:3 199, 225 57:4 188 57:9 204 57:22 286 57:22–3 293 58:11 162 61:7 58 61:9–12 94 64:16 67, 263, 264 65:3 286, 294 65:3–4 296 65:4 296 66:8 260 68:4 156 69:51 53 70:23 273, 328 71:5 70 71:40 286 72:16 267 73:8 326 74:47 53 74:56 263 75:22–3 322 76:30 97 89:27 149 89:27–8 151 89:27–9 273 91:8 151, 161 98:5 83, 268 102:5–7 60 102:7 53
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Hadithe Alle Dinge besitzen ein Maß, auch Vermögen und Unvermögen 287 Askese ist es nicht, das Erlaubte zu verbieten und nicht die Vergeudung von Vermögen 147 Das Fürchtenswerteste, was ich für meine Gemeinschaft fürchte, ist das verborgene Beigesellen, das da die Frömmelei ist 268 Das Schlimmste, das ich für meine Gemeinde befürchte, ist das Beigesellen 78 Das Wissen ist Religion und das Gebet ist Religion 112 Der Gläubige ist der Spiegel seines Bruders 250 Der Koran hat eine äußere Bedeutung (ẓāhir) und eine innere (bāṭin), eine Grenze (ḥadd) und einen Ausgangspunkt (muṭṭalaʿ). 219, 226 Der Mensch ist mit dem, den er liebt 116 Der Prophet antwortete: Und wer aber übertrug ursprünglich?! 293 Die Gott liebste Religion ist die ḥanīfe, wahrhaftige Religion 83 Die Heftigkeit befällt die Besten meiner Gemeinschaft 264 Die Herzen rosten, wie das Eisen rostet. Und wahrlich, der Glaube trägt sich ab, wie ein neues Gewand sich abträgt 261 Die Kinder Adams vergehen sich und die besten derer, die sich vergehen sind jene, die bereuen 266 Die Liebe zum Diesseits ist der Hauptgrund aller Verfehlungen 141 Die Pest ist ein Zeugnis für jeden Muslim 295
Die Seelen sind zusammenhaltende Krieger, wer von ihnen sich kennenlernt, der verbündet sich und wer von ihnen sich ablehnt, der trennt sich 332 Die Suche nach Wissen ist eine Pflicht ( farīḍa) für jeden Muslim 143 Die wahrhaftigsten Worte, die der Dichter spricht, sind die Worte Labīds. 188 Die Wissenden meiner Gemeinschaft sind wie die Propheten der Kinder Israels 162 Die Wissenden sind die Erben der Propheten 144, 162 Du hast geschaut, halte daran fest. Ein Diener, in dessen Herz das Licht Gottes eindrang 298 Eignet euch die Sitten des Barmherzigen an! 329 Ein Diener, dessen Herz Gott erleuchtete mit dem Licht des Glaubens. 5 Eine Stunde Meditation (tafakkur) ist besser als ein Jahr Gottesdienst 241 Er befand sich in einer Wolke, über der keine Luft und unter der keine Luft war 302 Erleichtert und erschwert nicht! 248 Es gibt keine Infektion und keine Übertragung 292 Es gibt keinen Vorzug des Arabers über den Nicht-Araber, keinen des NichtArabers über den Araber... 30 Es glaubt keiner von euch, bis ich ihm nicht lieber bin als er sich selber, sein Besitz, seine Kinder und die Menschen allesamt 140 Es ist der Stift getrocknet über alles, was dir begegnet, o Abū Hurayra 287
Hadithe
Es liegt zwischen den Menschen und dass sie ihren Herrn schauen nur der Vorhang der Herrlichkeit vor Seinem Antlitz im Paradiese Eden 321 Es versteht der Mensch erst wirklich, wenn er im Koran viele Aspekte sieht 231 Es war Gott und nichts mit Ihm 188 Fliehe den Leprösen, wie du vor dem Löwen fliehst 294 Gott der Erhabene sagt: ‚Es fasst Mich Meine Erde nicht und nicht Mein Himmel, jedoch fasst Mich das Herz Meines gläubigen Dieners.‘ 243 Gott, der Erhabene, spricht: ‚Der Sohn Adams schmäht die Zeit, Ich aber bin die Zeit 201, 277 Gott, der Gesegnete und Erhabene, spricht: ‚Die Herrlichkeit ist Mein Mantel und die Majestät Meine Hülle 320 Gott sendet keine Krankheit herab, ohne dass er dafür eine Medizin schickt 293 Gott spricht: ‚Nichts, wodurch Mein Diener sich Mir nähert, ist Mir lieber, als was Ich ihm als Pflicht auferlegte 66, 211 Handelt! Einem jeden wird leichtgemacht, wofür er erschaffen 315 Ich bin, wie Mein Diener mich vermutet. Er möge glauben über Mich, was er will 325 Ich hinterlasse euch die gütige Ursprungsreligion (ḥanīfiyya) 85 Ich hinterlasse euch die weiße Religion (milla), deren Tag ist wie ihre Nacht 85 Ich war der erste der Menschen, der geschaffen wurde, jedoch der letzte der entsendet wurde 335 Ich war ein Prophet, als Adam sich noch zwischen Seele und Körper befand 335 Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden 209, 301, 303 Iḥsān bedeutet, dass du Ihn anbetest, als sehest du Ihn, selbst wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich 65 Īmān bedeutet, dass du an Gott glaubst, Seine Engel, Seine Bücher, Seine
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Gesandten, an den Jüngsten Tag und an die Bestimmung – ihr Gutes und Schlechtes 287 Jedes Neugeborene wird in der ursprünglichen Natur ( fiṭra) geboren 183 Keiner von euch wird eintreten ins Paradies durch seine Taten 96 Meditiert über die Schöpfung und meditiert nicht über den Schöpfer, denn ihr vermögt es nicht, Gott Sein wahres Maß zuzumessen 191 Meine Gemeinde ist wie der Regen. Es ist nicht bekannt, ob sein Anfang besser ist oder das Ende 218 Moses sagt zu Adam: „Du bist der Grund, warum wir verloren gegangen sind 317 Niemand ist eifersüchtiger als Gott. Er verbietet die Übeltaten, die offensichtlichen und die verborgenen. 320 O Allah, preise (oder bete für) Muḥammad und die Familie Muḥammads 332 O Ibn ʿAbbās, ich lehre dich einige Worte: Hüte Gott und Er wird dich behüten 287 Sein Charakter war der Koran 157, 329 Soll ich denn kein dankbarer Diener sein?! 322 Sprecht zu den Menschen entsprechend ihrer Fähigkeit, zu verstehen (qadra ʿuqūlihim) 76 Sucht das Wissen, und wenn es in China ist 143 ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb sagte: Eines Tages, als wir uns bei dem Gesandten Gottes befanden, kam ein Mann mit weißen Kleidern 49 Wahrlich, das Einkommen verlangt nach dem Diener, wie auch sein Todeszeitpunkt ihn verlangt. 287 Wahrlich, die Engel bedecken den nach Wissen Suchenden mit ihren Flügeln 162 Wahrlich, die Propheten erbten keinen Dinar und keinen Dirham, jedoch erbten sie das Wissen 162 Wahrlich, die Seele der Heiligkeit gab mir ein, dass keine Seele stirbt, bis nicht
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Hadithe
ihr Einkommen vollständig verbraucht ist 296 Wahrlich die Stütze des Hauses ist sein Fundament und die Stütze der Religion (dīn) ist die Kenntnis von Gott dem Erhabenen 282 Wahrlich, Gott erschuf Adam nach Seinem Bilde 230 Wahrlich, Gott liebt den Geprüften, den Bereuenden 266 Wahrlich, Gott schuf Adam nach Seinem Bilde 82 Wahrlich, Gott versorgt den Diener entsprechend dem Maße seiner Strebenskraft 280 Wenn es an einem Ort geschieht, an dem ihr euch aufhaltet, so verlasst diesen nicht. 294 Wenn Gott einen Diener liebt, ruft Er Gabriel und spricht: ‚Wahrlich, Gott liebt diesen jemand.‘ 271
Wenn jemand von euch eine gute Tat beabsichtigt, wird sie für ihn als gute Tat geschrieben 97 Wer auch immer über den Koran spricht, nach seiner persönlichen Meinung; lass ihn seinen Sitz im Höllenfeuer einnehmen 219 Wer den Menschen nicht dankt, der dankt Gott nicht 294 Wer etwas liebt, der erwähnt es (oder: gedenkt dem) oft 325 Wer für mich einmal betet, für den betet Gott zehn Mal 329 Wer Gott gehorcht, der gedenkt Ihm, selbst wenn er wenig betet, fastet und den Koran rezitiert 325 Wer sich selbst erkennt, der erkennt seinen Herrn. 236 Wisse, dass sollten die Menschen allesamt sich zusammenschließen, um dir in einer Sache zu schaden, die Gott dir nicht bestimmt hat, werden sie es nicht vermögen. 297
Personenregister Abraham, Siehe Prophet Ibrāhīm Abū Bakr aṣ-Ṣiddīq 217, 233, 248 Abū Hurayra, ʿAbd ar-Raḥmān 287 Abū Madyan Šuʿayb 104 Abū Yaʿzā Yalannūr ad-Dukkālī 104, 110, 266, 342 ʿAdawiyya, Rābiʿa 210 Addas, Claude 18, 170 Aḫḍarī, ʿAbd ar-Raḥmān 22 Ahl as-sunna 166, 174, 194 ʿĀʾiša, Prophetenfrau 156, 329 Anṣārī, Zakariyya 221 ʿArabī al-Fāsī 22 Ašʿarī, Abū l-Ḥasan 47, 174 Averroes, Siehe Ibn Rušd Avicenna, Siehe Ibn Sīnā Ay, Mahmut 11 ʿAzzūzī, Ḥasan 10, 36, 118, 165, 166, 257 Badawī, Aḥmad 101 Bannīs, Muḥammad 21 Bāqillānī, Abū Bakr 87, 90 Baqlī, Ruzbihan (al-Wartaǧibī) 167 Baṣrī, al-Ḥasan 136, 137, 326 Bayḍāwī, ʿAbd Allāh ibn ʿUmar 22, 69 Baytamānī, Ḥusayn 5 Burckhardt, Titus 18, 148, 193, 242, 244 Būṣayrī, Muḥammad ibn Saʿīd 22, 109 Būzīdī, Muḥammad 3, 27, 30, 106, 107, 109, 124, 301, 327 Chiabotti, Francesco 173, 221 Chittick, William C. 57, 65, 81, 85, 89, 187, 208, 221 Chodkiewicz, Michel 18, 93 Dānī, Abū ʿAmr 22 Darqāwī, Muḥammad al-ʿArabī 13, 24, 30, 34, 106, 167, 255
Disūqī, Ibrāhīm 101 El-Rouayheb, Khaled 10, 48, 173, 350 Farġānī, Saʿīd 168 Fāsī, ʿAbd ar-Raḥmān 106 Fāsī, Yūsuf 102, 106, 167 Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq 217, 231, 246 Ǧamal, ʿAlī 24, 75, 82, 91, 99, 106, 171 Ǧāmī, ʿAbd ar-Raḥmān 134, 300 Ǧanwī, Muḥammad 21, 23 Ǧanwī, Muḥammad ibn Muḥammad 34 Ǧaylānī, ʿAbd al-Qādir 101 Ġazālī, Abū Ḥāmid 5, 68, 90, 94, 104, 124, 142, 197, 219, 244 Geoffroy, Éric 1, 13, 93, 172 Gesandter Gottes, Siehe Prophet Muḥammad Ǧīlī, ʿAbd al-Karīm 6, 169, 172, 306, 346 Gril, Denis 1, 113, 215, 246 Ǧunayd, Abū l-Qāsim 75, 78, 135, 153, 167, 186, 200, 218, 237, 283, 307, 310 Ǧurǧānī, aš-Šarīf 6, 59, 85, 227 Ǧuwaynī, Abū l-Maʿālī 22 Habṭī, ʿAbd Allāh 167 Ḥakīm, Suʿād 62, 228 Ḫalīl, Ibn Isḥāq 22 Ḥallāǧ, al-Ḥusayn Ibn Manṣūr 76, 170, 196, 227 Harawī, ʿAbd Allāh 167, 257 Hāšimī, Muḥammad (Bruder) 20, 32 Ḥawwāt, Sulaymān 35 Hindī, ʿAlī al-Muttaqī 17 Huǧwīrī, Abū l-Ḥasan ʿAlī 143 Ibn ʿAbbās, ʿAbd Allāh 192, 209, 287, 294 Ibn Abī Ṭālib, ʿAlī 94, 102, 326
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Personenregister
Ibn Adham, Ibrāhīm 266 Ibn ʿAǧība, ʿAbd Allāh 20 Ibn ʿAǧība, Aḥmad 1 – Ausbildung (Werke) 22 – Fundament der Religion 153 – Gesellschaftskritik 29 – Grundlagen (o. Methoden) des Sufitums (uṣūl at-taṣawwuf ) 132 – Historische Dimension der Religion vs. das individuelle Erleben 231 – Meer der Einheit (baḥr al-waḥda) 168, 300 – Trifft seinen Meister 24 – Zur Natur des Menschen ( fiṭra) 81 Ibn ʿAǧība, Muḥammad (Vater) 20 Ibn ʿAǧība, Raḥma (Mutter) 20 Ibn Āǧurrūm, Muḥammad 239 Ibn al-ʿArabī, Abū Bakr 119, 342 Ibn al-Fāriḍ, ʿUmar 101, 167, 171, 193, 222, 301, 303, 338, 346, 349 Ibn al-Ḫaṭṭāb, ʿUmar 49, 233 Ibn ʿArabī, Muḥyī d-dīn 8, 79, 93, 146, 167, 193, 220, 300, 344 Ibn ʿĀṣim, Muḥammad 22 Ibn aṣ-Ṣabbāġ, Ibn Muḥammad alḤimyarī 103, 112 Ibn as-Sakkāk 103 Ibn Ḫaldūn, ʿAbd ar-Raḥmān 114 Ibn Ḥirzihim, Abū l-Ḥasan 104 Ibn Hišām, Abū Muḥammad 22 Ibn Kīrān 21 Ibn Mālik, Ḥāriṯ 5, 297 Ibn Mālik, Muḥammad ibn ʿAbd Allāh 22 Ibn Mašīš, ʿAbd as-Salām 102, 104, 193, 195, 234, 334, 337 Ibn Rušd, Abū l-Walīd Muḥammad 24, 146 Ibn Sabʿīn, ʿAbd al-Ḥaqq 151, 167, 169, 172, 186, 344 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī al-Ḥusayn 147, 184, 186, 223 Ibn Ṯābit, Zayd 137
Lalla Fāṭima 20 Lings, Martin 18
Jesus, Siehe Prophet Jesus
Rābiʿa al-ʿAdawiyya, Siehe ʿAdawiyya, Rābiʿa Rāzī, Faḫr ad-dīn 168, 221, 225 Rifāʿī, Aḥmad 101 Rūmī, Ǧalāl ad-dīn 101
Kalabāḏī, Abū Bakr 100 Kūhin, Aḥmad 33 Kūrānī, Ibrāhīm 350
Maǧḏūb, ʿAbd ar-Raḥmān 106, 167 Maḥallī, Ǧalāl ad-dīn 22 Maḥallī, Ibn ʿIyād 115, 145 Makkī, Abū Ṭālib 147, 167 Makkūdī, Muḥammad 33 Mālik, Ibn Anas 23, 132, 165 Mawlāy Ismāʿīl 27, 29 Mawlāy Muḥammad ibn ʿAbd Allāh III. 27 Mawlāy Sulaymān ibn Muḥammad 28, 31 Michon, Jean-Louis 1, 7, 27, 36, 165, 197, 223 Moses, Siehe Prophet Moses Muḥāsibī, al-Ḥāriṯ 101, 118, 167 Munāwī, ʿAbd ar-Raʾūf 186 Murata, Sachiko 15, 48, 65, 78, 94, 148 Mursī, Abū l-ʿAbbās 100, 102, 193, 248, 252, 331 Nābulusī, ʿAbd al-Ġanī 48, 194, 230, 344, 350 Nūrī, Abū l-Ḥasan 75 Prophet Ibrāhīm 79, 88, 92, 180, 271, 297, 332 Prophet Jesus 87, 224 Prophet Moses 69, 219, 245, 316, 322 Prophet Muḥammad 5, 23, 55, 62, 70, 84, 86, 101, 115, 116, 137, 164, 218, 225, 247, 251, 253, 282, 348 Qāḍī ʿIyāḍ 22, 119 Qayrawānī, Ibn Abī Zayd 22 Qazwīnī, Muḥammad ibn ʿAbd arRaḥmān 22 Qūnawī, Ṣadr ad-dīn 171 Qurrīš, ʿAbd al-Karīm 21 Qušayrī, Abū l-Qāsim 24, 100, 109, 171, 197, 220, 223, 227, 239, 253, 349
Personenregister
Rundī, Ibn ʿAbbād 23, 103, 114, 120, 142, 172 Rušāy, Aḥmad 21 Šāḏilī, Abū l-Ḥasan 22, 100, 118, 140, 154, 252 Šāḏilī, Abū l-Mawāhib 312 Sāḥilī, Abū ʿAbd Allāh 51, 258 Sakandarī, Ibn ʿAṭāʾ Allāh 22, 92, 103, 144, 162, 233 Samlālī, Muḥammad as-Sūsī 21 Sanūsī, Muḥammad ibn Yūsuf 10, 22, 71, 137, 176, 177, 186 Šaʿrānī, ʿAbd al-Wahhāb 48, 57, 71, 82, 169, 173, 190, 350 Saraqusṭī, Ibn al-Bannā 135, 167, 182, 196 Sarrāǧ, Abū Naṣr 4, 70, 220 Šāṭibī, Abū Isḥāq 34, 114, 218 Šaṭīr, Abū l-Ḥasan ʿAlī 21 Ṣāwī, Aḥmad 173, 344 Scheich, Meister 244, 327, Siehe auch die Kapitel 2.3.3 und 4.3.2 Spevack, Aaron 47, 350 Ṣrīdī, Gouvaneur von Tétouan 33, 34 Subkī, Tāǧ ad-dīn 22 Sulamī, ʿAbd ar-Raḥmān 72, 100, 167, 217, 221
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Šuštarī, Abū l-Ḥasan 79, 109, 167, 170, 171, 181, 186, 216, 338, 344, 349 Šuṭībī, Muḥammad ibn ʿAlī 167 Suyūṭī, Ǧalāl ad-dīn 22, 103, 139, 172, 326 Tāwudī ibn Sūda 21, 27, 35 Tirmiḏī, al-Ḥakīm 101 Tuǧībī, Ibn Layūn 167, 172 Umm Salama, Frau des Propheten 137 ʿUṯmān ʿAbduh, Muḥammad 59 Vimercati Sanseverino, Ruggero 1, 161, 168, 215, 236 Wafā, ʿAlī 102, 104 Waraqa Ibn Nawfal 115 Warzāzī, Muḥammad 21 Yūsī, al-Ḥasan 10, 176 Zaqqāq, Abū l-Ḥasan ʿAlī 22 Zaʿrī, Aḥmad 21 Zarrūq, Aḥmad 22, 102, 104, 107, 114, 119, 120, 126, 129, 133, 134, 151, 177, 178, 218, 344 Zayyāt, ʿAbd ar-Raḥmān al-Madanī 102
Sachregister ʿabīd al-Buḫārī 29 af ʿāl 194, 300, 312, 318 ʿAǧībiyya 349 aḥadiyya 188 aḥkām 60, 72, 77, 88, 129, 132 – aḥkām bāṭina 59, 120, 129, 177 – aḥkām ẓāhira 120 Ahl as-sunna 104, 126, 313 ʿālam 4 – ʿālam akbar 4, 305 – ʿālam al-arwāḥ 202 – ʿālam al-ašbāḥ 202 – ʿālam ṣaġīr 4, 305 al-Ḥaqq 100, 123, 132, 144, 301 ʿaqīda 52, 154, 163 ʿārif, Gotteskenner 58, 71, 88, 112, 157, 161, 217, 236 Ašʿariyya 22, 47, 69, 87, 165, 174, 175, 189, 190 āṯār 191, 206, 207, 307 Außen und Innen (aẓ-ẓāhir wa l-bāṭin), Siehe Kapitel 3.2.2.1 awliyāʾ 20, 161 awrād 9, 24, 31, 101, 107, 111, 327, Siehe auch unter ḥizb Aya, die Zeichen Gottes 180, 235, 236, 237 Banī Anǧirā 31, 33, 35 Banī Zirwāl 24, 25 baqāʾ 138, 282, 309, 322 bāṭin 56, 189, 216, 226 – Allgemein als Gegenstück zu ẓāhir, Siehe Kapitel 3.2.2.1 Bāṭiniyya 219 Curriculum, studierte Werke und Lehrberechtigungen von Ibn ʿAǧība 22
Darqāwiyya 24, 31, 106, 341 ḏawq 56, 96, 143, 144, 163, 176, 270, 304 – Im Zusammenhang mit mukāšafa und ilhām, Siehe Kapitel 3.1.2.2 dīn – Diskussion ḥanīfe Religion, Siehe Kapitel 2.2.3 – ḥanīf 79, 121, 179, 210, 343 – ḥanīfiyya samḥāʾ 94 – Religion, Siehe auch Religionsbegriff; Siehe auch Religionsbegriff Einheit von Fiqh und Sufitum 132 Einheit von Koran und Sunna 96, 131, 153, 166, 213, 238, 329 fanāʾ 117, 138, 201, 279, 282, 309, 321 Fāsiyya 106 Fès 21, 24, 35, 75, 108 fikra 150, 160, 241, 272 – Im Besonderen, Siehe Kapitel 4.3.1 Fiqh 21, 22, 52, 122, 133, 165 fiṭra 67, 81, 86, 183, 209 ǧabarūt 308 Gabriel-Hadith 1, 3, 47, 71, 77, 99, 115, 122, 125, 130, 131, 139, 152, 164, 185, 212, 223, 255, 257, 278, 338, 342, 345, 346 ġalabat aẓ-ẓann 221 Gelehrte des Äußeren (ʿulamāʾ aẓ-ẓāhir) 180 Gelehrtendiskussion über die Rolle des Scheichs 114 ḥaqīqa 55, 57, 64, 96, 287 – ḥaqīqa als Gegenstück zu Scharia, Siehe Kapitel 3.2.2.1
Sachregister
– ḥaqīqa wa maǧāz 229 Ḥašwiyya 219 ḫašya 145 ḥiǧāb 161 ḥikma 183, 195 – Als Gegenstück zu qudra, Siehe Kapitel 3.2.2.1 – sirr al-ḥikma 289 ḫirqa, muraqqaʿa 25, 32, 34, 107, 110 ḥizb 22, 101, 116, 323, 327 ʿibāda 55, 59, 125, 251, 331 – ʿibāda qalbiyya, herzlicher Gottesdienst 337 iǧmāʿ 79, 130, 154, 166, 175, 287 iḫlāṣ 132, 139, 156, 267, 270 – Als Station auf dem Weg, Siehe Kapitel 5.1.2.1 ilhām 137 – Im Zusammenhang mit den Begriffen ḏawq und mukāšafa, Siehe Kapitel 3.1.2.2 ʿilm 16 – ʿilm al-aḏhān 128 – ʿilm al-aḏwāq 122 – ʿilm al-adyān 128 – ʿilm al-bāṭin 216 – ʿilm al-bayān 229 – ʿilm al-kalām 130, 223 – ʿilm al-uṣūl 129 – ʿilm al-yaqīn 53 – ʿilm ar-rūḥāniyya 56 – ʿilm at-taṣawwuf 21, 127, 130, 223 – ʿilm at-tawḥīd 180 – ʿilm wa ʿamal, Siehe Kapitel 3.1.1.3 – rāsiḫūn fī l-ʿilm 235 išāra 3, 5, 64, 73, 97, 112, 190 – Die angewandte išāra, Siehe Teil 5 – išāra im Speziellen, Siehe Teil 4 istiqāma 51, 115 – Als Station auf dem Weg, Siehe Kapitel 5.1.1.3 Kalam 69, 168, 177, 181 Kalam und Sufitum allgemein, Siehe Kapitel 3.2.1 kasb 176, 194, 196, 313 kašf 115, 127, 154, 160, 277
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Kritik an as-Sanūsī 186 Kritik an Avicenna 184 Liebe und Erkenntnis 208 maḥabba, Liebe 66, 208, 211, Siehe auch Kapitel 3.2.2.3 malakūt 307 Mālikī 22, 47, 164, 165 – Mālikiyya, Siehe auch Mālik, Ibn Anas maʿrifa, Erkenntnis 16, 118, 208, Siehe speziell Kapitel 5.1.3.3 Mensch als Abbild des Seins 199, 306, Siehe auch unter Mikro- und Makrokosmos Mikro- und Makrokosmos 67, 94, 97, 182, 201, 236, 300, Siehe auch ʿālam ṣaġīr und ʿālam akbar mukāšafa, Siehe kašf sowie Kapitel 3.1.2.2 mulk 308 murāqaba 65, 123, Siehe speziell Kapitel 5.1.3.1 murīd 24, 212, 247, 252, Siehe speziell die Kapitel 2.3.3 und 4.3.2 mušāhada, Siehe Kapitel 5.1.3.2 Mutakallimun 97, 173, 186 nāfila 323 nafs, Siehe Kapitel 3.1.1.4 Naqšbandiyya 47 Nāṣiriyya 32, 35, 106 naẓra 241, 283, 328 Pest, Krankheit 35, 285, 291 Philosophie 7, 48, 97, 147, 151, 173, 184, 186, 213, 242, 304 Politik 29 Prophetentum 4, 143, 161, 333 Qarawiyīn 23, 28 qudra, Siehe Kapitel 3.2.2.1 Religionsbegriff 1, 8, 49, 83, 125, 215 riḍā 289, 298, Siehe Kapitel 5.2.4 Rolle von Zarrūq bei Ibn ʿAǧība 108 Šāḏiliyya 13, 35, 49, 100, 112, 115, 118, 120, 123, 126, 132, 167, 171, 219, 343
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Sachregister
Salaf Ṣāliḥ 121, 163, 166, 176, 216, 287 šarʿ, Offenbarung 129, Siehe auch unter Scharia sowie waḥy Scharia 47, 51, 52, 57, 94, 122 – Als Gegenpol zur inneren Wirklichkeit 155 – Äußerliche Betrachtung der 180 – Rahmen der Scharia 280 – Scharia als Mittel 203 – Scharia und Normen 60 – Scharia und Wirklichkeit (ḥaqīqa) 98, Siehe Kapitel 3.2.2.1 Scheich, Meister 102, 112, Siehe auch die Kapitel 2.3.3 und 4.3.2 Sibta (Ceuta) 31 ṣidq, Siehe Kapitel 5.1.2.2 sirr 148, 150, 289 sitr 190 ṣuffa, Leute der ṣuffa 136 Sufitum, Definitionen 6, 129, 132, 134, 135 ṣuḥba 24, 113 sukr 279, 304 šurb 158, 159, 304 taʿalluq, Siehe Kapitel 5.3.2.2 tafakkur, Siehe fikra tafsīr išārī, Siehe Kapitel 4.1 Tafsir, Korankommentar 11, 21, 72, 166, 169, 220 taǧallī 168, 188, 190, Siehe Kapitel 5.3.1 taḫallūq, Siehe Kapitel 5.3.2.2 taqlīd 113, 175, 245 taqwā 51, 115, Siehe Kapitel 5.1.1.2 taslīm, Siehe Kapitel 5.2.4 tawakkul 142, 293, 298 tawba 130, 139, Siehe auch Kapitel 5.1.1.1 tawḥīd 7, 52, 55, 70, 122, 265 – Im Speziellen tawḥīd, Siehe Kapitel 2.2.2
– mašrab at-tawḥīd 270 – tawḥīd ad-dalīl 2, 166 – tawḥīd al-burhān 78 – tawḥīd al-ʿiyān 2, 166 – tawḥīd ḫāṣṣ 2, 71, 166, 171, 300 taʾwīl 220 ṭumaʾnīna, Siehe Kapitel 5.1.2.3 Üben der Gewissheit (yaqīn) 288 ʿubūda 55, 65 ʿubūdiyya 55, 63, 156, 209, 263, 309 uṣūl – uṣūl ad-dīn, Siehe Kalam – uṣūl al-fiqh 21, 22, 129, 132, 229 – uṣūl at-tafsīr 8, 199 – uṣūl at-taṣawwuf 93, 119, 132, 133 Verhältnis Sufitum und Kalam 2, 47, 80, 88, 178, 184, 192, 213, 344 Versöhnung von Gegensätzen 199 Verstand (ʿaql), Siehe Kapitel 3.2.1.2 und 3.1.1.4 wāḥidiyya 188 waḥy 137, 161 waraʿ 212 Wazzān 33, 35, 36 Wazzāniyya 32, 106 Werke Ibn ʿAǧības, Siehe Kapitel 1.4 wird, Siehe unter awrād und ḥizb wuǧūd 67, 152, 180, 189, 199, 307 yaqīn 53, 60, 144, 1549, 159, 288, Siehe auch Kapitel 5.2.4 ẓāhir 56, Siehe auch Kapitel 3.2.2.1 Zugehörigkeit zur Šāḏiliyya 115 zuhd 280
Abstract This study examines the concept of religion (dīn) in the works of Aḥmad Ibn ʿAjība (d. 1224/1809) and the manner in which he synthesizes Sufism and theology. Ibn ʿAjība’s concept of religion draws heavily upon the three levels mentioned in the Gabriel Hadith: Islām, īmān and iḥsān – submission, belief and spiritual perfection. This structure – considered fundamental by many postclassical Muslim scholars (ca. 1400–1800) – on the one hand outlines religion from the perspective of theology, while on the other hand describes the human’s path to God. The highest priority lies, according to Ibn ʿAjība, within the discipline of Sufism, the level of spiritual perfection (iḥsān). The method he uses for representing this level is ishāra, which alludes to the inner meanings of texts and objects. In this sense, the main purpose of theology is the knowledge of the heart which is the true realization of the fundamental doctrine of tawḥīd or Unity. The first part of this study presents Ibn ʿAjība’s biography and transformation from scholar to Sufi scholar alongside an examination of his works. The second part analyzes the theoretical-theological assumptions underpinning his concept of religion. Subsequently, in the third part, his perception of religious doctrine is examined, with a specific focus on how he considers Sufism within the canon of the religious sciences. The fourth part turns to look more closely at ishāra, revealing the particular approach of Ibn ʿAjība. In the fifth and final part, the applied ishārī interpretation of Ibn ʿAjība is presented in relation to his works and theology in particular. Broadly conceived, this is a study of the doctrine and theological methodology of Sufis in the post-classical period. It demonstrates how Ibn ʿAjība, building on his tradition, conceives of theology centered on Sufism without excluding the other religious disciplines. Scholars of the post-classical period, such as Ibn ʿAjība, have only recently attracted the attention of the scholarly community. Thus, this tracing of Ibn ʿAjība’s concept of theology is indebted to the effort and research of scholars of both Sufism and theology.